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German Pages 252 [254] Year 2019
studien zur phänomenologie und praktischen philosophie
ISBN 978-3-95650-531-7
ISSN 1866-4814
studien zur phänomenologie und praktischen philosophie
Giovanna Caruso Kunst und Leben
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Giovanna Caruso
Kunst und Leben Eine kritische Auseinandersetzung mit Adorno, Benjamin und Heidegger
Giovanna Caruso
Kunst und Leben
STUDIEN ZUR PHÄNOMENOLOGIE UND PRAKTISCHEN PHILOSOPHIE Herausgegeben von Christian Bermes, Hans-Helmuth Gander, Lore Hühn, Günter Zöller
BAND 47
ERGON VERLAG
Giovanna Caruso
Kunst und Leben Eine kritische Auseinandersetzung mit Adorno, Benjamin und Heidegger
ERGON VERLAG
Die vorliegende Arbeit wurde vom Fachbereich 5 – Erziehungswissenschaften der Universität Koblenz-Landau im Jahr 2017 als Dissertation zur Erlangung des akademischen Grades eines Doktors der Philosophie (Dr. phil.) angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© Ergon – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb des Urheberrechtsgesetzes bedarf der Zustimmung des Verlages. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen jeder Art, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für Einspeicherungen in elektronische Systeme. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Umschlaggestaltung: Jan von Hugo Satz: Thomas Breier
www.ergon-verlag.de ISSN 1866-4814 ISBN 978-3-95650-531-7 (Print) ISBN 978-3-95650-532-4 (ePDF)
Vorwort Für ihre Unterstützung bei der Entstehung der vorliegenden Dissertation danke ich insbesondere meinen beiden Doktorvätern Christian Bermes und HansHelmuth Gander. Sie haben meine Arbeit gewissenhaft betreut und zugleich voller Zuversicht die Entwicklung meiner eigenen Gedanken unterstützt. Die Gespräche mit ihnen waren in diesen Jahren stets eine wissenschaftliche und menschliche Bereicherung. Ihr kritischer Blick und ihre konstruktiven und ermutigenden Hinweise haben meine Forschungsarbeit begleitet. Mein Dank gilt Alfred Langewand, mit dem ich in den verschiedenen Arbeitsphasen Konsistenz und Schlüssigkeit meiner Argumentation prüfen konnte. Seine Offenheit und seine pädagogische Perspektive haben meiner Arbeit wichtige Impulse gegeben. Annika Hand, der Koordinatorin der Graduiertenschule ‚Herausforderung Leben‘, in deren Rahmen diese Arbeit entstanden ist, gilt mein Dank für ihr Engagement bei der Organisation der Aktivitäten der Graduiertenschule. Sie haben immer wieder den gegenseitigen Austausch unter den Stipendiatinnen gefördert. Ich danke ausdrücklich meinen Kolleginnen und Kollegen, nicht nur für ihre geduldige, wissenschaftliche Unterstützung, sondern vor allem für ihre Freundschaft. Unter ihnen danke ich insbesondere Ilona Mader, die mir vor allem in der letzten Phase Mut zugesprochen hat. Dem Land Rheinland-Pfalz danke ich für die finanzielle Unterstützung, die mir ermöglicht hat, mich ausschließlich der Realisierung dieses Forschungsprojekts zu widmen. Unerlässlich für die Entstehung dieser Arbeit war meine Familie. Meinen Eltern und meinen Brüdern danke ich herzlich dafür, dass sie mich immer ermutigt und an mich geglaubt haben – gelegentlich sogar fester als ich selbst. Ebenso herzlich danke ich meinen Großeltern für ihre bedingungslose Unterstützung. Von Herzen danke ich meinem Freund, der meine Pläne und meine Wünsche vorbehaltlos mitgetragen hat und mir in allen Arbeitsphasen – vor allem in den anstrengenderen – zuverlässig zur Seite stand. G. Caruso, Rom, April 2017
Inhaltverzeichnis Einleitung .............................................................................................................. 13 Der aktuelle Ästhetikdiskurs ........................................................................... 14 Vorbemerkungen und Überblick .................................................................... 28 1 Die Kunst als Rettung des menschlichen Lebens .......................................... 31 1.1 Eine ernüchternde zeitkritische Diagnose .............................................. 32 1.1.1 Heidegger: Die Welt der Technik ................................................ 33 1.1.1.1 Die Seinsvergessenheit .................................................... 34 1.1.1.2 Die höchste Gefahr ......................................................... 40 1.1.2 Adorno: Die bürgerliche Gesellschaft.......................................... 42 1.1.2.1 Der Verdinglichungsprozess ........................................... 48 1.1.2.2 Der Entfremdungsprozess............................................... 51 1.1.3 Benjamin: Die Massengesellschaft ............................................... 54 1.1.3.1 Der Fetischcharakter und die Phantasmagorie ............... 58 1.1.3.2 Das unbewusste Kollektiv ............................................... 61 1.2 Das rettende Potenzial der Kunst ........................................................... 63 1.2.1 Heidegger: Der gemeinsame Ursprung von Technik und Kunst ....................................................................... 65 1.2.1.1 Die Bestreitung des Streits von Welt und Erde .......................................................................... 69 1.2.1.2 Das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit ........................ 76 1.2.2 Adorno: Die Widerlegung der funktionalen Logik ..................... 79 1.2.2.1 Die immanente Widersprüchlichkeit des Kunstwerks ................................................................ 83 1.2.2.2 Die irrationale Rationalität des Kunstwerks ...................................................................... 86 1.2.3 Benjamin: Auratische und technisch reproduzierbare Kunst .................................................................. 88 1.2.3.1 Die auratische Kunst: Darstellung der wahren Ideen ................................................................... 91 1.2.3.2 Die technisch reproduzierbare Kunst: Ein Mittel zur Massenrevolution.................................... 97
1.3 Ein kritischer Blick ................................................................................ 101 1.3.1 Die heteronome Autonomie der Kunst ..................................... 103 1.3.1.1 Heideggers seynsgeschichtlicher Horizont ................... 103 1.3.1.2 Adornos erkenntnistheoretische und sozio-ökonomische Grundannahmen .......................... 110 1.3.1.3 Benjamins messianisch-platonische Wahrheitsauffassung ..................................................... 115 1.3.2 Ein der Kunst immanenter Autonomiebegriff .......................... 120 1.3.3 Ein vorläufiger Lebensbegriff ..................................................... 123 1.4 Resümee und Ausblick .......................................................................... 125 2 Das Menschsein............................................................................................. 127 2.1 Das Strukturganze des Daseins: die Sorge............................................ 133 2.1.1 Die Faktizität .............................................................................. 135 2.1.2 Die Existenzialität ....................................................................... 140 2.1.3 Das Sein-bei ................................................................................ 144 2.1.4 Die Selbst-Verbindlichkeit zwischen Freiheit und Bedingtheit ............................................................ 147 2.2 Die Welt ................................................................................................ 153 2.2.1 Die Zuhandenheit als ontologische Bestimmung des Zeugs ..................................................................................... 159 2.2.2 Die Verbindlichkeit kultureller Praktiken .................................. 162 2.2.3 Die Welt als Kultur .................................................................... 165 2.3 Resümee und Ausblick .......................................................................... 167 3 Die Kunst....................................................................................................... 169 3.1 Das Kunstwerk....................................................................................... 170 3.1.1 Die sinnliche Wahrnehmung ..................................................... 177 3.1.2 Das Kunstwerk als autonome Gestalt ........................................ 179 3.1.3 Das Kunstwerk als Erfahrungsgestalt ......................................... 182 3.2 Das Konstellationsmodell ..................................................................... 186 3.2.1 Die Konstellation als erkenntnistheoretisches Modell ......................................................................................... 188 3.2.2 Die Konstellation als existenziales Modell ................................ 193
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3.3 Die Kunst und das Leben ..................................................................... 198 3.3.1 Das Kunstwerk als autonome Erfahrungsgestalt........................ 199 3.3.2 Der der Kunst immanente Autonomiebegriff ........................... 202 3.3.3 Auf das je eigenen Selbst zurück ................................................ 204 Fazit ..................................................................................................................... 209 Resümee ......................................................................................................... 209 Ausblick ......................................................................................................... 211 Literaturverzeichnis ............................................................................................ 223
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Siglenverzeichnis Die Werke Theodor W. Adornos und Walter Benjamins werden nach den Gesammelten Schriften mit der Sigle A-GS bzw. B-GS sowie Band- und Seitenzahl abgekürzt. Die Werke Martin Heideggers werden, wenn möglich, nach der Gesamtausgabe mit der Sigle GA sowie Band- und Seitenzahl abgekürzt. Häufige zitierte Abhandlungen und Aufsätze erhalten eine Sigle nach dem folgenden Verzeichnis. Theodor W. Adorno: DA ND ÄT
Dialektik der Aufklärung. (GS3) Negative Dialektik. (GS6) Ästhetische Theorie. (GS7)
Walter Benjamin: GW UDT KTR PA
Goethes Wahlverwandtschaften. (GSI-1, 123–201) Ursprung des deutschen Trauerspiels. (GSI, 203–430) Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. (Erste Fassung) (GSI-2, 431–469) Passagenarbeit. (GSV-I; GSV-II)
Martin Heidegger: SZ UK FT
Sein und Zeit. (GA2) Der Ursprung des Kunstwerks. (GA5, 5–66) Die Frage nach der Technik. (GA7, 1–74)
Einleitung Die Idee zur vorliegenden Forschungsarbeit entstand aus einer ungewöhnlichen Beobachtung, die sich während der Beschäftigung mit den Kunstauffassungen Martin Heideggers, Theodor W. Adornos und Walter Benjamins ergeben hat: Von verschiedenen Denkansätzen ausgehend und unterschiedliche Forschungsziele verfolgend, sprechen alle drei Autoren der Kunst im modernen Zeitalter ein rettendes Potenzial für das menschliche Leben zu. Dies erweist sich gerade in Anbetracht der unterschiedlichen Ausgangspunkte, Methoden und Ziele ihres Denkens bereits als bemerkenswert. Ihre Gemeinsamkeiten erschöpfen sich jedoch nicht in der Formulierung einer nahezu identischen These über das Verhältnis von Kunst und menschlichem Leben. Interessante Parallelen lassen sich auch in ihrer jeweiligen Argumentationsweise finden. So erarbeiten alle drei eine zeitkritische Analyse, anhand derer sie einen unaufhaltsamen Entmenschlichungsprozess diagnostizieren. Sie erschließen aufbauend auf der Feststellung dieses kritischen Zustands die rettende Kraft der Kunst für den Menschen. Auch in der Begründung dieses Potenzials der Kunst lassen sich Gemeinsamkeiten erkennen, insofern sie es auf der Unabhängigkeit der Kunst von jeglicher ökonomisch, sozial, geschichtlich oder kulturell bestimmten Ordnung fußen, in der die Kunst dennoch als kulturelle Ausdrucksform besteht. Durch diese Unabhängigkeit widersetzt sich die Kunst ihrer Auffassungen nach dem bestehenden, entmenschlichten Zustand, weshalb die drei Autoren in der Kunst eine ausgezeichnete Möglichkeit für den Menschen sehen, der Gefahr des Entmenschlichungsprozesses zu entgehen. Die Feststellung dieser Gemeinsamkeiten soll nun keineswegs den Eindruck erwecken, als gäbe es keine gravierenden Unterschiede zwischen diesen drei Kunstkonzeptionen. Denn nicht nur die theoretische Begründung ihrer jeweiligen zeitkritischen Diagnosen weisen große Differenzen auf. Im Rahmen ihrer Kunstauffassungen besteht eine noch viel bedeutsamere Differenz darin, dass die drei Autoren das Phänomen ‚Kunst‘ aufbauend auf den unterschiedlichen Grundannahmen ihrer jeweiligen Philosophien erschließen. Folglich differieren auch die systematischen Grundlagen, auf welchen sie die Bedeutung der Kunst für das menschliche Leben entfalten. Aus diesem scheinbar paradoxen Zusammenspiel überraschender Gemeinsamkeiten und beträchtlicher Unterschiede zwischen den Kunstverständnissen Heideggers, Adornos und Benjamins ergeben sich die systematische Forschungsfrage sowie der argumentative Aufbau, die für die Formulierung der leitenden These der vorliegenden Arbeit grundlegend sind. Denn in Anbetracht dieser Unterschiede und Gemeinsamkeiten drängt sich eine Frage auf, von der die vorliegende Untersuchung ihren Ausgang nimmt. Diese Frage lautet: Warum die Kunst? Präziser ausgedrückt: Warum schreiben drei Denker, deren Forschungsinteressen und -ziele sich grundlegend voneinander unterscheiden – wenn sie nicht sogar vollkommen
gegensätzlich sind –, der Kunst eine derart relevante Bedeutung für das menschliche Leben zu? Was macht aus der Kunst ein so besonderes Phänomen? Worin bestehen ihre Eigentümlichkeit und ihre Bedeutung für das menschliche Leben? Anhand dieser Fragen lässt sich das Forschungsziel der vorliegenden Betrachtungen in einem Annäherungsversuch an das Phänomen ‚Kunst‘ konkretisieren, um ihre Bedeutung für das menschliche Leben1 erschließen zu können.2 Insofern diese Fragen nach der Kunst und ihrer Bedeutung für das Leben das Forschungsfeld dieser Arbeit festlegen, verorten sie das vorliegende Vorhaben zugleich im ästhetischen Diskurs, der spätestens seit Baumgarten Anspruch auf Eigenständigkeit und Systematik erheben kann. Allerdings scheint der zurzeit vorherrschende Ästhetikdiskurs diese Ansprüche gerade nicht einzulösen, insofern die aktuelle Ästhetik nicht als eine Disziplin mit einheitlichen Forschungsgegenständen, -methoden und -zielen bezeichnet werden kann. Da es unbestreitbar ist, dass die vorliegende Arbeit, indem sie nach der Bedeutung der Kunst für das menschliche Leben fragt, das Forschungsfeld der Ästhetik betritt, drängt sich unmittelbar die Notwendigkeit auf, einen Überblick über eben dieses Feld zu gewinnen. Dadurch soll die vorliegende Untersuchung zum einen im aktuellen ästhetischen Diskurs verortet werden, was zum anderen zu einer Präzisierung der hier gestellten Forschungsfrage führen soll.
Der aktuelle Ästhetikdiskurs Bei der Ästhetik handelt es sich um ein Forschungsfeld, das gegenwärtig durch viele kontroverse Diskussionen geprägt ist. Ihre Komplexität ergibt sich vor allem 1 2
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Der Einfachheit halber wird im Folgenden nur mehr von ‚Leben‘, nicht aber von ‚menschlichem Leben‘ gesprochen, sofern dies nicht aus Gründen der Genauigkeit notwendig ist. 2011 verfolgte Dieter Henrich in seinem Versuch über Kunst und Leben ein ähnliches Ziel: Er untersucht darin die Gründe für die Resonanz der Kunst auf unser Leben (vgl. Dieter Henrich: Versuch über Kunst und Leben. Subjektivität – Weltverstehen – Kunst. München: Hanser 2001, 9). Trotz auffälliger Ähnlichkeiten in entscheidenden Aspekten der Analyse wie etwa im Verständnis des menschlichen Lebens als selbstbewusstem Prozesses der Selbstverständigung (vgl. Henrich: Versuch über Kunst und Leben, 13–48) sowie in der Bestimmung des Kunstwerks als Ergebnis einer immanenten Dynamik (vgl. Henrich: Versuch über Kunst und Leben, 97–140) kommt Heinrichs Untersuchung zu einem anderen Ergebnis als die vorliegende Arbeit. Henrich sieht die Bedeutung der Kunst für das Leben darin begründet, dass die ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks, insofern seine Dynamik jener des Lebens entspricht und dennoch eine andere als jene des Lebens ist, dem Menschen ein besonderes Verhältnis zu sich selbst ermöglicht, indem er sich von sich selbst distanziert beobachten kann (vgl. Henrich: Versuch über Kunst und Leben, 145–174). Im Gegensatz dazu wird im Rahmen der vorliegenden Untersuchung die Bedeutung der Kunst für das Leben darin konkretisiert, dass die ästhetische Erfahrung eines Kunstwerks jeden Bezug zur Welt und zu sich selbst aufhebt und daher dem Menschen zu einer Konfrontation mit seinem je eigenen Lebensvollzug und Selbstverständigungsprozess zwingt. Beide Ergebnisse schließen sich jedoch nicht gegenseitig aus. Vielmehr ergänzen sie sich, teilen sie doch sehr ähnliche Auffassungen von menschlichem Leben und Kunst und zeigen ausgehend davon unterschiedliche Bedeutungsmöglichkeiten der Kunst für das Leben.
daraus, dass die Unterschiede zwischen den verschiedenen Ansätzen nicht nur methodologische Aspekte, sondern auch die Bestimmung des Objekts einer wie auch immer verstandenen ästhetischen Forschung selbst betreffen. Aufgrund dessen scheint es wenigstens problematisch, von der Ästhetik als einer einheitlichen Disziplin zu sprechen. Diese „Unklarheit bezüglich des Gegenstands der Ästhetik“3 macht Günther Pöltner in seiner Untersuchung Philosophische Ästhetik zum Ausgangspunkt seines Überblicks über die aktuelle Situation der ästhetischen Forschung. Er verweist darauf, dass die von Baumgarten behauptete, eindeutige Übereinstimmung von sinnlicher Erkenntnis und Schönheit sowie das daraus entstehende „Verständnis der Ästhetik als einer Theorie des Schönen und der Kunst […] von Anfang an problematisch gewesen“4 sei. Dass die Ästhetik nicht mit einer Theorie des Schönen – sei damit das Naturoder das Kunstschöne gemeint – zusammenfällt, ist in der aktuellen Debatte nahezu zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Diese Feststellung verstellt jedoch den Blick auf die Unterschiede zwischen den Ansätzen verschiedener Philosophen, Theoretiker und Künstler, die sich mit Themenbereichen der Ästhetik auseinandersetzen. Einer der grundlegendsten Unterschiede der verschiedenen Verständnisse von Ästhetik wird insbesondere durch einen vergleichenden Blick auf den englischsprachigen und den mitteleuropäischen Raum5 deutlich. Dabei fällt auf, dass die Autoren6 des englischsprachigen Raums die Ästhetik meist als eine Theorie der Kunst verstehen, wohingegen sich in Mitteleuropa ein weiter gefasstes Verständnis von Ästhetik als eine Theorie der Wahrnehmung etabliert hat.7 Obwohl bereits John Dewey 1934 die Identifikation von Ästhetik und Kunst ablehnt,8 verstehen die Amerikaner und die Engländer die Ästhetik auch weiterhin als eine Theorie der Kunst. Diesbezüglich bemerkt Julia Jansen, dass beispielsweise „[i]n den Veröffentlichungen und Veranstaltungen der American Society for Aesthetics [...] oder der Britisch Society for Aesthetics [...] wie selbstver-
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Günther Pöltner: Philosophische Ästhetik. Stuttgart: Kohlhammer 2008, 13. Pöltner: Philosophische Ästhetik, 14. Hier wird bewusst eine vage räumliche Bezeichnung gewählt, da es schwerfällt, einen konkreten Sprachraum oder gar eine konkrete Nation mit dieser im Folgenden auszuführenden Perspektive zu identifizieren. Mit Mitteleuropa sind deshalb neben dem deutschsprachigem Raum Frankreich und Italien gemeint. Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden auf eine gendergerechte Sprachverwendung verzichtet. Dieser Unterschied zwischen dem englischsprachigem Raum und Mitteleuropa wird von Maurizio Ferraris durch die ‚realistische Wende‘ des mitteleuropäischen Denkens erklärt. Ihrer Auffassung nach stellt die Ästhetik als Theorie der Wahrnehmung einen Versuch dar, den postmodernen Relativismus zu überwinden, und erfüllt somit die Forderung des Neuen Realimsus, sich mit der Objektivität der gegebenen Welt auseinanderzusetzen. In England und den Vereinigten Staaten hingegen, wo die realistische Bewegung keinen derart großen Einfluss hatte, identifiziert sich die Ästhetik weiter mit einer Theorie der Kunst. (Vgl. Maurizio Ferraris: Manifesto del nuovo realismo. Bari: Laterza 2012, 28) Vgl. John Dewey: Art as Experience. New York: Penguin 2005, 9.
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ständlich immer und ausschließlich von Kunst die Rede“9 sei. Die Debatten um die Kunst innerhalb des englischsprachigen Raums bestätigen ein solches Verständnis von Ästhetik als Theorie der Kunst. Wie im Laufe der vorliegenden Arbeit gezeigt wird, geht es in diesen Debatten vorwiegend um Fragen etwa über das Wesen der Kunst, über die Möglichkeit einer universal gültigen Definition von Kunst, über die Natur des Kunstbegriffs oder über den Kunststatus bestimmter Objekte und Phänomene. Diese Konzentration der ästhetischen Forschung auf die Kunst macht die Definition der Ästhetik entsprechend von der Kunstforschung abhängig. Gerade aufgrund dieser Abhängigkeit weisen die Autoren des englischsprachigen Raums die Idee einer Ästhetik als Theorie des Schönen zurück. Denn die Kunstpraxis des 20. Jahrhunderts hat gezeigt, dass die Kunst auch nicht-schön sein kann. Die folgenden Worte Arthur Coleman Dantos belegen, welchen enormer Beitrag „die nicht mehr schönen Künste“10 im 20. Jahrhundert zur Ästhetik geleistet haben: „That something can be art but not beautiful is one of the great philosophical contributions of the twentieth century.“11 Wenn zur Kunst nun aber auch zählt, was nicht notwendigerweise schön ist, fällt auch die Ästhetik als Theorie der Kunst nicht länger mit einer Theorie des Schönen zusammen.12 In Mitteleuropa wird nun aber nicht alleine diese Konzeption der Ästhetik als Theorie des Schönen abgelehnt. Auch das Verständnis der Ästhetik als Theorie der 9
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Julia Jansen: Schnittstelle und Brennpunkt: Das ästhetische Erlebnis als Aufgabe für eine Kooperation von Phänomenologie und Neurowissenschaft. In: Dieter Lohmar; Dirk Fonfara (Hg.): Interdisziplinäre Perspektive der Phänomenologie. Dordrecht: Springer 2006, 142– 163; 149. Hans Robert Jauß: Die nicht mehr schönen Künste. Grenzphänomene des Ästhetischen. München: Fink 1968. Arthur Coleman Danto: What Art is. New Haven/London: Yale University Press 2013, 28. Dies entzieht der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts im Bereich der Ästhetik und der Kunst vorherrschenden Überzeugungen, dass die Kunst schön sei, ihre Grundlage. Diese wesentliche Verbindung von Kunst und Schönem, die die Reflexion über die Kunst seit ihrer Entstehung begleitet hat, verstärkte sich im 18. Jahrhundert zum einen durch Kants Kritik der Urteilskraft und zum anderen durch die Arbeit des französischen Ästhetikers Charles Batteux. In seinem Werk Les beaux-arts réduits à un même principe unterscheidet Batteux die schönen von den mechanischen Künsten und zeigt, dass sich alle schönen Künste auf das Prinzip der Nachahmung der schönen Natur zurückführen lassen. (Vgl. Charles Batteux: Les beaux-arts réduits à un même principe. Paris: Durand 1747) Wladyslaw Tatarkiewicz betont, welche Rolle Batteux’ Überlegungen einnahmen: „The list was generally accepted, and the system of the arts was ready and completed. Less than a hundred years later the compound ‚fine arts‘ was so well established that the adjective could often be dropped; the word ‚art‘ alone implied art that was ‚beautiful‘.“ (Wladyslaw Tatarkiewicz: What Is Art? The Problem of Definition Today. In: The British Journal of Aesthetics 11.2, 1971, 134–153; 136) In der Tat definiert beispielsweise Bernard Bosanquet hundert Jahre nach Batteux die Ästhetik als „the philosophy of the beautiful“. (Bernard Bosanquet: A History of Aesthetics. London: S. Sonnenschein & Co 1892, 1) Noch in den 1970er Jahren macht William E. Kennick darauf aufmerksam, dass diese Defintion der Ästhetik von allen wichtigen Lexika des englischen Sprachraums übernommen wird. (Vgl. William E. Kennick: Art and Philosophy. Readings in Aesthetics. New York: St. Martin’s Press 1979)
Kunst, wie es im englischsprachigen Raum Anwendung findet, scheint zu Gunsten einer Theorie der Wahrnehmung aufgegeben worden zu sein. Im Rahmen eines sehr offenen Verständnisses von Ästhetik, die konsequenterweise nicht ausschließlich als Kunstanalyse verstanden werden kann,13 schwanken die aktuellen mitteleuropäischen Auffassungen über die Grenzen der Ästhetik tendenziell zwischen zwei Polen: Die eine Seite plädiert für ein stark inklusives Verständnis von Ästhetik, die andere für ein eher exklusives. In diesem Sinne stimmen beispielweise die Konzeptionen Gernot Böhmes und Wolfgang Welschs in einer eindeutigen Erweiterung des Forschungsbereichs der Ästhetik auf die Wahrnehmung im Allgemeinen überein, weshalb sie von der Unmöglichkeit einer „eindeutige[n] Abgrenzung ästhetischer und nicht-ästhetischer Wahrnehmung“14 ausgehen. Martin Seel kritisiert diese stark inklusive Auffassung, da er darin die „Aufhebung der Differenz zwischen Ästhetik, Aisthetik und einigen anderen philosophischen Disziplinen“15 sieht. Obwohl auch Seel die Ästhetik keineswegs auf den Kunstbereich beschränkt wissen will, sieht er ihre Aufgabe darin, die Demarkationslinien zwischen Erfahrung im Allgemeinen und ästhetischer Erfahrung zu ziehen.16 Diese Kontroverse, bei der es sich lediglich um einen Teilaspekt rund um die Bestimmung des Gegenstands der Ästhetik handelt, ist für die Gegenwart paradigmatisch. Diese Unbestimmbarkeit des ästhetischen Gegenstands ist für den aktuellen ästhetischen Diskurs in Mitteleuropa derart konstitutiv, dass nicht nur fraglich geworden ist, ob es „überhaupt noch einen hinreichend eindeutigen Begriff von Ästhetik“17 gibt und ob sich Ästhetik daher „als Disziplin mit streng definierbarem Gegenstand bestimmen läßt“.18 Die Frage lautet sogar: „entzieht sie [die Ästhetik] 13
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Diesbezüglich scheint Lambert Wiesing in seinem Sammelband Philosophische Ästhetik von 1992 eine andere Auffassung zu vertreten, die das Forschungsfeld der Ästhetik auf die Kunst und das Schöne beschränkt. (Vgl. Lambert Wiesing (Hg.): Philosophische Ästhetik. Münster: Aschendorff 1992, IV) Einige Jahre später scheint Wiesing seine Postion jedoch selbst in Frage zu stellen. In der Einleitung des Sammelbandes Bild und Reflexion vertritt er zusammen mit Birgit Recki implizit die These, dass sich die Disziplin ‚Ästhetik‘ nicht auf die Kunst beschränke: „Es ist diese grundsätzliche Entscheidung für einen Begriff des Ästhetischen, der in der Kunst nicht aufgeht, sondern in ihr nur die prägnanteste Gestalt der Erfüllung findet, worin die Autoren dieses Bandes übereinkommen.“ (Birgit Recki; Lambert Wiesing (Hg.): Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik. München: Fink 1997, 9) Wolfgang Welsch: Erweiterung der Ästhetik. Eine Replik. In: Birgit Recki; Lambert Wiesing (Hg.): Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik. München: Fink 1997, 39–67; 42. Vgl. Gernot Böhme: Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik. Berlin: Suhrkamp 2013, 47. Martin Seel: Ästhetik und Aisthetik. Über einige Besonderheiten ästhetischer Wahrnehmung. In: Birgit Recki; Lambert Wiesing (Hg.): Bild und Reflexion. Paradigmen und Perspektiven gegenwärtiger Ästhetik. München: Fink 1997, 17–38; 19. Vgl. Seel: Ästhetik und Aisthetik, 19. Karlheinz Barck: Ästhetik/ästhetisch. In: Karlheinz Barck u.v.m. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Bd.1 Absenz-Darstellung. Stuttgart/Weimar: J.B. Metzler 2000, 308–317, 308. Barck: Ästhetik/ästhetisch, 309.
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sich vielleicht gerade jeder begrifflichen Bestimmung, wäre ein strenger Begriff von Ästhetik in gewisser Hinsicht eine contradictio in adiecto?“19 Dass in Mitteleuropa keine Einigkeit über den Gegenstand der Ästhetik besteht, schlägt sich somit auch in dem Versuch nieder, eine philosophische Ästhetik zu bestimmen: Während Lambert Wiesing beispielsweise im Rahmen seiner exklusiven ästhetischen Konzeption eindeutig zwischen Ästhetik und philosophischer Ästhetik unterscheidet,20 definiert Birgit Recki die Äshetik hingegen als „die philosophische Disziplin, der die allgemeine Leistung der mit der sinnlichen Wahrnehmung verbundenen Gefühle im Rahmen eines vernünftigen Selbstverständnisses zum Problem wird“.21 Diese Divergenzen, die sich aus der Binnenperspektive der philosophischen Ästhetik ergeben, lassen sich auch durch einen Blickwechsel nicht ausräumen. Denn auch darüber, welche Rolle dem Ästhetischen im philosophischen Denken der letzten Jahrzehnte zukommt, herrscht keine Einigkeit. In diesem Zusammenhang stellt etwa Welsch einerseits eine „Dominanz ästhetischen Denkens“22 und ein zunehmend philosophisches Interesse am Ästhetischen und an der Kunst23 fest oder spricht etwa Michael Hog gar von einem „Ästhetik-Boom“.24 Andererseits beklagt beispielweise Christoph Menke im Gegensatz dazu eine allgemeine Ermattung der Gegenwartsästhetik,25 bemerkt Rüdiger Bubner ein „Verstummen der Philosophie vor der Kunst“26 und warnt Günter Figal sogar vor einem Desinteresse der Philosophie an der Kunst.27 19
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Barck: Ästhetik/ästhetisch, 308. Einzig Mario Perniola geht von einer einheitlichen Definition der Ästhetik aus. Denn er vertritt die These, dass sich die Ästhetik anhand von vier Begriffsbereichen erläutern lässt, die ihrerseits auf Kants Kritik der Urteilskraft und auf Hegels Ästhetik zurückzuführen sind. Dies zeigt Mario Perniola zufolge „la semplicità e la coerenza dell’estetica quale disciplina“. (Mario Perniola: L’estetica contemporanea. Un panorama globale. Bologna: Il Mulino 2011, 10) Diese Differenzierung argumentiert Wiesing mit den folgenden Worten: „Ästhetik ist die Lehre vom Schönen und von der Kunst. Hierfür muss die Ästhetik keineswegs notwendigerweise eine Teildisziplin der Philosophie sein. […] Ästhetik wird dann erst zu einer philosophischen Disziplin, wenn sie spezifisch philosophische Fragen zu beantworten sucht. Philosophisch wird sie, wenn sie Fragen, die Klarheit über Menschen und Welt verschaffen, stellt.“ (Wiesing: Philosophische Ästhetik, IV) Birgit Recki: Ästhetik. In Franz Gniffke; Norbert Herold (Hg.): Philosophie. Problemfelder und Disziplinen. Münster: LIT 1997, 229–249; 233–234. Sofern nicht anders gekennzeichnet, sind Hervorhebungen aus dem Original übernommen. Wolfgang Welsch: Zur Aktualität ästhetischen Denkens. In: Wolfgang Welsch (Hg.): Ästhetisches Denken. Stuttgart: Reclam (RUB 8681) 1991, 41–78; 41. Welsch: Zur Aktualität ästhetischen Denkens, 42–45. Michael Hog: Die anthropologische Ästhetik Arnold Gehlens und Helmuth Plessners. Entlastung der Kunst und Kunst der Entlastung. Tübingen: Mohr Siebeck 2015, 3. Christoph Menke: Wozu Ästhetik? In: Karin Hirdina; Renate Reschke (Hg.): Ästhetik. Aufgabe(n) einer Wissenschaftsdisziplin. Freiburg i. Brsg.: Rombach 2004, 187–196; 186. Rüdiger Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik. In: Rüdiger Bubner (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 9–51; 9. Diesbezüglich äußert sich Figal folgendermaßen: „Die Frage nach dem Wesen der Kunst steht nicht mehr im Zentrum der Philosophie. Das mag mit der Kunst selbst zusammenhängen – damit, daß diese kaum […] zur Reflexion nötigt. […] Dafür, daß die Kunst nicht
Auch den Versuchen, die unterschiedlichen, ästhetisch-philosophischen Paradigmen der letzten 150 Jahre zu systematisieren, gelingt es nicht, einheitliche Ergebnisse zu erzielen: Fabrizio Desideri und Chiara Cantelli unterteilen die verschiedenen ästhetischen Ansätze des 20. Jahrhunderts in sieben Makro-Strömungen.28 Wiesing nennt demgegenüber nur vier bedeutende Makrotheorien, die die Ästhetik jeweils als Rezeptionstheorie, als Theorie der sinnlichen Erkenntnis, als Ideologiekritik und als Sprachphilosophie verstehen.29 Mario Perniola führt die Ästhetik des 20. Jahrhunderts auf vier Hauptbereiche zurück, die sich durch die Begriffe ‚Leben‘, ‚Form‘, Erkenntnis‘ und ‚Handlung‘ bestimmen lassen und die ihrerseits auf die Ästhetik Kants (in Form der ersten beiden Begriffsbereiche) und Hegels (in Form der letzten beiden Begriffsbereiche) zurückzuführen sind.30 Und Bubner beschränkt sich sogar darauf, lediglich zwei Schulen zu benennen: die Hermeneutik und die Kritische Theorie.31 Noch reicher an Klassifikationsversuchen ist die Ästhetik im englischsprachigen Raum, die sich – da sie sich mit einer Theorie der Kunst identifiziert – mit einer unüberschaubaren Vielfalt an Definitionen von Kunst und Kunstwerk konfrontiert sieht. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Wladyslaw Tatarkiewicz sechs Hauptdefinitionen von Kunst32 auflistet und Noël Carroll sogar zehn Paradigmen.33 Ein weiterer Versuch, diese Vielfalt an Theorien und Definitionen zu systematisieren, wird von Stefan Davies vorgenommen, der zwischen ‚funktionalen‘ und ‚prozeduralen‘ Definitionen von Kunst unterscheidet.34 In den letzten Jahren wurde diese ohnehin komplexe Situation nicht nur durch die viel beschworene ‚Unbestimmtheit der Moderne‘35 verkompliziert,
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mehr als vorrangiges Thema der Philosophie gilt, gibt es einen weiteren Grund. Mittlerweile ist die Stelle einer philosophischen Reflexion der Kunst mehr und mehr von medienwissenschaftlichen, zeichen- oder symboltheoretischen Untersuchungen besetzt worden.“ (Günter Figal: Erscheinungsdinge. Ästhetik als Phänomenologie. Tübingen: Mohr Siebeck 2010, 1) Vgl. Fabrizio Desideri; Chiara Cantelli: Storia dell’estetica occidentale. Da Omero alle Neuroscenze. Roma: Carocci 2008, 302. Vgl. Wiesing: Philosophische Ästhetik, IV. Mario Perniola: L’estetica contemporanea, 10. Vgl. Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, 11. Tatarkiewicz unterscheidet zwischen Kunst, die Schönheit erzeugt, Kunst, die die Realität reproduziert oder darstellt, Kunst, die Form schafft, Kunst, die Ausdruck ist, und Kunst, die schockierend wirkt. Er präzisiert dabei jedoch, dass dies nur einige von vielen Kunstdefinitionen sind. Dazu zählen noch Tatarkiewicz zufolge die Definitionen Cassirers, Langers und Diderots und nicht zuletzt sein eigener Vorschlag einer disjunktiven Definition von Kunst. (Vgl. Tatarkiewicz: What is Art?, 141–145) Vgl. Noël Carroll: Philosophy of Art. A Contemporary Introduction. London: Routledge 2002, 265. Vgl. Stefan Davies: Definitions of Art. In: Berys Gaut, Dominic McIver Lopes (Hg.): The Routledge Companion to Aesthetics. London/New York: Routledge 2005, 169–179. Bereits Adorno macht, wie später ausführlich erläutert wird, aus der Unbestimmtheit der Moderne den Ausgangspunkt seiner Ästhetischen Theorie. (Vgl. ÄT, 9) Diese ‚Unbestimmtheit‘ wird von vielen Autoren aufgegriffen und unterschiedlich gedeutet. In diesem Sinne macht Arnold Gehlen in seiner Betrachtung Zeit-Bilder die ‚Kommentarbedürftigkeit‘ der
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sondern vor allem auch durch jenes Phänomen, das längst als „Ästhetisierung der Lebenswelt“36 bekannt ist und das eine entscheidende Wende in der Ästhetikforschung vor allem in Deutschland bewirkt hat.37 Ausgehend von einer allgemeinen Ästhetisierung aller Lebensbereiche besteht das Hauptziel der Ästhetik nicht mehr nur darin, ihren Gegenstand zu definieren, sich mit ästhetischen Objekten oder Erfahrungen auseinanderzusetzen und sie von anderen Arten von Objekten
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Werke der modernen Kunst zu einem Hauptmotiv seiner Betrachtungen. (Vgl. Arnold Gehlen: Zeit-Bilder. Zur Soziologie und Ästhetik der modernen Malerei. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1986, 162–169) Auch Gerhard Gamm und Eva Schürmann rücken die Unbestimmtheit der Moderne in den Fokus ihrer Auseinandersetzung mit der modernen Kunst, die sich in ihrem Verständnis als das von Kunstwerken selbst erhobene Bedürfnis nach Erklärung konkretisiert. (Vgl. Gerhard Gamm; Eva Schürmann: Die Unbestimmtheit der Kunst. In: Gerhard Gamm; Eva Schürmann (Hg.): Das unendliche Kunstwerk. Von der Bestimmtheit des Unbestimmten in der ästhetischen Erfahrung. Hamburg: Philo 2007, 7–22; 8; Gerhard Gamm: Das rätselvoll Unbestimmte. Zur Struktur ästhetischer Erfahrung im Spiegel der Kunst. In: Gerhard Gamm; Eva Schürmann (Hg.): Das unendliche Kunstwerk. Von der Bestimmtheit des Unbestimmten in der ästhetischen Erfahrung. Hamburg: Philo 2007, 23– 58; 26) Auch Welsch stellt einen Verlust an Selbstverständlichkeit der modernen Kunst fest, die ohne theoretische Erklärungen unbestimmt bleibe und daher verkannt werde. (Vgl. Wolfgang Welsch: Blickwechsel. Neue Wege der Ästhetik. Stuttgart: Reclam (RUB 18943) 2012, 15–16) Rüdiger Bubner: Ästhetisierung der Lebenswelt. In: Rüdiger Bubner (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, 143–155. Hog macht in seiner Erarbeitung einer anthropologischen Ästhetik einleitend auf die unterschiedlichen Facetten des Phänomens der Ästhetisierung der Lebenswelt aufmerksam. Bemerkenswert ist dabei, dass sich diese Tendenz zur Ästhetisierung auf die unterschiedlichsten Bereiche des Lebens erstrecke und dass diese ‚Ästhetisierung der Lebenswelt‘ nicht nur von Philosophen, sondern auch von Soziologen, Kunstwissenschaftlern und Ästhetikern untersucht werde. (Vgl. Hog: Die anthropologische Ästhetik Arnold Gehlens und Helmuth Plessners, 3) Zugleich wird auch ersichtlich, dass dieser Ausdruck trotz seiner Verbreitung – oder vielleicht gerade deswegen – inhaltlich unbestimmt bleibt. Dies hat dem Begriff eine gewisse Art von Beliebigkeit verliehen. So versteht beispielweise Böhme – in einer eindeutig kulturkritischen, Adornoschen Perspektive – unter Ästhetisierung der Welt die Verbundenheit rein künstlerischer Absichten mit politischen und ökonomischen Mechanismen. (Vgl. Böhme: Atmosphäre, 43–47) In Anlehnung an Ferdinand Fellmann diagnostiziert daneben Wiesing die Ästhetisierung der Lebenswelt mit Blick auf die grundlegende Rolle, die Bilder in der modernen Gesellschaft spielen. (Vgl. Wiesing: Philosophische Ästhetik, V) Welsch koppelt seine Idee der Ästhetisierung der Welt hingegen an den zunehmend fiktionalen Charakter der Wirklichkeit und ihren daraus resultierenden Realitätsverlust. ‚Ästhetisch‘ wird daher in seinem Verständnis zu einem Synonym von ‚Fiktion‘: „Wirklichkeit erwies sich immer mehr als nicht ‚realistisch‘, sondern ‚ästhetisch‘ konstituiert.“ (Wolfgang Welsch (Hg.): Ästhetisches Denken. Stuttgart: Reclam (RUB 8681) 1991, 7) Und zuletzt sieht Seel in der Ästhetisierung der Welt den Versuch, die Grenze zwischen den traditionellen Bereichen der Ästhetik, der Ethik und der Erkenntnistheorie aufzuheben. (Vgl. Seel: Ästhetik und Aisthetik, 21–22) Die beträchtlichen Differenzen zwischen den verschiedenen Bestimmungen des Ästhetisierungsprozesses, dem die Welt im Verständnis dieser Autoren unterliegt, verdeutlichen, dass es sich bei der ‚Ästhetisierung der Lebenswelt‘ nicht um ein einheitlich verstandenes Phänomen handelt, was an dieser Stelle jedoch lediglich am Rande relevant ist. Entscheidend ist in diesem Kontext vielmehr die Erweiterung des Forschungsbereichs der Ästhetik, die von der ‚Ästhetisierung der Lebenswelt‘ bewirkt wurde und die trotz aller Unterschiede konsensuell angenommen wird.
oder Erfahrungen zu unterscheiden. Einen Ästhetisierungsprozess etwa von Bereichen der Wissenschaft, Politik oder Ethik feststellend, wird vielmehr der Mensch mit Blick auf sein Weltverhältnis zum Hauptinteresse der Ästhetik. Diesbezüglich äußert sich Perniola in der Einleitung zu seiner Estetica contemporanea folgendermaßen: Allerdings hat die Ästhetik in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts den Anspruch erhoben, mehr als eine philosophische Theorie des Schönen und des guten Geschmacks zu sein. Einerseits stand und steht die Ästhetik in einem unauflösbaren Verhältnis zur Literatur, den bildenden Künsten und der Musik, ohne sich von gewagtesten Innovationen und riskantesten Experimenten abschrecken zu lassen. Andererseits hat sich die Ästhetik in die institutionelle Verwaltung, die Ausstellung, die Organisation und die Kommunikation kulturell-künstlerischer Produkte eingebracht. Die Ästhetik hat sich mit den großen Fragen des individuellen und gemeinschaftlichen Lebens auseinandergesetzt, nach dem Sinn der Existenz gefragt, sich für gewagte soziale Utopien ausgesprochen und sich an den Fragen des alltäglichen Lebens beteiligt sowie subtile Erkenntnisunterschiede festgestellt.38
Diese Worte verdeutlichen, dass die Prozesse der Welterzeugung, der Welterschließung und des Weltverständnisses zu Hauptthemen der Ästhetik geworden sind. Das Ästhetische wird somit nicht mehr als Objekt einer spezifischen Disziplin verstanden, sondern es wird – in den Worten Welschs – zu einer „Schlüsselkategorie unserer Zeit“,39 wodurch die Ästhetik – so Wiesing – „für die Philosophie der Gegenwart eine ungeahnte Schlüsselstellung“40 einnimmt. In diesem Kontext, der sich durch ein sehr offen gefasstes Begriffsverständnis des Ästhetischen auszeichnet und in dem die Überschreitung der Bereiche der Kunst und des Schönen längst selbstverständlich geworden ist, wird ausgehend von einem allumfassenden Verständnis des Ästhetischen in Bezug auf die menschliche Lebenswelt aktuell die Frage nach der Bedeutung des Ästhetischen für den Menschen aufgeworfen. Entsprechend ergibt sich die Bedeutung der ästhetischen Erfahrung – nicht ausschließlich von Kunstwerken – nur aus der Möglichkeiten der Welterschließung. In diesem Sinne sind Kunst und Kunstwerke nur als mögliche Beispiele im Rahmen eines Verständnisses des Ästhetischen zu verstehen, das ebenso die Natur, die Wirtschaft, die Politik, die Ethik und die 38
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Perniola: L’estetica contemporanea, 9: „Tuttavia nella prima metà del Novecento l’estetica ha preteso di essere molto più che la teoria filosofica del bello e del buon gusto. Essa da un lato ha stabilito e mantenuto un rapporto di complicità con la letteratura, con le arti figurative, con la musica, senza lasciarsi spaventare dalle innovazioni più ardite e dalle sperimentazioni più rischiose, dall’altro si è sentita coinvolta nella gestione istituzionale, nell’esposizione, nell’organizzazione e nella comunicazione dei prodotti artistici culturali. Essa ha affrontato i grandi problemi della vita singola e collettiva, si è interrogata sul senso dell’esistenza, ha promosso ardite utopie sociali e si è sentita coinvolta nei quesiti della vita quotidiana, ha individuato sottili distinzioni conoscitive.“ [Übers. G.C.] Wolfgang Welsch: Das Ästhetische – eine Schlüsselkategorie unserer Zeit? In: Wolfgang Welsch (Hg.): Die Aktualität des Ästhetischen. München: Fink 1993, 13–47. Wiesing: Philosophische Ästhetik, V. Vgl. dazu auch: Welsch: Ästhetisches Denken, 7.
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Lebenswelt des Menschen im Allgemeinen einbezieht. In diesen Zusammenhang lassen sich die Theorien von Gernot Böhme, Josef Früchtl, Franz Koppe, Hans Robert Jauß, Odo Marquard, Albrecht Wellmar und Wolfgang Welsch verorten, die die Ansicht teilen, dass die ästhetische Erfahrung positive Auswirkungen auf das individuelle und gemeinschaftliche Leben habe.41 Im Gegensatz dazu heben die Theorien von Günther Anders und Hans Sedlmayr, die sich ebenfalls im Rahmen einer Analyse des Ästhetischen in Bezug auf die menschliche Lebenswelt bewegen, die negativen Auswirkungen ästhetischer Phänomene auf das menschliche Leben hervor.42 41
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Hier nur einige Beispiele für die entsprechende Perspektive: Im Rahmen seiner Ästhetik der Atmosphären erkennt Böhme der Kunst eine handlungsentlastende Funktion zu. (Vgl. Böhme: Atmosphäre, 16) Früchtl entwickelt hingegen eine Konzeption der ästhetischen Erfahrung, die seiner Auffassung nach an neuen Weisen der Welterschließung sowie an Problemlösungen mitwirke. (Vgl. Josef Früchtl: Ästhetische Erfahrung und Einheit der Vernunft. These im Anschluß an Kant und Habermas. In: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, 147–164; 162) Jauß macht die produktive, rezeptive und kommunikative Funktion der ästhetischen Erfahrung zu den Hauptthemen seiner Auseinandersetzung mit der literarischen Kunst und verbindet die Verwirklichung des Selbst mit einem Prozess ästhetischer Bildung. (Vgl. Hans Robert Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. München: Fink 1977, 32; 136–137) Koppe weist der Kunst eine Erschließungsfunktion zu, die er als „Vergegenwärtigung von Bedürfnis- und Wertperspektiven“ (Franz Koppe: Kunst als entäußerte Weise, die Welt zu sehen. Zu Nelson Goodman und Arthur C. Danto in weitergehender Absicht. In: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, 81–103; 99; vgl. dazu ders.: 81–83) versteht. Ausgehend von seiner zeitkritischen Diagnose eines Realitätsverlusts der Gegenwart setzt Marquard in seiner Analyse auf die Kompensationsfunktion, die die Kunst gegenüber diesem Realitätsverlust ausüben könne. (Vgl. Odo Marquard: Aesthetika und Anaesthetica. Philosophische Überlegungen. Paderborn: Schöningh 1989, 9; 64–99; 113–121) Auch Wellmer sieht die Funktion der Kunst in einer Form der Wiedergewinnung. Ihm geht es aber nicht wie Marquard um die Kompensation eines Realitätsverlusts, sondern um eine Wiedergewinnung des Sinnes, insofern die Kunst in seinem Verständnis die Kraft besitze, Sinn zu sammeln, zu verdichten und zu transformieren. (Vgl. Albrecht Wellmer: Adorno, die Moderne und das Erhabene. In: Franz Koppe (Hg.): Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte und Diskussionen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, 165–190; 165–167; 187) Welsch sieht in der Kunst und speziell in der modernen Kunst eine vorbildliche Funktion, dem Menschen bei seiner Orientierung in einer sich zunehmend pluralisierenden Welt zu helfen: „Kunstwerkserfahrung vermag meines Erachtens Handlungskompetenzen auszubilden. Denn wer mit der Verfassung und den Geboten der Pluralität von Grund auf vertraut ist – wozu Kunsterfahrung die beste Schule ist –, vermag sich in einer Situation radikaler Pluralität angemessen zu bewegen […]. Sie [die mehrfachkodierten Kunstformen] gewinnen geradezu Vorbildfunktion für die individuelle Existenz.“ (Welsch: Zur Aktualität ästhetischen Denkens, 76) Anders hebt in den 1980er Jahren in seiner Betrachtung von Rundfunk und Fernsehen den ‚Täuschungscharakter‘ dieser neuen Medien hervor, der durch eine „ontologische Zweideutigkeit des Fernsehbilds“ (Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. Bd. 1. München: C.H. Beck 1980, 131) verursacht werde. Statt als positive Errungenschaft einer sich entwickelnden Gesellschaft sieht Anders vor allem im Fernsehen das Produkt, das einem bestimmten Menschentyp, den er als ‚Masseneremit‘ bezeichnet, entspreche. (Vgl. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, 102) Auch Sedlmayr drückt sich sehr kritisch der modernen Kunst gegenüber aus, die er noch in den 1990er Jahren als unausweichliche Folge eines Evolutionsrückschritts und ei-
Im englischsprachigen Raum hingegen, wo sich die ästhetische Forschung auf die Kunst konzentriert, handelt es sich beim Verhältnis von Kunst und Leben nicht um ein Hauptinteresse der Ästhetik. Fragen wie jene, ob die Kunst eine Bedeutung für das Leben haben kann und inwiefern die Begegnung mit der Kunst den Menschen beeinflusst oder sogar bestimmt, tangieren den Ästhetikdiskurs im englischsprachigen Raum lediglich am Rande.43 Dieser kurz skizzierte Überblick der Situation der ästhetischen Forschung und der Rolle, die das Verhältnis von Kunst und menschlichem Leben innerhalb dieser Forschung annimmt, ermöglicht es nun, die Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit zu präzisieren und ihr Forschungsziel innerhalb der aktuellen ästhetischen Debatte zu verorten. In der vorliegenden Arbeit wird nach der Bedeutung der Kunst für das menschliche Leben gefragt. Es ist dabei zu präzisieren, dass sich diese Ausführungen auf die sogenannte autonome Kunst beschränken werden, jene Kunst also, die sich vor allem im 20. Jahrhundert als Selbstzweck versteht und die keiner ihr äußeren religiösen, moralischen, politischen oder sozialen Instanz dient. Denn als autonom, als zweckungebunden verliert die Kunst ihre Selbstverständlichkeit und daher wird auch ihre Bedeutung für das Leben in Frage gestellt. Die Beschränkung auf die autonome Kunst begründet sich zudem dadurch, dass gerade dieser Verlust von Selbstverständlichkeit der autonom gewordenen Kunst für Adorno, Heidegger und Benjamin Anlass und Ansporn für die Frage nach der Kunst gewesen ist. So präzisiert, verortet sich das Forschungsziel der vorliegenden Arbeit an der Schnittstelle zwischen den zwei dargestellten Tendenzen der aktuellen Ästhetik: der einen, die die Diskussion im englischsprachigen Raum prägt, die die Ästhetik als Theorie der Kunst versteht; und der anderen, die sich in der mitteleuropäischen und vor allem in der deutschen Debatte niederschlägt, die die gesamte Le-
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ner Tendenz der Enthumanisierung bewertet. (Vgl. Hans Sedlmayr: Verlust der Mitte. Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit. Frankfurt a.M.: Ullstein 1991, 147–148) Im Kontext der möglichen Wirkungen der Kunst und der ästhetischen Erfahrung auf ihre Stellung in der menschlichen Lebenswelt sind vor allem die Positionen Bubners und Gehlens, die der Kunst prinzipiell eine positive Funktion zusprechen, zu erwähnen, da sie die Unmöglichkeit ihrer Entfaltung aufgrund lebensweltlicher Phänomene feststellen. Bubner erkennt der ästhetischen Erfahrung eine positive, entlastende Funktion zu, indem sie den Menschen von zweckgerichteten Mechanismen befreie. Doch die von ihm attestierte, zunehmende Ästhetisierung aller Lebensbereiche entkräfte eben dieses Potenzial der Kunst, indem der Ausnahmezustand, den die Kunst in einem gewissen Sinne darstelle und aufgrund dessen sie eine Entlastung von der Welt bewirken könne, durch die Ästhetisierung der Welt verunmöglicht werde. (Vgl. Bubner: Ästhetisierung der Lebenswelt, 150–152) Gehlen sieht im „Reduktionsprozeß des Bildgehaltes [der modernen Kunst] einen Zuwachs von Eindrücken, eine Gewinnung an Bewegungsfreiheit“. (Gehlen: Zeit-Bilder, 16) Doch auch die negativen Konsequenzen, die sowohl die Mechanismen der industriellen Massengesellschaft als auch die zunehmende Demokratisierung des Kulturbereichs für die Kunst und konsequenterweise auch für die ästhetische Erfahrung haben, lässt Gehlen dabei nicht unberücksichtigt. (Vgl. Gehlen: Zeit-Bilder, 207–210; 220–233) Vgl. für eine der wenigen Ausnahmen: Noël Carroll: Art and Human Nature. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 62.2, 2004, 95–107.
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benswelt des Menschen ins Zentrum ihres Interesses rückt. Da das Ziel der vorliegenden Forschungsarbeit darin besteht, die Bedeutung der Kunst für das Leben – und nicht das Wesen der Kunst an sich – zu erschließen, muss dem Leben innerhalb der vorliegenden Arbeit eine ebenso große Rolle wie der Kunst zukommen. In diesem Sinne kann eine gewisse Nähe dieser Arbeit zur mitteleuropäischen, ästhetischen Debatte festgestellt werden, die – wie verdeutlicht – ein weites Verständnis des Ästhetischen vertritt und die daher besondere Aufmerksamkeit auf Ästhetisierungsprozesse des Lebens richtet. Zugleich verhalten sich die Ziele der vorliegenden Untersuchung konträr zur aktuellen, mitteleuropäischen Ästhetikforschung: Denn sie verfolgt weder den Anspruch, eine Definition des Ästhetischen noch eine solche des ästhetischen Gegenstands zu entwickeln; sie fragt nicht danach, unter welchen Bedingungen ästhetische Erfahrung außerhalb eines künstlerischen Kontexts gegeben ist oder wie sie sich von anderen Erfahrungen unterscheidet. Die vorliegende Analyse strebt auch nicht danach, eine Grenze zwischen Ästhetik und philosophischer Ästhetik zu ziehen oder beide gar gleichzusetzen. Und auch die Problematik, ob das Ästhetische eine Schlüsselkategorie der Moderne ist – was auch immer unter Moderne verstanden wird –, liegt dem Forschungsziel dieser Arbeit fern. Ihr Fokus liegt vielmehr auf der Kunst und nicht auf dem Ästhetischen im Allgemeinen. Gerade unter dieser Perspektive schließt die vorliegende Untersuchung an die Ästhetikforschung im englischsprachigen Raum an. Die Beschränkung des Forschungsbereichs der vorliegenden Untersuchung auf die autonome Kunst, die durch den Verlust ihrer Selbstverständlichkeit begründet wurde, weist außerdem den Vorteil auf, das Forschungsfeld der vorliegenden Untersuchung so präzise wie möglich abstecken zu können.44 Sich auf die autonome Kunst innerhalb des größeren Bereiches des Ästhetischen zu fokussieren, vereinfacht dennoch nicht die Aufgabe, eine Definition des Forschungsgegenstandes zu finden. Denn ebenso wenig wie für das Ästhetische hält die aktuelle Forschung für die Kunst oder das Kunstwerk eine einheitliche Definition bereit. Wie bereits angedeutet, wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts viele unterschiedliche und oft nicht miteinander zu vereinbarende Antworten auf die Frage ‚Was ist Kunst?‘ gegeben. Es mag paradox erscheinen, aber die Kunst, die ein ‚aesthetic universal‘45 zu sein scheint, entzieht sich – vielleicht sogar gerade aufgrund ihrer Universalität – einer universell gültigen Definition. Aus der aktuellen ästhetischen Forschung im englischsprachigen Raum lassen sich vier Ursachen ableiten, die eine allgemeingültige Definition von Kunst erschweren. Die erste Ursache besteht in der 44
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Ob die dadurch gewonnenen Ergebnisse in Anbetracht der vorherrschenden Unbestimmtheit des Ästhetischen auch dazu beitragen können, begriffliche Klarheit und systematische Ordnung im Feld der Ästhetik zu gewinnen, muss deshalb an dieser Stelle eine offene Frage bleiben. Denis Dutton: Aesthetic Universals. In: Berys Gaut, Dominic McIver Lopes (Hg.): The Routledge Companion to Aesthetics. London/New York: Routledge 2005, 203–214.
Historizität des Begriffes ‚Kunst‘, die im Laufe der Geschichte nicht nur zu unterschiedlichen Definitionsversuchen veranlasst hat,46 sondern die eine eindeutige Begriffsbestimmung von Kunst selbst in Frage stellt. Der Begriff ‚Kunst‘ – so Peter Frederick Strawson – „cannot be taken for granted, but depends on the state of a given culture at a particular time“.47 Außerdem unterliegt der Begriff ‚Kunst‘ einem gewissen Kulturrelativismus. Darin besteht der zweite Grund, der eine allgemeingültige Definition der Kunst erschwert. Denn nicht alle Kulturen teilen den gleichen Kunstbegriff.48 Aus der Kombination von Historizität und Kulturrelativismus ergibt sich eine dritte Ursache, die in den folgenden Worten Oswald Hanflings zum Ausdruck kommt: Controversy has been a characteristic feature of the concept of art. But it may be said that today it is in a state of crisis unlike any that existed before. Almost daily we are confronted with new kinds of objects or performances which challenge our notions of what art is or ought to be. Such traditional qualities as beauty, aesthetic experience and the „imitation of nature“ have come under challenge, and even the minimal requirement that a work of art should be a work – „made by human hands“ – has been flouted.49
Eine letzte Ursache, die es zu erwähnen gilt, ist mit der Natur des Objekts Kunstwerk verbunden und wird von William E. Kennick als ‚process-product ambiguity‘ bezeichnet: Because „art“ refers to a certain human activity, or group or related activities, as well as to the products of that activity, of those activities, „What is art?“, as a request for a formal definition, suffers from what is called „process-product-ambiguity“. It may mean one, or both, of two things: (1) What distinguishes art as an activity from other activities? (2) What distinguishes works of art from other objects?50
Kennick verweist somit auf den Unterschied zwischen künstlerischer Praxis und künstlerischem Produkt und konsequenterweise auf die Notwendigkeit, die Frage nach der Kunstpraxis von der Frage nach dem Kunstwerk zu trennen. 46
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Vgl. für eine Zusammenfassung der Veränderung des Begriffs ‚Kunst‘ im Laufe der Geschichte: Tatarkiewicz: What Is Art?, 134–137; Gordon Graham: Philosophy of the Arts. An Introduction to Aesthetics. London/New York: Routledge 2005, 184–185. Peter Frederick Strawson: Individuals. London: Routledge 2002, 10. Vgl. Stephen Davies: Non-Western Art and Art’s Definition. In: Noël Carroll (Hg.): Theories of Art Today. London: The University of Wisconsin Press 2000, 199–216; Denis Dutton: But They Don’t Have Our Concept of Art. In: Noël Carroll (Hg.): Theories of Art Today. London: The University of Wisconsin Press 2000, 217–238. Oswald Hanfling: Essay One: The Problem of Definition. In: Oswald Hanfling (Hg.) Philosophical Aesthetics. An Introduction. Oxford/Cambridge: Blackwell 1992, 1–40; 3. Kennick: Art and Philosophy, 4. Diese vierte und letzte Ursache, die die Formulierung einer allgemeingültigen Definition der Kunst erschwert, wird in der Tat von der Forschungsliteratur stark vernachlässigt. Die ‚process-product-ambiguity‘ gewinnt aber eine grundlegende Rolle in Rahmen der Kritiken, die an den Neo-Wittgesteinian Theories geübt werden. Wie Noël Carroll zeigt, besteht einer der Schwachpunkte der Argumentation Weitzs gerade darin, dass er Kunstwerk und künstlerische Praxis nicht scharf genug voneinander unterscheidet und die beiden Begriffe synonym verwendet. (Vgl. Noël Carroll: Introduction. In: Noël Carroll (Hg.): Theories of Art Today. London: The University of Wisconsin Press 2000, 3–24; 8)
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Aufgrund dieser Ursachen – der historischen und kulturellen Relativität des Begriffs ‚Kunst‘, der Vielfältigkeit der künstlerischen Ausdrucksformen und der Ambiguität von Objekt und künstlerischer Praxis – finden sich im 20. Jahrhundert unzählige Definitionsversuche, die sich zuweilen sogar gegenseitig ausschließen. Wenn am Anfang des 20. Jahrhunderts daher noch essentialistische Ansätze vorherrschten,51 führte ihre Relativierung seit den 1920er Jahren zu der Einsicht, dass sich die Kunst aufgrund ihrer Vielfältigkeit nicht durch eine Realdefinition – eine Definition also, die hinreichende und notwendige Bedingungen für die Bestimmung des zu definierenden Gegenstandes angibt – fassen lässt. Doch auch diese These von der Unmöglichkeit einer Realdefinition, die in den 1950er Jahren von den Neo-Wittgensteinian Theories52 vertreten wird, wird bald vor allem durch die Institutional Theory entkräftet.53 Denn diese versucht zu argumentieren, dass eine Realdefinition mit der Vielfältigkeit der Kunst sehr wohl kompatibel sei. Ab den 1980er Jahren blüht wieder eine gewisse Vorliebe für essentialistische Definitionen auf: Neo-Formalisten, Neo-Expressionisten und Neo-
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Fomalismus und Espressionismus stellen die zwei bedeutendsten Bewegungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Bereich der Ästhetik dar, die essentialistische Definitionen der Kunst anbieten. Der Formalismus, der vor allem von Clive Bell und Roger Fry vertreten wird, schreibt der Form eine entscheidende Bedeutung für die Zuschreibung des Kunststatus zu. (Vgl. Clive Bell: Art as Significant Form. (1914) In: George Dickie, Richard Sclafani, Ronald Roblin (Hg.): Aesthetics: A Critical Anthology. New York: St. Martin’s Press 1989, 73–83; Roger Fry: An Essay in Aesthetics. In: Vision and Design, 2, 1909, 11–25) Benedetto Croce ist der unbestrittene Begründer des Expressionismus, der den Akzent hingegen auf die Expressivität – meist verstanden als Ausdruck der Emotionen des Künstlers – setzt. (Vgl. Benedetto Croce: Nuovi saggi di estetica. Bari: Laterza 1920) Mit dieser Bezeichnung werden jene Theorien benannt, die sich in Anlehnung an das Denken Wittgensteins mit der Natur des Kunstbegriffs auseinandersetzen und auf dieser Basis die These der Undefinierbarkeit der Kunst entwickeln. Diese Theorien werden in Paragraph 4.1. Das Kunstwerk ausführlicher behandelt. Es seien an dieser Stelle nur einige allgemeinen Informationen vorweggenommen. Dieser Denkansatz entwickelt sich ab 1956 aufbauend auf Morris Weitz’ Artikel The Role of Theory in Aesthetics (Vgl. Morris Weitz: The Role of Theory in Aesthetics. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 15. 1, 1956, 27–35) und wird zwei Jahre später unter veränderter Perspektive von Kennick wieder aufgegriffen. (Vgl. William E. Kennick.: Does Traditional Aesthetics Rest on a Mistake? In: Mind, 67, 1958, 317– 319) Im selben Jahr entwirft auch Haig Khatchadourian in Anlehnung an Wittgensteins Familienähnlichkeitsbegriff eine Theorie der Kunst. (Haig Khatchadourian: Common Names and Family Resemblances. In: Philosophy and Phenomenological Research, 18.3, 1958, 341– 358) Dabei darf nicht unerwähnt bleiben, dass Paul Ziff bereits 1953 gegen Realdefinitionen der Kunst argumentiert hat, dies jedoch ohne Bezug auf Wittgenstein. (Vgl. Paul Ziff: The Task of Defining a Work of Art. In: Philosophical Review, 62, 1953, 58–78) Trotz offensichtlicher und zum Teil heftig diskutierter Differenzen zwischen George Dickie und Arthur Danto (Vgl. George Dickie: The Institutional Theory of Art. In: Noël Carroll (Hg.): Theories of Art Today. London: The University of Wisconsin Press 2000, 93–108) gelten beide eindeutig als Vertreter der Institutional Theory, da die Kernüberlegung beider darin besteht, dass die Kunst kontextuell bedingt ist. Vgl. für weitere Ausführungen dazu: Paragraph 4.1. Das Kunstwerk.
Repräsentationalisten nehmen entsprechende Versuche vor.54 Die 1990er Jahre bieten wiederum eine Revidierung der essentialistischen Ansätze. Daraufhin schlagen einerseits Autoren wie etwa Jerrold Levinson und Carroll historische bzw. historisch narrative Definitionen der Kunst vor.55 Andererseits entwickeln Autoren wie Danto und Robert Stecker hybride Kunsttheorien.56 54
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Wie diese Bezeichnungen bereits verdeutlichen, handelt es sich bei diesen Ansätzen um die Wiederentdeckung einzelner Aspekte, durch welche sich ein Kunstwerk definieren lässt, wie etwa die Form für die Neoformalisten (vgl. Richard Eldridge: Form and Content: An Aesthetic Theory of Art. In: The British Journal of Aesthetics, 25.4, 1985; 303–316; Arthur Coleman Danto; Goehr, Lydia: After the End of Art: Contemporary Art and the Pale of History. Princeton: Princeton University Press, 1997; Andrew Cecil Bradley: Poetry for Poetry’s Sake. Russia: Litres 2018; Monroe C. Beardsley: Aesthetics, Problems in the Philosophy of Criticism. Indianapolis: Hackett 1981) oder der Ausdruck für die Neo-Expressionisten (vgl. Robert Stecker: Expression of Emotion in (Some of) the Arts. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 42.4, 1984, 409–418; Ismay Barwell: How Does Art Express Emotion? In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 45.2, 1986, 175–181; Bruce Vermazen: Expression as Expression. In: Pacific Philosophical Quarterly, 67.3, 1986, 196–224); die Repräsentation für die Neo-Repräsentationalisten. (Vgl. Peter Kivy: Philosophies of Arts: An Essay in Differences. Cambridge: Cambridge University Press 1997; Kendall L. Walton: Mimesis as Make-Believe: On the Foundations of the Representational Arts. Harvard: Harvard University Press, 1990) Der Neo-Repräsentationalismus scheint einen gewissen Erfolg in der post- bzw. der postpostmodernen Welt zu haben. Und dies nicht nur, weil die meisten Kunstwerke, denen wir alltäglich begegnen, etwas darstellen. Wie Carroll bemerkt, gewinnt die Darstellung im ästhetischen Bereich an Bedeutung, weil die Malerei, die klassischerweise darstellende Kunst ist, nicht nur die klassische Malerei, sondern auch Film, Photographie, Video und TV umfasst. (Vgl. Carroll: Philosophy of Art, 56) Historische und historisch-narrative Definitionsversuche der Kunst entwickeln sich ab den 1970er Jahren und beleben auch noch die aktuelle Debatte um die Kunst. Neben Jerrold Levinson, der in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren seine Essay-Trilogie über die Historizität der Kunst verfasst hat (vgl. Jerrold Levinson: Defining Art Historically. In: The British Journal of Aesthetics, 19.3, 1979, 232–250; Jerrold Levinson: Refining Art Historically. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 47.1, 1989, 21–33; Jerrold Levinson: Extending Art Historically. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 51.3, 1993, 411–423), ist James D. Carney der bedeutendste Vertreter einer historischen Herangehensweise an die Kunst. (Vgl. James D. Carney: The Style Theory of Art. In: Pacific Philosophical Quarterly, 72.4, 1991, 272–289) Carroll schlägt hingegen eine Variation dieser historischen Bestimmungen vor, indem er der Narration eine grundlegende Rolle für die Definition des Kunstwerks zuschreibt. (Vgl. Noël Carroll: Art, Practice, and Narrative. In: The Monist, 71.2, 1988, 140– 156; Noël Carroll: Historical Narratives and the Philosophy of Art. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 51.3, 1993, 313–326) Entgegen seiner These des Endes der Kunst (vgl. Arthur Coleman Danto; Berel Lang: The Death of Art. New York: Haven 1984) vertritt Danto in seinem letzten Buch What Art Is die These, dass sich Kunstwerke durch unsichtbare Eigenschaften auszeichnen, die daher eine Unterscheidung von Kunst und Nicht-Kunst bzw. von Kunst und Wirklichkeit ermöglichen. Dies ist seiner Auffassung nach möglich, weil Kunstwerke „embodied meaning“ sind (Danto: What Art Is, 37) oder – wie er in Anlehnung an Descartes und Plato argumentiert – „wakeful dreams“. (Danto: What Art Is, 48) Robert Stecker schlägt eine pragmatistischinstrumentale und antiessentialistische Theorie der Kunst vor, die Aspekte funktionalistischer Ansätze mit Aspekten narrativer Theorien ergänzt. (Vgl. Robert Stecker: Artworks: Definition, Meaning, Value. University Park: The Pennsylvania State University Press 1997) Auch Richard Kamber versucht eine hybride Definition zu entwickelt, die Aspekte der Intitutional Theory und der historischen Theorien miteinander verbindet. (Vgl. Richard Kam-
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Dieser kurze Überblick der bedeutendsten Versuche des 20. Jahrhunderts im englischsprachigem Raum, die Kunst bzw. das Kunstwerk zu definieren, und die Erwähnung der größten Schwierigkeiten, die mit diesem Vorhaben verbunden sind, macht in Hinblick auf die Forschungsfrage und das Forschungsziel dieser Arbeit deutlich, dass die Suche nach einer Definition der Kunst Bestandteil der vorliegenden Untersuchung sein muss. Denn die aktuelle ästhetische Forschung bietet keine allgemeingültige Definition der Kunst, auf welche sich die Frage nach der Bedeutung der Kunst für das Leben stützen kann.
Vorbemerkungen und Überblick Bevor nun der thematische Aufbau der vorliegenden Betrachtungen skizziert werden soll, gilt es noch einige Prämissen bezüglich der gewählten Referenzautoren – Heidegger, Adorno und Benjamin – voranzustellen. Wie bereits erwähnt, besteht die bemerkenswerteste Gemeinsamkeit ihrer Kunstauffassungen in der rettenden Rolle für das Leben, das sie der Kunst zuschreiben. Dies lässt die Annahme zu, dass eine Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Kunstkonzeptionen für das vorliegende Forschungsziel, die Bedeutung der Kunst für das Leben zu erschließen, ausgesprochen fruchtbar sein kann. Deshalb soll diese womöglich irritierend anmutende Zusammenstellung des Denkens Heideggers, Adornos und Benjamins lediglich – und darin besteht eine erste wichtige Prämisse – im Kontext der hier relevanten Fragestellung verstanden werden: Jegliche biographischen oder politischen Aspekte, die das Verhältnis zwischen den drei Autoren und vor allem zwischen Heidegger und Adorno bestimmt haben, haben keinerlei Relevanz für das systematische Forschungsziel der vorliegenden Arbeit und werden daher nicht berücksichtigt.57 Eine zweite Vorbemerkung betrifft die Rolle, die die Kunstauffassungen der drei Autoren im Rahmen des vorliegenden Forschungsvorhabens annehmen werden: Die Auseinandersetzung mit den jeweiligen Kunstkonzeptionen wird weder in einem Vergleich münden, der die Differenzen zwischen den drei Auffassungen nivelliert, noch wird sie den Versuch anstellen,
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ber: A Modest Proposal for Defining a Work of Art. In: The British Journal of Aesthetics, 33.4, 1993, 313–320) Angesichts der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte Heideggers, die keinerlei Zweifel an seinen politischen Überzeugungen mehr offen lassen, mag die hier riskierte Zusammenstellung des Denkens der drei Autoren nicht nur irritieren, sondern geradezu anmaßend wirken. Um jegliche Missverständnisse zu vermeiden, sei in diesem Zusammenhang betont, dass Heideggers Affinität zum Nationalsozialismus vorbehaltlos verurteilt wird. Doch Heideggers politische Überzeugungen spielen im Rahmen der Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit keine systematische Rolle. Aus diesem Grund wird im Folgenden, auch wenn der Einfluss seiner politischen Überzeugungen auf sein Denken unbestreitbar ist, darauf nicht Bezug genommen.
einer der drei Positionen den Vorzug einzuräumen.58 Durch einen sorgfältigen Blick auf die jeweiligen Kunstauffassungen wird sich vielmehr die Notwendigkeit ergeben, die Kunst und ihre Bedeutung für das Leben unter einer systematischen Perspektive zu behandeln, die über die von den drei Autoren erarbeiteten Auffassungen hinausgeht. Ausgehend von diesen Prämissen wird sich die vorliegende Forschungsarbeit in drei Hauptkapitel gliedern. Das erste Kapitel (Die Kunst als Rettung des menschlichen Lebens) widmet sich der Aufgabe, die rettende Funktion, die die drei Autoren der Kunst für das Leben zuschreiben, zu verdeutlichen. Es wird sich dabei zeigen, dass ihre Kunstauffassungen in ihrem jeweiligen Denken verhaftet bleiben. Dieser Befund wird zu dem Versuch führen, die Kunst aus einer ihr immanenten Perspektive zu befragen. Um diese Perspektive einnehmen zu können, wird ein ‚Umweg‘ erforderlich sein: Als menschliche, kulturelle Ausdrucksform verlangt die Kunst danach, ausgehend vom menschlichen Leben untersucht zu werden. Folglich wird ein dem Leben immanenter Lebensbegriff notwendig, der die kulturelle Dimension eröffnet, von der ausgehend die Kunst befragt werden kann. Diese Notwendigkeit bestimmt das Forschungsanliegen des zweiten Kapitels (Das Menschsein). Dafür wird sich die ‚Analytik des Daseins‘ Heideggers als ein ausgezeichnetes Hilfsmittel erweisen. Denn in Anlehnung daran wird zweierlei möglich sein: Zum einen können jene Wesenszüge erschlossen werden, die das menschliche Leben auszeichnen, wodurch ein dem Leben immanenter Lebensbegriff gewonnen werden kann. Zum anderen kann eine Bestimmung der Welt als Kultur erarbeitet werden, die über Heideggers Auffassung hinaus jene kulturelle Dimension eröffnet, in der die Frage nach der Kunst angemessen gestellt werden kann. Auf dieser Grundlage wird folglich im dritten und abschließenden Kapitel (Die Kunst) die bis dorthin eingeklammerte Frage nach der Kunst erneut aufgegriffen. Ausgehend von der Vermutung, dass sich Kunstwerke allumfassenden Definitionen gegenüber verschließen, wird versucht, durch die Betrachtung eines Gemäldes Cézannes eine von der Kunst ausgehende Bestimmung der Kunst zu gewinnen. In Anlehnung an das Konstellationsmodell Adornos und Benjamins wird es möglich sein, einen der Kunst immanenten Autonomiebegriff zu formulieren und abschließend ihre Bedeutung für das Leben zu erschließen.
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Angesichts dessen, dass kein Vergleich zwischen Heidegger, Adorno und Benjamin vorgenommen wird und dass es vielmehr um die Beantwortung einer systematischen Fragestellung geht, wird jene Forschungsliteratur, die sich einem entsprechenden Vergleich widmet, nicht berücksichtigt.
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1 Die Kunst als Rettung des menschlichen Lebens Heidegger, Adorno und Benjamin schreiben der Kunst ein rettendes Potenzial für das menschliche Leben zu. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, würde man nur darin eine Gemeinsamkeit ihrer Kunstauffassungen sehen. Denn ihre Gemeinsamkeiten gehen über einen rein ästhetischen Diskurs hinaus. Sie betreffen außerdem sowohl existenzial gefärbte Feststellungen als auch den jeweiligen systematischen Argumentationsaufbau, auf Grundlage dessen Heidegger, Adorno und Benjamin die Bedeutung der Kunst für das menschliche Leben erschließen. Als Folge dieser Gemeinsamkeiten ergeben sich zudem ähnliche Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten lassen sich auf die Grundannahmen zurückführen, von denen ihr jeweiliges Verständnis des rettenden Potenzials der Kunst abhängt. Problematisch sind deshalb nicht ihre Grundannahmen selbst, sondern die Abhängigkeit der rettenden Rolle der Kunst für das Leben von diesen Grundannahmen. So ergeben sich Zweifel hinsichtlich der Gültigkeit ihrer Analysen und entsprechend auch ihrer Ergebnisse. Denn Heidegger, Adorno und Benjamin gründen, wie zu zeigen sein wird, das rettende Potenzial der Kunst in ihrer Autonomie, die sie ausgehend von einem Kontrast mit der außerästhetischen Realität erarbeiten. Diese außerästhetische Realität wird von den drei Autoren sehr kritisch beschrieben und bewertet. Doch analog zu ihren Kunstverständnissen hängen auch ihre zeitkritischen Diagnosen von ihren jeweiligen Grundannahmen ab. Ausgehend von diesen Beobachtungen möchte das vorliegende Kapitel die Gemeinsamkeiten sowie die damit verbundenen, problematischen Aspekte der Kunstauffassungen der drei Autoren bezüglich der Bedeutung der Kunst für das Leben herausarbeiten. Angesichts dieses Vorhabens widmet sich der erste Abschnitt (Eine ernüchternde zeitkritische Diagnose) der Aufgabe, jene zeitkritischen Diagnosen zu beleuchten, vor deren Hintergrund die drei Autoren das rettende Potenzial der Begegnung mit der Kunst für den Menschen entwickeln. Es wird sich dabei zeigen, dass das menschliche Leben im modernen Zeitalter für alle drei Autoren durch einen unwiderruflichen Entmenschlichungsprozess gekennzeichnet ist, der den Menschen in einen Zustand von Unwahrheit und Unfreiheit versetzt. Deshalb wird im zweiten Abschnitt (Das rettende Potenzial der Kunst) die rettende Kraft der Kunst in den Blick genommen. Trotz beträchtlicher Unterschiede führen alle drei Autoren diese Kraft auf eine der Kunst immanente Autonomie zurück, aufgrund derer sich künstlerische Ausdrucksformen dem herrschenden Zustand entziehen. Gerade weil Kunstwerke nicht an dem diagnostizierten Entmenschlichungsprozess mitwirken, sehen die drei Autoren in der Begegnung mit ihnen die Möglichkeit einer Rettung für das Leben. An diese ersten beiden Abschnitte, die in erster Linie eine darstellende Funktion erfüllen, schließt ein dritter Teil (Ein kritischer Blick) an, in dem die Argumentation eine kritische Wendung
nehmen wird. Im Fokus stehen dabei die Auseinandersetzungen Heideggers, Adornos und Benjamins mit dem Leben und mit der Kunst: Obwohl unterschiedlich fundiert und ausgearbeitet, bleiben sowohl ihre Bestimmungen des Lebens als auch ihre Begründungen der Autonomie der Kunst von ihren jeweiligen ontologisch, gesellschaftskritisch bzw. erkenntnistheoretisch fundierten Denkansätzen abhängig. Diese Abhängigkeit lässt ihre Ergebnisse mit Blick auf die Bedeutung der Kunst für den Menschen fragwürdig erscheinen. Dennoch wird dadurch der Gegenstand der vorliegenden Untersuchung greifbarer. Denn die Abhängigkeit der Kunstauffassungen Heideggers, Adornos und Benjamins von ihrem jeweiligen Denken zeigt, dass die Kunst von der Kunst her gedacht werden muss, um ihr gerecht werden zu können. Deshalb wird der Versuch unternommen, die Kunst aus einer Binnenperspektive zu betrachten, um ihre Bedeutung für das Leben zu erschließen.
1.1 Eine ernüchternde zeitkritische Diagnose Heidegger, Adorno und Benjamin formulieren eine ausgesprochen kritische Diagnose des Zustands des modernen Menschen, der sich, wie bereits erwähnt, durch einen Entmenschlichungsprozess auszeichnet. Dieses Ergebnis darf jedoch nicht als Ausdruck einer vollkommenen Übereinstimmung der drei Analysen missverstanden werden. Denn die drei Autoren konzentrieren sich auf je unterschiedliche Aspekte des menschlichen Lebens. Überraschenderweise stehen sie sogar in einem komplementären Verhältnis zueinander.1 Auffällig sind dabei nicht so sehr die von den drei Autoren jeweils betonten Aspekte an sich. Bemerkenswert ist vielmehr, dass sie alle den Akzent auf Phänomene, Motive und Themen legen, von denen man intuitiv eher annehmen könnte, sie im Denken der jeweils anderen beiden Autoren zu finden: So streift Heidegger bei seiner Analyse kaum das eigentlich Menschliche. Obwohl er der Einzige unter den dreien ist, der sich explizit und systematisch mit der Lebensform des Menschen auseinandergesetzt hat, konzentriert er sich in seiner Untersuchung des modernen Lebens vielmehr darauf, die Folgen der Seinsvergessenheit für das Seinsgeschehen zu reflektieren. Im Gegensatz dazu nimmt Adorno eine detaillierte Beschreibung des Entstellungsprozesses vor, der jeden menschlichen Existenzbereich betrifft. Der marxistische Ausgangspunkt der Adornoschen Analyse würde allerdings erwarten lassen, dass er mehr an den Mechanismen des sozialen Miteinanderseins als an den Folgen dieser Mechanismen für den Einzelnen interessiert ist. Dennoch beharrt er in Dialektik der Aufklärung und in Minima Moralia auf jenen Phänomenen des bürgerlichen Lebens, die die Selbstbezüglichkeit des Menschen deformieren. Eine poli1
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Diese Feststellung spricht bereits auf einer reinen Beschreibungsebene des menschlichen Zustands in der modernen Zeit für die Verbindung der Forschungsperspektiven Heideggers, Adornos und Benjamins.
tisch gerichtete Auseinandersetzung mit dem Massenphänomen der bürgerlichen Gesellschaft bleibt in der Analyse Adornos überraschenderweise aus. Genau diese Aspekte der bürgerlichen Gesellschaft werden jedoch von Benjamin behandelt. Anstatt sie aber an sein messianisch-platonisches System anzupassen und sie darin zu verorten, beobachtet Benjamin diese Aspekte vielmehr in ihrer ökonomischsozialen Realität und insistiert auf der Notwendigkeit einer befreienden Massenrevolution eines bewussten Kollektivs. Die drei folgenden Abschnitte, die jeweils einzeln auf die Zeitdiagnosen Heideggers, Adornos und Benjamins eingehen, möchten diese verschiedenen Perspektiven auf das moderne Leben darstellen. Es wird sich dabei zeigen, dass die Analysen der drei Autoren trotz ihrer unterschiedlichen Ausgangspunkte und Ziele zu einem gemeinsamen Ergebnis gelangen: Der moderne Mensch führt ein unmenschliches Leben. Dieser Befund ist die Bedingung, die von allen drei Autoren dem rettenden Potenzial der Kunst für das Leben vorangestellt wird. 1.1.1 Heidegger: Die Welt der Technik Heidegger entwickelt seine Zeitdiagnose des 20. Jahrhunderts in enger Verbindung mit einer Kritik am technischen und technologischen Fortschritt, der die westliche Welt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts geprägt hat. Wie Franco Volpi bemerkt, lässt sich die Heideggersche Diagnose im so genannten ‚Denken der Krise‘ verorten, „das sich in Europa und besonders im deutschsprachigen Raum zwischen den zwei Weltkriegen entfaltete und schon in jenen Jahren zusammen mit der Kritik an den optimistischen Fortschrittsideologien und der positivistischen Wissenschaftsgläubigkeit zum Vorzeichen für ein epochales Unbehagen und zum Vorreiter einer tiefzehrenden Selbsthinterfragung der abendländischen Kultur wurde“.2 Unter dieser Perspektive steht Heideggers Zeitdiagnose den Betrachtungen des Abendlandes durch Autoren wie Spengler, Lessing, Ziegler, Jünger, Scheler, Husserl und nicht zuletzt Horkheimer und Adorno nicht nur historisch nahe. Denn sie gleichen sich zudem thematisch in der Feststellung der geistigen und kulturellen Krise der westlichen Welt und teilen die grundlegende Kritik an ihrer technischen Rationalität.3
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Franco Volpi: Der Bezug zu Platon und Aristoteles in Heideggers Fundamentalverständnis der Technik. In: Walter Biemel; Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.): Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1989, 67–91; 67. Vgl. Volpi: Der Bezug zu Platon und Aristoteles in Heideggers Fundamentalverständnis der Technik, 67–68.
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Trotz dieser bemerkenswerten Ähnlichkeiten und Parallelen betont Volpi, dass Heideggers Analyse aufgrund ihrer Radikalität im Kontext des ‚Denkens der Krise‘ hervorsticht und sich dadurch von diesem Denken distanziert: 4 Das Heideggersche Verständnis der Technik mit seiner Grundthese, das Wesen der Technik sei die Vollendung der abendländischen Metaphysik, basiert […] auf seiner Interpretation der Metaphysikgeschichte; steht und fällt mit dieser. Die Radikalität dieses Verständnisses besteht zum einem eben darin, daß es nicht bei epochenimmanenten Ursachenverweisungen stehenbleibt, sondern das Wesen der Technik über den gegenwartsspezifischen epochalen Horizont hinaus bis zu dessen ersten Wurzeln, also bis zu dessen eigentlichem Ursprung und Fundament zurück hinterfragt […]. Zum anderen aber besteht es auch darin, daß in diesem Gesamtrahmen moderne Technik und griechische Philosophie als zwei verbundene Enden des gleichen Geschichtsgeschehens erkannt werden und dieses durch den unsichtbaren, gemeinsamen Nenner, auf den die verschiedenen, an der Oberfläche vernehmbaren Faktoren dieser Geschichte zurückgeführt werden, in seiner Einheitlichkeit erfaßt wird.5
Von welchem Geschichtsgeschehen ist hier die Rede? Auf welche ‚Wurzeln‘ verweist Volpi in seiner Erläuterung der Radikalität des Heideggerschen Verständnisses der Technik? Durch die Beantwortung dieser Fragen wird im folgenden Abschnitt die Radikalität der Heideggerschen Diagnose und ihre Konsequenzen für den Menschen vor Augen geführt. 1.1.1.1 Die Seinsvergessenheit Heideggers zeitkritische Diagnose basiert auf einem Befund, der das Leben des Menschen auf sehr grundlegende Weise betrifft und der insofern die Möglichkeit seiner Existenz in entscheidender Weise berührt. Dieser Befund besteht darin, dass die ontologische Differenz, d.h. der Unterschied des Seins zum Seienden, in Vergessenheit geraten ist. Dieses Phänomen bezeichnet Heidegger mit dem Ausdruck „Seinsvergessenheit“.6 In diesem Zusammenhang ist die Kritik Heideggers an 4 5 6
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Vgl. Volpi: Der Bezug zu Platon und Aristoteles in Heideggers Fundamentalverständnis der Technik, 67–68. Volpi: Der Bezug zu Platon und Aristoteles in Heideggers Fundamentalverständnis der Technik, 69–70. GA5: Der Spruch des Anaximander, 364. Heidegger nimmt 1929 in Vom Wesen des Grundes die ausführlichste systematische Ausarbeitung der ontologischen Differenz vor. (Vgl. GA9: Vom Wesen des Grundes) Ab diesem Zeitpunkt stellt diese Differenz den systematischen Kernpunkt seines Denkens dar: Sowohl der konstruktive Teil seines Denken (d.h. der Versuch, einen neuen ursprünglichen Anfang des Denkens herauszuarbeiten) als auch seine Kritik an der klassischen Metaphysik werden von Heidegger ausgehend von der ontologischen Differenz des Seins zum Seienden gedacht. In Vom Wesen des Grundes kommt der Ausdruck ‚Seinsvergessenheit‘ allerding nicht vor. Heidegger entfaltet vielmehr die Differenz zwischen Sein und Seiendem in Bezug auf das Nichts als das „Nicht des Seienden und so das vom Seienden her erfahrene Sein“. (GA9: Vom Wesen des Grundes, 123) Erst in den 1940er Jahren prägt Heidegger den Ausdruck ‚Seinsvergessenheit‘, die er als „die Vergessenheit des Unterschiedes des Seins zum Seienden“ (GA5: Der Spruch des Anaximander, 364)
der Technik zu verstehen. Seine Kritik zielt daher nicht auf den technischen Fortschritt an sich: „Das Gefährliche“ – schreibt Heidegger an einer entscheidenden Stelle seines Aufsatzes Die Frage nach der Technik – „ist nicht die Technik. Es gibt keine Dämonie der Technik, wohl dagegen das Geheimnis ihres Wesens.“7 Dieses Geheimnis liegt Heidegger zufolge in den vorsokratischen Wurzeln des abendländischen Denkens, das Spuren eines menschlichen Verhältnisses zum Seienden enthält, das seinen ontologischen Unterschied zum Sein bewahrt. Diese Spuren, denen nachzugehen es Heidegger im Denken Platons und Aristoteles’ gelegentlich gelingt, werden Heidegger zufolge von eben diesen beiden Philosophen, die sich an der Schnittstelle zwischen einer dem Wesen des Seins angemessenen und einer bereits verfälschten Auseinandersetzung mit dem Sein bewegen, endgültig verwischt.8 Aufgrund dieser Überzeugung rückt Heidegger erneut die Grundfrage
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definiert. Im selben Jahr expliziert Heidegger diese Begriffbestimmung im Brief über den Humanismus, der für die systematischen Grundlagen seines Denkens nach der Kehre ebenfalls grundlegend ist: „Die Seinsvergessenheit bekundet sich mittelbar darin, daß der Mensch immer nur das Seiende betrachtet und bearbeitet. Weil er dabei nicht umhin kann, das Sein in der Vorstellung zu haben, wird auch das Sein nur als das ‚Generellste‘ und darum Umfassende des Seienden oder als eine Schöpfung des unendlichen Seienden oder als das Gemachte eines endlichen Subjekts erklärt. Zugleich steht von altersher ‚das Sein‘ für ‚das Seiende‘ und umgekehrt dieses für jenes, beide wie umgetrieben in einer seltsamen und noch unbedachten Verwechslung.“ (GA9: Brief über den Humanismus, 339). Vgl. für weitere zentrale Textstellen, in denen Heidegger von der Seinsvergessenheit spricht: GA7: Überwindung der Metaphysik, 70, 76, 78; GA9: Brief über den Humanismus, 328, 338, 345; GA5: Der Spruch des Anaximanders, 364; GA9: Einleitung zu: ‚Was ist Metaphysik?‘, 371, 356, 369; GA9: Zur Seinsfrage, 415, 421, 423) FT, 29. Vgl. für eine Zusammenfassung der Entwicklung der Auseinandersetzung Heideggers mit dem griechischen Denken: Franco Volpi: Der Rückgang auf die Griechen in den 1920er Jahren. Eine hermeneutische Perspektive auf Aristoteles, Platon und die Vorsokratiker im Dienst der Seinsfrage. In: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, 25–35. In diesem Aufsatz wird deutlich, wie komplex und zuweilen uneindeutig Heideggers Verhältnis zum Denken Platons und Aristoteles’ ist. Denn Heidegger hält beide Philosophen einerseits für die letzten Denker, die die ontologische Differenz noch berücksichtigt haben, während er ihnen andererseits zugleich den Vorwurf macht, die Metaphysikgeschichte eingeleitet zu haben. In diesem Zusammenhang bemerkt Walter Hirsch, dass Heidegger Platon „als de[n] Übergang von Parmenides und Heraklit zu Aristoteles und den Folgenden“ begreift, denn „Wahrheit ist bei Platon nicht mehr nur Unverborgenheit und noch nicht nur Richtigkeit“. (Walter Hirsch: Platon und das Problem der Wahrheit. In: Vittorio Klostermann (Hg.): Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtstag. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1970, 207–234; 208–209) Auch Volpi zeigt, wie Heidegger zufolge „Wahrheit […] bei Platon einerseits noch im ursprünglichen, ontologischen Sinne von Unverborgenheit als ein Charakter des Seienden selbst verstanden [werde], andererseits aber beginne schon bei Platon die Einschränkung des Sinns von Wahrheit auf Richtigkeit (ο҆ ρθοτης) im Sinne der Korrektheit des Blickes, der Seiendes vernimmt, womit Wahrheit auf einen Charakter des Erkennens reduziert wird“. (Volpi: Der Bezug zu Platon und Aristoteles in Heideggers Fundamentalverständnis der Technik, 70. Vgl. zu Heideggers Deutung von Platon: GA19; GA34; GA9: Platons Lehre von der Wahrheit). Auch Heideggers Bezug zu Aristoteles ist ambivalent. Von der Mitte der 1920er bis zum Beginn der 1930er Jahre scheint sich Heidegger das Denken Aristoteles’ anzueignen. (Vgl. GA21, GA31) Später wirft Heidegger Aristoteles vor, die Auffassung der Wahrheit als
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nach dem Sein in den Mittelpunkt seines Denkens: „Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?“,9 fragt er sich und versucht unermüdlich, einen Zugang zum „Wunder aller Wunder“10 zu finden. Dieses hier angedeutete Verhältnis wechselseitiger Bestimmung der grundlegenden Kritik an der klassischen Metaphysik und dem Versuch, in den ersten Zeugnissen des abendländischen Denkens einen neuen Ursprung zu finden, rahmt die Heideggersche Ausarbeitung des Wesens der neuzeitlichen Technik. Eine kurze Rekonstruktion der Hauptargumentationslinien mit Fokus auf das Phänomen der Technik soll im Folgenden dazu verhelfen, zwei für das vorliegende Forschungsvorhaben grundlegende Ziele zu erarbeiten: Zum einen wird ein Einblick in die ontische und ontologische Lage des Menschen in der Zeit der Technik gewonnen. Zum anderen wird die systematische Basis umrissen, auf welcher Heidegger in kritischer Einstellung zur klassischen Ästhetik und in Anlehnung an den von ihm angenommenen gemeinsamen Ursprung der Kunst und der Technik seine Kunstauffassung entwickelt. Die Wurzeln der Seinsvergessenheit, d.h. der Verkennung des ontologischen Unterschieds zwischen Sein und Seiendem, liegen nach Heidegger in der Ideenlehre Platons ebenso wie in der Aristotelischen Metaphysik. Sowohl Platon als auch Aristoteles haben Heidegger zufolge den grundlegend geschichtlichen Charakter des Seins verkannt, den die überlieferten Fragmente Heraklits, Parmenides’ und Anaximanders noch deutlich zum Ausdruck bringen.11 In seiner Rekonstruk-
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Richtigkeit der Aussage angestoßen zu haben. (Vgl. GA45, 58–76) Exemplarisch für seine ambivalente Einstellung zum Aristotelischen Denken ist der Aufsatz Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1. Strittig ist auch die Rolle, die die beiden Philosophen im gesamten Denken Heideggers jeweils einnehmen. Diesbezüglich ist Volpi der Auffassung, dass die Heideggersche Auseinandersetzung mit dem Aristotelischen Denken komplexer und von größerer Bedeutung als seine Beschäftigung mit dem Platonischen Denken sei: So sei Aristoteles – Volpi zufolge – ein „erheblich größere[r] Raum“ (Volpi: Der Bezug zu Platon und Aristoteles in Heideggers Fundamentalverständnis der Technik, 79) in den Heideggerschen Texten gewidmet. Anderer Meinung sind John Loscerbo und Günter Seubold, die in ihrer jeweiligen Rekonstruktion des Verhältnisses Heideggers zu Platon und Aristoteles im Kontext der ursprünglichen Bedeutung des Worts τέχνη betonen, dass Platon im Denken Heideggers eine bedeutendere Rolle als Aristoteles spiele. (Vgl. John Loscerbo: Being and Technology. A Study in the Philosophy of Martin Heidegger. The Hague: Nijhoff 1981; Günter Seubold: Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik. Freiburg i. Brsg./München: Alber 1986) Abgesehen von der jeweiligen Bedeutungen, die Platon und Aristoteles in der gesamten Entwicklung des Heideggerschen Denkens zugeschrieben wird, bezeugt ihre konstante Präsenz das zentrale Interesse Heideggers an einem ursprünglichen Denken, das sich der Weiterentwicklung der Metaphysik zu entziehen vermag. GA9: Was ist Metaphysik?, 122. GA9: Nachwort zu ‚Was ist Metaphysik?‘ 307. „Allerdings ist dieses erste denkerisch geschlossene Begreifen der φύσις auch bereits der letzte Nachklang des anfänglichen und daher höchsten denkerischen Entwurfs des Wesens der φύσις, wie er uns in den Sprüchen von Anaximander, Heraklit und Parmenides noch aufbewahrt ist.“ (GA9: Vom Wesen und Begriff der Φύσις. Aristoteles, Physik B, 1, 243. Vgl. zu Heraklit: GA55; GA7: Logos (Heraklit, Fragment 50); GA7: Aletheia (Heraklit, Fragment 16); vgl. zu Parmenides: GA35; GA54; GA7: Moira (Parmenides, Fragment VIII,
tion dieses Verkennungsprozesses betont Heidegger, dass Platon und Aristoteles das Sein als Substanz interpretiert und erforscht haben. Denn dadurch sei das geschehenshafte Wesen des Seins mit dem vorhandenen Wesen des Seienden verwechselt worden; entsprechend sei die Zeitlichkeit des Seins durch die bloße Vorhandenheit ersetzt worden und die abendländische Philosophie habe sich folglich als eine „Metaphysik der Präsenz“12 durchgesetzt. Um diese bloße Vorhandenheit erforschen zu können, sei ein kategoriales Erkenntnissystem entwickelt worden, dessen Grundthesen Volpi mit den folgenden Worten anschaulich zusammenfasst: „a) Wahrheit sei Angleichung des Verstandes an den Sachverhalt (adaequatio intellectus et rei). b) Der ursprüngliche Ort ihres Erscheinens sei das Urteil als Verbindung bzw. Trennung von Vorstellungen.“13 Dementsprechend hat sich Heidegger zufolge die Erkenntnis als ein propositionales Urteilssystem festgesetzt, in dem er die vollkommene Verkennung von Seienden und Phänomenen sieht, insofern der Grund des Seienden – das ‚Metaphysische‘ der Metaphysik – völlig unbeachtet bleibe. Die Metaphysik münde somit in einer positiven Naturwissenschaft. Dagegen bestimmt Heidegger die wahre Erkenntnis in Bezug auf das Sein, das er als zeitliches Geschehen versteht. Vielmehr als die Übereinstimmung von Aussagen und Tatsachen möchte Heidegger das ursprüngliche Phänomen der Wahrheit als die „Unverborgenheit des Seienden“14 verstanden wis-
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34–41); GA5: Die Zeit des Weltbildes; vgl. zu Anaximander: GA35; GA5: Der Spruch des Anaximander) Volpi: Der Rückgang auf die Griechen in den 1920er Jahren, 29. Volpi: Der Rückgang auf die Griechen in den 1920er Jahren, 27. (Vgl. GA21; SZ, 282–305) GA9: Platons Lehre von der Wahrheit, 224. Heidegger expliziert dies mit den folgenden Worten: „Unverborgenheit heißt griechisch αλήθεια, welches Wort man mit ‚Wahrheit‘ übersetzt. Und ‚Wahrheit‘ bedeutet für das abendländische Denken seit langer Zeit die Übereinstimmung des denkenden Vorstellens mit der Sache: adaequatio intellectus et rei.“ (GA9: Platons Lehre von der Wahrheit, 218) „Wenn wir άλήθεια [deshalb] statt mit ‚Wahrheit‘ durch ‚Unverborgenheit‘ übersetzen, dann ist diese Übersetzung nicht nur ‚wörtlicher‘, sondern sie enthält die Weisung, den gewohnten Begriff der Wahrheit im Sinne der Richtigkeit der Aussage um- und zurückzudenken in jenes noch Unbegriffene der Entborgenheit und der Entbergung des Seienden.“ (GA9: Vom Wesen des Grundes, 188) Denn „Unverborgenheit ist der Grundzug dessen, was schon zum Vorschein gekommen ist und die Verborgenheit hinter sich gelassen hat. Das ist hier der Sinn des a-, das nur eine im spätgriechischen Denken gegründete Grammatik als α-privativum kennzeichnet. Der Bezug zur λήθη, Verbergung und diese selbst verlieren für unser Denken keineswegs dadurch an Gewicht, daß das Unverborgene unmittelbar nur als das zum-Vorschein-Gekommene, Anwesende erfahren wird.“ (GA7: Aletheia (Heraklit, Fragment 16), 267) Dies sind nur einige der unzähligen Passagen, in denen Heidegger seine Auffassung der Wahrheit als ‚Unverborgenheit‘ in Abgrenzung zur metaphysischen Konzeption der Wahrheit erklärt. Obwohl der Begriff schon in einigen seiner Texte der 1920er Jahre vorkommt (vgl. SZ, 290– 291; GA24; GA21, 180), gewinnt der Ausdruck ‚Unverborgenheit‘ erst ab den 1930er Jahren jene zentrale Stellung, die sie im Denken Heideggers wenigstens bis Ende der 1950er Jahre inne hat. (Vgl. zusätzlich zu den bereits zitierten Texten ins.: GA9: Einleitung zu ‚Was ist Metaphysik?‘, 366–379; GA7: Logos (Heraklit, Fragment 50) 216–218; 225–226; GA5: Der Spruch des Anaximander, 342–347; 350–356; GA65, 330–335) Im Kontext der vorliegenden Forschungsarbeit wird es nicht möglich sein, einen Überblick über die Komplexität des Phänomens der Unverborgenheit vorzunehmen. Das hat mehrere Gründe:
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sen. Wie Heidegger präzisiert, handelt es sich dabei nicht um eine „Abänderung des Begriffes“15, sondern um eine radikal andere Perspektive als jene des abendländischen, metaphysischen Denkens. Denn durch diesen veränderten Blickwinkel will Heidegger die ursprüngliche Erfahrung des Wahrheitsphänomens als ‚Seinlassen‘ des ‚sich-gebenden Seienden‘ wiedergewinnen – und in weiterer Folge eine Erkenntnis, die den ontologischen Unterschied zwischen Sein und Seiendem berücksichtigt, anstatt ihn einzuebnen. Als entscheidend für die hier beabsichtigte Erschließung des Wesens der neuzeitlichen Technik und den dadurch bewirkten Entmenschlichungsprozess zeigt sich die Einstellung des Menschen zum Seienden in beiden Erkenntniskonzeptionen: Während sich der erkennende Mensch im metaphysischen, kategorialen Denken selbst mit einer neutralen Substanz konfrontiert, die ihm gegenüber steht und die es zu klassifizieren gilt, geht es in der Heideggerschen Auffassung der Wahrheit als Unverborgenheit nicht mehr um ein aktives Angleichen, Beurteilen oder Vorstellen; es geht vielmehr um „Seinlassen von Seiendem“.16 Und dieses ‚Seinlassen‘, das auf grundlegende Weise an den Menschen gekoppelt ist, insofern es, wie Gerhard Faden betont, ‚Sicheinlassen‘ bedeutet,17 drückt für Heidegger den eigentlichen Bezug zu den Dingen aus. Aufbauend auf den soeben geschilderten Grundlagen lässt sich nun die
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Zum einem, weil die Heideggersche Konzeption der Wahrheit als Unverborgenheit derart umfassend ist, dass es fraglich ist, ob ihre ausführliche Darstellung überhaupt möglich ist. Denn das Phänomen der Wahrheit als Unverborgenheit, die zweifellos die systematische Grundannahme des Denkens Heideggers darstellt, wird von Heidegger in engem Zusammenhang mit anderen grundlegenden Phänomenen und neuen Interpretationen traditioneller Begrifflichkeiten entwickelt. In diesem Sinne stehen im Denken Heideggers etwa die Konzeption der Wahrheit als Unverborgenheit, die Zeitlichkeit des Seins und das Ereignis ebenso wie das Verhältnis von Zeit und Raum und die damit verbundenen Fragen nach der Lichtung und der ‚Ortschaft des Seins‘ sowie nicht zuletzt seine Ausarbeitung der menschlichen Freiheit in einem Verhältnis gegenseitiger Implikation. Zum anderen macht Dieter Jähnig darauf aufmerksam, dass Heidegger selbst bereits die Angemessenheit seiner Übersetzung des Worts ἀλήθεια als Unverborgenheit, durch die er die ursprüngliche Erfahrung des Wahrheitsphänomens zum Ausdruck bringen möchte, in Frage stellt. (Vgl. Dieter Jähnig: „Der Ursprung des Kunstwerkes“ und die moderne Kunst. In: Walter Biemel; Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.): Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1989, 219–254; 240– 241) Angesichts dieser Komplexität der Heideggerschen Konzeption der Wahrheit verfolgt diese Arbeit nicht die Intention, die Komplexität dieses Phänomens nachzuzeichnen oder gar eine vollständige Zusammenfassung zu geben. Der Akzent wird im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Wahrheit als Unverborgenheit lediglich auf zwei Aspekte gelegt, die im Kontext der Frage nach der rettenden Rolle der Kunst für den Menschen bedeutsam sind: Der erste besteht in der konstanten Kritik Heideggers am klassisch-metaphysischen Wahrheitsbegriff als adaequatio und der zweite in einer daraus entstehenden Einstellung des Menschen zum Sein des Seienden, die den ontologischen Unterschied zwischen diesen beiden berücksichtigt. GA65, 338. GA9: Vom Wesen der Wahrheit, 190. Vgl. Gerhard Faden: Der Schein der Kunst. Zu Heideggers Kritik der Ästhetik. Würzburg: Königshausen & Neumann 1986, 31; vgl. dazu auch: GA9: Vom Wesen der Wahrheit, 185; GA9: Einleitung zu ‚Was ist Metaphysik?‘, 372–376.
ursprüngliche Bedeutung, die Heidegger dem Phänomen der Technik zuschreibt, erschließen. Auch die Technik als eine Weise des ‚Sich-beziehens auf Dinge‘ soll daher Heidegger zufolge ursprünglich als eine Weise des ‚Seinlassens‘ des Ganzen des Seienden gedeutet werden: „Die τέχνη“, erklärt Faden, „bringt das Walten der φύσις zum Vorschein. Φύσις und τέχνη sind das ‚wesentlich Selbe‘18.“19 Heidegger präzisiert dies folgendermaßen: Das Wort τέχνη nennt […] eine Weise des Wissens. Wissen heißt: gesehen haben, in dem weiten Sinne von Sehen, der besagt: vernehmen des Anwesenden als eines solchen. Das Wesen des Wissens beruht für das griechische Denken in der ἀλήθεια, d.h. in der Entbergung des Seienden. […] Die τέχνη ist als griechisch erfahrenes Wissen insofern ein Hervorbringen des Seienden, als es das Anwesende als ein solches aus der Verborgenheit her eigens in die Unverborgenheit seines Aussehen vor bringt; τέχνη bedeutet nie die Tätigkeit eines Machens.20
Die Technik ist daher in Heideggers Verständnis ein poietisches Erkennen und d.h. eine ursprüngliche Weise der Entbergung des Seins des Seienden. Nur in einem daraus abgeleiteten Sinne will Heidegger die Technik als eine menschliche Tätigkeit verstanden wissen: als ein hervorbringendes, menschliches Machen, das sich vom Sein leiten lässt, so dass sich dem Menschen auch durch die Technik ein Zugang zur Wahrheit des Seins des Seienden eröffnet. Wie kommt man von diesem Verständnis der Technik nun zur neuzeitlichen Bedeutung der Technik, die Heidegger als Ausdruck der „Vollendung der Metaphysik“21 versteht? Mit Faden lässt sich auf diese Frage eine Antwort finden: „Wird hier [in der Technik als Seinlassen des Seienden] das menschliche Hervorbringen vom Hervorbringen der φύσις her verstanden, so tritt in der Neuzeit in gewisser Weise das Umgekehrte ein: Aus der φύσις wird, über die römische actualitas, die Wirklichkeit und Gegenständlichkeit […].“22 Die von Platon und Aristoteles ausgehende ‚Metaphysik der Präsenz‘ führte laut Heidegger dazu, dass der Mensch das Seiende lediglich als vorhanden und d.h. als etwas, das ihm gegen18 19 20
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GA40, 19. Faden: Der Schein der Kunst, 32. UK, 46–47. „Das Wort stammt aus der griechischen Sprache. Τεχνικον meint solches, was zur τέχνη gehört. Hinsichtlich der Bedeutung dieses Wortes müssen wir zweierlei beachten. Einmal ist τέχνη nicht nur der Name für das handwerkliche Tun und Können, sondern auch für die hohe Kunst und die schönen Künste. Die τέχνη gehört zum Her-vorbringen, zur ποίησις; sie ist etwas Poietisches.“ (FT, 14) „Im besonderen ist zu beachten, daß τέχνη von früh an und lange Titel des ganzen Erkennens, des Offenbarmachens des Seienden selbst ist. τέχνη bezeichnet weder ‚Technik‘ als praktische Tätigkeit, noch ist sie nur auf handwerkliches Sichauskennen zunächst beschränkt, sondern sie meint alles als Herstellen im weitesten Sinne und die dieses leitende ‚Erkenntnis‘. In ihr spricht sich der Kampf um die Anwesenheit des Seienden aus.“ (GA31, 72. Vgl. dazu auch: GA45, 179; GA76, insb. 285–365) GA7: Überwindung der Metaphysik, 76. (Vgl. zur Verbindung von Metaphysik und Technik: GA7: Überwindung der Metaphysik, 78–79) Faden: Der Schein der Kunst, 32.
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über steht, betrachte. Infolge dieses polarisierten Verhältnisses von Menschen und Dingen habe sich die Technik als eine menschliche, vom Prinzip des Willens bestimmte Beherrschungsform durchgesetzt.23 Das Wesen der Technik besteht nun nach Heidegger nicht mehr in der Hervorbringung aus einer Verbergung, sondern im „Ge-stell“,24 d.h. in der Herausforderung, die die Konstitution von Natur, Dingen und Menschen selbst bestimme,25 so dass der Mensch selbst nur ein „Funktionär der Technik“26 sei. In der Heideggerschen Konzeption ist die Technik daher als Wesen der modernen Welt weder primär als die Gesamtheit der dem Menschen zur Verfügung stehenden technischen Mittel noch ausschließlich als Produkt oder Ergebnis des menschlichen Fortschritts zu verstehen. Vielmehr sei die Technik, wie Günter Seubold prägnant zum Ausdruck bringt, „eine Weltkonstitution“,27 ein ontologisches Grundgeschehen, welches das Ganze der Natur und der hergestellten Produkte sowie den Menschen und seine Welt auf eine spezifische Art und Weise in Erscheinung treten lasse: als bloßes Material, das zur Verfügung steht, was Heidegger als ‚Bestand‘ bezeichnet.28 Darin besteht Heidegger zufolge die „höchste Gefahr“29 für den Menschen, die im folgenden Abschnitt genauer untersucht werden soll. 1.1.1.2 Die höchste Gefahr In Die Frage nach der Technik und Die Zeit des Weltbildes schildert Heidegger die verschiedenen Dimensionen, die vom „herausfordernden Entbergen“30 betroffen sind: „[A]n die Natur [wird] das Ansinnen [ge]stellt, Energie zu liefern“;31 die Dinge verlieren ihre Selbstständigkeit, sie sind zum bloßen Stoff und funktionalisierten Material degradiert. Aufgrund dessen wird den Ergebnissen der exakten Naturwissenschaften absolute Wahrheit zugeschrieben; die Welt wird als Bild begriffen und die Stellung des Menschen in ihr lässt sich nur als Weltanschauung bezeichnen, deren Einheit durch Systeme und eine bestimmte „Vorstellung des 23
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Vgl. GA45, 180–182. „Aber das Aushalten der Anfangsstellung im Sinne der τέχνη führt zu einem Abfall vom Anfang. Das Seiende wird, überspitzt gesagt, zum Gegenstand des nach diesem sich richtenden Vor-stellens. Jetzt wird auch nach der αλήθεια gefragt, aber nunmehr aus dem Gesichtskreis der τέχνη, und die αλήθεια wird zur Richtigkeit des Vorstellens und Vorgehens.“ (GA45, 181) FT 20. Vgl. FT, 15–17. GA5: Wozu Dichter?, 294. (Vgl. FT; GA5: Die Zeit des Weltbildes, 75–113) Seubold: Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, 34. Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Technik und Kunst im seynsgeschichtlichen Fragehorizont. In: Walter Biemel; Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.): Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1989, 25–46; Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Kunst und Technik. In: Heideggers Studies. Volume 1, 25–62. FT, 27. FT, 17. FT, 15.
Wertes“32 verfestigt wird; die Kultur selbst „besteht in dem wechselseitigen Sichbestätigen von ‚Kulturpolitik‘ und ‚Kulturbesorgnis‘“,33 deren Äußerungen nur als Produkte des Kulturbetriebs betrachtet werden; die eigentliche Geschichte wird durch die Historie ersetzt und verleugnet, die die Vergangenheit im Sinne eines erklärenden und überschaubaren Wirkungszusammenhangs entwirft und vergegenständlicht.34 Auch die Kunst ist laut Heidegger Opfer der Auffassung des herausfordernden Entbergens: „Das Kunstwerk wird zum Gegenstand des Erlebens“35 und der Gehalt des Kunstwerks „mag völlig nichtig sein oder aber – was dasselbe sagt – er kann ersetzt werden durch die bloßen ‚Stoffe‘ der weltanschaulichen Absichten und Kenntnisse und Begebenheit; dann fehlt dem ‚Werk‘ erst recht jede Notwendigkeit“.36 Heidegger kommt deshalb zu einem Schluss, den Seubold mit den folgenden Worten auf den Punkt bringt: „Keinerlei Bereiche und Sphären gibt es sonach, die nicht vom technischen Entbergen betroffen wären. Das Stellen und Herausfordern setzt sich überall durch, bestimmt überall die Beziehung des Menschen zum Sein der Dinge und offenbart auf diese Weise sein universales Wesen.“37 Dadurch entstehe ein geschlossenes System, das sich selbst steuere und ständig erneuere. Die Verbreitung dieses autopoietischen Mechanismus ist laut Heidegger so totalitär, dass sich auch Erkenntnisformen als bloßes Ergreifen und Begreifen von vergegenständlichten Welt- und Naturerscheinungen ausdrücken. Der Totalitarismus des Systems wirke sich so negativ auf das menschliche Leben aus, dass Heidegger von der ‚höchsten Gefahr‘ für den Menschen spricht: „Waltet jedoch das Geschick in der Weise des Ge-stells, dann ist es die höchste Gefahr. Sie bezeugt sich uns nach zwei Hinsichten.“38 Anhand von FriedrichWilhelm von Herrmanns Erläuterung dieser ‚zwei Hinsichten‘ lässt sich die onti32
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GA5: Die Zeit des Weltbildes, 101. „Gleich wesentlich wie das System ist für die neuzeitliche Auslegung des Seienden die Vorstellung des Wertes. Erst wo das Seiende zum Gegenstand des Vor-stellens geworden ist, geht das Seiende in gewisser Weise des Seins verlustig. Dieser Verlust wird unklar und unsicher genug gespürt und entsprechend schnell dadurch ersetzt, daß man dem Gegenstand und dem so ausgelegten Seienden einen Wert zuspricht und überhaupt das Seiende nach Werten bemißt und die Werte selbst zum Ziel alles Tun und Treibens macht. Da dieses sich als Kultur begreift, werden die Werte zu Kulturwerten und diese dann überhaupt zum Ausdruck der höchsten Ziele des Schaffens im Dienste der Selbstsicherung des Menschen als Subjektum.“ (GA5: Die Zeit des Weltbild, 101) (Vgl. zum Bildcharakter der Welt und zur Stellung des Menschen als Weltanschauung: GA5: Die Zeit des Weltbildes, insb. 92–94) GA76, 94. Vgl. GA5: Die Zeit des Weltbildes, 83. Dieser Wesenszug der technischen Welt ist Heidegger zufolge einer der gefährlichsten, weil er dem Menschen die Möglichkeit des ‚andenkenden Denkens‘ abspreche. Eine Geschichte, die durch das vorstellende-erklärende Denken zu einer chronologischen Erzählung von Taten und Tatsachen wird, entstelle ihr Wesen und könne die Vergangenheit nicht länger als Gewesene bewahren. Das historische Denken verweigert den Zugang zum Ursprung, zu welchem jeder Mensch ursprünglich gehöre. GA5: Zeit des Weltbildes, 75. GA74: Das Kunstwerk und die ‚Kunstgeschichte‘, 201. Seubold: Heideggers Analyse der neuzeitlichen Technik, 231. FT, 27.
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sche und ontologische Lage verdeutlichen, in die der Mensch aufgrund der Seinsvergessenheit versetzt ist: „Die erste Hinsicht auf die höchste Gefahr im Ge-stell zusammenfassend, heißt es, das Ge-stell gefährde ‚den Menschen in seinem Verhältnis zu sich selbst und zu allem, was ist.‘39“40 Die menschliche, berechnendherausfordernde Einstellung, die die technische Welt auszeichne, charakterisiert nicht nur das Verhältnis des Menschen zu den Dingen, vielmehr zeichne diese Einstellung auch das Verhalten des Menschen zu sich selbst aus, der sich konsequenterweise nur als Ding unter anderen verstehen könne. Sein eigentümlich Menschliches gehe folglich verloren, wie Heidegger betont: „[D]er Mensch [begegnet] heute in Wahrheit gerade nirgends mehr sich selber, d.h. seinem Wesen.“41 Davon ausgehend lässt sich auch der zweite Aspekt der Gefährdung, dem der Mensch durch die Welt der Technik ausgesetzt ist, erschließen. Diesbezüglich schreibt von Herrmann: Die höchste Gefahr im Entbergungs-Geschick des Ge-stells zeigt sich auch in einer zweiten Hinsicht […]. Geht man dem Entbergungssinn des bestellenden Entbergens und seiner Herrschaft nach, dann zeigt sich dieser darin, daß er jede andere Entbergungsweise „vertreibt“42. […] Das herausfordernde Entbergen vertreibt und verbirgt das her-vorkommen-lassende Entbergen dergestalt, daß es‚ „in den entgegengesetztgerichteten Bezug zu dem, was ist“43 drängt.44
Diese ‚zweite Hinsicht der höchsten Gefahr‘ macht demzufolge einen anderen Aspekt der Gefährdung für den Menschen sichtbar. Denn nicht nur der Zugang zu seinem eigenen Selbst bleibe dem Menschen verschlossen, sondern sogar die Bedingung der Möglichkeit jedes möglichen Zugangs zu seinem Wesen. Die Welt der Technik führt daher Heidegger zufolge unausweichlich zur systematischen Verkennung der Wahrheit, was für den Menschen in weiterer Folge eine systematische Verunmöglichung jedes Zugangs zu seinem Wesen bedeute. In Anbetracht dieser Analyse Heideggers lässt sich der Zustand des Menschen in der Zeit der Technik als ein Zustand der Unwahrheit und Unfreiheit charakterisieren, der den Menschen in der Zeit der Vollendung der Seinsvergessenheit zur Selbstvergessenheit verurteilt. 1.1.2 Adorno: Die bürgerliche Gesellschaft Obwohl auf andere theoretische Grundlagen gegründet, erweitert und ergänzt Adornos Analyse der bürgerlichen Gesellschaft die Zeitdiagnose Heideggers, vor allem bezüglich des Zustands des Menschen innerhalb dieser Gesellschaft. Doch 39 40 41 42 43 44
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FT, 28. von Herrmann: Technik und Kunst im seynsgeschichtlichen Fragehorizont, 35. FT, 28. FT, 28. FT, 28. von Herrmann: Technik und Kunst im seynsgeschichtlichen Fragehorizont, 35.
einer Zeitdiagnose im Sinne einer systematischen Beschreibung dieses Zustands begegnet man bei Adorno nicht. Denn wie Dirk Braunstein und Stefan MüllerDoohm bemerken: Zeitdiagnose kommt bei Adorno nur versprengt vor, an keiner Stelle wird sie ausführlich abgehandelt. Sie erfolgt stets in Hinblick auf konkrete Ereignisse und Probleme. […] Denn sofern Gesellschaft kein vernünftig geformtes Ganzes ist, stellt sich für Adorno die Frage, ob Gesellschaft überhaupt mit den Mitteln der Vernunft theoretisch zu erfassen sei.45
Doch gerade dieses Misstrauen rationalen Mitteln gegenüber zeichnet die theoretischen Grundlagen der Adornoschen Gesellschaftsanalyse aus, die sich – wie auch bei Heidegger – der Vorläufigkeit einer historischen Kontingenz entzieht.46 In kritischer Abgrenzung zum hegelianisch-idealistischen Versuch Horkheimers, die Totalität der Gesellschaft begrifflich zu rekonstruieren, und in Anlehnung an Benjamins Idee einer ‚philosophischen Deutung‘ des Realen basiert Adornos Zeitkritik auf zwei unmittelbar miteinander verbundenen Grundlagen: Die erste besteht in einer kritischen Aneignung der Marxschen Theorie der politischen Ökonomie, die sich in der Analyse Adornos in den Machtverhältnissen und in der Fetischismusproblematik des Hochkapitalismus konkretisiert.47 Die zweite ergibt sich aus dem 45
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Dirk Braunstein; Stefan Müller-Doohm: Zeitdiagnose. In: Richard Klein; Johann Kreuzer; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler und Carl Ernst Poeschel 2011, 248–253; 248. In diesem Zusammenhang ist eine Präzisierung notwendig. Denn die Behauptung, dass die Gesellschaftsanalyse Adornos auf theoretischen Grundlagen basiert, will keineswegs die Rolle der historischen Ereignisse, die sein Leben und sein Denken geprägt haben, bezweifeln: Der Nationalsozialismus, sein Exil in den USA und die amerikanische Kultur finden immer wieder Eingang in seine Überlegungen und tragen auf entscheidende Weise zum pessimistischen Ton seiner Zeitdiagnose bei. Man würde dennoch der theoretischen Komplexität des Denkens Adornos Unrecht tun, würde man seine thematischen und methodischen Grundlagen ausschließlich in diesen historischen Ereignissen sehen, wie es etwa Alfred Schmidt schon in den 1970er sowie Helmut Dubiel oder Daniel Kipfer in den 1990er Jahren getan haben. (Vgl. Alfred Schmidt: Die kritische Theorie als Geschichtsphilosophie. München: Hanser 1976, 15; Helmut Dubiel: Kritische Theorie der Gesellschaft. Eine einführende Rekonstruktion von den Anfängen im Horkheimer-Kreis bis Habermas. Weinheim: Juventa 2001, 36–37; Daniel Kipfer: Individualität nach Adorno. Tübingen/Basel: Francke 1999, 33) Im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit kann das Verhältnis Adornos zu Marx nicht in seiner gesamten Tragweite diskutiert werden. Im Folgenden wird deshalb nur auf jene Elemente Bezug genommen, die für die Erschließung des Entmenschlichungsprozesses, der die Menschen der bürgerlichen Gesellschaft betrifft, relevant sind. (Vgl. für eine sorgfältige Rekonstruktion der Auseinandersetzung Adornos mit dem historischen Materialismus Marx’: Ulrich Ruschig: Materialismus. Kritische Theorie nach Marx. In: Richard Klein, Johann Kreuzer; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler und Carl Ernst Poeschel 2011, 335–345; Iring Fetscher: Zur aktuellen politischen Bedeutung der Frankfurter Schule. In: Axel Honneth; Albrecht Wellmer (Hg.): Die Frankfurter Schule und die Folgen. Referate eines Symposiums der Alexander von HumboldtStiftung vom 10.–15.12.1984 in Ludwigsburg. Berlin: de Gruyter 1986, 3–7; vgl. zur Bedeutung, die Marx in Adornos Denken aufweist: Frank Böckelmann: Über Marx und Adorno. Schwierigkeiten der spätmarxistischen Theorie. Freiburg i. Brsg: Ça-Ira-Verlag 1998; Johannes Heinrich von Heiseler; Josef Schleifstein; Robert Steigerwald (Hg.): Die Frankfurter Schule im Lichte des Marxismus. Zur Kritik d. Philosophie u. Soziologie von Horkheimer, Adorno, Marcuse,
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Verhältnis von Geist und Natur,48 das bis in vorgesellschaftliche Entwicklungsstufen der Menschheit zurückreicht.49 Aus der Verschränkung dieser zwei theoreti-
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Habermas. Materialien einer wiss. Tagung aus Anlass d. 100. Geb. von W. I. Lenin, veranst. vom Inst. f. Marxistische Studien u. Forschungen (IMSF), Frankfurt/M., am 21. u. 22. Februar 1970 in Frankfurt/M. Frankfurt a. M.: Marxistische Blätter 1974; Christoph Ziermann: Dialektik und Metaphysik bei Marx und Adorno. In: Ette Wolfram; Günter Figal; Richard Klein; Günter Peters (Hg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens. Freiburg i. Brsg/München: Alber 2004, 24–56; vgl. zum Verhältnis der Kritischen Theorie zum Marxismus: Gerhard Kaiser: Benjamin. Adorno. Zwei Studien. Frankfurt a. M.: Athenäum Fischer 1974, 79-94) Auch auf die Komplexität des Verhältnisses von Geist und Natur wird in der vorliegenden Arbeit nur am Rande eingegangen. Es gilt dennoch zu betonen, dass die Verknüpfung verschiedener, sogar aporetischer Züge in Adornos Denken durch seinen Naturbegriff paradigmatisch zum Ausdruck kommt. Wie Britta Scholze anmerkt, geht das Verhältnis von Geist und Natur mit der Geschichtsauffassung Adornos einher, die sich zwischen materialistischen und messianischen Zügen entfaltet. (Vgl. Britta Scholze: Kunst als Kritik. Adornos Weg aus der Dialektik. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, 17–30) Dies will aber nicht heißen, wie Karol Sauerland behauptet, dass die Adornosche Auffassung der Natur historiosophisch sei. (Vgl. Karol Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos. Berlin/New York: de Gruyter 1979, 83) Diese Interpretation, die sich im Kontext der Dialektik der Aufklärung womöglich sogar begründen ließe, scheint dennoch unvollständig, sobald die ästhetischen Betrachtungen Adornos der Natur und des Naturschönen ebenso berücksichtigt werden. Doch auch eine sehr offene Bestimmung des Naturbegriffs als ein „bloßer Namen für alles Andere“ (Thomas Baumeister; Jens Kulenkampff: Geschichtsphilosophie und philosophische Ästhetik. Zu Adornos „Ästhetischer Theorie“. In: Rüdiger Bubner; Konrad Cramer; Reiner Wiehl (Hg.): Ist eine philosophische Ästhetik möglich? Neue Hefte für Philosophie 5. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973, 74–104; 83), die Thomas Baumeister und Jens Kulenkampff vorschlagen, erfasst die Komplexität des Begriffs nur vermeintlich. Das Fehlen einer eindeutigen Bestimmung des Naturbegriffs hat trotz seiner Zentralität im Denken Adornos vielen aporetischen Überlegungen Vorschub geleistet. (Vgl. dazu: Rüdiger Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik; Albrecht Wellmer (Hg.): Endspiele: Die unversöhnliche Moderne. Essays und Vorträge. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999) Herbert Schnädelbach vertritt sogar die These, dass die Geschichte bei Adorno überhaupt nicht vorkomme und dass seine „Geschichtsphilosophie ohne Geschichte“ (Herbert Schnädelbach: Adorno und die Geschichte. In: Georg Kohler; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2008, 130–154; 130) sei. (Vgl. zu Adornos Begriff der Naturgeschichte: Gunzelin Schmid Noerr: Das Eingedenken der Natur im Subjekt. Zur Dialektik von Vernunft und Natur in der Kritischen Theorie Horkheimers, Adornos und Marcuses. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1990; vgl. zum Naturbegriff Adornos und zur damit verknüpften Diskussion zwischen Traugott Koch, Klaus-Michael Kodalle und Hermann Schweppenhäuser: Ute Guzzoni: Grauen und Verlockung. Zur Natur im Odysseus-Exkurs der „Dialektik der Aufklärung“. In: Ette Wolfram, Günter Figal, Richard Klein; Günter Peters (Hg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens. Freiburg i. Brsg/München: Alber 2004, 57–71; Traugott Koch; Klaus-Michael Kodalle; Hermann Schweppenhäuser: Negative Dialektik und die Idee der Versöhnung. Eine Kontroverse über Theodor W. Adorno. Stuttgart: Kohlhammer 1973) Vor dem Hintergrund dieser komplexen Diskussion wird im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit die Natur einmal im Kontext der Dialektik der Aufklärung und einmal im Kontext der Ästhetischen Theorie betrachtet, ohne den geradezu anmaßenden Anspruch erheben zu wollen, eine systematische Verbindung zwischen den verschiedenen Aspekten der Natur, die in den jeweiligen Kontexten benannt werden, herzustellen. Vgl. Stefan Breuer: Aspekte totaler Vergesellschaftung. Freiburg i. Brsg: Ça-Ira-Verlag 1985, 15– 33. In Anlehnung an Stefan Breuers Analyse der Auseinandersetzung Adornos mit der Kritischen Theorie Horkheimers sowie mit dem Denken Benjamins und Marx’ wird in dieser
schen Motive ergibt sich die sogenannte „negative Anthropologie“50 Adornos. Diese unterscheidet sich Adorno zufolge aufgrund einer gesellschaftstheoretischen Reflexion von den klassischen, philosophischen Anthropologien Schelers, Plessners oder Gehlens.51 Daher mündet diese ‚negative Anthropologie‘ in einer nüchternen Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse, die laut Adorno durch eine radikale Irrationalität ausgezeichnet sind. Diese Irrationalität konkretisiere sich in einem „Verblendungszusammenhang“,52 der den Menschen in einem Zustand von Unwahrheit und Unfreiheit versetze und der jeden Ausweg aus diesem Zustand verstelle. Diese Fesselung im System ist laut Adorno so tiefgreifend, dass nicht nur menschliche Verhältnisse auf allen Ebenen – seien es offizielle, soziale, private Beziehungen und sogar jede Form der Selbstbezüglichkeit – davon betroffen seien. Selbst die positiven Denkstrukturen hängen als Produkte dieses Systems davon ab: Sie seien durch das System geprägt und für das System bestimmt. Darin zeigt sich Adorno zufolge der absolutistische Charakter des gesellschaftlichen Systems, dessen Struktur
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Forschungsarbeit bezüglich der gesellschaftlichen Analyse Adornos implizit die These ihrer absoluten Eigenständigkeit vertreten. Denn obwohl Adorno als einer der wichtigsten Vertreter der Kritischen Theorie gilt und er ebenso in der Tradition des marxistischen Denkens steht, kann sein Denken weder auf eine bloß gesellschaftliche, soziologische Kritik reduziert werden, noch deutet er die Gesellschaft als eine starre Dynamik zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Vielmehr verbindet Adorno marxistische Denkansätze mit der Kritik an der irrationalen Entwicklung einer aporetischen Vernunft, wodurch er zu einer Analyse des Menschen gelangt, die das Wesen des Menschen selbst sowohl erkenntnistheoretisch als auch praktisch betrifft. Deshalb lehnt die in der vorliegenden Forschungsarbeit umrissene Analyse der Zeitdiagnose Adornos all jene Interpretationen ab, die vor allem die Kulturindustrie fokussieren und Adorno gegenüber verschiedene Vorwürfe erheben. (Vgl. zum Vorwurf der Oberflächlichkeit: Max Paddison: Adorno, Modernism and Mass Culture. Essays on Critical Theory and Music. London: Kahn & Averill 2004; Richard Middleton: Studying Popular Music. Milton Keynes: Open Univ. Press. 2010; Deborah Cook: The Culture Industry Revisited. Theodor W. Adorno on Mass Culture. Lanham: Rowman & Littlefield 1996; vgl. zum Vorwurf des Eurozentrismus und der Romantik: Gerhard Schulz: Romantik. Geschichte und Begriff. München: C.H. Beck 2008; Victor Klemperer: LTI. Notizbuch eines Philologen. Stuttgart: Reclam (RUB 20149) 2007; vgl. zum Vorwurf des Elitarismus: Paddison: Adorno, Modernism and Mass Culture; Douglas Kellner: Kulturindustrie und Massenkommunikation. Die Kritische Theorie und ihre Folgen. In: Wolfgang Bonß; Axel Honneth (Hg.): Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1982, 482–515; Bruce Baugh: Left-Wing Elitism: Adorno on Popular Culture. In: Philosophy and Literature 14.1, 1990, 65–78) Aus den gleichen Gründen wird auch die Auffassung Martin Meyers bestritten, nach der die Gesellschaftsanalyse Adornos von einem „Furor der Empörung [ausgeht], der oft immer schon vorentschieden hat, wie die meisten Phänomene des modernen und selbst des vormodernen Lebens zu deuten sind“. (Martin Meyer: Apokalypse ohne Ende. Theodor W. Adornos „Minima Moralia”. In: Georg Kohler; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2008, 119–129; 120) Breuer: Aspekte totaler Vergesellschaftung, 34. Vgl. ND, 130. ND, 99. (Vgl. ND, 236; 364; 397–399)
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sich auf theoretischer Ebene in den positiven Denkformen widerspiegle. In Anbetracht dessen lässt die Zeitdiagnose Adornos ganz entgegen der Annahme Angela Keppler-Seels und Martin Seels keinen Raum für eine „positive Dialektik des Aufspürens befreiender Tendenzen innerhalb des […] Alltagslebens“53 oder für eine „reformistische Kulturkritik“.54 Denn, wie Markus Schroer im Gegensatz dazu betont, „ist bei Adorno nicht mehr nur von einer Bedrohung des Individuums die Rede, die schon von den soziologischen Klassikern Georg Simmel und Max Weber thematisiert wird und gleichsam zum Grundrepertoire soziologischer Theoriebildung gehört, sondern von seiner irreversiblen Liquidation“.55 Dementsprechend sind die Individuen der „verwalteten Welt“56 in Adornos Gesellschaftskonzeption aufgrund der für diese Welt konstitutiven Wechselwirkung zwischen Denkstrukturen und gesellschaftlichen Verhältnissen zur totalen Anpassung an die bestehende Situation gezwungen.57 Gesellschaftliche Mechanismen und Erkenntnisformen, die Adorno als gleich strukturierte Gerüste der menschlichen Beherrschung über die äußere und die innere Natur sowie über andere Menschen deutet,58 sind – in Einklang mit dem unbestritten marxistischen Ausgangspunkt der Analyse Adornos – nicht gleichur53
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Angela Keppler: Ambivalenzen der Kulturindustrie. In: Richard Klein, Johann Kreuzer; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler und Carl Ernst Poeschel 2011, 253–262; 257. Angela Keppler-Seel; Martin Seel: Adornos reformistische Kulturkritik. In: Georg Kohler; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2008, 223–234; 223. In Anlehnung an das am 16.07.1969 aufgezeichnete und am 13.08.1969 im Hessichen Rundfunk ausgestrahlte Gespräch mit Buchner zum Thema Erziehung zur Mündigkeit äußern Keppler-Seel und Seel die Überzeugung, dass Adorno vor allem in seiner Spätphase „gesellschaftliche Möglichkeiten eruiert, unter denen die selbstverschuldete Unmündigkeit des Menschen nach und nach überwunden werden kann. Hier verfährt Adornos Kulturkritik nicht fundamentalistisch, sondern reformistisch.“ (Keppler-Seel; Seel: Adornos reformistische Kulturkritik, 224) In diesem Sinne äußert sich auch Schroer, der die Luhmannsche Gleichsetzung der Positionen Gehlens und Adornos als resignativ kritisiert und für die Präsenz eines hohen Stellenwerts der Individualität im Denken Adornos argumentiert. (Vgl. Markus Schroer: ‚Ende des Individuums‘. In: Richard Klein, Johann Kreuzer; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler und Carl Ernst Poeschel 2011, 276–282) Diese optimistischen Positionen basieren dennoch auf der Janusköpfigkeit der Adornoschen Begriffe und Kategorien, die aufgrund ihrer dialektischen Natur ihre eigene Negation bereits implizieren. Denn eine realisierbare, konkrete Möglichkeit positiver Veränderungen der gesellschaftlichen Ordnung ist im Adornoschen Denken sowohl auf individueller als auch auf sozialer Ebene ausgeschlossen. Wenn überhaupt von einer Veränderung seiner Sichtweise gesprochen werden kann, dann lediglich insofern sie nach dem Zweiten Weltkrieg noch negativer ausfällt. Als Beispiel dafür sei etwa auf den Titel des Aufsatzes Wozu noch Philosophie? aus dem Jahre 1962 verwiesen. Adorno hatte dreißig Jahre zuvor noch nicht an der Aktualität der Philosophie gezweifelt, wie der Titel seiner Antrittsvorlesung Die Aktualität der Philosophie im Jahre 1931 belegt. Schroer: ‚Ende des Individuums‘, 277. A-GS8: Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?, 125. Vgl. A-GS8: Gesellschaft, 9–20. Vgl. DA, 20; 24; 49; 56; 72.
sprünglich. Vielmehr stehen soziale Ausdrucksformen und Denkstrukturen in einer Fundierungsrelation zueinander: Adorno sieht daher die Herrschaft des deduktiven Denkens als die Umsetzung realer Machtverhältnisse auf erkenntnistheoretischer Ebene. Darin liegt der marxistische Kern der Adornoschen Gesellschaftsanalyse: Die Distanz des Subjekts vom Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt. […] Mit dem Ende des Nomadentums ist die gesellschaftliche Ordnung auf der Basis festen Eigentums hergestellt. Herrschaft und Arbeit treten auseinander. […] Die Allgemeinheit der Gedanken, wie die diskursive Logik sie entwickelt, die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs, erhebt sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit. In der Ablösung des magischen Erbes, der alten diffusen Vorstellungen, durch die begriffliche Einheit drückt sich die durch Befehl gegliederte, von den Freien bestimmte Verfassung des Lebens aus. Das Selbst, das die Ordnung und Unterordnung an der Unterwerfung der Welt lernte, hat bald Wahrheit überhaupt mit dem disponierenden Denken ineinsgesetzt, ohne dessen feste Unterscheidungen sie nicht bestehen kann.59
Dieses Zitat zeigt den Zusammenhang zwischen den zwei grundlegenden Ebenen, auf denen die totalitaristische Ordnung der Gesellschaft aufbaut und aufgrund derer sie sich selbst erhält und regeneriert. Im Laufe der Geschichte der Menschheit – so die These Adornos – hat sich dieses System immer maßgeblicher durchgesetzt. Dadurch sei die deduktive Erkenntnis, die auf Basis realer Macht entstanden sei, von der Magie bis zum Mythos und vom Mythos bis zur heutigen Zeit stetiger Anlass immer komplexerer Formen sozialer Machtausübung geworden: „Der abendländische Mensch begreift und behandelt sich von Odysseus bis ins 20. Jahrhundert selbst als zu beherrschende Natur und verwandelt sich damit ‚zum SubjektObjekt der Repression‘60.“61 Diese Widersprüchlichkeit des rationalistischen Systems hat sich nach Adorno in der kapitalistischen Gesellschaft des 20. Jahrhunderts in Gestalt der „Kulturindustrie“62 verwirklicht, die er gemeinsam mit Horkheimer als einen aufgeklärten „Massenbetrug“63 bezeichnet. Den totalitären Charakter dieses Systems drückt Schroer mit den folgenden Worten aus: „Sie [die Kulturindustrie] erfüllt die wichtige Funktion, die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft auf beinahe unmerkliche und geradezu angenehme Weise an die Bedingungen der verwalteten Welt zu gewöhnen.“64 Dafür habe die Kulturindustrie, so Schroer weiter, ein „erfolgreiche[s] Kontrollinstrument: die Kultur. Industriell hergestellt und massenhaft verbreitet, […] [verdammt sie] die Individuen zur absoluten Passivität, 59 60 61
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DA, 29–30. Dieser Gedanke kehrt in der Dialektik der Aufklärung immer wieder. (Vgl. DA, 39; 53–56) DA, 230. Andreas Hetzel: Dialektik der Aufklärung. In: Richard Klein, Johann Kreuzer; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: Metzler und Carl Ernst Poeschel 2011, 389–397; 392. DA, 128. (Vgl. auch: A-GS10-I: Résumé über Kulturindustrie; A-GS10-I: Kulturkritik und Gesellschaft) DA, 128. Schroer: ‚Ende des Individuums‘, 279.
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konditionier[t] sie zu willenlosen Rezipienten, leite[t] zur Einfügung und Anpassung in das Bestehende ein, zerstör[t] Kreativität und Phantasie und unterhöhl[t] damit jegliche Form von Autonomie und Individualität“.65 In diesem von der Kulturindustrie bewirkten Regressionsprozess besteht nach Adorno die Paradoxie der vermeintlich aufklärenden Vernunft, die den Menschen, anstatt ihn existenziell und kulturell zu emanzipieren, „in eine neue Art von Barbarei“66 versetzt habe, deren vernichtende Tendenz sich auf radikale Weise in den Konzentrationslagern des Zweiten Weltkriegs ausgedrückt hat.67 Dieser paradoxe Charakter zeigt sich in Adornos Analyse in Form eines dem System immanenten Entmenschlichungsphänomens,68 das auf gesellschaftlicher Ebene die Charakteristika eines irreversiblen Verdinglichungsprozesses des Menschen annimmt69 und das auf erkenntnistheoretischer Ebene eine Selbstentfremdung bewirkt. Die Konsequenzen dieses Entmenschlichungsprozesses bringt Adorno mit drastischen Worten zum Ausdruck: „Es gibt kein richtiges Leben im falschen.“70 Obwohl Verdinglichung und Entfremdung unmittelbar aufeinander bezogen sind und sich gegenseitig bestimmen, werden sie im Folgenden einer Einzelbetrachtung unterzogen, um die aporetischen Wirkungen dieser beiden Phänomene auf das Leben des Menschen zeigen zu können. Ihre Analyse wird sich jeweils auf die zwei bereits erwähnten, theoretischen Grundmotive der Gesellschaftsanalyse Adornos stützen: den revidierten Marxistischen Materialismus, anhand dessen der Verdinglichungsprozesses erschließbar wird, und die Adornosche Konzeption eines gegensätzlichen Verhältnisses von Geist und Natur, das in allen Lebensbereichen in zunehmendem Maße eine Entfremdung bewirkt hat.71 1.1.2.1 Der Verdinglichungsprozess Das Entmenschlichungsphänomen, das Adorno zufolge alle Bereiche des privaten und sozialen Lebens betrifft und das der Mensch selbst unbewusst verstärkt, drückt sich in Form der Verdinglichung sowohl aller menschlicher Beziehungen als auch des Bewusstseins jedes einzelnen Menschen aus. Wie Andreas Hetzel hervorhebt, ist „für Adornos Theorie der Gesellschaft […] die Kritik der Verding65 66 67 68 69 70 71
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Schroer: ‚Ende des Individuums‘, 279. DA, 11. Vgl. DA, 29; 192–234. Vgl. A-GS8: Reflexionen zur Klassentheorie, 389. Vgl. A-GS8: Reflexionen zur Klassentheorie, 390; ND, 191–192. A-GS4, 43. Statt einer detaillierten Analyse der Wirkungen dieses Verdinglichungsprozesses auf alle Bereiche des Lebens und auf das Selbstverständnis jedes Menschen wird der Akzent im Folgenden auf die Ursachen, die Adorno zufolge zu diesem Entmenschlichungsprozess geführt haben, gelegt. Deshalb wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit keine Auseinandersetzung mit Minima Moralia, die einen desillusionierten Querschnitt durch die entmenschlichte Existenz des modernen Menschen vornimmt, stattfinden.
lichung zentral. Mit dem Begriff ‚Verdinglichung‘ knüpft Adorno an Marx’ Erklärung des Fetischcharakters der Ware an […]. Verdinglichung (von Subjekten, des Verhältnisses von Subjekten, der Hervorbringungen von Subjekten in Arbeit und produktiver Einbildungskraft) gründet in einer durch den Kapitalismus hervorgebrachten objektiven Verkehrung […].“72 Das will heißen, dass reale Arbeitsund Machtverhältnisse, die erst den Tausch von Dingen ermöglichen, hinter eben diesem Tausch verschwinden. Gerade aus dieser Entstellung des Tauschprinzips, die in einer eindeutig marxistischen Perspektive Adorno zufolge die moderne kapitalistische Gesellschaft auszeichnet, entstehen in seiner Konzeption die entmenschlichenden Phänomene, die das Leben betreffen: Die Voraussetzungen dafür, dass der Tausch von Dingen überhaupt erst möglich wird, implizieren soziale Mechanismen, die den Wert jedes einzelnen Menschen und daher die Einzigartigkeit des je eigenen Lebens einebnen. Denn damit ein Ding gegen ein anderes getauscht werden kann, muss es erst möglich sein, einen Tauschwert der beiden Dingen nach vergleichbaren Größen zu bestimmen. Nach Marx ist diese Größe die durchschnittliche Arbeitskraft, die gesellschaftlich geleistet wird, um ein Produkt herzustellen. Dieses ökonomische Gesetz, das auf rein ökonomischer Ebene unter der Voraussetzung der absoluten Freiheit aller Menschen ihre Gleichheit behauptet und sicherstellt, überschreitet laut Marx durch die Entstehung des Privateigentums die Grenze seines rein wirtschaftlichen Wirkungsfelds und verwandelt die menschliche Arbeitskraft in eine begehrte Ware für den Meistbietenden.73 In Einklang mit der von Marx veranschaulichten Auswirkung dieses ökonomischen Phänomens auf das Leben stellt Adorno fest, dass auch der Wert jedes einzelnen Menschen in der kapitalistischen Gesellschaft nach dem Wert der besonderen Ware ‚Arbeitskraft‘ bestimmt werde. Der Mensch werde demzufolge mit seiner Funktion identifiziert. Diese Gleichsetzung von Mensch und Funktion verursacht nach Adorno in zweierlei Hinsicht eine Verdinglichung des Menschen: Indem die einzig relevanten Unterschiede zwischen Menschen nur funktionell bestimmt seien – d.h. durch ihre Funktion in der Arbeitskette, in der Gesellschaft sowie in der Privatheit der Familie –, werde jeder Mensch mit jedem anderen, der die gleich Funktion ausübt, äquivalent und daher ersetzbar: „Die bürgerliche Gesellschaft ist beherrscht von Äquivalent. Sie macht Ungleich72
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Hetzel: Dialektik der Aufklärung, 338. (Vgl. A-GS10-II: Erziehung nach Auschwitz, 686; A-GS14: Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des Hörers) „Seit mit dem Ende des freien Tausches die Waren ihre ökonomischen Qualitäten einbüßten bis auf den Fetischcharakter, breitet dieser wie eine Starre über das Leben der Gesellschaft in all seinen Aspekten in sich aus. Durch die ungezählten Agenturen der Massenproduktion und ihrer Kultur werden die genormten Verhaltensweisen dem Einzelnen als die allein natürlichen, anständigen, vernünftigen aufgeprägt. Er bestimmt sich nur noch als Sache, als statistisches Element, als success or failure. Sein Maßstab ist die Selbsterhaltung, die gelungene oder mißlungene Angleichung an die Objektivität seiner Funktion und die Muster, die ihr gesetzt sind.“ (DA, 45) Vgl. Karl Marx: Zur Kritik der politischen Ökonomie. Hg.: Karl Kautsky. Stuttgart: J.H.W. Dietz 1897, 1–32.
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namiges kommensurabel, indem sie auf abstrakte Größen reduziert.“74 Der Mensch werde daher zu dem, wovon sich „das Prinzip des Selbst gekehrt hatte: zu bloßen Gattungswesen, einander gleich durch Isolierung in der zwangshaften gelenkten Kollektivität“.75 Die Identifikation von Mensch und Funktion löst nun einerseits einen Verdinglichungsprozess aus, indem der Mensch in ein Ding, d.h. in eine Ware verwandelt werde, die ebenso wie jede andere Ware nach funktionell vergleichbaren Größen mit anderen Waren tauschbar werde. Dieser Verdinglichungsprozess betreffe den Menschen auf solch entscheidende Weise, dass davon sogar jegliche Form der Selbstbezüglichkeit betroffen sei: „Die Selbstachtung der Menschen wächst proportional mit ihrer Fungibilität“76, bis „die Bewußtseineinheit […] der begriffliche Reflex des totalen, lückenlosen Zusammenschlusses der Akte der Produktion in der Gesellschaft“77 werde. In diesem Sinne expliziert Adorno auf drastische Weise: Nicht bloß mit der Entfremdung der Menschen von den beherrschten Objekt wird für die Herrschaft bezahlt: mit der Versachlichung des Geistes wurden die Beziehungen selbst verhext, auch die jedes Einzelnen zu sich. Er schrumpft zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zusammen, die sachlich von ihm erwartet werden. Der Animismus hatte die Sache beseelt, der Industrialismus versachlicht die Seele.78
Andererseits verweist das Verdinglichungsphänomen auf die unüberbrückbare Kluft zwischen den Eigentümern, die die Produktionsmittel besitzen, und dem Proletariat, das die Arbeit leistet. Der funktionale Wert jedes Menschen, der in der vorliegenden Analyse bereits als Ergebnis des beschriebenen Verdinglichungsprozesses herausgearbeitet werden konnte, wird aufgrund der sozialen Struktur der kapitalistischen Gesellschaft in eine Mittel-Zweck-Logik einbezogen, die die bereits funktional entstellte Individualität jedes Menschen weiter negiert. Der Arbeiter ist für den Arbeitgeber nur ein Mittel zum Zweck: Arbeitskraft für die Produktion und statistisches Material für die Marktforschung. Ökonomisch betrachtet basiert daher die Verdinglichung menschlicher Beziehungen Adorno zufolge auf der Herrschaft des Tauschprinzips, die in einer auf Privateigentum aufbauenden, politischen Gesellschaft zum absoluten und einzigen Maßstab werde. Qualitative Unterscheidungslosigkeit zwischen Dingen und Menschen wird in dieser Ordnung zur notwendigen Voraussetzung dafür, dass quantitativ vergleichbare Größen den Tausch ermöglichen. Die Einebnung des Qualitativen sowohl von Dingen als auch von Menschen führe zu einem System der absoluten „Identität von allem mit allem“79 und daher zu einer Aufhebung des spezifisch Menschlichen. Ein Phänomen, das – wie gezeigt – sowohl alle Be74 75 76 77 78 79
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DA, 23–24. DA, 54. (Vgl. auch: DA, 52) DA, 115. ND, 181. DA, 45. DA, 28.
reiche des sozialen und privaten Lebens als auch jegliche Form von Selbstbezüglichkeit bestimmt. 1.1.2.2 Der Entfremdungsprozess Auf erkenntnistheoretischer Ebene charakterisiert Adorno den Entmenschlichungsprozess als eine Form der Selbstentfremdung. Diese Bestimmung lässt sich anhand des von Adorno konzipierten Verhältnisses von Geist und Natur, das er in der Dialektik der Aufklärung systematisch darstellt, erschließen: „Was die Menschen von der Natur lernen wollen“ – schreiben Horkheimer und Adorno – „ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen“.80 An eben diese Beherrschung von Mensch und Natur knüpft die hier diagnostizierte Selbstentfremdung an: Beim Versuch, eine starke Identität zu entwickeln, kommt es laut Adorno durch die Ausübung der menschlichen Herrschaft zu einer radikalen Distanzierung vom Erkenntnisgegenstand, wodurch die Bedingung der Möglichkeit der einzig wahren, dialektischen Selbsterkenntnis nicht länger bestehe. Durch diese These, die Adorno schon in der emblematischen Figur von Odysseus bestätigt sieht, übt er radikale Kritik am Gesamtsystem des deduktiven Denkens der klassischen Logik. In diesem Zusammenhang zeigt Adorno, wie die dialektische Verschränkung von Subjekt und Objekt,81 die sowohl die Erkenntnis des Objekts als auch die Selbsterkenntnis des Subjekts ermöglicht, vom Subjekt durch einen rationalisierenden Anspruch ersetzt wurde, der – wie oben bereits erwähnt – auf dem notwendig zu schaffenden Abstand zwischen Herr und Beherrschtem seine Legitimation findet.82 80 81
82
DA, 20. Vgl. DA, 213–214. „Zwischen dem wahrhaften Gegenstand und dem unbezweifelbaren Sinnesdatum, zwischen innen und außen, klafft ein Abgrund, den das Subjekt, auf eigene Gefahr, überbrücken muß. Um das Ding zu spiegeln, wie es ist, muß das Subjekt ihm mehr zurückgeben, als es von ihm erhält. Das Subjekt schafft die Welt außer ihm noch einmal aus den Spuren, die sie in seinen Sinnen zurückläßt: die Einheit des Dinges in seinen mannigfaltigen Eigenschaften und Zuständen; und es konstituiert damit rückwirkend das Ich, indem es nicht bloß den äußeren sondern auch den von diesen allmählich sich sondernden inneren Eindrücken synthetische Einheit zu verleihen lernt. Das identische Ich ist das späteste konstante Projektionsprodukt. In einem Prozeß, der geschichtlich erst mit den entfalteten Kräften der menschlichen physiologischen Konstitution sich vollziehen konnte, hat es als einheitliche und zugleich exzentrische Funktion sich entfaltet. Auch als selbständig objektiviertes freilich ist es nur, was ihm die Objektwelt ist. In nichts anderem als in der Zartheit und dem Reichtum der äußeren Wahrnehmungswelt besteht die innere Tiefe des Subjekts. Wenn die Verschränkung unterbrochen wird, erstarrt das Ich. Geht es, positivistisch, im Registrieren von Gegebenem auf, ohne selbst zu geben, so schrumpft es zum Punkt, und wenn es, idealistisch, die Welt aus dem grundlosen Ursprung seiner selbst entwirft, erschöpft es sich in sturer Wiederholung. Beide Male gibt es den Geist auf.“ (DA, 213–214) Vgl. zur Verbindung von Denken und realer Herrschaft insb. auch: DA, 23; 29; 38–39; 54; ND, 34; 149–150; 180–181.
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Im ersten Teil der Dialektik der Aufklärung veranschaulicht Adorno die kausale Abhängigkeit des deduktiven Denkens von realen Herrschaftsformen sowie die unvermeidbaren Folgen ihres Zusammenspiels für das menschliche Leben. Am Beispiel von Odysseus zeigt Adorno, dass die Möglichkeit der Identitätskonstitution für den Menschen und seine Entwicklung vom Erfolg eines erkenntnistheoretisch fundierten Beherrschungsprozesses der inneren und äußeren Natur abhängt.83 Dieser Beherrschungsprozess zeichnet sich Adorno zufolge dadurch aus, dass sich die Erkenntnis aller Dinge in einem Intentionalitätsverhältnis auflöst, weshalb den einzelnen Dingen und dem Ganzen der Welt keine eigene Bedeutung und kein immanenter Wert zuerkannt werden. Welt und Dinge werden daher vom herrschenden, sinngebenden Subjekt als bloß zufällige Bedeutungsträger betrachtet.84 Dafür bedient sich das deduktive Denken laut Adorno des Begriffs, der als ursprüngliches Produkt dialektischen Denkens als Werkzeug der Beherrschung missbraucht wird: Der Begriff wird zu einer allgemeinen und abstrakten Größe, worunter die qualitative Vielfalt von Anschauungen, Eigenschaften und sogar die Gegenstände selbst eingeebnet werden müssen, um die vom Begriff verlangte Subsumption, Klassifikation und Anordnung erst zu ermöglichen.85 Dadurch glaubt das Subjekt fälschlicherweise, die Distanz zwischen sich selbst und der Außenwelt zu überbrücken und infolge dessen zur wahren Erkenntnis zu gelangen. Darauf aufbauend stellt Adorno fest, dass „der ganze Anspruch der Erkenntnis […] preisgegeben“86 wird und „der Gedanke […] sich zur bloßen Tautologie“87 macht, indem das Subjekt unter einer beliebig abstrakten Größe – dem Begriff – ebenso beliebig hervorgehobene, allgemeine Eigenschaften verschiedener Objekte zusammenfasst. Das Verschwinden der qualitativen Unterschiede zwi83
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Vgl. DA, 72. (Vgl. dazu auch: DA, 49; 56; 65–66; vgl. für eine sehr prägnante und dichte Darstellung des Beherrschungsprozesses, dessen Anfänge und Entwicklung Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung schildern: Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos, 83–87) Sauerland legt den Akzent auf die Verbindung, die Horkheimer und vor allem Adorno immer wieder zur Psychoanalyse Freuds herstellen. (Vgl. DA, 100–140) Diese Übertragung psychologischer Kategorien auf die Geschichte, die Sauerland zu Recht in das Zentrum seiner Zusammenfassung rückt, die aber keineswegs unproblematisch ist (vgl. dazu: Baumeister; Kulenkampff: Geschichtsphilosophie und philosophische Ästhetik, 97), lässt sich in der komplexen Geschichts- und Naturauffassung Adornos verorten. Eine ausführliche Ausarbeitung des Zusammenhangs von Geschichte, Natur und Psychologie ist für die im Rahmen dieser Arbeit aufgeworfene Frage nach der Bedeutung der Kunst für den Menschen sekundär und kann deshalb nicht vorgenommen werden. (Vgl. für einen Überblick über diesen Zusammenhang: Christian Schneider: Die Wunde Freuds. In: Richard Klein, Johann Kreuzer; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler und Carl Ernst Poeschel 2011, 283–295) Vgl. DA, 25; 27–29; 43. Vgl. DA, 32. „Der Begriff […] war vielmehr seit Beginn das Produkt dialektischen Denkens, worin jedes stets nur ist, was es ist, indem es zu dem wird, was es nicht ist. Das was die Urform objektivierender Bestimmung, in der Begriff und Sache auseinandertraten.“ (DA, 32. Vgl. zur Funktion der Begriffen im positiven Denken: DA, 21; 39; 57–58) DA, 43. DA, 44.
schen Dingen, die bereits auf gesellschaftlicher Ebene festgestellt wurde, spiegelt sich daher auf erkenntnistheoretischer Ebene wider: Das positive Identitätsprinzip verursacht die Einebnung der qualitativen Differenzen zwischen Dingen und entspricht daher dem Tauschprinzip, das auf gesellschaftlicher Ebene die aqualitative Gleichheit zwischen Menschen bedingt. Was die Dinge an sich und nicht nur für das Subjekt sind; wodurch sie sich auszeichnen; was begrifflich nicht greifbar ist; was an ihnen qualitativ anders ist – all das verschwindet durch die Herrschaft des deduktiven Denkens. Die positive Erkenntnis äußert sich daher als eine Verkennung der Welt und der Dinge und verursacht einen Entfremdungsprozess, der Außen- und Innenwelt gleichermaßen betrifft. Dieser Entfremdungsprozess verwehrt dem Subjekt in zweierlei Hinsicht den Zugang zu seinem eigenen Selbst: Einerseits verursacht die Herrschaft des deduktiven Denkens die „Versachlichung des Geistes“,88 indem jedes Subjekt, da es keine andere Erkenntnisweise als die des Intentionsverhältnisses zu dem äußeren Objekt beherrscht, einen Abstand zum eigenen Selbst schaffen und sich objektivieren muss, um einen Zugang zu sich selbst überhaupt denken zu können. Der Mensch wird demzufolge vom deduktiven Denken dazu genötigt, sein eigenes Selbst so zu betrachten, als wäre es ein Objekt. Dadurch wird die Subjektivität des Subjekts verfehlt, insofern der Mensch durch seine Form des Denkens von sich selbst entfremdet ist. Andererseits konkretisiert sich der Entfremdungsprozess in der vollkommenen Abschaffung des eigentlich Menschlichen: Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist virtuell allemal die Vernichtung des Selbst, in dessen Dienst sie geschieht, denn die beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhaltung aufgelöste Substanz ist gar nichts anderes als das Lebendige, als dessen Funktion die Leistung der Selbsterhaltung einzig sich bestimmen, eigentlich gerade das, was erhalten werden soll.89
Adorno führt somit die doppelte Widersprüchlichkeit vor Augen, die der positiven Denkform zugrunde liegt. Das positive Denken, das keineswegs eine der menschlichen Erkenntnisstruktur immanente Denkform ist, sondern aufgrund bestimmter politischer und sozialer Verhältnisse entstanden ist, zeigt seinen aporetischen Charakter nicht nur darin, dass es sein eigentlich erkenntnistheoretisches Ziel bezüglich der Außenwelt verfehlt. Vielmehr drückt sich die absolute Irrationalität des deduktiven Denksystems darin aus, dass die Formung einer starken menschlichen Identität, weshalb das System selbst erst entsteht, zu vielfältigen Formen der Selbstentfremdung führt.
88 89
DA, 45. DA, 73.
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1.1.3 Benjamin: Die Massengesellschaft Wie Adorno und Heidegger befasst sich auch Benjamin ausführlich mit jenen Phänomenen, die das Leben des modernen Menschen auf sozialer ebenso wie auf existenzialer Ebene auszeichnen. In Übereinstimmung mit seiner Idee der Asystematik und Bruckstückhaftigkeit des Realen, das sich nur durch eine monadologische Struktur als solches erkennen lässt, finden sich im Benjaminschen Gesamtwerk unzählige Essays und Aufsätze, aber auch kurze Fragmente, in denen seine Auffassung der Moderne konzentriert ist: „[M]an braucht nur eine Stelle aufzuschlagen, und schon ist man drin.“90 Explizit geht Benjamin auf die Frage nach der Entstehung der Moderne jedoch nur in seiner Passagenarbeit ein.91 Doch dieses Werk bleibt bekanntermaßen ein unabgeschlossenes Projekt und besteht daher in einer Fülle von zwischen 1925 und 1940 entstandenen, kleinen Aufsätzen und Fragmenten.92 Diese Bruckstückhaftigkeit der Schriften und insbesondere der Passagenarbeit Benjamins ist für das hier verfolgte Vorhaben, die Benjamin90 91
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Timo Skrandies: Unterwegs in den Passagen-Konvoluten. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2011, 274–284; 274. Benjamins Passagenarbeit erhält in der Forschungsliteratur auch die Bezeichnungen Passagen-Werk bzw. Passagenwerk. Alle drei Bezeichnungen werden von den Autoren, die sich mit dem Benjaminschen Denken auseinandersetzen, unterschiedslos verwendet. Während aber der Ausdruck Passagenarbeit von Benjamin selbst geprägt wurde (vgl. u.a.: B-GSIII, 436; PA, 577), stammen die anderen beiden Titel von Rolf Tiedemann, dem Herausgeber des fünften Bandes der Gesammelten Schriften Benjamins. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird, der Empfehlung Irving Wohlfahrts folgend, die von Benjamin selbst gewählte Bezeichnung Passagenarbeit verwendet. (Vgl. Irving Wohlfahrt: Die Passagenarbeit. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2011, 251–274; 251) Obwohl sich die meisten Autoren, die sich mit Benjamins Passagenarbeit beschäftigt haben, über diesen Zeitraum einig sind, zeigen sich unlösbare Kontroversen, wenn es darum geht, die verschiedenen Phasen der Entstehung der Passagenarbeit in dieser Zeitspanne zu unterscheiden. Einerseits plädieren Autoren wie Sven Kramer und Susan Buck-Morss für eine Einteilung in drei Hauptphasen: Die erste (1925–1929) sei durch eine intensive Auseinandersetzung Benjamins mit dem Surrealismus kennzeichnet; in der zweiten (1934–1937) nehme die materialistische Geschichtsschreibung eine überwiegende Rolle ein; in der dritten (1937–1940) stelle Baudelaire den Fokus des Benjaminschen Interesses dar. (Vgl. Susan Buck-Morss: Dialektik des Sehens. Walter Benjamin und das Passagen-Werk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, 68–70; Sven Kramer: Walter Benjamin zur Einführung. Hamburg: Junius 2013, 105) Andererseits sprechen sich Autoren wie Timo Skrandies und Rolf Tiedemann für eine Zweiteilung des Entstehungsprozesses der Passagenarbeit aus: eine stark messianisch geprägte erste Phase (1927–1929) und eine eher materialistisch orientierte zweite Phase (1934–1940). (Vgl. Skrandies: Unterwegs in den Passagen-Konvoluten; Rolf Tiedemann: Einleitung des Herausgebers. In: Rolf Tiedemann (Hg.): Das Passagen-Werk. Walter Benjamin. Gesammelte Schriften V-1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, 9–41, 14; PA, 1081–1205) Diese Kontroverse, die theoretische Relevanz gewinnt, insofern sie unterschiedliche Interpretationen einiger Textpassagen bewirkt, ist für das Forschungsziel der vorliegenden Arbeit jedoch nur am Rande relevant. Denn abgesehen von den leitenden Interessen der jeweiligen Phasen bleibt die Absicht Benjamins, die Wesenszüge der Moderne zu erschließen und darzustellen, was hier einzig und allein von Bedeutung ist, in der gesamten Passagenarbeit unverändert.
sche Charakterisierung der modernen Gesellschaft darzustellen, von großer Bedeutung. Denn diese Bruckstückhaftigkeit ist Ausdruck der erkenntnistheoretischen Konzeption Benjamins, die Erkenntnis mit einer messianischen und doch materialistisch orientierten Auffassung der Geschichte gleichsetzt.93 Trotz bemerkenswerter Ähnlichkeiten mit der Adornoschen Gesellschaftsanalyse, die im Folgenden ersichtlich werden, verfolgt Benjamin daher keine explizit kritische Darstellung der modernen Gesellschaft.94 Seine Analyse der Moderne lässt sich vielmehr als konkreter Versuch verstehen, „die Signatur der frühen Moderne insgesamt“95 zu erfassen. Dieses praktische Vorhaben Benjamins entspricht auf erkenntnistheoretischer Ebene der von ihm so genannten „kopernikanische[n] Wendung in der geschichtlichen Anschauung“96, die er in den Thesen Über den Begriff der Geschichte in systematischer und programmatischer Form darstellt.97 93
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Diese Asystematik stellt ein grundlegendes Merkmal nicht nur der Passagenarbeit, sondern des gesamten Benjaminschen Denkens dar. Es handelt sich dabei um eine Vorgehensweise, die Benjamin zufolge von der bruchstückhaften Struktur des Realen und der Erkenntnis verlangt wird. Die Bruchstückhaftigkeit der Passagenarbeit ist daher weder auf die Unabgeschlossenheit dieses Werks noch auf eine romantische Vorliebe für das Fragment zurückzuführen, wie etwa Detlev Schöttker implizit behauptet. (Vgl. Detlev Schöttker: Konstruktiver Fragmentarismus. Form und Rezeption der Schriften Walter Benjamins. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999) Hans Heinz Holz und Irving Wohlfahrt verdeutlichen hingegen zutreffend, dass die Präferenz des Fragments im messianischen Horizont für Benjamin eine ontologische Fundierung gewinnt. (Vgl. Hans Heinz Holz: Idee. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Zweiter Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 445–478; 464; Wohlfahrt: Die Passagenarbeit, 252) Diese von Heidegger und vor allem von Adorno zu unterscheidende Absicht Benjamins zeigt sich implizit auch in der entsprechenden Sekundärliteratur. Denn während es eine Fülle an Texten gibt, die die existenzialen und sozialen Aspekte der Zeitdiagnosen Heideggers und Adornos mehr oder weniger ausführlich betrachten, lässt sich im Falle Benjamins gerade das Gegenteil feststellen: Die negativ existenzialen Aspekte, die sich in Benjamins Passagenarbeit zeigen, werden oftmals lediglich gestreift und im breiteren Rahmen einer marxistisch und messianisch fundierten Kritik an der Erkenntniskonzeption des Historismus verortet. Bislang ist zumindest im deutschsprachigen Raum ein Defizit in der philosophischen Auseinandersetzung mit den existenzialen Aspekten der Passagenarbeit festzustellen. Tiedemann: Einleitung des Herausgebers, 15. PA, 490. Die Benjaminsche Geschichtsauffassung, die an dieser Stelle nur sehr kurz gestreift werden kann und die daher vorläufig kryptisch bleiben muss, wird im dritten Teil der vorliegenden Forschungsarbeit ausführlicher diskutiert. Dennoch sei hier bereits auf die Zusammenfassung von Norbert Bolz verwiesen, die die inhaltlichen und methodischen Hauptmotive der Geschichtskonzeption Benjamins vor Augen führt und die die hier argumentierte Verortung der Passagenarbeit im breiteren, erkenntnistheoretischen Kontext des Benjaminschen Denkens erhellt. (Vgl. Norbert W. Bolz: Bedingungen der Möglichkeit historischer Erfahrung. In: Norbert W. Bolz; Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München: Fink 1984, 137–162) Vgl. Tiedemann: Einleitung des Herausgebers, 12. Die enge Verbindung der Passagenarbeit und der Geschichtsauffassung Benjamins wird auch von Adorno betont. Er ist nämlich der Auffassung, dass die Thesen Über den Begriff der Geschichte „die erkenntnistheoretischen Erwägungen zusammenfassen, deren Entwicklung die des Passagenentwurfs begleitet hat“. (Theodor W. Adorno; Rolf Tiedemann (Hg.): Über Walter Benjamin. Aufsätze, Artikel, Briefe. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1970, 26)
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Diese immer wieder betonte, konstitutive Verortung der Passagenarbeit im gesamten erkenntnistheoretischen Rahmen des Benjaminschen Denkens98 ermöglicht es, eine scheinbare, zeitliche Inkongruenz zwischen der Analyse Benjamins und jener der beiden anderen in dieser Arbeit zentralen Autoren aufzulösen: Während Heidegger und Adorno das 20. Jahrhundert als Objekt ihrer jeweiligen Kritik wählen, setzt sich Benjamin mit dem 19. Jahrhundert auseinander. Wie lassen sich die Analysen der jeweiligen Autoren angesichts dieser unterschiedlichen, zeitlichen Fokussierung nun aber vergleichen? Dies wird nur in Anlehnung an die Benjaminsche Geschichtsauffassung möglich, nach der das Jetzt nur in Bezug auf das Gewesene und vice versa erschließbar wird: Die Passagenarbeit als ‚Signatur‘ des 19. Jahrhunderts bringt daher auch die ‚Signatur‘ des 20. Jahrhunderts zum Ausdruck.99 98
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Trotz der Akzentuierung unterschiedlicher Aspekte in ihren jeweiligen Auseinandersetzungen mit dem Benjaminschen Denken, die gelegentlich sogar in Gegensätzen münden, stimmen die Autoren, die sich mit Benjamin befasst haben, darin überein, dass die Passagenarbeit in einem grundlegend geschichtlichen Interesse motiviert ist. Hier nur einige Beispiele: Burkhardt Lindner sieht das Vorhaben Benjamins in der Passagenarbeit in der „‚Stillstellung‘ einer historischen Epoche“ (Burkhardt Lindner: Das ‚Passagen-Werk‘, die ‚Berliner Kindheit‘ und die Archäologie des ‚Jüngstvergangenen‘. In: Norbert W. Bolz; Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München: Fink 1984, 27–48; 46) konkretisiert. Philippe Ivernel behauptet, dass sich „Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts wie die beste Illustration von Benjamins Thesen über die Arbeit des Historikers [lesen], oder vielmehr lesen sich die Thesen (um die zeitliche Reihenfolge zu wahren) wie die beste Kondensation der in Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts verfolgten Methode“. (Philippe Ivernel: Paris, Hauptstadt der Volksfront oder das postume Leben des 19. Jahrhunderts. In: Norbert W. Bolz; Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München: Fink 1984, 114–135; 120) Heinz Brüggemann sieht in der Passagenarbeit „das Projekt einer in Form und Inhalt vollkommen neuen Geschichtsschreibung der Moderne“ (Heinz Brüggemann: Passagen. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Zweiter Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 573–618; 575) und daher eine durch ihre Methode geübte „Kritik am Historismus“. (Brüggemann: Passagen, 587) Auch Wohlfahrt sieht in der Passagenarbeit den Verwirklichungsversuch der Benjaminschen Geschichtsauffassung als ‚Sprung‘, als Unterbrechung des Fortschritts, als „Technik des Erwachens“. (Wohlfahrt: Die Passagenarbeit, 254) Nicht zuletzt schreibt Tiedemann diesbezüglich: „Nichts Geringeres als eine materiale Geschichtsphilosophie des neunzehnten Jahrhunderts hätte das Passagenwerk dargestellt, wäre es vollendet worden.“ (Tiedemann: Einleitung des Herausgebers, 11) In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, dass Tiedemann ein Verhältnis der Kontinuität zwischen dem Reproduktionsaufsatz Benjamins und seiner Passagenarbeit sieht: „In ihm [dem Kunstwerkaufsatz] unternahm Benjamin den Versuch‚ ‚den genauen Ort in der Gegenwart anzugeben, auf den sich (seine) historische Konstruktion als auf ihren Fluchtpunkt beziehen‘ (PA, 1149) sollte.“ (Tiedemann: Einleitung des Herausgebers, 12) (Vgl. zum Zusammenhang von Reproduktionsaufsatz und Passagenarbeit: Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser: Anmerkungen der Herausgeber. In: Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. VII-2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 523–726, 665) An dieser Stelle verweisen Tiedemann und Schweppenhäuser auf einen Brief von Benjamin vom November 1933, in dem er anhand der Metapher einer Waage das Verhältnis von Reproduktionsaufsatz und Passagenarbeit bildlich erläutert (Vgl. Tiedemann; Schweppenhäuser: Anmerkungen der Herausgeber, 665)
Dass sich die Passagenarbeit nur im Rahmen der Geschichtsauffassung Benjamins angemessen erschließen lässt, bewirkt jedoch zusätzliche Schwierigkeiten für die hier beabsichtige Gesellschaftsanalyse, die sich aufgrund der Bruchstückhaftigkeit dieses Werkes ohnehin bereits komplex gestaltet. Denn wie Benjamins Thesen über die Geschichte entsteht auch seine Passagenarbeit aus einer asystematischen Verschränkung ökonomischer, politischer, messianischer sowie anthropologischer Interessen, die er so unmittelbar miteinander verbindet, dass sie sich einer Einzelbetrachtung gegenüber nahezu verschließen. Außerdem findet er in kritischer Auseinandersetzung mit Freuds Theorie der Traumdeutung, mit Prousts memoire involontaire und nicht zuletzt mit den Surrealisten weitere methodische Ansätze, die zu grundlegenden Bestandteilen seines Programms werden.100 Die Vielfältigkeit dieser Denkansätze und ihre wechselseitigen Verweisungszusammenhänge lassen keinerlei Zweifel hinsichtlich dessen offen, dass Benjamin in der Passagenarbeit ein Ziel verfolgt, das über eine kritische Darstellung der modernen Gesellschaft deutlich hinausgeht. Dennoch ist der Reichtum an feinen Bemerkungen, die diese Fragmente für die Gewinnung eines Porträts des modernen Menschen bereitstellen, unbestreitbar. Aus den vielen unterschiedlichen Beobachtungen, Beschreibungen, unerwarteten Verweisen, Metaphern und Allegorien, aus denen sich die Passagenarbeit zusammensetzt, ergibt sich bei genauer Betrachtung ein Gesamtbild des Lebens des modernen Menschen. Deshalb kann man die Passagenarbeit – bildlich gesprochen – als eine Bühne beschreibbar machen, auf der sich das moderne Leben in seinen bewussten und unbewussten Momenten, in seinen rationalen und psychischen Elementen, in seinen privaten und kollektiven Äußerungen abspielt. Diese Bühne ist aber die „Katastrophenstätte gescheiterter Emanzipation“101 und das Theaterstück des modernen Le100
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Im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit wird dem für Benjamins Gesamtkonzeption der Passagenarbeit unbestreitbar entscheidenden Einfluss Freuds, Prousts bzw. der Surrealisten dennoch nicht nachgegangen. Denn eine solche Auseinandersetzung würde aufgrund ihres enormen Umfangs zu weit vom Forschungsziel der vorliegenden Arbeit wegführen. (Vgl. für einen Gesamtüberblick über die Verschränkung dieser verschiedenen Einflüsse auf unterschiedliche methodische und inhaltliche Aspekte der Passagenarbeit: Wohlfahrt: Die Passagenarbeit; vgl. für eine ausführliche Darstellung des Einflusses der Theorien Freuds und Prousts auf Benjamin vor allem hinsichtlich seines Verständnisses der Vergangenheit, das die gesamte Methodik der Passagenarbeit betrifft: Peter Szondi: Hoffnung im Vergangenen. In: Peter Szondi (Hg.): Satz und Gegensatz. Sechs Essays. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1976, 79–97; Krista Greffrath: Metaphorischer Materialismus. Untersuchungen zum Geschichtsbegriff Walter Benjamins. München: Fink 1981; Josef Fürnkäs: Surrealismus als Erkenntnis. Stuttgart: J.B. Metzler 1988; Ansgar Hillach: Dialektisches Bild. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Erster Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 186–229; vgl. für einen Überblick über die grundlegenden, anthropologische Motive der Passagenarbeit: Carolin Duttlinger; Ben Morgan; Anthony Phelan: Walter Benjamins anthropologisches Denken. Freiburg i. Brsg./Berlin/Wien: Rombach 2012) B. Lindner: Das ‚Passagen-Werk‘, die ‚Berliner Kindheit‘ und die Archäologie des ‚Jüngstvergangenen‘, 39. Es ist in diesem Zusammenhang anzumerken, dass Benjamin selbst seine Passagenarbeit in einem Brief an Gerhard Scholem als eine Darstellung der ‚Katastrophenstätte‘ bezeichnet: „Ich will nicht von den Plänen reden, die unausgeführt,
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bens, das sich auf dieser Bühne darstellt, zeigt Benjamin zufolge „[i]nfernalische Aspekte“.102 In der Auseinandersetzung mit den Begriffen ‚Fetischcharakter‘ und ‚Phantasmagorie‘, denen in der Konzeption Benjamins eine entscheidende Wirkung auf den Menschen der modernen Gesellschaft zugeschrieben wird und die deshalb eine zentrale Rolle in der Passagenarbeit einnehmen, wird in den folgenden zwei Abschnitten versucht, zugleich die soeben erwähnten, ‚infernalischen Aspekte‘ vor Augen zu führen. 1.1.3.1 Der Fetischcharakter und die Phantasmagorie Trotz des bereits angedeuteten Ineinanderfließens unterschiedlicher philosophischer, literarischer, psychologischer und sozio-ökonomischer Ansätze verfügt eine Analyse, die sich im Labyrinth der Passagenarbeit zu orientieren versucht, um daraus eine existenziale und soziale Darstellung des Zustands des modernen Menschen zu gewinnen, über einen privilegierten Zugang. Dieser wird durch die ökonomische Analyse, die Benjamin fast vollständig von Marx übernimmt, ermöglicht. Der Kapitalismus nimmt ab Mitte der 1930er Jahre eine zentrale Rolle in Benjamins Versuch, das Gesicht der Modernen nachzuzeichnen, an. Er wird von Benjamin als „Naturerscheinung“ definiert, „mit der ein neuer Traumschlaf über Europa kam und in ihm eine Reaktivierung der mythischen Kräfte“.103 Gerade Traum, Schlaf und Mythologie, die Benjamin zufolge den Menschen in einen Zustand von Unwahrheit und Unfreiheit versetzen, charakterisieren in seiner Darstellung die Stimmung der modernen Epoche. Was Benjamin in diesem Zusammenhang unter Traum, Schlaf und Mythologie versteht, wird nur in Anbetracht seiner kritischen Übernahme der Marxistischen Theorie verständlich. Denn Benjamin erschließt den Zustand des modernen Menschen anhand zweier eng miteinander verbundener und in gewissem Sinne identischer Schlüsselphänomene: dem Fetischismus und der Phantasmagorie. Im Anschluss an die Erläuterung dieser beiden Phänomene wird auch die träumende,
102 103
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unangerührt bleiben mußten, aber doch an dieser Stelle jedenfalls die vier Bücher aufzählen, die die eigentliche Trümmer- oder Katastrophenstätte bezeichnen, von der ich keine Grenze absehen kann, wenn ich das Auge über meine nächsten Jahre schweifen lasse. Es sind die ‚Pariser Passagen‘, die ‚Gesammelten Essays zur Literatur‘, die ‚Briefe‘ und ein höchst bedeutsames Buch über das Haschisch. Von diesem letzteren Thema weiß niemand und es soll vorläufig unter uns bleiben.“ (Walter Benjamin: Brief 212. An Gerhard Scholem. 26. Juli 1932. In: Theodor W. Adorno; Scholem, Gershom (Hg.): Walter Benjamin. Briefe I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, 555–557; 556) „So heißt es in einem PassagenKonvolut: ‚Die Totalität der Züge zu bestimmen, in denen das ‚Moderne‘ sich ausprägt, hieße die Hölle darstellen‘ (PA, 676) – und im Brechtkommentar: ‚Die Anarchie der bürgerlichen Gesellschaft ist eine infernalistische‘ (B-GSII-2, 546).“ (Hermann Schweppenhäuser: Ein Physiognom der Dinge. Aspekte des Benjaminschen Denkens. Lüneburg: zu Klampen 1992, 155) Schweppenhäuser: Ein Physiognom der Dinge, 153. PA, 494.
schlafende Dimension verdeutlicht, in die der Mensch versetzt ist, sowie die daraus entstehenden, oben bereits erwähnten, ‚infernalischen Aspekte‘. In Anlehnung an eine von Marx geprägte Konzeption des Zusammenspiels ökonomischer und sozialer Strukturen sieht Benjamin den Ursprung der Moderne in jenen technischen Entwicklungen, die im 18. Jahrhundert im Rahmen der ersten und zweiten Industriellen Revolution bemerkenswerte Veränderungen im Bereich der Produktionskräfte verursacht haben. Diese Veränderungen, die in erster Linie den ökonomischen Unterbau betreffen, spiegeln sich Marx’ Analyse zufolge auch im Überbau.104 Benjamin übernimmt von Marx die Überzeugung eines wechselseitigen Zusammenwirkens von Unter- und Überbau. Dennoch lockert er das zwischen ihnen bestehende kausale Verhältnis und fasst es als ein Ausdrucksverhältnis.105 In diesem Zusammenhang nimmt er sich vor, „[n]icht die wirtschaftliche Entstehung der Kultur sondern de[n] Ausdruck der Wirtschaft in ihrer Kultur […] darzustellen“.106 Benjamins Analyse von Kulturgegenständen, Kulturformen und Kulturprodukten – seien es Warenhäuser, Wohnungen, Zeitungen, Kleidungen, alltägliche Dinge oder sogar menschliche Typen – ist daher nicht Zeichen einer „nostalgische[n] Hinwendung zur Vergangenheit“,107 sondern drückt ein kritisches Erkenntnisziel aus. Als Ausdruck rein wirtschaftlicher Fakten trägt jedes dieser Kulturphänomene den Ursprung der modernen Gesellschaft in sich. Durch die Auseinandersetzung mit diesen Zeugnissen einer vergangenen Zeit erkennt Benjamin einen Charakter, der das Leben der Moderne grundlegend prägt und der sich in all seinen Ausdrucksformen feststellen lässt: den Fetischcharakter. Wiederum in Anlehnung an Marx’ ökonomische Theorie schreibt Benjamin deshalb 1935, dass „die Entfaltung eines überkommenen Begriffs [Fetischcharakter der Ware] im Mittelpunkt [der Passagenarbeit] stehen“108 werde. 1938 wiederholt er, dass „[d]ie grundlegenden Kategorien [der Passagenarbeit] […] in der Bestimmung des Fetischcharakters der Ware übereinkommen“.109 Der Fetischcharakter stellt für Benjamin daher jenes Merkmal dar, das alle Ausdrucksformen des menschlichen Lebens in der modernen Welt teilen und anhand derer sie gedeutet werden müssen. Der Fetischcharakter spielt bereits in Adornos Analyse der modernen Gesellschaft als Ursache des Verdinglichungs104 105 106 107
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Vgl. Marx: Zur Kritik der Politischen Ökonomie, IX–XIV. Vgl. PA, 495; Tiedemann: Einleitung des Herausgebers, 29; Rolf Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, 131. PA, 573–574. Susan Buck-Morss: Der Flaneur, der Sandwichman und die Hure. Dialektische Bilder und die Politik des Müßiggangs. In: Norbert W. Bolz; Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München: Fink 1984, 96–113; 97. PA, 1112. PA, 1166. (Vgl. zur Zentralität des Fetischcharakters der Ware in der Passagenarbeit: Bernd Witte: Statt eines Vorworts. I. Ein ungeschriebenes Buch lesen. In: Norbert W. Bolz; Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München: Fink 1984, 7–12; 7; Wohlfahrt: Die Passagenarbeit, 258–259; Skrandies: Unterwegs in den Passagen-Konvoluten, 279–280)
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prozesses, der sowohl alle zwischenmenschlichen Beziehungen als auch jede Form der Selbstbezüglichkeit des Menschen betrifft, eine entscheidende Rolle. Entmenschlichung, Entfremdung und Warencharakter von Menschen und Natur, die demzufolge bereits bei Adorno festgestellt werden konnten, finden sich auch bei Benjamin.110 In diesem Zusammenhang „begreift [Benjamin] die Passagen als ‚Tempel des Warenkapitals‘111 und analysiert das Übergreifen der Warenförmigkeit auf den menschlichen Körper und auf die sozialen Beziehungen. […] Kein brauchbares Ding und keine nutzbare Eigenschaft der Menschen entgehen dem universellen Verwertungsgebot.“112 Daneben richtet Benjamin seine Aufmerksamkeit auch auf ein Phänomen, das – wenn man so will – eine Intensivierung des Fetischcharakters der Gesellschaft darstellt, während es jedoch zugleich von ihm abhängig bleibt: die Phantasmagorie. Mit diesem Begriff will Benjamin die trügerische, verblendende Macht, die alle geistigen und materiellen Erzeugnisse der Fetisch-Gesellschaft auf das Kollektiv, d.h. auf die Masse ausüben, erfassen. Diesbezüglich erklärt Norbert Bolz: In diesem Sinne stellen sich die Pariser Passagen als Phantasmagorien dar. In ihnen transfiguriert die warenproduzierende Gesellschaft den Tauschwert der Produkte und die Selbstentfremdung der Konsumenten zum letzten Schrei. Ihr Glanz unterhält und zerstreut. „Die Phantasmagorie ist das intentionale Korrelat des Erlebnisses.“113 Ihr entspricht die verdinglichende Archivierung geistiger Objektivationen unter dem Titel Kulturgeschichte. Denn die Kultur der warenproduzierenden Gesellschaft ist das Integral ihres Fetischismus: diese Gesellschaft macht sich ein „Kultur“ betiteltes Bild von sich, in dem sie von ihrem Konstituens, nämlich der Warenproduktion, abstrahiert.114
Und eben dieses Bild erweist sich, da es ein „Wunschbild des Kollektivs“115 ist, als „Trugbild, Blendwerk“, das die Menschen betrügt, indem es den falschen Eindruck von zunehmendem Wohlergehen erweckt. 110 111 112 113
114
115
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Vgl. H. Schweppenhäuser: Ein Physiognom der Dinge, 158. PA, 86. Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 107–108. PA, 966. (Vgl. zur komplexen Verbindung von Phantasmagorie, Arbeit, Erfahrung und Erlebnis: Helmut Pfotenhauer: Ästhetische Erfahrung und gesellschaftliches System. Untersuchungen zu Methodenproblemen einer materialistischen Literaturanalyse am Spätwerk Walter Benjamins. Stuttgart: J.B. Metzler 1975, 59–70; Buck-Morss: Der Flaneur, der Sandwichman und die Hure, 96–113; Buck-Morss: Dialektik des Sehens; Walter Fähnders: Benjamis MüßiggangStudien. In: Klaus Garber; Ludger Rehm (Hg.): Global Benjamin. Internationaler WalterBenjamin-Kongreß 1992. München: Fink 1999, 1554–1568; Norbert W. Bolz: Auszug aus der entzauberten Welt. Philosophischer Extremismus zwischen den Weltkriegen. München: Fink 1991, 95–144; B. Lindner: Das ‚Passagen-Werk‘, die ‚Berliner Kindheit‘ und die Archäologie des ‚Jüngstvergangenen‘, 42–48; Gunar Musik: Die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Ästhetik Walter Benjamins und ihr Fortwirken in der Konzeption des Passagenwerks. Frankfurt a.M.: Lang 1985, 156–179; vgl. zur Verbindung von Marx, Fetischcharakter und Phantasmagorie: Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, 129–133) Norbert W. Bolz: Statt eines Vorworts. II. Hauptstadt Paris. In: Norbert Bolz, Bernd Witte (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. München: Fink 1984, 12–16; 15. Vgl. PA, 1212; Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, 155.
1.1.3.2 Das unbewusste Kollektiv Auch der Benjaminsche Diskurs über eine träumende Epoche wird lediglich im Rahmen seiner messianisch-materialistischen Geschichtsauffassung verständlich. Denn ausschließlich der historische Materialist kann sich über den Traum bewusst werden, insofern er aus diesem Traum erwacht. Entsprechend kann Benjamin, wie Tiedemann rekapituliert, das 19. Jahrhundert nur aus der distanzierten Perspektive des Geschichtsschreibers als „eine Welt geträumter Dinge“116 darstellen, „von Menschen gemacht, aber ohne Bewußtsein und Plan, gleichwie im Traum, gemacht“.117 Im Erwachen, d.h. in der „Auflösung der ‚Mythologie‘ in den Geschichtsraum“,118 das nicht nur das Vergangene als Traum, sondern zugleich „die Gegenwart als Wachwelt zu erfahren“119 ermöglicht, besteht das erkenntnistheoretische Ziel Benjamins. Traum und Wachwelt, als Wahrnehmungsund Erfahrungskategorien verstanden, bezeichnen daher die beiden Pole, zwischen denen sich das Erwachen als geschichtlicher Erkenntnisvollzug positioniert.120 Vor dem Hintergrund dieses komplexen Erfahrungsgerüsts wird die 116
117 118 119 120
Tiedemann: Einleitung des Herausgebers, 26. „Abgrenzung der Tendenz dieser Arbeit gegen Aragon: Während Aragon im Traumbereich beharrt, soll hier die Konstellation des Erwachens gefunden werden. Während bei Aragon ein impressionistisches Element bleibt – die ‚Mythologie‘ – (…), geht es hier um Auflösung der ‚Mythologie‘ in den Geschichtsraum. Das freilich kann nur geschehen durch die Erweckung eines noch nicht bewußten Wissens vom Gewesenen.“ (PA, 571–572) (Vgl. dazu: Brüggemann: Passagen, 579; B. Lindner: Das ‚Passagen-Werk‘, die ‚Berliner Kindheit‘ und die Archäologie des ‚Jüngstvergangenen‘, 27) Tiedemann: Einleitung des Herausgebers, 17. PA, 571. PA, 1058. Traum, Rausch und Erwachen, Mythos und Geschichte ebenso wie Trugbild, Wunschbild und nicht zuletzt Leib- und Bildraum sind Schlüsselworte der messianisch, materialistisch sowie anthropologisch fundierten Erkenntnistheorie Benjamins und daher auch Schlüsselworte seines Versuchs, die ‚Signatur des 19. Jahrhunderts‘ zum Ausdruck zu bringen. Diese zentralen Begriffe sind einerseits Ausdruck des surrealistischen und unverkennbar freudianischen Erbes, das Benjamin antritt, und andererseits zugleich eindeutige Belege der Überwindung dieses Erbes zugunsten einer materialistisch orientierten Geschichtsauffassung. Traum, Rausch, Mythos und Bild werden daher zu den Hauptfiguren, derer sich Benjamin bedient, um eine Form des wissenschaftlichen Denkens als Eingedenkens, die auch bewusste und unbewusste Erfahrung berücksichtigt, herausarbeiten und veranschaulichen zu können. Zugleich werden Traum, Rausch, Mythos und Bild durch die geschichtsphilosophische Konkretion im Sinne Benjamins von ihren ‚unwissenschaftlichen Elementen‘ gelöst. Dadurch gelangt Benjamin zur wahren Erkenntnis und in der Passagenarbeit zur ‚Signatur des 19. Jahrhunderts‘. Eine ausführlichere Beschäftigung mit der voraussetzungsvollen Terminologie Benjamins wird im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit jedoch nicht angestrebt. Das Sammelwerk Benjamins Begriffe bietet trotz der unüberwindbaren Ambivalenzen vieler der oben erwähnten Begriffe eine umfangreiche und detaillierte Rekonstruktion der verschiedenen Verstehensmöglichkeiten, die diese im Denken Benjamins aufweisen. (Vgl. dazu: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Erster Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000; insb.: Thomas Weber: Erfahrung, 230–259; Detlev Schöttker: Erinnern, 260–298; Sigrid Weigel: Eros, 299–340; Heiner Weidmann: Erwachen/Traum, 341–362; vgl. auch: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Zweiter Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000; insb. Günter Hartung: Mythos, 552–572)
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Traumwelt verständlich, mit der die Moderne zu identifizieren ist. Denn abgesehen von ihrem erkenntnistheoretischen Ziel, aus diesem Traum zu erwachen, bietet die Analyse Benjamins einen ernüchternden Querschnitt durch das Leben der Moderne. Vor allem in Anlehnung an Poe und Baudelaire beschreibt Benjamin in Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus121 die typischen Phänomene der modernen Massengesellschaft, die zu einem Entmenschlichungsprozess führen. Überfordert und beunruhigt von den ihm fremden Lebensbedingungen der Großstädte, herausgefordert durch das neue Tempo, das die Technik dem Leben abverlangt, ständig schockiert von dem schnell aufeinanderfolgenden Neuen und gleichzeitig davon angezogen, lebt der moderne Mensch Benjamin zufolge stets wie im Traum und das bedeutet in einer Dimension, die er nicht beherrscht.122 Entsprechend zeigt sich die Menschenmenge in der Analyse Benjamins als ein entmenschlichtes Kollektiv, das dem „unmenschliche[n] Charakter der Großstadt“123 entspricht: Jede Spur des Privatlebens löse sich in der Masse auf,124 in der Öffentlichkeit kennen sich die Menschen untereinander nur noch „als Schuldner und Gläubiger, als Verkäufer und Kunde, als Arbeitgeber und Angestellter – vor allem […] [kennen] sie einander als Konkurrenten“.125 Angesichts dessen, dass sich die Menschen wie träumende Automaten verhalten126 und „das beste Theil ihrer Menschheit aufopfern mußten, um alle die Wunder der Civilisation zu vollbringen“,127 fragt sich Benjamin mit Baudelaire rhetorisch: „[W]as sind die Gefahren des Waldes und der Prärie mit den täglichen Chocks und Konflikten in der zivilisierten Welt verglichen?“128 An späterer Stelle fährt er diesbezüglich fort: „Angst, Widerwille und Grauen weckte die Großtstadtmenge in denen, die sie als die ersten ins Augen faßten.“129 Aus dieser Situation des modernen Menschen ergeben sich jene ‚infernalischen Aspekte‘, die das Leben in der modernen Welt auszeichnen. Doch diese Bezeichnung ist, wie Rolf Tiedemann bemerkt, „[u]nmittelbar theologisch“130 und setzt daher Hölle und Moderne im Rahmen einer messianischen Konzeption des Lebens, die unmittelbar mit materialistischen Motiven verbunden ist, gleich. Die Verwendung messianisch-religiöser Begrifflichkeiten eröffnet den Blick auf eine tie121
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Vgl. zur Entstehungsgeschichte der verschiedenen Teilen, aus denen dieser Text besteht, sowie für die enge thematische und methodische Verbindung zwischen diesem Aufsatz und der Passagenarbeit: Rolf Tiedemann: Dialektik im Stillstand. Versuche zum Spätwerk Walter Benjamins. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, 74–98. Vgl. PA, 490–523. PA, 57. Vgl. B-GSI-2: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, 548. B-GSI-2: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, 541. Vgl. B-GSI-2: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, 631–632. B-GSI-2: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, 619. B-GSI-2: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, 541. B-GSI-2: Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, 629. Tiedemann: Einleitung des Herausgebers, 21.
fere Ebene der Gefährdung für den Menschen, die mit dem phantasmagorischen Traum verbunden ist. Denn es geht Benjamin nicht nur um eine Entstellung von Äußerungen, Verhalten oder Ausdrücken des privaten und sozialen Lebens, sondern viel grundlegender um die Entstehung und das Andauern einer Zeit ohne Bewusstsein, die eine Fortsetzung des Schlafes und daher eine Wiederkehr des Mythischen bewirkt.131 Dies verdeutlicht Hermann Schweppenhäuser mit den folgenden Worten: „Wenn der Kapitalismus daran geht, auf ewig in der Welt sich einzurichten, hebt er Zeit und Geschichte selber auf; dann installiert er aufs Neue und für immer geschichtslose, zeitlose Zeit – die mythische einer ewigen Wiederkehr des Gleichen. Wiederkehr ist die ‚Essenz des mythischen Geschehens‘132, […] Zeit ohne Bewußtsein.“133 Die Passagenarbeit, die im Grunde nicht die Absicht verfolgt, eine Kritik an der Moderne zu üben, kehrt nichtsdestotrotz den ‚infernalischen‘ Charakter des modernen Menschen deutlich hervor. Sie stellt die moderne Realität demzufolge als eine täuschende, träumerische Dimension dar, in der „Erfahrungsverkümmerung“134 und vollständiges Unbewusstsein herrschen.
1.2 Das rettende Potenzial der Kunst Wie im vorhergehenden Abschnitt durch die Auseinandersetzung mit den zeitkritischen Diagnosen Heideggers, Adornos und Benjamins gezeigt werden konnte, zeichnet sich das Leben in der Moderne für alle drei Autoren durch einen Entmenschlichungsprozess aus. Dieser Befund ist im Kontext der nun beabsichtigten Darstellung der Rolle, die die drei Autoren der Kunst für das Leben zuschreiben, entscheidend. Denn alle drei bestimmen im Ausgang des von ihnen diagnostizierten Entmenschlichungsprozesses die Bedeutung der Kunst für das Leben: Sie konkretisiert sich in einem rettenden Potenzial, über das die Kunst in Anbetracht des ausweglosen Zustands des modernen Menschen verfügt. Durch die Auseinandersetzung mit den Kunstkonzeptionen der drei Autoren widmet sich der vorliegende Abschnitt folglich der Aufgabe, dieses Potenzial der Kunst zu erschließen. Obwohl die Ästhetik auf den ersten Blick für keinen dieser drei Denker zentral ist, entwickeln alle drei dennoch komplexe Kunstauffassungen. Sie gehen dabei zudem auf die Kernprobleme einer Auseinandersetzung mit der 131 132 133
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Vgl. PA, 490–492. PA, 178. H. Schweppenhäuser: Ein Physiognom der Dinge, 159. Hermann Schweppenhäuser analysiert die Aufhebung der realen Zeit und Geschichte anhand des Verhältnisses von Raum und Zeit und diagnostiziert eine Verräumlichung der Zeit in der Moderne, die zur Säkularisierung führt. Das Verhältnis von Raum und Zeit, auf welches hier nicht eingegangen wird, wird in der Benjamin-Forschung als interessanter Reflexionspunkt gewählt, um das gesamte Denken Benjamins zu rekonstruieren. (Vgl. zu Raum und Zeit sowie zur Verräumlichung der Zeit auch: Brüggemann: Passagen, 582–584) H. Schweppenhäuser: Ein Physiognom der Dinge, 154.
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Kunst, dem Kunstwerk und der ästhetischen Erfahrung ein. In diesem Zusammenhang hinterfragen sie etwa die Möglichkeit einer definitorischen Formel für das Kunstwerk, seinen ontologischen Status, die objektive Valenz seiner Erfahrung oder sein Verhältnis zur außerästhetischen Realität. Die von Heidegger, Adorno und Benjamin vorgeschlagenen Antworten auf diese Fragen sind gleichwohl unterschiedlich. Dennoch gelangen sie hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung der Kunst für das Leben zu einem gemeinsamen Ergebnis: Die Begegnung mit der Kunst stellt für den modernen Menschen eine Rettung dar, insofern sie die Kraft besitzt, dem diagnostizierten Entmenschlichungsprozess entgegenzuwirken. Bei sorgfältiger Betrachtung der Kunstauffassungen Heideggers, Adornos und Benjamins zeigen sich darüber hinaus noch zwei weitere Berührungspunkte. Der eine besteht in einer absoluten Autonomie, die die drei Autoren der Kunst zuschreiben, der andere im Wahrheitsanspruch, den die Kunst in ihren jeweiligen Konzeptionen erhebt. Ein kurzer Blick auf diese zwei Aspekte will im Folgenden das komplexe Zusammenspiel von Unterschieden und Gemeinsamkeiten der Kunstauffassungen Heideggers, Adornos und Benjamins skizzieren, um die daran anschließenden Einzelbetrachtungen einzuleiten. Wie soeben erwähnt, möchten alle drei Autoren das rettende Potenzial der Kunst in ihrer absoluten Autonomie begründet wissen – einer Autonomie, die sie der Kunst sowohl auf Seiten der Produktion als auch auf Seiten der Rezeption zusprechen. So stellen Heidegger, Adorno und Benjamin fest, dass Künstler nicht nach jenen Regeln agieren, die die Produktion anderer Dinge bestimmen. Ebenso teilen alle drei die Ansicht, dass von Betrachtern eines Kunstwerks eine andere Erfahrung als die gewöhnliche verlangt wird. Prinzipien und Regeln, nach denen sich die Produktions- und Rezeptionsprozesse eines Kunstwerks richten, werden von den drei Autoren dementsprechend als kunstimmanent verstanden. Aufgrund dessen schreiben sie der Kunst eine absolute Autonomie zu und setzten sie damit in Kontrast zur außerästhetischen Realität. Nach dem Ursprung der Kunstautonomie fragend, erschließt sich der oben bereits erwähnte gemeinsame Aspekt der drei Kunstkonzeptionen: Die Autonomie der Kunst wird in ihren jeweiligen Auffassungen in enger Verbindung mit ihrem Anspruch auf Wahrheit erschlossen. So ist die Kunst nach Heidegger, Adorno und Benjamin ein Platzhalter der Wahrheit, insofern sie sich jeglicher ihr äußerlichen Instanz gegenüber als autonom behauptet. Aufgrund dieser gegenseitigen Implikation von Wahrheit und Autonomie schreiben Heidegger, Adorno und Benjamin der Kunst ein rettendes Potenzial für das Leben zu. Autonomie und Wahrheitsanspruch stellen zugleich jedoch Dissonanzen zwischen den Kunsttheorien der drei Autoren dar. Denn das wechselseitige Fundierungsverhältnis von Autonomie und Wahrheit eines Kunstwerks knüpfen Heidegger, Adorno und Benjamin an unterschiedliche theoretische Grundlagen. Deshalb kann weder von einer einheitlichen Auffassung des Autonomie- noch einer sol-
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chen des Wahrheitsbegriffs gesprochen werden, auf denen die drei Kunstauffassungen beruhen. Dies führt nicht nur dazu, dass sich das rettende Potenzial der Kunst auf unterschiedliche Weise verwirklicht. Diese Unterschiede zwischen Heidegger, Adorno und Benjamin sind vielmehr derart grundlegend, dass ihre jeweiligen Definitionen der Kunst selbst und in Folge dessen auch ihre Bedeutung für das Leben davon betroffen sind. Aufgrund dieser tiefgreifenden Unterschiede lassen sich die Kunstauffassungen der drei Autoren trotz all ihrer beschriebenen Gemeinsamkeiten nur mit sehr großen Schwierigkeiten – und vielleicht doch nur auf die Gefahr hin, ihre jeweiligen Denkansätze zum Zwecke der Anwendbarkeit auf die vorliegende Fragestellung beliebig zu verändern – in Einklang bringen. Der vorliegende zweite Teil dieses ersten Kapitels will in einem gewissen Sinne dieser Gefahr entgegentreten und zugleich versuchen, sie zu umgehen. In den drei folgenden Hauptteilen wird es deshalb um die Darstellung der Kunstauffassungen der drei Autoren mit besonderer Aufmerksamkeit auf dem Verhältnis von Kunst und Leben gehen, so dass das rettende Potenzial der Kunst erschlossen werden kann. 1.2.1 Heidegger: Der gemeinsame Ursprung von Technik und Kunst Dass der Aufsatz Der Ursprung des Kunstwerkes135 eine philosophische Problemstellung und systematische Erörterung der Frage nach der Kunst darstellt, ist unbestritten. Daraus lässt sich dennoch nicht schließen, dass die Antwort Heideggers auf die Frage nach dem Wesen der Kunst in einer Philosophie der Kunst mündet, wie es von Herrmann durch den Titel seines Kommentars Heideggers Philosophie
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Heidegger hat den Kunstwerkaufsatz in drei verschiedenen Fassungen vorgelegt: Eine erste ist zwischen 1931 und 1935 entstanden (vgl. Martin Heidegger: Vom Ursprung des Kunstwerks: Erste Ausarbeitung. In: Parvis Emad; Francois Fédier; Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.): Heideggers Studies. Volume 5, 5–22), eine zweite gibt es bisher nur als Raubdruck veröffentliche Fassung, die Heidegger im Jahr 1935 geschrieben hat (vgl. David Espinet; Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2011, 16), und eine dritte Fassung ging aus einem 1935 vor der kunstwissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg gehaltenen und 1936 in Zürich und Frankfurt am Main wiederholten Vortrag hervor. Diese letzte Ausarbeitung erschien 1950 in der Textsammlung Holzwege und wurde 1960 bei Reclam mit einem 1956 datierten Zusatz Heideggers und einer Einführung von Hans-Georg Gadamer publiziert. Text und Zusatz des Reclam-Bändchens wurden mit unerheblichen Änderungen 1977 in die Gesamtausgabe Heideggers aufgenommen. (Vgl. UK) Im Folgenden wird nur auf die letzte Ausarbeitung des Textes Bezug genommen. Der Grund für dieses Vorgehen besteht darin, dass die letzte Fassung, die Heidegger selbst zur Publikation angefertigt hat, als Summe seiner Gedanken bezüglich der Frage nach dem Ursprung des Kunstwerks angenommen werden kann. (Vgl. zur Problematik der inhaltlichen Unterschiede zwischen den drei Fassungen des Kunstwerksaufsatzes und Angaben zu Literatur zu dieser Problematik: Espinet; Keilig (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks, 16–18)
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der Kunst zum Kunstwerksaufsatz impliziert.136 Denn die Rede von einer Kunstphilosophie oder -theorie im Denken Heideggers ist zumindest in zweierlei Hinsicht höchst problematisch: Einerseits verlangen die Spätäußerungen Heideggers eine Revidierung der Ergebnisse des Kunstwerksaufsatzes, ohne aber eine konkrete Alternative anzubieten. Anderseits stellt der Kunstwerksaufsatz den Versuch Heideggers dar, im Rahmen der ‚Überwindung der Ästhetik‘ das ursprüngliche Wesen der Kunst zu erschließen.137 Die Verortung des Kunstdiskurses Heideggers im Horizont der Frage nach dem Sein statt in einer Ästhetik oder Kunstphilosophie zeigt sich so deutlich im Zusatz zur Kunstwerksabhandlung, dass Peter Trawny darin zuzustimmen ist, 136
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Vgl. Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Heideggers Philosophie der Kunst. Eine systematische Interpretation der Holzwege-Abhandlung „Der Ursprung des Kunstwerkes“. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1994. Die begriffliche Klärung, die von Herrmann seiner Einführung zur zweiten Auflage seines Kommentars zu Der Ursprung des Kunstwerkes beifügt, um seine Wortwahl zu begründen, löst nicht das Problem, das unmittelbar mit dem Ausdruck ‚Philosophie der Kunst‘ verbunden ist. Dazu schreibt von Herrmann: „‚Philosophie der Kunst‘ ist von uns nicht im Sinne einer in sich abgeschlossenen philosophischen Lehre von der Kunst gemeint. Eine solche Kunstlehre gelangt zu lehrhaften Antworten, in denen die zunächst gestellten Fragen als Fragen verschwinden. […] Die Kunstwerk-Abhandlung gibt keine Antworten im geläufigen Verständnis von Antworten, wonach die Fragen in den Antworten verschwinden. In diesem Sinne ist ‚Der Ursprung des Kunstwerkes‘ keine Philosophie der Kunst, nämlich keine philosophische Lehre von der Kunst.“ (von Herrmann: Heideggers Philosophie der Kunst, 21–22) Auf Basis dieser Überlegungen bleibt die Wortwahl von Herrmanns unverständlich. Noch fragwürdiger wird seine Behauptung angesichts seiner Überzeugung, dass Heidegger auch in der Spätphase seines Denkens noch an jenem Kunstverständnis, das dieser in seinem Kunstwerksaufsatz entwickelt, festhält, weshalb von Herrmann von der Möglichkeit der Deutung der modernen Kunst mit Heidegger ausgeht. (Vgl. von Herrmann: Heideggers Philosophie der Kunst, 26–39) Das Verhältnis Heideggers zur modernen Kunst wird im Laufe der vorliegenden Arbeit nochmals angesprochen. Vgl. Martin Heidegger: Zur Überwindung der Aesthetik. Zu „Ursprung des Kunstwerks“. In: Heidegger Studies. Volume 6, 65–7; vgl. zu einem Rekonstruktionsversuch: Trawny: Über die ontologische Differenz in der Kunst. An dieser Stelle gilt es vorab bereits zu betonen, dass Heideggers Kunstverständnis nicht mit einer Kunstphilosophie oder Kunsttheorie gleichzusetzen ist. Eine solche Gleichsetzung würde Heideggers Kunstverständnis vollkommen fehlinterpretieren. In diesem Sinne ist auch die Bezeichnung ‚Kunstlehre‘, die Wilhelm Perpeet als Titel seines Beitrags wählt, für den Kunstwerksaufsatz ungeeignet. (Vgl. Wilhelm Perpeet: Heideggers Kunstlehre. In: Frank-Lothar Kroll (Hg.): Wilhelm Perpeet. Heideggers Kunstlehre. Bonn: DenkMal 2005, 25–65) Aus demselben Grund ist auch die These Joseph J. Kockelmans‘, der den Kunstwerksaufsatz Heideggers als Versuch versteht, den Umriss einer Philosophie der Kunst zu entwickeln, nicht haltbar. (Vgl. Joseph J. Kockelmans: Heidegger on Art and Art Works. Dordrecht: Nijhoff 1986) Dagegen ist Trawny in seinem Versuch zuzustimmen, die Kunstauffassung Heideggers sowohl anhand seines Kunstwerksaufsatzes als auch der ‚Überwindung der Ästhetik‘ zu veranschaulichen, wodurch er den Abstand Heideggers zur klassischen Ästhetik verdeutlicht. (Vgl. Peter Trawny: Über die ontologische Differenz in der Kunst. In: Heideggers Studies. Volume 10, 207–221) Um Missverständnisse zu vermeiden, werden im Folgenden Ausdrücke wie ‚Kunstverständnis‘, ‚Kunstdiskurs‘ oder ‚Kunstauffassung‘ zur Bezeichnung der Kunstkonzeption Heideggers bevorzugt, während sich Ausdrücke wie ‚Kunstlehre‘, ‚Kunsttheorie‘ oder ‚Kunstphilosophie‘ nur auf Kunstkonzeptionen im Rahmen der klassischen Ästhetik beziehen werden.
dass das ästhetische Projekt Heideggers sogar als „Teilprojekt der […] ‚Überwindung der Metaphysik‘“138 zu verstehen ist. Diesbezüglich schreibt Heidegger: „Die Besinnung darauf, was die Kunst sei, ist ganz und entschieden nur aus der Frage nach dem Sein bestimmt.“139 Die Frage nach dem Sein bestimmt demzufolge das Wesen der Kunst und das daraus entstehende rettende Potenzial, das Heidegger der Kunst in der modernen Zeit zuschreibt. Wie im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Zeitdiagnose Heideggers gezeigt wurde, entwickelt er seine ontologischen Grundgedanken in kritischer Distanzierung von der ‚Metaphysik der Präsenz‘, die seiner Auffassung nach das abendländische Denken auszeichnet. Entsprechend erfolgt auch Heideggers Auslegung von Kunstwerken in Abgrenzung zu jenem Ausdruck der Metaphysik, der die Kunst und ihre Werke betrifft, d.h. in Abgrenzung zur Ästhetik: Mit Bezug auf das Wissen von der Kunst und das Fragen nach der Kunst ist daher die Ästhetik diejenige Besinnung auf die Kunst, bei der das fühlende Verhältnis des Menschen zu dem in der Kunst dargestellten Schönen den maßgebenden Bereich der Bestimmung und Begründung abgibt, ihr Ausgang und Ziel bleibt.140
Solange das Kunstwerk aber als „‚Gegenstand der αἴσθησις, des sinnlichen Vernehmens im weiten Sinne‘141 betrachtet wird und damit Platons Unterscheidung von αἴσθησις und νόησις voraussetzt, gehört die Ästhetik in die Metaphysik“.142 Denn die starke Trennung von αἴσθησις und νόησις, d.h. von Sinnlichkeit und Denken, würdigt Heidegger zufolge das Werk als ein Objekt des sinnlichen Vernehmens herab und bestätigt die das metaphysische Denken auszeichnende Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt. Daher wird, wie Gerhard Faden und Peter B. Kraft in Anlehnung an die Nietzsche-Vorlesung Heideggers erläutern, in einer Ästhetik, die auf dem Prinzip des Willens beruht, das Sinnliche und Emotionale zum Maßstab der Schönheit.143
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Trawny: Über die ontologische Differenz in der Kunst, 209–210. UK, 73. „Was ist die Wahrheit selbst, daß sie sich zu Zeiten als Kunst ereignet?“ (UK, 25) „Das ist so, weil die Kunst in ihrem Wesen ein Ursprung ist: eine ausgezeichnete Weise, wie Wahrheit seiend, d. h. geschichtlich wird.“ (UK, 66) GA43, 91. Die ausführlichste Auseinandersetzung Heideggers mit der Ästhetik findet sich in der Nietzsche-Vorlesung vom Wintersemester 1936/37 mit dem Titel Nietzsche: Der Wille zur Macht als Kunst: „‚Ästhetik‘ ist […] die Betrachtung des Gefühlszustandes des Menschen in seinem Verhältnis zum Schönen, bzw. Betrachtung des Schönen, sofern es im Bezug zum Gefühlszustand des Menschen steht.“ (GA43, 90) Ähnliche Definitionen der Ästhetik finden sich auch in der Einführung in die Metaphysik (vgl. GA40, 101) und im Nachwort zum Kunstwerksaufsatz. (Vgl. UK, 67) UK, 67. Helmuth Vetter: Grundriss Heidegger. Ein Handbuch zu Leben und Werk. Hamburg: Meiner 2014, 116–117. Vgl. Faden: Der Schein der Kunst, 27–35; Peter B. Kraft: Das anfängliche Wesen der Kunst. Zur Bedeutung von Kunstwerk, Dichtung und Sprache im Denken Martin Heideggers. Frankfurt a.M./Bern/New York: Lang 1984, 25–27.
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Gerade in radikaler Abgrenzung zu einer solchen Ästhetik entfaltet sich der Heideggersche Versuch, das Wesen der Kunst zu erschließen.144 In diesem Zusammenhang bemerkt Faden zutreffend, dass „Heideggers Kritik der Ästhetik […] ihren Halt in der Besinnung auf die ursprüngliche Bedeutung des griechischen Wortes τέχνη“145 habe. Wie schon erwähnt, greift Heidegger dabei auf die Bestimmung der Nikomachischen Ethik zurück: „Die τέχνη ist als griechisch erfahrenes Wissens […] nie die Tätigkeit eines Machens.“146 In Anlehnung an diese Definition der τέχνη erläutert Heidegger, dass das Wort τέχνη bei den alten Griechen sowohl die Arbeit des Künstlers als auch jene des Handwerkers bezeichnete und bis in die Zeit Platons mit dem Wort έπιστήμη zusammenhing: Oft genug hat man schon darauf hingewiesen, daß die Griechen, die von Werken der Kunst einiges verstanden, dasselbe Wort τέχνη für Handwerk und Kunst gebrauchen und den Handwerker und den Künstler mit demselben Namen τέχνιτης benennen.147
Kunst und Technik seien daher ursprünglich Weisen der poietischen Erkenntnis, die entbirgt, was sich nicht selbst hervorbringt. So wie das künstlerisch originelle Schaffen versteht Heidegger deshalb auch die technisch eintönige Tätigkeit als eine ursprüngliche Weise der Entbergung des Seins des Seienden. Da Heidegger der Kunst, nicht aber der Technik ein rettendes Potenzial für den Menschen des modernen Zeitalters zuschreibt, muss es aber einen Unterschied zwischen Kunst und Technik geben. Wie sich im Folgenden zeigen wird, entfaltet sich das rettende Potenzial der Kunst im Zusammenspiel ihres gemein-
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Seubold betont in Kunst als Enteignis die Relevanz der Radikalität Heideggers für sein Kunstverständnis. Denn diese Radikalität des Entweder-Oder erweise sich nicht immer als positiv, insofern sie Fehlurteile und Widersprüche bewirke. (Vgl. Günter Seubold: Kunst als Enteignis. Heideggers Weg zu einer nicht mehr metaphysischen Kunst. Bonn: DenkMal 2005, 33– 34) Die Verortung der Kunstfrage in der Seinsfrage erweist sich aus der Perspektive Heideggers dennoch als unerlässlich. Denn jeder andere Blick auf die Kunst würde dem von ihm gesuchten, ursprünglichen Wesen des Seins nicht Rechnung tragen. Gerade diese notwendige Verortung, aufgrund derer Heidegger das Wesen der Kunst im Rahmen präziser, ontologischer Grundannahmen sucht und erschließt, wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit kritisiert. Faden: Der Schein der Kunst, 31. UK, 47. UK, 46. (Vgl. dazu auch: FT, 16) Die Auffassung, dass Kunst und Technik bei dem Griechen einen gemeinsamen Ursprung haben und dass sie als poietisches Wissen, das im Grunde eine Entbergung aus einer Verbergung vollzieht, zu bestimmen sind, behält Heidegger bis zu seinen Spätaußerungen bei. Noch 1967 schreibt Heidegger in seinem Vortrag Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens. „Das Wort [τέχνη] nenne eine Art des Wissens. Es meint nicht das Machen und Verfertigen. Wissen aber heißt: Jenes zuvor im Blick haben, worauf es im Hervorbringen eines Gebildes und Werkes ankommt. Das Werk kann auch ein solches der Wissenschaft und der Philosophie, der Dichtung und der öffentlichen Rede sein. Die Kunst ist τέχνη, aber keine Technik. Der Künstler ist τέχνιτης, aber weder Techniker noch Handwerker.“ (Martin Heidegger: Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens. In: Hermann Heidegger (Hg.): Martin Heidegger. Denkerfahrungen 1910–1976. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1983, 135–149; 137)
samen Ursprungs und eines entscheidenden Unterschieds.148 Dieser Unterschied ist deshalb so gravierend, da ausschließlich aufgrund dessen Kunst und Technik als solch differierende Hervorbringungsweisen erkennbar werden, dass die Kunst als Rettung und die Technik ganz im Gegensatz dazu als ‚höchste Gefahr‘ für das Leben gilt. Worin besteht dieser Unterschied nun aber konkret? Diese Frage berührt den Kern von Heideggers Kunstdiskurs. Deshalb sollen die folgenden Abschnitte Heideggers Kunstauffassung darstellen und anhand dieser Darstellung das Verhältnis von Kunst und Technik verdeutlichen. Der erste Abschnitt beschäftigt sich mit dem Wesen der Kunst, das Heidegger als „Bestreitung des Streites von Welt und Erde“149 definiert. Im Rückgriff darauf wird in einem zweiten Abschnitt der Unterschied zwischen Kunst und Technik und das darauf aufbauende, rettende Potenzial der Kunst für das menschliche Leben deutlich. 1.2.1.1 Die Bestreitung des Streits von Welt und Erde Der Ursprung des Kunstwerks stellt die einzige Abhandlung Heideggers dar, die sich explizit und systematisch mit dem Wesen der Kunst befasst.150 Darin definiert er das Kunstwerk als „Bestreitung des Streites zwischen Welt und Erde“.151 Obwohl der Ausdruck ‚Streit‘ auf eine Inkompatibilität von Welt und Erde verweist, sind sie in Heideggers Verständnis nicht unvereinbar. Denn so unterschiedlich sie auch sein mögen, so implizieren sich Welt und Erde doch gegenseitig und weisen somit eine enge Wechselbeziehung auf. Wenn Welt und Erde daher einerseits wesenhaft verschieden sind, so lassen sie sich andererseits nur in einem Verhältnis wechselseitiger Implikation denken. Die Entfaltung dieser „in sich gespannten
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Vgl. FT. UK, 36. Anders als Perpeet in Heideggers Kunstlehre betont, ist Der Ursprung des Kunstwerkes nicht „die einzige von Heideggers Schriften mit kunstthematischem Titel“. (Perpeet: Heideggers Kunstlehre, 25) Dazu zählen u.a. auch: Die Kunst und der Raum; Über die Sixtina; Gedachtes (vgl. GA13: Die Kunst und der Raum; Über die Sixtina; Gedachtes); die kleine Aufsätze über Kunst, Kunstgeschichte, Kunst und Raum, (Vgl. GA74, 191–206); der Vortrag über Kunst, Plastik und Raum (vgl. Heidegger: Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum) sowie der Vortrag über Kunst, den Heidegger 1967 in Athen gehalten hat. (Vgl. Heidegger: Die Herkunft der Kunst und die Bestimmung des Denkens) Diese kleinen Schriften, die Heidegger weit später als seinen Kunstwerksaufsatz verfasst hat, sind sein Versuch, über die Ergebnisse des Kunstwerksaufsatzes hinauszugehen, und beweisen zugleich das anhaltende Interesse Heideggers an der Kunst. Trotz unbestreitbarer Perspektivverschiebungen in Relation zu seiner Kunstauffassung der 1930er Jahre sind diese Texte jedoch zu wenig umfangreich, zu unsystematisch und zu kryptisch, um eine Revidierung der Ergebnisse der Kunstwerksabhandlung zu ermöglichen, die daher als einzige theoretische Basis für die Erarbeitung einer Konzeption der Kunst im Heideggerschen Denken gelten kann. UK, 36.
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und gegenstrebigen Einheit“,152 um die es im Folgenden geht, wird das Wesen des Kunstwerks – wie Heidegger es versteht – zum Ausdruck bringen. Zu diesem Zweck werden zuerst die Erde und im Anschluss daran die Welt einer Einzelbetrachtung unterzogen. Die Erde wird von Heidegger vielfältig bestimmt: als „jenes, worauf und worin der Mensch sein Wohnen gründet“,153 als „das Hervorkommend-Bergende“,154 als „das zu nichts gedrängte Mühelose-Unermüdliche,“155 als das „Sichverschließende“,156 und nicht zuletzt als das, „[w]ohin das Werk sich zurückstellt und was es in diesem Sich-Zurückstellen hervorkommen läßt“.157 Diese vielfältige Charakterisierung der Erde stellt den Versuch Heideggers dar, ein Phänomen zu erfassen, das sich seiner Natur nach jeder Erfassung entzieht. Denn die Erde – und nicht die Welt, wie Wilhelm Perpeet in seiner Erläuterung der Kunstlehre Heideggers behauptet158 – entspricht in der Kunstwerksabhandlung Heideggers dem ‚All des Seienden‘, das Heidegger mit dem griechischen Begriff φύσις gleichsetzt:159 Dieses Herauskommen und Aufgehen selbst und im Ganzen nannten die Griechen frühzeitig die Φύσις. […] Wir nennen es die Erde. Vom dem, was das Wort hier sagt, ist sowohl die Vorstellung einer abgelagerten Stoffmasse als auch die nur astronomische eines Planeten fernzuhalten. Die Erde ist das, wohin das Aufgehen alles Aufgehende, und zwar als ein solches, zurückbirgt.160
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David Espinet: Kunst und Natur. Der Streit von Welt und Erde. In: David Espinet; Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2011, 46–65; 47. UK, 28. UK, 32. UK, 32. UK, 33. UK, 32. Vgl. Perpeet: Heideggers Kunstlehre, 33. „Das Seiende im Ganzen nennt Heidegger Welt.“ (Perpeet: Heideggers Kunstlehre, 33) Vgl. GA9: Vom Wesen und Begriff der Φύσις, Aristoteles, Physik B, 1, 239–301; insb. 300; GA55, 88–90. Die Gleichsetzung von φύσις und Erde darf aber nicht als eine vollständige Identität verstanden werden. Denn es gelingt Heidegger, wie David Espinet zeigt, mit der Übersetzung des Begriffs φύσις durch den Begriff ‚Erde‘ wichtige Aspekte für die Argumentation seines Kunstwerksaufsatzes hervorzuheben und Missverständnisse zu vermeiden. Espinet fasst, was Heidegger durch die Gleichsetzung von φύσις und Erde erreicht, in drei Punkten zusammen: Der erste Aspekt besteht in der Aufhebung semantischer Verschiebungen, die bezüglich des Wortes φύσις feststellbar sind. Zweitens weist der Ausdruck ‚Erde‘ deutlicher als der Ausdruck φύσις die materielle Konnotation auf, die in der Argumentation Heideggers für die Bestimmung des Kunstwerks notwendig ist. Und drittens gestattet der Begriff ‚Erde‘ einen Blickwechsel auf das Phänomen des Seienden im Ganzen. Denn der Akzent wird nicht mehr auf das Aufgehen und Erscheinen des Seienden, wie es beim Begriff φύσις der Fall ist, sondern auf die Verborgenheit und das Sichzurückziehen des Seienden gelegt. Dies ermöglicht es Heidegger, die Verschlossenheit der Erde hervorzuheben und daher ihre Gegensätzlichkeit zur wesentlichen Offenheit der Welt zu begründen. (Vgl. Espinet: Kunst und Natur, 47; 55–56) UK, 28.
Es handelt sich bei der Erde somit um jenes Seiende, von dem Heidegger annimmt, Zeugnisse in den Fragmenten der Vorsokratiker gefunden zu haben. Wie im Rahmen der Erläuterung der ‚Seinsvergessenheit‘ bereits verdeutlicht, ist für diese Auffassung des Seienden entscheidend, dass es sich nicht anhand einer hylemorphischen Struktur denken und erschließen lässt. Denn die Erde als das Ganze des Seienden ist in Heideggers Verständnis nur als ein ständiges Sichgeben und Sich-verbergen denkbar.161 Man kann zusammenfassend festhalten, dass Heidegger mit den vielfältigen Bestimmungen der Erde das Ganze des Seienden in seinen Grundzügen erfassen will: seinen geschehenshaften Charakter und seine dadurch bedingte Unzugänglichkeit durch kategoriale Denkstrukturen; seine autonome Beständigkeit und zugleich sein wesenhaftes Verhältnis zum Menschen; und vor allem, dass es sich jedem Versuch seiner Erschließung gegenüber entzieht. Daher wird die Erde im Streit mit der Welt als die Sich-verschließende definiert. Als solche, behauptet Heidegger, werde die Erde im Kunstwerk „her[ge]stellt“.162 Zugleich wird aber auch eine Welt „auf[ge]stellt“163, der eine wesentliche Offenheit eigen ist, wodurch ein Streit mit der Erde entsteht. Um dies verdeutlichen zu können, gilt es im Folgenden, den Weltbegriff, wie ihn Heidegger in seiner Kunstwerksabhandlung versteht, zu betrachten. Das Wesen der Welt wird von Heidegger durch eine tautologische Formulierung erschlossen.164 Wie Gabriel Liiceanu bemerkt, ist „in Der Ursprung des Kunstwerkes […] ‚Welt‘ kein morphologischer Begriff, Heidegger gibt keine Definition der Welt, sondern bestimmt sie durch ihre Auswirkungen; er sagt also nicht, was die Welt ist, sondern nur, was sie tut.“165 In der Tat schreibt Heidegger: „Welt weltet.“166 Und er fügt hinzu: „Wo die wesenhaften Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt werden, da weltet die Welt.“167 Diese Beschreibung hebt die wesenhaften Merkmale der Welt, wie sie in der Kunstwerksabhandlung verstanden wird, hervor und verursacht zugleich einige Interpretationsschwierigkeiten, die sich verstärken, wenn der Versuch unternommen wird, die Heideggersche Auffassung des Weltbegriffs im Kunstwerksaufsatz 161 162 163 164 165
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Vgl. GA34, 149–322. UK, 36. UK, 36. Vgl. Stephan Grotz: Vom Umgang mit Tautologien. Martin Heidegger und Roman Jakobson. Hamburg: Meiner 2015. Gabriel Liiceanu: Zu Heidegger ‚Welt‘-Begriff in „Der Ursprung des Kunstwerkes“. In: Walter Biemel; Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.): Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1989, 205–215; 205. Dieser Aufsatz kann auch für eine treffende Erörterung des Weltbegriffs im Kunstwerksaufsatz, seiner geschichtlichen Dimension und der damit verbundenen Probleme bezüglich der Rezeptionsmöglichkeit von Kunstwerken der Vergangenheit herangezogen werden. UK, 30. UK, 31.
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auf jene in Sein und Zeit zu beziehen oder sie mit dem späteren ‚Geviert-Begriff‘168 zu identifizieren. Diese Schwierigkeiten zeigen sich in verschiedenen Auseinandersetzungen mit der Kunstwerksabhandlung: So plädieren etwa Gottfried Boehm und Wilhelm Perpeet für eine ‚schwache‘ Konnotation der Welt im Kunstwerksaufsatz und setzten sie mit der menschlichen Lebenswelt bzw. mit einem nicht näher bestimmten Milieu gleich.169 Es handelt sich dabei um Bestimmungen, die sich, wie jene von Helmuth Vetter,170 im Rahmen einer quantitativen Erweiterung der Welt als Bedeutsamkeit, wie sie sich in Sein und Zeit findet, verorten lassen. Dieter Jähnig wagt hingegen eine ‚Vervollständigung‘ des Kunstwerksaufsatzes, indem er die Welt mit dem von Heidegger später entwickelten Geviert-Begriff identifiziert.171 Diese Sichtweise wird von Perpeet radikalisiert, indem er in Anlehnung an den Aufsatz Das Ding das Geviert als Werkprinzip bestimmt.172 Jedoch verfehlen beide 168 169
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Vgl. zum Geviert-Begriff vor allem: GA7: Bauen Wohnen Denken, 153–165; GA79: Das Ding, 5–22; GA79: Die Gefahr, 46. Vgl. Gottfried Boehm: Im Horizont der Zeit. Heideggers Werkbegriff und die Kunst der Moderne. In: Walter Biemel; Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.): Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1989, 255–285; 269. Perpeet: Heideggers Kunstlehre, 35. Obwohl Boehm den prozesshaften Charakter der ‚weltenden Welt‘ und daher des Kunstwerks betont, mündet seine Analyse der Zeitlichkeit des Kunstwerks in einer Temporalität, die die eigentliche Geschichtlichkeit der durch das Kunstwerk aufgestellten Welt unberücksichtigt lässt. Infolge dessen konzipiert Boehm das Kunstwerk temporal, nicht aber geschichtlich. Dadurch behebt er eine der größten Schwierigkeiten, die der Heideggersche Kunstwerksaufsatz bezüglich der Frage nach einem Zugang sowohl zur Kunst der Vergangenheit als auch zur gegenwärtigen Kunst bereitet, und kann somit ohne Bedenken behaupten, dass „Heideggers temporale Interpretation des Werkes […] auch den Übergang ins Feld der modernen Kunst“ (Boehm: Im Horizont der Zeit, 270) erlaubt. (Vgl. dazu auch: Perpeet: Heideggers Kunstlehre, 34; 59) Die Problematik, ob der Kunstwerksaufsatz überhaupt einen Zugang zur Kunst der Gegenwart bereitstellt, wird später noch interessieren. Vetter spricht von einem umfassenderen Weltbegriff im Kunstwerksaufsatz als jenem in Sein und Zeit. Doch diese Erweiterung wird von Vetter lediglich quantitativ konzipiert. Denn die ‚weltende Welt‘ ist in seiner Konzeption nur insofern umfassender, als „die Welt der Bäuerin [einserseits] alle Lebensbezüge ein[schließt] und […] damit über die Umwelt hinaus[geht]“ und andererseits als „der Begriff der Erde hinzu[kommt]“. (Vetter: Grundriss Heidegger, 120) Die qualitative Veränderung des Weltbegriffs, die dadurch entsteht, dass Heidegger die Welt im Kunstwerksaufsatz als geschichtliche Epoche eines Volkes und nicht als allgemeinen Bedeutungshorizont versteht, wird dabei von Vetter nicht berücksichtigt. Vgl. Jähnig: „Der Ursprung des Kunstwerkes“ und die moderne Kunst, 232–234. Die These, die sowohl Jähnig als auch Perpeet vertreten und zu der auch Lorenz Dittman – wenngleich er nicht wie Jähnig und Perpeet von einer Bestimmung der Welt, sondern vom Spiel zwischen Lichtung und Verbergung ausgeht – gelangt, widerspricht der grundlegenden These des Kunstwerksaufsatzes, die das Kunstwerk als „die Bestreitung des Streites zwischen Welt und Erde“ (UK, 36) definiert. (Vgl. Jähnig: „Der Ursprung des Kunstwerkes“ und die moderne Kunst; Perpeet: Heideggers Kunstlehre, 57; Lorenz Dittmann: Lichtung und Verbergung in Werken der Malerei. In: Walter Biemel; Friedrich-Wilhelm von Herrmann (Hg.): Kunst und Technik. Gedächtnisschrift zum 100. Geburtstag von Martin Heidegger. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1989, 311–329; 329) Denn dadurch, dass Jähnig, Perpeet und Dittmann das ‚Geviert‘ zum Prinzip des Werks erklären, wird der Streit zwischen Welt und Erde insofern aufgehoben, als das ‚Geviert‘, das Heidegger mit der Welt gleichsetzt, die Erde als eines seiner vier ‚Elemente‘ enthält. (Vgl. GA79: Das Ding, 19)
Lesarten das Wesen der Welt, wie es im Kunstwerksaufsatz bestimmt wird, da sie ihre grundlegend geschichtliche Konnotation unberücksichtigt lassen. Die ‚weltende Welt‘ soll deshalb ausschließlich im Kontext des Kunstwerksaufsatzes erschlossen werden. ‚Die Welt weltet‘, schreibt Heidegger lapidar, und dies will heißen: Die Welt macht sich selbst zur Welt. Entscheidend für die Erschließung des Weltbegriffs im Kunstwerksaufsatz ist nun, dass der Prozess des ‚Weltens‘ nur dort stattfindet, wo ‚Menschen wesenhafte Entscheidungen treffen‘, wo ‚Bahnen und Bezüge‘ eines Bedeutungszusammenhangs bestimmt werden: Welt ist nicht die bloße Ansammlung der vorhandenen, abzählbaren oder unabzählbaren, bekannten und unbekannten Dinge. Welt ist aber auch nicht ein nur eingebildeter, zur Summe des Vorhandenen hinzu vorgestellter Rahmen. Welt weltet ist seiender als das Greifbare und Vernehmbare, worin wir uns heimisch glauben. Welt ist nie ein Gegenstand, der vor uns steht und angeschaut werden kann. Welt ist das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die Bahnen von Geburt und Tod, Segen und Fluch uns in das Sein entrückt halten. Wo die wesenhaften Entscheidungen unserer Geschichte fallen, von uns übernommen und verlassen, verkannt und wieder erfragt werden, da weltet die Welt. […] Indem eine Welt sich öffnet, bekommen alle Dinge ihre Weile und Eile, ihre Ferne und Nähe, ihre Weite und Enge. Im Welten ist jene Geräumigkeit versammelt, aus der sich die bewahrende Huld der Götter verschenkt oder versagt. Auch das Verhängnis des Ausbleibens des Gottes ist eine Weise, wie Welt weltet.173
Der Weltbegriff im Kunstwerksaufsatz stellt daher keine quantitative Erweiterung der Bedeutsamkeit dar, die Heidegger in Sein und Zeit mit der Welt gleichsetzt. Denn obwohl die Ergebnisse der ‚Analytik des Daseins‘ vorausgesetzt sind und die Welt deshalb eine Grundverfassung des Daseins bleibt, insofern sie als verbindlicher Bedeutungshorizont die Entscheidungsfreiheit des Menschen erst ermöglicht, gewinnt die Welt im Kunstwerksaufsatz dennoch einen radikal geschichtlichen Charakter. Dieser führt die Heideggersche Weltkonzeption über den in Sein und Zeit erschlossenen Weltbegriff hinaus174 und rückt die Kunst-
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Durch die Aufhebung des Streits wird zudem auch Heideggers Definition des Kunstwerks als „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit“ (UK, 25) entkräftet. Denn diese Definition geht aus der Tatsache hervor, dass der Streit zwischen Welt und Erde im Urstreit der Wahrheit von Verborgenheit und Unverborgenheit gründet. Dass Heideggers Aufsätze der 1940er und der 1950er Jahre wie beispielsweise Das Ding oder Bauen Wohnen Denken in vielerlei Hinsicht Gedanken ausführen, die im Kunstwerksaufsatz noch vorläufig sind, ist unbestreitbar. Die deutliche Konvergenz einiger Aspekte erlaubt jedoch nicht, die Kunstwerksabhandlung ausgehend von der Begrifflichkeit, die Heidegger in diesen späteren Aufsätzen entwickelt, zu interpretieren. Irreführend ist in diesem Zusammenhang auch der Vorschlag Andreas Kerns, der eine revolutionäre und eine reflexive Lesart des Kunstwerksaufsatzes aufwirft, wobei die erste auf eine Kontinuität und die zweite auf einen Bruch mit Heideggers Verständnis von ‚Welt‘ und ‚Wahrheit‘ in Sein und Zeit aufbaut. (Vgl. Andreas Kern: „Der Ursprung des Kunstwerks“. Kunst und Wahrheit zwischen Stiftung und Streit. In: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2103, 133–143) UK, 30–31. Vgl. für eine Zusammenfassung der Unterschiede zwischen dem Weltbegriff in Sein und Zeit und jenem im Kunstwerksaufsatz: Daniel O.Dahlstrøm: Kunst und Weltweisheit. In:
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werksabhandlung in den ‚seynsgeschichtlichen Fragehorizont‘.175 Die Welt, die ‚weltet‘, ist daher weder mit der Bedeutsamkeit in Sein und Zeit noch mit dem ‚Geviert‘ identisch, das Heidegger erst ab den 1950er Jahren mit der Welt gleichsetzt. Die Welt im Sinne der Kunstwerksabhandlung ist, wie etwa Otto Pöggeler,176 Karlheinz Stierle177 oder Günter Figal178 kritisch feststellen, radikal geschichtlich zu interpretieren: Eine Welt ist eine geschichtlich bestimmte Epoche eines je spezifischen Volkes, wie etwa die Welt der alten Griechen: „Die Welt“, so Heidegger, „ist die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und
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Christoph Jamme; Karsten Harries (Hg.): Martin Heidegger. Kunst – Politik – Technik. München: Fink 1992, 45–58; 52–53. Vgl. von Herrmann: Technik und Kunst im seynsgeschichtlichen Fragehorizont. Vgl. Otto Pöggeler: Heidegger und die Kunst. In: Christoph Jamme; Karsten Harries (Hg.): Martin Heidegger. Kunst – Politik – Technik. München: Fink 1992, 59–84; 75. Stierle, der in der stark geschichtlichen Dimension des Weltbegriffs im Kunstwerksaufsatz „de[n] blinden Fleck“ (Karlheinz Stierle: Ein Auge zuwenig. Erde und Welt bei Heidegger, Hölderlin und Rousseau. In: Christoph Jamme; Karsten Harries (Hg.): Martin Heidegger. Kunst – Politik – Technik. München: Fink 1992, 95–104; 99) der Position Heideggers sieht, arbeitet diese Dimension in engem Zusammenhang mit dem politischen Engagement Heideggers heraus. (Vgl. Stierle: Ein Auge zuwenig, 98–100) Die von Stierle erstellte, direkte Verbindung von Künstlerischem und Politischem, die in Anbetracht der Heideggerschen Konzeption der Geschichte sehr plausibel scheint, wird durch die Veröffentlichung der Schwarzen Hefte brisant. Auf die unbestreitbare Aktualität der Problematik eines allgemeinen Zusammenhangs von Philosophie und Politik im Denken Heideggers, von dem mit großer Plausibilität anzunehmen ist, dass er auch seine Kunstauffassung betrifft, wird dennoch im Rahmen dieser Forschungsarbeit nur am Rande hingewiesen. Denn die Frage nach den möglichen Auswirkungen der politischen Überzeugungen Heideggers auf sein Denken geht deutlich über die Forschungsfrage dieser Arbeit hinaus. Unter dieser Prämisse hat die vorgenommene Betrachtung des seynsgeschichtlichen Horizonts, in dem sich die Kunstwerksabhandlung verorten lässt, lediglich die Funktion, wesentliche und doch kritische Aspekte der Kunstkonzeption Heideggers zu veranschaulichen. Vgl. Figal: Erscheinungsdinge, 43. „Heideggers Verständnis von Welteröffnung ist allerdings sehr spezifisch. Wenn Heidegger von der Eröffnung oder auch der ‚Aufstellung‘ (UK, 30) einer Welt spricht, so denkt er an die Eröffnung eines geschichtlichen, wesentlich auf das Göttliche bezogenen Daseins in seiner Ganzheit. Welt sei ‚das immer Ungegenständliche, dem wir unterstehen, solange die Bahnen von Geburt und Tod, Segen und Fluch uns in das Sein entrückt‘ (UK, 30–31) hielten […]. Das läßt sich an dem von Heidegger gewählten Beispiel, dem griechischen Tempel, gut veranschaulichen; der Tempel öffnet die ‚Sicht‘ eines geschichtlichen Lebens, sofern ‚in der werkhaften Erstellung das Heilige als Heiliges eröffnet und der Gott in das Offene seiner Anwesenheit hereingerufen wird‘. (UK, 30) […] Zwar spricht Heidegger auch anderen Kunstwerken die Möglichkeit der Welteröffnung zu – zum Beispiel van Goghs ein Paar Schuhe darstellendem Stilleben […]. Van Goghs Gemälde ist gewiß – in einem noch recht ungenauen Sinn – eröffnend; […] Aber das Eröffnete ist gewiß keine geschichtliche Welt. Vor allem jedoch ist das Gemälde keiner solchen Welt zugeordnet. Es ist von eindringlicher Geschichtslosigkeit, wie die Stilleben und Landschaften Cézannes, die Intérieurs von Matisse oder die leuchtenden Farbflächen Newmans und Rothkos, wie eine Violinsonate von Bach oder wie Goethes Über allen Gipfeln ist Ruh‘. Wenn diese Kunstwerke etwas sehen lassen, so nicht in ihrer ‚Weltzugehörigkeit‘, sondern als Kunstwerke – in ihrer Schönheit. Diese aber ist die Sache des ästhetischen Bewußtseins. Was in Schönheit eröffnet ist, erschließt sich als solches nur in ästhetischer Erfahrung.“ (Figal: Erscheinungsdinge, 43)
wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes“.179 Diese Welt wird demzufolge laut Heidegger im Kunstwerk ‚aufgestellt‘. Anhand des Beispiels eines griechischen Tempels verdeutlicht Heidegger den ‚Streit zwischen Welt und Erde‘ und ihre wechselseitige Implikation. Denn in der Interpretation Heideggers legt der Tempel die Grenzen der griechischen Welt fest und stiftet damit zugleich die Identität des griechischen Volks. Heidegger zeigt, dass sich diese Welt nur in Zusammenhang mit der Erde konstituieren kann – und dies nicht, weil der Tempel aus Naturelementen besteht, sondern weil die Steine, die Felsen, der Marmor, die Farben etc. erst durch den Tempel an Sinn gewinnen. Das Geschehen des Ganzen des Seins wird durch den Tempel in einen geschichtlich bestimmten Bedeutungshorizont integriert und dadurch sinnhaft erschlossen: „[D]er Fels kommt zum Tragen und Ruhen und wird so erst Fels; die Metalle kommen zum Blitzen und Schimmern, die Farben zum Leuchten, der Ton zum Klingen, das Wort zum Sagen.“180 Durch diesen ‚Belebungsprozess‘ von Naturelementen, die erst dadurch werden, was sie sind, erschließt Heidegger die Wechselbeziehung von Welt und Erde: Der Tempel ist auf die Erde angewiesen, um überhaupt gebaut werden zu können, und die Erde nimmt lediglich in einer bestimmten Welt, die selbst erst durch den Tempel entsteht, eine sinnhafte Gestalt an. Welt und Erde erreichen im Kunstwerk, für das der Tempel sinnbildlich steht, eine voneinander abhängige Gestalt, die als eine sinnhafte, vielmehr geschichtliche denn wahrnehmbare Form zu verstehen ist. Konsequenterweise ist Heidegger der Auffassung, dass eine geschichtliche Welt, d.h. epochale, verbindliche Bedeutungsstrukturen, im Zusammenspiel mit der Erde, d.h einer geschichtlich bestimmten Deutung des Naturganzen, durch das Kunstwerk gegründet wird. Dort, wo dies passiert, wo Welt und Erde in eine bewegliche Einheit gebracht werden; wo sich dem Menschen das Seiende im Ganzen erschließt und in einen geschichtlichen Bedeutungshorizont integriert wird; wo dieser Bedeutungshorizont erst entsteht; wo Sinn gestiftet wird – da fängt Geschichte als ‚Anfangen, Schenken und Gründen‘ an;181 da geschieht Wahrheit im ‚seynsgeschichtlichen Horizont‘. Die Kunst zeigt sich daher als eine wesentliche Weise, in der Wahrheit geschieht.182 Entsprechend definiert Heidegger das Kunstwerk als das „Sich-insWerk-Setzen der Wahrheit“183. Was dies bedeutet und inwiefern diese Definition eine zentrale Stellung in der Frage nach der Bedeutung der Kunst für das Leben annimmt, wird im nachfolgenden Abschnitt verdeutlicht.
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182 183
UK, 35. UK, 32. Vgl. UK, 63–66; Antonio Cimino; David Espinet; Tobias Keiling: Kunst und Geschichte. In: David Espinet; Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2011, 123–138; 135–138. Vgl. UK, 49. UK, 25. (Vgl auch: UK, 44; 59; 62; 63; 65; 70)
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1.2.1.2 Das Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit Inwiefern das Kunstwerk in Heideggers Verständnis ‚Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit‘ ist, wird von Heidegger in Anlehnung an die Erarbeitung der Differenz zwischen Kunstwerk und Zeug erklärt.184 Diese Differenz nimmt in der gesamten Argumentation des Kunstwerksaufsatzes ebenso wie für das hier zu erschließende Potenzial der Kunst für das Leben eine entscheidende Rolle an. Denn diese Differenz verkörpert jenen bereits angedeuteten Unterschied zwischen Kunst und Technik, aufgrund dessen die eine die ‚höchste Gefahr‘ und die andere eine Rettung für den Menschen darstellt. Und doch liegt dieser Unterschied zwischen Zeug und Kunstwerk nicht auf der Hand. Denn sie ähneln sich in vielerlei Hinsicht. So bestehen beide aus einem materiellen Substrat – sei damit Holz, Metall, Marmor oder auch Farbe, Ton oder das Wort gemeint; beide entstehen als Ergebnis menschlicher Verarbeitungsprozesse; beide nehmen eine mehr oder weniger starre Gestalt an; beide verfügen über eine Stoff-Form-Struktur; sie können sogar gleich aussehen. Trotz all dieser Gemeinsamkeiten besteht ein zentraler Unterschied zwischen ihnen. Dieser entsteht, wie Francisco de Lara es formuliert, „im Brauch der Erde“185 und d.h. in verschiedenen Anfertigungsweisen: Zwar gehört auch zu jedem verfügbaren und im Gebrauch befindlichen Zeug, „daß“ es angefertigt ist. Aber dieses „Daß“ tritt am Zeug nicht heraus, es verschwindet in der 184
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Mit dem Ausdruck ‚Zeug‘ benennt Heidegger im Kunstwerksaufsatz das vom Menschen hergestellte Produkt im Unterschied zum ‚Ding‘, das das schon immer vorgefundene Sein bezeichnet: „Aber ein bloßes Ding sind auch sie [Hammer, Schuh, Beil und Uhr] nicht. Als solches gilt uns nur der Stein, die Erdscholle, ein Stück Holz.“ (UK, 6) „Dieser Name [Zeug] nennt das eigens zu seinem Gebrauch und Brauch Hergestellte. […] Das Zeug, z. B. das Schuhzeug, ruht als fertiges auch in sich wie das bloße Ding, aber es hat nicht wie der Granitblock jenes Eigenwüchsige.“ (UK, 13) Diese Definitionen des Zeugs und des Dings stimmen nicht mit den Charakterisierungen überein, derer sich Heidegger sowohl in seinen frühen als auch in seinen späteren Texten bedient. In Sein und Zeit meint Heidegger beispielweise mit der allgemeinen Bezeichnung ‚Ding‘ auch hergestellte Produkte und in seinem Aufsatz Das Ding bezeichnet er einen Krug als Ding. (Vgl. SZ, insb. 92; GA79: Das Ding) Wie Francisco de Lara ersichtlich macht, verfolgt der von Heidegger stark gemachte Unterschied zwischen Ding und Zeug im Kunstwerksaufsatz bestimmte Ziele. Denn beide Ausdrücke, ‚Ding‘ und ‚Zeug‘, sind im Kunstwerksaufsatz methodische Begriffe. Sie dienen dazu, die Differenz zwischen den verschiedenen Seinsweisen zu veranschaulichen und somit die spezifische Seinsweise des Kunstwerks hervorzuheben. (Vgl. Francisco de Lara: Kunstwerke und Gebrauchsgegenstände. Ding, Zeug und Werk in ihrer Widerspiegelung. In: David Espinet; Tobias Keiling (Hg.): Heideggers Ursprung des Kunstwerks. Ein kooperativer Kommentar. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2011, 19–32) Im Folgenden werden die zwei Ausdrücke in der jeweiligen Bedeutung, die sie im Kunstwerksaufsatz haben, verwendet. Trotz der methodischen Relevanz beider Begriffe für die Erschließung des Wesens des Kunstwerks wird das ‚Zeug‘ ins Zentrum der Betrachtung gerückt, weil es dazu verhilft, jenen Unterschied zwischen Kunstwerk und technischem Produkt zu verdeutlichen, aufgrund dessen die Technik die ‚höchste Gefahr‘, die Kunst dagegen aber eine Rettung für den Menschen darstellt. de Lara: Kunstwerke und Gebrauchsgegenstände, 29.
Dienlichkeit. Je handlicher ein Zeug zur Hand ist, um so unauffälliger bleibt es, daß z. B. ein solcher Hammer ist, um so ausschließlicher hält sich das Zeug in seinem Zeugsein. Überhaupt können wir an jedem Vorhandenen bemerken, daß es ist; aber dies wird auch nur vermerkt, um alsbald nach der Art des Gewöhnlichen vergessen zu bleiben. Was aber ist gewöhnlicher als dieses, daß Seiendes ist? Im Werk dagegen ist dieses, das es als solches ist, das Ungewöhnliche. Das Ereignis seines Geschaffenseins zittert im Werk nicht einfach nach, sondern das Ereignishafte, daß das Werk als dieses Werk ist, wirft das Werk vor sich her und hat es ständig um sich geworfen. Je wesentlicher das Werk sich öffnet, um so leuchtender wird die Einzigkeit dessen, daß es ist und nicht vielmehr nicht ist. Je wesentlicher dieser Stoß ins Offenen kommt, um so befremdlicher und einsamer wird das Werk. Im Hervorbringen des Werkes liegt dieses Darbringen des „daß“ es sei.186
Anhand dessen, ob es funktionale Bezüge gibt oder nicht gibt, entfaltet Heidegger daher den Unterschied zwischen Zeug und Kunstwerk. Diese Bezüge, die er mit dem Wort ‚Dienlichkeit‘ fasst, zeichnen in Übereinstimmung mit seiner Zeugsanalyse in Sein und Zeit die Seinsweise des Zeugs aus: Zeuge sind Dinge, die für einen funktionalen Zweck angefertigt werden.187 Zu ihrem Wesen gehört, dass sie als Zeuge nicht auffallen, da sich ihre Dienlichkeit dadurch verunmöglichen würde: Würde beispielsweise das Holz, aus welchem ein Tisch besteht, beim Schreiben auffallen, oder würde etwa das Metall, aus welchem ein Gabel besteht, beim Essen bemerkt, würden diese Zeuge nicht mehr ihren Zweck erfüllen. Die Erde – so Heidegger – verschwindet in der Dienlichkeit des Zeugs.188 Davon ist auch die Welt betroffen, insofern ein Zeug die Möglichkeit ausschließt, eine Welt aufzustellen. Denn Zeuge können erst in bereits festgelegten Sinnhorizonten produziert werden, können aber nicht selbst solche Horizonte hervorbringen, insofern ihr Zweck als Wozu-Dinge immer schon festgelegt sein muss. Ein Zeug kann daher im Verständnis Heideggers nur schon bestehende Welten bestätigen und ihre Verbindlichkeit verstärken. Treffen diese Aussagen nun auch auf Kunstwerke zu? Kunstwerke sind keine zweckgemäß angefertigten Dinge und gerbrauchen daher die Natur nicht als Mittel zum Zweck. Insofern lassen Kunstwerke die Erde Erde sein. Aufgrund dessen lassen sie sich nicht in funktionale Zusammenhänge einfügen: Ihre Existenz lässt sich in keiner Weise erklären. Eben darin besteht nach Heidegger das Potenzial der Kunstwerke. Denn aufgrund der Tatsache, dass Kunstwerke keinen Raum in 186 187 188
UK, 53. Vgl. zur Bestimmung des Zeugs: SZ, 90–97. „Das Zeug nimmt, weil durch die Dienlichkeit und Brauchbarkeit bestimmt, das, woraus es besteht, den Stoff, in seinen Dienst. Der Stein wird in der Anfertigung des Zeuges, z. B. der Axt, gebraucht und verbraucht. Er verschwindet in der Dienlichkeit. Der Stoff ist um so besser und geeigneter, je widerstandsloser er im Zeugsein des Zeuges untergeht.“ (UK, 32) Obwohl die Erde weder mit den einzelnen Naturelementen noch mit deren Summe gleichzusetzen ist, zeigt dieses Zitat, dass schon in Bezug auf die einzelnen Naturelemente eine eindeutige Differenz zwischen Kunstwerk und Zeug besteht. Denn das natürliche Material dient dem Zeug als Stoff für seine zweckgerichtete Verarbeitung, während das Kunstwerk, „indem es eine Welt aufstellt, den Stoff nicht verschwinden, sondern allererst hervorkommen [lässt] und zwar im Offenen der Welt des Werkes“. (UK, 32)
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weltlich gültigen Sinnstrukturen haben, wirken sie störend: „Das Werk“, so David Espinet, „erscheint als das ‚Ungewöhnliche‘, als das ‚Ereignishafte‘, dessen ‚Einzigkeit‘189 sich keiner Allgemeinheit, keinem bestehenden Weltverständnis fügt.“190 Und er fügt hinzu: „Grundsätzlicher als dieses oder jenes alltägliche Vorverständnis besteht für Heidegger im Horizont der Seinsfrage – vor allen anderen neuen Sinnbezügen, die das Werk noch eröffnen mag – das Ungewöhnliche, Ungeheure und Ereignishafte des Werkes darin, ‚daß‘ es ‚als solches ist‘191.“192 Durch diese Verrückung gewöhnlicher Sinnbezüge entsteht, was Figal – Heideggers „Stoß ins Un-geheure“193 reformulierend – „dezentrale Ordnung“194 nennt: „Diese [sich stets nur vom Werk her vollziehende Strukturierung]“, erklärt Espinet, „fügt sich nicht in einen vorgängigen Plan, sondern hält Spielräume, Fugen, Risse zurück“.195 In Heideggers Worten bedeutet das: „Das Werk gehört als Werk einzig in den Bereich, der durch es selbst eröffnet wird.“196 Und dies bewirkt für diejenigen, die das Werk erfahren, insofern sie vom Werk gezwungen sind, in einer anderen als ihrer alltäglichen Welt zu verweilen, eine Störung gewöhnlicher Sinnzusammenhänge.197 Heidegger nimmt keine detaillierte Betrachtung der Konsequenzen vor, die solche von der ästhetischen Erfahrung bewirkten Sinnverrückungen für den Menschen haben. Dennoch lässt sich anhand dieses Störungspotenzials des Kunstwerks und in Anbetracht seiner Kraft, eine geschichtliche Welt zu stiften, seine rettende Rolle bestimmen. Diese rettende Rolle will Heidegger in der „geschichtebildende[n] Aufgabe“,198 „eine entscheidende Auseinandersetzung“199 mit der Technik vorzunehmen, konkretisiert wissen. Während technische Produkte implizit an der Bestätigung und Verstärkung kulturell und geschichtlich festgelegter Sinnstrukturen mitwirken, besitzt das Kunstwerk die Kraft, ‚neue Welten aufzustellen‘ und d.h. gewöhnliche Bedeutungsstrukturen in Frage zu stellen und entsprechend neue zu gründen. Die Funktion des Kunstwerks beschränkt sich aber nicht nur darauf, diese Differenz zwischen alten und neuen, bekannten und fremden Welten vor Augen zu führen. Insofern das Kunstwerk diesen Abstand zwischen Welten offenbart, drückt es zudem implizit ein Werturteil aus, indem es im Sinne Heideggers das Wahrheitsgeschehen sicherstellt: Als Sich-ins-Werksetzen der Wahrheit lässt das Kunstwerk Seiendes überhaupt sein; es „eröffnet auf 189 190 191 192 193 194 195 196 197 198 199
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UK, 52. Espinet: Kunst und Natur, 62–63. UK, 52. Espinet: Kunst und Natur, 63. UK, 56. Figal: Erscheinungsdinge, 72–76. Espinet: Kunst und Natur, 61. UK, 27. Vgl. UK, 54. von Herrmann: Kunst und Technik, 56. FT, 36.
seine Weise das Sein des Seienden“.200 In Anbetracht der zeitkritischen Diagnose Heideggers, die auf der Technik als ontologischem Grundgeschehen bzw. als ‚Weltkonstitution‘ gründet, eröffnet die ‚wahrhafte‘, weltstiftende Kraft der Kunst nicht nur die Möglichkeit einer anderen Weltkonstitution. Insofern die Kunst wesenhaft Wahrheitsgeschehen impliziert, lässt sie auf die tatsächliche Möglichkeit einer wahrhaften Weltkonstitution hoffen. Mit anderen Worten: Da die Welt der Technik Heidegger zufolge durch eine allgemeine Verkennung des Wesens von Dingen und Menschen ausgezeichnet ist, verweist das Kunstwerk nicht nur auf eine abstrakte Veränderung. Es verkörpert vielmehr die tatsächliche Möglichkeit einer radikalen Veränderung der ontologischen und daher der ontischen Lage des Menschen, was zweierlei bedeutet: einerseits die Aufhebung jener Prozesse, die die ‚Welt der Technik‘ konstituieren, was andererseits zugleich die Wiedergewinnung eines wahrhaften Blicks auf das Sein von Dingen und Menschen ermöglicht. Die Kunst lässt deshalb Heidegger zufolge auf eine wahrhafte Epoche des Seins hoffen. Darin konkretisiert sich die rettende Rolle, die Heidegger der Kunst im Zeitalter der Technik zuschreibt. 1.2.2 Adorno: Die Widerlegung der funktionalen Logik Der Versuch, die Kunstauffassung Adornos darzustellen, um das von ihm behauptete, rettende Potenzial der Kunst für den Menschen offenzulegen, führt die Sprache und das Denken an den Rande ihrer Möglichkeiten. Denn entgegen der scheinbaren Ankündigung des Titels seines ästhetischen Hauptwerks entwickelt Adorno keine Theorie der Kunst. Vielmehr ist „Adornos Theorie des Ästhetischen in erster Instanz eine Untersuchung über die Möglichkeit solcher Theorie“,201 die 200 201
UK, 25. Ruth Sonderegger: Ästhetische Theorie. In: Richard Klein; Johann Kreuzer; Stefan MüllerDoohm (Hg.): Adorno-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler und Carl Ernst Poeschel 2011, 414–427; 414. Diese Auffassung teilt auch Werner Martin Lüdke, insofern Adorno vermieden habe, „seine Überlegungen unter den Bedingungen von Theorien zu explizieren“. (Werner Martin Lüdke: Zur ‚Logik des Zerfalls‘. Ein Versuch, mit Hilfe der gezähmten Wildsau von Ernsttals die Lektüre der Ästhetischen Theorie zu erleichtern. In: Burkhardt Lindner; Werner Martin Lüdke (Hg.): Materialien zur ästhetischen Theorie Theodor W. Adornos Konstruktion der Moderne. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, 415– 446; 427) Auch Baumeister und Kulenkampff betonen, dass „Adornos Ästhetische Theorie […] als ein systematischer Versuch gelesen werden [muss] – obwohl er den systematischen Charakter seines Denkens zu verdecken strebt –, der in der Dimension der Grundbegriffe das Problem einer philosophischen Ästhetik und das Problem möglicher Philosophie als dasselbe zu erweisen sucht“. (Baumeister; Kulenkampff: Geschichtsphilosophie und philosophische Ästhetik, 78) Dass die Ästhetische Theorie nicht als eine Theorie im klassischen Sinne behandelt werden kann, bedeutet dennoch nicht – wie Anke Thyen behauptet – dass das Werk Adornos überhaupt keine Theorie sei, weil sie diskursiv nachvollziehbare Darstellungsansprüche weitgehend aufgebe und dem Vermögen der Mimesis den Vorrang einräume. (Vgl. Anke Thyen: Negative Dialektik und Erfahrung. Zur Rationalität des Nichtidentischen bei Adorno. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 266) Auch Helmuth Plessner äußert sich sehr kritisch bezüglich der Möglichkeit, der Ästhetischen Theorie Systematizität zuzu-
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Adorno bereits im ersten Satz dieses Werks in Bezug auf die moderne Kunst radikal in Frage stellt:202 „Zur Selbstverständlichkeit wurde, daß nichts, was die Kunst betrifft, mehr selbstverständlich ist, weder in ihr noch in ihrem Verhältnis zum Ganzen, nicht einmal ihr Existenzrecht.“203 Adorno versucht mittels einer Neubestimmung der klassischen, ästhetischen Begrifflichkeit,204 die dem Phänomen ‚Kunst‘ gerecht wird, das Existenzrecht der Kunst in der modernen Zeit zu begründen; er versucht, „das einzelne Kunstwerk in seiner Konkretion und in Hinsicht auf seinen Begriff zu bestimmen“.205 Wenn nun einerseits schon der Inhalt seiner Ästhetische Theorie Deutungsschwierigkeiten bereitet, ist andererseits auch
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sprechen. (Vgl. Helmuth Plessner: Zum Verständnis der Ästhetischen Theorie Adornos. In: Rudolph Berlinger; Eugen Fink (hg.): Perspektive der Philosophie. Ein Jahrbuch. Bd. IV. 1972, 126–136) Doch diese Kritiken an der Ästhetischen Theorie greifen zu kurz. Denn Adorno gibt, wie sich im Laufe der Argumentation herausstellen wird, obwohl er die Unzulänglichkeit klassischer ästhetischer Theorien für die moderne Kunst feststellt, systematische und normative Ansprüche in seiner Betrachtung nicht auf. Bezüglich des systematischen Stellenwerts der modernen Kunst in der Ästhetischen Theorie bemerken Baumeister und Kulenkampff zutreffend, dass sie in der Betrachtung Adornos sowohl für die Möglichkeit einer philosophischen Ästhetik als auch für das Verständnis der traditionellen Kunst als Maßstab gelte. (Vgl. Baumeister; Kulenkampff: Geschichtsphilosophie und philosophische Ästhetik, 75) ÄT, 9. In diesem Zusammenhang gilt es klarzustellen, dass es sich dabei nicht, wie Sonderegger betont, nur um eine neue Definitionen traditioneller Begriffe handelt: „Adornos Zentralbegriffe kommen dadurch in Bewegung […], dass Adorno das unabgegoltene normative Potenzial von Begriffen der Ästhetik-Tradition im Licht einiger paradigmatischer Kunstwerke immer wieder neu von ihrem Ideologischen zu trennen versucht.“ (Sonderegger: Ästhetische Theorie, 416–417) (Vgl. für ein Beispiel einer solchen Umdeutung der Begriffe des Scheins und des Erhabenen: Sabine Sander: Der Topos der Undarstellbarkeit. Ästhetische Positionen nach Adorno und Lyotard. Erlangen: Filos 2008, 273–274; 192–194; 203–210) Aufgrund dieser der Ästhetischen Theorie eigentümlichen Verwendungsweise der Begriffe der Tradition unterstellt Eckardt Lindner Adorno mehr die Entwicklung einer neuen Art des Sprechens als eine solche einer neuen Sprache. (Vgl. Eckardt Lindner: Und noch einmal – das Einzigartige. Über das Neue als Norm. In: Eckardt Lindner; Marcus Quent (Hg.): Das Versprechen der Kunst. Aktuelle Zugänge zu Adornos Ästhetischer Theorie. Wien: Turia + Kant 2014, 117–140; 118–119) Wegen dieser spezifischen Verwendungsweisen soll die Begrifflichkeit der Ästhetischen Theorie nur „in ihrer für diesen Text spezifischen Fassung“ erschlossen werden, denn „ADORNOs letztes Buch [ist] zwar von Gedanken, die die früheren Schriften bestimmen, motiviert […], [setzt] aber diesen gegenüber neu an“. (Günter Figal: Theodor W. Adorno. Das Naturschöne als spekulative Gedankenfigur. Zur Interpretation der „Ästhetischen Theorie“ im Kontext philosophischer Ästhetik. Bonn: Bouvier 1977, 16–17) Trotz ihrer Gültigkeit soll diese Auffassung Figals nicht verabsolutiert werden. Denn während die Begrifflichkeit der Ästhetischen Theorie ihre Legitimität einerseits ausschließlich innerhalb dieses Werks findet, ist es andererseits auch notwendig, die Dialektik der Aufklärung sowie die Negative Dialektik wenigstens als praktischen bzw. theoretischen Hintergrund zu betrachten, auf dem die Kunstauffassung Adornos erschlossen werden kann. Wie sich im Laufe der vorliegenden Arbeit herausstellen wird, stellt die wesentliche Verbindung dieser drei Werke Adornos einen kritischen Punkt in seiner Kunstauffassung dar. Scholze: Kunst als Kritik, 126. Darin liegen das einzige Ziel und zugleich der normative Charakter des Versuchs Adornos, die Kunst zu verstehen und zu deuten. (Vgl. dazu auch: Sonderegger: Ästhetische Theorie, 414–415).
sein methodisches Vorgehen diesbezüglich wenig hilfreich, wie Britta Scholze betont: „[D]ie ‚Ästhetische Theorie‘ [ist] eine kritische Darstellung von auf sich selbst bezogenen Denkformen, die an ihre Grenzen stoßen, am Verstehen von Kunst scheitern und dieses Scheitern systematisch umdeuten.“206 Diese Behauptung Scholzes trifft in zweierlei Hinsicht einen zentralen Punkt der folgenden Argumentation: Denn einerseits soll die Kunstauffassung Adornos im breiteren Kontext seines gesamten Denkens, nicht aber in einer reinen Ästhetik oder Kunstphilosophie, von denen Adorno sich ausdrücklich distanziert,207 verortet werden.208 Doch eben diese Verortung verweist andererseits bereits auf jene Grenzen der Kunstauffassung Adornos, die sich für die von ihm behauptete, rettende Funktion der Kunst als gravierend herausstellen werden. Scholze verweist daneben auch implizit auf die immanente Widersprüchlichkeit des Vorhabens, Adornos Kunsttheorie darzustellen, die sich ihres Erachtens im Versuch konkretisiert, ein sich selbst stetig hinterfragendes, scheiterndes Denken systematisch wiederzugeben. Diese Paradoxie liegt darin begründet, dass Adorno im echten Kunstwerk das Denken jenes Nichtidentischen realisiert sieht, das sich jeder begrifflichen Festlegung entzieht.209 Dieser Ausgangsbefund wird durch die zahlreichen Definitionen des Kunstwerks, die Adorno in seiner Ästhetischen Theorie erarbeitet, bestätigt und in weiterer Folge in seiner Radikalität verstärkt. Adorno definiert Kunstwerke als „fensterlose Monaden“,210 „Fragezeichen“,211 „Epiphanien“,212 „Vexierbild[er]“,213 206 207
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Scholze: Kunst als Kritik, 11. Wie Scholze bemerkt, bezieht sich „nahezu jede ihrer [der Ästhetischen Theorie] Aussagen […] im- oder explizit auf mindestens ein Theorem der kunstphilosophischen Überlieferung. Aus diesem Grund ist es in den meisten Fällen sinnlos, die Bezüge Adornos auf die Tradition herauszustellen. Es ist aber entscheidend zu sehen, daß er die Tradition insgesamt verwirft.“ (Scholze: Kunst als Kritik, 127) (Vgl. für eine Zusammenfassung der kritischen Auseinandersetzung Adornos mit Hegel, Kant und Schelling: Figal: Theodor W. Adorno, 23–30; 109–172) Diese Behauptung, die sich im Laufe der vorliegenden Forschungsarbeit klären wird, nötigt dennoch bereits an dieser Stelle zu einer Präzisierung, um zwei naheliegende Deutungen auszuschließen. Denn die behauptete Verortung der Ästhetischen Theorie im gesamten Denken Adornos will keinen Zweifel an Adornos Vorhaben, die Kunst als Kunst zu betrachten und ihr Wesen zu erschließen, äußern. Abzulehnen ist daneben die Idee einer bewussten Funktionalisierung der Kunst, an der Adorno die in der Negativen Dialektik ausformulierten, theoretischen Grundlagen seines Denkens erprobt. Bereits wegen der Mehrdeutigkeit, die das Nichtidentische im Denken Adornos aufweist, ist eine eindeutige Bestimmung des Kunstwerks problematisch. (Vgl. zur Mehrdeutigkeit des Nichtidentischen: Figal: Theodor W. Adorno, 148; Günter Figal: Über das Nichtidentische. Zur Dialektik Theodor W. Adornos. In: Wolfram Ette; Günter Figal; Richard Klein; Günter Peters (Hg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens. Freiburg i. Brsg./ München: Alber 2004, 13–23) Darüber hinaus ist das Nichtidentische mit der Wahrheitsauffassung Adornos verbunden, die sich, wie Scholze expliziert, zwischen einem geschichtlichen und einem absoluten Verständnis der Wahrheit entfaltet, die nicht immer unterschieden werden können. (Vgl. Scholze: Kunst als Kritik, 348; 356–357) ÄT, 15. ÄT, 188. ÄT, 125.
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unlösbare „Rätsel“214 oder „Kraftzentr[en]“.215 Die Versuche, die er unternimmt, diese Bestimmungen zu begründen und zu verdeutlichen, scheinen jedoch nicht weniger widersprüchlich als diese Bestimmungen selbst. Deshalb versteht Adorno das Kunstwerk als ein widersprüchliches Spannungsfeld, in dem sich unzählige, unlösbare Paradoxien konzentrieren.216 Jeder Versuch, diese Spannungen aufzulösen, führt Adorno zufolge jedoch zur Verkennung des Kunstwerks. Denn „Kunst hat ihren Begriff in der geschichtlich sich verändernden Konstellation von Momenten; er sperrt sich der Definition“.217 Dennoch bleibt sein Anspruch normativ: Es geht ihm darum, Kategorien, Begriffe, Kriterien zu entwickeln, anhand derer gelungene Kunstwerke definiert und daher von unechten Kunstwerken unterschieden werden können.218 Wenn also im Folgenden die Kunstauffassung Adornos dargelegt werden soll, um die Rolle der Kunst für das menschliche Leben zu erschließen, gilt es, die dem Kunstwerk eigentümlichen Widersprüche zu erkennen, sie sichtbar zu machen und sie als solche anzuerkennen, ohne den Anspruch erheben zu wollen, sie auszugleichen.219 Deshalb kann auch keine vollständige Darlegung der Kunstauffassung Adornos, die dem enormen Begriffskomplex seiner Ästhetischen Theorie Rechnung trägt, vorgenommen werden. Der Akzent wird primär auf jene ‚strukturellen‘ Aspekte, die das Wesen des Kunstwerks nach Adorno ausmachen, gelegt.220 Dadurch soll die zentrale Frage der Ästhetischen Theorie nach dem Wahr213 214 215 216 217 218
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ÄT, 184 ÄT, 182; 184. ÄT, 268. Vgl. Scholze: Kunst als Kritik, 127; Sonderegger: Ästhetische Theorie, 414. ÄT, 11. Der normative Charakter der Ästhetischen Theorie wird in der Forschungsliteratur zu Adorno – auch dort, wo seine Kunstauffassung stark kritisieren wird – immer wieder betont. (Vgl. bspw.: Sonderegger: Ästhetische Theorie, 414–415; Figal: Theodor W. Adorno; Rüdiger Bubner: Kann Theorie ästhetisch werden? Zum Hauptmotiv der Philosophie Adornos. In: Rüdiger Bubner (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 70–98; Birgit Recki: Aura und Autonomie. Zur Subjektivität der Kunst bei Walter Benjamin und Theodor W. Adorno. Würzburg: Königshausen & Neumann 1988) Vgl. Konrad Paul Liessmann: Ohne Mitleid. Zum Begriff der Distanz als ästhetische Kategorie mit ständiger Rücksicht auf Theodor W. Adorno. Wien: Passagen Verlag 1991, 27. Auf diese strukturellen Momente lassen sich alle Antinomien, die das Kunstwerk im Verständnis Adornos auszeichnen, zurückführen: die Dialektik zwischen Schein und Sein, der Kontrast zwischen subjektiven und objektiven Aspekten sowie der Widerspruch zwischen Transzendenz und Materialität – all dies ergibt sich aus der kontradiktorischen Rationalität des Kunstwerks, das sich als Produkt eines Bearbeitungsprozesses von Materialien funktionalen Zusammenhängen entzieht und das dennoch seine Rationalität bewahrt. Diese dem Kunstwerk eigentümliche Rationalität, die im Laufe der folgenden Abschnitte erschlossen wird, stellt die einzige theoretische Basis dar, auf welcher die strittige Frage nach dem Wahrheitsgehalt des Kunstwerks gestellt werden kann, das einen absoluten Anspruch auf Wahrheit und dennoch nicht einen Anspruch auf absolute Wahrheit erhebt. (Vgl. Sonderegger: Ästhetische Theorie, 420) „Das, was man nun vielleicht als den Gehalt des Kunstwerks definieren könnte […], das würde dann vielleicht die Art sein, in der diese Synthesis – also dieser Prozess der Momente des Kunstwerks in ihrer Beziehung zueinander, der dann zu-
heitsanspruch des Kunstwerks und nach seiner mit diesem Anspruch eng verbundenen Autonomie weder geleugnet noch abgewertet werden. Es gilt vielmehr zu zeigen, dass sich das Kunstwerk in Adornos Verständnis ausschließlich aufgrund struktureller und nicht aufgrund inhaltlicher Momente als autonom behauptet und zugleich Anspruch auf Wahrheit erheben kann. Denn alle Begriffe der Ästhetischen Theorie Adornos sind einschließlich des Wahrheitsgehalts des Kunstwerks relationale Begriffe, die sich nur im Rahmen des Verhältnisses von Kunst und Gesellschaft erschließen lassen. Basierend auf diesen Überlegungen werden im Folgenden zwei Ziele verfolgt: Ein erster Abschnitt will einen Zugang zum widersprüchlichen Wesen des Kunstwerks eröffnen und zugleich die Unmöglichkeit einer unmittelbaren, konkreten Bestimmung irgendeines Begriffs der Ästhetischen Theorie zeigen. In einem zweiten Abschnitt wird anschließend veranschaulicht, dass sich die Widersprüchlichkeit des Kunstwerks nur in seinem Verhältnis zur Gesellschaft denken lässt. 1.2.2.1 Die immanente Widersprüchlichkeit des Kunstwerks Aus einer dem Kunstwerk immanenten Perspektive, die weder den Künstler noch den Betrachter berücksichtigt, lässt sich der von Adorno behauptete, widersprüchliche Charakter des Kunstwerks durch seine grundlegende Verknüpfung mit dem Naturschönen verdeutlichen. Adorno definiert das Naturschöne als „die Spur des Nichtidentischen an den Dingen im Bann universaler Identität“.221 Mit dieser Definition verweist er eindeutig auf das qualitative Moment der Natur, d.h. auf ihre objektive Unmittelbarkeit, die bei der interessenlosen Betrachtung erscheint: „Unmittelbarkeit“, liest man in der Negativen Dialektik, „ist keine Modalität, keine bloße Bestimmung des Wie für ein Bewußtsein, sondern objektiv: ihr Begriff deutet auf das nicht durch seinen Begriff Wegzuräumende“.222 Das Naturschöne ist daher etwas, das sich nicht sprachlich ausdrücken, bildlich dar-
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gleich auch das Resultat des Ganzen ist – die Beziehung, in der diese Synthesis nun steht zu der Realität.“ (Adorno: Ästhetik (1958/59). Hg.: Eberhard Ortland: Nachgelassene Schriften. Abteilung IV. Vorlesungen – Band 3. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, 330–331) Figal zeigt zum Beispiel, welch große Rolle die Dialektik zwischen Rationalität und Irrationalität auch für den Erkenntnischarakter und den Wahrheitsanspruch des Kunstwerks spielt: „Soll Kunst Erkenntnis sein können, und davon geht die ÄSTHETISCHE THEORIE durchgängig aus, soll Erkenntnis an Begriffe gebunden sein, so ist zur Konstitution von Kunst notwendig, daß Kunst ‚herrschende‘, auch gesellschaftlich realisierte Rationalität nicht nur als Material, als beliebiges, zur Erscheinung zu bringendes Moment einbegreift, sondern sich in der Form dieser Rationalität konstituiert […].“ (Figal: Theodor W. Adorno, 56) Im Folgenden werden die angesprochenen Widersprüchlichkeiten, die das Kunstwerk in vielerlei Hinsicht betreffen, nicht im Einzelnen betrachtet. Es wird vielmehr darum gehen, jene strukturellen Aspekte, die den vielfältigen Antinomien vorangehen und aus denen sie sich ergeben, ersichtlich zu machen. ÄT, 114. ND, 173–174.
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stellen oder sonst irgendwie festmachen lässt. Denn in Anlehnung an die Negative Dialektik lässt sich das Naturschöne in seiner absoluten Unmittelbarkeit nur als Nichtidentisches bezeichnen. Dieses ‚Flüchtige‘ des Naturschönen wird von Adorno als das zentrale Moment von Kunst definiert223 und durch einen ebenso ‚flüchtigen‘ Nachahmungsprozess mit der Kunst verbunden: „[…] Kunst [ist], anstatt Nachahmung der Natur, Nachahmung des Naturschönen.“224 Bemerkenswerterweise lehnt dieser Nachahmungsprozess jede Abbildungsform ab.225 Dass das Kunstwerk das Naturschöne nachzuahmen versucht, geht in Adornos Verständnis somit über jegliche materiellen und wahrnehmbaren Elemente hinaus und verwirklicht sich als Nachahmung der Erscheinung des Naturschönen:226 als die Nachahmung seiner sich zeigenden Unmittelbarkeit. Kunst ist daher die Nachahmung der Erscheinung einer Nichtidentität.227 Es ist unmittelbar einleuchtend, dass bereits die logische Struktur solcher Äußerungen widersprüchlich ist. Die Suche nach inhaltlichen Hilfsmitteln, um etwas Bestimmtes, Greifbares, Konkretes aus dem Naturschönen oder dem Nachahmungsprozess, geschweige denn aus dem Nichtidentischen herauszufiltern, erweist sich als vergeblich. Denn „‚Nichtidentisches‘ hat“, wie Figal zusammenfasst, „bei ADORNO drei Bedeutungsmomente: das Nichtidentische ist 1. das Unmittelbare, das sich 2. der begrifflichen Bestimmung entzieht, und es ist 3. das einzelne, außerhalb von Vermittlungs- und Verweisungszusammenhängen denkbare Seiende, das individuum ineffabile“.228 Ineffabile, d.h. unaussprechlich, ist das Kunstwerk als Nachahmung des Naturschönen: Daher ist dem Kunstwerk eine Transzendenz, ein Geistiges, Scheinhaftes eigen.229 Dennoch bleibt das Kunstwerk – wodurch es sich von der Natur unterscheidet – ein von Menschen Gemachtes, Materielles. Diese Widersprüchlichkeit zwischen dem Sein und Nicht-Sein des Kunstwerks lässt sich nicht auflösen, was seinen Rätselcharakter ausmacht. Denn Sein und Nichtsein, Transzendenz und Materialität und nicht zuletzt Identität und Nichtidentität bestimmen sich nur jeweils in ihrem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit. 223 224 225 226 227
228 229
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Vgl. ÄT, 119. ÄT, 111. Vgl. ÄT, 113; 408. Vgl. Figal: Theodor W. Adorno, 85. Angesichts dieser Deutung der Kunst als Nachahmung der Erscheinung einer Nichtidentität erweist sich der Versuch Figals, diesen Nachahmungsprozess als eine Form von Repräsentation zu veranschaulichen, als wenigstens fragwürdig. Es ist nicht nachvollziehbar, inwiefern sich diese Repräsentationsform in seiner Betrachtung von einer Darstellungsform, die Figal selbst bereits ablehnt, unterscheidet. (Vgl. Figal: Theodor W. Adorno, 83) Auch die These Sauerlands, nach der Adorno nicht den Weg von der Natur zur Kunst gegangen sei, sondern nachträglich Eigenschaften der Kunst auf die Natur und auf das Naturschöne übergetragen habe, scheint aufgrund der Definition der Kunst als Nachahmung des Naturschönen bedenklich. (Vgl. Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos, 90) Figal: Theodor W. Adorno, 9. Vgl. zu diesem Themenkomplex: ÄT, 122–179.
Die reziproke Relation der vielen, obwohl uneindeutigen Bestimmungen, die Adorno bezüglich des Kunstwerks vornimmt, betrifft auch die von Adorno immer wieder aufs Neue betonte Autonomie des Kunstwerks und daher seinen Wahrheitsgehalt, den Kunstwerke nur als autonome Gestalten für sich beanspruchen können. Als Nachahmung der Erscheinung des Nichtidentischen erhebt jedes Kunstwerk einen berechtigten Anspruch auf Wahrheit. Doch auch Wahrheit lässt sich in Adornos Verständnis nicht verabsolutieren, sondern wiederum nur in einer Wechselbeziehung bestimmen: Das widerstreitende Gegenphänomen der Wahrheit ist nach einem bekannten Aphorismus aus Minima Moralia das Ganze: „Das Ganze ist das Unwahre“.230 Genau diese Dialektik zwischen Wahrheit und Unwahrheit wird von Adorno auf das Kunstwerk übertragen: „Ein Kunstwerk als Komplexion von Wahrheit begreifen, bringt es in Relation zu seiner Unwahrheit, denn keines ist, das nicht teilhätte an dem Unwahren außer ihm, dem des Weltalters.“231 Deshalb kann Adorno behaupten, dass Kunstwerke nicht lügen,232 dass sie stillschweigend die Wahrheit sagen, weil sie sich der irrationalen, falschen Gesellschaftsordnung entziehen. Daher sei, in den Worten Karol Sauerlands, auch „der Wahrheitsgehalt eines Kunstwerk […] erst umreißbar, wenn wir uns über die Rolle des Kunstwerks innerhalb der Gesellschaft […] Klarheit verschaffen“.233 Da Kunstwerke ihrer Konstitution entsprechend nicht an gesellschaftlichen Mechanismen teilhaben, wird konsequenterweise ein Kontrast zwischen Kunstwerk und Gesellschaft verursacht, der für die Kunstauffassung Adornos und für die von ihm behauptete, rettende Rolle der Kunst für das menschliche Leben von zentraler Bedeutung ist. Denn nicht nur alle bereits erwähnten Widersprüchlichkeiten ergeben sich aus dem Kontrast zwischen Kunst und Gesellschaft. Viel entscheidender ist, dass die Autonomie des Kunstwerks in Adornos Verständnis einer negativen Bestimmung unterliegt, die sich im Gegensatz zur Gesellschaft entfaltet. Unter dieser Voraussetzung ist das Kunstwerk autonom, weil es sich den utilitaristischen Zielen der modernen Gesellschaft entzieht. Aufgrund dessen bietet es eine Alternative zur Unwahrheit der Welt. Im folgenden Abschnitt gilt es, das hier bereits angeschnittene Verhältnis der Kunst zur Gesellschaft zu erläutern, um Möglichkeiten und Grenzen der Adornoschen Kunstauffassung für die Frage nach der Bedeutung der Kunst für das Leben ersichtlich machen zu können.
230 231 232 233
A-GS4, 55. ÄT, 515. Vgl. ÄT, 199. Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos, 1. (Vgl. zum Wahrheitsbegriff auch: Recki: Aura und Autonomie, 166–167; Figal: Theodor W. Adorno, 104)
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1.2.2.2 Die irrationale Rationalität des Kunstwerks Die komplexe Vielfältigkeit der Begrifflichkeit der Ästhetischen Theorie hat der Akzentuierung unterschiedlicher Aspekte Vorschub geleistet. Während etwa Figal die Zentralität des Verhältnisses von Naturschönem und Kunstwerk als Monade betont,234 konzentriert sich Scholze in ihrer Interpretation der Ästhetischen Theorie beispielsweise auf die mimetische, symbolische und allegorische Kraft des Kunstwerks und nicht zuletzt auf seine Sprachlichkeit.235 Die eigentümliche Sprachlichkeit des Kunstwerks wird auch von Tilo Wesche aufgegriffen und als primäre Eigenschaft des Kunstwerks gedeutet.236 Vergleichbar geht u.a. auch die Interpretation Sabine Sanders vor, die im Verhältnis von Mimesis und Rationalität sowie Wahrheit und Schein das Wesen des Kunstwerks in der Aufgabe realisiert wissen möchte, das Undarstellbare darzustellen bzw. das Unkommunizierbare zu kommunizieren.237 Welsch setzt daneben für seine Deutung der Ästhetischen Theorie auf das Erhabene.238 Dieser Reichtum an Deutungsmöglichkeiten der Kunstauffassung Adornos belegt explizit „[d]ie Abwesenheit eines Grundbegriffs oder ursprünglichen Phänomens [in der Ästhetischen Theorie], von dem alles andere abhinge“.239 Die parataktische Konstruktion der Ästhetischen Theorie nicht nur bezüglich ihrer grammatikalischen Struktur, sondern auch bezüglich ihres Inhalts erlaubt unterschiedliche und doch insgesamt legitime Zugänge zu ihrer Problemstellung sowie entsprechende Lösungsversuche. Dies wird auch dadurch möglich, dass sich – unabhängig vom gewählten Begriff – jeder dieser zentralen Begriffe nur in einem Verhältnis reziproken Kontrasts zu seinem jeweiligen Gegenbegriff erschließen lässt. Dieses Verhältnis mündet schlussendlich jedoch stets in der fundamentalen Differenz von Kunst und gesellschaftlicher Wirklichkeit. Diese Differenz ist Ausgangspunkt der Überlegungen Adornos.240 Sie konkretisiert sich strukturell in der irrationalen Rationalität, die dem Kunstwerk eigen 234 235 236
237 238 239 240
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Vgl. Figal: Theodor W. Adorno. Vgl. Scholze: Kunst als Kritik. Vgl. Tilo Wesche: ‚Lebendig sind die Kunstwerke als sprechende‘. Ästhetik als Philosophie der Sprache. In: Ette Wolfram; Günter Figal; Richard Klein; Günter Peters (Hg.): Adorno im Widerstreit. Zur Präsenz seines Denkens. Freiburg i. Brsg/München: Alber 2004, 121–154. Vgl. Sander: Der Topos der Undarstellbarkeit. Vgl. Welsch: Ästhetisches Denken, 114–156. Dies überrascht insofern, als sich Adorno nur auf wenigen Seiten dem Begriff des Erhabenen widmet. Sonderegger: Ästhetische Theorie, 415. Es handelt sich nicht um einen Zufall, dass die oben genannten Autoren trotz ihrer bemerkenswerten Deutungsunterschiede gerade darin übereinstimmen, dass die Differenz zwischen Kunst und gesellschaftlicher Wirklichkeit einen zentralen Punkt in der Adornoschen Kunstauffassung darstellt. Diese Übereinstimmung findet sich auch bei anderen Autoren: Scholze definiert die Autonomie des Kunstwerks als Entzug von sozialer Funktionalisierung für beliebige Ziele. (Vgl. Scholze: Kunst als Kritik, 97–110, insb. 102) Sander betrachtet die Kunst in Bezug auf die Kulturindustrie und bestimmt sie als Korrektiv der Gesellschaft. (Vgl. Sander: Der Topos der Undarstellbarkeit, 170) Anna Danilina argumentiert
ist. Die Beschäftigung mit dieser grundlegenden Paradoxie, die im Folgenden in ihrer Grundstruktur umrissen wird, verschafft Klarheit über die Kunstwerkauffassung Adornos und ermöglicht es somit auch, die besondere Rolle, die er der Kunst in der ‚verwalteten Welt‘ zuschreibt, zu erschließen. Adorno definiert das Kunstwerk als rational und zugleich irrational. Dabei geht er von einem Begriff von Rationalität aus, den er in Anlehnung an seine soziale und erkenntnistheoretische Analyse als „Inbegriff[s] der naturbeherrschenden Mittel“241 bestimmt. Rational ist dieser Definition zufolge jede Form der Produktion und der Verarbeitung von Materialien, die irgendeine Form von Herrschaft über das Material ausübt. Jeder Prozess, durch welchen eine gegebene Materie eine feste Gestalt annimmt, ist entsprechend als rational zu bezeichnen. Diese Definition beschränkt sich aber nicht nur auf Produktions- und Verarbeitungsprozesse, denn im Gesamtsystem Adornos ist zudem auch die Art und Weise, auf welche sich das positive Denken menschlicher Vermögen und Denkwerkzeuge bedient, rational, insofern sie naturbeherrschend ist. Das positive Denken äußert sich daher als eine Denkweise, die, wie Adorno in der Dialektik der Aufklärung zeigt, die Erkenntnis zu einem Herrschaftssystem über die innere und äußere Natur sowie über andere Menschen verändert hat. In diesem Zusammenhang wird die Rationalität auch zum Inbegriff von Verstand und Begriffen. In Anlehnung an diese Definition der Rationalität bezeichnet Adorno das Kunstwerk als rational und zugleich als irrational. Er bezieht diesen Doppelcharakter des Kunstwerks strukturell auf seine Entstehungsweise und bestimmt das Kunstwerk anhand dessen als soziales Produkt sowie als autonome Gestalt. Adorno zeigt, wodurch dieser Doppelcharakter des Kunstwerks entsteht: Als Produkt menschlicher Arbeitskraft, als Gemachtes, sei das Kunstwerk einerseits Resultat einer subjektiven Herrschaft über das Material – sei es Farbe, Töne, Worte, Marmor, Holz oder auch bereits bestehende künstlerische Formen und Techniken. Doch die Logik des Formgesetzes des Kunstwerks stehe in einem unversöhnlichen Gegensatz zur Logik der Gesellschaft, in der das Kunstwerk als Artefakt seinen Platz hat. Denn Kunstwerke sind in Adornos Auffassung Produkte eines Gesetzes, das sich aus dem Zusammenspiel von Materialien und Formen und völlig unabhängig von jeglicher ihm äußeren Instanz ergebe. Kunst gehe daher nicht, mit den Worten Ruth Sondereggers, „a-theologisch“242 vor, sie sei vielmehr Erfüllung ihres Selbst, d.h. Realisierung ihrer immanenten Gesetzmäßigkeit.243 Als Produkte eines Gesetzes schreibt ihnen Adorno einen höchst rati-
241 242 243
für eine objektive Vernunft des Kunstwerks, die nur mittels des Konstrasts zwischen Kunstwerk und Gesellschaft sichtbar gemacht werden kann. (Vgl. Anna Danilina: Kunst, Gesellschaft und Erfahrung. Die ästhetische Form als Kritik. In: Eckardt Lindner; Marcus Quent (Hg.): Das Versprechen der Kunst. Aktuelle Zugänge zu Adornos Ästhetischer Theorie. Wien: Turia + Kant 2014, 41–65; 45) ÄT, 86. Sonderegger: Ästhetische Theorie, 419. Vgl. ÄT, 205–226.
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onalen Charakter zu. Diese Rationalität widerlegt allerdings die herrschende, funktionale Rationalität der Welt. Deshalb behauptet sich die Rationalität des Kunstwerks im Verhältnis zur Rationalität der Welt als irrational, was laut Adorno die Irrationalität des Kunstwerks ausmacht. Deshalb erklärt er: „Kunst ist Rationalität, welche diese kritisiert, ohne ihr sich zu entziehen.“244 Der Kontrast zwischen diesen zwei Formen der Rationalität, die sich gegenseitig ausschließen und die doch aufeinander bezogen sind, entscheidet nach Adorno über den sozialen Charakter der Kunst. Er schreibt dazu in der Ästhetischen Theorie: Vielmehr wird sie zum Gesellschaftlichen durch ihre Gegenposition zur Gesellschaft, und jene Position bezieht sie erst als autonome. Indem sie sich als Eigenes in sich kristallisiert, anstatt bestehenden gesellschaftlichen Normen zu willfahren und als „gesellschaftlich nützlich“ sich zu qualifizieren, kritisiert sie die Gesellschaft, durch ihr bloßes Dasein, so wie es von Puritanern aller Bekenntnisse mißbilligt wird. Nichts Reines, nach seinem immanenten Gesetz Durchgebildetes, das nicht wortlos Kritik übte, die Erniedrigung durch einen Zustand denunzierte, der auf die totale Tauschgesellschaft sich hinbewegt: in ihr ist alles nur für anderes. Das Asoziale der Kunst ist bestimmte Negation der bestimmten Gesellschaft.245
Als Negation gesellschaftlicher Logik beanspruche das Kunstwerk absolute Unabhängigkeit von jenem Verblendungszusammenhang, der die Gesellschaft auszeichnet. Deshalb sei die Kunst schon alleine aufgrund ihrer Existenz „Skandalon“.246 Und gerade in dieser schockierenden Kraft der Widerlegung bestehender funktionaler, gesellschaftlicher Verhältnisse sieht Adorno das rettende Potenzial der Kunst. Denn Kunstwerke zeugen, indem sie als Resultat einer ihnen immanenten Gesetzmäßigkeit eine stillschweigende Kritik an der Mittel-Zweck-Logik der Gesellschaft üben, von einer möglichen Auflösung der gesellschaftlichen Zwangsmechanismen. Als solcher Störfaktor, als solch lebendiger Beweis einer anderen Form von Rationalität, jedoch nicht als explizite Kritik am System, bezeuge die Kunst schon aufgrund ihrer Existenz die Möglichkeit eines Anderen, eines Besseren, eines Nichtidentischen mit dem gesellschaftlichen System. Dadurch verweise sie implizit auf einen Ausweg aus dem Entmenschlichungsprozess, der die moderne Gesellschaft auszeichne. 1.2.3 Benjamin: Auratische und technisch reproduzierbare Kunst Benjamins Kunstauffassung bewegt sich zwischen einer erkenntnistheoretischen und einer sozial-politischen Konzeption von Kunst. Denn einerseits sind Kunst
244 245 246
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ÄT, 87. ÄT, 335. ÄT, 93.
werke Benjamin zufolge auratische Gestalten,247 insofern sie auf entscheidende Weise mit dem „Ideal[s] des Problems“248 der Philosophie verbunden seien. An247
Vgl. für eine Auflistung der Stellen, in denen Benjamin den Aurabegriff verwendet: Joseph Fürnkäs: Aura. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Erster Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 95–146. Obwohl sich Benjamin für seine ästhetischen Betrachtungen häufig des Begriffs der Aura bedient, bleibt seine Bedeutung strittig. Denn Benjamin bestimmt weder den Begriff eindeutig noch definiert er Kunst oder Kunstwerke jemals explizit als auratisch. (Vgl. Dieter Rudolf Knoell: Ästhetik zwischen Kritischer Theorie und Positivismus. Studien zum Verhältnis von Ästhetik und Politik und zur gesellschaftlichen Stellung der Kunst zwischen Natur und Technik anhand der ästhetischen Konzeptionen Benjamins, Adornos, Benses und Heißenbüttels. Hildesheim/New York/Zürich: Olms 1986, 46) Dies hat verschiedenen Interpretationen und Bestimmungsversuchen des Aurabegriffs Vorschub geleistet. In diesem Zusammenhang sind die Vorschläge Eva Geulens und Chryssoula Kampas besonders nennenswert, die die Aura als „einen performativen Begriff “ (Eva Geulen: Zeit zur Darstellung. Walter Benjamins „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. In: MLN, Vol. 107.3 1992, 580–605; 598) bzw. als Ausdruck einer „Entrückung (‚noli me tangere‘)“ (Chryssoula Kambas: Kunstwerk. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Zweiter Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 524–551; 537) der nicht auf technische Reproduzierbarkeit angewiesenen Kunst bestimmen. Die Kontroverse besteht vor allem darin, ob es sich beim Begriff der Aura um einen objektiven oder einen subjektiven Begriff handelt. Einerseits interpretieren Autoren wie Birgit Recki und Burkhardt Lindner die Kategorie der Aura wahrnehmungstheoretisch und koppeln die Aura an die subjektive, ästhetische Erfahrung. (Vgl. Recki: Aura und Autonomie, 237; Lindner, Burkhardt: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2011, 229–251) Andererseits plädieren Autoren wie etwa Sven Kramer und Stefan Knoche für die Hervorhebung objektiver Elemente der Aura. (Vgl. Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 91–93; Stefan Knoche: Benjamin – Heidegger. Über Gewalt; die Politisierung der Kunst. Wien: Turia + Kant 2000, 31–34) Darüber hinaus positionieren sich andere Autoren zwischen diesen zwei Extremen, die wie Ansgar Hillach die Aura im Spannungsfeld von Objektivem und Subjektivem sehen, ohne eine eindeutige Positionierung des Phänomens vorzuschlagen. (Vgl. Ansgar Hillach: Man muss die Aura feiern, wenn sie fällt. In: Richard Faber (Hg.): Konservatismus in Geschichte und Gegenwart. Würzburg: Königshausen & Neumann 1991, 167–182) Uneindeutig ist auch, ob Benjamin den Aurabegriff nur auf die Kunst anwendet oder ob er sich damit auch auf Naturphänomene bezieht. (Vgl. Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 93) Eine eindeutige Bestimmung des Aurabegriffs wird außerdem dadurch erschwert, dass er keine originäre Schöpfung Benjamins ist. Im Gegensatz zu Tiedemann, der den Eindruck entstehen lässt, als wäre Benjamin der Urheber des Aurabegriffs (vgl. Rolf Tiedemann: Aura. In: Joachim Ritter (Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 1: A-C. Basel: Schwabe 1971, 652–653), zeigt Recki einerseits, dass Benjamins Leistung nicht in der Schöpfung des Aurabegriffs, sondern darin besteht, „den Begriff, der ursprünglich in den Bereich der religiösen Erfahrung gehört, in die Ästhetik eingebracht und dort fruchtbar gemacht zu haben“ (Recki: Aura und Autonomie, 30), und wie die Einflüsse Alfred Schulers, Rudolf Steiners und vor allem Marcel Prousts den Begriff andererseits mitbestimmen. (Vgl. Recki: Aura und Autonomie, 30–48) Die unmittelbare Unbestimmbarkeit des Aurabegriffs soll aber nicht zu der Annahme verleiten, dieser Begriff wäre für die im Rahmen dieser Arbeit angestrebten, systematischen Zwecke unbrauchbar. Denn der Aurabegriff wird, wie Marleen Stoessel bemerkt, in den frühen Werken Benjamins nicht deshalb nicht thematisiert, weil die in diesen Werken behandelte Kunst keine auratische wäre, sondern gerade weil sie durch und durch auratisch ist. (Vgl. Marleen Stoessel: Aura. Das vergessene Menschliche. Zu Sprache und Erfahrung bei Walter Benjamin. München/Wien: Hanser 1983, 97–118) Aufgrund dieser impliziten Charakterisierung der Aura, die sich in den Texten Benjamins zeigt, lässt sich die nicht
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dererseits wird diese Eigenschaft von Kunstwerken von Benjamin in Frage gestellt und kritisiert, da er eine nicht auratische Kunst befürwortet, die im Dienste der Politik stehe, insofern sie für eine Massenrevolution des Proletariats bewirken könne. Das rettende Potenzial, das Benjamin der Kunst zuschreibt, entfaltet sich daher auf zweifache Weise, die nicht nur auf unterschiedlichen, sondern geradezu konträren Kunstauffassungen basiert. Einerseits versteht Benjamin die Kunst auf Basis einer platonisch-messianischen Konzeption der Wahrheit als eine absolut autonome, menschliche Ausdrucksform, die allen anderen Ausdrucksformen gegenüber ein Erkenntnisprimat beansprucht. Denn die Kunst bewege sich, wie er betont, sehr nahe an der Wahrheit.249 In diesem Zusammenhang knüpft Benjamin das rettende Potenzial der Kunst an die Einmaligkeit, die Einzigartigkeit, die Absolutheit jedes einzelnen Kunstwerks. Andererseits sieht Benjamin in einer eindeutig marxistischen Perspektive im Verzicht auf die Exklusivität der auratischen Kunst die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass das zerstreute Publikum durch die Kunst zum Klassenbewusstsein zu gelangen und die bestehenden, sozialen Verhältnisse umzukehren vermag. Diese zwei Kunstauffassungen bestehen im Denken Benjamins gleichwertig nebeneinander. Die unterschiedlichen Entstehungszeiten der jeweiligen Theorien veranlassen demnach nicht dazu, die frühere, vor dem messianisch-platonischen, theoretischen Horizont entstandene Kunsttheorie durch die spätere Befürwortung der technisch reproduzierbaren Kunst zu ersetzen.250 Das genaue Wechsel-
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technisch reproduzierbare Kunst als auratisch bezeichnen. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wird der Aurabegriff daher nur in seiner funktionalen Valenz gebraucht, um die Differenz zwischen technisch reproduzierbarer und nicht technisch reproduzierbarer Kunst aufzumachen. Denn trotz der Strittigkeit des Begriffs bleibt, wie Kramer betont, „die Bestimmung [durchgängig gültig], dass die Aura des Kunstwerks dort erscheint, wo dessen Echtheit und Einmaligkeit gewährleistet ist. Damit steht die Aura in Opposition zur Reproduzierbarkeit […].“ (Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 92) Demnach werden im Folgenden – wie es im Übrigen auch Benjamin in seinem Reproduktionsaufsatz tut – all jene Kunstformen als auratisch bezeichnet, die ihrem Wesen nach nicht technisch reproduzierbar sind. GW, 172. Vgl. GW, 172–173; UDT, 211–212. In diesem Zusammenhang gilt es zu betonen, dass die Benjamin-Forschung in Bezug auf die Kunstthematik dazu tendiert, lediglich sein Spätwerk zu berücksichtigen, während sein Frühwerk vor allem hinsichtlich des ästhetischen Diskurses vernachlässigt wird. (Vgl. Stoessel: Aura, 13) Doch die enge Verbindung zwischen den zwei Kunstaufassung im Denken Benjamins ist wenigstens aus zwei Gründen unbestreitbar: Der erste besteht darin, dass es lediglich, wie Stoessel bemerkt, die Frühwerke Benjamins ermöglichen, „die Kategorie der Aura und ihre Einführung in materialistische Zusammenhänge verstehbar zu machen“. (Stoessel: Aura, 13) Der zweite Grund ergibt sich daraus, dass, die Verabschiedung Benjamins von einer auratischen Kunstauffassung und von der dieser Kunstauffassung zugrundeliegenden, philosophisch-theologischen Orientierung nur vorläufig ist, worauf Recki zu Recht aufmerksam macht. (Vgl. Recki: Aura und Autonomie, 146; 156) Denn in Über den Begriff der Geschichte wird deutlich, dass „der Erfahrungstypus, der im Aura-Begriff angesprochen und mit der Verfallsthese für den Kunstbereich totgesagt ist, im Bereich der historischen Erfahrung fortlebt. Während im ‚Reproduktionsaufsatz‘ das religiöse Moment der
verhältnis von auratischer und technischer Kunstauffassung lässt sich im Benjaminschen Denken nicht eindeutig bestimmen. Den Versuch zu unternehmen, sie in irgendeiner Weise in Einklang miteinander zu bringen, birgt die Gefahr, der einen oder der anderen nicht gerecht zu werden. Deshalb werden im Folgenden die auratische und die technische Kunst in zwei Abschnitten je einzeln betrachtet, um das ihnen jeweils zugrunde liegende, rettende Potenzial für den Menschen zu veranschaulichen. Trotz des Ineinandergreifens verschiedener Denkansätze in den beiden Kunstauffassungen lassen sie sich dennoch jeweils auf zwei grundlegende Leitmotive des Denkens Benjamins zurückführen. Die auratischen Konzeption der Kunst wird von Benjamin vor dem Hintergrund einer messianisch-platonischen Auffassung des Phänomens der Wahrheit entwickelt. Die technische Kunstkonzeption wird von Benjamin hingegen in engem Zusammenhang mit einer marxistisch fundierten Analyse der sozialen und ökonomischen Verhältnisse erarbeitet. 1.2.3.1 Die auratische Kunst: Darstellung der wahren Ideen Unter den Forschern, die sich mit Benjamin auseinandergesetzt haben, ist es vor allem Uwe Steiner, der in seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit dem Begriff der Kunstkritik in den Frühwerken Benjamins ersichtlich macht, dass Goethes Wahlverwandtschaften die „vorläufige Summe […] der frühen kunsttheoretischen Schriften“251 darstellt und dass die ‚Erkenntnistheoretische Vorrede‘ des Trauerspielbuchs252 „als eine unmittelbare Fortsetzung der Überlegungen des Essays“253 zu verstehen ist. Der Auffassung Steiners folgend, dass Goethes Wahlverwandtschaften und die ‚Erkenntnistheoretische Vorrede‘ in einem komplementären Verhältnis ein und dieselbe Kunstauffassung erarbeiten, wird im Anschluss die Benja-
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ästhetischen Erfahrung mit der ökonomisch-moralisierenden Formel vom ‚parasitären Dasein am Ritual‘ als obsolet verabschiedet werden sollte, kommt es in den Geschichtsthesen mit der Erneuerung der metaphysischen Intention im Konzept der messianischen Erlösung wieder stark zur Geltung.“ (Recki: Aura und Autonomie, 156; vgl. dazu auch: 146) Aufgrund dieses komplexen Verhältnisses von auratischer und technisch reproduzierbarer Kunst, die durch ihre Gegensätzlichkeit aufeinander verweisen, wird es sich für das Ziel dieser Forschungsarbeit als sinnvoll erweisen, die zwei Kunstformen getrennt zu behandeln. Denn diese Vorgehensweise bietet die Möglichkeit, das rettende Potenzial, das die beiden Kunstformen jeweils für das Leben aufweisen, zu erschließen, während ihre wesentliche Verbindung im Hinterkopf behalten und sie daher nicht verkannt wird. Uwe Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst. Untersuchungen zum Begriff der Kritik in den frühen Schriften Walter Benjamins. Würzburg: Königshausen & Neumann 1989, 10. Vgl. für die Entstehungsgeschichte, Rezeption und inhaltlicher Hauptmotive dieses Werks: Bettine Menke: „Urspung des deutschen Trauerspiels“. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2011, 210–229. Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst, 280.
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minsche Konzeption der auratischen Kunst in Anlehnung an diese zwei Texte in ihren Hauptzügen dargestellt.254 Benjamin entwickelt diese Konzeption in Anlehnung an Goethe und die Romantik255 und in enger Verbindung mit einer messianisch-platonischen Auffassung der Wahrheit,256 die er, wie seine brieflichen Äußerungen belegen,257 in der ‚Erkenntnistheoretischen Vorrede‘ mit seinen früheren Arbeiten zur Sprachphilosophie verknüpft. In seinem Aufsatz Über die Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen veranschaulicht Benjamin auf stringente Weise seine theologisch fundierte Sprach- und Wahrheitsauffassung, nach der die Wahrheit vor dem 254
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Kambas vertritt hingegen die These, dass Benjamin in Goethes Wahlverwandtschaften und in der Erkenntnistheoretischen Vorrede zwei unterschiedliche Kunstauffassungen entwickelt. Kambas unterscheidet drei Phasen der theoretischen Entfaltung des Begriffs ‚Kunstwerk‘ im Denken Benjamins, die sich jeweils aus dem Verhältnis von Kunst und Geschichte ergeben. Die erste Phase wird von ihm als ‚Ontologie der Kunst‘ bezeichnet, während der „die Erkenntnis von Kunst und Kunstwerk konstitutiv an die Frage nach ihrer Wahrheit gebunden“ (Kambas: Kunstwerk, 524) sei. Zu dieser ersten Phase gehört Kambas zufolge auch der Wahlverwandtschaften-Essay. Die zweite Phase, in der „die Frage der Historizität von Kunst und Kunstwerk überhaupt von Benjamin aufgeworfen“ (Kambas: Kunstwerk, 524) werde, fällt Kambas zufolge mit dem Trauerspielbuch zusammen, in dem Benjamin daher eine Kunsttheorie entwickelt, die sich von jener im Wahlverwandtschaften-Essay entwickelten unterscheidet: „In den späten Schriften“, die für Kambas die dritte Phase darstellen, „dagegen überlagern die theoretischen Fragen nach der Geschichte solche nach dem Kunstwerk“. (Kambas: Kunstwerk, 524) Gegen Kambas und die von ihm vorgenommene Unterscheidung der drei kunsttheoretischen Phasen im Denken Benjamins, argumentieren sowohl Uwe Steiner als auch Rudolf Speth für die konstitutive Verbindung der Erkenntnistheoretischen Vorrede des Trauerspielbuchs und dem WahlverwandtschaftenEssay. In diesem Sinne plädiert Steiner für die Komplementarität dieser beiden Werke, indem er drei unterschiedliche und dennoch für Benjamins auratische Kunstauffassung gleich bedeutsame Themenkomplexe behandelt: das Verhältnis von Wahrheit und Geheimnis, seine Auffassung von Kritik und das Problem der Beziehung von Wahrheit und Schönheit. (Vgl. Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst, 270; 278; 280) Speth betont hingegen die inhaltliche Einheitlichkeit der zwei Texte und sieht im Wahlverwandtschaften-Essay die Vorbereitung der philosophischen Aufgabe der Ideendarstellung, die Benjamin später in der Vorrede zum Trauerspielbuch in ihrer gesamten systematischen Tragweite ausarbeitet. (Vgl. Rudolf Speth: Wahrheit und Ästhetik. Untersuchungen zum Frühwerk Walter Benjamins. Würzburg: Königshausen & Neumann 1991, 223) In Bezug auf die Einflüsse Goethes und der Romantik auf die ‚Erkenntnistheoretische Vorrede‘, vor allem auf die Entwicklung des Vorgangs der Ideendarstellung, lassen sich zwei entgegengesetzte Deutungen unterscheiden. Einige Autoren sind der Auffassung, dass sich Benjamin von Goethe und der Romantik distanziert habe. (Vgl. Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 60–66) Andere plädieren hingegen für einen kontinuierlichen Einfluss der Frühromantik auf Benjamin und sehen keinen Bezug auf Goethe in seiner Konzeption der Ideendarstellung. (Vgl. Holz: Idee, 445–478) Vgl. zu Platons Einfluss: Speth: Wahrheit und Ästhetik, 227–234. Benjamin schreibt an Scholem: „Diese Einleitung ist eine maßlose Chuzpe – nämlich nicht mehr und nicht weniger als Prolegomena zur Erkenntnistheorie, so eine Art zweites, ich weiß nicht, ob besseres, Stadium der frühen Spracharbeit, die Du kennst, als Ideenlehre frisiert.“ (Walter Benjamin: Brief 140. An Gerhard Scholem. 19. Februar 1925. In: Theodor W. Adorno; Gershom Scholem (Hg.): Walter Benjamin. Briefe I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, 371–375; 372)
Sündenfall mit dem Wort Gottes und daher mit der adamitischen Sprache zusammenfällt. Seit dem Sündenfall haben sich Benjamin zufolge göttliche und menschliche Sprache voneinander differenziert, weshalb die menschliche und die göttliche Welt nicht länger identisch sind. Aus dieser Trennung sind entsprechend zwei Welten entstanden: eine wahre, transzendentale Welt, die nach Benjamin – in einer eindeutig platonischen Perspektive – aus vorgegebenen und ewigen Ideen besteht und die er entsprechend als ‚Ideenwelt‘ bezeichnet;258 und eine davon getrennte Welt der menschlichen, geschichtlichen Phänomene, die nicht unmittelbar an der Wahrheit teilhat.259 In welchem Verhältnis diese zwei Welten zueinander stehen, ist für das Wesen des auratischen Kunstwerks und seine Rolle für das Leben im Benjaminschen Denken von entscheidender Bedeutung. Es gilt demnach, ihr komplexes Verhältnis nachzuzeichnen: Einerseits trennt Benjamin sie völlig voneinander. Denn Wahrheit der Ideenwelt und Erkenntnis der phänomenalen Welt fallen nicht zusammen; die sprachlichen Ausdrücke der phänomenalen Welt reichen nicht an das sprachliche Wesen der Ideenwelt heran; die Wahrheit bleibt als Reich der Idee für die phänomenale Welt undenkbar, unvorstellbar, unsagbar. Andererseits sieht Benjamin zwischen den zwei Welten jedoch keine unüberbrückbare Kluft. Denn die phänomenale Welt wird von Benjamin durch einen Darstellungsprozess mit der Ideenwelt verbunden. Dabei schreibt er dem Philosophen eine entscheidende Rolle zu, insofern seine Aufgabe gerade in der Darstellung der Ideen besteht,260 die, in den Worten Hans-Jürgen Schings, „Front gegen jede wissenschaftliche Methode macht“261 und es Benjamin ermöglicht, ein eigentümliches Erkenntnismodell zu entwickeln, das deduktive und induktive Denkansätze in Frage stellt. In diesem vom Benjamin gedachten Erkenntnismodell ist „[d]as wichtigste Kennzeichnen der Erkenntnis […] die Methode ihrer Erfragbarkeit: ‚Erkenntnis ist erfragbar, nicht aber die Wahrheit‘.262“263 Damit bringt Rudolf 258 259
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Vgl. UDT, insb. 210–212; B-GSII-1: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen, 140–157. Vgl. zur Verknüpfung der Erkenntnistheoretischen Vorrede mit sprachphilosophischen Überlegungen: Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, 39–59; H. Schweppenhäuser: Ein Physiognom der Dinge. 66–82; Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 13–34; Stoessel: Aura, 67–96; vgl. zur Bedeutung der Sprachphilosophie für den Ideenbegriff: Holz: Idee, 466– 469; vgl. zur Verschränkung von Sprachphilosophie und Platonismus in der Erkenntnistheoretischen Vorrede: Speth: Wahrheit und Ästhetik, 256–265. Vgl. UDT, 214. Die Zentralität des Darstellungsbegriffs in der Erkenntnistheoretischen Vorrede wird auch im Versuch Fred Lönkers einer Rekonstruktion der Vorrede anhand des Begriffs der Darstellung deutlich. (Vgl. Fred Lönker: Benjamins Darstellungstheorie. Zur „Erkenntniskritischen Vorrede“ zum „Ursprung des deutschen Trauerspiels“. In: Friedrich A. Kittler; Horst Turk (Hg.): Urszenen. Literaturwissenschaft als Diskursanalyse und Diskurskritik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, 293–322) Hans-Jürgen Schings: Walter Benjamin, das barocke Trauerspiel und die Barockforschung. In: Norbert Honsza; Hans-Gert Roloff (Hg.): Daß eine Nation die ander verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Amsterdam: Rodopi 1988, 663–676; 673. UDT, 209.
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Speth auf den Punkt, was Benjamin ‚Ideal des Problems der Philosophie‘ nennt und das Speth mit dem Ausdruck „hermeneutische[n] Uneinholbarkeit der Wahrheit“264 greifbar macht: Die Wahrheit ist nicht unmittelbar zugänglich, nicht in ihrer Einheit erfragbar und daher auch nicht erfassbar: „Als Einheit im Sein und nicht als Einheit im Begriff ist die Wahrheit außer aller Frage.“265 Benjamin betont mehrmals die Unmöglichkeit einer vollständigen Erfassbarkeit dieser ‚Einheit im Sein‘, die sich jeder absoluten Objektivierung entzieht. Nicht als Ganzes, sondern mittels unterschiedlicher, geschichtlicher Erscheinungen kann die Wahrheit zum Ausdruck gebracht werden. Darin konkretisiert sich die von Benjamin geforderte, philosophische Leistung der Darstellung der ewigen Ideen,266 für die sein Wahlverwandtschaften-Essay und vor allem sein Trauerspielbuch als exemplarische Beispiele gelten.267 Denn die darstellende Aufgabe des Philosophen besteht, wie diese zwei Werke Benjamins zeigen, darin, die empirischen Einzelphänomene durch Begriffe zu durchdringen und zu zerteilen, damit sie sich um eine Idee versammeln.268 Dadurch vollzieht sich Benjamin zufolge sowohl die Darstellung der Ideen als auch – in einer messianischen Perspektive – die Rettung der Phänomene.269
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Speth: Wahrheit und Ästhetik, 235. Speth: Wahrheit und Ästhetik, 200. UDT, 210. Vgl. UDT, 214. Benjamins Goethes Wahlverwandtschaften und Der Ursprung des Deutschen Trauerspiels sind herausragende Beispiele der Realisierung seiner auratischen Kunstauffassung. Im Wahlverwandtschaften-Essay zeigt Benjamin, wie die ‚Sachgehalte‘ – historische Ereignisse, Sitten und Traditionen einer bestimmten Epoche sowie Geschichten realer Menschen – durch die Kunstkritik in Wahrheitsgehalte umgewandelt werden. Dabei setzt er seine Methode der Darstellung der Idee ein, die darin besteht, die historischen Phänomene durch Begriffe in ihre Elemente zu zerlegen und sie im Lichte einer wahren Idee zum Ausdruck zu bringen. Im Brief an Scholem vom 8.11.1921 bezeichnet Benjamin seinen Essay über Goethes Wahlverwandtschaften selbst als „exemplarische Kritik“. (Walter Benjamin: Brief 107. An Gerhard Scholem. 8. November 1921. In Theodor W. Adorno; Gershom Scholem (Hg.): Walter Benjamin. Briefe I. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1978, 280–282; 281) Die Darstellung der Idee „im Mittel der Empirie“ (UDT, 214) stellt auch die Basis seines Trauerspielbuchs dar, in dem sich Benjamin ganz in diesem Sinne jenen kleinsten Phänomenen, die von der ‚offiziellen Kritik‘ und daher auch von der ‚offiziellen Geschichte‘ nicht betrachtet werden, widmet. Dadurch gelingt es ihm, die Idee des deutschen Trauerspiels nicht durch bereits festgelegte, kategoriale Strukturen, sondern durch ihre reale, historische Konfiguration darzustellen. Vgl. UDT, 215. Vgl. UDT, 215. Wie Heinrich Kaulen zeigt, weist der Begriff der Rettung im Denken Benjamins viele Implikationen auf und kann verschiedene Bedeutungen annehmen, die vom jeweiligen Kontext abhängen. (Vgl. Heinrich Kaulen: Rettung. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Zweiter Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 619–664) Als theoretischer Kern des Rettungsbegriffs ergibt sich nicht eine Nebeneinanderstellung verschiedener Bedeutungen eines Begriffes, derer sich Benjamin nach Belieben bedient, sondern eine unbestreitbar messianische Theologie.
Wie sich „die Darstellung der Ideen im Mittel der Empirie“270 in Benjamins System konkretisiert, wird im dritten Teil der vorliegenden Forschungsarbeit für die Erschließung des Wesens der Kunst eine entscheidende Rolle spielen. An dieser Stelle der Argumentation ist der in seinen Grundzügen geschilderte, erkenntnistheoretische Rahmen vorab bereits deshalb zu erwähnen, weil Benjamin seinen ästhetischen Diskurs direkt an diesen Rahmen bindet. Dies wird deutlich, wenn man seine Bezeichnung der Kunstwerke als ‚besondere Gebilde‘ betrachtet: [A]lle echten Werke haben ihre Geschwister im Bereiche der Philosophie. Sind doch eben jene die Gestalten, in welchen das Ideal ihres Problems erscheint. – Die Ganzheit der Philosophie, ihr System, ist von höherer Mächtigkeit als der Inbegriff ihrer sämtlichen Probleme es fordern kann, weil die Einheit in der Lösung ihrer aller nicht erfragbar ist. […] Wenn aber auch das System in keinem Sinne erfragbar ist, so gibt es doch Gebilde, die, ohne Frage zu sein, zum Ideal des Problems die tiefste Affinität haben. Es sind die Kunstwerke. Nicht mit der Philosophie selbst konkurriert das Kunstwerk, es tritt lediglich zu ihr ins genaueste Verhältnis durch seine Verwandtschaft mit dem Ideal des Problems.271
Es ist daher, wie Steiner präzisiert, „die Formulierbarkeit des höchsten Problems der Philosophie als Frage nach ihrem System“,272 die Kunst und Philosophie miteinander verbindet und ihr Verhältnis zueinander bestimmt. Deshalb ist Benjamin zufolge jedes Kunstwerk eine Erscheinung des Idealen des philosophischen Problems und daher eine Erscheinung der Wahrheit als Ganzes. Denn „[d]ie ‚tiefste Affinität‘273, die die Kunstwerke zum Ideal des Problems haben, liegt“, wie Steiner bemerkt, „in ihrer Darstellungsfunktion beschlossen“.274 In jedem Kunstwerk stellt sich die Wahrheit dar, weshalb Benjamin Kunstwerke als „Ort der Wahrheiten“275 definiert. In diesem radikalen Wahrheitsanspruch des Kunstwerks liegt die Bedeutung der auratischen Kunst für das Leben. Anhand einer höchst komplexen Kritiktheorie,276 die Benjamin in Anlehnung an den romantischen Begriff der Kritik sowie 270 271 272 273 274 275 276
UDT, 214 GW, 172 Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst, 275. GW, 172; Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst, 276. B-GSVI, 47. Der Kritikbegriff spielt in der auratischen Kunstauffassung Benjamins eine zentrale Rolle. Wie Kramer verdeutlicht, ergibt sich Benjamins Auffassung von Kritik aus dem komplexen Verhältnis von Sein und Schein, Geschichte und Mythos und nicht zuletzt von Natur und Transzendenz. (Vgl. Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 45–50; Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst; Uwe Steiner: Kritik. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Zweiter Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 479–523; Uwe Steiner: Mortifikation der Werke. Walter Benjamins Theorie der Kunstkritik. In: Gérard Raulet (Hg.): Walter Benjamin. Ästhetik und Geschichtsphilosophie. Bern: Lang 1998, 17–36) Aufgrund ihrer Komplexität wird die Benjaminsche Konzeption der Kritik im Rahmen dieser Forschungsarbeit nicht ausführlich betrachtet. Es ist dennoch wichtig für die in diesem Abschnitt verfolgte Intention, die darin besteht, die rettende Funktion der auratischen
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an die Kunsttheorie Goethes ausarbeitet, zeigt er vor allem in seinem Wahlverwandtschaften-Essay, aber auch in der ‚Erkenntnistheoretischen Vorrede‘, dass „in den Werken […] ein immanenter Vorgang der Umwandlung ihrer Sachgehalte in den Wahrheitsgehalt angelegt“277 ist: „Die Funktion der Kunstform [ist] eben dies […]: historische Sachgehalte, wie sie jedem bedeutenden Werk zugrunde liegen, zu philosophischen Wahrheitsgehalten zu machen.“278 Mit anderen Worten bedeutet dies: Kunstwerke besitzen die gleiche ‚Kraft‘ wie das philosophische Denken, reale, historische, phänomenale Dinge und Ereignisse ihrer Kontingenz zu entreißen, sie als phänomenale Konfigurationen ewiger Ideen darzustellen und sie auf diese Weise zu retten. In dieser Darstellungskraft konkretisiert sich die rettende Rolle der auratischen Kunst. Die Rettung der Phänomene ist im Denken Benjamins wiederum im Kontext messianischer Motive zu verorten,279 die somit einen Bogen zu seiner Geschichtsauffassung spannen. Diese ermöglicht einerseits eine Zuspitzung des rettenden Potenzials der auratischen Kunst und vergrößert andererseits ihre Rolle im gesamten System Benjamins. Konzis ausgedrückt, ermöglicht das Kunstwerk – aus Perspektive der Geschichte – eine bewusste Aneignung der historischen Phänomene in Form eines individuellen und zugleich kollektiven Gedächtnisses. Deshalb widersetzt sich das Kunstwerk in Benjamins Verständnis der Kausalkette der historiographischen Geschichtsdarstellung. Dies ermöglicht neue Ursprünge bzw. neue Anfänge, die die ‚ungeheure Katastrophe‘ unterbricht, die von der Idee eines fortschreitenden Geschichtsverlaufs ausgelöst wird: „Daraus ergibt sich, daß die Kunst, die man oft als refraktär gegen jede Beziehung zum Fortschritt ansah, dessen echter Bestimmung dienen kann.“280 Auch im Kontext einer echten Geschichtsschreibung, für die sich Benjamin im Gegensatz zum Historismus ausspricht, zeigt somit die auratische Kunst ihr rettendes Potenzial für das menschliche Leben.281
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Kunst im Denken Benjamins darzustellen, zu betonen, dass der Kritikbegriff im Denken Benjamins eine grundlegende Verbindung zum Phänomen der Wahrheit aufweist. Denn „[w]ie vielfältig die Erscheinungsformen des Begriffs sein mögen, immer bleibt er bezogen auf den Wahrheitsgehalt der Werke, also auf die Erkenntnis jener spezifischen Phänomene, die sich in je eigentümlicher Weise in den Kunstwerken geltend machen“. (Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 50) Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst, 310–311. B-GSI-1: UDT, 358. Vgl. zur Teilnahme des Kunstwerks an der messianischen Erlösung: Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst, 287–292; Speth: Wahrheit und Ästhetik, 108–112; 200–208. PA, 593. Vgl. zur Geschichtsauffassung Benjamins: B-GSI-2: Über den Begriff der Geschichte.
1.2.3.2 Die technisch reproduzierbare Kunst: Ein Mittel zur Massenrevolution Im Rahmen seiner marxistisch fundierten Gesellschaftsanalyse zeigt Benjamin ein besonderes Interesse an der technisch reproduzierbaren Kunst, die in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit282 ihre systematische Ausarbeitung findet. Ausgangspunkt seiner Theorie ist die Feststellung, dass sich die Produktivkräfte durch den technischen Fortschritt derart rasant und maßlos entwickelt haben, dass der Mensch nicht mehr dazu in der Lage sei, die technischen Apparaturen zu meistern.283 Darin sieht Benjamin die Ursache eines unaufhaltsamen Prozesses, der sich anhand zweier miteinander verbundener Aspekte entfaltet: der sozialen Realität der Masse und der politischen Ordnung. Das Ungleichgewicht zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen verstärkt laut Benjamin das Vermassungsphänomen, das die Entstehung einer klassenbewussten Masse verhindert. Zugleich profitieren totalitäre Regime von den neuen Produktivkräften, insofern sie die unbewusste Masse dadurch zu ihrem Vorteil ausnutzen können.284 Unter diesen Prämissen unternimmt Benjamin im Reproduktionsaufsatz den Versuch, neue Begriffe in die Kunsttheorie einzuführen, die „zur Formulierung revolutionärer Forderungen in der Kunstpolitik brauchbar“285 sind. Es geht Benjamin demzufolge um eine mögliche politische Funktion der Kunst und nicht, wie Burkhardt Lindner argumentiert, um eine „kritische Revision der philosophischen Ästhetik“.286 Das im Vorwort des Reproduktionsaufsatzes ausdrücklich betonte, politische Interesse legt den Forschungsbereich, den Forschungsgegenstand sowie das Forschungsziel dieses Aufsatzes fest.287 282
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Von Benjamins Kunstwerkaufsatz sind vier Fassungen bekannt: Eine erste wurde 1935 von Benjamin verfasst. (Vgl. KTR) Eine zweite Fassung wurde von Benjamin direkt im Anschluss an die erste zwischen den Jahren 1935 und 1936 geschrieben. (Vgl. B-GSVII-1, 345–384) Als dritte gilt eine französische Fassung, die Benjamin 1936 geschrieben hat und die als einzige zu seinen Lebenszeiten publiziert wurde. Die vierte Fassung wurde von Benjamin 1939 geschrieben und galt lange als zweite Fassung des Kunstwerksaufsatzes, da die zweite erst später gefunden wurde und die dritte im deutschsprachigen Raum nicht bekannt war. (Vgl. B-GSI-2, 471–508) Obwohl Tiedemann und Schweppenhäuser die zweite Fassung mit der Begründung, sie sei von Benjamin für die Veröffentlichung vorgesehen, bevorzugen (vgl. Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser: Anmerkungen der Herausgeber. In: Rolf Tiedemann; Hermann Schweppenhäuser (Hg.): Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. VII–2. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 523–726; 661), bauen die folgenden Ausführungen auf der ersten Fassung auf. Dies soll als Ausdruck einer neutralen Auswahl zwischen den verschiedenen Fassungen gewertet werden. Denn die hier veranschaulichte Hauptthese Benjamins, dass die technisch reproduzierbare Kunst ein rettendes Potenzial für den Menschen habe, findet sich abgesehen von kleinen Abweichungen, Zusätzen oder Streichungen in allen vier Fassungen. Vgl. KTR, 444. Vgl. KTR, 436; 452; 456; 467–469. KTR, 435. B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 231. Dass Benjamins Hauptziel im Kunstwerksaufsatz nicht primär in der Fundierung einer neuen Ästhetik besteht, sondern dass er in erster Linie ein politisches Interesse verfolgt, zeigt sich nicht nur in der Einleitung zu diesem Aufsatz. Denn Benjamin selbst bezeichnet
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Im Rahmen dieser geschichtspolitischen Perspektive spricht Benjamin der technisch reproduzierbaren Kunst und insbesondere dem Film eine pädagogische Funktion zu, die darin besteht, „[d]ie ungeheure technische Apparatur unserer Zeit zum Gegenstande der menschlichen Innervation zu machen – das ist die geschichtliche Aufgabe, in deren Dienst der Film seinen wahren Sinn hat“.288 Das besondere Potenzial des Films sieht Benjamin daher darin, dass er dazu in der Lage sei, den Abstand zwischen Menschen und technischen Apparaturen zu überwinden, „ein Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur bzw. zwischen Mensch und Technisierung herzustellen“289 und das Entfremdungsgefühl des Menschen den technischen Instrumenten gegenüber in ein Gefühl von Vertrautheit umzuwandeln. Dies ist Benjamin zufolge deshalb möglich, da durch den Film ein Identitätsverhältnis zwischen den rein menschlichen und den technischen Produktivkräften gestiftet werde. Benjamin zufolge kann der Film diese Aufgabe erfüllen, weil die neue Form der Reproduzierbarkeit von Kunstwerken, die dem Film eigen ist, eine technische sei.290 Wie Burkhardt Lindner betont, setzt Benjamin für seine These „bei der Produktionsweise des Films“291 ein. Denn für die geschichtliche Aufgabe, die Benjamin dem technisch reproduzierbaren Kunstwerk zuschreibt, ist zu allererst die Ähnlichkeit seiner Produktionsweise zu der von Warenprodukten entscheidend. Denn der Film wird wie jede Ware durch technische Mittel produziert; im Filmatelier oder am Drehort befindet sich der Schauspieler wie jeder Arbeiter vor einer technischen Apparatur. Außerdem zeigt Benjamin, wie beide – Schauspieler und Arbeiter – eine „Leistung am mechanisierten Test“292 und nur Stücke eines ganzen Produkts liefern, für dessen schlussendliche Einheit sie nicht verantwortlich sind. Der Schauspieler ist daher Benjamin zufolge wie jeder Arbeiter vom Produkt seiner Arbeit enteignet. Trotzdem sieht Benjamin zwischen der Testleistung des Schauspielers und derjenigen eines Arbeiters einen grundlegenden Unterschied. Denn bei der Testleistung, die der Arbeiter erbringt, werde er seiner Menschlichkeit beraubt. Dem Schauspieler gelinge es hingegen, seine Menschlichkeit vor der Apparatur zu bewahren. Dies werde möglich, weil seine Leistung von einem Publikum und nicht von einer technischen Apparatur beurteilt wird. Das Publikum sei im Filmatelier und am
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seinen Reproduktionsaufsatz in vielen Briefen als eine materialistische Kunsttheorie. (Vgl. B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 229; Recki: Aura und Autonomie, 147) Aufgrund dessen birgt der Versuch Burkhardt Lindners, den Kunstwerksaufsatz als eine Ästhetik vergleichbar mit jenen Hegels, Adornos und Heideggers zu deuten, die Gefahr, das geschichtspolitische Hauptziel Benjamins zu verkennen. KTR, 445. B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 247. KTR, 442; 448–449; 452. B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 243. KTR, 449.
Drehort bei jeder Szenenaufnahme zwar abwesender, dennoch aber implizit integrierter Bestandteil der Leistung des Filmdarstellers. Denn der Schauspieler spiele, spreche, bewege sich schon immer für ein potenzielles Publikum. Der Schauspieler weiß laut Benjamin schon immer, dass seine Leistung vor einem Publikum ausgestellt sein wird. Es ist deshalb gerade diese Ausstellbarkeit, die nach Benjamin das Wesen der Leistung des Schauspielers ausmacht.293 Mit der „Ausstellbarkeit der Leistung“294 des Schauspielers wird der Kern der technischen Kunstauffassung Benjamins berührt, insofern sie das Wesen des technisch reproduzierbaren Kunstwerks auszeichnet. Der Ausstellungswert ersetze, so Recki, „in einer epochemachenden Veränderung des gesamten Kunstbereiches durch das Eindringen der technischen Medien“295 den Kultwert, der dem klassischen, auratischen Kunstwerk eigen war.296 Aufgrund der wesenhaften Ausstellbarkeit der Testleistung des Schauspielers ist der Film daher laut Benjamin ein gelungenes Zusammenspiel von Technik und Menschlichkeit. Denn dem Film, der durch und durch ein technisches Produkt ist, gelinge es, eine Wirklichkeit auszustellen, die sich von der technischen Apparatur zu lösen vermag. Das ist der entscheidende Gedanke: „ein aus der Technisierung selbst entspringendes Nicht-Technisches.“297 Der Zuschauer sieht im Kino auf der Leinwand keine Kamera, keinen Scheinwerfer, kein Mikrophon, keine Lampe; er sieht nur Menschen. Die Menschlichkeit des Schauspielers, die er am Drehort vor der technischen Apparatur verliere, gewinne er dementsprechend vor dem Publikum wieder.298 Deshalb stellt der Film für Benjamin eine Kunstform dar, an der der Mensch einen angemessenen Umgang mit der Technik lernen kann. Der Film, der von seinem ersten Baustein bis hin zu seiner Einheit durch technische Mittel produziert wird und der dementsprechend durch technische Vorgänge bestimmt ist, bleibe nicht in die technische Wirklichkeit eingebettet, sondern überwinde vielmehr die ‚bedrohliche‘ Seite der Technik durch die Technik selbst und bringe somit Menschlichkeit zum Ausdruck. Auf Seiten der Rezeption sieht Benjamin das Potenzial des Films in einer besonderen Form der Wahrnehmung begründet, die er als eine „taktile Rezeption“299 im Gegensatz zu einer optischen Wahrnehmung definiert.300 Vor allem Burkhardt Lindner hebt in seinem Handbuchartikel über den Reproduktionsaufsatz die Zentralität dieser neuen Form der Wahrnehmung hervor, indem er die taktile Wahrnehmung zu einem der Hauptbegriffe des Aufsatzes erklärt.301 Die 293 294 295 296 297 298 299 300 301
Vgl. KTR, 449–452. KTR, 450. Recki: Aura und Autonomie, 49. Vgl. KTR, 443; 445. Vgl. B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 245. Vgl. KTR, 450. GSI-2, 464. Vgl. GSI-2, 464–466. Vgl. B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 234.
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Rolle dieser Form der Wahrnehmung ist in der Tat sehr bedeutsam, wenn es um die Funktion der technisch reproduzierbaren Kunst im gesellschaftlichen Kontext geht. Auch dieses mit der taktilen Wahrnehmung verbundene Potenzial der technisch reproduzierbaren Kunst wird von Benjamin an ihren Ausstellungswert und ihre Produktionsweise geknüpft. Der Film sei nämlich eine der Masse eigentümliche Kunstform. Das massenartige Publikum ist dem Film laut Benjamin wesentlich.302 Diese Masse zeichnet sich nach Benjamin durch eine besondere Form der Wahrnehmung aus, die sich stark von Reflexion und Kontemplation, von rückständigem Verhalten oder Konzentration unterscheidet.303 Denn das unbewusste Kollektiv nehme „in der Zerstreuung“304 Dinge, Phänomene und Ereignisse wahr. Benjamin behauptet, dass der Film dazu in der Lage sei, diese der Masse eigentümliche Wahrnehmungsform zu nutzen, um die unbewusste Masse zu belehren. In der anhaltenden „Chockwirkung“,305 die das schnelle Aufeinanderfolgen montierter Szenen auf das Publikum ausübt, sieht Benjamin das Potenzial des Films, die ‚zerstreute Masse‘ zu erreichen.306 Vielmehr als in vorbildlichen Figuren oder Inhalten sieht Benjamin in der Überforderung des Wahrnehmungsapparats,307 in dieser Schockwirkung also, die Möglichkeit, dass die Masse ununterbrochen wachgerüttelt und zu einer Bewusstwerdung ihres Selbst geführt wird. Im letzten Abschnitt des Reproduktionsaufsatzes wird ein weiterer Aspekt der positiven Auswirkung des Films auf die Masse veranschaulicht, die es abschließend kurz zu erwähnen gilt. An seine Freudrezeption anschließend, schreibt Benjamin dem Film auch „die Möglichkeit psychischer Impfung“308 für die Massen zu. Diese wirkt in Benjamins Auffassung durch Figuren wie Mickey Mouse oder Charlie Chaplin als Sublimation pathologischer Aspekte und Phänomene: „Sie erscheinen“, schreibt Burkhardt Lindner, „als Saboteure der beginnenden Kulturindustrie, als lachende Selbsttherapeuten gegen faschistische und stalinistische Kollektivpsychosen und als Hoffnungsfiguren eines befreienden Umbaus der kollektiven Wahrnehmungsweise“.309
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Vgl. KTR, 442; 451. KTR, 459. KTR, 466. KTR, 464. Wie Kramer betont, hat Benjamin hier eine besondere Montage vor Augen. Denn die Montage ist nicht aus sich heraus revolutionär. (Vgl. Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 100–101; vgl. zum Begriff der Montage in Benjamins Auffassung der technisch reproduzierbaren Kunst: Sven Kramer: Montierte Bilder. Zur Bedeutung der filmischen Montage für Walter Benjamins Denken und Schreiben. In: Anja Lemke; Martin Schierbaum (Hg.): „In die Höhe fallen“. Grenzgänge zwischen Literatur und Philosophie. Ulrich Wergin gewidmet. Würzburg: Königshausen & Neumann 2000, 195–211) Vgl. Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 99. KTR, 462. B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 247.
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Zusammenfassend lässt sich daher festhalten, dass Benjamin das rettende Potenzial der technisch reproduzierbaren Kunst eng an die neue, technische Produktionsweise des Films koppelt. Sowohl der Triumph der Menschlichkeit des Schauspielers über die Technik als auch das mögliche Erwachen der Masse durch die Schockwirkung schnell aufeinanderfolgender Szenen sowie die Sublimierungskraft bestimmter Figuren hängen von dieser Produktionsweise ab. Deshalb bleibt die geschichtliche Aufgabe, die Benjamin sowohl der Produktions- als auch der Rezeptionsseite der technisch reproduzierbaren Kunst zuschreibt, auf eine technisch bestimmte Produktionsweise angewiesen. Diese Betrachtung der technisch reproduzierbaren Kunst im Denken Benjamins schließt den darstellenden Teil der vorliegenden Arbeit ab, der sich vorgenommen hatte, die Bedeutung der Kunst für das Leben im Denken Heideggers, Adornos und Benjamins vor Augen zu führen. Wie bereits in der Einleitung dieses ersten Kapitels angekündigt, wird der nachfolgende Abschnitt die soeben erschlossenen Kunstauffassungen der drei Autoren mit Bezug auf das Leben einem kritischen Blick unterziehen.
1.3 Ein kritischer Blick Im vorhergehenden Abschnitt wurde das rettende Potenzial, das der Kunst für das Leben im Denken Heideggers, Adornos und Benjamins zugewiesen wird, anhand ihrer jeweiligen Kunstauffassungen erläutert. Auf Grundlage dieser Ausführungen lassen sich nun die einleitenden Bemerkungen des vorhergehenden Abschnitts präzisieren. Dort wurde ein zwiespältiges Verhältnis zwischen den Kunstauffassungen der drei Autoren behauptet. Diese Behauptung lässt sich einerseits dadurch begründen, dass sich die drei Positionen darin überschneiden, dass sie das rettende Potenzial der Kunst auf ihre Autonomie gründen. Andererseits wird dieser Anspruch auf Autonomie von den drei Autoren auf unterschiedliche Weise fundiert. In der Auseinandersetzung mit den Kunsttheorien Heideggers, Adornos und Benjamins wurde diese Zwiespältigkeit dort besonders offensichtlich, wo die jeweiligen Begründungen des rettenden Potenzials der Kunst für das menschliche Leben gezeigt werden konnten: So entfaltet Heidegger den Anspruch auf Autonomie der Kunst in starker Abhängigkeit von seinem Verständnis des Wahrheitsgeschehens. Adorno entwickelt die Autonomie der Kunst hingegen im Kontrast zur funktionalen Logik der Gesellschaft. Und zuletzt begründet Benjamin einerseits die Autonomie der technisch reproduzierbaren Kunst im Rahmen ökonomischer Produktionsverhältnisse und andererseits jene der auratischen Kunst aufbauend auf einem systematischen Erkenntnismodell. Aufgrund der Feststellung, dass die Kunstauffassungen Adornos, Heideggers und Benjamins auf unterschiedlichen Grundannahmen fußen, drängt sich die Vermutung einer Ableitung des Kunstverständnisses aus ihr heteronomen Voraussetzungen auf. Bubner legt den Akzent auf diesen kritischen Aspekt, der die 101
Kunstkonzeptionen der drei Autoren verbindet.310 In diesem Zusammenhang spricht Bubner in Bezug auf alle drei Autoren sogar von einer „Instrumentalisierung der Kunst für die problematisch gewordene Wahrheitsfrage“311 und bezeichnet ihre Ästhetiken als „heteronom“:312 „Es ist für sie typisch, daß sie die Theorie der Kunst nicht autonom aufbauen, sondern von Anfang an einer Fremdbestimmung durch einen Vorbegriff von Philosophie, von deren Aufgabenstellung und Terminologie unterwerfen.“313 Diese grundlegende Kritik an den drei Kunstauffassungen betrifft auch ihre kritischen Zeitdiagnosen. Denn auch der Zustand des Menschen in der Moderne wird auf Basis der Grundannahmen ihres jeweiligen Denkens beschrieben: Die Seinsvergessenheit bei Heidegger sowie die Entstehung des Hochkapitalismus bei Adorno und Benjamin werden als die grundlegenden Ereignisse, die den Entmenschlichungsprozess verursacht haben und in Gang halten, gesehen. Folglich erweist sich auch das rettende Potenzial der Kunst als relativ, insofern es sich nur unter der Voraussetzung entfaltet, dass die ontologischen, sozialen und erkenntnistheoretischen Grundannahmen des jeweiligen Systems als solche anerkannt werden. In dieser Verankerung ihrer Kunstauffassungen in ihrem jeweiligen Denken besteht die gemeinsame, systematische Grenze, die die Konzeptionen Heideggers, Adornos und Benjamins mit Blick auf die Bedeutung der Kunst für das Leben beschränkt. Dennoch verweisen die Darstellungen der vorherigen Abschnitte sowohl in Bezug auf das Leben als auch in Bezug auf die Kunst und die ästhetische Erfahrung auf einige Aspekte, die, in einem wechselseitigen Zusammenspiel gedacht, die Überschreitung dieser Grenze ermöglichen. Deshalb wird sich der folgende, kritische Teil der vorliegenden Arbeit in zwei Abschnitte gliedern. In einem ersten Schritt soll der Akzent auf jene Grenzen gelegt werden, die die von Heidegger, Adorno und Benjamin vertretenen Positionen nach sich ziehen. Daran anschließend lässt sich vorläufig ein Autonomiebegriff der Kunst denken, der das menschliche Leben in entscheidender Weise betrifft und folglich die Erarbeitung eines dem Leben immanenten Lebensbegriffs fordert. Angesichts dieser von der Kunst gestellten Forderung nach dem Leben wird in einem zweiten Schritt der Versuch unternommen, jene Wesenszüge des menschlichen Lebens zu erschließen, die zur Gewinnung eines dem Leben immanenten Lebensbegriffs führen.
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Vgl. Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, insb. 11; Rüdiger Bubner: Moderne Ersatzfunktionen des Ästhetischen. In: Rüdiger Bubner (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 99–120. Bubner: Moderne Ersatzfunktionen des Ästhetischen, 109. Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, 31. Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, 31. (Vgl. zu einer vergleichbaren Kritik an Adorno: Lambert Wiesing: Adorno. In: Lambert Wiesing (Hg.): Philosophische Ästhetik. Münster: Aschendorff 1992, 232–243; vgl. zu einer vergleichbaren Kritik an Heidegger: Figal: Erscheinungsdinge, 44)
102
1.3.1 Die heteronome Autonomie der Kunst Die Kritik, die im Folgenden an den Kunstauffassungen Heideggers, Adornos und Benjamins geübt wird, konzentriert sich primär darauf, dass ihre Kunsttheorien in den jeweiligen Grundannahmen ihrer Systeme verankert sind und davon abhängig bleiben. Bewusst oder nicht passen die drei Autoren die Kunst an ihre jeweiligen Systeme an. Die Definitionen, die sie von Kunst geben; die Rolle, die sie dem Kunstwerk zuschreiben; die rettende Kraft, die sie dem Kunstwerk und der ästhetischen Erfahrung zusprechen – all diese Aspekte werden stets anhand ihrer jeweiligen ontologischen, ökonomischen und erkenntnistheoretischen Prämissen entwickelt und verdeutlicht. Deshalb gelingt es ihnen nicht, die Kunst als Kunst, das Kunstwerk als Kunstwerk, die ästhetische Erfahrung als ästhetische Erfahrung zu betrachten. So befragt Heidegger die Kunst aus der Perspektive des Seinsgeschehens bzw. der Seinsvergessenheit, Adorno aus der Perspektive der funktionalen Gesellschaft und Benjamin aus der Perspektive der Politik und aus jener seiner platonisierenden Wahrheitsauffassung. Alle drei Autoren widerlegen somit jenen Autonomieanspruch, den sie der Kunst zuzuschreiben versuchen. Ein kurz zusammenfassender Blick auf die jeweiligen Kunstauffassungen mit einem besonderen Akzent auf ihre Grenzen bezüglich der Bedeutung der Kunst für das Leben verfolgt im Folgenden ein doppeltes Ziel: Einerseits soll eine Distanz zu denjenigen Aspekten gewonnen werden, die die Herausarbeitung eines der Kunst immanenten Autonomiebegriffs erschweren. Zugleich soll anderseits eine Perspektive auf die Autonomie der Kunst eröffnet werden, die für die daran anschließenden Untersuchungen wegweisend sein wird. 1.3.1.1 Heideggers seynsgeschichtlicher Horizont Obwohl Heideggers Kunstauffassung Züge von Originalität in Bezug auf die Wesensbestimmung des Kunstwerks aufweist, zeigt seine Kunsttheorie nur schwer überwindbare Grenzen bezüglich der Frage nach dem Wesen der Kunst und ihrer Bedeutung für das menschliche Leben. Diese Grenzen werden von der unauflösbaren Abhängigkeit der Heideggerschen Ausarbeitung der Frage nach der Kunst von der Frage nach dem Sein verursacht. Dabei handelt es sich um eine Feststellung, die angesichts der Behauptung Heideggers, dass „[d]ie Besinnung darauf, was die Kunst sei, […] ganz und entschieden nur aus der Frage nach dem Sein bestimmt“314 sei, kaum überrascht. Entsprechend zeigen sich die hier erwähnten Grenzen sowohl in Bezug auf die Kunstwerksabhandlung als auch hinsichtlich einer strittigen dritten Phase des Heideggerschen Denkens, die durch eine selbstkritische Revision der Ergebnisse des Kunstwerksaufsatzes ausgezeichnet ist: Zum einen entstehen die Grenzen der Kunstwerksabhandlung durch die Einbettung 314
UK, 73.
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der Kunstfrage im seynsgeschichtlichen Horizont.315 Zum anderen ergeben sich die Widersprüchlichkeiten der späteren Auseinandersetzung Heideggers mit der Kunst seiner Zeit zwar ebenso aus der Verortung der Kunstfrage in der Seinsfrage, die sich nun aber als die Frage nach der „Ortschaft des Seins“316 bestimmen lässt.317 Um die Verankerung der Heideggerschen Ausarbeitung der Kunstfrage in der Seinsfrage zeigen zu können, werden im Folgenden die hier angedeuteten Grenzen sowohl der Kunstwerksabhandlung als auch jene der Auseinandersetzung mit der Kunst des späten Heidegger getrennt in den Blick genommen. Die Kunstwerksabhandlung betreffend, liegt die primäre Schwierigkeit der Heideggerschen Ausführung im radikal geschichtlichen Charakter der im Kunstwerk aufgestellten Welt. Wie mehrmals erwähnt, zeichnet sich das Kunstwerk in der Heideggerschen Kunstauffassung dadurch aus, dass sich darin die Wahrheit ins Werk setzt. Im Kontext seiner Auffassung der Wahrheit verdeutlicht Heidegger dieses Geschehen als die Stiftung einer geschichtlichen Welt, insofern Bahnen und Bezüge, Werte und Gesetze, Sitten und Traditionen, Denken und Handeln in einem wesenhaft geschichtlichen Bedeutungszusammenhang bestimmt werden.318 Im Kunstwerksaufsatz zeigt Heidegger anhand der Beispiele eines Tempels und der Bauernschuhe Van Goghs,319 wie die griechische Welt bzw. die Bau315
316 317
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Vgl. für eine ausführliche Ausarbeitung der Verortung der Kunstauffassung des Kunstwerksaufsatz Heideggers im seynsgeschichtlichen Horizont: von Herrmann: Technik und Kunst im seynsgeschichtlichen Fragehorizont. GA15: Seminar in Le Thor 1969, 335. Bezüglich der verschiedenen Phasen des Denkens Heideggers sind die Ansichten gespalten: Es gibt einerseits diejenigen, die wie Seubold und Pöggler – wenngleich mit unterschiedlichen Begründungen und Akzentsetzungen – deutlich verschiedene Phasen unterscheiden, und andererseits diejenigen, die wie etwa von Herrmann eine inhaltliche Kontinuität im Denken Heideggers feststellen. (Vgl. zur Kontroverse zwischen Pöggeler und von Herrmann: Seubold: Kunst als Enteignis, 43–50; Kraft: Das anfängliche Wesen der Kunst, 60–62) Die vorliegende Forschungsarbeit positioniert sich zwischen diesen beiden Positionen: Es lässt sich nicht bestreiten, dass Heidegger – wie von Hermann behauptet – immer wieder die gleichen Fragen und Probleme aufwirft und sich auf vielen verschiedenen Wegen um ihre Lösung bemüht. Darin ist die Kontinuität seines Denkens zu sehen. Dennoch ist auch unübersehbar, dass ihn seine ‚Denkwege‘ dazu geführt haben, sich von anfänglich wichtigen Überzeugungen zu distanzieren. So reformuliert Heidegger die Frage nach der ontologischen Differenz und jene nach dem Verhältnis von Raum und Zeit, weshalb er in weiterer Folge auch seine Kunstauffassung der 1930er Jahre in Frage stellt. Gerade diese Veränderungen sind im Kontext dieser Arbeit wichtig zu betonen. Denn sie belegen die Abhängigkeit der Kunstfrage von der Seinsfrage im Denken Heideggers: „Da ‚[d]ie Besinnung darauf, was die Kunst sei, ist ganz und entschieden nur aus der Frage nach dem Sein bestimmt‘ (UK, 73), wandelt sich die Seinsfrage von der ‚Frage nach der Wahrheit des Seins‘ zur ‚Frage nach dem Ort oder der Ortschaft des Seins‘ (GA15: Seminar in Le Thor 1969, 344), dann wandelt sich auch – zwangläufig und folgerichtig – die Frage nach der Kunst.“ (Seubold: Kunst als Enteignis, 42) Vgl. UK; Vgl. zur Problematik, ob es sich tatsächlich um Bauernschuhe handelt: Boehm: Im Horizont der Zeit, 256–257. Wie Boehm in Anlehnung an Derridas Metakritik der Kontroverse, ob die von van Gogh gemalten Schuhe tatsächlich Bauernschuhe oder doch seine eigenen Schuhe sind, verdeutlicht, ist die Prüfung dieser Tatsache für die Argumentation Heideg-
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ernwelt gestiftet wird und wie diese Welten für einen Betrachter vermeintlich zugänglich werden. Die Betonung, dass es sich dabei um einen vermeintlichen Zugang handelt, ist aus folgendem Grund relevant: Der stark geschichtliche Charakter der ‚weltenden Welt‘ führt Heidegger paradoxerweise dazu, eine gewisse Distanz des Betrachters vom Kunstwerk als Ursache einer unausweichlichen Verkennung des Kunstwerks und zugleich als Bedingung der Möglichkeit der ästhetischen Erfahrung anzunehmen. Wie Liiceanu kritisch bemerkt, gehe durch diese Paradoxie die Kontinuität zwischen Vergangenheit und Gegenwart des Kunstwerks verloren.320 Auch Jähnig zweifelt an der Konsistenz der Heideggerschen Argumentation bezüglich des Weltentzugs und des Weltverfalls,321 denn das Phänomen des Weltverfalls, das jedem Kunstwerk unvermeidbar zukommt, verschließe dem Betrachter jeden Zugang zu eben jener Welt, die das Kunstwerk in Heideggers Verständnis seinem Wesen nach eröffnet. Zugleich ist eben diese Distanz von der durch das Kunstwerk aufgestellten Welt Voraussetzung dafür, dass dem Betrachter die Welt, die das Kunstwerk stiftet, zugänglich wird. Diese Widersprüchlichkeit in Hinblick auf die Erfahrbarkeit der vom Kunstwerk aufgestellten Welt bleibt in der Heideggerschen Argumentation nun aber nicht nur unauflösbar, sie verschärft sich sogar, wenn nicht nur die Kunst der Vergangenheit, sondern auch die gegenwärtige Kunst berücksichtigt wird. Ausgehend von der Annahme, dass, wie Heidegger durch die Analyse der erwähnten Beispiele des griechischen Tempels und der Schuhe Van Goghs zeigt, eine Distanz zwischen dem Betrachter und der Welt des Kunstwerks für die ästhetische Erfahrung notwendig sei, kann die Frage nach der Bedeutung der modernen Kunst für den heutigen Menschen nicht nur keine Antwort finden, sondern geradezu nicht gestellt werden. Denn solange der Betrachter Teil der Welt
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321
gers irrelevant. Wie Boehm präzisiert, lässt sich zudem nicht mit Sicherheit sagen, auf welches Gemälde van Goghs sich Heidegger tatsächlich bezieht. In Übereinstimmung mit Derrida zeigt Boehm außerdem, dass die kritische Argumentation Meyer Schapiros gegen die Interpretation Heideggers nicht frei von ästhetisch bestimmten Grundannahmen ist, die Schapiro selbst jedoch weder reflektiert noch expliziert. Auch Seubold übt starke Kritik an der Heideggerschen Analyse des Gemäldes van Goghs. Sein Haupteinwand besteht darin, dass es der Analyse Heideggers an ästhetischen Kriterien mangele. (Vgl. Seubold: Kunst als Enteignis, 74) Abgesehen davon, dass Seubold an keiner Stelle spezifiziert, was er unter ästhetischen Kriterien versteht, kann man Heidegger diesen Mangel jedoch nicht vorwerfen. Denn solch ein Vorwurf verfehlt, so Trawny, den Versuch Heideggers, die Kunst auf anderer Basis als der klassischen Ästhetik zu denken. (Vgl. Peter Trawny: Anmerkungen zu drei Studien über das Ende der Kunst. In: Heidegger Studies. Volume 15, 173–175) Vgl. Liiceanu: Zu Heideggers ‚Welt‘-Begriff in „Der Ursprung des Kunstwerkes“, 207–210; vgl. zur Problematik einer möglichen Erfahrbarkeit des Kunstwerks infolge des Weltverfalls: William H. Bossart: Heidegger’s Theory of Art. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 27.1, 1968, 57–66; 63–64; Christopher S. Nwodo: The Work of Art in Heidegger. A World Disclosure. In: Cultural Hermeneutics 4. Dodrecht: D. Reidel Publishing 1976, 61– 73; 72. Vgl. Jähnig: „Der Ursprung des Kunstwerkes“ und die moderne Kunst, 232–233.
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ist, die durch das Kunstwerk gestiftet wird, wird eben jene Distanz abgeschafft, deren Notwendigkeit Heidegger für die ästhetische Erfahrung behauptet. Würde man versuchen, diese Frage dennoch zu stellen, würde man auf eine andere Schwierigkeit stoßen, die den Kernpunkt der Insuffizienz der Heideggerschen Kunstanalyse berührt. Denn der Kunstauffassung Heideggers zufolge stiftet jedes Kunstwerk, wie gezeigt werden konnte, eine geschichtliche Welt, d.h. „die sich öffnende Offenheit der weiten Bahnen der einfachen und wesentlichen Entscheidungen im Geschick eines geschichtlichen Volkes“.322 Diese These scheint, vor allem mit Blick auf die moderne Kunst, jedoch zu radikal. Denn sie behauptet, dass etwa ein Gemälde Cézannes oder Klees, eine Skulptur Chillidas, ein Gebäude Gropius’, ein Theaterstück oder ein Film verschiedene geschichtliche Welten gründen, indem sie Bahnen und Bezüge, Werte und Gesetze, Strukturen und Leben des modernen Menschen bestimmen. Mit Karsten Harries lässt sich angesichts dieser These provokant fragen: „Das Kunstwerk stellt eine Welt auf. Gilt das auch von der modernen Kunst, auch von Suprematismus und Dada?“323 Die Stiftung einer geschichtlichen Welt, wie sie von Heidegger in der Kunstwerksabhandlung entwickelt wird, widerspricht der vielfältigen Fülle an Kunstwerken und künstlerischen Ausdrucksformen des letzten Jahrhunderts. Die beispielsweise von Gottfried Boehm, Dieter Jähnig, Joseph J. Kockelmans sowie Siegbert Peetz unternommenen Versuche, in der Kunstwerksabhandlung Kriterien und Kategorien, Prozesse oder Phänomene zu finden, die irgendeinen Zugang zur oder Deutung der modernen Kunst ermöglichen, gelingen nur, weil der stark geschichtliche Charakter der Welt, der sich im Kunstwerksaufsatz findet, in ihren Interpretationen abgeschwächt wird.324 Diese Abschwächung der geschicht322 323 324
UK, 35. Karsten Harries: Das befreite Nichts. In: Vittorio Klostermann (Hg.): Durchblicke. Martin Heidegger zum 80. Geburtsstag. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1970, 39–62; 52. Boehm behauptet, dass die von ihm vorgeschlagene, temporale Interpretation des Kunstwerks auch den Übergang zum Feld der modernen Kunst erlaube. Dabei vertritt er eine Position, die er explizit als entgegengesetzt zu Perpeet und Pöggeler erklärt. Er baut die ‚Anwendungsmöglichkeit‘ der in Heideggers Aufsatz vertretenen These auf die moderne Kunst auf dem prozesshaften und daher temporalen Charakter, der modernen Kunstausdrücken eigen ist, auf. (Vgl. Boehm: Im Horizont der Zeit, 270) Dabei übersieht Boehm, dass das Prozesshafte im Kunstwerksaufsatz immer als Geschichte gedacht ist und daher mit dem Anfangen, Gründen und Schenken einer geschichtlichen Welt zusammenhängt. (Vgl. UK, 63–64) Auch Jähnig unternimmt den Versuch einer Deutung von Werken der modernen Kunst Giacomettis und Brancusis mit Hilfe des Kunstwerksaufsatzes. Auch sein Versuch gelingt nur, weil er den geschichtlichen Charakter der im Kunstwerk aufgestellten Welt nicht in seiner Radikalität berücksichtigt. (Vgl. Jähnig: „Der Ursprung des Kunstwerkes“ und die moderne Kunst) In diesen Kontext lässt sich auch die Auffassung Kockelmans’ verorten, nach der der Kunstwerksaufsatz Begriffe für ein Verstehen modernen Kunst bereitstelle. (Vgl. Kockelmans: Heidegger on Art and Art Works) Auch der Versuch Peetzs, ein Gemälde Klees anhand der Kategorien ‚Welt‘ und ‚Erde‘, wie sie im Kunstwerksaufsatz entwickelt werden, lässt den stark geschichtlichen Charakter der ‚weltenden Welt‘ unberücksichtigt. (Vgl. Siegbert Peetz: Welt und Erde. Heidegger und Paul Klee. In: Heidegger Studies. Volume 11, 167–187) Diese Annährungsversuche an die moderne Kunst
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lichen Dimension der Kunstwerksabhandlung aufgrund des Versuchs, die Gültigkeit der Kunstauffassung Heideggers für eine Auseinandersetzung mit der modernen Kunst zu retten, lassen aber auch spätere Äußerungen Heideggers nicht zu. Darin zeigt sich Heidegger selbst bezüglich des starken geschichtlichen Charakters seiner Abhandlung selbstkritisch. Schon in seinem Zusatz zu Der Ursprung des Kunstwerkes macht Heidegger darauf aufmerksam, dass seine Abhandlung keine letztgültige Antwort auf die Frage nach der Kunst gebe, sondern nur „Weisungen für das Fragen“.325 Diesbezüglich notiert er in den Klee-Notizen, „dass der Kunstwerksaufsatz ‚geschichtlich denke – die gewesenen Werke‘. ‚Nicht mehr‘ das Erstellen von Welt und das Herstellen von Erde, wie im Kunstwerkaufsatz thematisiert, sei der zukünftigen Kunst aufgegeben, sondern das ‚Erbringen des Ver-hältnisses aus Ereignis der Fuge‘“.326 Dies ist ein drastischer Wandel, der Heideggers Vorhaben erklärt, einen zweiten Teil zu Der Ursprung des Kunstwerkes zu schreiben.327 In Anbetracht dieser Spätäußerungen Heideggers drängt sich die Frage auf, ob seine späteren Kunstbetrachtungen anlässlich seiner Annährungen an die Kunst seiner Zeit die erwähnten Grenzen der Kunstwerksabhandlung aufheben. Doch
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aufbauend auf dem Kunstwerksaufsatz entfernen sich nicht nur von der in dieser Abhandlung vertretenen These. Sie stehen sogar „quer zu Heideggers – glaubwürdig überliefertem – Wort, er müsse nach der Erfahrung der Kunst Klees einen zweiten Teil bzw. ein ‚Pendant‘ zu diesem Kunstwerksaufsatz schreiben“. (Seubold: Kunst als Enteignis, 11) UK, 73. Günter Seubold: Heideggers nachgelassene Klee-Notizen. In: Heidegger Studies. Volume 9, 5–12; 10. (Vgl. zur Selbstkritik Heideggers: Heinrich Wiegand Petzet: Auf einen Stern zugehen. Begegnungen und Gespräche mit Martin Heidegger 1929–1976. Frankfurt a.M.: SocietätsDruckerei 1983, 58) Diesbezüglich gibt Hans Kock folgende Worte Heideggers wieder: „An diese Frage [Was ist die Kunst im Weltalter der Technik?] habe ich zuletzt (erste Hälfte der sechziger Jahre) viel gearbeitet und hoffe, einen Abschluß zu finden – aber dieser harte Fels ist noch nicht durchbrochen… und die Folge ist eine Schlaflosigkeit seit Wochen, aber ich die Sammlung auf das Thema nicht abreißen und stören lassen […].“ (Hans Kock: Urstreit und Fremdheit. Spuren des Denkens zu einem Heidegger-Portrait. In: HansHelmuth Gander (Hg.): Von Heidegger her. Wirkungen in Philosophie – Kunst – Medizin; Meßkircher Vorträge 1989. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1991, 105–123; 116) Aufgrund der vielen überlieferten, selbstkritischen Äußerungen Heideggers lässt sich der These von Herrmanns, dass Heidegger im seinem Spätdenken keinerlei Distanzierung vom Kunstwerksaufsatz vornehme, nur schwer zustimmen. (Vgl. von Herrmann: Heideggers Philosophie der Kunst, 31) Unvertretbar ist auch die These Pöggelers, nach der die Kunstwerksabhandlung das Ergebnis einer später aufgehobenen, romantischen Position Heideggers sei, der, von der Politik entäuscht, in der Kunst „eine Sehnsucht nach der verlorenen Einheitlichkeit und Ganzheit des Lebens“ (Otto Pöggeler: Heidegger und die Kunst. In: Christoph Jamme; Karsten Harries (Hg.): Martin Heidegger. Kunst – Politk – Technik. München: Fink 1992, 59–84; 79) zu stillen gesucht habe. Doch dieser Streit zwischen den beiden Autoren um den Stellenwert der Kunst im Kunstwerksaufsatz ist im Grunde nur Ausdruck ihrer grundsätzlich widersprüchlichen Ansichten bezüglich der systematischen und inhaltlichen Einheit des Heideggerschen Denkens. Vgl. für Belege des Vorhaben Heideggers, einen zweiten Teil des Kunstwerksaufsatzes zu schreiben: Pöggeler: Heidegger und die Kunst, 81; Seubold: Kunst als Enteignis, 41; Petzet: Auf einen Stern zugehen, 154; 157.
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diese Frage kann aus zwei Gründen keine befriedigende Antwort finden: Einerseits ermöglichen die von Heidegger hinterlassenen Texte keine systematische Rekonstruktion einer Kunsttheorie, insofern es sich dabei um wenige unsystematische Fragmente oder kontextlose, unzusammenhängende Feststellungen handelt.328 Anderseits erweist sich das Verhältnis Heideggers zur Kunst seiner Zeit als komplex und widersprüchlich. Wie Seubold betont, gehört „Heideggers Beziehung zur ‚modernen‘ Kunst […] zum Dunkelsten seines schon generell verschatteten Denkwegs. […] Sie schwankt zwischen einer kalten Ablehnung“, die die gegenwärtige Kunst als Ausdruck der Vollendung der Seinsvergessenheit markiert,329 „und einer beherzten Bejahung“330 einiger zeitgenössischer Künstler wie Cézanne, Klee, Le Corbusier, Chillida, Van Gogh, Giacometti oder Braque.331 Doch sowohl 328
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Obwohl es, wie bereits erwähnt, nicht möglich ist, in Anlehnung an die späten Aufsätze Heideggers eine Revidierung der im Kunstwerksaufsatz entwickelten Kunstkonzeption vorzunehmen, belegen diese Texte einen radikalen Wandel bezüglich der Frage nach der Kunst. In den Klee-Notizen verweist Heidegger auf einen ‚Wandel der Kunst‘. Doch eine der wichtigsten Veränderungen besteht zweifellos darin, dass Heidegger seine Definition der Kunst als „Sich-ins-Werk-Setzen der Wahrheit“ (UK, 25) abwandelt. In Die Kunst und der Raum definiert Heidegger die Kunst als „Ins-Werk-Bringen der Wahrheit“. (GA13: Die Kunst und der Raum, 206) Heinrich Wiegand Petzet spricht sogar von „Sich-ins-GebildBringen der Wahrheit“. (Petzet: Auf einen Stern zugehen, 144) Doch auch diese Änderungen der Definition der Kunst, die den im Kunstwerksaufsatz behaupteten, stark geschichtlichen Charakter des Wahrheitsgeschehens abschwächen, ermöglichen keine systematische Interpretation der modernen Kunst. Denn sie werden von Heidegger entweder nicht ausführlich thematisiert – wie im Falle des Ausdrucks ‚ins Werk-bringen-der Wahrheit‘ – oder bleiben kontextlos – wie der von Petzet erinnerte, oben erwähnte Ausdruck Heideggers. Aus diesen Gründen erweist sich ein Vorhaben wie jenes Jähnigs, der in Anlehnung an die Raumkonzeption, die Heidegger in seinem Aufsatz Bemerkungen zu Kunst – Plastik – Raum entwickelt, die Werke Chillidas zu deuten, als wenigstens fragwürdig. (Vgl. Dieter Jähnig: Die Kunst und der Raum. In: Günther Neske (Hg.): Erinnerung an Martin Heidegger. Pfullingen: Günther Neske 1977, 131–148; 143–146) Viele Ausdrücke Heideggers zeugen von einer eindeutigen Distanzierung von der zeitgenössischen Kunst: In den Beiträgen zur Philosophie erklärt Heidegger die „kunst-lose[n] Geschichte [und die] Kunstlosigkeit“ (GA65, 505) als kennzeichnend für die moderne Zeit und im Satz vom Grund bezeichnet Heidegger die moderne, abstrakte Kunst als gegenstandslos (vgl. GA10, 51), die daher „im Bereich dieser technisch-wissenschaftlichen Weltkonstruktion […] [ihre] legitime Funktion“ (GA10, 31) habe. Diese negative Bewertung der modernen Kunst, die Heidegger zufolge der Welt der Technik entspricht, findet sich in seinen Texten immer wieder. (Vgl. GA14: Das Ende der Philosophie und die Aufgabe des Denkens, 72; Heidegger: Die Bestimmung der Kunst und die Herkunft des Denkens, 140– 146) Im Spiegel-Interview wiederholt Heidegger noch einmal: „Ich möchte aber feststellen, daß ich das Wegweisende der modernen Kunst nicht sehe […].“ (Rudolf Augstein; Martin Heidegger: Das Spiegel-Interview. Spiegel-Gespräch mit Martin Heidegger. In: Günther Neske; Emil Kettering (Hg.): Antwort. Martin Heidegger im Gespräch. Pfullingen: Günther Neske 1988, 81–114; 110) Doch Jähnig bemerkt, dass „[z]u zweifeln an der Apodiktizität solcher Äußerungen zur Kunst unserer Epoche auch für jemanden, den Heideggers Diagnose des Zeitalters überzeugen, […] Heidegger selbst Anlaß“ (Jähnig: „Der Ursprung des Kunstwerkes“ und die moderne Kunst, 224) gebe. Seubold: Kunst als Enteignis, 65. Vgl. zu Heideggers Verhältnis zu Cézanne: GA13: Gedachtes, 223; Petzet: Auf einen Stern zugehen, 149; 151; 152; Christoph Jamme: Der Verlust der Dinge. Cézanne-Rilke-
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die Annäherungsversuche Heideggers an die Kunst seiner Zeit332 als auch seine eben angesprochene Ambivalenz zeitgenössischen Kunstausdrücken gegenüber bezeugen die Einbettung der Kunstfrage in die Seinsfrage. Obwohl er in seiner Spätphase die stark geschichtliche Dimension der Kunstwerksabhandlung selbst kritisiert und dadurch relativiert, lässt sich die Kunstreflexion Heideggers dennoch nicht von ihrer grundlegenden Verortung im allgemeineren Horizont der Seinsfrage lösen. Dies will nicht heißen, wie Pöggeler meint, dass es Heidegger nicht um die Kunst als Kunst gehe.333 Dennoch scheint Heidegger vielmehr daran interessiert, die Kunst in seiner Ausarbeitung der Seinsfrage zu verorten, als sich auf eine Art und Weise mit der Kunst auseinanderzusetzen, dass er ihrer Eigentümlichkeit gerecht werden kann. Diese Feststellung bestätigt sich auch dadurch, dass auch das rettende Potenzial, das Heidegger der Kunst zuschreibt, nur vor dem seynsgeschichtlichen Horizont erkennbar wird. Die tatsächliche Rettungsmöglichkeit bleibt deshalb vielmehr auf das Sein als auf den Menschen angewiesen. Wann und wie die Kunst eine ernste Auseinandersetzung mit der Technik vornehmen kann, ist Heidegger zufolge nicht vorhersehbar.334 Die rettende Kraft der Kunst scheint sich daher in einem schwachen Verweis auf eine zukünftige Möglichkeit aufzulösen, statt eine tatsächliche Potenzialität der Kunst zu sein. Die Fragwürdigkeit der rettenden Po-
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Heidegger. In: Christoph Jamme; Karsten Harries (Hg.): Martin Heidegger. Kunst – Politik – Technik. München: Fink 1992, 105–118; Seubold: Kunst als Enteignis, 77–78; 121–123; vgl. zu Heideggers Verhältnis zu Klee: Petzet: Auf einen Stern zugehen, 65; 154–159; Seubold: Heideggers nachgelassene Klee-Notizen; Seubold: Kunst als Enteignis, 75–76; 123–141; Otto Pöggeler: „Über die moderne Kunst“. Heidegger und Klee’s Jenaer Rede von 1924. Erlangen/Jena: Palm & Enke 1995, 9–12; 15–17; vgl. zu Heideggers Verhältnis zu Le Corbusier: Seubold: Kunst als Enteignis, 70; Petzet: Auf einen Stern zugehen, 159; Jähnig: Die Kunst und der Raum, 136; vgl. zu Heideggers Verhältnis zu Chillida: Seubold: Kunst als Enteignis, 7; Petzet: Auf einen Stern zugehen, 161–167; vgl. zu Heideggers Verhältnis zu van Gogh, Giacometti und Braque: Petzet: Auf einen Stern zugehen, 152–154. Heideggers kritische Einstellung der modernen Kunst gegenüber zeigt sich auch in seinem Versuch, durch eine Auseinandersetzung mit der ostasiatischen Welt eine ursprünglichere Bedeutung der Kunst zu finden. (Vgl. Shinichi Hisamatsu; Martin Heidegger: Wechselseitige Spiegelung. Aus einem Gespräch mit Martin Heidegger (1958). In: Hartmut Buchner (Hg.): Japan und Heidegger. Gedenkschrift der Stadt Meßkirch zum hundertsten Geburtstag Martin Heideggers. Sigmaringen: Jan Thorbecke 1989, 189–192) Dabei bestimmt er die europäische Kunst als Darstellung bzw. als ‚Sichtbarmachen durch das Bild‘, wobei dieses sichtbarmachende Bild ein Hindernis auf dem Weg zum Ursprung sei. (Vgl. zu Heideggers Verhältnis zum ostasiatischen Kunstverständnis: Seubold: Kunst als Enteignis, 87–106) Auch Heideggers Deutung der Hegelschen These über das Ende der Kunst lässt sich im Kontext der Zweideutigkeit der modernen Kunst verorten: „Die Entscheidung über Hegels Spruch ist noch nicht gefallen.“ (UK, 6–7) (Vgl. zu Heideggers Deutung des Hegelschen Spruchs: Seubold: Kunst als Enteignis, 13–24) Wie Seubold behauptet, ist „die Interpretation, die Heidegger von Klee (und Cézanne […]) gibt, keine Interpretation im herkömmlichen Sinne. Sie ist mit massiven begrifflichen Vorgaben der eigenen Spätphilosophie belastet“. (Seubold: Kunst als Enteignis, 76) Vgl. Otto Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger. Freiburg i. Brsg/München: Alber 1992, 47. Vgl. FT.
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tenzialität der Kunst in der Zeit der Technik wird, wie Faden zu Recht bemerkt, zudem dadurch verstärkt, dass „Heidegger diese abschließenden Überlegungen zum Verhältnis von Kunst und Technik in Vermutungs- und Frageform vorträgt; denn es ist fraglich, ob ‚der Kunst diese höchste Möglichkeit ihres Wesens inmitten der äußersten Gefahr gewährt ist‘.335“336 Die von Heidegger angenommene, rettende Funktion der Kunst expliziert sich auch nicht in der Frage nach der konkreten Gestalt dieser Kunst: Was soll die rettende Kunst darstellen oder zum Ausdruck bringen? Diese Frage stiftet zusätzlich Verwirrung in dem ohnehin problematischen Kunstverständnis Heideggers. Das äußert sich auch in der entsprechenden Forschungsliteratur, die sich auch bezüglich der Beantwortung dieser Frage nicht einig ist: Einerseits plädieren Autoren wie beispielsweise Pöggeler für eine Kunst, die eine Alternative zur technischen Welt sein solle;337 andererseits sind Forscher wie etwa Faden der Auffassung, dass die rettende Kunst die Gefahr der Zeit der Technik thematisieren sollte.338 Diese Überlegungen zeigen deutlich die vielschichtige Einbettung der Kunstauffassung Heideggers in die ontologischen Grundannahmen seines Denkens. Das Wesen der Kunst und ihr damit verbundenes, rettendes Potenzial werden von Heidegger im Rahmen seiner Kritik an der klassischen Metaphysik und seiner Auffassung der abendländischen Geschichte als Seinsvergessenheit erarbeitet und gedeutet. Aus diesem Grund lässt sich feststellen, dass es Heidegger nicht gelingt, das zu Beginn seiner Kunstwerksabhandlung angekündigte Vorhaben, das Wesen der Kunst von der Kunst her zu denken, um ihre Eigentümlichkeit zu erschließen, einzulösen.339 1.3.1.2 Adornos erkenntnistheoretische und sozio-ökonomische Grundannahmen Jene Vorwürfe, die im vorhergehenden Abschnitt Heidegger gegenüber erhoben wurden, sind auch in Bezug auf die Kunstauffassung Adornos zutreffend. Selbstverständlich geht es in der Kunstauffassung Adornos nicht um eine Verankerung im seynsgeschichtlichen Geschehen oder in der Frage nach der ‚Ortschaft des Seins‘, es handelt sich aber dennoch stets um eine unübersehbare Abhängigkeit der Kunstfrage von ihr heteronomen Grundannahmen, die die Ergebnisse des anspruchsvollen Versuchs Adornos, die Kunst als Kunst zu denken, stark beeinträchtigt, wenn nicht gar von Vornherein zum Scheitern verurteilt: Adorno befragt die Kunst nicht, wie er es sich vermeintlich vornimmt, aus einer Binnenperspektive; vielmehr entwickelt er seine Kunstauffassung aus dem zugleich zentralen Thema und grundlegenden Ziel seines Denkens, d.h. aus seiner Kritik an den bestehen335 336 337 338 339
FT, 36. Faden: Der Schein der Kunst, 158. Vgl. Pöggeler: Neue Wege mit Heidegger, 310–314. Vgl. Faden: Der Schein der Kunst, 167–173. Vgl. UK, 1–2.
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den, gesellschaftlichen Verhältnissen.340 Dies lässt sich im Folgenden insbesondere an jenem Begriff, der den besonderen Stellenwert der Kunst auszeichnet, zeigen: der Autonomie der Kunst. Unter den vielen Forschern, die sich mit Adorno beschäftigen, ist es insbesondere Recki, die in ihrer Auseinandersetzung mit den Kunstauffassungen Benjamins und Adornos ausführlich die Aporien der „Bedingtheit der Autonomie“341 der Kunst veranschaulicht. Diese heteronome Autonomie ist für Recki Ausdruck und zugleich unvermeidliche Folge der erkenntnis- und gesellschaftstheoretischen Grundlagen des Denkens Adornos, der in der Kunst einen Ausweg aus dem Dilemma seiner Negativen Dialektik sieht und sehen ‚muss‘.342 Was von Gerhard Kaiser bereits in den 1970er Jahren deutlich gezeigt wurde, dass Ästhetik im Adornoschen Gesamtsystem zur „Spitze der Theorie“343 wird, zeichnet für Recki die „metaphysische Funktionalisierung [der Kunst] zu gesellschaftskritisch-geschichtsphilosophischen Zwecken“344 aus. Dieser Befund, der an sich bereits eine Paradoxie in der ästhetischen Autonomie im Sinne Adornos sichtbar macht,345 ergibt sich daraus, dass in seiner Theorie gesellschaftliche Tatsachen in den ästhetischen Diskurs 340
341 342
343 344 345
Vgl. dazu: A-GS14: Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen. In diesem Aufsatz spricht Adorno sogar von künstlerischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen im Bezug auf die Musik. (Vgl. Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos, 118) Darin spielt die Dialektik zwischen Tausch- und Gebrauchswert sowie der Begriff der Ware eine entscheidende Rolle für die Identität der echten Kunst. (Vgl. dazu auch: DA, 128–176) Recki: Aura und Autonomie, 92. Vgl. Recki: Aura und Autonomie 161–165. Auch Wiesing und Bubner üben eine ähnliche Kritik an Adornos Kunstauffassung. In diesem Zusammenhang spricht Bubner von der „letztendlichen Aufhebung von Theorie in Ästhetik“. (Bubner: Kann Theorie ästhetisch werden?, 71) In einem vergleichbaren Sinne sieht Wiesing die Ästhetische Theorie als Reaktion auf den geschichtsphilosophischen Pessimismus Adornos und definiert sie daher als „Ausgangsweg aus der Auswegslosigkeit der aporetischen Vernunft. […] Was rational scheitert, kann ästhetisch gelingen. […] Genau diesen Weg schlägt Adorno ein, worauf bereits die subtile Doppeldeutigkeit seines Titels hinweist: Die Ästhetische Theorie Adornos will gleichermaßen eine Theorie ästhetischer Phänomene sein, wie auch die Konzeption eines Theorietypes, der selbst ein ästhetisches Phänomen ist.“ (Wiesing: Adorno, 233) Kaiser: Benjamin. Adorno, 79. Recki: Aura und Autonomie, 130. Vgl. Recki: Aura und Autonomie, 129. Recki übt drastische Kritik an der Ästhetischen Theorie Adornos, deren Ursprung sie in „einer Erkenntniskritik [sieht] […], die sich in einem fundamentalistischen Quidproquo ebensosehr als Gesellschafkritik begreift“. (Recki: Aura und Autonomie, 165) Daraus ergibt sich Recki zufolge eine Ästhetisierung der Philosophie, durch die Objekte, Methoden und nicht zuletzt Grenzen sowohl der Ästhetik als auch der Philosophie nicht mehr eindeutig voneinander zu unterscheiden seien. Vor dem Hintergrund dieser Annahme schildert Recki die unterschiedlichen Aporien, auf welche eine ästhetische Theorie, die den Anspruch erhebt, prima philosophia zu sein, unvermeidlich stößt. Im Laufe dieses Abschnitts der vorliegenden Arbeit wird nur auf jene Aporien, die eindeutig die Grenzen der Kunstauffassung Adornos bezüglich des rettenden Potenzials der Kunst für das Leben erkennbar machen, Bezug genommen. (Vgl. für weitere kritische Punkte in der Ästhetischen Theorie: Recki: Aura und Autonomie; Scholze: Kunst als Kritik, 158–182)
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eingreifen. Denn die Autonomie, so Adorno, sei „mühsam der Gesellschaft abgezwungen und gesellschaftlich entsprungen in sich“.346 Die Autonomie des Kunstwerks lässt sich daher nicht nur anhand ihres Doppelcharakters als autonom und fait social erschließen, sondern entsteht durch ihr konträres Verhältnis zum gesellschaftlichen Ganzen. Entsprechend sind Kunstwerke in Adornos Verständnis autonom, weil sie zugleich eine doppelte Wirkung entfalten: Einerseits nehmen sie – als Produkt menschlicher Arbeit – die gesellschaftlichen Beziehungen in sich auf; andererseits widersprechen sie – als Ergebnis ihrer immanenten Zweckmäßigkeit – der funktionalen Rationalität der Gesellschaft und ihren Machtverhältnissen. Die Autonomie des Kunstwerks, die das sie konstituierende Merkmal ist,347 bleibt in der Kunstauffassung Adornos somit von seiner grundlegend kritischen Absicht abhängig. Mit Recki kann deshalb rhetorisch gefragt werden: „[…] läßt sich im Rahmen ihrer Theorien [jener Benjamins und Adornos] ein einziges ästhetisches Urteil auffinden, mit dem nicht zugleich eine ganze Geschichtsphilosophie, mindestens aber eine Weltanschauung der Gesellschaft in Kauf genommen wäre?“348 Die Unvermeidbarkeit einer negativen Antwort auf diese Frage drückt das grundlegende Defizit der Adornoschen Kunstauffassung aus, die sich wiederum mit den eindeutigen Worten Reckis auf den Punkt bringen lässt: In weitaus stärkerem Maße noch als bei Benjamin gilt für Adornos Ästhetik, daß man keinen einzigen seiner zahlreichen Essays über künstlerische Probleme, sei es der bildenden Kunst, der Literatur, der Musik, in seinen Ergebnissen übernehmen oder auch nur in seinen grundlegenden Motiven verstehen kann, wenn man nicht zugleich die Bereitschaft mitbringt, sich auf die Kritische Theorie der Gesellschaft als die Grundlage seiner Urteile einzulassen.349
346 347 348 349
ÄT, 353. Vgl. ÄT, 34. Recki: Aura und Autonomie, 181. Recki: Aura und Autonomie, 182. Aufgrund der Abhängigkeit der ästhetischen von der gesellschaftlichen Analyse Adornos ist immer wieder die Unzulänglichkeit der Ästhetischen Theorie für Deutungsmöglichkeiten oder Zugänge zur modernen Kunst festgestellt worden. Zusammengefasst besteht der Vorwurf darin, dass es ihm nicht um die Kunst als Kunst gehe, sondern darum, was Kunst ermögliche, was sie bewirke, was sie verspreche und was sie zu hoffen gebe. (Vgl. Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos; Peter Bürger: Der AntiAvantgardismus in der Ästhetik Adornos. In: Peter Bürger (Hg.): Das Altern der Moderne. Schriften zur bildenden Kunst. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2015, 31–47; Josef Früchtl: Der Künstler als Held der Moderne. In: Georg Kohler; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2008, 103–118; Irving Wohlfahrt: Lager, Nach-Welt, Überleben. Aporie als die Grundfigur von Adornos Ästhetik. In: Georg Kohler; Stefan MüllerDoohm (Hg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2008, 155–198) Dagegen finden Autoren wie Holger Mathias Briel oder Martin Jay in der Ästhetischen Theorie geeignete Kategorien für eine fruchtbare Auseinandersetzung mit moderner und vor allem postmoderner Kunst. (Vgl. Holger Mathias Briel: Adorno und Derrida oder Wo liegt das Ende der Moderne? New York: Lang 1993; Martin Jay: The dialectical imagination. A History of the Frankfurt School and the Institute of Social Research, 1923–1950. Berkeley: University of California Press 1996)
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Für das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit, die nach der Bedeutung der Kunst für das Leben fragt, hat die Abhängigkeit der Kunsttheorie Adornos von gesellschaftskritischen Grundannahmen schwerwiegende Konsequenzen. Denn aufgrund dieser Einbettung erweist sich die rettende Potenzialität, die Adorno der Kunst zuweist, als paradox und in vielerlei Hinsicht als unerfüllbar. Dies liegt an der Ambiguität, wenn nicht sogar Inkohärenz des Praxisbegriffs Adornos, der an die von ihm behauptete Autonomie der Kunst gekoppelt ist. Kunstwerke stellen Adorno zufolge eine Rettung für das Leben dar, weil sie ihrer Natur nach in Kontrast zur zweckgerichteten, gesellschaftlichen Realität stehen und sich dadurch dieser Realität widersetzen. In dieser impliziten, konsequenten Resistenzkraft und nicht in der Präsentation „neue[r] Konstellation des Bestehenden“350 konkretisiert sich nach Adorno die eigentümliche Praxis der Kunst. In seinem Verständnis ist diese Praxisform weniger als Praxis, weil sie keinerlei Form von Engagement vorsieht; sie wird allerdings dadurch mehr als Praxis, weil sie implizit die ‚falsche Praxis‘ der Welt kritisiert.351 Die radikale Absenz konkreter Handlungsvorgaben oder normativer Prinzipien ist daher für den Praxisbegriff Adornos konstitutiv. Die absolute Abstraktheit dieses Praxisbegriffs, die der Forschungsliteratur zu Adorno nicht entgangen ist,352 ist im Rahmen der Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit nach der Bedeutung der Kunst für das Leben entscheidend. Denn aufgrund dieser Radikalität der vom Kunstwerk verkörperten Praxis löst sich sein rettendes Potenzial in einer utopischen Möglichkeit auf. Dies will bezüglich der rettenden Rolle der Kunst für das Leben heißen, dass Kunstwerke Selbstzeugnisse 350
351 352
Sonderegger: Ästhetische Thoerie, 421. In ihrer Deutung der Kunstkonzeption Adornos fasst Sonderegger den Wahrheitsgehalt des Kunstwerks zu konkret, insofern sie diesen Gehalt im Potenzial eines Kunstwerks, „einen kritischen Diskurs zu entzünden“ (Sonderegger: Ästhetische Thoerie, 423), konkretisiert wissen möchte. Somit vertritt sie – worauf sie selber aufmerksam macht – eine andere Ansicht als Geuss, der behauptet, dass es in Adornos Kunstauffassung bei der philosophischen Bedeutung des Wahrheitsgehalts eines Kunstwerks darum gehe, ob es ihm gelinge, eine Spalt – wie klein auch immer es sein mag – zwischen Sein und Anderssein zu öffnen. (Vgl. Geuss, Raymond: Art and Criticism in Adorno’s Aesthetics. In: Raymond Geuss (Hg.): Outside Ethics. Princeton: Princeton University Press 2009, 161–183; 117–119) Vgl. ÄT, 358–359. Der Praxisbegriff, dessen sich Adorno in seiner Ästhetischen Theorie bedient, um die Kunst als Praxis zu bestimmen, ist in der Forschungsliteratur vielfach kritisiert worden. In diesem Sinne konstatiert etwa Eckardt Lindner, dass Adorno das Neue, auf das die Kunst in seinem Verständnis hoffen lässt, nur formal, aber nicht inhaltlich bestimmen könne, da es sich im Moment seines Aufscheinens selbst auslösche (vgl. E. Lindner: Und noch einmal – das Einzigartige), während Sauerland im Praxisbegriff „de[n] schwächste[n] Punkt der ‚kritischen Theorie‘“ (Sauerland: Einführung in die Ästhetik Adornos, 15) sieht. Im Rahmen der Kritik am Praxisbegriff Adornos ist zudem die Betrachtung Romano Pocais erwähnenswert, da er – wie viele andere – Adorno nicht nur Radikalismus und Einseitigkeit vorwirft, sondern auch zeigt, wie Umberto Ecos Kunstanalyse als alternatives Paradigma gelten kann, da er „jene von Adorno vernachlässigte Seite der Dialektik von Autonomie und Gesellschaftsbezug moderner Kunst sehr genau berücksichtigt“. (Romano Pocai: Philosophie, Kunst und Moderne. Überlegungen mit Hegel und Adorno. Berlin: Xenomoi Verlag 2014, 378)
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nur der Möglichkeit einer Rettung sind, die sich jedoch nie verwirklicht, insofern sie sich nicht verwirklichen kann. Doch – um erneut mit Recki zu sprechen – „[e]in Paradigma zu begründen, mit dem sich dann nicht auch sinnvoll ein Paradigmenwechsel vollziehen läßt, scheint in der Tat ein steriles Unterfangen zu sein“.353 Die Gefahr, die die Inhaltslosigkeit dieser Praxiskonzeption birgt, besteht in einer Ontologisierung der Negativität,354 die jede mögliche Handlung von Vornherein verhindert. Dies hat zur Folge, dass die bestehende Situation, in der sich der moderne Mensch befindet, implizit aufrechterhalten wird: Die utopische Dimension des Besseren, die das Kunstwerk verspricht,355 führt den Menschen demzufolge paradoxerweise wieder in bestehende Zwangsverhältnisse zurück. Die Feststellung Adornos, dass „das ‚Ästhetische‘ unvergleichlich viel tiefer in die Wirklichkeit revolutionär […] eingreifen [wird] als die Klassentheorie“,356 ist angesichts dieser Ausführungen wenigstens fragwürdig. Sowohl die Auflösung des rettenden Potenzials der Kunst in einer utopischen Dimension als auch die Rückführung des Menschen in bestehende gesellschaftliche Verhältnisse werden – ebenso wie die Heteronomie des Autonomiebegriffs – von der Verankerung der Kunstauffassung Adornos in seinem Gesamtsystem der Kritischen Theorie bedingt. Denn die Unbestimmtheit des Praxisbegriffs, von der die beiden Phänomenen abhängen, erweist sich als naheliegende Konsequenz der Voraussetzung, die Adorno dem theoretischen Programm der Negativen Dialektik voranstellt: Im ‚Ganzen als Falschen‘ ist kein ‚richtiges Leben‘ möglich und daher auch kein ‚richtiges Handeln‘.357 Es gibt noch eine weitere Unklarheit in Adornos Kunstverständnis, die eine Rolle für die Bedeutung der Kunst für das Leben spielt und die es abschließend zu erwähnen gilt. Diese Unklarheit betrifft die Subjekte der ästhetischen Erfahrung – präziser noch die Möglichkeit ihrer konkreten Existenz. Es ist wiederum Recki, die ihre Aufmerksamkeit auf diese Problematik richtet und diesbezüglich von einer „fatale[n] Aporie“358 der Ästhetischen Theorie spricht, die auf unverständ353 354
355 356 357 358
Recki: Aura und Autonomie, 169. Vgl. Scholze: Kunst als Kritik, 129–130. Kritisch gegenüber Adornos Bevorzugung der Negativität äußert sich Scholze rhetorisch: „‚Nichtidentisches‘ ist […] auf jeden Fall das Bessere. […] Adorno unterteilt […] die Welt […] radikal dualistisch in das schlechte Seiende und das bessere Nichtseiende, in das Falsche und das, was Wahrheit besitzt.“ (Scholze: Kunst als Kritik, 130–131) Auch Arnhelm Neusüss spricht sich ironisch gegen die seiner Auffassung nach unvertretbare Negativität Adornos aus: „Nicht in der postiven Bestimmung dessen, was sie will, sondern in der Negation dessen, was sie nicht will, konkretisiert sich die utopische Intention am genauesten.“ (Arnhelm Neusüss: Schwierigkeiten einer Soziologie des utopischen Denkens. In: Arnhelm Neusüss (Hg): Utopie. Begriff und Phänomen des Utopischen. Neuwied/Berlin: Hermann Luchterhand Verlag 1972, 13–112; 33) Vgl. ÄT, 205. Theodor W. Adorno: Brief 34, 6. November 1934. In: Henri Lonitz (Hg.): Adorno. Benjamin. Briefwechsel 1928–1940, 72–77; 74. Vgl. A-GS4, 43; 55. Recki: Aura und Autonomie, 180.
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liche Weise zugleich die absolute Totalität des gesellschaftlichen Verblendungszusammenhangs sowie die Möglichkeit einer wenn auch kleinen Lücke im gesellschaftlichen System behauptet.359 Anders ausgedrückt: Entweder es besteht für den Menschen die Möglichkeit, sich dem Zwangssystem der Gesellschaft zu entziehen – dann hat die ästhetische Erfahrung ihr Subjekt und verliert zugleich ihr Primat als Statthalter der Wahrheit, weil andere Weisen des Entzugs vom System potenziell möglich werden; oder das Zwangssystem ist derart totalitär, dass der Mensch sich ihm nicht entziehen kann – dann ist auch durch die Kunst keine Rettung möglich. In Anbetracht dieser kritischen Punkte lässt sich schließlich feststellen, dass die unbewusste Abhängigkeit der Kunstauffassung Adornos von seinen grundlegend gesellschaftskritischen Absichten die größte Hürde in seiner Theorie darstellt, wodurch weder die Erschließung eines der Kunst immanenten Kunstbegriffs noch die Beantwortung der Frage nach der Bedeutung der Kunst für das Leben möglich ist. 1.3.1.3 Benjamins messianisch-platonische Wahrheitsauffassung Auch Benjamin erarbeitet seinen Begriff der Kunst auf Basis ontologisch bzw. sozial-ökonomisch begründeter Vorannahmen, die die Eigenständigkeit seines ästhetischen Diskurses in Frage stellen. Dieser Befund, der sich hinsichtlich der technisch reproduzierbaren Kunst rechtfertigen lässt, entkräftet auch die rein ästhetischen Ergebnisse seiner auratischen Kunstauffassung, da sie in ontologischen Vorannahmen, die der Kunst heteronom sind, verwurzelt bleiben. Dies lässt auch an den Ergebnissen seiner Erarbeitung der Bedeutung der Kunst für das Leben zweifeln. Schon 1936 äußert sich Adorno in einem Brief an Benjamin kritisch: „Sie unterschätzen die Technizität der autonomen Kunst und überschätzen die der abhängigen; das wäre vielleicht in runden Worten mein Haupteinwand.“360 In dieser allgemeinen Kritik, die die umfangreiche Auseinandersetzung Adornos mit dem Reproduktionsaufsatz Benjamins prägnant auf den Punkt bringt, wird der Kernpunkt einer Problematik berührt, in der es grundsätzlich um den Stellenwert der Kunst geht. Es handelt sich bei dieser Problematik um das scheinbar selbstverständliche Verhältnis von Autonomie und Heteronomie. Denn einerseits schließen sich diese beiden Begriffe gegenseitig aus, andererseits bleiben sie in einem Verhältnis reziproker Negation für ihre jeweilige positive Bestimmung aufeinander angewiesen. Dieses sonderbare Verhältnis führt dazu, dass Adorno aus der Perspektive seiner scheinbar autonomen Kunstauffassung Benjamin gegenüber den Vorwurf 359 360
Vgl. Recki: Aura und Autonomie, 179–180. Theodor W. Adorno: Brief 47, 18. März 1936. In: Henri Lonitz (Hg.): Adorno. Benjamin. Briefwechsel 1928–1940. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, 168–177; 173.
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der Heteronomie erhebt. Was meint Adorno in seinem Einwand nun aber mit ‚autonomer Kunst‘? Adorno scheint jene auratische Kunst zu meinen, deren ‚Verfall‘ Benjamin optimistisch bewertet. Doch weder die technisch reproduzierbare noch die auratische Kunst können als autonome Kunstformen verstanden werden – gleichgültig, ob man letztere durch die im Reproduktionsaufsatz angedeuteten Definitionen oder im größeren, erkenntnistheoretischen Rahmen der platonischmessianischen Wahrheitsauffassung Benjamins erschließt. Mit Blick auf die technisch reproduzierbare Kunst wird unmittelbar sichtbar, dass Benjamin nicht die Absicht verfolgt, eine ausschließlich ästhetische Betrachtung vorzunehmen. Stattdessen geht es ihm um die Formulierung neuer Begriffe für eine politische Funktion der Kunst. Trotz einigen Abweichungen von der Theorie Marx’, die Burkhardt Lindner hervorhebt,361 bleibt die theoretische Perspektive des Reproduktionsaufsatzes eindeutig marxistisch. Es kann daher nicht verwundern, dass Benjamin die Frage nach dem Stellenwert der Photographie als Kunst umgeht362 bzw. dass sein Interesse für den Film eher technisch und politisch als rein ästhetisch ist.363 Benjamin verfolgt in seinem Reproduktionsaufsatz vorrangig politische, nicht aber ästhetische Ziele. Er stellt sich nicht eine ontologische Frage nach dem Wesen der Kunst, sondern eine funktionale Frage nach ihrem politischen Wert und ihrer Möglichkeit, politisch genutzt zu werden. Liest man den Reproduktionsaufsatz nun aber ohne den einführenden, eindeutig politischen Hinweis Benjamins, „so bekommt der Kunstwerkaufsatz nicht nur einen seltsamen biederen Anfang, es hängt auch die Schlußperspektive in der Luft, die sich gegen den kommenden Krieg Hitlers richtet, den die faschistische Ästhetisierung der Politik vorbereitet“.364 In diesem Zusammenhang erweist sich die Kritik Reckis an der materialistischen Kunsttheorie Benjamin als fragwürdig. So erhebt sie Benjamin gegenüber den Vorwurf, die Kunst zugunsten eines politischen Ziels zu funktionalisieren.365 Dennoch bemerkt sie richtig: „Nur wenn vorab feststeht, daß dem Politischen ein besonderer Wert zukommt, kann auch seine evaluative Bevorzugung bei der Funktionsbestimmung der Kunst einleuchten.“366 Genau 361 362 363
364
365 366
Vgl B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 234. Vgl. Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 95. Wie Kramer bemerkt, sind „[g]roße Teile von Benjamins Emphase für den Film […] der Bestrebung geschuldet, mithilfe dieses Mediums ein neues Verhältnis zur Technik überhaupt zu finden“. (Kramer: Walter Benjamin zur Einführung, 97) (Vgl. zur Montageform, derer sich Benjamin in seinem Kunstwerksaufsatz bedient, und zur damit verbundenen Schockwirkung: Kramer: Montierte Bilder; Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, 103–106) B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 231. (Vgl. dazu auch: Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins) Tiedemann betont, dass alle kunstsoziologischen Arbeiten Benjamins „eine ausgebildete Theorie der Gesellschaft, die das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft zu explizieren hätte“ (Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, 125), schuldig bleiben. Vgl. Recki: Aura und Autonomie, 49–50. Recki: Aura und Autonomie, 50.
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dieser besondere Wert des Politischen wird von Benjamin in der Vorrede des Reproduktionsaufsatzes aber ausdrücklich behauptet. Geht man nun aber mit Benjamin vom politischen Horizont und dem entsprechenden Ziel seines Reproduktionsaufsatzes aus, zeigen sich in seiner Argumentation dennoch Inkongruenzen und Kritikpunkte, die die von Benjamin behauptete, pädagogische Funktion der Filmkunst in Frage stellen. Eine davon lässt sich mit den Worten Lienhard Wawrzyns als „Apologie der zerstreuten Rezeption“367 benennen, womit Benjamin die progressive Wirkung des Films auf die Masse begründet. Doch auch Günther Anders, Konrad Paul Liessmann, Wolfgang Fritz Haug oder Dieter Wellershoff drücken begründete Skepsis an der Hoffnung, die Benjamin hinsichtlich des Filmpotenzials hegt, aus.368 Sie betonen, dass die Haltung des Rezipienten mehr eine Regression, die sich funktionell in den Rahmen einer „Illusionsindustrie“369 einfüge, als eine Progression hervorbringe. Die ‚Rezeption in der Zerstreuung‘, die Benjamin zufolge vom Film positiv genutzt werden kann und womit er das rettende Potenzial der technisch reproduzierbaren Kunst begründet, schafft nach Liessmann „nicht eine demokratische Masse, sondern das Individuum wird ein ‚divisum‘“,370 das in einen Zustand „künstlich erzeugte[r] Schizophrenie“371 verfällt, anstatt, wie Benjamin hofft, zu einem Selbstbewusstsein zu gelangen. Dieser Befund werde deshalb zur Voraussetzung für die Ausbeutung der zerstreuten Masse. Auch Recki sieht diese Gefahr, die sie in Anlehnung an Adorno durch die Infragestellung des Unterschieds zwischen der Ästhetisierung der Politik und der Politisierung der Kunst ausdrückt.372 Wo dieser Unterschied aber hinfällig wird, wird das rettende Potenzial der Filmkunst vollkommen aufgehoben. In diesem Zusammenhang ist eine weitere, für die rettende Kraft der Filmkunst grundlegende Eigenschaft problematisch: ihre Massenzugänglichkeit. In der Konzeption Benjamins wird der Film durch den Verfall der Aura und des Kultwerts für eine breite Masse zugänglich. Doch Rolf Tiedemann und Dieter Rudolf Knoell argumentieren, dass auch der Film eine auratische Kunstform sei. Während die von Knoell versuchte Zuweisung eines Kultwerts zum Film fragwürdig bleibt, da er seine Argumentation in Anlehnung an einen von Benjamin differierenden Ritualbegriff ausarbeitet,373 erweist sich seine Idee einer Präsenz der Aura im Film als überzeugend. Denn sowohl Knoell als auch Tiedemann entfalten ihre 367 368
369 370 371 372 373
Lienhard Wawrzyn: Walter Benjamins Kunsttheorie. Kritik einer Rezeption. Darmstadt: Luchterhand 1973, 56. Vgl. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, 97–212; Konrad Paul Liessmann: Philosophie der modernen Kunst. Eine Einführung. Wien: WUV 1999; Dieter Wellershoff: Die Auflösung des Kunstbegriffs. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986; Wolfgang Fritz Haug: Kritik der Warenästhetik. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009. Haug: Kritik der Warenästhetik, 178. Liessmann:Philosophie der modernen Kunst, 136. Anders: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. I, 137. Vgl. Recki: Aura und Autonomie, 140. Vgl. Knoell: Ästhetik zwischen kritischer Theorie und Positivismus, 39–43.
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Überlegungen anhand des Benjaminschen Aurabegriffs und zeigen aufbauend auf verschiedenen Ausschnitten des Benjaminschen Gesamtwerks die auratische Gestalt der Filmkunst.374 Sollte nun aber auch der Film eine auratische Gestalt aufweisen, wie es Knoell und Tiedemann annehmen, ist es nicht länger relevant, ob Benjamin dem Film die Aura abspricht oder ob er, in den Worten Burkhardt Lindners, die „Erfahrung der Aurakrise“375 feststellt. Entscheidend ist vielmehr, dass der Film seine rettende Kraft für den Menschen, die gerade in seiner nichtauratischen Verfügbarkeit gründet, durch seine auratischen Gestalt verliert. Beträchtliche Schwierigkeiten für die Frage nach der Rolle der Kunst für das Leben bereitet daneben auch die auratische Kunstauffassung Benjamins. So unbegründet die im Rahmen einer rein ästhetischen Problemstellung aufgeworfenen Vorbehalte Reckis gegenüber der Ästhetisierung der Politik, die sich Benjamin vornimmt, sein mögen, so treffend sind sie dagegen mit Blick auf die auratische Kunst. Sie lassen einen ersten heteronomen Zug in der Benjaminschen Definition der auratischen Kunst erkennen. Denn auch die auratische Kunst bleibt im Kontext des Reproduktionsaufsatzes an ihre kultische Funktion gebunden und daher durch funktionale Verhältnisse definiert.376 Auch die auratische Kunst erweist sich im Kontext des Reproduktionsaufsatzes daher als durch eine Autonomie gekennzeichnet, die, um sich gegen herrschende Produktionsbedingungen behaupten zu können, einer kultischen Funktion nachgeben muss. Man kann deshalb feststellen, dass diese Autonomie heteronom ist. Als heteronom erweist sich die auratische Kunst bei Benjamin jedoch nicht nur in seinem Reproduktionsaufsatz. Verschiedene Perspektiven einnehmend und unterschiedliche Hauptinteressen verfolgend, verdeutlicht die Forschungsliteratur zu Benjamin – explizit oder implizit – die Einbettung des Kunstdiskurses in seinen erkenntnistheoretischen Grundannahmen. Nach einem vorsichtigen Versuch, Kunst und Philosophie im Denken Benjamins hinsichtlich der Bestimmung ihres jeweiligen Wahrheitsgehalts voneinander zu differenzieren, sieht etwa Speth in der Kunst eine Notlösung für die von der Philosophie aufgeworfenen und für sie doch 374 375
376
Vgl. Knoell: Ästhetik zwischen kritischer Theorie und Positivismus, 32–35; Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, 110–112. B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 238. Burkhardt Lindner ist der Auffassung, dass Benjamins Intention nicht darauf gerichtet sei, die Aura ideologiekritisch zu entzaubern: „Der Aurakrise korrespondiert nicht ein kritisches Bewußtsein ihrer Ideologizität, sondern die Erfahrung der Aurakrise. Mehr noch: diese Krise ermöglicht, daß Aura als etwas Erfahrbares thematisierbar wird […].“ (B. Lindner: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, 238) Recki verweist darauf, dass Benjamin selbst vom ‚parasitären Dasein‘ der Kunst spricht: „Gerade die Fundierung der Werke im Ausstellungswert […] macht zugleich ihre Fundierung in einem gänzlich neuen Gebrauchswert möglich, indem sie das politische Engagement der Kunst erlaubt […]. [E]ine Funktion der Kunst [wird] durch eine andere abgelöst. […] [B]lickt man unter dem Gesichtspunkt ästhetischer Autonomie auf die Kunst, so erscheint ihre Fundierung in jeder der beiden Formen ‚parasitär‘.“ (Recki: Aura und Autonomie, 50)
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unbeantwortbaren Fragen, bevor er eine Ästhetisierung der Wahrheit feststellt.377 Dagegen plädiert Steiner bezüglich der Wahrheitsproblematik für eine Sonderstellung der Philosophie, die in den Vordergrund des Benjaminschen Diskurses rücke, wenn es um die „Frage nach der Legitimität des Wahrheitsanspruches der Kunstwerke“378 gehe. Bernd Witte vertritt daneben die These einer philosophischen Indienstnahme der Kunst durch Benjamin, da er im Ausdruck ‚Ideal des Problems‘ den Versuch sieht, „eine formale Beschreibung des höchsten Erkenntnisziels der Philosophie im Medium der Kunst dar[zustellen]“.379 Abgesehen von der Akzentuierung verschiedener Aspekte zeigen die Schlussfolgerungen dieser Autoren, die nur einige wenige Beispiele darstellen, dass Benjamin seine Kunstauffassung in enger Verbindung mit nicht-künstlerischen Aspekten ausarbeitet, von denen – und dies ist entscheidend – das Wesen der Kunst abhängt. Weder der Wahrheitsanspruch der Kunst, auf welchem ihre Einzigartigkeit unter den Phänomenen der geschichtlichen Welt gründet, noch ihre rettende Funktion für das Leben können in Benjamins Verständnis von seiner platonisch-messianischen Wahrheitsauffassung gelöst werden. Sowohl ihren Wahrheits- als auch ihren Autonomieanspruch entnehmen Kunstwerke Benjamin zufolge der Ideenwelt, insofern sie phänomenale Erscheinungen eben dieser Welt sind. Insofern Ideen wahre, absolute, voneinander unabhängige und irreduzible Einheiten seien, zeigen sich auch Kunstwerke als wahre, absolute, voneinander unabhängige Gestalten. Und wie die Idee eine „metaphysische[n] Chiffre“380 einer theologisch-platonischen Konzeption der Wahrheit ist, bleibt auch Benjamins auratische Kunstverständnis mit den Ideen zusammen von dieser Konzeption abhängig.381 Diesbezüglich ist im Gegensatz zu einer von Speth behaupteten Ästhetisierung der Philosophie die Feststellung zulässig, dass die auratische Kunst in Benjamins Denken im Rahmen kategorialer Strukturen eines bestimmten erkenntnistheoretischen Systems zu deuten ist. Dementsprechend erschließt sich die rettende Rolle, die Benjamin der Kunst in der modernen 377 378 379 380 381
Vgl. Speth: Wahrheit und Ästhetik, 102–103. Steiner: Die Geburt der Kritik aus dem Geiste der Kunst, 10. Bernd Witte: Walter Benjamin, der Intellektuelle als Kritiker. Untersuchungen zu seinem Frühwerk. Stuttgart: J.B. Metzler 1976, 45. Holz: Idee, 475. Die starke Abhängigkeit der auratischen Kunstauffassung Benjamins von seinem erkenntnistheoretischen System hat dazu geführt, dass in einigen Forschungstexten seine Konzeption ausschließlich auf sprachliche Kunstwerke beschränkt gesehen wurde. Dies ist zum Beispiel die These Jochen Hörischs. (Vgl. Jochen Hörisch: Objektive Interpretation des schönen Scheins. In: Norbert W. Bolz; Richard Faber (Hg.): Walter Benjamin. Profane Erleuchtung und rettende Kritik. Würzburg: Königshausen & Neumann 1985, 50–66; 56–59) Die Auffassung Hörischs wird von jener Brüggemanns widerlegt, der in der Einleitung zu Spiel, Farbe und Phantasie die Bedeutung von Bildern für Benjamins Kunstauffassung hervorhebt. (Vgl. Heinz Brüggemann: Walter Benjamin über Spiel, Farbe und Phantasie. Würzburg: Königshausen & Neumann 2011, 9–12) Die These Hörischs behält dennoch hinsichtlich ihrer grundlegenden Verbindung von Kunstwerken und Ideen ihre Valenz und belegt so die Verortung der auratischen Kunstauffassung Benjamins in den sprachphilosophischen Grundannahmen seines Denkens.
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Welt zuschreibt, nur in Bezug auf die Ideenwelt: Kunstwerke retten die Phänomene, weil sie als Erscheinungen der Ideenwelt die Kraft haben, die ‚historischen Sachgehalte in sich aufzunehmen und sie in Wahrheitsgehalte umzuwandeln‘.382 Das größte Defizit der auratischen Kunstauffassung Benjamins hinsichtlich der Frage nach der Rolle der Kunst für das Leben besteht daher nicht, wie Tiedemann argumentiert, in der Ohnmacht der Kunstwerke, die das Wahrheitsversprechen, das sie sind, nicht einhalten.383 Das Defizit besteht vielmehr in ihrer radikalen Einbettung in ein ihr äußerliches, metaphysisches System. 1.3.2 Ein der Kunst immanenter Autonomiebegriff Ausgehend davon, dass die Kunstauffassungen Heideggers, Adornos und Benjamins in ihren jeweiligen Systemen verortet sind und entsprechend davon abhängig bleiben, gilt es nun, sich auf die Suche nach einem Weg zu begeben, auf welchem die Kunst von der Kunst her gedacht werden kann. Trotz der aufgezeigten Grenzen sind es dennoch gerade die von den drei Autoren entwickelten Theorien, die diesen Weg eröffnen. Ein erster Hinweis darauf besteht in ihrer gemeinsamen Anstrengung, das rettende Potenzial der Kunst auf ihrer Autonomie aufzubauen. Abgesehen von den Aspekten, die in ihren jeweiligen Vorhaben kritisch zu bewerten sind, lässt diese Anstrengung mit großer Plausibilität vermuten, dass der Kunst eine gewisse Autonomie eigen ist. Diese soll bzw. darf aber nicht von der Kunst fremden Grundannahmen hergeleitet werden. Vielmehr soll ein der Kunst immanenter Autonomiebegriff erschlossen werden. Es sei vorweggenommen, dass dieser Begriff sich vorläufig denken lässt, indem man einerseits auf einen zu naiven Anspruch auf Autonomie verzichtet und andererseits mit einem dadurch bewirkten Unbehagen vertraut wird. Was dies bedeutet, werden die folgenden Ausführungen klären. Der Anspruch auf radikale Absolutheit scheint den der Kunst immanenten Autonomiebegriff auszuzeichnen. Auch die Kritik, die an den Kunstauffassungen Heideggers, Adornos und Benjamins geübt wurde, lässt die Vermutung zu, dass die Autonomie der Kunst absolut zu sein hat. Denn es wurde gerade die Heteronomie des Autonomiebegriffs der Kunst an diesen drei Kunstkonzeptionen kritisiert. Es wäre dennoch zu kurz gegriffen, würde man versuchen, diese Heteronomie in ihr Gegenteil umzukehren und die Kunst sowie ihre Ausdrucksformen gänzlich immanent ohne jeglichen Bezug zur Lebenswelt des Menschen zu betrachten, um ihre absolute Autonomie zu zeigen und geltend zu machen. Denn die Kunst ist eine kulturelle Ausdrucksform, deren Mittel, Inhalte und Gestalten wie alle anderen menschlichen Ausdrucksformen geschichtlich wandelbar und ge382
383
Vgl. GW, 172. „Es ist der Gegenstand der philosophischen Kritik zu erweisen, daß die Funktion der Kunstform eben dies ist: historische Sachgehalte, wie sie jedem bedeutenden Werk zugrunde liegen, zu philosophischen Wahrheitsgehalten zu machen.“ (UDT, 358) Vgl. Tiedemann: Studien zur Philosophie Walter Benjamins, 126.
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sellschaftlich bestimmt sind. Von dieser historischen und sozialen Vermittlung kann keine Kunsttheorie – nicht einmal eine solche, die eine absolute Autonomie der Kunst vertreten will – absehen: Kunstwerke sind durch und durch vermittelte Gebilde und Phänomene. Ihre Autonomie – so absolut sie auch sein mag – lässt sich daher weder als Negation dieser Vermittlung noch jenseits dieser Vermittlung behaupten. Denn der absolute Autonomieanspruch, den die Kunst erheben kann, setzt diese Vermittlung notwendigerweise voraus und lässt sich nur in Bezug auf diese unüberwindbare Vermittlung denken und entfalten.384 Die daraus entstehende, anthropologische Komponente jedes ästhetischen Diskurses bewirkt das Unbehagen, das mit dem Vorhaben, einen der Kunst immanenten Autonomiebegriff zu finden, verbunden ist. Denn der Versuch, sich von einer der Kunst heteronomen Autonomie zu lösen, führt wiederum über ein ästhetisches Forschungsfeld hinaus, insofern die Kunst in keiner Weise jenseits der „vielgestaltigen Fäden, aus denen das Symbolnetz, das Gespinst menschlicher Erfahrung gewebt ist“,385 denkbar ist. Deshalb verlangt das hier angestrebte Ziel, einen der Kunst immanenten Autonomiebegriff zu gewinnen, die Erschließung der anthropologischen Dimension, in der allein ein künstlerischer Ausdruck möglich ist. Die Kunst selbst fordert, ausgehend vom menschlichen Leben befragt zu werden. Diese der Kunst immanente Forderung, ausgehend von einer anthropologischen Perspektive befragt zu werden, soll nicht als eine Alternative zu den Ansätze Adornos, Benjamins und Heideggers verstanden werden. Es geht nicht darum, die seynsgeschichtliche, die sozio-ökonomische und die messianisch-platonische Perspektive der drei Autoren durch eine anthropologische zu ersetzen, die die Frage nach der Kunst ebenfalls auf einen ihr heteronomen Ausgangspunkt stützen würde. Vielmehr stellt die anthropologische Perspektive, insofern sie von der 384
385
Diesbezüglich zeigt Hog durch einen zusammenfassenden Überblick über die zeitgleiche Entwicklung der Ästhetik seit Baumgarten und jene der modernen Konzeption des Subjekts, wie sich Ästhetik und Anthropologie „im reziproken Austausch herausbildeten“. (Hog: Die anthropologische Ästhetik Arnold Gehlens und Helmuth Plessners, 21) In Anlehnung an Plessner und Gehlen und zurückgreifend auf Cassirer stellt Hog die Unerlässlichkeit der anthropologischen Frage für jeden ästhetischen Diskurs und folglich auch für die Verortung jeder möglichen Ästhetik in einer kulturellen Dimension fest. (Vgl. Hog: Die anthropologische Ästhetik Arnold Gehlens und Helmuth Plessners, 21–26; Eckhard Meinberg: Anthropologie und Ästhetik. Ein unzertrennliches Duo. In: Manfred Lämmer; Tim Nebelung (Hg): Dimensionen der Ästhetik. Festschrift für Barbara Ränsch-Trill. Sankt Augustin: Academia 2005 101–123) Diese Sichtweise wird von der vorliegenden Forschungsarbeit vorbehaltlos geteilt. Die kulturelle Dimension, die von jeder möglichen Beschäftigung mit der Kunst beachtet werden muss, wird im Verlauf der Argumentation ausführlich behandelt und erschlossen. An dieser Stelle will die Betonung der kulturellen Dimension dennoch davor warnen, die Ausarbeitung eines zu absoluten Autonomiebegriffs der Kunst zu bezwecken. Denn die Kunst ist – anders als Menke in der Ausarbeitung seiner Bestimmung der Kunst als Kraft behauptet (vgl. Christoph Menke: Die Kraft der Kunst. Berlin: Suhrkamp 2014, 7) – Teil der Gesellschaft. Wie das Verhältnis von Kunst und Gesellschaft zu verstehen ist, wird sich durch eine Auseinandersetzung mit der Kultur an späteren Stellen zeigen. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Hamburg: Meiner 1996, 50.
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Kunst als kulturellem Produkt gefordert wird, die einzig immanente Betrachtungsmöglichkeit der Kunst dar. Der Unterschied, der zwischen den Ansätzen Adornos, Benjamins und Heideggers und dem hier vorgeschlagenen, immanenten Zugang zur Kunst besteht, lässt sich besonders eindringlich durch Perniolas Kritik an der ‚Erkenntnisästhetik‘ erläutern. Die Erkenntnisästhetik stellt Perniola zufolge einen der vier Begriffsbereiche dar, die die gesamte Ästhetik auszeichnen.386 Obwohl der Begriff ‚Erkenntnis‘387 viele verschiedene Bedeutungen aufweist, besteht die Gemeinsamkeit der Ansätze der Erkenntnisästhetik darin, dass der Kunst ein erkenntnistheoretischer Wert zugesprochen wird.388 In diesem Sinne lassen sich die Kunstauffassungen Heideggers, Adornos und Benjamins der Erkenntnisästhetik zuordnen.389 „Die Frage, die sie sich alle stellen“ – fasst Perniola zusammen – „kann wie folgt formuliert werden: Welche Art von Erkenntnis trägt die ästhetische Erfahrung?“390 Diese Frage offenbart jedoch ein rein philosophisches, jedoch nicht ein künstlerisches Anliegen. Davon ausgehend kann festgestellt werden, dass das Denken im Rahmen der Erkenntnisästhetik selbstreferentiell und nicht auf die Kunst gerichtet ist, oder mit den Worten Perniolas: „In der Erkenntnisästhetik bemüht sich die Philosophie nicht darum, etwas anderes als sich selbst zu verstehen, sondern sie sucht und findet sich selbst.“391 Dies konnte auch durch die Betrachtung der Kunstauffassungen Adornos, Benjamins und Heideggers gezeigt werden: Ihre jeweiligen Fragen an die Kunst entfalten sich innerhalb der Grenzen, die durch die Grundannahmen ihres jeweiligen Denkens bereits festgelegt sind. Diese Grenzen legen die potentiellen Antworten auf die Frage nach der Kunst von vornherein implizit fest. Die Suche nach einer anthropologischen Perspektive, von der ausgehend die Kunst einzig und allein adäquat untersucht werden kann, zielt nicht darauf ab, neue (anthropologische) Grenzen für die Analyse der Kunst zu ziehen oder die Kunst an andere (anthropologische) Zwecke zu binden, die die ontologischen, ökonomischen oder erkenntnistheoretischen der Kunstauffassungen Adorno, 386 387
388 389
390
391
Vgl. Perniola: L’estetica contemporanea, 9–10. Perniola spricht z.B. von intuitiver Erkenntnis bei Croce, von intentionaler Erkenntnis bei Husserl, Ingarden und Hartmann, von hermeneutischer Erkenntnis bei Gadamer etc. (Vgl. Perniola: L’estetica contemporanea, 83–119) Vgl. Perniola: L’estetica contemporanea, 84. Dabei gilt es zu präzisieren, dass Perniola nur Adorno zu den Autoren der Erkenntnisästhetik zählt. Heidegger und Benjamin zählen für ihn hingegen zu den Autoren, die die Ästhetik des 20. Jahrhunderts als ‚Ästhetik der Differenz‘ auszeichnen und eine neue Entwicklung der Ästhetik bewirkt haben. (Vgl. Perniola: L’estetica contemporanea, 160–174; 176– 179) Diese Differenzierung ist zulässig, dennoch lassen sich auch Heidegger und Benjamin, insofern sie der Kunst Anspruch auf Wahrheit zusprechen, der Erkenntnisästhetik zuordnen. Perniola: L’estetica contemporanea, 84: „La domanda che tutti costoro si pongono può essere formulata così: di quale tipo di conoscenza è portatrice l’esperienza artistica?“ [Übers. G.C.] Perniola: L’estetica contemporanea, 85: „Nelle estetiche conoscitive la filosofia non compie le sforzo di intendere ciò che è altro da se stessa, ma cerca e trova se stessa.“ [Übers. G.C.]
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Benjamins und Heideggers ersetzen. Vielmehr zielt eine solche Perspektive, die von der Kunst selbst als kulturellem Produkt gefordert wird, darauf ab, die Kunst unabhängig von allen ihr fremden Zwecken zu betrachten und dadurch eine immanente Untersuchung der Kunst zu ermöglichen. Von dieser Prämisse ausgehend, wird im Folgenden versucht, eine Bestimmung des menschlichen Lebens zu gewinnen, die sich jenseits ontologisch, ökonomisch oder erkenntnistheoretisch bestimmter Systeme behaupten lässt. Anhand welcher Wesenszüge sich eine solche Definition des menschlichen Lebens gewinnen lässt, wird im Folgenden wiederum in Anlehnung an das Denken Heideggers, Adornos und Benjamins erarbeitet. Denn ihre zeitkritischen Diagnosen verweisen mehr oder weniger direkt auf Aspekte des menschlichen Lebens, die es ermöglichen, jenseits geschichtlicher Kontingenz jene Charakteristika, die das Leben des Menschen auszeichnen, auszumachen. 1.3.3 Ein vorläufiger Lebensbegriff In der Darstellung des kritischen Zustands, in dem sich der Mensch des modernen Zeitalters laut den Zeitdiagnosen Heideggers, Adornos und Benjamins befindet, hat sich ein Entmenschlichungsprozess als gemeinsamer Aspekt der drei Auffassungen herausgestellt. Wie der Ausdruck ‚Entmenschlichung‘ bereits andeutet, zeichnet sich dieser Prozess dadurch aus, dass er sich entgegen der menschlichen Natur vollzieht. Aus diesem impliziten Gegenprozess treten dennoch ex negatio einige Wesenszüge hervor, die dazu beitragen, zumindest vorläufig einen dem menschlichen Leben immanenten Lebensbegriff zu denken. Als der erste dieser Wesenszüge kann jene ‚Sinnhaftigkeit‘, die sich aus den vielfältigen Verweisen Adornos auf die „Welt der Magie“392 in der Dialektik der Aufklärung erschließen lässt, genannt werden. Denn Adornos Skizzierung der magischen Zeiten zeigt, wie sich der Mensch von Natur aus sowohl gegenüber den nichtmenschlichen Phänomenen als auch im Verhältnis zu anderen Menschen als verstehendes-auslegendes Wesen behauptet. Der ständige Versuch des Menschen, das Unverfügbare der nicht-menschlichen Phänomene greifbar und begreifbar zu machen, den Adorno als typisch für die ‚Welt der Magie‘ bezeichnet, zeugt von einem natürlichen Bedürfnis, strukturierte Sinnzusammenhänge herzustellen. Der nicht weniger wichtige Verweis Adornos auf Systeme sprachlichen Ausdrucks und organisierte Formen des Zusammenlebens, die in seinem Verständnis die magische Entwicklungsstufe der Menschheit auszeichnen, belegt die Sinnhaftigkeit des Menschen immer wieder.393 Entscheidend an der Adornoschen Darstellung der ‚Welt der Magie‘ für das vorliegende Vorhaben ist, dass diese vormythische Welt in seinem Verständnis auf eine Vorzeit verweist, in der sowohl die Einheit der Natur 392 393
DA, 26. Vgl. zu Adornos Charakterisierung der ‚Welt der Magie‘: DA, 25–27; 30; 33–34; 37; 48.
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als auch die Einheit des Subjekts, die den Mythos und konsequenterweise auch die Aufklärung auszeichnen, nicht vorausgesetzt waren.394 Entsprechend handelt es sich bei der Zeit der Magie Adorno zufolge um jene archaische Epoche der Menschheitsgeschichte, die noch nicht von den Folgen der Entstehung des Privateigentums und daher des positiven Denkens betroffen war. Deshalb können die Verhaltensweisen des Menschen der magischen Vorzeit als ihn auszeichnende Eigenschaften verstanden werden. Aufgrund dessen lässt sich die soeben dargelegte Sinnhaftigkeit, die dem archaischen Menschen eigen ist, als eine anthropologische Konstante feststellen. Daran anschließend drängt sich die Vermutung auf, dass die Ausarbeitung eines dem menschlichen Leben immanenten Lebensbegriffs den Menschen als Sinnwesen zu berücksichtigen hat. Auch in der Benjaminschen Betrachtung der modernen Gesellschaft tritt ein Merkmal der menschlichen Lebensform hervor, das sich als anthropologische Konstante benennen lässt. Im Unterschied zu Adorno geht Benjamin explizit auf diese Konstante ein. Sie besteht in einer den Menschen auszeichnenden Positionalität. Damit ist der geschichtliche, kulturelle Standort gemeint, den jeder Mensch stets ‚besetzt‘, der aber nicht als ein physischer, dreidimensionaler Raum verstanden werden darf. Vielmehr handelt es sich um eine geschichtlich und kulturell festgelegte Positionierung jedes Einzelnen. Benjamin bringt damit zum Ausdruck, dass jeder Mensch schon immer in einer kulturell und geschichtlich bestimmten Dimension verankert ist. Angesichts der Unmöglichkeit, aus dieser Verankerung auszubrechen, betont Benjamin immer wieder die Notwendigkeit der Berücksichtigung dieser Bedingtheit des Menschen durch jede Form der Begegnung mit dem menschlichen Leben. Insofern lässt sich ein weiterer Aspekt gewinnen, der für die Ausarbeitung eines dem menschlichen Leben immanenten Lebensbegriffs von entscheidender Bedeutung ist: die kulturelle und geschichtliche Bedingtheit des menschlichen Lebens. Für den Versuch, einen dem menschlichen Leben immanenten Lebensbegriff zu erarbeiten, spielt auch Heidegger eine besondere Rolle. Schon in seiner kritischen Zeitdiagnose lässt sich ein Aspekt erkennen, um den sich die Bestimmung des gesuchten Lebensbegriff wesentlich dreht: die Selbstbezüglichkeit des Menschen. Da er die ‚höchste Gefahr‘ für den Menschen darin sieht, dass er keinen Zugang zu seinem Selbst finden kann, verknüpft Heidegger die Unvermeidlichkeit einer wie auch immer gearteten Selbstbezüglichkeit implizit mit dem menschlichen Leben. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, würde man den Beitrag Heideggers zur Suche nach einem Lebensbegriffs alleine auf diesen Aspekt beschränken. Denn anders als bei Adorno und Benjamin stellt die Frage nach dem Dasein zumindest bis in die 1920er Jahre eines der primären Interessen Heideggers dar.
394
Vgl. DA, 25–26.
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Aus diesem Grund wird im folgenden Kapitel versucht, in Anlehnung an die von Heidegger in Sein und Zeit erarbeitete ‚Analytik des Daseins‘ den gesuchten Lebensbegriff zu gewinnen. Dieser Begriff soll dem Leben immanent sein und sich auf keinerlei ihm heteronome Grundannahme stützen. Die Aufgabe, die es im Folgenden zu erfüllen gilt, besteht demzufolge darin, das Leben vom Leben her zu denken. Die bisherigen Betrachtungen haben dafür bereits einige Aspekte vor Augen geführt, die als Bezugspunkte, Wegweiser und auch als potenzielle Bestätigungen des herauszuarbeitenden Begriffs dienen könnten: eine grundlegende Sinnhaftigkeit, eine unüberwindbare Bedingtheit und eine notwenige Selbstbezüglichkeit des menschlichen Lebens.
1.4 Resümee und Ausblick Das Forschungsvorhaben der vorliegenden Untersuchung besteht in dem Versuch, in Anlehnung an die Kunstauffassungen Heideggers, Adornos und Benjamins die Bedeutung der Kunst für das menschliche Leben zu erschließen. Zu diesem Zweck wurden im ersten und zweiten Abschnitt dieses Kapitels die jeweiligen Thesen der drei Autoren zusammenfassend dargestellt. Dadurch konnte gezeigt werden, dass die drei Autoren der Kunst eine rettende Kraft für das menschliche Leben zusprechen, die sie auf eine absolute Unabhängigkeit der Kunst von jeglichen entmenschlichenden Strukturen und Mechanismen, die ihrem Verständnis zufolge den Zustand des modernen Menschen auszeichnen, gründen. Eine vornehmlich kritische Analyse hat im Anschluss an diese rekapitulierenden Darstellungen die Problematiken der Kunstauffassungen der drei Autoren hervorgehoben. Diese bestehen vor allem darin, dass der Autonomiebegriff der Kunst insofern als heteronom zu bezeichnen ist, als er im Rahmen ontologischer, ökonomischer oder erkenntnistheoretischer Grundannahme entwickelt wird und davon abhängig bleibt. Dieser Befund hat auch Zweifel an den Ergebnissen der von den drei Autoren vorgenommenen Analysen aufgeworfen, da ihre Perspektiven auf das Leben in einer geschichtlichen Kontingenz verhaftet bleiben. Diese kritische Feststellung hat die vorliegende Untersuchung dazu veranlasst, die Frage nach der möglichen Gewinnung eines der Kunst immanenten Autonomiebegriffs zu stellen, der unabhängig von jeglichen ihm heteronomen Momenten zur Erschließung des Wesens der Kunst führen kann. Der Versuch, diese Frage zu beantworten, veranlasste dazu, zuvor das menschliche Leben zu bestimmen. Denn die Kunst als kulturelle Ausdrucksform verlangt danach, vom menschlichen Leben her gedacht und befragt zu werden. Deswegen wurde die Frage nach dem Autonomiebegriff der Kunst vorläufig eingeklammert und entsprechend der Blick auf das menschliche Leben gerichtet. Es soll im Folgenden nun darum gehen, einen dem Leben immanenten Lebensbegriff zu gewinnen, der die Möglichkeit eröffnet, die Autonomie der Kunst als kulturelles Phänomen zu untersuchen. Angesichts dieses Vorhabens wird sich 125
das anschließende Kapitel in zwei Argumentationsschritte gliedern. In Anlehnung an Heideggers ‚Analytik des Daseins‘ und insbesondere mit Fokus auf das von ihm herausgearbeitete Strukturganze der Sorge werden in einem ersten Teil (Das Strukturganze des Daseins: die Sorge) jene Wesenszüge beleuchtet, die das menschliche Leben ausmachen. Dabei wird sich zeigen, dass sich die Eigentümlichkeit des menschlichen Lebens in der Spannung zwischen der Unverfügbarkeit seines eigenen Selbst und einer unüberwindlichen Bedingtheit verwirklicht, die jeder Mensch bei der Gestaltung des je einigen Lebens aushalten muss. Im Anschluss daran werden im zweiten Teil (Die Welt) die Mechanismen und Strukturen, nach denen sich die konkrete Gestaltung des Lebens in der Welt bei den Dingen vollzieht, betrachtet. Daraus wird sich ein Verständnis der menschlichen Welt als Kultur ergeben, die die für die Frage nach dem Autonomiebegriff der Kunst erforderliche kulturelle Dimension offenlegt.
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2 Das Menschsein Es stellt sich nun die anthropologische Frage nach dem Wesen des Menschen, die es im Folgenden in Anlehnung an die ‚Analytik des Daseins‘ zu beantworten gilt. Denn trotz seiner expliziten Distanzierung von der philosophischen Anthropologie1 entfaltet sich bei Heidegger, wie Emil Angehrn zeigt, „gerade im Ausgang von der hermeneutisch-existenzphilosophischen Wendung, losgelöst von ‚inhaltlichen‘ Aussagen [eine anthropologische Perspektive] über den Menschen […]“.2 Die ‚Analytik des Daseins‘, die Heidegger in Sein und Zeit ausarbeitet, lässt sich eindeutig im Rahmen seiner Suche nach dem Sinn des Seins verorten.3 Dennoch erweist sich die Heideggersche Analytik für die Beantwortung der anthropologischen Frage nach dem Menschen als besonders interessant, weil Heidegger das Dasein in Sein und Zeit als Vorbereitung der Seinsfrage keineswegs beliebig wählt. Vielmehr erweist sich das Dasein aufgrund seiner existenzial-ontologischen Konstitution als geeigneter Ausgangspunkt für die weitere Suche nach dem Sinn des Seins: Die Klärung der Frage nach dem Sinn des Seins kann nur im Rückgang auf das einzige Seiende, das überhaupt Sein verstehen kann, erfolgen.4 Das im1
2
3
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Vgl. zur Kritik Heideggers an Anthropologie, Psychologie und Biologie: SZ, 61–67; vgl. für eine Zusammenfassung der Kritik Heideggers an der Philosophischen Anthropologie, die sich in Heideggers allgemeinen Kritik am Cartesianischen Subjekt in einer ersten Phase und im Rahmen seiner Kulturkritik in einer zweiten Phase verorten lässt: Michael Großheim: Philosophische Anthropologie. Von der Abwehr der anthropologischen Subsumption zur Kulturkritik des Anthropozentrismus: Scheler, Plessner, Gehlen. In: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, 341–345. Emil Angehrn: Die Fragwürdigkeit des Menschen. Zwischen Anthropologie und Hermeneutik. In: Ingolf Dalfehrt; Andreas Hunziker (Hg.): Seinkönnen. Der Mensch zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit. Tübingen: Mohr Siebeck 2011, 3–18; 7. (Vgl. zur grundlegenden Rolle des hermeneutischen Zugangs zur Seinsfrage in Sein und Zeit: Jean Grondin: Die Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion (§§1–8). In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger: Sein und Zeit. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, 1–26) Schon in den ersten Paragraphen von Sein und Zeit zeigt sich die funktionale Rolle, die die Analyse der menschlichen Existenz in Heideggers Projekt annimmt. Denn die ‚Analytik des Daseins‘ fungiert als „Freilegung des Horizontes für eine Interpretation des Sinnes von Sein überhaupt“. (SZ, 21) Heidegger zielt daher nicht primär auf eine Analyse des Menschseins ab. Die ‚Analytik des Daseins‘ untersteht in seinem gesamten Werk vielmehr dem Vorhaben, den geeigneten Hintergrund vorzubereiten, auf dem die Seinsfrage gestellt und entsprechend beantwortet werden kann. Dies wird dadurch bestätigt, dass auch Autoren, die sich mit existenziell gefärbten Aspekten des Denkens Heideggers auseinandersetzen und die die ‚Hermeneutik der Faktizität‘ in Sein und Zeit betonen, feststellen, dass Heidegger der Seinsfrage auch in Sein und Zeit einen deutlichen Vorrang gegenüber der Daseinsfrage einräumt. (Vgl. dazu insb.: Angehrn: Die Fragwürdigkeit des Menschen, 4; Gianni Vattimo: Introduzione a Heidegger. Bari: Laterza 1993, 3–17) In diesem Zusammenhang zeigt Gianni Vattimo, wie die gesamte Begrifflichkeit von Sein und Zeit der Frage nach dem Sinn des Seins entspringt. (Vgl. Vattimo, Gianni: Introduzione a Heidegger, insb. 3–17) Vgl. SZ, 56–70. Heidegger betont die Abhängigkeit der Möglichkeit der Seinsfrage vom Dasein nicht nur in den einleitenden Paragraphen von Sein und Zeit. Auch an einigen wei-
pliziert bereits eine den Menschen auszeichnende Charakteristik: Menschen sind verstehende Wesen. Menschen – so wiederholt Heidegger immer wieder – bewegen sich schon immer in einem „vorontologischen Seinsverständnis[ses]“;5 sie haben schon immer ein verstehendes Verhältnis zu ihrem je eigenen Selbst, den anderen Menschen und den innerweltlich Seienden.6 Weil das Verstehen die Frage nach dem Sinn des Seins überhaupt erst denkbar macht7 und Heidegger das
5 6
7
teren, zentralen Stellen pointiert Heidegger immer wieder die Unerlässlichkeit der Frage nach dem Dasein, um so etwas wie ‚Sein‘ überhaupt denken zu können: „Allerdings nur solange Dasein ist, das heißt die ontische Möglichkeit von Seinsverständnis, ‚gibt es‘ Sein. Wenn Dasein nicht existiert, dann ‚ist‘ auch nicht ‚Unabhängigkeit‘ und ‚ist‘ auch nicht ‚An-sich‘. Dergleichen ist dann weder verstehbar noch unverstehbar. Dann ist auch innerweltliches Seiendes weder entdeckbar, noch kann es in Verborgen-heit liegen. Dann kann weder gesagt werden, daß Seiendes sei, noch daß es nicht sei. Es kann jetzt wohl, solange Seins-verständnis ist und damit Verständnis von Vorhandenheit, gesagt werden, daß dann Seiendes noch weiterhin sein wird.“ (SZ, 281) SZ, 20. Davon überzeugt, dass die Frage nach dem Menschen jener nach dem Sein vorangehen muss, weil der Mensch als verstehendes Wesen alleine die Frage nach dem Sein überhaupt stellen kann, wird das vorontologische Seinsverständnis des Daseins für Heidegger Ausgangspunkt seiner Betrachtungen aller zentralen Themen von Sein und Zeit. Die erste Bestimmung des vorontologischen Verständnisses des Daseins, die sich im einleitenden Abschnitt befindet, lautet folgendermaßen: „[W]ir bewegen uns immer schon in einem Seinsverständnis. Aus ihm heraus erwächst die ausdrückliche Frage nach dem Sinn von Sein und die Tendenz zu dessen Begriff. Wir wissen nicht, was ‚Sein‘ besagt. Aber schon wenn wir fragen: ‚was ist »Sein«?‘ halten wir uns in einem Verständnis des ‚ist‘, ohne daß wir begrifflich fixieren könnten, was das ‚ist‘ bedeutet. Wir kennen nicht einmal den Horizont, aus dem her wir den Sinn fassen und fixieren sollten. Dieses durchschnittliche und vage Seinsverständnis ist ein Faktum.“ (SZ, 7) Auf diese erste Bestimmung, die Heidegger bereits in der Einleitung mehrmals präzisiert (vgl. SZ, 11; 16; 20–21; 27), greift er immer wieder zurück. (Vgl. SZ, 477–480; 536; 562; 577) Doch die zentrale Rolle, die das ontologische Seinsverständnis des Menschen im Denken Heideggers spielt, reicht weit über Sein und Zeit hinaus. Damit soll eine gewisse Umkehrung des Verhältnisses von Sein und Dasein in der gesamten Entwicklung des Denkens Heideggers keineswegs geleugnet werden. Denn während in Sein und Zeit das Sein vom menschlichen Seinsverständnis her gedacht wird, denkt Heidegger den Menschen ab den 1930er Jahren vom Ereignis des Seins her. Dennoch bleibt die Verbindung von Mensch und Sein auch in den späteren Phasen seines Denkens Bedingung der Möglichkeit dafür, dass sich das Sein überhaupt geben kann. (Vgl. dazu u.a. jene Texte, die die theoretischen Grundlagen der sogenannten ‚Kehre‘ behandeln: GA9: Vom Wesen des Grundes; GA9: Brief über den Humanismus; GA9: Zur Seinsfrage, 239; GA9: Einleitung zu ‚Was ist Metaphysik?‘, 202–204; 206) Vgl. zu dieser Verbindung von Sinn und Verstehen: Emil Angehrn: Die Wissensform der Kultur. Hermeneutische Perspektiven der Geisteswissenschaften. In: Gyburg RadkeUhlmann (Hg.): Phronesis. Die Tugend der Geisteswissenschaften: Beiträge zur rationalen Methode in den Geisteswissenschaften. Heidelberg: Winter 2012, 279–293. In diesem Aufsatz fasst Angehrn die grundlegenden, methodischen Unterschiede zwischen Natur- und Geisteswissenschaften zusammen, die sich auf die Differenz zwischen ‚erklären‘ und ‚verstehen‘ zurückführen lassen. Besonders wichtig ist folgender Punkt seiner Ausführung zum Verstehen: „Von einem Verstehen sprechen wir erstens, wenn wir uns auf Sinnhaftes beziehen, wenn wir einen Gegenstand in seiner Bedeutung, in dem was er meint, was in ihm zum Ausdruck kommt, erfassen. Verstehen heißt den Sinn von etwas erkennen.“ (Angehrn: Die Wissensform der Kultur, 282) Dadurch verbindet er Sinn und Verstehen unmittelbar miteinander.
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Verstehen als konstitutive Weise des Daseins erklärt,8 wird „in der existenzialen Analytik des Daseins eine Aufgabe mitgefördert […], deren Dringlichkeit kaum geringer ist als die der Seinsfrage selbst: Die Freilegung des Apriori, das sichtbar sein muß, soll die Frage, ‚was der Mensch sei‘, philosophisch erörtert werden können“.9 Die Frage nach dem Sein einklammernd, kann man sich daher der ‚Analytik des Daseins‘ bedienen, um unabhängig von jeglichen ontologischen, ökonomischen oder erkenntnistheoretischen Vorannahmen die grundlegenden Strukturen der spezifischen Lebensform des Menschen darzustellen.10 Dadurch dass Heidegger das denkende Subjekt durch den verstehenden Menschen11 und folglich Kategorien durch Existenzialien12 ersetzt, nimmt er eine eindeutige Akzentverschiebung in Bezug auf die philosophische Tradition vor, die seiner kritischen Deutung der Entwicklung des westlichen Denkens zufolge das Leben stets als essentia im Sinne des bloßen Vorhanden-Seins betrachtet hat. Wie Angehrn zeigt, ersetzt Heidegger die für die Tradition typische, „deskriptivklassifizierende Definition über genus und differentia specificia“13 durch die Identifizierung des Menschen mit dem Vollzug des Lebens. Diese Identität will nicht auf die banale Tatsache hinweisen, dass der Mensch ein Lebewesen ist. Die Existenz als „Wesen des Daseins“14 betrifft das Wesen des Menschen auf eine tiefgreifende Weise und identifiziert den Menschen mit seinem Lebensvollzug. Somit lässt sich der Mensch in keiner Weise jenseits seines Lebens bestimmen. Er ist nicht ein Seiendes, das an sich ist und darüber hinaus ein Leben führt, oder ein Seiendes, das darüber entscheiden kann, ein Leben zu führen oder nicht. Der 8 9 10
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Vgl. SZ, 177. SZ, 60. Dieses anthropologische Potenzial der ‚Analytik des Daseins‘– auf dem das vorliegende, zweite Kapitel aufbaut – wird trotz der expliziten Ablehnung Heideggers der Anthropologie u.a. von Thomas Rentsch und Angehrn hervorgehoben. Sich an der Schnittstelle von Existenzialismus und philosophischer Anthropologie bewegend, zeigt vor allem Angehrn, wie es durch das Verstehen möglich wird, sich von inhaltlich sowie methodisch metaphysischen Vorurteilen gegenüber der Frage nach dem Menschen zu lösen. (Vgl. Angehrn: Die Fragwürdigkeit des Menschen; Thomas Rentsch: „Sein und Zeit“. Fundamentalontologie als Hermeneutik der Endlichkeit. In: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, 48–74) Vgl. Dorothea Frede: Sein. Zum Sinn von Sein und Seinsverstehen. In: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, 279–285; 281. „Die an diesem Seienden herausstellbaren Charaktere sind daher nicht vorhandene ‚Eigenschaften‘ eines so und so ‚aussehenden‘ vorhandenen Seienden, sondern je ihm mögliche Weisen zu sein und nur das. Alles Sosein dieses Seienden ist primär Sein. […] Dasein ist je seine Möglichkeit und es ‚hat‘ sie nicht nur noch eigenschaftlich als ein Vorhandenes.“ (SZ, 56–57) „Alle Explikate, die der Analytik des Daseins entspringen, sind gewonnen im Hinblick auf seine Existenzstruktur. Weil sie sich aus der Existenzialität bestimmen, nennen wir die Seinscharaktere des Daseins Existenzialien.“ (SZ, 59) Emil Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung. Zur Hermeneutik des Selbst. In: Emil Angehrn; Joachim Küchenhoff (Hg.): Die Vermessung der Seele. Konzepte des Selbst in Philosophie und Psychoanalyse. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2009, 163–183; 164. SZ, 307.
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Mensch ist so wesenhaft sein geführtes Leben, dass er sich paradoxerweise – auch im sonderbaren Fall, dass er sein Leben gerade nicht führen möchte – mit seinem Leben identifiziert. Die Stiftung der Identität von Mensch und Lebensvollzug bringt eine weitere Wesensbestimmung der menschlichen Lebensform mit sich, die Heidegger zu Beginn seiner Ausführungen betont und die in seinem gesamten Werk immer wieder eine entscheidende Rolle spielt: die „Jemeinigkeit“.15 „Das Seiende“, schreibt Heidegger auf den ersten Seiten von Sein und Zeit, „dessen Analyse zur Aufgabe steht, sind wir je selbst. Das Sein dieses Seienden ist je meines. Im Sein dieses Seienden verhält sich dieses selbst zu seinem Sein.“16 Menschsein bedeutet daher nicht nur, ein Leben zu führen, sondern ein je eigenes Leben zu führen; oder, um wiederum in Anlehnung an Angehrn zu sprechen, ein Selbst zu sein: Menschsein heißt Selbstsein17 und „Selbstsein heißt selbst nach dem Sinn des je eigenen Lebens fragen, das eigene Leben verstehen“.18 Damit lassen sich bereits jene beiden Merkmale benennen, die das Menschsein auszeichnen: ‚Jemeinigkeit‘ und ‚Seinsverständnis‘ in Heideggers Terminologie; oder „die unvertretbare Singularität und die radikale Reflexivität“19 nach der 15 16
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SZ, 57–58. SZ, 56. Diesbezüglich schreibt Heidegger auch: „Dasein ist Seiendes, das sich in seinem Sein verstehend zu diesem Sein verhält. Damit ist der formale Begriff von Existenz angezeigt. Dasein existiert. Dasein ist ferner Seiendes, das je ich selbst bin.“ (SZ, 71) Vgl. Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung. Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 171. Angehrn erklärt, inwiefern Selbstsein und Selbstverständigung das Menschsein ausmachen. Diese zwei eng miteinander verbundenen Wesenszüge werden im Fortschreiten der Argumentation präzisiert und ihr jeweiliger Wert wird sich entsprechend als wesentliches Merkmal des Menschseins herausstellen. An dieser Stelle ist vorab jedoch wichtig zu betonen, dass, indem Selbstsein und Selbstverständigung als charakteristisch für den Menschen angenommen werden, bereits ein ‚Sonderstatus‘ des Menschen festgestellt wird, der keineswegs selbstverständlich ist. (Vgl. Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 163; 172–173) In diesem Zusammenhang distanzieren sich die klassische, philosophische Anthropologie ebenso wie ihre jüngeren Entwicklungen von der Idee der Begründung dieses Sonderstatus des Menschen durch anthropomorphische Interpretationsmuster. Diese These wird von Anders vertreten, der ausgehend von seinem Vorwurf des Anthropomorphismus keine Differenz zwischen der Anthropologie und einer möglichen Hippologie sieht: „Die Selbstgefälligkeit der Was- und Werfrage ist unüberbietbar. Würde man andere Spezies mit diesen Fragen konfrontieren? Würde man fragen: ‚was ist das Pferd?‘, also ‚philosophische Hippologie‘ treiben? Oder gar kierkegaardisch: ‚Wer bist du, Pferd?‘ Hätte Scheler, der bekanntlich ein Buch ‚Die Stellung des Menschen im Kosmos‘ geschrieben hat, auch eines unter dem Titel ‚Die Stellung des Pferdes im Kosmos‘ geschrieben?“ (Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution. Bd. II. München: Beck 1980, 129) Dagegen verteidigt Ernst Tugendhat die prinzipielle Differenz zwischen Anthropologie und Hippologie. (Vgl. Ernst Tugendhat: Anthropologie als ‚erste Philosophie‘. In: Ernst Tugendhat (Hg.): Anthropologie statt Metaphysik. München: Beck 2007, 34–54) Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 170. „In der Normalverwendung von ‚selbst‘ lassen sich zwei Konnotationen benennen, die typischerweise mit Subjektkonzepten assoziiert werden: die Unverwechselbarkeit und die Reflexivität. Nach der einen Bedeutung unterscheiden wir etwas von anderem oder von seiner bloßen Erscheinung – wenn wir eine
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von Angehrn herausgearbeiteten ‚Hermeneutik des Selbst‘.20 Das menschliche Leben ist demzufolge durch die Unausweichlichkeit der Sinnfrage ausgezeichnet, die jeden Menschen zur Reflexion über sich selbst veranlasst.21 Mit Hilfe dieser zwei Merkmale kann eine Präzisierung der einleitenden Frage nach dem Wesen des Menschen vorgenommen werden. Denn Singularität und Reflexivität erfordern die Ersetzung der ontologischen WAS-Frage durch die existenzial-theoretische WER- und die praktische WIE-Frage: „Nicht ‚Was ist der Mensch?‘, sondern ‚Wer bin ich?‘, ‚Wer sind wir?‘ steht in Frage.“22 Und da der Mensch schon immer sein geführtes Leben ist, ist die Frage nach dem WER zugleich die Frage danach, WIE der Mensch sein Leben führt. Die Frage nach dem Menschen findet – wie Angehrn in Anlehnung an die von Kant formulierten Hauptfragen ‚Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?‘ argumentiert – „ihre Antwort nicht in den vorausgehenden Antworten, sondern in den vorausgehenden Fragen. Damit meine ich: Das Wesen des Menschen besteht darin, sich diese Fragen zu stellen. Als Fragen stehen sie für die Definition des Menschen. Der Mensch ist das Wesen, das sich je schon die Frage nach sich selbst stellt – die Frage danach, wer er ist und zu sein hat. Er unterscheidet sich durch diese grundlegende Reflexivität von anderen Lebewesen: Er hat ein Verständnis seiner selbst und verständigt sich über sich selbst.“23 Die Frage nach dem Menschen zu beantworten, heißt daher, den Vollzug des Lebens bzw. den Prozess des Selbstverständnisses transparent zu machen. Die ‚Analytik des Daseins‘ kann deshalb zu diesem Vorhaben in besonderer Weise einen Beitrag leisten, da ihre Aufgabe in der begrifflichen Artikulation dessen besteht, was sich existentiell im Vollzug des Lebens verbirgt und zeigt.24 Abgesehen
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Person selbst, nicht nur ihren Vertreter sprechen oder wenn wir etwas selbst tun und nicht durch andere machen lassen. Unvertretbarkeit gehört zu den anthropologischen wie moralisch-rechtlichen Wesensmerkmalen der Person. Die andere Bedeutung ist uns aus den Komposita vertraut, die das menschliche Sein über Formen des Selbstverhältnisses charakterisieren: vom Selbstbewusstsein über die Selbstbestimmung, die Selbstsorge, Selbsterhaltung und Selbstachtung bis zur Selbstverleugnung. Auch hier scheinen wir einen Wesenszug menschlichen Daseins zu treffen, das in ganz spezifischer Weise auf sich selbst bezogen, mit sich selbst befasst ist.“ (Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 163) Vgl. Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung; vgl. dazu auch: Emil Angehrn: Selbstverständigung und Identität. Zur Hermeneutik des Selbst. In: Burkhard Liebsch (Hg.): Hermeneutik des Selbst – im Zeichen des Anderen. Zur Philosophie Paul Ricœurs. Freiburg i. Brsg: Alber 1999, 46–69. Die Unausweichlichkeit der Sinnfrage für den Menschen wird von Angehrn immer wieder eindringlich betont, weshalb sogar einer seiner Aufsätze den Titel Zum Sinn verurteilt trägt. (Vgl. Emil Angehrn: ‚Zum Sinn verurteilt‘. Hermeneutische Spuren der Phänomenologie. Bd. 73. Schwabe 2014, 201–219) Die negative Konnotation dieses Titels, die auf eine gewisse Machtlosigkeit des Menschen gegenüber der Sinnfrage verweist, ist ein Vorzeichen auf die sich im Laufe des vorliegenden Kapitels erweisende Radikalität des hier gesuchten Lebensbegriffs. (Vgl. dazu auch: Angehrn: Die Fragwürdigkeit des Menschen, insb. 17–18) Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 164. Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 166. Vgl. Thomas Rentsch: „Sein und Zeit“, 55.
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von der Frage, ob die ‚Analytik des Daseins‘ ihre Funktion als Vorbereitung eines geeigneten Horizonts für die Seinsfrage erfüllt oder nicht, ist es unbestritten, dass sie den reflexiven Vollzug des Lebens vom Vollzug her und während dieses Vollzugs selbst denkt.25 Dies gelingt Heidegger mit Hilfe der ‚Sorge‘: Er findet im Ausdruck ‚Sorge‘ die Möglichkeit, das Leben in seiner prozesshaften, einheitlichen Ganzheit zu erfassen und zugleich seine unterschiedlichen Aspekte zu berücksichtigen. Vielmehr als eine „elementare Konzeption menschlichen Handelns“26 oder eine überarbeitete Imitation der Aristotelischen Praxistheorie27 stellt die Sorge ein „existenzial-ontologisches Grundphänomen“28 dar, das die Grundstrukturen des Lebens als reflexiven Vollzug ersichtlich macht. Nach einem kurzen Blick auf die Sorge als Strukturganzes im folgenden Abschnitt wird es in den daran anschließenden drei Abschnitten jeweils um die Erläuterung und Entfaltung der drei Wesensmomente gehen, die das menschliche Leben im Verständnis Heideggers ausmachen: die Faktizität, die Existenzialität und das Sein-bei. 25
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Der Großteil der Forschungsliteratur zu Heidegger stimmt darin überein, dass es Heidegger nicht gelungen sei, das in der Einleitung von Sein und Zeit angekündigte Forschungsprojekt, die Seinsfrage richtig zu stellen und entsprechend zu beantworten, umzusetzen. Dies fasst Dorothea Frede treffend zusammen, wenn sie schreibt: „An den Schwierigkeiten, über die Zeitlichkeit des Verstehens des individuellen Daseins zu einem allgemeinen Seinsbegriff zu gelangen, ist Heideggers Projekt von Sein und Zeit gescheitert.“ (Frede: Sein, 282) Die Gründe für dieses Scheitern sind vielfältig, wie etwa Theodore J. Kisiel zeigt. (Vgl. Theodore J. Kisiel: Das Versagen von „Sein und Zeit“: 1927–1930. In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger – Sein und Zeit. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, 239–262; Theodore J. Kisiel: The Genesis of Heidegger’s “Being and time”. Berkeley (Calif.): Univ. of California Press 1995; vgl. für weitere kritische Auseinandersetzungen mit den Forschungszielen, -methoden und -ergebnisse von Sein und Zeit: Jean Grondin: Die Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion (§§1–8). In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger – Sein und Zeit. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, 1–26; Friedrich-Wilhelm von Herrmann: Hermeneutische Phänomenologie des Daseins. Eine Erläuterung von „Sein und Zeit“. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 2016; FriedrichWilhelm von Herrmann: Heideggers „Grundprobleme der Phänomenologie“. Zur „zweiten Hälfte“ von „Sein und Zeit“. Frankfurt a.M.: Vittorio Klostermann 1991) Dass die Seinsfrage in Sein und Zeit nicht ausreichend beantwortet wird, ist im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit nur deshalb relevant, weil dieses Scheitern implizit die Möglichkeit der Ablösung der ‚Analytik des Daseins‘ von der Seinsfrage bestätigt. Anders ausgedrückt: Die Ergebnisse der ‚Analytik des Daseins‘ bleiben trotz des vermeintlichen Scheiterns der Beantwortung der Seinsfrage gültig. Diese Behauptung bestätigt sich auch durch die späteren Texte Heideggers. Wie schon angedeutet, korrigiert Heidegger seine in Sein und Zeit behauptete Ausgangsposition des Daseins für die gesamte Frage nach dem Sein später. Doch die ‚Sorge‘, die das Sein des Daseins ausmacht, bleibt strukturell unverändert: Das Strukturganze der Sorge, d.h. die drei Momente der Existenzialität, Faktizität und des Sein-bei, bleiben implizit immer gültig und sind auch weiterhin für das korrekte Verständnis der wichtigsten Ausdrücke und Phänomene des späten Heidegger – wie etwa das Wohnen, das Geviert oder die Gefahr – grundlegend. Rentsch: „Sein und Zeit“, 53. Vgl. Franco Volpi: Heidegger e Aristotele. Bari: Laterza 2010. SZ, 260.
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2.1 Das Strukturganze des Daseins: die Sorge Heidegger definiert die Sorge als das „Sich-vorweg-schon-sein-in-(der-Welt)-als Sein-bei (innerweltlich begegnendem Seiendem)“.29 Diese kryptische Definition der Sorge ist sehr voraussetzungsvoll, insofern sie jene drei bereits genannten Wesensmomente enthält, die nach Heidegger das menschliche Leben ausmachen: Das ‚sich-vorweg-sein (in-der-Welt)‘ kennzeichnet den Menschen als Existenzialität; das ‚schon-sein-in (der Welt)‘ drückt die unüberwindbare Faktizität des Menschen aus; das ‚Sein-bei (innerweltlichen Seienden)‘ spezifiziert und konkretisiert die Faktizität des Menschen, indem es die Art und Weise, in der der Mensch schon-in-(der Welt)-ist, ausdrückt. Bereits in dieser ersten Definition der Sorge ist die ihr eigentümliche, zeitliche Dimension unübersehbar. Wie Gianni Vattimo in seiner Einführung zu Heidegger bemerkt, ist die Zeitlichkeit in Sein und Zeit als ontologischer Sinn der Sorge, d.h. als ontologischer Sinn aller konstitutiven Strukturen des Seins des Menschen zu verstehen.30 In dieser zeitlichen Verfasstheit des Daseins, die sich im ‚Sein zum Tode‘ expliziert, gründet Heidegger zufolge die Möglichkeit einer eigentlichen Existenz für den Menschen.31 Dabei handelt es sich um die ‚Zeitlichkeit‘ und das ‚Sein zum Tode‘, die in den meisten Forschungstexten zu Sein und Zeit zu Recht als theoretische und inhaltliche Schlüsselmomente der gesamten These dieses Werkes bezüglich der Seinsfrage bezeichnet werden.32 Wie angekündigt, wird eben dieser Aspekt hier eingeklammert, da hier nicht die Frage nach dem Sinn des Seins gestellt wird. Die sich aufdrängende Frage ist vielmehr jene nach dem Sinn der menschlichen Existenz. Somit wird das Strukturganze der Sorge nur als Hilfsmittel für die Beantwortung dieser Frage einbezogen. Daher ist im Folgenden weder die von Heidegger betonte Zeitlichkeit des Strukturganzen der Sorge noch der Tod als ‚höchste Möglichkeit‘ des Lebens und auch nicht die von Heidegger behauptete Eigentlichkeit der Existenz relevant.33 Denn diese Aspekte 29 30 31 32
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SZ, 256. Vgl. Vattimo: Introduzione a Heidegger, 11. Vgl. SZ, 348–349. Vgl. Rentsch: „Sein und Zeit“, 60–68; Frede: Sein; Thomas Rentsch: Zeitlichkeit und Alltäglichkeit (§§67–71). In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger – Sein und Zeit. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, 189–216; Vattimo: Introduzione a Heidegger; Volpi: Heidegger e Aristotele; Kisiel: Das Versagen von „Sein und Zeit“: 1927–1930; von Herrmann: Heideggers „Grundprobleme der Phänomenologie“; Marion Heinz: Das eigentliche Ganzseinkönnen des Daseins und die Zeitlichkeit als der ontologische Sinn der Sorge (§§61–66). In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger – Sein und Zeit. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, 161–188; Hans-Helmuth Gander: Existentialontologie und Geschichtlichkeit (§§72–83). In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger – Sein und Zeit. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, 217–238. Die Ausschließung der Eigentlichkeit der Existenz in Heideggers Verständnis aus der vorliegenden Betrachtung ist in Anbetracht der Leitfrage dieses Abschnitts nach einem Lebensbegriff erklärungsbedürftig. Denn Heidegger entwickelt in Anlehnung an seine ‚Analytik des Daseins‘ eine Konzeption der Eigentlichkeit, die – so könnte man behaupten – gerade dem hier gesuchten Lebensbegriff entspricht. Diese Feststellung gewinnt angesichts
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bleiben in Heideggers Verständnis nur im Rahmen der Seinsfrage erklärbar. Die Aufmerksamkeit wird im Folgenden lediglich auf die verschiedenen Momente der Sorge gerichtet, um die schon erwähnten, existenzialen Wesenszüge des Lebensvollzugs besser erschließen zu können: die unvertretbare Singularität und die radikale Reflexivität des Lebens jedes einzelnen Menschen. Heidegger betont mehrfach, dass sich die ‚Momente der Sorge‘ – Existenz, Faktizität und Sein-bei – gegenseitig implizieren und als Grundbestimmungen der Existenz gleichursprünglich sind. Thomas Rentsch pointiert, was „‚[g]leichursprünglich‘ besagt […]: (1) die Züge sind unableitbar voneinander; (2) sie sind irreduzibel auf einander; sie sind (3) nicht aus etwas anderem ableitbar, das sie nicht selbst sind (phänomenologisch: sie sind ‚selbstgegeben‘); sie sind (4) nur wechselseitig durch einander verstehbar“.34 Ihre hierarchische Anordnung ist daher weder ontologisch noch ontisch möglich. Denn das ‚Seinkönnen‘ würde ohne die ‚Faktizität‘ ein theoretisches Gedankenspiel bleiben ebenso wie sich die ‚Faktizität‘ nicht ohne das Moment des ‚Sein-bei‘ denken lässt, und das ‚Sein-bei‘ verweist als Weise des Seins auf das ‚Sein-können‘. Im Folgenden wird daher der Versuch unternommen, sowohl die jeweiligen Eigentümlichkeiten dieser Grundbestimmungen als auch ihre gegenseitige Implikation zu erschließen.35 Zuerst wird die Faktizität des Menschen in den Blick ge-
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der Tatsache, dass gerade die ‚Analytik des Daseins‘ als theoretische Basis für die Entwicklung eines dem Leben immanenten Lebensbegriffs gewählt wird, an Überzeugungskraft. Der Eigentlichkeitsbegriff wird in Sein und Zeit dennoch nicht immer eindeutig bezüglich seines Konstrasts zur Uneigentlichkeit definiert: „Als je meines aber ist das Seinkönnen frei für Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit oder die modale Indifferenz ihrer. Die bisherige Interpretation beschränkte sich, ansetzend bei der durchschnittlichen Alltäglichkeit, auf die Analyse des Indifferenten bzw. uneigentlichen Existierens.“ (SZ, 309) Ein weiterer kritischer Punkt besteht im Verhältnis von Heideggers Konzeption der Eigentlichkeit zum Strukturganzen der Sorge als Sein des Daseins. Denn es ist fraglich, ob eine eigentliche Existenz für den Menschen, der als Sorge schon immer auch Faktizität ist, überhaupt möglich ist. Oft ist Faktizität bei Heidegger negativ konnotiert und mit Weltverfallenheit gleichgesetzt. (Vgl. SZ, 233–239) Doch Vattimo macht zu Recht auf einen weiteren Aspekt des Eigentlichkeitsbegriffs in Sein und Zeit aufmerksam, durch den seine ohnehin bereits fragliche Valenz für das hier angestrebte Ziel noch weiter in Frage zu stellen ist. Dieser Aspekt besteht darin, dass die Eigentlichkeit in Sein und Zeit in Bezug auf das Sein gedacht wird: Die Eigentlichkeit wird lediglich als Aufhebung des Bestehenden, lediglich als Differenz zu dem, was Seiendes ist, gedacht. Und dies bedeutet, dass die Eigentlichkeit des menschlichen Lebens in Sein und Zeit grundlegend von der Seinsfrage abhängig bleibt. (Vgl. Vattimo: Introduzione a Heidegger, 112) Aus all diesen Gründen wird Heideggers Konzeption der Eigentlichkeit der Existenz nicht übernommen. Was im Folgenden gesucht wird, ist eine Bestimmung des eigentlichen Lebens, die vom Lebensvollzug und nicht von der Seinsfrage hergeleitet werden soll. Um Missverständnisse und Zweideutigkeiten zu vermeiden, wird deshalb im Folgenden in Bezug auf die Bestimmung des Lebens auf die Attribute ‚eigentlich‘ und ‚Eigentlichkeit‘ verzichtet. Rentsch: „Sein und Zeit“, 63. In diesem Zusammenhang gilt es zu betonen, dass Heidegger an keiner Stelle eine Analyse der einzelnen Strukturmomente der Sorge, wie sie hier vorgeschlagen wird, vornimmt. Daneben ist entscheidend, dass es, obwohl im Folgenden versucht wird, die Strukturmomente der Sorge separat zu betrachten, aufgrund ihrer gegenseitigen Implikation unmög-
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nommen. Denn die Erläuterung der Faktizität kann sich auf evidente oder zumindest sehr zugängliche Tatsachen stützen, die einen einfacheren, weil intuitiveren Zugang zum Sein des Menschen eröffnen, als dies durch die Existenz oder das Sein-bei möglich wäre. Außerdem lassen sich in Bezug auf die Faktizität einige Grundbestimmungen des Daseins – wie die Befindlichkeit und vor allem das bereits erwähnte Verstehen – verdeutlichen, die für die Explikation der Existenzialität grundlegend sind. Dies soll als Vorbereitung für einen zweiten Schritt dienen, in dem die Existenzialität untersucht wird. Dabei werden sich die Jemeinigkeit des Lebens, seine unvertretbare Singularität und seine radikale Reflexivität als Grundzüge des menschlichen Lebens herausstellen. Auf Grundlage der Analysen von Faktizität und Existenzialität wird im Anschluss daran das Sein-bei erläutert, angesichts dessen auch Faktizität und Existenzialität in ihrer vollständigen Komplexität und Tragweite für das Sein des Menschen erschlossen werden können. Dies wird abschließend zu einem dem Leben immanenten Lebensbegriff führen.36 2.1.1 Die Faktizität Mit dem Grundmoment der Faktizität will Heidegger auf den Befund hinweisen, dass der Mensch ist: „Die Tatsächlichkeit des Faktums Dasein“, schreibt Heidegger, „als welches jeweilig jedes Dasein ist, nennen wir seine Faktizität“.37 Die Banalität dieser Aussage ist nur scheinbar. Denn mit der Faktizität ist nicht nur die Tatsache des Seins des Menschen gemeint, sondern auch das Wo und das Wie seines Seins. Heidegger fügt kurz darauf hinzu: „Der Begriff der Faktizität beschließt in sich: das In-der-Welt-sein eines ‚innerweltlichen‘ Seienden, so zwar, daß sich dieses Seiende verstehen kann als in seinem ‚Geschick‘ verhaftet mit dem Sein des Seienden, das ihm innerhalb seiner eigenen Welt begegnet.“38 Und weiter: „Faktizität ist nicht die Tatsächlichkeit des factum brutum eines Vorhandenen, sondern ein in die Existenz aufgenommener, wenngleich zunächst abgedrängter Seinscharakter des Daseins.“39 Durch diese Bestimmung der Faktizität macht Heidegger das Primat der existence über die essence geltend und bestärkt damit seine Kritik am metaphysischen Vor-
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lich ist, die Argumentation so zu entwickeln, dass sich jeder behandelte Aspekt aus dem vorherigen ergibt. Die daraus entstehende, unvermeidliche Zirkularität der Argumentation ist daher nicht Ausdruck eines logischen Fehlers, sondern vielmehr ein Hinweis auf die Gleichurprünglichkeit der drei Elemente der Faktizität, der Existenzialität und des SeinBei. Es sei bemerkt, dass sich bereits durch die soeben vorgenommene, einführende Betrachtung des menschlichen Lebens jene Charakteristika gezeigt haben, die im Versuch, einen vorläufigen Lebensbegriff zu denken, im Anschluss an Heidegger, Adorno und Benjamin ausgemacht werden konnten: eine gewisse Sinnhaftigkeit, eine kulturell und geschichtliche bedingte Positionalität und eine radikale Reflexivität. SZ, 75. SZ, 75. SZ, 180.
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haben, den Menschen über kategorial vorgegebene Strukturen zu definieren:40 „Der Mensch ist das Wesen“, schreibt Angehrn, „das […] zuerst […] ursprünglich ‚ist‘ und erst durch sein Existieren – das Wie seines Existierens – seine Natur und wesenhafte Bestimmtheit gewinnt“.41 Die Frage, die nun mit Heidegger gestellt wird, lautet demzufolge: Wie existiert der Mensch? Heideggers scheinbar banale Antwort, dass der Mensch in einer Welt existiere, verweist auf ein anderes, dem Dasein wesentliches Existenzial. Denn der Mensch existiert immer schon in einer Welt. Was dies bedeutet, erklären die folgenden Ausführungen. Heideggers Argumentation, die zur Erläuterung dieses Charakters des Daseins durch seine verschiedenen konstitutiven Momente des ‚in-der-Welt‘, des ‚Wer‘ und des ‚In-Sein‘ führt,42 soll hier nicht wiedergegeben werden. Denn für die Explikation der Faktizität des Menschen ist an dieser Stelle entscheidender, dass Heidegger die Welt als ein Konstitutivum des Daseins versteht.43 Diese Annahme findet ihren Grund darin, dass die Welt zuerst durch das Dasein erschlossen wird. Wie Heidegger in Sein und Zeit ausführlich zeigt, erweisen sich die verschiedenen Weltbegriffe, die die Naturwissenschaften oder andere ontologische Vorhaben, die nicht mit der Phänomenologie zusammenfallen, entwickeln, als Derivate der Welt als Seinsbestimmung des Daseins.44 Die Welt wird in diesem Sinne ein Existenzial des Daseins, das Heidegger als ‚Weltlichkeit‘ bezeichnet.45 Dadurch macht Heidegger deutlich, dass die Faktizität als ‚in-der-Welt-sein‘ nicht die bloße Vorhandenheit eines oder mehrerer Menschen, die sich in einem Hier und Jetzt befinden, bezeichnet. Vielmehr verweist sie auf eine eigentümliche Eigenschaft des Menschen, die dieses Hier und Jetzt erst ermöglicht. Im Rückgriff auf die Heideggersche Ausarbeitung des Existenzials des Verstehens, die Heidegger im Versuch der Explikation der „existenziale[n] Konstitution des Da“46 des Da-seins vornimmt,47 kann die Faktizität als ‚in-der-Welt-sein‘ verdeutlicht werden. Denn Heidegger erklärt dieses Verstehen – wie bereits angedeutet – als eine ‚Weise des Seins‘. Anstatt darauf hinzuweisen, dass sich Menschen Ereignisse, Phänomene oder Tatsachen erklären können, bewegt sich dieses Verstehen über eine logische Erkenntnisfähigkeit hinaus und zeichnet somit den Vollzug des Lebens selbst aus. Der Vollzug des menschlichen Lebens erweist sich daher als ein verstehender Vollzug. In Übereinstimmung mit der hermeneutischen Tradition verbindet Heidegger das Existenzial des Verstehens mit jenem der Auslegung, in deren Zusammenspiel sich Sinn ergibt.48 Doch es geht bei Heidegger nicht um die Interpretation von 40 41 42 43 44 45 46 47 48
Vgl. dazu: Angehrn: Die Fragwürdigkeit des Menschen, 6. Angehrn: Die Fragwürdigkeit des Menschen, 6. Vgl. SZ, 71–84. Vgl. SZ, 70. Vgl. SZ, 73–80. Vgl. SZ 85–119, insb. für die Definition der Weltlichkeit als Existenzial des Daseins: 86–87. SZ, 178. Vgl. SZ, 190–203. Vgl. SZ, 197–203.
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Texten oder um die Geisteswissenschaften im Allgemein. Was hier interpretiert und ausgelegt wird, ist der Mensch als sich interpretierendes und auslegendes Wesen: Im Hinblick auf ihren „Gegenstand“ zeigt die Hermeneutik als dessen prätendierte Zugangsweise an, daß dieser sein Sein hat als auslegungsfähiger und -bedürftiger, daß es zu dessen Sein gehört, irgendwie in Ausgelegtheit zu sein. Die Hermeneutik hat die Aufgabe, das je eigene Dasein in seinem Seinscharakter diesem Dasein selbst zugänglich zu machen, mitzuteilen, der Selbstentfremdung, mit der das Dasein geschlagen ist, nachzugehen. In der Hermeneutik bildet sich für das Dasein eine Möglichkeit aus, für sich selbst verstehend zu werden und zu sein.49
Die Zugangsweise zur Faktizität muss daher eine hermeneutische sein, weil ihr Gegenstand von Natur aus ein ens hermeneuticum oder – mit anderen Worten – ein Sinn-Wesen ist: Jedes Verhältnis, jede Beziehung, jeder Bezug des Menschen – seien sie zu seinem eigenen Selbst, zu anderen Menschen, zu künstlichen Gegenständen oder zu Naturdingen – kommt erst durch Sinnzusammenhänge zustande und lässt sich nur durch Sinnstrukturen verstehen. Und auch die Welt, deren Sein Heidegger zufolge nur in Bezug auf einen Menschen zu behaupten ist, lässt sich erst anhand von Sinnzusammenhängen erschließen. Das In-der-WeltSein des Menschen, d.h. das Sich-befinden des Menschen in einer Welt, soll deshalb nicht im Sinne eines räumlich begründeten Verhältnisses gedeutet werden. Die Welt im Sinne Heideggers entspricht weder der sozialen noch der natürlichen Umwelt und auch nicht einem neutralen Behältnis, in dem Menschen und Dinge ihren Platz finden. In-der-Welt-sein heißt für den Menschen, mit einer Totalität von Bedeutungen vertraut zu sein: Der Mensch als verstehendes Wesen begegnet allem und jedem in Bedeutungszusammenhängen, die Heidegger als ein Zusammenspiel von Bezügen deutet: „Das Bezugsganze dieses Bedeutens“, erklärt Heidegger, „nennen wir Bedeutsamkeit“.50 Durch diese Definition der 49
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GA 63, 15. Diese hermeneutische Wendung ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig, nicht nur weil Heidegger der Hermeneutik durch seinen Ausdruck ‚Hermeneutik der Faktizität‘ den Status prima philosophie verleiht. (Vgl. GA63, 9–15) Entscheidend ist zudem, dass der Mensch als ens hermeneuticum eines hermeneutischen Zugangs zu seinem Wesen bedarf: Es wird daher nach einer Methode verlangt, die nicht erklärt, sondern versteht, die nicht nach Prinzipien und ersten Ursache sucht, sondern das Gegebene annimmt und in begründeten Sinnzusammenhängen erschließt. (Vgl. zur entscheidenden Rolle der Hermeneutik für die Frage nach dem Menschen bei Heidegger: Jean Grondin: Hermeneutik. Das Gespräch mit Dilthey in der Vorlesung ‚Hermeneutik der Faktizität‘ und in nachfolgenden Schriften. In: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, 44–58; Jean Grondin: Die Wiedererweckung der Seinsfrage auf dem Weg einer phänomenologisch-hermeneutischen Destruktion (§§1–8). In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin-Heidegger – Sein und Zeit. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, 1–26; Christoph Demmerling: Hermeneutik der Alltäglichkeit und In-der-Welt-sein (§§25–38). In: Thomas Rentsch (Hg.): Martin Heidegger – Sein und Zeit. Berlin/Boston: de Gruyter 2015, 83–108; Ben Vedder: Was ist Hermeneutik? Ein Weg von der Textdeutung zur Interpretation der Wirklichkeit. Stuttgart: Kohlhammer 2000) SZ, 116. Die Welt als ‚Weltlichkeit‘ des Daseins und die sie konstituierende Bedeutsamkeit und Bewandtnisganzheit sind ausgesprochen zentrale und daher umfangreiche Themen in Sein und Zeit, von denen Heidegger in §18 eine erste Definition gibt (vgl. SZ, 111–119)
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Welt als Bedeutsamkeit wird noch deutlicher, dass die Tatsächlichkeit des Menschen, auf welche die Faktizität verweist, daher durch und durch von Sinnstrukturen charakterisiert ist. Aufbauend auf diesen Sinnstrukturen lässt sich der Akzent auf einen weiteren Aspekt der Faktizität des Menschen legen: die unüberwindliche Verbindlichkeit der Welt als Bedeutungszusammenhang. Es handelt sich dabei um eine Verbindlichkeit, die – wie sich später zeigen wird – in Zusammenhang mit der Existenzialität des Menschen eine Spannung verursacht, die das menschliche Leben als Vollzug wesentlich auszeichnet.51 Obwohl Heidegger hinsichtlich der Wertung der unüberwindlichen Situierung des Menschen in der Welt zweideutig bleibt und obwohl er seine Analyse nicht auf die Verbindlichkeit der Weltstrukturen fokussiert,52 lässt sich diese dennoch in Anlehnung an seine Analyse der Faktizität des Menschen herausarbeiten.
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und die zu einer systematischen Basis für grundlegende Betrachtungen in Sein und Zeit wie etwa jene des ‚Mitseins‘ (vgl. SZ, 147–148; 164–172), des ‚Verstehens‘ (vgl. SZ, 190–192) sowie der Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit des Lebens (vgl. SZ, 247–248; 394; 443) werden. Entscheidend ist diesbezüglich im Kontext des vorliegenden Abschnitts, dass der Welt als Bedeutsamkeit, wie sie Heidegger versteht, ein unüberwindbarer, für den Menschen verbindlicher Charakter eigen ist. Es wird demnach vorläufig keine vollständige Darstellung des Weltphänomens in Heideggers Verständnis angestrebt, sondern es wird um eine erste Erschließung dieser unüberwindlichen Verbindlichkeit der Welt als Bedeutsamkeit gehen. Dieser Tatsächlichkeit des Menschen ist auch ein weiteres Existenzial so eigen wie das Verstehen: die Befindlichkeit: „Was wir ontologisch mit dem Titel Befindlichkeit anzeigen, ist ontisch das Bekannteste und Alltäglichste: die Stimmung, das Gestimmtsein.“ (SZ, 178) Trotz ihrer grundlegenden Rolle für die Erschließung der Welt wird die Befindlichkeit im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht explizit untersucht. Der Akzent wird vielmehr auf jene strukturellen Aspekten liegen, die das Strukturganze der Sorge ausmachen, um die dem menschlichen Leben eigentümliche Spannung sichtbar machen zu können. (Vgl. zu Heideggers Bestimmung der Befindlichkeit: SZ, 178–181; vgl. zu Heideggers Konzeption der Angst als Grundbefindlichkeit: SZ, 244–253) Heideggers Ausarbeitung der Grundbestimmung der Faktizität in Sein und Zeit ist nicht so unproblematisch, wie sie auf einen ersten Blick scheint. Wenn einerseits die Identität von Faktizität und dem ‚DA‘ des Daseins das Verständnis dieses Heideggerschen Begriffs erleichtert, weil er sich dadurch auf leicht zugängliche Tatsachen stützt, ist Heideggers Bewertung dieses Sich-Befindens andererseits nicht immer eindeutig: Zuweilen wird das Verfallen mit der Faktizität und der Geworfenheit gleichgesetzt und daher ontologisch gedeutet und als Strukturmoment der Sorge begriffen; zuweilen wird der Verfall negativ bewertet und als Ursache von Verstellung und Uneigentlichkeit gesehen. Diese Zweideutigkeit lässt sich an mehreren Stellen in Sein und Zeit belegen. Besonders paradigmatisch dafür ist §38, in dem Heidegger explizit auf das Verhältnis von Verfallen und Geworfenheit eingeht. Gerade in Anbetracht der anfänglichen Warnung Heideggers, das Verfallen nicht mit einer negativen Bewertung zu verknüpfen, erweist sich seine Beschreibung der verfallenden Phänomene, die eindeutig negativ konnotiert sind, als wenigstens zweideutig. (Vgl. SZ, 231–239) Unbestritten bleibt dennoch, dass Faktizität und Verfall – werden sie nun als ontologische Seinsweisen des Daseins verstanden oder aber als ontische Phänomene negativ bewertet – auf Strukturen hindeuten, die für den Menschen eine gewisse Verbindlichkeit aufweisen. Gerade darauf konzentriert sich das Interesse des vorliegenden Abschnitts an der Faktizität, der Geworfenheit und dem Verfall. In diesem Zusammenhang gilt es außerdem klarzustellen, dass
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Lediglich um den verbindlichen Charakter der Bedeutungsstrukturen der Welt zu erschließen, wird im Folgenden die Welt als ‚Produkt‘ des Menschen betrachtet.53 Denn Bedeutung entsteht immerhin nur in Bezug auf den Menschen als verstehendes Wesen. Doch diese Bedeutungsstrukturen erzeugen eine bemerkenswerte Rückwirkung auf den Menschen. Denn als seine ‚Produkte‘ führen sie dazu, dass der Mensch in ihnen gefangen bleibt, wodurch er selbst zu ihrem Produkt wird. Dieses Phänomen wird von Heidegger mit dem prägnanten Ausdruck ‚Geworfenheit‘ gefasst: „Zur Seinsverfassung des Daseins und zwar als Konstitutivum seiner Erschlossenheit gehört die Geworfenheit. In ihr enthüllt sich, daß Dasein je schon als meines und dieses in einer bestimmten Welt und bei einem bestimmten Umkreis von bestimmten innerweltlichen Seienden ist. Die Erschlossenheit ist wesenhaft faktische.“54 Die Geworfenheit, die von Heidegger als das phänomenale Korrelat zur Faktizität verstanden wird,55 verleiht dem Leben des Menschen eine entwaffnende Zufälligkeit, indem sie den verbindlichen Charakter der Weltstrukturen in Erscheinung treten lässt. Denn, wie Heidegger in der soeben zitierten Textstelle klar zum Ausdruck bringt, befindet sich jeder Mensch schon immer in einer geschichtlich und kulturell bestimmten Welt, die er schlicht vorfindet. Davon kann sich kein Mensch – sei es im Handeln oder im Denken – lösen: Werte, Sitten, Traditionen, Kultur oder gesellschaftliche Institutionen ziehen die geschichtlichen Grenzen seiner Welt, die, obwohl sie veränderbar sind, dem Menschen eine notwendige Verbindlichkeit aufdrängen. Denn dieses Gewebe von festgelegten existenzialen und sozialen Strukturen prägt auf entscheidende Weise nicht nur die Begegnung jedes Menschen mit den Dingen und anderen Menschen, sondern es hat sogar Einfluss auf sein Selbstverständnis. In dieser unüberwindlichen Vorbestimmungskraft der Welt hinsichtlich des Lebens jedes einzelnen Menschen äußert sich ihr verbindlicher Charakter.
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der Ausdruck ‚Verbindlichkeit‘ keinen Schlüsselbegriff in Sein und Zeit darstellt: Dieser Ausdruck kommt nur drei Male in seiner positiven und ein einziges Mal in seiner negativen Bedeutung und nie in der Bedeutung, um die es hier geht, vor. (Vgl. SZ, 207; 331; 414; 480) Die Verbindlichkeit der Weltstrukturen, wie sie in diesem Abschnitt verstanden wird, lässt sich jedoch von Heideggers ‚Man-Analyse‘ herleiten, insofern die Phänomene, die Heidegger beschreibt, eine solche Verbindlichkeit voraussetzen. (Vgl. SZ, 221–239) Es ist in diesem Zusammenhang wichtig zu präzisieren, dass die Welt als Existenzial des Daseins nicht generell als Produkt des Menschen bezeichnet werden kann. Das Verhältnis von Mensch und Welt – sofern es möglich ist, überhaupt von einem solchen Verhältnis zu sprechen, das eine Differenz zwischen den beiden voraussetzt – lässt sich im Verständnis Heideggers vielmehr als eine Relation der Angewiesenheit aufeinander beschreiben: Es gibt keinen weltlosen Menschen und auch die Rede einer ‚menschenlosen Welt‘ macht nur Sinn, insofern die Welterschlossenheit zum Wesen des Menschen gehört. Die Behauptung, dass die Welt Produkt des Menschen ist, darf daher nicht verabsolutiert werden. Sie will vielmehr ganz bewusst eine Einschränkung der Perspektive auf das Verhältnis von Mensch und Welt bewirken, um den verbindlichen Charakter der Bedeutungsstrukturen, die die Welt ausmachen, zum Ausdruck bringen zu können. SZ, 293. Vgl. SZ, 237.
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Völlig in die Bedeutungszusammenhänge der Welt eingebettet, erscheint der Mensch lediglich als Ergebnis der Welt, in die er ‚geworfen‘ ist.56 Folglich kann ihm keine Freiheit zugesprochen werden. Wie kann nun aber die ‚unvertretbare Singularität‘ jedes Menschen behauptet werden, wenn Werte und Bedeutungen von Dingen und Menschen sowie gesellschaftliche Rollen und Beziehungen bereits festgelegt sind? Wie kann ‚Jemeinigkeit‘ des Lebens entstehen, wie kann der Mensch sein je eigenes Leben führen, wenn er weder in seinem Handeln noch in seinem Denken von seiner kulturellen und geschichtlichen Welt unabhängig ist? Diese Fragen schlagen die Brücke zu einer anderen Grundbestimmung des Menschen: der Existenzialität. 2.1.2 Die Existenzialität Die Existenzialität stellt in Sein und Zeit ein weiteres Moment des Strukturganzen der Sorge dar. Wie bei der Faktizität handelt es sich auch hierbei um einen grundlegenden Wesenszug des Menschseins als Lebensvollzug. Wie bereits erwähnt, lässt sich die Sorge nur im Zusammenspiel ihrer Momente als Sein des Daseins verstehen, d.h. die jeweiligen Momente lassen sich nur in ihrer wechselseitigen Implikation erschließen. Diese Wechselbeziehung schließt dennoch nicht aus, dass diese Wesenszüge auch in einem widerstreitenden Verhältnis zueinander stehen. Eben dieser Widerstreit macht das Verhältnis von Existenzialität und Faktizität aus: Während die Faktizität auf die Verbindlichkeit der Welt als Bedeutungshorizont hinweist, kennzeichnet die Existenzialität das Leben in seiner Gestaltungskraft, in seiner Entscheidungsfähigkeit und in seiner Offenheit für unzählige Wege der Lebensführung. Heidegger setzt das Existenziale der Existenzialität mit dem Seinkönnen gleich57 und entfaltet die Eigentümlichkeit des Seinkönnens in Verbindung mit dem Existenzialen des Verstehens.58 Das Seinkönnen nimmt somit eine so grundlegende Rolle hinsichtlich der ‚Analytik des Daseins‘ ein, dass Vattimo sogar behaupten kann, dass dieser Charakterzug des Menschen die gesamte Entwicklung von Sein
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Der extreme Ausdruck dieses Prozesses wird von Heidegger ‚Verfall‘ genannt und im Rückgriff auf die sprachlichen Phänomene des Geredes, der Neugier und der Zweideutigkeit veranschaulicht. (Vgl. SZ, 221–239) Wie aber schon bemerkt wurde, ist Heideggers Bestimmung des Phänomens des Verfalls und sein ontischer und ontologischer Status bezüglich der Faktizität und der Geworfenheit nicht immer eindeutig. Vgl. SZ, 254. „Das Sein zum eigensten Seinkönnen besagt aber ontologisch: das Dasein ist ihm selbst in seinem Sein je schon vorweg. Dasein ist immer schon ‚über sich hinaus‘, nicht als Verhalten zu anderem Seienden, das es nicht ist, sondern als Sein zum Seinkönnen, das es selbst ist. Diese Seinsstruktur des wesenhaften ‚es geht um …‘ fassen wir als das Sichvorweg-sein des Daseins.“ (SZ, 254–255) Vgl. SZ, 119–197.
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und Zeit leitet.59 Was meint Heidegger nun aber mit diesem Ausdruck, was heißt es, dass der Mensch Seinkönnen ist? Wörtlich bedeutet diese Formulierung, dass der Mensch sein kann. Das Objekt dieses Ausdrucks – was er sein kann – fehlt allerdings. In diesem Mangel versteckt sich der ungeheure Reichtum der Existenz, denn das Seinkönnen muss – wie Vattimo bemerkt – im Sinne des ex-sistere verstanden werden, was bedeutet, dass das Seinkönnen über die bloß vorhandene Realität auf Seinsmöglichkeiten verweist.60 Denn die Inhaltslosigkeit des Seinkönnens ist nur scheinbar, oder präziser: Sie bezieht sich nur auf konkrete Inhalte der Lebensführung. Welche Entscheidungen ein Mensch zu treffen hat, nach welchen Prinzipien und Werten sein Leben zu gestalten und zu führen ist, darüber sagt das Seinkönnen nichts aus. Und doch geht es im Seinkönnen um den ‚höchsten Inhalt‘ des menschlichen Lebens, um die Möglichkeit dieses Lebens selbst. Heidegger schreibt dazu: „Wir gebrauchen zuweilen in ontischer Rede den Ausdruck ‚etwas verstehen‘ in der Bedeutung von ‚einer Sache vorstehen können‘, ‚ihr gewachsen sein‘, ‚etwas können‘. Das im Verstehen als Existenzial Gekonnte ist kein Was, sondern das Sein als Existieren. Im Verstehen liegt existenzial die Seinsart des Daseins als Sein-können.“61 Durch dieses Zitat wird deutlich, dass das, was im Seinkönnen gekonnt ist, nicht etwas Bestimmtes, sondern das Leben selbst ist. Im Seinkönnen geht es nämlich nicht primär um tatsächliche Möglichkeiten, zwischen denen der Mensch wählen kann. Im Seinkönnen geht es vielmehr um das Sein selbst, d.h. um die Möglichkeit der Existenz, und nicht um eine beliebige Existenz oder um eine allgemeine Idee der Existenz, sondern um die je eigene Existenz, insofern die Existenz stets die je eigene ist. Der Mensch als Seinkönnen hat daher einen Bezug zu seinem je eigenen Sein. Wie verwirklicht sich dieser Bezug nun aber? Heidegger gibt in Sein und Zeit keinerlei Hinweise auf die tatsächliche Realisierung dieses Selbstbezugs.62 Dennoch lässt sich der Bezug des Menschen zu seinem eigenen Selbst anhand des Existenzialen des Verstehens sowie anhand des radikalen Charakters des Selbstbezugs in 59 60 61 62
Vgl. Vattimo: Introduzione a Heidegger, 20–22. Vgl. Vattimo: Introduzione a Heidegger, 21. SZ, 190–191. Dieser Mangel kann in Sein und Zeit primär auf drei Gründe zurückgeführt werden: Der erste ergibt sich aus der methodischen Entscheidung Heideggers, das Dasein zu untersuchen, „wie es zunächst und zumeist ist, in seiner durchschnittlichen Alltäglichkeit“. (SZ, 23) Die durchschnittliche Alltäglichkeit schließt in der Konzeption Heideggers die Eigentlichkeit des Lebens aus. Denn „das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor“. (SZ, 169) Der zweite Grund, der mit dem ersten zusammenhängt, betrifft die bereits angesprochene Zweideutigkeit der Faktizität in Bezug auf die Geworfenheit und den Verfall. Denn eine eventuelle Gleichsetzung von Geworfenheit und Verfall würde jede Gestaltung eines bewussten Lebensvollzugs notwendigerweise verunmöglichen. Der dritte Grund ist auf die Konzeption der Eigentlichkeit in Sein und Zeit zurückzuführen, die Heidegger, wie bereits angedeutet, als Aufhebung der Welt und nicht als sinnvolle Lebensgestaltung versteht.
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Anlehnung an Angehrns ‚Hermeneutik des Selbst‘ konkretisieren. Deshalb wird es im Folgenden darum gehen, diese zwei Aspekte ins Zentrum der Analyse zu rücken, um den Bezug, den jeder Mensch zu seinem je eigenen Sein hat, darstellen zu können. Angehrn betont immer wieder eindringlich, dass der Mensch ein verstehendes Wesen sei, der ein Verständnis seiner selbst habe und sich über sich selbst verständige.63 Angesichts der Sinnstruktur, die das Existenziale des Verstehens impliziert, zeigt sich dieser Bezug als ein verstehendes-auslegendes Verhältnis des Menschen zu seinem Selbst. Jeder Mensch als Seinkönnen, als Existierender, muss bewusst einen Sinnbezug zu seinem Selbst aufbauen. Angehrn verdeutlicht dieses Selbstverständnis anhand einer Frage, die den Menschen mit der absoluten Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit seines Lebens ebenso wie seiner vollkommenen Einsamkeit konfrontiert: „Er [der Mensch] ist das Wesen, das bezüglich seiner selbst die Frage stellt und an sich selbst die Frage richtet, wer er ist, was er will und was er soll.“64 Mit anderen Worten: Der Mensch muss sich nach dem Sinn seines Lebens fragen. Die Einsamkeit des Menschen in diesem Sich-Befragen ist absolut. Denn er ist der Fragende, er ist das Gefragte und nur er kann diese Frage beantworten.65 Und die Frage, die er sich stellt, ist radikal wie keine andere. Er versucht zu verstehen, was es heißt, dass er existiert; was es heißt, dass er ist. Genau dieses Verhältnis zu seinem je einigen Selbst, dieses ständige SichBefragen, ist der ‚höchste Inhalt‘ des Seinkönnens, das jeder Mensch schon immer ist. Im Seinkönnen geht es um dieses Verhältnis selbst, um den Menschen als Menschen, um die Möglichkeit seiner Existenz. Jeder Mensch als Seinkönnen wird daher auf sich selbst zurückgeführt. Diese ‚radikale Reflexivität‘ stellt die absolute Freiheit des Menschen seinem Lebensvollzug gegenüber sicher,66 insofern jeder einzelne Mensch allein für sich entscheidet, wer er ist: „Das Wer ist das, was 63
64 65 66
Vgl. dazu: Angehrn: Selbstverständigung und Identität; Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung. Angehrn entfaltet die dem Menschen eigentümliche Selbstverständigung in zwei Richtungen. Die erste ergibt sich in Bezug auf das Subjekt und seine Grundhaltungen, die die Ausdrücke ‚Verstehen‘ bzw. ‚Selbstverständigung‘ implizieren. In diesem Zusammenhang unterscheidet Angehrn zu Recht zwischen drei Grundhaltungen: einem rezeptiven Verstehen, einem kritischem Auflösen falscher Deutungen und Selbstbilder und einem konstruktiven Entwerfen neuer Interpretation. (Vgl. Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 173–174) Die zweite Richtung entsteht im Verhältnis des Subjekts zu einem Anderen. Angehrn will dieses Andere einerseits als ein anderes Subjekt verstanden wissen. Andererseits bezieht sich Angehrn damit auf die kulturelle Welt, die im Prozess der Selbstverständigung eine grundlegende Vermittlungsfunktion übernimmt. (Vgl. Angehrn: Selbstverständigung und Identität, 46–52) Eben dieser Aspekt wird in den folgenden Abschnitten zentral sein. Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 165. Vgl. Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 165; 169. Wie die Freiheit des Lebensvollzugs genau zu verstehen ist, wird sich im Laufe der vorliegenden Arbeit klären. An dieser Stelle ist vorab der Hinweis wichtig, dass diese Freiheit nicht mit einer Form von Beliebigkeit verwechselt werden darf, sondern vielmehr als eine Form von Verantwortung dem je eigenen Selbst gegenüber zu verstehen ist.
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sich im Wechsel der Verhaltungen und Erlebnisse als Identisches durchhält und sich dabei auf diese Mannigfaltigkeit bezieht.“67 In der von Heidegger immer wieder betonten Notwendigkeit dieses Selbstverständnisses besteht der anthropologische Wert der ‚Analytik des Daseins‘.68 Das Selbstverständnis – die Frage nach dem Sinn des je eigenen Lebens – oder, wie Angehrn es ausdrückt, die ‚radikale Reflexivität‘, ist daher Bedingung der Möglichkeit für die Lebensführung des Menschen als Menschen. Daraus erschließt sich die Radikalität des sich hier langsam Gestalt annehmenden Lebensbegriffs. Denn da die Sinnfrage Bedingung der Möglichkeit eines menschlichen Lebens ist, gilt ausnahmslos die radikale Alternative des Entweder-Oder. Es gibt kein mehr oder weniger menschliches Leben – entweder ein Leben ist menschlich oder es ist nicht menschlich. Dieses Entweder-Oder entscheidet sich an der Sinnfrage: Menschlich ist das Leben, das sich die Frage nach seinem Sinn stellt. Wenn diese Frage nach dem Sinn des Lebens nicht gestellt wird, kann der Mensch keinen Bezug zu seinem eigenen Selbst aufbauen. Dies verhindert die Möglichkeit eines menschlichen Lebens. Existenzialität und menschliches Leben fallen daher zusammen. Jeder Mensch, der als solcher sein Leben führen will, muss bewusst einen Bezug zu seinem Selbst aufbauen und die volle Verantwortung für die freie, sinnvolle Gestaltung seines je eigenen Lebens übernehmen.69 Nach diesen Ausführungen ist unübersehbar, dass eine Spannung im Rahmen des Strukturganzen der Sorge als Sein des Daseins besteht: Einerseits befindet sich jeder Mensch in bereits festgelegten Bedeutungsstrukturen der Welt, die das Handeln und Denken schon immer vermitteln und daher prägen. Andererseits 67 68
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SZ, 153. Vgl. Rentsch: „Sein und Zeit“, 59. „Eine gnostisierende Tendenz zu einem fundamentalen Dualismus von ‚Verlorenheit‘ in der bzw. an die Welt […] und welttranszendierendes Heil […] läßt sich in Sein und Zeit unzweifelhaft konstatieren. Für die formale Existenzialanalyse ist aber auch ohne diesen Kontext entscheidend: Geworfenheit meint nicht die faktische Geburt, sondern die konstitutive Form jedes Lebens, ungefragt und ohne persönliche Zustimmung in die Welt gekommen zu sein. Diese Struktur der Faktizität bedeutet für jeden Lebenden, ‚sein Da sein zu müssen‘. Und das schließt gleichursprünglich den EntwurfCharakter des Lebens ein, die Existenzialität. […] Im Sich-Entwerfen nimmt das Dasein gleichzeitig ein Verhältnis zu sich selbst ein; indem es sein Sein ‚zu sein hat‘ (SZ, 179–180; 325), verhält es sich selbst zu seinem Sein. Es geht ihm um sein eigenes Sein.“ (Rentsch: „Sein und Zeit“, 59) Vgl. zur Notwendigkeit des Selbstbezugs für den Menschen: Christian Bermes: Die Grenzen des Wissens und die Bedeutung des Lebens. Wittgensteins Überlegungen in „Über Gewissheit“ im Kontext der Anthropologie und Kulturphilosophie. In: Ralf Konersmann (Hg.): Das Leben denken – die Kultur denken. Bd. 1, Freiburg: Alber 2007, 250–270. In diesem Aufsatz äußert sich Christian Bermes in Anlehnung an die philosophische Anthropologie Gehlens folgendermaßen: „Das Lebewesen Mensch ist als Lebewesen auf Deutung des eigenen Daseins angewiesen. […] Diese Deutung ist vielmehr eine integrale Auszeichnung des Menschen als Lebewesen, so daß wir schlichtweg nicht von menschlichem Leben sprechen können, ohne dessen Selbstdeutung zu thematisieren. […] Die Selbstdeutung gehört zum Menschen wie die Flosse zum Fisch.“ (Bermes: Die Grenzen des Wissens und die Bedeutung des Lebens, 257–258)
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soll er sich über die Jemeinigkeit des Lebens bewusst werden und Verantwortung für einen sinnvollen Lebensvollzug übernehmen. Verstärkt wird diese Spannung dadurch, dass Faktizität und Existenzialität nicht als sich gegenseitig ausschließende Grundzüge des Menschen betrachtet werden, insofern beide dem Menschen als ontologische Strukturen wesentlich sind. Aufgrund dessen lässt sich die Spannung zwischen der unüberwindbaren Verbindlichkeit der Welt und der absoluten Freiheit des Menschen nicht auflösen. Jeder Mensch muss sich darüber bewusst werden und diese Spannung aushalten. Wie sich diese Spannung aushalten lässt, wird sich anhand des dritten Wesenszugs des Strukturganzen der Sorge im folgenden Abschnitt verdeutlichen: dem Sein-bei. 2.1.3 Das Sein-bei Wie Rentsch bemerkt, fasst Heidegger „Faktizität und Existenzialität in ihrer Gleichursprünglichkeit […] mit der Bestimmung zusammen, Dasein sei ‚geworfener Entwurf ‘70“.71 In der Tat hat dieser Ausdruck einen aporetischen Charakter, der die unauflösbare Spannung von Faktizität und Existenzialität in sich aufnimmt: Der einschränkende Charakter der geschichtlich und kulturell bestimmten Welt, in die jeder Mensch schon immer ‚geworfen‘ ist, und die absolute Freiheit hinsichtlich der konkreten Gestaltung des ‚Lebensprojekts‘ jedes einzelnen Menschen sind in diesem Ausdruck konzis auf den Punkt gebracht: Der Mensch ist ‚geworfener Entwurf ‘. Dies will heißen, dass er die Sinnfrage, die er sich als Mensch stellen muss, nur insofern er ‚geworfen‘ ist, ‚beantworten‘ kann. Die Geworfenheit macht daher die radikale Endlichkeit des Daseins geltend,72 indem 70 71 72
SZ, 197. Rentsch: „Sein und Zeit“, 59. Vattimo: Introduzione a Heidegger, 37. „Der Ausdruck ‚geworfen-sein‘ beruht auf dem existenzialistischen Kernpunkt des Denkens Heideggers, aufgrund dessen seine Zugehörigkeit zur Existenzphilosophie, trotz aller Grenzen, die eine solche Zuordnung des Denkens Heideggers aufweist, unbestreitbar ist. Seine Polemik gegen die Transzendentalphilosophie Kants hat die gleiche Bedeutung wie die Polemik Kierkegaards gegen Hegel: Es geht immer darum, die Endlichkeit des Daseins gegen Konzeptionen, die den Menschen als Auge über der Welt betrachten, geltend zu machen.“ (Vattimo: Introduzione a Heidegger, 37: „Con la nozione di essere-gettato si raggiunge il nocciolo della tematica piú propriamente ‚esistenzialistica‘ di Heidegger, il punto in base al quale, nonostante i limiti che la definizione presenta nei confronti del suo pensiero, la sua appartenenza alla ‚filosofia dell’esistenza‘ appare un fatto indiscutibile. La sua polemica contro il trascendentalismo neokantiano ha un senso fondamentalemente analogo a quella di Kierkegaard contro Hegel: si tratta sempre di rivendicare la finitezza dell’esserci contro concezioni che vedono l’uomo come puro occhio sul mondo.“ [Übers. G.C.]) Damit trifft Vattimo einen zentralen Punkt der ‚Analytik des Daseins‘ Heideggers, der für die vorliegende Argumentation von entscheidender Bedeutung ist. Es handelt sich dabei nämlich um das Verhältnis der theoretischen und der praktischen Dimension des Selbstbezugs. Dass sich der Selbstbezug in der Frage nach dem Sinn des Lebens konkretisiert, soll nicht dazu veranlassen, diesen Prozess als einen theoretischen Vorgang zu verstehen. An den Sinn des je einigen Lebens zu denken, bedeutet weder das Leben als Objekt beliebiger, spekulativer Überlegungen anzunehmen, noch dass
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sie es in einer bestimmten Welt positioniert. In diesem Zusammenhang expliziert das Sein-bei, WIE der Mensch in dieser Welt ist. Obwohl es schwerfällt, eine strikte Grenze zwischen den theoretischen und praktischen Aspekten des Lebens zu ziehen, werden die beiden Fragen nach dem WIE und dem WER, die die Frage nach dem WAS des Menschen explizieren – jedoch ausschließlich zum besseren Verständnis des konkreten Geschehens des Lebensvollzugs –, getrennt betrachtet. Ausgehend von dieser lediglich heuristischen Trennung kann behauptet werden, dass, während die Existenzialität die theoretische Frage nach dem WER des Lebens beantwortet, das Sein-bei dazu beiträgt, das praktische WIE des Lebens zu bestimmen und somit die Möglichkeit einer tatsächlichen Lebensgestaltung zu zeigen. Der Ausdruck ‚Sein-bei‘ verweist schon auf ein Verhältnis und schließt das Bild des Menschen als bloß Vorhandenen grundsätzlich aus. Denn der Mensch ‚ist‘ immer ‚bei‘ etwas. Das Sein-bei will nicht das mögliche Nebeneinander-Sein von Menschen oder Menschen und Dingen ausdrücken, da es sich hierbei nicht um jene Art und Weise handelt, in der nicht-menschliche Seiende sind. Dagegen ist dem Menschen als verstehendem Wesen eine andere Weise des Sein-bei eigen. Der Mensch verhält sich so zu Dingen und anderen Menschen, dass er sie permanent in Sinneseinheiten integriert und immer schon integriert hat. Als verstehendes Wesen erschließt der Mensch die Welt als Bedeutsamkeit und begegnet Naturdingen, Pflanzen, Werkzeugen und anderen Menschen immer schon als solchen. In diesem Zusammenhang bezeichnet Heidegger die Art und Weise, in der der Mensch mit nicht-menschlichen sowie menschlichen Seienden umgeht, als ‚Besorgen‘ und ‚Fürsorge‘:73 An einigen Sachen ist der Mensch besonders interessiert, an anderen weniger; um einige Menschen kümmert er sich, um andere nicht; mit einigen Sachen geht er respektvoll um, andere werden einfach be-
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sich jeder Mensch ununterbrochen gedanklich mit seinem Leben auseinandersetzen soll. Die Frage nach dem Sinn ist immer schon in enger Verbindung mit dem Vollzug des Lebens zu verstehen, weshalb die praktische Dimension dieser Sinnfrage, d.h. ihre tatsächlich Situiertheit, stets zugleich mit ihrer theoretischen Dimension zu denken ist. Dennoch darf der praktische Aspekt, der in der Betrachtung der Endlichkeit des Menschen unausweichlich ist, nicht verabsolutiert werden, wie es etwa Tugendhat tut. (Vgl. Ernst Tugendhat: Anthropologie als ‚erste Philosophie‘) In Abgrenzung zu Tugendhat argumentiert Angehrn für die Notwendigkeit einer nicht nur praktischen, sondern immer zugleich theoretischen Konkretisierung der Frage nach dem Sinn des Lebens. Denn die Frage ‚Wie soll ich leben?‘ impliziert auch immer die Fragen ‚Wer bin ich?‘, ‚Woher komme ich?‘ und ‚Wohin gehe ich?‘. (Vgl. Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 171; vgl. zur Kritik Angehrns an Tugendhat: Angehrn: Die Fragwürdigkeit des Menschen, 17) Diese gegenseitige Implikation theoretischer und praktischer Aspekte im Selbstbezug darf in der vorliegenden Argumentation nicht vergessen werden. Auch wenn es so scheint, als würden beide Aspekte unabhängig voneinander thematisiert, wird ihr wechselseitiges Verhältnis implizit stets mitgedacht. Nur für eine ausführliche Erläuterung der einzelnen Aspekte und ihrer gegenseitigen Implikation werden sie im Rahmen der vorliegenden Betrachtung einzeln akzentuiert. Vgl. u.a.: SZ, 162–165; 191; 234; 256; 395.
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nutzt; einige lösen Begeisterung aus, andere wiederum nicht usw. Diese kurze Aufzählung möglicher Verhaltensweise und Reaktionen des Menschen soll darauf hinweisen, dass sich die Existenz nur in einer bestimmten Welt und d.h. bei bestimmten Dingen entscheidet und sich schon immer entschieden hat.74 Jeder Mensch ist schon immer sein eigener Lebensvollzug. Der Grundzug des Sein-bei verweist auf die simple Tatsache, dass dieser Vollzug in der Welt bei den Dingen geschieht, und expliziert die Verwirklichung eines menschlichen Lebens, indem die Frage nach dem Sinn des Lebens seine ‚Antwort‘ finden kann. Denn die Frage nach dem Sinn des Lebens, die den Menschen zu sich selbst zurückführt, wodurch eine Spannung zur Verbindlichkeit der Bedeutungsstrukturen der Welt entsteht, erschöpft sich nicht auf theoretischer Ebene. Es geht nicht um ein kontemplatives oder mystisches Verhalten, wodurch die Welt einklammert wird und sich der Mensch von der Welt zurückzieht. Die Frage nach dem Sinn des Lebens und die damit verbundene Spannung verwirklichen sich bei den Dingen in der Welt, insofern der Mensch sein Leben führt. Diese unerlässliche Verbindung von Selbstbezug und tatsächlicher Gestaltung des Lebens macht die Frage nach dem Sinn des je eigenen Lebens aus. Denn diese Frage benötigt weder eine Antwort, die eine Auflösung der Frage bewirkt, noch impliziert sie überhaupt eine Antwort. Es ist wiederum Angehrn, der auf die Unvollständigkeit und Unabgeschlossenheit des Selbstverständnisses aufmerksam macht. Er verweist auf eine Unabschließbarkeit, die dem Selbstverständnisprozess immanent ist und die – wie später noch ersichtlich wird – „die Selbstverständigung zum Weg der Selbstwerdung“75 macht. Die Sinnfrage ist in gewissem Sinne selbst ihre Antwort, denn beim Fragen entfaltet sich das Verhältnis jedes Menschen zu seinem je eigenen Selbst: Der Mensch ist selbst dieses Verhältnis als Lebensvollzug. Und als Lebensvollzug gestaltet jeder Mensch das Verhältnis zu seinem eigenen Selbst und daher sein Leben. Deshalb spielt das Sein-bei diesbezüglich eine entscheidende Rolle. Denn kein Mensch ist „ein Auge über der Welt“76, ein neutraler Zuschauer seiner Existenz oder seiner Welt, der objektiv zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten, Gedanken oder Gefühlen abwägt, um zu entscheiden, 74
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SZ, 72–74. „Das ‚Sein bei‘ der Welt, in dem noch näher auszulegenden Sinne des Aufgehens in der Welt, ist ein im In-Sein fundiertes Existenzial.“ (SZ, 73) „Das In-Sein meint so wenig ein räumliches ‚Ineinander‘ Vorhandener, als ‚in‘ ursprünglich gar nicht eine räumliche Beziehung der genannten Art bedeutet; ‚in‘ stammt von innan-, wohnen, habitare, sich aufhalten; ‚an‘ bedeutet: ich bin gewohnt, vertraut mit, ich pflege etwas; es hat die Bedeutung von colo im Sinne von habito und diligo. Dieses Seiende, dem das In-Sein in dieser Bedeutung zugehört, kennzeichneten wir als das Seiende, das ich je selbst bin. Der Ausdruck ‚bin‘ hängt zusammen mit ‚bei‘; ‚ich bin‘ besagt wiederum: ich wohne, halte mich auf bei … der Welt, als dem so und so Vertrauten. Sein als Infinitiv des ‚ich bin‘, d. h. als Existenzial verstanden, bedeutet wohnen bei..., vertraut sein mit... In-Sein ist demnach der formale existenziale Ausdruck des Seins des Daseins, das die wesenhafte Verfassung des In-der-Welt-seins hat.“ (SZ, 73) Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 177. Vattimo: Introduzione a Heidegger, 37: „occhio sul mondo“. [Übers. G.C.]
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was er tun, denken oder fühlen will und soll. Vattimo bemerkt diesbezüglich: „Das Sein des Menschen besteht darin, sich mit Möglichkeiten auseinanderzusetzen; aber konkret verwikrlicht sich diese Auseinandersetzung nicht in einem abstrakten Gespräch mit sich selbst, sondern als konkretes Existieren in einer Welt von Dingen und anderen Menschen.“77 Er führt dies weiter aus: „Der Begriff ‚Dasein‘ drückt treffend die Tatsache aus, dass sich die Existenz nicht nur als Überschreitung definiert, die die Wirklichkeit in Richtung der Möglichkeit transzendiert. Existenz ist vielmehr Überschreitung von etwas. Und das heißt, dass diese Überschreitung immer schon konkret situiert ist: Es gibt.“78 Jeder Mensch hat sich schon immer entschieden: Jeder Mensch hat schon immer ein Bild von sich selbst, festgelegte Verhältnisse zu anderen Menschen, bestimmte Rollen innerhalb unterschiedlicher, sozialer Institutionen (Familie, Arbeit, Staat etc.), Wünsche, Träume, Pläne usw. Insofern der Mensch kleine und große Entscheidungen trifft, Rollen und Positionen einnimmt oder zwischen Möglichkeiten wählt, geschieht sein Leben als Lebensvollzug, verwirklicht sich sein Verhältnis zu seinem je eigenen Selbst und gestaltet sich sein Leben. 2.1.4 Die Selbst-Verbindlichkeit zwischen Freiheit und Bedingtheit Die Wesenszüge des menschlichen Lebens, die in Anlehnung an das von Heidegger entwickelte Strukturganze der Sorge veranschaulicht wurden, verhelfen nun dazu, einen dem Leben immanenten Lebensbegriff zu gewinnen, da die Wesensmomente der Sorge das menschlichen Leben sichtbar machen, insofern es sich als Vollzug entfaltet. Diese Wesensmomente erschließen das Leben so, wie es ist, ohne es in ihm fremde Strukturen zu überführen. Denn das menschliche Leben zeigt sich anhand der drei Wesensmomente der Sorge in ihrem Vollzug von selbst. Deshalb ist die Definition des Lebens, die sich anhand des Strukturganzen der Sorge gewinnen lässt, dem Leben immanent. Sie besagt, dass das menschliche Leben die freie, sinnhafte Gestaltung des je eigenen Projekts in einer kulturell und geschichtlich bestimmten Welt ist. In dieser Definition liegt ein für die Bestimmung des Lebens grundlegender Aspekt verborgen, der schon angesprochen, aber noch nicht ausreichend thematisiert wurde, und den es deshalb nun zu erschließen gilt: die stark normative Implikation des hier sich konturierenden Lebensbegriffs. Die schon erwähnte Abschaffung 77
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Vattimo: Introduzione a Heidegger, 22: „L’essere dell’uomo consiste nel rapportarsi a delle possibilità; ma concretamente questo rapportarsi si attua non in un astratto colloquio con se stesso, bensì come esistere concretamente in un mondo di cose e di altre persone.“ [Übers. G.C.]. Vattimo: Introduzione a Heidegger, 22: „Esso [Dasein] esprime bene il fatto che l’esistenza non si definisce solo come oltrepassamento, che trascende la realtà data in direzione della possibilità, ma che questo oltrepassamento è sempre oltrepassamento di qualcosa, è sempre, cioè, concretamente situato, ci è.“ [Übers. G.C.]
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aller möglichen Abstufungen und das Ausbleiben der einzigen radikalen Alternative des Entweder-Oder ist eine Konsequenz der dem menschlichen Leben immanenten Normativität. In diesem Kontext soll jedoch Normativität frei von moralischen Implikationen verstanden werden: Normativ ist das menschliche Leben nicht aufgrund von Verpflichtungen und Geboten, die der Lebensführung Vorschriften machen.79 Normativ ist das Leben, insofern jeder Mensch die Aufgabe des Selbstverständnisses und daher der Selbstwerdung erfüllen muss. Jeder Mensch, der Mensch sein will, sieht sich zwangsläufig mit dieser Aufgabe konfrontiert, d.h. die Unergründlichkeit seines Selbst zu ergründen.80 Darin besteht die Verbindlichkeit des Lebens, für die der Ausdruck ‚Selbst-verbindlichkeit‘ am geeignetsten scheint. Denn die Notwendigkeit zur Selbstwerdung ist dem Selbst, das zu werden hat, inhärent. Mit anderen Worten bedeutet das, dass das Selbst seinem Wesen nach Selbstdeutung und Selbstwerdung beansprucht. Darin besteht die radikale Reflexivität der Verbindlichkeit, die das menschliche Leben auszeichnet und die sich daher als Selbst-Verbindlichkeit bezeichnen lässt. Angesichts der bisherigen Analyse, die die Prozesse der Selbstdeutung und Selbstwerdung für das menschlichen Leben als kennzeichnend bestimmt hat, und in Anbetracht des gerade gewonnenen Begriffs der Selbst-Verbindlichkeit, lässt sich eine sehr verdichtete, zugleich aber prägnante Definition des menschlichen Lebens formulieren: Das menschliche Leben besteht in seiner Selbst-Verbindlichkeit.81 Entspre79 80
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In diesem Zusammenhang ist interessant anzumerken, dass Vattimo die Sorge als nicht moralische Übernahme von Verantwortung definiert. (Vgl. Vattimo: Introduzione a Heidegger, 43) Erhellend ist in diesem Zusammenhang, wie Cassirer in Anlehnung an Sokrates Apologie auf die Frage nach dem Menschen antwortet: „Er ist, so wird uns erklärt, dasjenige Geschöpf, das ständig auf der Suche nach sich selbst ist, das in jedem Augenblick seines Denkens die Bedingungen seiner Existenz erkunden und sorgfältig prüfen muß. In dieser Prüfung, in dieser kritischen Einstellung liegt der wahre Wert des menschlichen Lebens begründet ‚Ein Leben ohne Selbstforschung‘, sagt Sokrates in seiner Apologie, ‚verdient gar nicht gelebt zu werden‘.“ (Cassirer: Versuch über den Menschen, 22) Auch die folgende Behauptung Plessners bringt den absoluten Stellenwert der Unergründlichkeit des Menschen zum Ausdruck: „Es muß offenbleiben, um der Universalität des Blickes willen auf das menschliche Leben in der Breite aller Kulturen und Epochen, wessen der Mensch fähig ist. Darum rückt in den Mittelpunkt der Anthropologie die Unergründlichkeit des Menschen, und die Möglichkeit zum Menschsein, in der beschlossen liegt, was den Menschen allererst zum Menschen macht, jenes menschliche Radikal, muß nach Maßgabe der Unergründlichkeit fallen. […] Die Unergründlichkeit seiner [des Menschen] selbst ist das um des Ernstes seiner Aufgaben willen verbindliche Prinzip seines Lebens und seines Lebensverständnisses.“ (Helmuth Plessner: Macht und menschliche Natur. Ein Versuch zur Anthropologie der geschichtlichen Weltansicht (1931). In: Günter Dux; Odo Marquard; Elisabeth Ströker (Hg.): Helmuth Plessner. Gesammelte Schriften. Macht und menschliche Natur. Bd. V. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, 135–234; 161) Trotz seiner Lapidarität zeichnet diese Definition das menschliche Leben in seiner vollen Komplexität aus. Dies wird auch dadurch bestätigt, dass es von dieser Definition ausgehend möglich wird, den Argumentationsaufbau, der zu dieser Definition geführt hat, zurückgehen. Die Auseinandersetzung mit dem Leben hat ihren Ausgang in der Faktizität genommen und ist dann Schritt für Schritt über das Seinkönnen zum Sein-bei und zur tatsächlichen Gestaltung des Lebens gelangt. Wenn nun das Gedankenspiel unternommen
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chend bedeutet Menschsein – so widersprüchlich diese Formulierung auch klingen mag – sich an sich selbst zu binden; die volle Verantwortung für die Selbstwerdung und die Gestaltung des je eigenen Selbst zu übernehmen. Wenn also im Folgenden die Bedeutung der Kunst für das Leben erschlossen werden soll, gilt es, das Leben als verbindlich reflexiven Prozess der Selbstwerdung zu verstehen. Diese Definition des menschlichen Lebens im Hinterkopf wird nun der Fokus auf die bereits implizit erwähnte Spannung zwischen der Freiheit der Gestaltung des Lebens und seiner unüberwindbaren Bedingtheit gelegt, um die Wechselbeziehung der zwei Pole dieser Spannung genauer betrachten zu können. Dies führt zur Revidierung des Stellenwerts, die Heidegger, Adorno und Benjamin in ihrer jeweiligen Analysen dem Entmenschlichungsprozess zuschreiben, was die Möglichkeit eröffnet, eine systematische Basis zu fixieren, auf welcher die Bedeutung der Kunst für das menschliche Leben erschlossen werden kann. Es geht demnach im Folgenden darum, die gegenseitige Implikation von Freiheit und Bedingtheit, durch die sich die dem menschlichen Leben inhärente Spannung auszeichnet, darzulegen. Durch die Auseinandersetzung mit dem Seinkönnen als Existenzialität konnte bereits die Freiheit mit der Jemeinigkeit des Lebens und mit der Frage nach dem Sinn des je eigenen Lebens in Verbindung gebracht werden. Die Definition des Lebens als Selbst-Verbindlichkeit macht jedoch ersichtlich, dass die absolute Freiheit, die dem Menschen als Seinkönnen für die Gestaltung seines je eigenen Lebens zukommt, normative Implikationen mit sich führt. Denn diese Freiheit realisiert sich an der Schnittstelle zur notwendigen Selbstbindung des Menschen an sein Selbst. Die Freiheit, die die Existenz ausmacht, ist daher ihrem Wesen nach mit einer Verantwortung gegenüber dem je eigenen Selbst verknüpft. Entsprechend lehnt eine so verstandene Freiheit jede mögliche Gleichsetzung mit Beliebigkeit oder Willkür ab. Freiheit heißt vielmehr, sich bewusst an sich selbst zu binden. Diese für den Menschen notwendige Selbstbindung weist dennoch eine Eigenschaft auf, die die Verantwortung gegenüber dem je eigenen Selbst und daher die freie, sinnvolle Gestaltung des je eigenen Projekts in eine den Menschen herausfordernde Aufgabe transformiert: Dem Selbst ist eine radikale Unverfügbarkeit eigen. Angehrn verdeutlicht dies mit den folgenden Worten:
wird, von der gerade erschlossenen Selbst-Verbindlichkeit im Sinne der Aufgabe der Selbstdeutung und Selbstwerdung eines Selbst auszugehen, wird die Freiheit der Gestaltung des je einigen Lebens sofort sichtbar. Doch diese führt notwendigerweise zur tatsächlichen Gestaltung des Lebens und daher zur Welt und zu seinem verbindlichen Charakter. Dadurch wird der Verweis auf jene Spannung, die das Leben ausmacht, ersichtlich und somit auch das Zusammenspiel von Faktizität, Existenzialität und Sein-bei, das die Sorge als Strukturganzes des Daseins mit sich bringt. Dies verstärkt die Auffassung, dass die Selbst-Verbindlichkeit des Lebens – in der Bedeutung, die hier Anwendung findet – die ausreichende und notwendige Bedingung der Möglichkeit eines menschlichen Lebens ist, die daher mit dem Leben identisch ist.
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Wenn die Anthropologie den Menschen als das „nicht festgestellte Tier“82 (Nietzsche) behandelt, so ist damit ein Wesenszug angesprochen, der nach zwei Seiten explizierbar ist: Was nach der einen Seite die Instinktarmut, die Nicht-Festgelegtheit im Verhalten und in den Entwicklungspotentialen ist, ist nach der Gegenseite die Offenheit und in eins damit die Interpretationsbedürftigkeit, die Notwendigkeit, sich eine bestimmte Auslegung, ein Verständnis seiner selbst zu erarbeiten.83
Denn das Selbst, das der Mensch als Selbst ist, entsteht erst im Vollzug des jeweiligen Selbstbezugs. Die Freiheit des Seinkönnens stellt deshalb jeden Menschen seiner Unverfügbarkeit gegenüber. Dieser Sachverhalt lässt sie Feststellung zu, dass das menschliche Leben im Grunde selbst für den Menschen unverfügbar und unzugänglich ist. Das Selbstverständnis, das die Bedingung der Möglichkeit eines menschlichen Lebens ist, zwingt jeden Menschen dazu, mit seiner Unverfügbarkeit zu Rande zu kommen. Die unüberwindliche Widersprüchlichkeit, die zwischen der Notwendigkeit des Selbstbezugs und der radikalen Indisponibilität des Selbst entsteht, verlangt von jedem Menschen, ausgehalten zu werden. D.h. dass jeder Mensch, der ein menschliches Leben führen will, mit Kraft, Mut und Ausdauer die grundlegende Unverfügbarkeit seines Selbst ertragen muss. In Anbetracht dessen zeigt sich die tiefe Beunruhigung, die dem Menschen eine solche Unverfügbarkeit bereitet. Denn sie konfrontiert den Menschen mit einer endlosen Suche nach dem eigenen Selbst, die sich auf keinerlei ‚Anhaltspunkte‘ stützen kann,
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Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft (1986). In: Giorgio Colli; Mazzino Montinari (Hg.): Nietzsche. Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral Kritische Studienausgabe. Bd.5. Berlin/New York: De Gruyter 1988, 9–244; 81. Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 167. Angehrn präzisiert diese Selbst-Indisponibilität des Menschen folgendermaßen: „Uneinholbar bleibt ihm [dem Menschen] die retrospektive wie die prospektive Selbstpräsenz, die Identität des Ursprungs wie des Abschlusses: der Mensch kommt nie ganz aus sich und gelangt nie ganz zu sich. Seine Selbstbeschreibung ist weder je absolut original noch je vollendet.“ (Angehrn: Selbstsein und Selbstverständigung, 178) Es ist bemerkenswert, dass die Indisponibilität des Selbst einen Ausgangspunkt der Frage nach dem Menschen in der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts darstellt. (Vgl. Thomas Rentsch: Die Macht der Negativität. Kritik und Rekonstruktion philosophischer Anthropologie im Blick auf Gehlen. In: Joachim Fischer; Hans Joas (Hg.): Kunst, Macht und Institution. Studien zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theorie und Kultursoziologie der Moderne. Festschrift für Karl-Siegbert Rehberg. Frankfurt a.M.: Campus-Verlag 2003, 41–57; Gerhard Gamm: Der unbestimmte Mensch. Zur medialen Konstruktion von Subjektivität. Berlin: Philo 2004; Joachim Fischer: Philosophische Anthropologie. Zur Rekonstruktion ihrer diagnostischen Kraft. In: Jürgen Friedrich (Hg.): Unter offenem Horizont. Anthropologie nach Helmuth Plessner. Frankfurt a.M./Berlin: Lang 1995, 249– 280; Volker Schürmann: Unergründlichkeit und Kritik-Begriff. Plessners politische Anthropologie als Ansage an die Schulphilosophie. In: Christoph Demmerling; Andrea Esser; Axel Honneth; Hans-Peter Krüger (Hg.): Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45/3. Berlin: de Gruyter 1997, 345–361; Wolfgang Eßbach: Der Mittelpunkt außerhalb. Helmuth Plessners philosophische Anthropologie. In: Wolfgang Eßbach (Hg.): Die Gesellschaft der Dinge, Menschen, Götter. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss. 2011, 25–50)
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weil es diese Suche selbst ist, durch die überhaupt erst Anhaltspunkte entstehen. Der Mensch wird daher völlig auf sich selbst zurückgeführt. Die Selbstbindung an das je eigene Selbst, seine grundlegende Unverfügbarkeit und die dadurch bewirkte Beunruhigung für den Menschen zeichnen die Freiheit des Seinkönnens aus. Insofern handelt es sich bei dieser Freiheit um eine Seite jener Spannung, die das menschliche Leben ausmacht. Die andere Seite dieses Spannungsbogens bildet die Bedingtheit, die sich aus den Strukturen einer kulturell und geschichtlich bestimmten Welt ergibt. Diese Strukturen, deren Unüberwindlichkeit schon deutlich gezeigt werden konnte, stehen an sich allerdings nicht in einem kontradiktorischen Verhältnis zur Freiheit und zur Unverfügbarkeit des Lebens. Denn Faktizität und Existenzialität sind, wie anhand des Strukturganzen der Sorge gezeigt werden konnte, ontologische Wesenszüge des Menschen. Inwiefern ist die Bedingtheit nun aber dennoch ein Gegenpol zur Freiheit? Diese Frage lässt sich beantworten, insofern berücksichtigt wird, dass soziale, geschichtliche, kulturelle und gesellschaftliche Strukturen sichere, bereits erprobte Systeme darstellen, die den Menschen dazu verleiten können, sich darauf zu stützen und sich sogar damit zu identifizieren. In diesem Sinne weisen die Weltstrukturen einen impliziten, verlockenden Charakter auf, da sie dem Menschen vortäuschen, die tiefe Beunruhigung seiner ständigen Suche nach dem Sinn des Lebens ausgleichen und ihm die Verantwortung gegenüber seinem eigenen Selbst abnehmen zu können. Deswegen bestimmt Heidegger das alltägliche Leben in Sein und Zeit als das Leben des ‚Man‘.84 Das Man „nivelliert alles Große und Bedeutende“,85 verhindert die „Gewinnung eines eigenen Standpunktes“,86 ebnet alle Seinsmöglichkeiten des Daseins ein. Das ‚Man‘ drückt „eine unbedachte und kritiklose Beteiligung an einer sozial-geschichtlich bestimmten Welt aus: an deren Vorurteilen, an deren Neigungen und Verweigerungen“.87 Das Man ist das unre84 85 86 87
Vgl. SZ, 168–173. Rentsch: „Sein und Zeit“, 58. Frede: Sein, 281. Vattimo: Inroduzione a Heidegger, 38: „Nella quotidianità media […] la preliminare comprensione del mondo che costituisce l’esserci si attua sempre come partecipazione irriflessa e acritica a un certo mondo storico-sociale, ai suoi pregiudizi, alle sue propensioni e ai suoi rifiuti.“ [Übers. G.C.]. „[S]ich ein Etwas aneignen (Etwas kennen), will auch heißen, es in seinem eigenen Existenzprojekt anzunehmen. Unter dieser Perspektive versteht man, dass die Uneigentlichkeit des Man darin besteht, dass sein Projekt nie ein wahres ‚Projekt‘ ist; die Dinge, worüber Man spricht, sind nie in einem konkreten, von jemandem bewusst gestalteten und vollgezogenen Projekt. […] Die von einem wahren Projekt losgelösten Dinge können nicht in ihrer wahren Natur – d.h. als Möglichkeiten – wahrgenommen werden, sondern nur als ‚Objekte‘. Auch die Konzeption des Seins als bloße Vorhandenheit ist folglich mit der Uneigentlichkeit, die das Man auszeichnet, unmittelbar verbunden.“ (Vattimo: Introduzione a Heidegger, 42: „appropriarsi della cosa vuol dire anche, assumerla dentro il proprio progetto di esistenza. Da questo punto di vista, si capisce come l’inautenticità del si consista nel fatto che il suo non è mai un vero ‚progetto‘; le cose di cui parla il si non sono incontrate nell´ambito di un progetto concreto, deciso e scelto davvero da qualcuno. […] Nel si, le cose, slegate da un vero progetto, non si presentano nella loro vera
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flektierte Mitschwimmen mit dem common sense: „Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom ‚großen Haufen‘ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden ‚empörend‘, was man empörend findet.“88 Dort, wo diese Sinnstrukturen das tiefe Verhältnis jedes Menschen zu seinem eigenen Selbst ersetzen, wird das menschliche Leben korrumpiert. Denn trotz der unüberwindbaren Bedingtheit der Welt, die auch den Bezug jedes Menschen zu seinem eigenen Selbst vermittelt, bleibt die Möglichkeit eines menschlichen Lebens von der bewussten Selbstbindung abhängig. Dennoch neigt der Mensch aufgrund der Unverfügbarkeit des Selbst und der tiefen Beunruhigung, die die Radikalität des Selbstverständnisses impliziert, dazu, sich auf geschichtlich und kulturell festgelegte Strukturen zu stützen, die das Selbstverständnis ersetzen. Dies bewirkt, dass der Mensch überlebt, ohne zu existieren. Auf Basis dieser Überlegungen wird eine neue Perspektive auf die zeitkritischen Diagnosen Heideggers, Adornos und Benjamins gewonnen. Der Entmenschlichungsprozess, den die drei Autoren der modernen Welt zu Recht unterstellen, gewinnt eine existenzial-ontologische Bedeutung, aufgrund derer der kontingente Charakter ihrer jeweiligen Diagnosen deutlich zum Vorschein kommt. Im Anschluss an die oben geschilderte, unüberwindbare Spannung, die das menschliche Leben ausmacht, lässt sich auch der Entmenschlichungsprozess, der in den Analysen der drei Autoren in einer geschichtlichen Kontingenz verhaftet bleibt, als eine dem Menschen natürliche Neigung verstehen. Dieser Prozess zeigt sich weder als Folge der Seinsvergessenheit – wie Heidegger behauptet –, noch ist er – wie Adorno meint – auf die Entstehung des Privateigentums zurückzuführen und wird auch nicht – wie Benjamin feststellt – von der Entwicklung neuer technischer Produktivkräfte verursacht. Der Entmenschlichungsprozess ist vielmehr Ausdruck einer gewissen ‚Schwäche‘ des Menschen, der es vorzieht, sich auf bereits festgelegte Sinnstrukturen zu stützen, anstatt sich mit seinem eigenen Selbst auseinanderzusetzen. Es gilt nun diese Weltstrukturen, in der die Spannung zwischen Bedingtheit und Freiheit für jeden Menschen entsteht‚ zu fokussieren, da Kunst und Leben genau dort aufeinander treffen. Diesbezüglich erweist sich eine Analyse der Welt in vielerlei Hinsicht als notwendig: Als verbindlicher Bedeutungshorizont stellt die Welt erstens die Bedingtheit dar, die eine der beiden Polen der Spannung ausmacht. Als Bedeutungshorizont stellt die Welt zweitens die geschichtlich und kulturell bestimmte Dimension dar, in der alleine diese Spannung ausgehalten werden kann. Und als beweglicher Bedeutungshorizont konstituiert sich die Welt drittens in dieser Spannung.
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natura di possibilità, ma solo come ‚oggetti‘; anche la visione dell’essere delle cose come semplice-presenza si rivela così come legata all’inautenticità e alla mancanza di appropriazione che caratterizza il si.“ [Übers. G.C.]) SZ, 169.
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Für das Hauptanliegen der vorliegenden Arbeit sind diese vielschichtigen Implikationen der Welt deswegen von großer Bedeutung, da sie die Voraussetzung dafür bilden, dass die Frage nach dem Wesen der Kunst gestellt und aufgrund dessen ihre Bedeutung für den Menschen erschlossen werden kann. Folglich besteht das Ziel des nächsten Abschnitts darin, über eine Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Welt jene verbindlichen Strukturen zu erschließen, aufgrund derer die Realisierung der Selbstbindung für den Menschen zu einer Herausforderung wird. Die Verfolgung dieses Ziels wird zu einer Gleichsetzung von Welt und Kultur führen, woran anschließend die Kunst als kulturelle Ausdrucksform befragt werden soll.
2.2 Die Welt Die vorgenommene Analyse der ‚Faktizität‘ und des ‚Sein-bei‘ hat den Akzent auf die unüberwindliche Verbindlichkeit der Welt als Bedeutungshorizont gelegt. Es gilt im Folgenden, gerade diese Verbindlichkeit zu erforschen. Worin besteht und woraus entsteht sie? Was ist genau verbindlich an der Welt? Und was ist in diesem Zusammenhang überhaupt mit Welt gemeint?89
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An dieser Stelle ist eine Präzisierung notwendig. Die Unbestimmtheit der Weltlichkeit der Welt in Sein und Zeit eröffnet einen großen Interpretationsraum, der in der Forschungsliteratur zu Heidegger unterschiedlich ‚gefüllt‘ wurde. In diesem Sinne hat Robert Brandom eine pragmatische Deutung der Weltlichkeit vorgeschlagen (vgl. Robert Brandom: Heideggers Kategorien in „Sein und Zeit“. In: Christoph Demmerling; Andrea Esser; Axel Honneth; Hans-Peter Krüger (Hg.): Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 45/4. Berlin: de Gruyter 1997, 531–550), während Autoren wie Roberto Esposito und Dieter Thomä in der Weltlichkeit die Ethik sehen, die Heidegger nie geschrieben hat. Esposito tut dies, indem er versucht, die Ethik Heideggers vor nationalsozialistischen Implikationen zu retten (vgl. Roberto Esposito: Die ursprüngliche Gemeinschaft. In: Christoph Demmerling; Andrea Esser; Axel Honneth (Hg.): Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 45/4. Berlin: de Gruyter 1997, 551–558), Dieter Thomä sieht hingegen gerade in dieser Ethik Spuren des nationalsozialistischen Denkens Heideggers. (Vgl. Dieter Thomä: Was heißt ‚Verantwortung des Denkens‘? Systematische Überlegungen mit Berücksichtigung Martin Heideggers. In: Christoph Demmerling; Andrea Esser; Axel Honneth; Hans-Peter Krüger (Hg.): Deutsche Zeitschrift für Philosophie, 45/4. Berlin: de Gruyter 1997, 559–572) Heinz Dieter Kittsteiner hebt dagegen die kulturkritischen Aspekte der Weltlichkeit hervor und sieht darin unbestreitbar politische Implikationen. (Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Heideggers Amerika als Ursprungsort der Weltverdüsterung. In: Christoph Demmerling; Andrea Esser; Axel Honneth; HansPeter Krüger (Hg.): Deutsche Zeitschrift für Philosophie 45/4. Berlin: de Gruyter 1997, 599– 617) Diese verschiedenen Deutungen der Heideggerschen Weltlichkeit sind in der Tat alle legitim. Denn ihre Unbestimmtheit leistet möglichen ‚Inhalten‘ Vorschub, die sich zwischen den Forschungsbereichen des Pragmatismus, der Erkenntnistheorie, der praktischen und politischen Philosophie und nicht zuletzt der Kulturkritik positionieren können. Trotz ihrer Relevanz für die Bestimmung der Welt und der Weltlichkeit in Sein und Zeit werden diese Vorschläge im Folgenden nicht berücksichtigt. Denn die Aufmerksamkeit wird sich im Folgenden auf die Klärung struktureller, nicht aber inhaltlicher Aspekte der Welt als Bedeutungshorizont und zugleich als Weltlichkeit des Daseins richten.
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Bislang wurde von einem Weltbegriff Gebrauch gemacht, der seiner Struktur nach implizit eine ‚kulturelle Konnotation‘ aufweist. Dies mag angesichts der berühmten ‚Davoser Disputation‘ zwischen Heidegger und Cassirer verblüffen.90 Dennoch impliziert und bestätigt Heideggers Bestimmung der Welt als Bedeutungshorizont bzw. Bedeutsamkeit „jene Differenz von Faktizität und Geltung“91 bzw. von Faktizität und Bedeutung,92 aus der – wie Ralf Konersmann zeigt – Kultur entsteht. Dass es dadurch möglich wird, den Weltbegriff durch jenen des Kulturbegriffs zu ersetzen, erleichtert dennoch keineswegs die eindeutige Bestimmung dieser beiden Begriffe: Denn wenn Welt einerseits bereits ein strittiger Begriff ist,93 entzieht sich andererseits auch die Kultur der Bestimmtheit einer er90
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Der Rekurs auf Cassirer hat an dieser Stelle vornehmlich zwei Funktionen. Einerseits sollen jene Aspekte der Welt als Kultur, die in Heideggers Analyse unberücksichtigt bleiben und die hingegen im Denken Cassirers hervortreten, zum Ausdruck gebracht werden. Unter dieser Perspektive haben die beiden Autoren eine komplementäre Funktion im Rahmen dieses Kapitels. Zugleich will der Verweis auf Cassirer andererseits zeigen, dass das Forschungsziel dieser Arbeit kein kulturphilosophisches ist. Es geht vielmehr darum, von kulturphilosophischen Prämissen ausgehend über den Forschungsbereich der Kulturphilosophie hinauszugehen. In diesem Sinne wird im Folgenden weder das Verhältnis Heideggers zur Kulturphilosophie im Allgemeinen, noch jenes Heideggers und Cassirers und auch nicht die aktuelle Debatte über ihr Verhältnis untersucht. Luger Heidbring und Claus Lengbehn erklären das Davoser Treffen zu einem endgültigen Wendepunkt in Heideggers Auseinandersetzung mit der Kulturphilosophie. Sie fassen mit den folgenden Worten das Verhältnis Heideggers zur Kulturphilosophie zusammen: „Von einem anfänglich neutralen Verhältnis zur zeitgenössischen Kulturphilosophie (Windelband, Lotze, Spengler) über die Distanzierung von Cassirers kulturwissenschaftlicher Transformation der Kantischen Philosophie bis zur Zurückweisung der Kulturkritik von Klages und Ziegler setzt sich Heidegger schrittweise von einer kulturphilosophischen Tradition ab, die seiner Ansicht nach auf einem anthropologisch und metaphysisch verengten Verständnis der Kultur beruht.“ (Ludger Heidbrink; Claus Lengbehn: Martin Heidegger. In: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie. Stuttgart: J.B. Metzler und Carl Ernst Poeschel 2012, 133–138; 137) (Vgl. für einen Überblick über das Verhältnis Heideggers und Cassirers: Karlfried Gründer: Heidegger und Cassirer in Davos 1929. In: Hans-Jürg Braun; Helmut Holzhey; Ernst Wolfgang Orth (Hg.): Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, 290–302; Recki Birgit: Kultur als Praxis. Eine Einführung in die Philosophie Ernst Cassirers. München: Oldenbourg Akademieverlag 2009, 133–144; 189–209; Dieter Sturma: Die Davoser Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger. Kontroverse Transzendenz. In: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, 86–91; Dominic Kaegi; Rudolph Enno (Hg.): Cassirer-Heidegger. 70 Jahre Davoser Disputation. Hamburg: Meiner 2002) Ralf Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung. Hamburg: Junius 2003, 33. Vgl. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, 42–43. Ernst Wolfgang Orth stellt die Problematik einer eindeutigen Bestimmung der Welt fest: „Tatsache ist, dass die Wort- und Begriffsgeschichte von ‚Welt‘ und verwandten Begriffen lexikographisch recht gut belegt ist, was allerdings noch nichts über die angemessene Beantwortung der Frage nach dem rechten Weltverständnis besagt.“ (Ernst Wolfgang Orth: Welt. In: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie. Stuttgart: J.B. Metzler und Carl Ernst Poeschel 2012, 408–416; 410) Auch Bermes macht in der Einleitung zu ‚Welt‘ als Thema der Philosophie deutlich, dass keine eindeutige Antwort auf die Frage nach der Welt möglich ist. Er verweist damit auf die paradoxe Situation der Philosophie des 19. und 20. Jahrhunderts, die, obwohl sie als Weltphilosophie definiert werden kann, über keine Defi-
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schöpfenden Definition.94 Was wird nun für die Untersuchung der Welt und ihrer Verbindlichkeit dadurch gewonnen, dass der strittige Weltbegriff durch die noch uneindeutigere Bezeichnung ‚Kultur‘ ersetzt wird? Dass die Austauschbarkeit von Kultur und Welt für das hier vorfolgte Ziel, den verbindlichen Charakter der Welt zu erschließen, nicht fruchtbar gemacht werden kann, erweist sich jedoch dann als falsche Schlussfolgerung, wenn berücksichtigt wird, dass die Konvertibilität von Kultur und Welt95 nicht so selbstverständlich ist, wie sie aussehen mag. Obwohl sich erste kulturelle Konnotationen der Welt schon in den vorchristlichen Zeiten finden, ist die Identität von Kultur und Welt eine ‚Errungenschaft‘ der Anfänge des 20. Jahrhunderts.96 Im Rückgriff auf Karl Löwith erklärt Ernst Wolfgang Orth, wie erst zu diesem Zeitpunkt die klassische metaphysische Triade Welt-Gott-Mensch definitiv ihr Bindeglied ‚Gott‘ verliert, so dass die Idee der gegenseitigen Abhängigkeit von Mensch und Welt entsteht.97 Obwohl sich dementsprechend zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts in vielen Disziplinen Forschungstexte zu diesem Thema finden lassen,98 wird das Verhältnis von Mensch und Welt systematisch erst durch jenen Denkansatz behandelt, der später als Kulturphilosophie bezeichnet wurde.99 Gerade im Rahmen kulturphilosophischer Perspektiven lässt sich die hier implizit vertretene Konvertibilität von Welt und Kultur behaupten. Dies führt zu einer Präzisierung der zuvor gestellten Frage nach der Welt und ihrer Verbindlichkeit. Denn trotz der immer wieder bestätigten Unmöglichkeit einer erschöpfenden Definition von ‚Kultur‘ verfügt die Kulturphi-
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nition von Welt verfügt. (Vgl. Christian Bermes: ‚Welt‘ als Thema der Philosophie. Vom metaphysischen zum natürlichen Weltbegriff. Hamburg: Meiner 2004) Vgl. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, 8–9. Obwohl Konersmann nicht bestreitet, dass es möglich ist, zwischen den verschiedenen Verwendungen des Kulturbegriffs zu unterscheiden, und eine Unterteilung in vier Verwendungsweisen dieses Begriffs vorschlägt – deskriptiv, dynamisch, archäologisch und normativ (vgl. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, 15–16) –, betont er, dass sich die Frage nach der Kultur nicht eindeutig beantworten lässt. Die Unmöglichkeit ihrer eindeutigen Bestimmung zeichnet die Kultur nicht nur im Rahmen eines philosophischen Diskurses aus, sondern schlägt sich auch im alltäglichen Gebrauch des Kulturbegriffs nieder. (Vgl. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, 12) Diese Meinung teilt auch Recki, die die Mehrdeutigkeit des Kulturbegriffs hervorhebt und zwischen drei Hauptbedeutungen unterscheidet. (Vgl. Recki: Kultur als Praxis,19; 21) Vgl. Orth: Welt, 412. Vgl. Orth: Welt, 409. Vgl. Orth: Welt, 411. Orth zeigt durch eine Auflistung der wichtigsten Buchtiteln, die zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts zu diesem Thema erschienen sind, dass die Begriffskombination ‚Mensch und Welt‘ in den Forschungsinteressen der verschiedenen Wissenschaften zunehmend an Bedeutung gewonnen hat. Ihnen sei gemeinsam, „dass sie den Menschen immer in einen konkreten Wirklichkeitszusammenhang stellen wollen und sich auch für die vortheoretischen Lebensverhältnisse interessieren, um die entwickeltere Weltstellung des Menschen als Kultur besser zu verstehen“. (Orth: Welt, 414) Dieses Interesse am Menschen und an der Kultur wird nicht zuletzt – wie Orth weiter bemerkt – von der philosophischen Anthropologie geteilt. (Vgl. Orth: Welt, 414) Vgl. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, 73–83.
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losophie über eine einheitliche Konzeption dieses Phänomens, die dazu beiträgt, die Welt als Bedeutungshorizont und somit ihre Verbindlichkeit zu erschließen. In Anlehnung an Simmel und vor allem an Cassirer stellt Konersmann fest: So etwas wie „die Kultur“ gibt es gar nicht. Es gibt nur diese Fülle von Ereignissen und Manifestationen, diese Masse von Hinterlassenschaften und Verweisen, diese vielfältigen, in Worten, Gesten, Werken, Regeln, Techniken niedergelegten Formen menschlicher Intelligenz und Weltbearbeitung. Aus dieser Vielfalt menschlicher Aktivität und Produktion geht die Kultur als der provisorische und in unablässiger Bewegung begriffene Mentalitäts- und Handlungszusammenhang, als der offene Kommunikationsraum hervor, der sie ist. Kultur wird also, gleichsam von Augenblick zu Augenblick, gemacht.100
Entsprechend sieht Konersmann – wiederum in Anlehnung an Cassirer – die Aufgabe der Kulturphilosophie in der anhaltenden Suche nach einer funktionalen Einheit von stabilen Formen und variablen Verhältnisbestimmungen dieser Formen.101 In Rückgriff auf Konersmanns Darstellung der Kultur lassen sich zwei Aspekte erschließen, die den hier gesuchten Weltbegriff auszeichnen und daher den Ausgangspunkt für die Frage nach ihrer Verbindlichkeit darstellen. Der erste Aspekt verstärkt die bereits behauptete, implizite Entsprechung von Welt und Kultur: Kultur ist dynamisches Ergebnis menschlichen Handelns. Dieses Handeln ist – wie Cassirer argumentiert – immer ein symbolisches Tun; ein Tun also, das ein bedeutungsvolles Gestalten, Formen, Bilden ist und das immer schon durch bestimmte Systeme der Zeichen- und Bedeutungsbildung vermittelt ist.102 Diese Systeme nennt Cassirer „symbolische Formen“103, die sich als Wege der Objektivierung des menschlichen Geistes bzw. als Wege der Selbstverwirklichung des menschlichen Lebens bezeichnen lassen. Sprache, Mythos, Religion, Wissenschaft und Kunst werden daher von Cassirer als ‚symbolische Formen‘ und als solche als nicht aufeinander reduzierbare Grundfunktionen des Menschseins aufgefasst.104 100 101 102 103
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Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, 8–9. Vgl. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, 28–33. Vgl. Cassirer: Versuch über den Menschen, 52–71. „Unter einer ‚symbolischen Form‘ soll jede Energie des Geistes verstanden werden, durch welche ein geistiger Bedeutungsgehalt an ein konkretes sinnliches Zeichen geknüpft und diesem Zeichen innerlich zugeeignet wird. In diesem Sinne tritt uns die Sprache, tritt uns die mythisch-religiöse Welt und die Kunst als je eine besondere symbolische Form entgegen. Denn in ihnen allen prägt sich das Grundphänomen aus, daß unser Bewußtsein sich nicht damit begnügt, den Eindruck des Äußeren zu empfangen, sondern daß es jeden Eindruck mit einer freien Tätigkeit des Ausdrucks verknüpft und durchdringt. Eine Welt selbstgeschaffener Zeichen und Bilder tritt dem, was wir die objektive Wirklichkeit der Dinge nennen, gegenüber und behauptet sich gegen sie in selbständiger Fülle und ursprünglicher Kraft.“ (Ernst Cassirer: Der Begriff der symbolischen Form im Aufbau der Geisteswissenschaften (1923). In: Birgit, Recki (Hg.): Ernst Cassirer. Aufsätze und kleine Schriften (1922–1926). Gesammelte Werke, Bd. 16. Hamburg: Felix Meiner 2003, 75–104; 79) Vgl Cassirer: Versuch über den Menschen, 110. Die hier aufgelisteten Formen sind die symbolischen, die Cassirer in Philosophie der symbolischen Formen ausdrücklich nennt. 1930 behandelt Cassirer in seinem Aufsatz Form und Technik auch die Technik als symbolische Form.
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Diese symbolischen Formen existieren nicht als abstrakte Kategorien, sie haben sich immer schon in bestimmten Handlungen und Werken und selbst in Wahrnehmungen aktualisiert. Aus der Fülle dieser Aktualisierungen ergibt sich das, was Cassirer „‚Symbolnetz‘ oder Symbolsystem“105 nennt: die Kultur. Daran anschließend ergibt sich der zweite Aspekt, der den Weltbegriff auszeichnet. Er besteht in der grundlegenden Unabschließbarkeit der kulturphilosophischen Aufgabe, die sich mit einer gewissen Kontingenz konfrontiert sieht. Denn die Fülle etwa von Ereignissen, Phänomenen oder Werken verlangt nach ständig neuen Interpretationen. Die Welt als Kultur zu verstehen, will daher auch heißen, auf endgültige Gewissheit zu verzichten und sich der Kontingenz der Bedeutung zu stellen.106 Somit ist der Rahmen abgesteckt, in dem die Heideggersche Welt als Bedeutsamkeit ihrer Struktur nach mit der von der Kulturphilosophie entwickelten Idee von Kultur gleichgesetzt werden kann.107 Das hier verfolgte Ziel ist aber kein kulturphilosophisches im Sinne Konersmanns.108 Denn seiner Auffassung nach zielt die Kulturphilosophie darauf ab, das fait culturell bzw. das Werk, in dem sich allgemeine geistige Bedeutungen kristallisieren, zu erschließen und anhand dessen eine allumfassende, aber dennoch stets kontingente, zeitgebundene Bedeutsam-
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1944 fügt Cassirer in Versuch über den Menschen die Geschichte zu den symbolischen Formen hinzu. Cassirer: Versuch über den Menschen, 49. Vgl. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, 9–19; 81–83. Die hier behauptete Gleichstellung der Heideggerschen Welt und der Kultur der Kulturphilosophie gilt es an dieser Stelle zu präzisieren. Diese Gleichsetzung bedeutet nicht, dass die Weltlichkeit als Existenzial des Daseins – so wie Heidegger sie denkt und darstellt – in all ihren Aspekten vollkommen der Idee von Kultur, die Cassirer ausarbeitet, entspricht. Die Unterschiede zwischen dem Denken Heideggers und jenem Cassirers bleiben grundlegend und betreffen nicht zuletzt ihre jeweilige Einstellung zur Kultur. Diesbezüglich räumt das Davoser Treffen jeden möglichen Zweifel aus. Die Gleichstellung der Heideggerschen Welt und des Kulturbegriffs Cassirers will darauf aufmerksam machen, dass man es, wenn man von möglichen Inhalten der Weltlichkeit der Welt absieht und lediglich die Frage nach der Verbindlichkeit dieser Welt aufwirft, mit einem Netz von Bedeutungsverweisen zu tun hat, das nichts anderes als eine vereinfachte Form des Symbolnetzes ist, das die Kultur im Sinne Cassirers ausmacht. Diese Behauptung will einen kulturphilosophischen Ansatz aus zwei Gründen keineswegs prinzipiell ausschließen: Der erste Grund besteht in der unbestreitbar kulturphilosophischen Basis der vorliegenden Betrachtung, die plausibel macht, dass auch ihre Ergebnisse in der Kulturphilosophie verortet werden können. Daran anschließend ergibt sich der zweite Grund, der die Grenzen des Forschungsbereichs der Kulturphilosophie betrifft. Wenn Cassirer seine Philosophie der symbolischen Formen nicht als ein endgültiges System, sondern vielmehr als Entwurf und Programm verstand, um eine neue, kulturtheoretische Perspektive für die Ausarbeitung der Frage nach dem Menschen zu gewinnen, ist nicht auszuschließen, dass die Frage nach der Verbindlichkeit von Kultur zu den Forschungszielen der Kulturphilosophie gehört. (Vgl. Oswald Schwemmer: Ernst Cassirer. Ein Philosoph der europäischen Modernen. Berlin: de Gruyter 1997, 10)
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keit zum Ausdruck zu bringen.109 Im Gegensatz dazu wird hier nach jenen Weltbzw. Kulturstrukturen gesucht, die eine so unüberwindliche Verbindlichkeit aufweisen, dass jegliches Handeln und Denken davon geprägt ist. Es stellt sich daher nicht die hermeneutische, kulturphilosophische Aufgabe der aktualisierenden Interpretation von Bedeutungszusammenhängen. Die sich aufdrängende Frage betrifft die Verbindlichkeit dieser Zusammenhänge, die alle Ausdrücke des menschlichen Lebens auf privater und sozialer Ebene vermitteln. Denn der Mensch ist – wie oben gezeigt – schon immer in eine Welt bzw. Kultur versetzt, die jede Begegnung mit Dingen und anderen Menschen vermittelt. Was es im Folgenden zu klären gilt, ist der verbindliche Charakter dieses Vermittlungsprozesses: Was wird genau vermittelt und wodurch? Für die Beantwortung dieser Frage wird die Dingbegegnung eine besondere Rolle spielen. Wie durch die Analyse der Struktur der Sorge gezeigt werden konnte, ist der Mensch schon immer in der Weise ‚bei den Dingen‘, dass er sich schon immer zu etwas konkret verhält und verhalten hat. Die tatsächliche Umgangsweise mit den Dingen ist daher für die Verwirklichung, Übertragung, Bestimmung, Feststellung und Wiedererkennung von Normen und Prinzipien, Werten und Bedeutungen ausschlaggebend. Angesichts dieser Rolle der Dingbegegnung muss sich die Analyse des verbindlichen Charakters der Welt zuerst darum bemühen, jene Aspekte vor Augen zu führen, die den menschlichen Umgang mit den Dingen charakterisieren. Dies wird im Folgenden in drei Schritten durchgeführt. Anhand der Darstellung der Zuhandenheit, die Heidegger als ontologische Bestimmung des Zeugs herausarbeitet, wird in einem ersten Teil der Akzent auf jene beiden Wesenszüge gelegt, die die menschliche Dingbegegnung auszeichnen: das Wozu und das Zeugganze.110 Wenngleich es begründete Zweifel am Gelingen des Heideggerschen Vorhabens der Erschließung der Welt geben mag,111 zeigt sich Heideggers 109
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Vgl. Konersmann: Kulturphilosophie zur Einführung, 107–119. Es soll keinesfalls die bedeutende Rolle, die die Interpretation des fait culturell oder des Werks – wie sie Simmel und Cassirer verstehen – für die Erschließung des Phänomens der Kultur in all ihrer Bedeutungen und Verwendungsweisen spielt, geleugnet werden. Dennoch wird der Akzent auf den strukturellen und normativen Aspekt der Kultur gelegt, dank dessen auch die kulturellen Tatsachen – seien es Werke im engeren Sinne oder kulturelle Phänomene im Allgemeinen – erst verständlich werden. Vgl. zu Heideggers Erschließung der Weltlichkeit der Welt durch die Analyse des Zeugs: SZ, 90–119. „Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ‚an sich‘ ist.“ (SZ, 96) Diesbezüglich zeigt Sonderegger die Aporien, die sich in Heideggers Ausarbeitung des Weltbegriffs in Sein und Zeit feststellen lassen. Wenn sie daher einerseits richtig bemerkt, dass ‚Welt‘ ein Zentralbegriff in Sein und Zeit ist, macht sie andererseits darauf aufmerksam, dass Heidegger weder über das Zeug und das Zeugganze noch über die Störungsphänome des Zeugzusammenhangs und auch nicht über die Analyse des Zeichens ausreichenden Aufschluss über das Weltphänomen gewinnt. (Vgl. Ruth Sonderegger: Welt. Ihre Erschlossenheit und ihr Entzug. In: Dieter Thomä (Hg.): Heidegger-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2013, 290–295; 291) Außerdem bleibt, wie Sonderegger weiter zeigt, auch das Fundierungsverhältnis von Zeug, Welt und Mensch nicht eindeutig be-
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Verdienst dennoch in zweierlei Hinsicht. Einerseits hebt er in seiner Analyse die Bedeutsamkeit der Welt hervor,112 wodurch die bereits dargestellte Identität von Welt und Kultur implizit erst möglich wird. Andererseits expliziert er an klaren Beispielen jenes Verweisungsnetz, das die Welt und daher die Kultur als Verweisungszusammenhang oder Symbolnetz ausmacht. Daran anschließend wird sich die Frage nach der Verbindlichkeit dieses Verweisungszusammenhangs aufdrängen. Auf diese Frage, die in der Weltanalyse Heideggers unbeantwortet bleibt, wird in einem zweiten Teil eingegangen. Dabei wird sich herausstellen, dass die Bedeutsamkeit der Welt, die Heidegger behauptet, nur mittels einer den kulturellen Praktiken immanenten Verbindlichkeit verständlich wird. Dementsprechend wird die Welt, insofern sie mit der Kultur zusammenfällt, als dynamisches Ergebnis kultureller Praktiken definiert. Diese Definition der Welt ermöglicht es, in einem abschließenden dritten Teil eine Konzeption der Verbindlichkeit der Welt zu entwickeln, die sich über die Zuhandenheit des Zeugs hinaus bewegt. In Anschluss daran kann die Frage nach der Bedeutung der Kunst für das menschliche Leben schließlich gestellt werden kann. 2.2.1 Die Zuhandenheit als ontologische Bestimmung des Zeugs Ausgangspunkt des Versuchs Heideggers, die Weltlichkeit der Welt zu erschließen, ist seine Analyse des Zeugs,113 da das Zeug das Seiende ist, dem der Mensch in seinem besorgenden Umgehen zunächst begegnet.114 Heidegger legt in der Zuhandenheit die ontologische Bestimmung des Zeugs fest und entfaltet sie anhand zweier Wesenszüge: des Wozu und des Zeugganzen.115 In Anlehnung daran werden im Folgenden die Strukturen der menschlichen Dingbegegnung erläutert.116
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stimmt, was eine Verwechslung der Frage nach der Struktur der Welt mit jener nach der Entstehung der Welt bewirkt. (Vgl. Sonderegger: Welt, 291–292) Vgl. Orth: Welt, 415. Heideggers Analyse der ontologischen Beschaffenheit des Zeugs betrifft nur jene Dinge, die Ergebnis einer menschlichen Herstellung sind, also die Pragmata: „Die Griechen hatten einen angemessenen Terminus für die ‚Dinge‘: πράγματα, d. i. das, womit man es im besorgenden Umgang (πράξις) zu tun hat. Sie ließen aber ontologisch gerade den spezifisch ‚pragmatischen‘ Charakter der πράγματα im Dunkeln und bestimmten sie ‚zunächst‘ als ‚bloße Dinge‘. Wir nennen das im Besorgen begegnende Seiende das Zeug. Im Umgang sind vorfindlich Schreibzeug, Nähzeug, Werk-, Fahr-, Meßzeug.“ (SZ, 92) Vgl SZ, 90. Vgl. SZ, 90–97. In Anlehnung an Sein und Zeit bezieht sich der Ausdruck ‚Ding‘ in diesem ersten Abschnitt ausschließlich auf künstliche Produkte bzw. Artefakte, die Heidegger Pragmata nennt. Naturdinge – wie etwa Steine, Wasser, Holz oder auch Pflanzen und Bäume –, Tiere, Menschen, natürliche Phänomene, geschichtliche Ereignisse oder kulturelle Tatsache fallen nicht unter die Bezeichnung ‚Ding‘. Es wird sich aber zeigen, dass geschichtliche und kulturelle Vorkommnisse sowie natürliche Phänomene mit den Dingen in einer Weise verbunden sind, die für das Leben des Menschen grundlegend ist. Denn diese Ereignisse machen die Welt als Bedeutungshorizont, in den der Mensch immer schon geworfen ist und
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Heidegger macht in Sein und Zeit darauf aufmerksam, dass der Mensch einzelnen Dingen nicht als isolierten Gegenständen begegnet, die an sich eine absolute Bedeutung haben. Das einzelne Ding ist schon immer in einen Bedeutungszusammenhang eingebettet. Diese Einbettung kann als ein hermeneutischer Zirkel beschrieben werden, dessen Elemente nicht in ihrer Beschaffenheit unveränderbar sind, sondern die sich wechselseitig bestimmen. Anhand eines Beispiels, dessen Heidegger sich kurz bedient,117 wird im Folgenden versucht, diese Einbettung der Dinge in Bedeutungszusammenhänge zu entfalten. Wie begegnen Menschen einem Ding wie etwa einem Kugelschreiber? Menschen begegnen einem Kugelschreiber, insofern sie etwas schreiben möchten. Der Kugelschreiber ist nicht zuerst Gegenstand theoretischer Analysen, die seine Funktion für jemanden, der etwas schreiben will, zugänglich machen. Indem jemand etwas schreiben möchte, greift er auf den Kugelschreiber zurück und beginnt, damit zu schreiben. Dem Kugelschreiber begegnet man primär, indem man schreibend von ihm Gebrauch macht. Ähnliche Beispiele können in Bezug auf alle anderen alltäglichen Zeug-Dinge genannt werden: „die Tür öffnend, macht man Gebrauch von der Klinke“;118 Wasser trinkend, macht man Gebrauch von einem Glas oder einer Flasche; Kuchen backend, macht man Gebrauch von Schneebesen, Backformen, Öfen usw. Diese Beispiele zeigen, dass der Mensch Dingen begegnet, insofern er von ihnen Gebrauch macht. Erst im Handeln begegnet der Mensch den Dingen, wodurch sich ihre Funktion expliziert. Insofern man mit einem Kugelschreiber schreibt oder ein Glas Wasser trinkt oder eine Klinke drückt, werden nicht allgemein gültige Prinzipien, die das Schreiben, das Trinken, das Öffnen einer Türe regeln, befolgt. Man richtet sich auch nicht nach Bedienungsanleitung, die die Funktion einzelner Dinge beschreiben und die man im Laufe des Lebens durch ein additives Verfahren erlernt. Der Mensch begegnet Dingen primär, insofern er durch sie und mit ihnen handelt: erst im Gebrauch von Dingen begegnet der Mensch den Dingen. Hierin besteht der erste entscheidende und für die fol-
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in dem er Dingen begegnet, aus. Es lässt sich trotzdem die Frage aufwerfen, ob eine weitere Differenzierung bezüglich künstlicher Dinge möglich oder sogar notwendig ist. Denn Artefakte können sowohl alltägliche Gegenstände als auch Kunstwerke sein. Ob der Ausdruck ‚Ding‘ und die Weise, in der der Mensch Dingen begegnet, so weit greift, dass auch Kunstwerke darunter fallen, wird zuerst offen gelassen. An dieser Stelle wird vorläufig lediglich der Versuch unternommen, in Anlehnung an Heideggers Zeuganalyse die tatsächliche Möglichkeit und Verwirklichung der menschlichen Dingbegegnung zu erschließen. Daher ist unter dem Ausdruck ‚Ding‘ nur das Zeug zu verstehen: Objekte, deren Produktion und Verwendung in Rahmen einer Mittel-Zweck-Logik ihren Grund finden und die sich darin erschöpfen. Ob Kunstwerke anhand dieser Zeuganalyse irgendwie zugänglich werden und inwiefern dies geschehen kann; ob zwischen Zeug und Kunstwerk eine Verwandtschaft besteht, die dazu veranlasst, einige Schlussfolgerung der Zeuganalyse auf Kunstwerke zu übertragen; oder ob Zeug und Kunstwerk, die auf den ersten Blick einige Ähnlichkeiten aufweisen, grundverschieden sind – all diese Fragen werden vorläufig offen gelassen. Es geht vorab lediglich darum, die menschliche Dingbegegnung zu erschließen. Vgl. SZ, 92. SZ, 91.
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genden Überlegungen grundlegende Punkt der Heideggerschen Analyse des ZeugSeins: Ein Zeug ist nicht zu allererst ein Objekt an sich, das in einem zweiten Moment einen funktionalen Zweck erhält oder eben nicht. Ein Ding, das ein Zeug ist, ist ein Wozu-Ding. Es ist also ein Ding, das schon immer Mittel zum Zweck ist und dem der Mensch nur in seiner tatsächlichen Verwendung begegnen kann. Dies nennt Heidegger das Wozu. Ein zweites Wesensmerkmal des Zeugs nennt Heidegger ‚Zeugganzes‘. Die folgende Passage aus Sein und Zeit verdeutlicht, was unter dem Zeugganzen zu verstehen ist: Ein Zeug „ist“ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dies Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft „etwas, um zu ...“. Die verschiedenen Weise des „Um-zu“ wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit. In der Struktur „Um-zu“ liegt eine Verweisung von etwas auf etwas. […] Zeug ist seiner Zeughaftigkeit entsprechend immer aus der Zugehörigkeit zu anderem Zeug: Schreibzeug, Feder, Tinte, Papier, Unterlage, Tisch, Lampe, Möbel, Fenster, Türen, Zimmer. Diese „Dinge“ zeigen sich nie zunächst für sich, um dann als Summe von Realem ein Zimmer auszufüllen. Das Nächstbegegnende, obzwar nicht thematisch Erfaßte, ist das Zimmer, und dieses wiederum nicht als das „Zwischen den vier Wänden“ in einem geometrischen räumlichen Sinne – sondern als Wohnzeug. Aus ihm heraus zeigt sich die „Einrichtung“, in dieser das jeweilige „einzelne“ Zeug. Vor diesem ist je schon eine Zeugganzheit entdeckt.119
Heidegger erwähnt damit ein weiteres Merkmal der Dinge: die Abhängigkeit eines Dings von anderen Dingen. Diese Abhängigkeit betrifft das Wesen jedes einzelnen Dings. Ein Ding kann nur aufgrund seiner Zugehörigkeit zu anderen Dingen an sich Ding sein. Der Kugelschreiber, den man zum Schreiben verwendet, ist nicht zuerst an sich ein Kugelschreiber, der auf einem Blatt Papier verwendet werden kann oder auch nicht. Denn der Kugelschreiber verweist in Heideggers Verständnis des Zeugganzen schon immer u.a. auf Papier. Die Zugehörigkeit zu anderen Dingen macht daher nach Heidegger das Wesen eines Dings aus, weshalb diese Zugehörigkeit eine zentrale Eigenschaft von Dingen ist. Das ‚Wozu‘ (die Begegnung mit den Dingen im Gebrauch) und die Zugehörigkeit zu anderen Dingen stellen nach Heidegger die zwei Wesensmerkmale der ontologischen Beschaffenheit des Zeugs dar und konstituieren und erschließen zugleich die Welt als sinnhafte Dimension sich gegenseitig implizierender Verweise. Denn diese Verweise entstehen – wie die Beispiele zeigen –, insofern der Mensch von Dingen Gebrauch macht und d.h. insofern der Mensch die Dinge in einen Sinnzusammenhang einfügt. Dennoch lässt die Analyse Heideggers einige Voraussetzungen, die für das Verständnis und die Konstitution einer gegenseitigen Zugehörigkeit der Dinge notwendig sind, unbeachtet. Das Beispiel des Schreibens, anhand dessen Heidegger die Zugehörigkeit von Feder, Tinte, Papier, Tisch, Lampe usw. zeigt, impliziert etwas, das diese Zugehörigkeit stiftet. Dem 119
SZ, 92–93.
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Verweis von etwas auf etwas mangelt es an Verbindlichkeit, wodurch er unbegründet bleibt: Warum verweist ein Kugelschreiber auf ein Blatt Papier und nicht auf ein Auto oder auf ein Glas? 2.2.2 Die Verbindlichkeit kultureller Praktiken Allgemeiner formuliert lautet die sich aufdrängende Frage: Worin liegt die Verbindlichkeit der Verweise eines Dings auf ein anderes? Die Antwort lautet: im Handeln. Die Handlung des Schreibens verbindet einen Kugelschreiber mit einem Blatt Papier, mit einem Tisch, einer Lampe usw. Die Handlung des Schreibens gestattet nicht, dass ein Kugelschreiber auf ein Auto oder auf ein Glas verweist. Dass im Handeln die Verbindlichkeit der Verweise zwischen Dingen begründet ist, wird besonders dann offensichtlich, wenn Dinge ‚umfunktionalisiert‘ werden. Wenn ein Kugelschreiber zum Beispiel nicht zum Schreiben benutzt wird, sondern zum Binden der Haare, verweist dieser Kugelschreiber nicht mehr auf Papier, Tisch oder Lampe. Der Verweisungszusammenhang wird durch die Handlung ‚Haare binden‘ neu bestimmt. Auch in diesem Fall wird der Kugelschreiber nicht zuerst als ein Objekt einer theoretischen Betrachtung behandelt, sondern man begegnet ihm als einem Wozu-Ding. Der Zusammenhang, auf welchen dieses Wozu verweist, hat sich dadurch geändert, dass sich die Handlung geändert hat, nämlich ‚Haare binden‘ und nicht ‚schreiben‘. Daraus lässt sich schließen, dass die jeweilige Handlung des Schreibens, des Essen, des Fahrens oder des Haare-Bindens usw. die Verbindlichkeit der gegenseitigen Verweise zwischen Dingen bestimmt. Mit der Begründung der Verbindlichkeit der Verweise zwischen Dingen durch die jeweils vollgezogene Handlung im Vollzug der Handlung ist die Frage nach der Verbindlichkeit der Verweise jedoch noch nicht ausreichend beantwortet. Die Frage nach dem Woher der Verbindlichkeit kann weiter in Bezug auf Handlungen gestellt werden: Warum sind Handlungen verbindlich für die Verweise zwischen Dingen? Die Antwort darauf lautet: Handlungen sind normativ, insofern sie kulturelle Praktiken ausdrücken und verwirklichen, die die Welt als Bedeutungshorizont ausmachen. Diese Antwort bedarf einer Explikation, da sie einige weitere Fragen aufwirft: Was ist mit kultureller Praktik gemeint? Wie verhält sich diese Praktik zu Handlungen, so dass eine Verbindlichkeit entsteht? Diese Fragen ermöglichen keine unmittelbaren Antworten, da sich kulturelle Praktiken, gerade weil sie Praktiken sind, nicht jenseits des Handelns denken lassen. Zugleich müssen kulturelle Praktiken etwas anderes als Handlungen sein, insofern sie dem Handeln den Charakter der Verbindlichkeit ‚verleihen‘ müssen. Es gilt nun, diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen, indem das Verhältnis von Handlungen und kulturellen Praktiken untersucht wird. Wie lässt sich nun also eine Praktik denken? Wittgensteins Idee des ‚Sprachspiels‘ kann dafür fruchtbar gemacht werden. Wie Wittgenstein selbst einräumt, ist ‚Spiel‘ „ein Begriff mit verschwommenen Rän162
dern“.120 Es ist allerdings gerade diese Unbestimmtheit, die es zulässt, das Verhältnis von kulturellen Praktiken und Handlungen zu veranschaulichen und die Frage nach dem Ursprung der Verbindlichkeit der Verweise zwischen Dingen endgültig zu beantworten. Denn Sprachspiele, wie Wittgenstein sie versteht, erlauben es – wie Christian Bermes zeigt – über eine reine Sprachtheorie hinaus, „die Praxis, das Handeln, als Prinzip der Kultur freizulegen“.121 Dies wird möglich, weil Wittgenstein Spiele im Allgemeinen und daher auch Sprachspiele als „historisch gewachsene Regelsysteme [versteht], die durch die lange Zeit ihres Bestehens ein gewisses Gewicht gewonnen haben, das ihren Regel eine relative Immunität gegen Zweifel und Veränderungswünsche verschafft“,122 wie Georg Römpp erklärt. Diese Bestimmung von Spielen entspricht dem, was bereits die alltägliche Anwendung des Wortes ‚Praxis‘ impliziert. Eine Praxis verweist nämlich auf ein Verfahren, auf einen Vorgang oder auf einen Prozess. Außerdem verweist eine Praxis auf einen Vorgang, der sich ‚festgesetzt‘ hat und der sich mehr oder weniger auf die gleiche Weise wiederholt und nicht in der Form eines einmaligen Ereignisses vorkommt. Die Wiederholbarkeit des Vorgangs stützt sich darüber hinaus auf explizite oder implizite Regeln bzw. Normen, die von denjenigen, die an derselben Praxis teilnehmen, geteilt werden müssen. In Anbetracht dieser Eigenschaften kultureller Praktiken kann ihre Identität mit den Sprachspielen Wittgensteins attestiert werden. Kulturelle Praktiken sind wie Sprachspiele normierte, regulierte und wiederholbare Vorgänge, die sich kulturell verfestigt haben und sich auf explizites oder implizites Wissen stützen.123 Doch ebenso wenig wie es möglich ist, die Sprachspiele Wittgensteins zu begründen, so wenig ist es möglich, kulturelle Praktiken zu begründen: „Du mußt bedenken, daß das Sprachspiel sozusagen etwas Unvorhersehbares ist. Ich meine: Es ist nicht begründet. Nicht vernünftig (oder unvernünftig). Es steht da – wie un-
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121 122 123
Ludwig Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: G.E.M. Anscombe; Rush Rhees; G.H. von Wright (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Tractatus logico-philosophicus. Tagebücher 19141916. Philosophische Untersuchungen. Werkausgabe Band 1. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, 225–580; §71, 280. Christian Bermes: Ludwig Wittgenstein. In: Ralf Konersmann (Hg.): Handbuch Kulturphilosophie. Stuttgart: J.B. Metzler und Carl Ernst Poeschel 2012, 138–143; 138. Georg Römpp: Ludwig Wittgenstein. Eine philosophische Einführung. Köln: Böhlau 2010, 97. Die Identität der Sprachspiele Wittgensteins mit dem hier verwendeten Begriff kultureller Praktiken wird auch durch die Beispiele einiger Sprachspiele, die Wittgenstein in seiner Philosophischen Untersuchungen aufzählt, verstärkt und bestätigt: „Befehlen, und nach Befehlen handeln – / Beschreiben eines Gegenstands nach dem Ansehen, oder nach Messungen – / Herstellen eines Gegenstands nach einer Beschreibung (Zeichnung) – / Berichten eines Hergangs – / Über den Hergang Vermutungen anstellen – / Eine Hypothese aufstellen und prüfen – / Darstellen der Ergebnisse eines Experiments durch Tabellen und Diagramme – / Eine Geschichte erfinden; und lesen – / Theater spielen – / Reigen singen – / Rätsel raten – / Einen Witz machen; erzählen – / Ein angewandtes Rechenexempel lösen – / Aus einer Sprache in die andere übersetzen – / Bitten, Danken, Fluchen, Grüßen, Beten.“ (Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, § 23, 250)
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ser Leben.“124 In seinen Philosophischen Untersuchungen erklärt Wittgenstein: „Unser Fehler ist, dort nach einer Erklärung zu suchen, wo wir die Tatsachen als ‚Urphänomene‘ sehen sollten. D.h., wo wir sagen sollten: dieses Sprachspiel wird gespielt“;125 oder – wie Bermes in Bezug auf das Phänomen der Kultur präzisiert – „dieses Spiel der Kultur wird gespielt“.126 Daher ist die Normativität einer kulturellen Praktik, insofern sie ein Sprachspiel ist, jeder Praktik selbst immanent. Weder das Wissen, auf welches sich eine Praktik stützt, noch die Teilnehmer an einer Praktik entscheiden über ihre Verbindlichkeit. Die Verbindlichkeit einer kulturellen Praxis – als Sprachspiel verstanden – ergibt sich vielmehr aus der Praxis selbst. Die Frage nach dem ‚Woher‘ der Verbindlichkeit kultureller Praktiken würde in einen unendlichen Regress führen, der im Grunde nur „faktisch (also durch die Praxis) angehalten werden kann“.127 Und wie in der Konzeption Wittgensteins erst im konkreten Gebrauch von Worten und Sätzen ein Sprachspiel entsteht, so entstehen und kommen kulturelle Praktiken auch erst durch konkrete Handlungen zum Ausdruck. Denn zwischen Handlungen und Praktiken besteht keine kausale Verbindung, sie stehen nicht in einem Fundierungsverhältnis: Erst in ihrer tatsächlichen Verwirklichung, d.h. insofern man handelt, entsteht eine kulturelle Praxis. Ausgehend von der Identität von Sprachspielen und kulturellen Praktiken lässt sich nun die ursprüngliche Frage nach der Verbindlichkeit der Verweise von einem Ding auf ein anderes beantworten. Denn die Analyse hat gezeigt, dass Handlungen und Praktiken sich gegenseitig implizieren und sich nur bis zu einem gewissen Grad voneinander trennen lassen, da jede Handlung schon immer Verwirklichung und Ausdruck einer bestimmten, kulturellen Praktik ist. Kulturelle Praktiken sind als Sprachspiele Urphänomen, die als solche eine ihnen immanente Verbindlichkeit aufweisen. Aufgrund dessen sind Handlungen für die Verweise von einem Ding auf ein anderes verbindlich. Doch die Identität von Sprachspielen und kulturellen Praktiken führt auch dazu, dass die Praxis, das Handeln, zu einem irreduziblen Prinzip und daher zum „Medium der Kultur“128 wird, so dass die Welt, in die der Mensch immer schon versetzt ist, als dynamisches Ergebnis kultureller Praktiken zu bestimmen ist. Entsprechend wird die Welt im Sinne Heideggers nicht nur mit der Gesamtheit aller Kulturphänomene und -tatsachen identifiziert. Die Heideggersche Welt wird vielmehr durch einen grundlegend verbindlichen Charakter der Praxis erweitert, der den praktischen und theoretischen Rahmen bestimmt, in dem die Frage nach einem für die Kunst angemessenen Autonomiebegriff, der die Kunst als kulturel124
125 126 127 128
Ludwig Wittgenstein: Über Gewißheit. In: G.E.M. Anscombe; G.H. von Wright (Hg.): Ludwig Wittgenstein. Bemerkungen über die Farben. Über Gewissheit. Zettel. Vermischte Bemerkungen. Werkausgabe Band 8. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, 113–257; §559, 232. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen, §654, 476. Bermes: Ludwig Wittgenstein, 140. Römpp: Ludwig Wittgenstein, 112. Bermes: Ludwig Wittgenstein, 139.
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les Phänomen berücksichtigen will, aufgeworfen werden kann. Der folgende Abschnitt widmet sich der Aufgabe, die Welt als Kultur zu bestimmen, um ihre Verbindlichkeit in ihrer ganzen Tragweite zum Ausdruck bringen zu können. 2.2.3 Die Welt als Kultur Die Gleichsetzung von Welt und Kultur durch die immanente Verbindlichkeit kultureller Praktiken ermöglicht es, eine Bestimmung der Welt zu gewinnen, die im Gegensatz zu Heideggers Erschließung der Welt durch das Zeug den verbindlichen Charakter der Welt als Bedeutungshorizont erweitert. Dadurch, dass die Welt mit der Kultur als dynamischem Ergebnis kultureller Praktiken zusammenfällt, geht der verbindliche Charakter der Welt über den menschlichen Umgang mit den Dingen hinaus. Denn kulturelle Praktiken drücken sich aus, bestimmen und bestätigen sich auch durch solche Handlungen, die nicht unmittelbar mit den Dingen verbunden sind und die daher als Ausdruck, Bestimmung und Bestätigung kultureller Praktiken einen verbindlichen Charakter aufweisen. Während die Heideggersche Erschließung der Welt als Bedeutsamkeit an den Umgang mit dem Dingen gebunden bleibt,129 verdeutlicht die Welt als Gesamtheit der kulturellen Praktiken den verbindlichen Charakter der Welt auch in Bezug auf Handlungen wie etwa grüßen, gratulieren, sich verabschieden oder auch spazieren. Dies zeigt, wie tiefgreifend die kulturell und geschichtlich bestimmten, weltlichen Strukturen im Leben verwurzelt sind und inwiefern sie über zwischenmenschliche Beziehungen entscheiden. Kulturell und geschichtlich festgelegt ist daher nicht nur die Art und Weise, wie Menschen mit Kugelschreibern, Gläsern, Türklinken oder Backöfen umgehen. Angesichts der immanenten Verbindlichkeit kultureller Praktiken wird von der Welt als Kultur auch die Art und Weise, in der man Freunde zum Abendessen einlädt, Nachbarn besucht oder sich von Eltern verabschiedet, bestimmt. Es lässt sich aber noch eine weitere Ebene feststellen, die von der Verbindlichkeit der Welt betroffen ist. Durch die kulturellen Praktiken erschlossen, überschreitet die Verbindlichkeit der Welt als Kultur jeglichen Handlungszusammen129
Dies widerlegt die Thesen Rentschs und Volpis, die der Auffassung sind, dass Heidegger in Sein und Zeit eine elementare Handlungstheorie entwickelt. (Vgl. Rentsch: „Sein und Zeit“, 53; Volpi: Heidegger e Aristotele) Wie Rentsch selbst bemerkt, fokussiert Heidegger das „tätige Umgehen mit etwas”. (Rentsch: „Sein und Zeit“, 57) Das Etwas ist in der Handlungsund Weltkonzeption Heideggers grundlegend, weil es über die Handlungsweise entscheidet: Der Hammer, der Kugelschreiber oder der Ofen verlangen jeweils die Handlungen des Hämmerns, des Schreiben und des Backens. Diese Abhängigkeit des Handelns vom Ding schließt jede mögliche Neufunktionalisierung von Dingen aus. Auf diesen Aspekt macht Frede aufmerksam, die in ihrer kurzen Analyse auf die bestimmte Funktion, die das Zeug in der Konzeption Heideggers von Natur aus hat, eingeht. Dadurch gründet Frede das „Übergewicht, das auf der ‚Zuhandenheit des Zuhandenen‘ (im Unterschied zur ‚Vorhandenheit des Vorhanden‘ oder zum ‚Mitsein des Mitseienden‘) liegt“. (Frede: Sein, 283)
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hang. Bereits die zuvor genannten Beispiele des Grüßens oder des Gratulierens betreffen nicht nur die konkreten Handlungen des Menschen. Diese Handlungen, die zwischenmenschliche Beziehungen ausdrücken, sind schon immer mit Empfindungen, Emotionen bzw. Gefühlen verbunden. Auch diesbezüglich spielt die Verbindlichkeit kultureller Praktiken eine entscheidende Rolle. Denn auch die Art und Weise, wie Menschen mit ihrer Emotionalität umgehen, ist geschichtlich und kulturell bestimmt. Das kulturelle Milieu entscheidet darüber, ob menschliche Verhaltensweisen, Reaktionen oder auch nur Worte als angemessen, freundlich, angenehm oder unhöflich, übertrieben, lächerlich usw. wahrgenommen werden. Dies zeigt, dass nicht nur das menschliche Miteinander, sondern auch die Innerlichkeit jedes einzelnen Menschen durch die Welt als Kultur geprägt und beeinflusst wird. Diese Beeinflussung erstreckt sich bis hin zum Denken. Diese Feststellung will nicht nur darauf verweisen, dass Menschen – wie bereits veranschaulicht – in ihrem Lebensstil, ihren Entscheidungen, Wünschen, beruflichen Zielen oder familiären Plänen von der Welt, in der sie leben, beeinflusst werden. Diese vielfältige Beeinflussung, die zweifellos eine Ausdrucksform des verbindlichen Charakters der Welt als Kultur darstellt, macht lediglich eine Seite des Verhältnisses von Denken und Kultur sichtbar. Denn die andere Seite, die das Denken auf eine viel drastischere Weise betrifft, besteht darin, dass die Verbindlichkeit kultureller Praktiken die menschliche Haltung gegenüber dem Erkenntnisobjekt und sogar die Begrifflichkeit selbst bestimmt. Diese Erweiterung der Verbindlichkeit der Welt als Kultur um Handlungen, die nicht unmittelbar mit Dingen in Verbindung stehen, um zwischenmenschliche Beziehungen, um Verhaltensweisen und Reaktionen und nicht zuletzt um das Denken macht die Bedingtheit der Welt sichtbarer, als dies in der Betrachtung Heideggers der Fall ist. Die Welt und ihre Struktur, deren Bedeutsamkeit Heidegger durch die Bewandtnis des Zeugs erschließt,130 gewinnt durch die Idee der Kultur als Gesamtheit kultureller Praktiken einen allumfassenderen, verbindlichen Charakter. In diesem Zusammenhang erschließt sich die radikale Einbettung des Menschen in die Welt, aufgrund derer sich die entmenschlichende Tendenz als ein den Menschen auszeichnenden Charakterzug bestätigt und durch die die Realisierung eines menschlichen Lebens jenen bereits beschriebenen, herausfordernden Charakter gewinnt. Zugleich verliert die Welt jene Unveränderlichkeit, die ihr in der Betrachtung Heideggers eigen zu sein scheint. Heideggers Erschließung der Welt über das Um-zu und das Zeugganze verleiht jedem Zeug eine bestimmte Funktion. Denn in Heideggers Verständnis verweist der Kugelschreiber an sich auf Papier, Schreibtisch, Lampe usw. Die Fundierung der Verbindlichkeit der Verweise zwischen Dingen in kulturellen Praktiken behauptet dagegen eine wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Funktion eines Gegenstands und einer kulturellen 130
Vgl. SZ, 111–119.
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Praktik, die sich beim Gebrauch jedes Gegenstandes bestimmt, ausdrückt und bestätigt. Dadurch entsteht eine Beweglichkeit der Weltstrukturen, die für die Spannung zwischen Freiheit und Bedingtheit, die das menschliche Leben auszeichnet, von großer Bedeutung ist. Denn es ist gerade diese Beweglichkeit, die es ermöglicht, dass der Mensch sein Leben in einer geschichtlich und kulturell bestimmten Welt frei gestalten kann. Durch die Erschließung der Welt als Kultur bzw. als dynamisches Ergebnis kultureller Praktiken, die durch eine immanente Verbindlichkeit gekennzeichnet sind, konnte das Forschungsanliegen dieses zweiten Kapitels erreicht werden. Zugleich eröffnet eine so verstandene Welt jene kulturell und geschichtlich bestimmte Dimension, die es nun ermöglicht, die Frage nach der Kunst sinnvoll stellen zu können. Denn als kulturelle Ausdrucksform soll nun die Kunst im Kontext der soeben herausgearbeiteten Konzeption der Welt als Kultur betrachtet werden.
2.3 Resümee und Ausblick Durch einen ersten, vorläufigen Versuch, einen der Kunst angemessenen Autonomiebegriff zu denken, hat sich die Notwendigkeit aufgedrängt, die kulturelle Dimension zu erschließen, von der keine Auseinandersetzung mit der Kunst absehen kann. Um dieser von der Kunst gestellten Forderung nachzukommen, wurde der Versuch unternommen, einen Begriff des menschlichen Lebens zu gewinnen, der ausgehend vom Vollzug des Lebens unabhängig von jeglichen ihm heteronomen, ontologischen oder ideologischen Konstruktionen erschlossen und sichtbar gemacht werden kann. Dies wurde in Anlehnung an die ‚Analytik des Daseins‘ möglich. Dabei wurde das menschliche Leben als Selbst-Verbindlichkeit definiert, was Folgendes bedeutet: Sich eine Sinnfrage stellend, die jeden Mensch auf die absolute Unverfügbarkeit seines je eigenen Selbst zurückführt, ist jeder Mensch dazu angehalten, für das Projekt seines je eigenen Lebens Verantwortung zu übernehmen und es sinnvoll in einer geschichtlich und kulturell bestimmten Welt zu gestalten. Dies impliziert auch, dass jeder Mensch die Spannung zwischen der absoluten Freiheit der Gestaltung seines je eigenen Projekts und der Verbindlichkeit kulturell und geschichtlich bestimmter Strukturen auszuhalten hat. Über eine Auseinandersetzung mit dem Weltphänomen konnte gezeigt werden, dass sich diese Strukturen als kulturelle Praktiken erfassen lassen, deren dynamisches Ergebnis eben die Kultur bzw. die Welt ist. Diese Bestimmung der Welt als Kultur erweist sich als geeigneter Hintergrund, vor dem sich die Kunst als kulturelle Ausdrucksform erschließen lässt. Das nachfolgende Kapitel versucht deshalb eine Annäherung an das Wesen der Kunst. Davon ausgehend soll die Frage nach ihrer Bedeutung für das Leben abschließend beantwortet werden. Dieses Vorhaben wird sich in drei aufeinander aufbau-
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ende Abschnitte gliedern. In Anbetracht der Vermutung, dass sich die Kunst nur über die Begegnung mit einem einzelnen Kunstwerk fassen lässt, wird im ersten Abschnitt (Das Kunstwerk) die Erfahrung eines Gemäldes Cézannes beschrieben. Die daraus entstehende, widersprüchliche Bestimmung des Kunstwerks als autonome Erfahrungsgestalt wird sich das Problem einer möglichen Vereinbarung der Objektivität der Autonomie und der Subjektivität jeder Erfahrung ergeben. Diese Problematik wird in einem zweiten Abschnitt (Das Konstellationsmodell) aufgegriffen, in dem über eine Auseinandersetzung mit dem Konstellationsmodell Adornos und Benjamins, das objektive Erkenntnis und subjektive Erfahrung durch eine besondere Verbindlichkeit miteinander verknüpft, versucht wird, diese der Kunst immanente Widersprüchlichkeit zu lösen. So wird es möglich, in einem abschließenden, dritten Abschnitt (Die Kunst und das Leben) einen Autonomiebegriff der Kunst zu erarbeiten, aufgrund dessen die Bedeutung der Kunst für das Leben bestimmt werden kann.
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3 Die Kunst Die Erschließung der Welt als Kultur, d.h. als dynamisches Ergebnis kultureller Praktiken, hat gezeigt, dass der Mensch sein Leben führt und gestaltet, insofern er Dingen begegnet. Dies lässt sich auf gewisse Weise aber auch umkehren: ‚WozuDinge‘ sind auf die menschliche Welt angewiesen. Denn die Verbindlichkeit der Verweise zwischen ‚Wozu Dingen‘, die auf kulturellen Praktiken beruht, lässt sich nur in Bezug auf ein handelndes Sinnwesen denken. Ein Kugelschreiber, ein Backofen oder eine Türklinke lassen sich nur bestimmen, insofern der Mensch ihnen begegnet. Dies bestätigt die – wenn man so will – Trivialität, dass Kulturprodukte lediglich im Rahmen einer kulturellen und daher menschlichen Welt ihren Existenzgrund, ihren Sinn, ihre Bedeutung, ihre Anwendung, ihren Zweck usw. finden können. Diese Trivialität betrifft auch das Kunstwerk. Denn auch Kunstwerke als kulturelle Produkte lassen sich nur in einer menschlichen, kulturellen Welt und nur, insofern der Mensch ihnen begegnet, definieren. Was unterscheidet Kunstwerke angesichts dieser Feststellung nun aber von ‚Wozu-Dingen‘? Wie begegnet der Mensch Kunstwerken? Lässt sich bei dieser Begegnung auch – ähnlich wie bei jener mit Wozu-Dingen – eine Verbindlichkeit zeigen oder sind Kunstbegegnungen vielmehr durch Freiheit oder sogar Beliebigkeit gekennzeichnet? Diese Fragen führen die Notwendigkeit vor Augen, das Kunstwerk zu definieren. Um dieses Ziel zu erreichen, wird die Frage gestellt: Was ist ein Kunstwerk? Doch diese Frage ist keineswegs so ‚harmlos‘, wie sie womöglich aussieht. Denn einerseits muss sie mehr oder weniger explizit gestellt werden, um das Kunstwerk zu definieren und somit die Bedeutung der Kunst für das Leben des Menschen zu erschließen. Andererseits entscheiden Was-Fragen selbst bereits über den Charakter dessen, wonach sie fragen. Denn sie implizieren die Erwartung einer klassischen Realdefinition, die hinreichende und notwendige Bedingungen angibt. Dabei bleibt aber unberücksichtigt, dass sich Kunstwerke nicht in derselben Art und Weise wie andere Gegenstände, Phänomene oder Begriffe ontologisch durch WasFragen befragen lassen.1 1
Kennick zeigt im einleitenden Teil seines berühmt gewordenen Artikels Does Traditional Aesthetics Rest on a Mistake? den Unterschied zwischen der Frage ‚Was ist Elium?‘ und den Fragen ‚Was ist Religion?‘, ‚Was ist ein Mensch?‘ oder ‚Was ist Kunst?‘. Durch diese Unterscheidung stellt Kennick fest, dass es sich im Falle der Kunst nicht um einen mit anderen Gegenständen vergleichbar oder gar gleichzusetzenden Gegenstand handelt. (Vgl. Kennick: Does Traditional Aesthetics Rest on a Mistake?, 317–319) Dass sich Kunstwerke nicht wie andere Gegenstände definieren lassen, wurde bereits durch die Auseinandersetzung mit den Kunstauffassungen Heideggers, Adornos und Benjamins verdeutlicht. Die drei Autoren stoßen beim Versuch, Kunstwerke zu definieren, ihre Entstehung zu begreifen und die Art und Weise, wie der Mensch ihnen begegnet, zu erschließen, auf große argumentative Schwierigkeiten. Heidegger betont bereits im einleitenden Abschnitt von Der Ursprung des Kunstwerks die Ungültigkeit jener Fragen, die das Kunstwerk anhand kausaler Zusammen-
Wie im einleitenden Abschnitt dieser Untersuchung angesprochen, dominierte der Versuch, das Wesen der Kunst zu bestimmen, die ästhetische Debatte des 20. Jahrhunderts und stellt – vor allem im englischsprachigen Raum – immer noch eine der größten Herausforderungen für die Ästhetik dar. Wie erwähnt, hatten die komplexe Natur des Phänomens ‚Kunst‘ und die daraus entstehende kontroverse Natur der Frage nach der Kunst die Entwicklung einer so großen Zahl an Definitionen und Theorien zur Folge, dass Harold Osborne – mit einem Ausdruck von Terry J. Diffey2 – bereits in den 1980er Jahren von einem „deeper element of irrationality in our Republic of Art“3 sprach. Eine Skizze der größten Diatriben, die den Ästhetikdiskurs des 20. Jahrhunderts auszeichneten, verfolgt im Folgenden zwei Absichten. Zum einem werden dadurch die Probleme ersichtlich, die mit dem Vorhaben, die Frage nach der Kunst zu beantworten, verbunden sind. Dies wird zum anderen dazu beitragen, einen der Kunst angemessenen Zugang zu finden.
3.1 Das Kunstwerk Ein Blick auf die Titel der Aufsätze – beispielsweise Osbornes What is a Work of Art oder Tatarkiewicz’ What Is Art? –, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in den wichtigsten britischen und amerikanischen Zeitschriften für Ästhetik veröffentlicht wurden,4 offenbart die Zentralität der Frage ‚Was ist Kunst?‘ für die Ästhetik-Debatte des englischsprachigen Raums. Dass diese Frage derart zentral wurde, erklärt sich vor allem aus zwei Ereignisse, die die Überlegungen über die Möglichkeit einer Definition der Kunst überhaupt erst ins Rollen gebracht und be-
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hänge zu erschließen versuchen. Er zeigt, dass sich die Fragen nach dem Woher, dem Warum oder dem Was eines Kunstwerks in einem argumentativen Teufelskreis bewegen. (Vgl. UK, 1–2) Diesbezüglich betont Heidegger nicht nur, dass diese Fragen unbeantwortbar sind, sondern auch, dass sie das Wesen des Objekts, nach welchem sie fragen, a priori entstellen und dessen Natur nicht zu erfassen vermögen. (Vgl. zum ergologischen Zugang zum Kunstwerk bei Heidegger: Perpeet: Heideggers Kunstlehre, 26–28; Jähnig: „Der Ursprung des Kunstwerkes“ und die moderne Kunst) Auch Adorno sieht sich immer wieder mit der Schwierigkeit konfrontiert, das Wesen des Kunstwerks durch definitorische Aussagen zu bestimmen. Diese Schwierigkeit zu umgehen, gelingt ihm nur dadurch, dass er das Kunstwerk als ‚Rätsel‘ bzw. als ‚Vexierbilder‘ bezeichnet. Darin zeigt sich bereits, dass die Definitionen Adornos trügerisch sind. Denn sie setzen gerade das als unbestimmbar, was sie zu definieren versuchen. Im Kontext der Versuche, ein Kunstwerk jenseits kausaler Zusammenhänge zu bestimmen, ist auch die Idee Benjamins zu verorten, dass ein Kunstwerk als Darstellung einer Idee ein ‚Ursprung‘ sei. Er versteht in diesem Zusammenhang den Ursprung als „Sprung aus der Geschichte heraus“ (Tiedemann: Einleitung des Herausgebers, 37), d.h. als einen unerwarteten und unvorhersehbaren, neuen Anfang. (Vgl. UDT, 225–227; PA, 577) Terry J. Diffey: The Republic of Art. In: The British Journal of Aesthetics, 9.2, 1969, 145–156. Harold Osborne: What is a Work of Art. In: The British Journal of Aesthetics, 21.1, 1981, 3– 11; 9. Vgl. u.a. The British Journal of Aesthetics, The Journal of Aesthetics and Art Criticism.
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stimmt haben. Das erste Ereignis ist die Ausstellung von Duchamps Fountain im April 1917. Das zweite ist die Publikation von Morris Weitz’ Essay The Role of Theory in Aesthetics 1956. Die Bedeutsamkeit dieser Ereignisse besteht darin, dass Ersteres im Bereich der Kunstpraxis und Letzteres im Bereich der Kunstreflexion eine grundlegende Veränderung in der Art und Weise bewirkt hat, wie die Frage nach der Kunst gestellt wurde. Konsequenterweise wurden neue Antworten auf diese Frage gefunden. Im Folgenden werden deshalb diese zwei Ereignisse kurz dargestellt. Dabei werden insbesondere die Veränderungen der Frage nach der Kunst betont.5 Mit Weitzs The Role of Theory in Aesthetics entsteht das sogenannte ‚NeoWittgensteinian Paradigma‘, das eine der innovativsten Kunstdefinitionen des 20. Jahrhunderts darstellt. Nachdem Weitz aufgrund der enormen Vielfältigkeit der Kunst das Scheitern der essentialistischen Definitionsversuche feststellt, schlägt er in seinem Aufsatz eine veränderte Fragestellung vor. Die stetig wachsende Vielfalt an künstlerischen Ausdrucksformen lässt sich Weitz zufolge nicht in gemeinsamen Eigenschaften fassen. Diese Vielfalt widersetzt sich dem Anspruch auf Einheit, die die Frage ‚Was ist die Kunst?‘ jedoch impliziert. Somit kann auf diese Frage Weitz zufolge keine Antwort gefunden werden, die all das berücksichtigt, was als ‚Kunst‘ bzw. ‚Kunstwerk‘ bezeichnet werden kann. Aus diesem Grund stellt Weitz fest: „The problem with which we must begin is not ‚What is art?‘ but ‚What sort of concept is ‚art‘?‘“6 In Anlehnung an Wittgenstein definiert Weitz den Begriff ‚Kunst‘ deshalb als einen offenen Begriff. „‚Art‘, itself, is an open concept“7, schreibt Weitz und schließt somit jede Möglichkeit einer Definition im Sinne notwendiger und hinreichender Bedingungen aus. Zwei Jahre später stellt auch Kennick in seinem Essay Does Traditional Aesthetics Rest on a Mistake? die Möglichkeit einer Definition der Kunst durch notwendige und hinreichende Bedingungen in Frage: The assumption that, despite their differences, all works of art must possess some common nature, some distinctive set of characteristics which serves to separate Art from everything else, a set of necessary and sufficient conditions for their being works of art at all, is both natural and disquieting, and constitutes what I consider to be the first mistake on which traditional aesthetics rests.8
Wie für Weitz ist auch für Kennick die richtige Frage nicht die, was Kunst sei, sondern wie sich der Begriff der Kunst überhaupt definieren lässt. Seine Antwort lautet entsprechend: Die Kunst ist ein ‚family resemblance concept‘.9 5
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Die folgenden Betrachtungen folgen aus systematischen Gründen nicht der chronologischen Abfolge der Ereignisse. Obwohl die ersten Ready-Mades bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts erschienen sind, werden sie erst ab den 1960er Jahren und insbesondere im Rahmen der Institutional Theory relevant für die Frage nach der Kunst. Weitz: The Role of Theory in Aesthetics, 30. Weitz: The Role of Theory in Aesthetics, 32. Kennick: Does Traditional Aesthetics Rest on a Mistake?, 319. Kennick: Does Traditional Aesthetics Rest on a Mistake?, 323–324.
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Die universale Gültigkeit dieser Theorien ist selbstverständlich fraglich.10 Dennoch besteht ihr unbestrittener Beitrag darin, dass sie dazu veranlasst haben, eine Definition für die Kunst zu finden, die allgemeingültig sein und zugleich die Vielfältigkeit künstlerischer Ausdrucksformen berücksichtigen soll. Vor allem aber soll diese neue Definition der Kunst offen sein, damit sie durch zukünftige Entwicklungen der Kunst nicht an Gültigkeit verliert. Als Antwort auf die Provokation, die die Neo-Wittgensteinian Theories bewirkt haben, entwickeln sich ab den 1970er Jahren unzählige Theorien, die zeigen wollen, dass eine klassische Definition der Kunst im Sinne notwendiger und hinreichender Bedingungen mit der Vielfältigkeit und der stetigen Neuentstehung von Kunstwerken unterschiedlichster Form kompatibel ist.11 10
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Dass die Ansätze der Neo-Wittgensteinian Theories auch eine Reaktion auf die inflationäre Entwicklung und Entstehung neuer künstlerischer Ausdrucksformen besonders in den 1950er Jahren darstellen und sie daher unter einem gewissen historischen Relativismus leiden, ist offensichtlich. In diesem Sinne bemerkt Danto ironisch: „1956 was not a good year for theorizing about art. It was the high watermark of Abstract Expressionism. But everything changed in the next decade.“ (Danto: What Art Is, 34) Außerdem wurden die Neo-Wittgensteinian Theories zur Zielscheibe der Kritik vieler Autoren. Bemerkenswert ist dabei, dass keiner der Kritiker die Grundidee dieser Theorien, dass sich die Kunst nicht auf angemessene Weise durch eine klassische Realdefinition fassen lässt, anzweifelt. Maurice Mandelbaum kritisiert zum Beispiel, wie Kennick den Familienähnlichkeitsbegriff Wittgensteins auf die Kunst anwendet. Er verweist darauf, dass die Ähnlichkeiten zwischen den Begriffen im Sinne Wittgensteins nicht auf beliebigen Eigenschaften beruhen, sondern aufgrund bestimmter Bedingungen festgelegt sind. (Vgl. Maurice Mandelbaum: Family Resemblance and Generalizations Concerning the Arts. In: American Philosophical Quarterly, 2.3, 1965, 219–228) Vier Jahre später übt Lee B. Brown starke Kritik an zwei der Hauptbegriffe von Weitz’ Theorie: dem Begriff ‚open‘ und dem Begriff ‚definition‘. (Vgl. Brown Lee B.: Definitions and Art Theory. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 27.4, 1969, 409–415) Obwohl diese verschiedenen Kritikpunkte plausibel sind, entkräften sie dennoch nicht die Gültigkeit der Überlegung, dass die Ästhetik nicht nur über die Natur der Kunst, sondern auch über die Natur der Frage nach der Kunst zu reflektieren habe. Die einflussreichsten dieser Theorien sind die sogenannte Institutional Theory in den 1970er und die disjunktive Theorie Tatarkiewiczs in den 1980er Jahren. Wie bereits in der Einleitung dieser Arbeit angesprochen, entwickelt Dickie unterschiedliche Versionen der sogenannten Institutional Theory. Der Kern seiner Theorie bleibt aber unverändert, wie er selbst 2000 deutlich macht (vgl. Dickie: The Institutional Theory of Art): „A work of art in the classificatory sense is (l) an artifact (2) a set of the aspects of which has had conferred upon it the status of candidate for appreciation by some person or persons acting on behalf of a certain social institution (the artworld).“ (George Dickie: Art and the Aesthetic: An Instiutional Analysis. Ithaca: Cornell University Press 1974, 34) Dickie gibt somit zwei hinreichende und notwendige Bedingungen an und formuliert eine Realdefinition des Kunstwerks. Da die zweite Bedingung darin besteht, dass die Lebenswelt über den Kunststatus des Artefakts entscheidet, impliziert diese Realdefinition jedoch bereits Veränderungen der Kunstpraxis, wodurch sich ihre Gültigkeit auf jede mögliche, zukünftige, künstlerische Ausdrucksform erstreckt. Auf diese Weise zeigt Dickie, dass eine Realdefinition sehr wohl mit der unvorhersehbaren Entwicklung der künstlerischen Praxis kompatibel ist. Auch der Versuch Tatarkiewicz’ zielt darauf ab, zu zeigen, dass eine Definition, die hinreichende und notwendige Bedingungen angibt, nicht notwendigerweise inkompatibel mit der zukünftigen Vielfalt der künstlerischen Praxis sein muss. In diesem Sinne listet er sechs Bedingungen auf und schlägt eine ‚disjunktive Definition‘ der Kunst vor. Seiner Auffassung nach ist es hinreichend, dass
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Trotz dieser Fülle unterschiedlicher theoretischer Ansätze ist die Frage nach der Kunst noch immer unbeantwortet und auch gegenwärtig handelt es sich sowohl bei der Natur des Begriffs ‚Kunst‘ als auch bei der Möglichkeit einer Definition der Kunst überhaupt um unausweichliche Themen der Ästhetik.12 Diesbezüglich sind die Worte Dantos paradigmatisch: My thought is that the logic of art history really makes it appear that art is an open concept: even if Greek art was mimetic, Romanesque art was hardly so. Abstraction proves that imitation does not belong to the essence of art – and neither does abstraction. We don’t really know what belongs and what does not.13
Das Verdienst der Neo-Wittgensteinian Theories besteht darin, den problematischen Charakter der Natur der Kunst, die sich hinter der scheinbar trivialen Frage ‚Was ist Kunst?‘ versteckt, zum Ausdruck gebracht zu haben. Wenn nun einerseits die Neo-Wittgensteinian Theories den theoretisch bedeutsamsten Beitrag in Bezug auf die problematische Natur der Kunst geleistet haben, stellt das Ready-Made andererseits jenes Phänomen dar, das in der Kunstpraxis die Frage nach einer möglichen Definition der Kunst überhaupt erst aufgeworfen hat. Da das Ready-Made mit einem alltäglichen Gegenstand identisch ist, stellt sich die Frage, inwiefern sich Kunstwerke von alltäglichen Gegenständen unterscheiden. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Suche die Entwicklung zweier konträrer Positionen innerhalb der Ästhetik zur Folge hatte: Eine Position spricht dem Ready-Made grundsätzlich den Status eines Kunstwerks ab,14 während die andere – vor allem
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ein Artefakt eine dieser Bedingungen erfüllt, um ihm den Status eines Kunstwerks zuschreiben zu können. (Vgl. Wladyslaw Tatarkiewicz: A History of Six Ideas: An Essay in Aesthetics. Wiesbaden: Springer 2012, 28–32) Zu jenen Autoren, die Kritik an den NeoWittgensteinian Theories üben, zählt auch Harold Osborne. Am Beispiel des Begriffs ‚Wissenschaft‘ zeigt er, dass ein Begriff – wenn er auch aufgrund einer geschichtlichen und kulturellen Entwicklung als ‚offen‘ definiert wird – eindeutig definiert werden kann. (Vgl. Osborne: What is a Work of Art, 8) Eine ungewöhnliche These, die die Institutional Theory nicht als Kritik an den Neo-Wittgensteinian Theories versteht, sondern eine Kontinuität zwischen den beiden Ansätzen feststellt, wird von Paul Crowther aufgestellt. Zu Beginn seines Aufsatzes Art und Autonomy schreibt er: „Weitz has argued that it is art’s (supposedly) logical indefinability that guarantees the continuing autonomy and inventiveness of artistic production. This, however, makes (without justification) an important assumption: namely that artistic inventiveness and freedom are negative in character, and based purely on the absence of ideological or conceptual restraint. The artist is free only when he does what he pleases, how he pleases, and for whatever reason he pleases. It seems to me that much recent ‚artistic‘ production has been simply a vindication of this negative conception of artistic liberty. On such terms, the work of art is reduced to whatever the artist intends as art, and rather than rise to this challenge, certain philosophers have attempted to give it an intellectual legitimacy by what is known as the ‚Institutional‘ definition of art.“ (Paul Crowther: Art and Autonomy. In: The British Journal of Aesthetics, 21.1, 1981, 12–21; 12) Vgl. dazu: die hybriden Kunsttheorien Dantos, Steckers und Krames, auf die in der Einleitung dieser Arbeit bereits verwiesen wurde. Danto: What Art Is, 35. In diesem Zusammenhang kritisiert Benjamin Tilghman Autoren wie Danto, für die Ready-Mades Kunstwerke sind, da durch ein solches Kunstverständnis der Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst aufgehoben und somit die Bedeutung der Kunst für un-
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die Institutional Theory15 – das Ready-Made nicht nur für ein Kunstwerk hält, sondern das Ready-Made sogar zum „absolut spirit“16 der 1960er Jahre erhebt. Abgesehen von diesen zwei extremen Positionen bleibt unbestritten, dass das ReadyMade die Frage nach der Natur der Kunst auf eine radikalere und unmittelbarere Weise gestellt hat als jede andere künstlerische Ausdrucksform zuvor. Darin besteht sein grundlegender Beitrag zur Reflexion um die Kunst im 20. Jahrhundert. Während die Ready-Mades in der Ästhetik der Vereinigten Staaten eine neue Perspektive auf die Kunst bewirkt haben, setzt sich die Ästhetik in Mitteleuropa mit dem Geltungsverlust des Werkbegriffs auseinander, der – wie erwähnt – in den kulturphilosophischen Ansätzen des 19. und des 20. Jahrhunderts als methodisch und systematisch unumgänglicher Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit der Kunst galt. Denn gerade die Berufung auf den Werkbegriff, dessen methodische Gültigkeit sich auf „die nicht zu umgehende […] Werkwirklichkeit“17 des Kunstwerks gründet, erweist sich angesichts moderner, künstlerischer Ausdrucksformen, die sich beim Versuch der Auflösung des traditionellen Werkverständnisses konstituieren, zumindest als problematisch. Der Werkbegriff kann sogar verstellend wirken, wenn man die Einsicht Bubners teilt, „daß die Krise des Werkbegriffs ein wesentliches Signum der modernen Epoche ist“.18
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ser Leben verkannt werde. (Vgl. Benjamin R. Tilghman: But Is It Art? The Value of Art and the Temptation Theory. Aldershot: Gregg Revivals 1994, 98; 116) Im Rahmen seiner normativen Theorie der Kunst übt auch Gordon Graham starke Kritik vor allem an der Institutional Theory, die die Ready-Mades als Kunstwerke betrachten. Das Risiko der dadurch bewirkten Aufhebung des Unterschieds zwischen Kunst und Nicht-Kunst besteht für Graham vor allem darin, dass die Kunst und damit auch das Objekt jeder möglichen Kunsttheorie verschwinde. (Vgl. Graham: Philosophy of the Arts, 228–248) In der Auffassung Oswald Hanflings spielt das Ready-Made sogar eine konstitutive Rolle für die Insitutional Theory. Er definiert diese Theorie als Reaktiontheorie, d.h. als Theorie, die sich entwickelt hat, um die Definitionsprobleme, die die Ready-Mades in Bezug auf die Frage nach der Kunst verursacht haben, zu lösen. (Vgl. Hanfling: Essay One, 25) Danto: What Art Is, 149. In diesem Sinne sind Duchamp und später auch Warhol für Danto jene Künstler, die im 20. Jahrhundert mehr als alle anderen zu einer Definition des Begriffs ‚Kunst‘ beigetragen haben (Vgl. Danto: What Art Is, 23), da Warhol die Kunst zu Selbstbewusstsein – im Hegelschen Sinne des absoluten Geistes – führe. (Vgl. Danto: What Art Is, 148–149) Perpeet: Heideggers Kunstlehre, 26. Vgl. Buber: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, 32–35. „Die angedeuteten Tendenzen [Ready-Made, Performance Kunst, Dada etc.] dienen in unserem Zusammenhang der Veranschaulichung der These, daß die Krise des Werkbegriffs ein wesentliches Signum der modernen Epoche ist. Zumindest stützen die Beispiele aber die Behauptung, daß eine Ästhetik, die von den Erscheinungen einer systematisch betriebenen Auflösung der Werkeinheit nicht Kenntnis nimmt, sich gegen einen wesentlichen Zug der Moderne blind macht. Dagegen verfängt auch nicht der Einwand, man müsse den Werkbegriff nur weit genug fassen, dann ließen die geschilderten Phänomene sich ihm sehr wohl noch subsumieren. Die Kategorie des Werks droht nämlich jeden Sinn zu verlieren, wenn sie widerstandslos umfassen soll, was gerade ihrer Aufhebung und Zersetzung dient.“ (Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, 33–34) Obwohl die vorliegende Arbeit der Sichtweise Bubners darin zustimmt, dass der Werkbegriff Schwierigkeiten für die Deutung moderner und postmoderner Kunst mit sich bringt, lässt sich dennoch die Radikalität
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Die künstlerische Praxis ebenso wie die theoretischen Überlegungen der Ästhetik des 20. Jahrhunderts zeigen, welche unhinterfragten Implikationen die Frage ‚Was ist Kunst?‘ mit sich bringt und welchen ontologischen Vorurteilen diese Frage unbewusst Vorschub leistet. Denn einerseits zeigt die künstlerische Praxis des 20. Jahrhunderts, dass sowohl Gemälde, Skulpturen oder Musikstücke als auch 4,33‘ Schweigen, ein Fahrrad oder eine Brillo Box Kunstwerke sein können. Andererseits lehrt die theoretische Herangehensweise an das Phänomen der Kunst, dass sie nicht nur Mimesis, Ausdruck, Form, Bedeutung oder Funktion ist. Vielmehr ist die Kunst all dies gleichzeitig und entzieht sich dadurch jeder definitorischen Formel. Das 20. Jahrhundert warnt somit vor zu kurz gegriffenen Realdefinitionen der Kunst, indem es gezeigt hat, dass die Frage nach der Möglichkeit einer angemessen Definition der Kunst immanent ist. Die Vermutung, die sich daher konkretisiert, besteht darin, dass Kunstwerke ‚geschlossene Gestalten‘19 sind, die nur auf sich selbst zurückverweisen. Diese vermutete Selbstbezüglichkeit jedes Kunstwerks lässt ausschließlich die ästhetische Erfahrung als methodischen Weg zu: „Das ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf die Hypostasierung sinnspendender Werke und auf die Majorisierung der Kunst durch philosophische Begrifflichkeit.“20 Doch anders als die von Bubner in Anlehnung an Kants Kritik der Urteilskraft unternommene Wirkungsanalyse der ästhetischen Erfahrung, die den Gegenstand der Erfahrung nicht berücksichtigt,21 verfolgt dieser Abschnitt der vorliegenden Arbeit die Erschließung des Wesens des Kunstwerks. Und dies erfordert – wie auch Bubner trotz seines Werkskeptizismus präzisiert – eine sinnliche Auseinandersetzung mit seiner konkreten Einzigkeit: Besonders deutlich wird die Unverzichtbarkeit des sinnlichen Elements bei der Erfahrung von Kunstwerken jedoch, wenn man deren Einzigkeit zu begreifen sucht. Jedes
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dieser Sichtweise nicht leugnen. Denn gerade aufgrund der Tatsache, dass sich moderne und postmodere Kunst durch die Auflösung des Werkbegriffs auszeichnen, könnte eine Auseinandersetzung mit dem Werkbegriff zu ihrer Deutung beitragen. Im prinzipiellen Ausschluss dieser Möglichkeit besteht die Einseitigkeit von Bubners Ansatz. Außerdem bleibt Bubner in seiner Analyse der ästhetischen Erfahrung zu sehr auf das Subjekt konzentriert, ohne die Vermittlung von Subjekt und Objekt, wodurch die ästhetische Erfahrung erst entsteht, zu thematisieren. Der Begriff ‚Gestalt‘ soll hier in einem sehr offenen Sinne verstanden und weder in Verbindung mit dem Formbegriff gebracht noch gar mit diesem gleichgesetzt werden. Der Ausdruck ‚Gestalt‘ soll sich auf alle Kunstformen und Kunstausdrücke beziehen – seien damit Werke im klassischen Sinne (Werke der Malerei, der Bildhauerei, der Dichtung usw.), Aufführungen, Filme oder auch Ready-Mades und Performance-Kunstwerke gemeint. Das Wort ‚Gestalt‘ will einerseits die Einheitlichkeit der unterschiedlichen, künstlerischen Ausdrucksformen zum Ausdruck bringen. Andererseits soll mit diesem Begriff die Einzigkeit jedes Kunstausdrucks bewahrt werden; er dient daher als allgemeine Bezeichnung für jede Form von Kunst-Werk, Kunst-Phänomen oder Kunst-Performance, die sich nicht in allgemeinen Kategorien fassen lässt. Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, 34. Vgl. Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, 34–37.
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Kunstwerk ist ein „singulare tantum“. […] Will man es erfahren, muß man sich ihm in seiner konkreten Einzigkeit stellen. Die Sinnlichkeit muß sich einlassen auf die unverwechselbare Farbgebung, die nie geahnte Lichtführung, den nicht zu wiederholenden Pinselstrich, auf die singuläre Fügung der Worte, die unerhörte Bearbeitung des Tonmaterials, oder die eigenwillige Komposition.22
Ganz in diesem Sinne richtet sich die Analyse im Folgenden exemplarisch auf ein konkretes Kunstwerk: Cézannes Gemälde Stillleben mit Blumen und Früchten.23 Ausgehend von der sinnlichen Begegnung mit diesem Gemälde wird sich zeigen, ob sich die oben formulierte Vermutung, dass Kunstwerke selbstbezügliche, geschlossene Gestalten sind, bestätigt oder ob sie sich nicht doch als trügerisch erweist. Im Folgenden wird daher der Versuch unternommen, das, was auf dem Gemälde zu sehen ist, auf möglichst neutrale Weise wiederzugeben. Die aus diesem Versuch entstehende Beschreibung, die zuweilen banal scheinen mag, soll als erster, unumgänglicher Schritt gelten, um ausgehend von der Kunst – d.h. vom konkreten Kunstwerk – eine Bestimmung der Kunst zu gewinnen.
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Rüdiger Bubner: Zur Analyse ästhetischer Erfahrung. In: Rüdiger Bubner (Hg.): Ästhetische Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, 52–69; 59. Die Auswahl dieses Kunstwerks erfordert in vielerlei Hinsicht eine Begründung. Einerseits wurde diese Auswahl dem Zufall überlassen. Wenn sich nämlich die geäußerte Vermutung, dass jedes Kunstwerk ein auf sich zurückverweisendes System ist, als richtig erweisen sollte, ist die Wahl des Kunstwerks, durch dessen Betrachtung sich die anfängliche Vermutung bestätigt, für das angestrebte Vorhaben irrelevant. Jedes Kunstwerk wäre in diesem Zusammenhang ein geeignetes Beispiel der hier durchzuführenden Analyse. Dies würde auch bedeuten, dass kein Kunstwerk ein Beispiel, sondern vielmehr jedes Kunstwerk ein ‚absolutes Beispiel‘ ist. Die Zufälligkeit der Beispielwahl würde daher die Einzigkeit jedes Kunstwerks implizit belegen. Andererseits wurde die Auswahl dieses Gemälde Cézannes zugleich aber auch bewusst getroffen. Dies aus drei Gründen: Der erste Grund besteht darin, dass es ein bildnerisches Kunstwerk ist. Dies ist auf keinen Fall so zu verstehen, dass die Malerei anderen Kunstformen gegenüber bevorzugt wird. Die Auswahl eines bildnerischen Kunstwerks basiert lediglich auf pragmatischen Vorteilen, die die Malerei im Rahmen des hier zu unternehmenden Versuchs anderen Kunstformen gegenüber aufweist. Denn ein Gemälde lässt sich besser als andere Kunstformen in einem schriftlichen Text – auch wenn es natürlich nicht das Original sein kann – zur Gänze reproduzieren. Der zweite Grund besteht darin, dass dieses Gemälde eine gewisse Neutralität und Freiheit bei der Betrachtung ermöglicht, nicht nur weil es sich als Werk der Moderne Kunstauffassungen entzieht, die das Kunstwerk etwa als Abbildung, Symbol oder Ideal verstehen. Dieses Gemälde gehört aber auch nicht zu den berühmtesten, immer wieder kommentierten Kunstwerken, zu denen ein ‚neutraler Zugang‘ durch traditionelle, bereits festgesetzte Interpretationen erschwert wäre. Dennoch sichert dieses Gemälde der vorliegenden Betrachtung einen zuverlässigen Ausgangspunkt: Darin besteht der dritte Grund für die hier getroffene Wahl. Denn der Kunststatus des gewählten Stilllebens ist längst nicht mehr fraglich, so dass die Vermutung, dass dessen Betrachtung zur Erschließung des Wesens der Kunst beitragen kann, plausibel scheint.
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Paul Cézanne: Stillleben mit Blumen und Früchten
3.1.1 Die sinnliche Wahrnehmung Sich mit diesem Gemälde auseinanderzusetzen und es zu betrachten, bedeutet in erster Linie eine sinnliche Erfahrung und d.h. wiederum eine visuelle. Der Betrachter dieses Stilllebens Cézannes sieht in der Mitte des Gemäldes eine weiße Decke, die so wirkt, als wäre sie wie nebenbei auf den Tisch, den sie bedeckt, hingeworfen worden. Auf der linken Seite des Tisches befinden sich Birnen, auf der rechten eine große Blumenvase. Im rechten Hintergrund lässt sich die Rückenlehnen eines Stuhles erahnen. Wie die bisherige Beschreibung zeigt, wird der Betrachter mit einer Perspektive konfrontiert, die im ersten Augenblick frontal zu sein scheint. Dieser Eindruck wird durch die rechte Seite des Tisches erweckt, die dem Bild durch ihre Neigung von rechts nach links die angedeutete Tiefenschärfe verleiht. Dieser Eindruck wird jedoch durch die Schieflage der unteren Tischebene gestört, die sich ebenso wie die Rückenlehne des Stuhles krümmt. Dadurch wird die Komposition selbst nach links gekrümmt und es entsteht ein irrealer Raum. Bei genauerer Betrachtung wird diese Irrealität durch andere Elemente bestätigt und verstärkt. Der Tisch ist im Verhältnis zum Stuhl zu klein; die Tischdecke ist in einer unnatürlichen Position abgelegt – ganz so, als sei sie auf der hin177
teren, linken Seite gegen eine Wand gelehnt. (Dieser Eindruck steht jedoch im Widerspruch zur Rückenlehne des Stuhles, der sich hinter dem Tisch befindet, insofern er aufgrund seiner Position hinter der Vase deutlich auf eine Entfernung des Tisches zur Wand hinweist.) Selbst die Position der Birnen ist nicht realistisch: Die drei Birnen auf der linken Seite scheinen immer leichter zu werden, je weiter der Blick von der vorderen zur hinteren streift. So scheint die grüne Birne so schwer auf dem Tisch zu liegen, dass sie die Tischdecke beschwert. Die gelbe Birne liegt sanft auf der bereits zerknäulten Tischdecke und bewegt diese kaum. Die violette Birne scheint endlich fast überhaupt kein Gewicht zu haben, als sei sie auf nichts gestützt, sie hinterlässt weder Formen noch wirft sie Schatten. Diese kurze Beschreibung einiger Aspekte der Bildkomposition lässt bereits erahnen, dass die Realität des Bildes den Betrachter von der gewohnten Realität entfremdet. Die Komposition zwingt den Blick dazu, sich in Perspektiven zu bewegen, die ineinander fließen und die in der phänomenalen Welt nicht gegeben sind. Und doch besitzt dieses Gemälde eine harmonische Einheit, die den Betrachter Schritt für Schritt führt – selbst wenn nur auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung in Bezug auf die strukturelle Komposition. Die Neigung einiger Tischteile und der Rückenlehne nach links führt den Blick zum Blumenstrauß in der Vase, die wiederum den Blick nach oben begleitet, um ihn durch die Neigung der Blumen zurück zu den Birnen auf der Tischdecke nach links zu führen. Dieses Zusammenspiel der Neigungen wird in weiterer Folge durch die Wölbung der linken Seite der Tischdecke harmonisch balanciert, die mit der Bewegung ihrer Falten den Blick wieder zum unteren, mittleren Teil des Bildes führt und die ihn von hier aus erneut mit den unteren Teilen des Tisches und der Rückenlehne zusammenführt. Der Blick des Betrachters wird durch die Bildkomposition in einer zirkulären Bewegung geleitet, die das Bild zu einem harmonischen und dynamischen Ganzen macht. Mehr noch als die Dinge, Teile und Neigungen sind es jedoch die Farben, die dem Betrachter ins Auge fallen. Er sieht gelbe, violette und grüne Birnen, rosafarbene, rote und weiß-blaugestreifte Blumen, einen ockerfarbigen Tisch, eine Vase mit blauen Spiegelungen und ockerfarbigen Verzierungen, eine hellblau und grün schimmernde Tischdecke. Jedoch stellt sich bei genauerem Hinsehen heraus, dass der erste Eindruck auch bezüglich der Farben trügt. Die Gegenstände des Gemäldes haben keine Umrisslinien, die sich mit Farben füllen. Stattdessen besteht das Bild tatsächlich nur aus Farben, wodurch Formen, Tiefenschärfe und Raum sowie die gesamte Komposition entstehen. So lässt die auf der Tischdecke reflektierte, blaue Wandfarbe die zahlreichen Falten des dicken Stoffes stärker hervortreten als den Tisch, auf dem sie liegt. Und das gleiche Blau schimmert leicht auf den Blütenblättern und verleiht ihnen im Gegensatz zur robusten Plastizität der Tischdecke Leichtigkeit und Zartheit – eine Zartheit, die sich fast in Zerbrechlichkeit verwandelt, wo sich das Blau der Blütenblätter von den dunkelgrünen Wänden und Blättern abhebt. Im Gewirr der Blätter wird der Blick erneut
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irritiert. Zwischen der Dunkelheit und dem kalten Grünton sticht ein warmes und leuchtendes Rot hervor, das den Blick erneut auf die Tischdecke fallen lässt. Diesmal sind es jedoch nicht die blauen Töne der Wand, die die Aufmerksamkeit des Betrachters auf sich ziehen, sondern das Dunkelgelb der reifen Birnen, die grün, violett und blau schimmern. Das Gemälde bietet dem betrachtenden Auge einen ständigen Farbverweis. Die mit Farben ‚geformten‘ Dinge spiegeln sich wider, hinterlassen Spuren aufeinander, verweisen aufeinander und konstituieren dadurch ein harmonisches Ganzes, das den Betrachter in seine innere Logik einbezieht. Aus einer Perspektive, die den Akzent auf das Kunstwerk legt, erschließt die sinnliche Wahrnehmung das Gemälde als Zusammenspiel von unterschiedlichen Verweisen, die diesem Gemälde eigen ist: Rote Farbe verweist nicht an sich auf gelbe Farbe, weder verweist eine Blume auf eine Birne noch eine Wand auf eine Tischdecke, wie auch blaue Spiegelungen keine Plastizität von Tischdecken oder Zartheit von Blumen ausdrücken. Diese besonderen Verweise sind für dieses Gemälde Cézannes charakteristisch, das daher durch eine innere Logik ausgezeichnet ist. Diese Logik erweist sich als verbindlich, wenn ihre Wirkung auf den Betrachter berücksichtigt wird. Denn der Betrachter wird zwingend durch das Zusammenspiel der Verweise geleitet. Das Gemälde weist daher bereits auf der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung einen verbindlichen Charakter auf, der die Richtung der Wahrnehmung lenkt. Doch ist ein Zusammenspiel von Farben nicht ausreichend, um eine wie auch immer geartete Verbindlichkeit zu begründen. Diese Unzulänglichkeit führt die Betrachtung über die rein sinnliche Wahrnehmung hinaus. Im folgenden Abschnitt soll deshalb das ‚Mehr‘ als die sinnliche Wahrnehmung im Inhalt des Kunstwerks konkretisiert werden. 3.1.2 Das Kunstwerk als autonome Gestalt Eine Farbabstimmung ist noch lange kein Kunstwerk, wie Bubner in seiner Analyse der ästhetischen Erfahrung zutreffend bemerket: „Die Totalität, die mit den wahrnehmbaren Details gesetzt wird, muß mehr als die von den Sinnen erfaßbaren Details sein.“24 Entsprechend muss das Gemälde Cézannes mehr als ein Einklang von ‚Farbflecken‘ sein, soll es als Kunstwerk bezeichnet werden. Dieses ‚Mehr‘ als die wahrnehmbaren Elemente des Gemäldes soll nun gesucht werden. Zu diesem Zweck soll jene Vermutung, von der die Analyse des Gemäldes ausgegangen ist – dass ein Kunstwerk eine geschlossene, rückbezügliche Gestalt ist – präzisiert werden. Durch die Auseinandersetzung mit der sinnlich wahrnehmbaren Seite von Cézannes Gemälde konnte veranschaulicht werden, dass es sich dem Betrachter hinsichtlich seiner wahrnehmbaren Elemente als eine strukturierte Einheit zeigt. Daran anschließend wird nun die Vermutung geäußert, dass sich 24
Bubner: Zur Analyse ästhetischer Erfahrung, 63.
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diese strukturierte Einheit auch bezüglich des ‚Mehr‘ als der reinen Materialität des Gemäldes feststellen lässt. Cézannes Gemälde bietet dem Betrachter einen ‚Inhalt‘.25 Es wurde bereits angedeutet, dass dieses Stillleben keine originalgetreue Imitation eines vom Künstler beobachteten Objekts sein kann: Seine Farben, seine Volumen, seine Perspektive und die Gesamtstruktur der Komposition entsprechen der Realität nicht. Sein Inhalt besteht demzufolge nicht in einer Abbildung der Realität. Das Gemälde drückt auch nicht symbolisch religiöse oder kultische Inhalte aus. Und doch teilt das Bild seinem Betrachter etwas mit. Durch das Zusammenspiel der Farben, die Verflechtung der Perspektiven, durch den Wechsel von Licht und Schatten, durch das Spiel von Hinter- und Vordergrund erfasst dieses Bild die absolute Gestalt der lebendigen Natur. Durch die Zerbrechlichkeit der zarten Blumen bringt das Gemälde die Vergänglichkeit der Natur sowie ihre ‚dunkle Seite‘ zum Ausdruck, die durch den kalten Monochronismus von Grün und Blau das Gesamtbild beherrscht. Die tiefen Falten der Tischdecke spielen auf die Ernsthaftigkeit des natürlichen Lebens an; seinen unausweichlichen Verlauf kann man dem im Bilde dargestellten Übergang von den noch unreifen grünen Birnen zu den reiferen gelben entnehmen. Cézannes Stillleben konfrontiert somit den Betrachter mit der Unverfügbarkeit des Naturganzen, welche sich in den Farbnuancen und den nur angedeuteten Umrissen offenbart: Die roten und gelben Farben fangen die Lebendigkeit der Natur ein, während die kalten Farbtöne auf den Tod einer Natur hindeuten, die als Stillleben seinen Wurzeln entrissen wurde. In diesem Gemälde wird daher der kontinuierliche Kreislauf von Leben und Tod des natürlichen Lebens auf eine ihm eigentümliche Weise zum Ausdruck gebracht. Dieses Kunstwerk – so kann man metaphorisch sagen – verewigt in einer bestimmten Gestalt das geheimnisvolle und unausweichliche Wechselspiel von Leben und Tod der Natur. Dieses Mysterium ist der Inhalt dieses Gemäldes: eine Sinneinheit, jenes ‚Mehr‘, das über die Materialität des Kunstwerks hinausgeht. Dennoch bleibt das über die Materialität hinausgehende ‚Mehr‘ vollkommen auf diese angewiesen, wie Bubner verdeutlicht: Aus den Details der Formen und Farben, der plastischen Gestaltung, der Töne und ihrer kompositorischen Verbindung baut sich der Gesamteindruck allererst auf. Er liegt in den 25
Die folgende Beschreibung des Inhalts des Kunstwerks enthält Worte, Ausdrücke, Andeutungen usw., die für einen wissenschaftlichen Text unangemessen erscheinen mögen, insofern sie sich aus einer subjektiven Betrachtung des Gemäldes Cézannes ergeben. Und in der Tat handelt es sich im Folgenden um eine Interpretation des Inhalts des Gemäldes, deren objektive Valenz fraglich ist und die daher eine Begründung erfordert. Das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität hinsichtlich eines Kunstwerks und dessen Erfahrung berührt jedoch – wie sich später zeigen wird – den zentralen und dennoch problematischsten Punkt des gesamten Versuchs, eine Bestimmung des Kunstwerks, die ihm gerecht wird, zu finden. Aus diesem Grund wird der Leser darum gebeten, sich wertfrei auf die folgende Beschreibung des Inhalts von Cézannes Gemälde – so subjektiv und willkürlich sie auch aussehen mag – einzulassen. Denn dass sich subjektive Elemente in dieser Beschreibung finden, wird später noch problematisiert.
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Details beschlossen und ergibt sich nicht einer der Details vergessenen, ja sie auf das Allgemeine eines Sinnes etwa übersteigenden Vision.26
Daraus wird das Verhältnis gegenseitiger Implikation, in dem die sinnlich wahrnehmbaren Elemente des Kunstwerks und seine übermaterielle Ebene stehen, ersichtlich: Der Inhalt des Gemäldes Cézannes, das als absolute Gestalt der lebendigen Natur bestimmt wurde, ist kein Zusatz zu seiner Materialität. Das Zusammenspiel der kontrastierenden Farben, der plastischen Formen und der zirkulären Struktur der Komposition verweist auf einen Inhalt, den es durch und durch bestimmt und zum Ausdruck bringt, insofern es ihn erst hervorbringt. Seinerseits vermittelt der Inhalt zugleich die strukturierte Ordnung der materiellen Elemente des Kunstwerks. Aufgrund dieser wechselseitigen Bestimmung von Inhalt und Materie weisen bereits die sinnlich wahrnehmbaren Elemente eines Kunstwerks eine strukturierte Einheit auf und verweisen zugleich auf das sie transzendendierende ‚Mehr‘. Wenn die Aufmerksamkeit nun auf das Vermittlungsprinzip, das das Verhältnis reziproker Abhängigkeit von Materie und Inhalt auszeichnet, gerichtet wird, erschließt sich ein für die Gewinnung eines dem Kunstwerk immanenten Autonomiebegriffs entscheidender Aspekt. Denn dieses Prinzip lässt sich als nichts anders als ein jedem Kunstwerk immanentes Gesetz denken. Das organische Ganze, das jedes Kunstwerk ist, negiert konsequent jeden Versuch, es entweder als Ergebnis eines glücklichen Zufalls oder eines kausalen Prozesses zu betrachten. Jedes Kunstwerk ist Ergebnis eines ihm immanenten Kompositionsgesetzes; jedes Kunstwerk birgt seine eigene Logik. Im autonomen Charakter der gegenseitigen Vermittlung von Materie und Inhalt besteht – so könnte man aus einer Binnenperspektive des Kunstwerks behaupten – seine absolute Autonomie. Diese Autonomieauffassung des Kunstwerks würde auch die Vermutung bestätigen, von der die Analyse des Gemäldes Cézannes ausgegangen ist. Denn dieser Autonomiebegriff versteht jedes Kunstwerk als eine geschlossene Gestalt, die nur auf sich selbst zurückverweist. Folglich zeigt sich jedes Kunstwerk als ein autarkes Verweissystem, das nach einem ihm immanenten Formgesetz, das die Vermittlung zwischen seinen materiellen Elementen und seiner Sinndimension reguliert, entsteht. Trotz ihrer scheinbaren Logik lässt diese Behauptung einen wichtigen Aspekt unberücksichtigt, der ihre Stringenz in Frage stellt. Die bislang vorgenommene Betrachtung des Kunstwerks hat etwas – oder präziser – jemanden vorausgesetzt, der, obwohl nicht thematisiert, der gesamten Analyse implizit vorangestellt wurde: den Betrachter eines Kunstwerks. Sowohl die Auseinandersetzung mit der sinnlich wahrnehmenden Seite des Kunstwerks als auch die Erschließung seines Inhalts sind nur dadurch möglich, dass ein Betrachter die sinnlichen Elemente tatsächlich wahrnimmt und Sinndimensionen erschließt. 26
Bubner: Zur Analyse ästhetischer Erfahrung, 63.
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Der Verweis auf den Betrachter hat beträchtliche Konsequenzen für die bislang vorgenommene Analyse des Kunstwerks. Zum einem wird die behauptete, absolute Autonomie des Kunstwerks, wenn nicht vollkommen hinfällig, so doch zumindest fragwürdig und präzisierungsbedürftig. Diese absolute Autonomie erweist sich eher als eine „merkwürdige Autarkie“27, die es zu relativieren gilt. Da aber die der Analyse vorausgehende Vermutung, dass Kunstwerke autonome, nur auf sich selbst verweisende Gestalten sind, an Kraft verliert, ist zum anderen die systematische Gültigkeit der gesamten Argumentation in Frage zu stellen. Denn aufgrund der vorläufig angenommenen Plausibilität dieser Vermutung wurde ausgehend von der konkreten Begegnung mit einem konkreten Kunstwerk ein allgemein gültiger Zugang zum Kunstwerk gesucht. Die daraus entstehende Relativität der Autonomie des Kunstwerks sowie der Verdacht eines systematischen Fehlers in der Argumentation sollen im Folgenden thematisiert und der Versuch unternommen werden, sie auszuräumen. Es gilt, mit anderen Worten, zu klären, ob Kunstwerke autonome oder aber auf eine Betrachtung angewiesene Gestalten sind und wie sie entsprechend zugänglich werden. Die Analyse zielt daher im Folgenden darauf ab, die Rolle des Betrachters für das Wesen des Kunstwerks zu untersuchen. 3.1.3 Das Kunstwerk als Erfahrungsgestalt Es ist evident, dass die soeben formulierte Frage des Entweder-Oder – entweder ist ein Kunstwerk autonom oder aber es hängt von einer Betrachtung ab – die intuitive Inkompatibilität der Autonomie und der Angewiesenheit auf die Betrachtung voraussetzt. Zentral wird daher, um das Wesen des Kunstwerks erschließen zu können, die Möglichkeit der Vereinbarung des Anspruchs auf absolute Selbstgesetzmäßigkeit mit der Angewiesenheit auf Erfahrung. Um dieses Verhältnis ersichtlich machen zu können, wird im Folgenden die ästhetische Erfahrung bzw. die Betrachtung eines Kunstwerks in den Fokus gerückt. Die bislang vorgenommen Analyse hat Erfahrung und Autonomie implizit bereits zusammen gedacht, ohne dieses Verhältnis jedoch explizit thematisieret zu haben. Denn von der Ebene der sinnlichen Wahrnehmung ausgehend, ist die Analyse Schritt für Schritt zur immanenten Logik des Kunstwerks vorangeschritten. Diese immanente Logik, die nicht von einem Betrachter abhängt und die die absolute Autonomie jedes Kunstwerks begründet, entfaltet sich allerdings allein bei der Betrachtung. Nur indem man einem Kunstwerk begegnet und d.h. indem es erfahren wird, entsteht das ihm immanente Zusammenspiel seiner sinnlichen und übersinnlichen Momente. Nur dann werden seine Farben, Töne oder Worte etc. konstituierende und bedeutende Teile eines organischen Ganzen.
27
Bubner: Zur Analyse sthetischer Erfahrung, 62.
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In Anschluss daran ergibt sich ein die ästhetische Erfahrung auszeichnender Aspekt, der sich in Anlehnung an Bubner als ‚Leistungskraft der Erfahrung‘ bezeichnen lässt:28 In keinem Bild ist das schlicht zu sehen, was der Betrachter darin sieht, in keinem Gedicht definitiv zu lesen, was man darin liest, und bei keinem Musikstück genügt genaues Zuhören, um das zu hören, was in der ästhetischen Erfahrung sich gibt. Die paradoxe Formulierung soll die Unbestimmbarkeit des ästhetischen Gegenstands hervorheben.29
Bubner expliziert dies: Die Einheit [des Werks] entsteht allein auf dem Weg der ästhetischen Erfahrung. Die Einheit ist damit ein Produkt aktiver Mitwirkung der Reflexion, die zwischen den Details und dem Ganzen hin und her spielt, um den Zusammenhang beider zu erfassen. Die Einheit des Werkes bleibt eine Aufgabe, die der ästhetischen Erfahrung übertragen ist, um jeweils anhand sinnlicher Gegebenheiten in Ausgriff auf die suggerierte Totalität durch Reflexionstätigkeit hergestellt zu werden.30
Daran anschließend lässt sich feststellen, dass ein Kunstwerk eine Erfahrungsgestalt ist, was nicht nur die Notwendigkeit, die Analyse von Erfahrungs- oder Erkenntnisprozessen des Betrachters in den Kontext der Frage nach dem Wesen des Kunstwerks einzubeziehen, impliziert. Die gewonnene Definition des Kunstwerks als Erfahrungsgestalt besagt zudem, dass sich Kunstwerk und Betrachter gegenseitig implizieren; sie besagt also, dass „die Betrachtung […] zum Wesen der Kunst“31 gehört. Diese Feststellung ist für das vorliegende Forschungsvorhaben insofern von besonderer Bedeutung, als die behauptete, gegenseitige Implikation von Kunst und Betrachter die systematische Basis festlegt, um einen Autonomiebegriff der Kunst herauszuarbeiten, der keinen naiven Anspruch auf Absolutheit erhebt. Denn als Erfahrungsgestalt bezieht jedes Kunstwerk seinem Wesen nach den Betrachter auf grundlegende Weise mit ein. Dieser Betrachter ist nie ein potenzieller, allgemeiner Betrachter, sondern immer schon ein bestimmter Mensch, der dem Kunstwerk aus seiner geschichtlich und kulturell festgelegten Perspektive begegnet. Das Kunstwerk als Erfahrungsgestalt kann sich dieser geschichtlichen und kulturellen Bedingtheit nicht entziehen. Sie ist, ganz im Gegenteil, Bestandteil seines Wesens. Entsprechend verlangt jedes Kunstwerk inhärent danach, von der in diesem Sinne bedingenden Erfahrung seines jeweiligen Betrachters erschlossen zu werden. Nun ist jedoch das Problem einer Vereinbarung der Autonomie des Kunstwerks und seiner Angewiesenheit auf seine Erfahrung nicht nur noch nicht gelöst, sondern wird dadurch sogar verstärkt. Wenn die Leistungskraft der ästhetischen Erfahrung den Verdacht einer argumentativen Schwäche entkräftet und zur Bestimmung 28 29 30 31
Vgl. Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, 35–42. Bubner: Über einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, 43. Bubner: Zur Analyse ästhetischer Erfahrung, 63. Figal: Erscheinungsdinge, 8.
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eines sachgerechten Autonomiebegriffs der Kunst beiträgt, wirkt ihre konstitutive Rolle für das Wesen des Kunstwerks aber zugleich daran mit, die Autonomie des Kunstwerks zu relativieren und ihre Erfahrung in einen subjektiven und daher beliebigen, unbestimmten Prozess aufzulösen. Denn die Erfahrung ist – unabhängig davon, ob sie im rein erkenntnistheoretischen, lebensweltlichen, existenzialhermeneutischen Kontext oder ihrer umgangssprachlichen Bedeutung verwendet wird – Privatheit bzw. – in Heideggers Terminologie – durch ‚Jemeinigkeit‘ ausgezeichnet.32 Die Brisanz dieser Problematik, die durch die Vielfältigkeit und Heterogenität der modernen Kunst zusätzlich verstärkt wird, schlägt sich in der aktuellen Debatte über die ästhetische Erfahrung nieder. Einerseits attestieren wichtige Vertreter des ästhetischen Diskurses der letzten Jahre nicht nur die Wichtigkeit der Analyse der ästhetischen Erfahrung für die Ästhetik im Allgemeinen, sondern behaupten auch ihre Unerlässlichkeit. Aufgrund dieser Überzeugung sieht etwa Figal in der ästhetischen Erfahrung den Ausgangspunkt der Ästhetik;33 Jauß, Menke und Pöltner verstehen die ästhetische Erfahrung trotz beträchtlicher Unterschiede ebenfalls als Leitbegriff der Ästhetik;34 Bubner verknüpft die ästhetische Erfahrung sogar mit der Aufgabe der Ästhetik, die darin bestehe, „zu begreifen, was in der ästhetischen Erfahrung geschieht“.35 Doch die Vereinbarung der der Erfahrung wesentlichen Subjektivität mit einer wie auch immer gearteten Objektivität des Kunstwerks ist andererseits so problematisch geworden, dass viele Autoren die Unmöglichkeit einer einheitlichen, objektiven Theorie der ästhetischen Erfahrung konstatiert haben. Renommierte Forscher wie Jens Kulenkampff, Marcus Otto, Jürgen Stöhr und Wolfgang Welsch teilen in dieser Perspektive die Auffassung, dass „unsere postmoderne Existenz im Plural […] heute eine[r] unhintergehbare[n] plurale[n] Struktur ästhetischer Erfahrung“36 entspre-
32
33 34
35 36
Vgl. zu Strukturmomenten der Erfahrung: Pöltner: Philosophische Ästhetik, 221–225; Bernd Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis. Eine Untersuchung zu den grundlegenden Dimensionen des Ästhetischen. München: Fink 2002, 23–41. Vgl. Figal: Erscheinungsdinge, 50. Vgl. Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik. In enger Verbindung mit dem ‚Genuss‘, den er in Übereinstimmung mit Kant als interessenloses Wohlgefallen versteht, erfasst Jauß die ästhetische Erfahrung als Leitprinzip und -begriff jeder Ästhetik und versucht entsprechend, ihre rezeptive und kommunikative Leistung zu rehabilitieren. (Vgl. Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik, 58; Joachim Küpper; Christoph Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, 7) Auch Pöltner rückt die ästhetische Erfahrung ins Zentrum seiner ästhetischen Betrachtung und fasst sein Vorhaben folglich in zwei Thesen zusammen: „1. Gegenstand einer Ästhetik habe nicht nur das Ästhetische in seiner ganzen Breite zu sein, sondern 2. auch dessen Gegebensein in der Erfahrung. Auf diese Weise läßt sich mit Recht die ästhetische Erfahrung zum gegenwärtigen ‚Leitbegriff ‘ einer philosophischen Ästhetik erheben.“ (Pöltner: Philosophische Ästhetik, 16) Bubner: Ästhetische Erfahrung, 7. Jürgen Stöhr: ‚Das Geistige in der Kunst‘ oder wo die Zeitgeister sich scheiden. In: Jürgen Stöhr (Hg.): Ästhetische Erfahrung heute. Köln: DuMont 1996, 308–339; 332.
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che, aufgrund derer es unmöglich sei, „ein spezifisches, allen derartigen Erfahrungen gemeinsames Element auszumachen“.37 Will man nicht vor einem einfachen Relativismus kapitulieren, muss die objektive Gültigkeit der ästhetischen Erfahrung gewährleistet werden und die Feststellung, dass Kunstwerke autonome Erfahrungsgestalten sind, muss ihren paradoxen Charakter verlieren. Es soll daher einen Erfahrungsbegriff gefunden werden, der sich trotz der Subjektivität jeder Erfahrung nicht ausschließlich auf einen privaten Raum beschränkt und dadurch die Autonomie des zu erfahrenen Objekts bewahrt. Zu diesem Zweck wird im Folgenden ein Modell vorgestellt, das im Denken Adornos und Benjamins als erkenntnistheoretisches und zugleich existenziales Modell eine zentrale Rolle spielt: die Konstellation. Als Konfiguration, die sich der Subsumtionsmechanismen der deduktiven Logik widersetzen will, verkörpert die Konstellation ein erkenntnistheoretisches Modell, das den zu erkennenden Gegenstand in seiner Eigenart zum Ausdruck bringen will, anstatt ihn mit statischen Begriffen zu erfassen. Dies wird möglich, indem die Erkenntnis nicht als ein Intentionalitätsverhältnis zwischen Subjekt und Objekt verstanden wird, sondern als ein Geflecht von rein logischen Elementen und existenzialen, individuellen Erfahrungen, die dadurch eine derart zentrale Bedeutung annehmen, dass sie untrennbar mit der Erkenntnis verbunden sind. Besonders wichtig ist dabei, dass die existenziale Erfahrung des Subjekts durch das Objekt vermittelt wird und dadurch den Charakter der Privatheit verliert, d.h. objektiviert wird. Gerade diese zwei Aspekte – die Wahrung der Einzigartigkeit des Gegenstands und die Vermittlung der subjektiven Erfahrung durch das Objekt –, die die Konstellation auszeichnen, begründen das Interesse der vorliegenden Betrachtung an diesem erkenntnistheoretischen Modell. Denn es kombiniert die zwei vermeintlich nicht miteinander zu vereinbarenden Aspekte, die das Kunstwerk als Erfahrungsgestalt ausmachen: einerseits die Autonomie des Kunstwerks und andererseits seine Abhängigkeit von der Erfahrung des Betrachters. 37
Marcus Otto: Ästhetische Wertschätzung. Bausteine zu einer Theorie des Ästhetischen. Berlin: Akademie Verlag 1993, 93–94. Otto vertritt die Auffassung, dass eine Theorie ästhetischer Erfahrung unmöglich sei. Denn eine solche müsse „an die individuellen Erfahrungen des Einzelnen appellieren […] und dabei wird sie z.B. nicht immer (Selbst-)Mißverständnisse und Fehleinschätzungen ausschließen können“. (Otto: Ästhetische Wertschätzung, 97) (Vgl. zur Unmöglichkeit einer einheitlichen Theorie der ästhetischen Erfahrung auch: Jens Kulenkampff: Ästhetische Erfahrung – oder was von ihr zu halten ist. In: Jürg Freudiger; Andreas Graeser; Klaus Petrus (Hg.): Der Begriff der Erfahrung in der Philosophie des 20. Jahrhunderts. München: C.H. Beck 1996, 178–198; 179) Auch Welsch argumentiert für eine Ästhetik, die prinzipiell „poly-aisthetisch, nich mono-aisthetisch“ (Welsch: Erweiterung der Ästhetik, 54) sei. Die ästhetische Erfahrung sei vielmehr ein Amalgam aus verschiedenen, untereinander durch Familienähnlichkeiten verbundenen Wahrnehmungsformen. Eine adäquate Behandlung ästhetischer Erfahrung habe diese Pluralität im Blick zu behalten, um nicht einem reduktionistischen Monismus ästhetischer Erfahrung aufzusitzen. (Vgl. Welsch: Erweiterung der Ästhetik; vgl. für einen zusammenfassenden Überblick verschiedener Einwände gegen eine einheitliche Theorie der ästhetischen Erfahrung: Kleimann: Das ästhetische Weltverhältnis, 41–52)
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Die Konstellation scheint somit eine der ästhetischen Erfahrung ähnliche Struktur zu haben, die Objektivität und Subjektivität, Gegenstand und Betrachter gegenseitig vermittelt und in ihrer jeweiligen Einzigartigkeit bewahrt. Aufgrund dieser strukturellen Gemeinsamkeit verspricht eine Analyse des Konstellationsmodells im Denken Adornos und Benjamins die Auflösung der Paradoxie, die die Definition des Kunstwerks als autonome Erfahrungsgestalt aufzuweisen scheint.
3.2 Das Konstellationsmodell Die Konstellation stellt eine zentrale Figur sowohl in Adornos als auch in Benjamins Denken dar. In der Negativen Dialektik bedient sich Adorno der Konstellation, um das erkenntnistheoretische Modell des Denkens des Nichtidentischen zu veranschaulichen.38 Als solche nutzt Adorno sie, um starke Kritik an der deduktiven Denkform zu üben, die im Erkenntnisprozess Subjekt und Objekt statt als gegenseitig vermittelte Reflexionskategorien, als voneinander getrennte, „primäre Sachverhalte“39 voraussetzt. Im Gegensatz zur deduktiven Form des positiven Denkens, die das qualitative Moment der Erkenntnis unbeachtet lässt und die daher sowohl Objekt als auch Subjekt des Erkenntnisprozesses verkennt, will Adorno durch die Konstellationsfigur eben diesem qualitativen Moment Rechnung tragen. Der „Vorrang des Objekts“,40 die Wiedergewinnung des ‚Mehr am Objekt‘ sowie das dialektische Denken sind zugleich mit der systematischen Widerlegung der positiven Logik die Wesenszüge des Adornoschen Denkens des Nichtidentischen, die er in der Figur der Konstellation verwirklicht sieht.41 Auch im Denken Benjamins stellt die Konstellation eine erkenntnistheoretische Figur dar. In dieser sind die verschiedensten Interessen und Motive Benjamins verdichtet: Mit Hilfe der Konstellation entfaltet Benjamin seine messianisch-platonische Auffassung der Wahrheit und die damit verbundene Rolle des Philosophen und des Künstlers;42 Benjamin bedient sich der Konstellation auch für rein erkenntnistheoretische Überlegungen;43 sie spielt aber ebenso eine entscheidende Rolle in seiner messianischen Geschichtsauffassung,44 die eng mit einer materialistisch-anthropologisch ausgearbeiteten Dialektik von Traum und Erwachen zusammenhängt.45 Trotz dieser Vielfältigkeit an Motiven und Interessen zeigen sich in der Figur der Konstellation im Denken Benjamins dieselben 38 39 40 41 42 43 44 45
Vgl. ND, 164–166. ND, 176. ND, 185. (Vgl. auch: ND, 184–186) Vgl. zur erkenntnistheoretischen Grundlage der negativen Dialektik im Sinne Adornos: ND, 137–20. Vgl. UDT, 210–214. Vgl. PA, 576; 578; 582; 595. Vgl. B-GSI-2: Über den Begriff der Geschichte, 702–703; 704; PA, 587; 594–595. Vgl. PA, 571.
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Aspekte, auf die auch Adorno seinen Fokus legt: auf eine Erkenntnisstruktur, die sich jedem Intentionalitätsverhältnis von Subjekt und Objekt entzieht; auf einen Erkenntnisprozess, der auf das qualitative Moment achtet; und daher auf eine Erkenntnisform, die insofern umfassender als jene des deduktiven Denkens ist, als sie grundlegend mit existenzialen Erfahrungen verbunden ist. Aufgrund dessen überschreitet dieses Denkmodell die Grenzen des ‚reinen Denkens‘ und setzt sich als existenziales Modell durch – und dies nicht als Zusatzcharakter zu primär erkenntnistheoretischen Wesenszügen. Denn die Form der Erkenntnis, die die Konstellation veranschaulicht, fällt notwendigerweise mit der Erfahrung zusammen und bewahrt trotzdem ihre objektive Gültigkeit, die von jeder Erkenntnis erwartet wird. Aufgrund des von der Konstellation verkörperten Einklangs von Erfahrung und Objektivität kann eine Analyse dieses Modells dazu beitragen, die Paradoxie, die der Definition des Kunstwerks als autonomer Erfahrungsgestalt inhärent zu sein scheint, aufzulösen. Die Darstellung des Konstellationsmodells soll im Folgenden in zwei Schritten erfolgen. Der erste Schritt will die mit der Erkenntnis immer schon verknüpfte Erfahrung ausblenden und die Aufmerksamkeit auf die rein erkenntnistheoretischen Eigenschaften der Konstellation richten. In Anlehnung an Adorno und Benjamin, deren Konstellationsdarstellungen sich gegenseitig ergänzen, wird der Akzent auf drei grundlegende Aspekte gelegt, die das Konstellationsmodell auszeichnen und die es von anderen Erkenntnismodellen unterscheiden: erstens die diesem Modell eigentümliche Funktion der Begriffe und die damit verbundene Auflösung der subjektiven Intentionalität, zweitens die Wahrung des qualitativen Moments im Erkenntnisprozess und drittens die besondere Verbindlichkeit, die aus diesem Prozess entsteht und die ihn ausmacht. In einem zweiten Schritt wird die Konstellation unter einer anderen Perspektive in den Blick genommen, um ihr existenziales Potenzial zu erschließen. In diesem Zusammenhang werden die Geschichtstheorie Benjamins und vor allem seine Zeitauffassung eine wichtige Rolle spielen. Denn obwohl auch bei Adorno die Erfahrung für die wahre Erkenntnis zentral ist, arbeitet er diesen Aspekt nicht derart ausdrücklich wie Benjamin heraus.46 Es wird sich 46
Adorno sieht die Erfahrung eindeutig als einen notwendigen Bestandteil des Erkenntnisprozesses: Belege für diese notwendige Verschränkung lassen sich sowohl in der Dialektik der Aufklärung als auch in der Negativen Dialektik finden. Diesbezüglich beschränken sich die Äußerungen Adornos auf mehr oder weniger implizite, voraussetzungsvolle Verweise, die, wenn sie zwar einerseits nicht an der Notwendigkeit der Verbindung von Erkenntnis und Erfahrung im Denken Adornos zweifeln lassen, andererseits dennoch keine systematische Herausarbeitung dieser Verschränkung ermöglichen. (Vgl. insb. DA, 53; ND, 41; 51– 52; 165) Für Benjamin ist das Verhältnis von Erkenntnis und Erfahrung dagegen ein Hauptinteresse seiner Überlegungen, so dass die zentralen Figuren seines Denkens als Verkörperung dieser Verschränkung interpretiert werden können: Das dialektische Bild, das andenkende Denken, die Dialektik zwischen Traum und Erwachen sowie die Idee der Erkenntnis, die mit der Geschichte zusammenfällt, lassen sich nur auf Basis der grundlegenden Verbindung von Erfahrung und Erkenntnis verstehen und erschließen. Aufgrund der Zentralität dieser Verbindung im Denken Benjamins erweist es sich für die Veranschauli-
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in diesem Abschnitt zeigen, wie der Mensch von einem so gedachten Erkenntnisprozess in seiner vollen Komplexität angesprochen und es zugleich möglich wird, über die Privatheit einer subjektiven Erfahrung hinauszugehen. Auf das Kunstwerk und die ästhetische Erfahrung umgemünzt, gestatten die Ergebnisse der Analyse des Konstellationsmodells abschließend die Entwicklung einer geeigneten Bestimmung des Kunstwerk und seiner Autonomie. 3.2.1 Die Konstellation als erkenntnistheoretisches Modell Der einleitende Abschnitt zu Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels, der den Titel ‚Erkenntnistheoretische Vorrede‘ trägt, bietet abgesehen von unterschiedlichen strittigen Punkten, die in der entsprechenden Forschungsliteratur aufgegriffen werden,47 eine feste theoretische Basis für die Bestimmung des Konstellationsmodells. Der Ausdruck ‚Konstellation‘ kommt in dieser Vorrede nur in dem kurzen Abschnitt ‚Idee als Konfiguration‘ vor. Er stellt dennoch einen der Schlüsselbegriffe der gesamten theoretischen Struktur der Vorrede dar. Benjamin bestimmt die Konstellation dabei als Idee: „Die Ideen sind ewige Konstellationen und indem die Elemente als Punkte in derartigen Konstellationen erfaßt werden, sind die Phänomene aufgeteilt und gerettet zugleich.“48 Diese Definition der
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chung der entscheidenden Rolle der Erfahrung im konstellativen Erkenntnisprozess als geeigneter als das Denken Adornos. Der kryptische Charakter der ‚Erkenntnistheoretischen Vorrede‘ erlaubt tatsächlich eine Vielzahl an unterschiedlichen Interpretationen, die alle Anspruch auf Gültigkeit erheben können. Es kann daher nicht verwundern, dass viele Autoren, die sich mit der Vorrede auseinandergesetzt haben, zu eigenen Ergebnissen sowohl bezüglich der immanenten Bedeutung der Vorrede als auch bezüglich ihrer Stellung im gesamten Trauerspielbuch gelangen. So liest etwa Liselotte Wiesenthal die Vorrede als eine ausgearbeitete, neukantianische Wissenschaftstheorie. (Vgl. Liselotte Wiesenthal: Zur Wissenschaftstheorie Walter Benjamins. Frankfurt a.M.: Athenäum 1973) Dagegen kann Rudolf Speth überzeugend argumentieren, dass der Titel eben deshalb irreführend sei, weil Benjamin gar keine Erkenntnistheorie betreibe. (Vgl. Speth: Wahrheit und Ästhetik, 210) Höchst interessant und zutreffend sind auch die Versuche, die Vorrede anhand von Schlüsselmotiven bzw. -begriffen zu erschließen, wie sie etwa von Heinz Schlaffer und Fred Lönker unternommen werden. Schlaffer erklärt die Tendenz zur Ästhetisierung der Wahrheit zum Hauptmotiv der Vorrede. (Vgl. Heinz Schlaffer: Walter Benjamins Idee der Gattung. In: Vorstand der Vereinigung der Deutschen Hochschulgermanisten (Hg.): Textsorten und literarische Gattungen. Dokumentation des Germanistentages in Hamburg vom 1. bis 4. April 1979. Berlin: E. Schmidt 1983, 281–290) Lönker erschließt die gesamte Vorrede hingegen anhand des Darstellungsbegriffs. (Vgl. Lönker: Benjamins Darstellungstheorie) Auch bezüglich ihres Stellenwerts im gesamten Trauerspielbuch ermöglicht die Vorrede unterschiedliche, zuweilen sogar widersprüchliche und doch insgesamt zulässige Interpretationen. Winfried Menninghaus versteht zum Besipiel die Vorrede als eine Lektüreanleitung für das gesamte Trauerspielbuch. (Vgl. Winfried Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, 82) Für Hans-Jürgen Schings bleibt dagegen eine Kluft zwischen der Vorrede und dem Rest des Trauerspielbuchs. (Vgl. Schings: Walter Benjamin, das barocke Trauerspiel und die Barockforschung, 666) UDT, 215. Der Ideenbegriff ist wie die meisten Begriffe Benjamins strittig. Die BenjaminForschung schwankt zwischen zwei Interpretationen dieses Begriffs: Einerseits versuchen
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Konstellation als Idee scheint alles andere als eindeutig. Wie ist die Idee in diesem Zusammenhang zu verstehen? Von welchen Elementen ist hier die Rede? Was heißt es, dass die Phänomene ‚aufgeteilt und gerettet‘ sind? Von diesen Fragen ausgehend, wird im Folgenden der Akzent auf die theoretische Bedeutung gelegt, die das Konstellationsmodell abgesehen von seiner messianisch-platonischen und sprachtheoretischen Konnotationen auszeichnet. In Benjamins Verständnis sind Ideen gegeben. Ihre Gegebenheit ist aber nicht phänomenal.49 Der Philosoph muss nach Benjamin eine einzige Aufgabe erfüllen: die Darstellung dieser ewigen Ideen.50 Um diese Aufgabe erfüllen zu können, stehen dem Philosophen dieselben Mittel wie anderen Wissenschaftlern zur Verfügung: Worte, die Begriffe sind. Und wie andere Wissenschaftler befinden sich auch Philosophen in einer phänomenalen, geschichtlich und kulturell bestimmten Welt. Daher ist die philosophische Darstellung der Idee in Benjamins Verständnis nur „im Mittel der Empirie“51 und durch Phänomene möglich. Phänomene durch Begriffe zu betrachten, zu beschreiben, zu erschließen, zu verdeutlichen und durch eine propositionale Sprache zum Ausdruck zu bringen, sei der einzig mögliche Weg für den Philosophen. Dies ist aber auch der Weg, den Benjamin für die Naturwissenschaften sieht. Und doch macht Benjamin zwischen dem Weg des Philosophen und jenem des Naturwissenschaftlers einen entscheidenden Unterschied: Naturwissenschaftler zielen auf Erkenntnis, Philosophen hingegen auf Wahrheit, die Benjamin als „intentionsloses Sein“52 definiert. Das folgende Zitat soll erklären, wie Benjamin sich diese Aufgabe des Philosophen vorstellt:
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50 51 52
Autoren wie etwa Holz, eine deutliche Unterscheidung zwischen Benjamins Konzeption der Idee und Platons Ideenlehre vorzunehmen und Benjamins Ideenbegriff im messianischen Kontext zu verorten. (Vgl. Holz: Idee.) Andererseits plädieren Autoren wie etwa Lönker dafür, Benjamins Ideenbegriff ausgehend von Platon zu bestimmen. (Vgl. Lönker: Benjamins Darstellungstheorie) In einen platonischen Rahmen lässt sich auch der Vorschlag Menninghaus‘ verorten, der die These vertritt, dass Benjamin „[i]m terminologischen Rekurs auf Platons ontologische Spaltung der Welt in zwei Welten […] die sprachphilosophische Differenzierung der Sprache in zwei Sprachen [formuliert]: die mitteilend-semiotische und die magisch-unmittelbare“. (Menninghaus: Walter Benjamins Theorie der Sprachmagie, 82) Die verschiedenen Interpretationen des Ideenbegriffs Benjamins hängen jedoch jeweils von den theoretischen Zusammenhängen ab, in denen dieser Begriff Anwendung findet. Aufgrund dessen kann sich das erkenntnistheoretische Potenzial, das die Ideen als Konstellationen besitzen, nur unter einer solchen Perspektive entfalten, in der sich messianische und platonische Motive gegenseitig ergänzen. In gerade einer solchen Perspektive wird der Ideenbegriff im Folgenden betrachtet. Vgl. UDT, 215. „Die Idee ist ein Sprachliches, und zwar im Wesen des Wortes jeweils dasjenige Moment, in welchem es Symbol ist.“ (UDT, 216) (Vgl. für eine ausführliche Darstellung der Sprachphilosophie Benjamins und des sprachlichen Wesen von Mensch und Dingen: B-GSII-1: Über Sprache überhaupt und über die Sprache des Menschen) Vgl. UDT, 208; 212. UDT, 214. Vgl. UDT, 216; vgl. für eine stringente Zusammenfassung der Unterschiede zwischen Erkenntnis und Wahrheit: UDT, 290–210.
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Nur dort, wo das System in seinem Grundriß von der Verfassung der Ideenwelt selbst inspiriert ist, hat es Geltung. […] Die Phänomene gehen aber nicht integral in ihrem rohen empirischen Bestande, dem der Schein sich beimischt, sondern in ihren Elementen allein, gerettet, in das Reich der Ideen ein. Ihrer falschen Einheit entäußern sie sich, um aufgeteilt an der echten der Wahrheit teilzuhaben. In dieser ihrer Aufteilung unterstehen die Phänomene den Begriffen. Die sind es, welche an den Dingen, die Lösung in die Elemente vollziehen. […] Durch ihre Vermittlerrolle leihen die Begriffe den Phänomenen Anteil am Sein der Ideen. Und eben diese Vermittlerrolle macht sie tauglich zu der anderen, gleich ursprünglichen Aufgabe der Philosophie, zur Darstellung der Ideen. Indem die Rettung der Phänomene vermittels der Ideen sich vollzieht, vollzieht sich die Darstellung der Ideen im Mittel der Empirie. Denn nicht an sich selbst, sondern einzig und allein in einer Zuordnung dinglicher Elemente im Begriff stellen die Ideen sich dar. Und zwar tun sie es als deren Konfiguration.53
Abgesehen von seinen unverkennbar religiösen Implikationen lässt dieses Zitat die Eigentümlichkeit des Konstellationsmodells erkennen, das auch jenseits der messianisch-platonischen Erkenntnistheorie Benjamins einen Anspruch auf Gültigkeit erheben kann. Diese Eigentümlichkeit hängt, so Speth, von der „Scharnierfunktion [der Begriffe] zwischen den Ideen und den Phänomen“54 ab. Wie bereits erwähnt, ist sich Benjamin dessen bewusst, dass die Begriffe unumgängliche Strukturen und Bezugspunkte jeder Form der Erkenntnis – sei es wahre Erkenntnis oder nicht – darstellen. In seinem Modell schreibt er den Begriffen eine Vermittlungsrolle zwischen Phänomenen und Ideen zu. Benjamin sieht diese Rolle darin konkretisiert, dass die Begriffe Dinge und Phänomene in viele Elemente auflösen.55 Diese Funktion, die Benjamin den Begriffen zuschreibt, ist entscheidend, insofern er damit einen ungewöhnlichen Umgang mit den Begriffen vorschlägt und die Funktion, die sie für die positiven Wissenschaften erfüllen, umkehrt.
53 54 55
UDT, 213–214. Speth: Wahrheit und Ästhetik, 239. Wie Speth feststellt, weist der Ausdruck ‚Phänomen‘ im Benjaminschen Denken eine besondere Bedeutung auf, insofern er einen Unterschied zwischen Schein und Sein impliziert, aufgrund dessen die Zerteilung und daher die Rettung der Phänomene im Sinne Benjamins möglich werden. (Vgl. Speth: Wahrheit und Ästhetik, 240–244) Aus diesem Grund ist es im Rahmen des Benjaminschen Denkens weder angemessen, Phänomene und Dinge gleichzusetzen, noch überhaupt von Dingen als Beispielen für Phänomene zu sprechen. Denn nur in Bezug auf Phänomene ist jene messianische Rettung, die u.a. die theoretische Grundlage der Vorrede ausmacht, möglich. Da aber die Vorrede Benjamins im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit lediglich die Funktion erfüllt, ein Modell zu veranschaulichen, mit dessen Hilfe die Begegnung mit Kunstwerken verdeutlicht werden kann, kann die messianische Rettung für die hier verfolgte Absicht nicht nur nicht fruchtbar gemacht werden, sie kann sogar irreführend sein. Denn dadurch kann die erkenntnistheoretische Gültigkeit des Konstellationsmodells nur im Rahmen einer bestimmten Theologie gedacht werden. Ausgehend von der Überzeugung, dass die Konstellationsfigur über die Grenzen einer messianischen Wahrheitsauffassung hinaus ihr Potenzial entfalten kann, wird deshalb im Folgenden nicht von Phänomenen im Sinne Benjamins, sondern von Dingen im Allgemeinen gesprochen.
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Die positiven Wissenschaften bedienen sich der Begriffe als Subsumtionswerkzeuge. Durch einen Abstraktionsprozess werden verschiedene Dinge unter einem allumfassenden Begriff gruppiert und gefasst. Diese Form der Erkenntnis, die sich entsprechend auf ein Subsumtionsprinzip stützt, entspricht sowohl den Erfordernissen als auch dem Anspruch einer Erkenntnis, die das Reale als ein geordnetes Ganzes systematisieren will. Die Ordnung, die dadurch entsteht, verwirklicht sich in einer vertikalen Bewegung, die sich in der Form einer Pyramide veranschaulichen lässt: Verschiedene Dinge werden zuerst unter mehreren Begriffen gefasst, die ihrerseits unter noch allgemeineren Begriffen gefasst werden usw., bis nur noch ein letzter, allgemeiner Begriff, der alle andere umfasst, an der Spitze der Pyramide übrig bleibt. Die hierarchische Anordnung von Dingen und Begriffen wird daher von den Erkenntnisansprüchen dieses Systems selbst verlangt und ist somit für dieses System konstitutiv. Benjamin schlägt nun ein den positiven Wissenschaften konträres Erkenntnismodell vor. Nicht die Subsumtion verschiedener Dingen soll die Leistung der Begriffe sein, sondern die Aufteilung und Zerlegung einzelner Dinge in vielfältige Elemente. Indem Benjamin das quantitative Verhältnis von Dingen und Begriffen im Erkenntnisprozess umkehrt, dreht er die gesamte Pyramide um. Die neue Konfiguration, die dadurch entsteht, wird von Benjamin als Konstellation bezeichnet. Die aus der Zerlegung der Dinge resultierenden Elemente organisieren sich in einer Figur, die sich Benjamin der kosmischen Konstellation ähnlich vorstellt. Die hierarchische Pyramide der deduktiven Logik wird durch eine sich horizontal aufstellende Struktur ersetzt, in der alle Elemente gleichwertig nebeneinander stehen, was Angehrn mit den folgenden Worten expliziert: „Es geht nicht mehr darum, im geschlossenen Bogen und in systematischer, analytischsynthetischer Artikulation das Ganze zu durchdringen, sondern dieses in der Konkretion des Einzelnen zu erfassen und zu vergegenwärtigen.“56 In eben dieser zentralen Rolle, die das einzelne Phänomen, Ding bzw. Objekt in der Figur der Konstellation spielt, besteht ihr theoretisches Interesse für den hier behandelten Kunstdiskurs. Dies wird in Anlehnung an die Erkenntnistheorie Adornos deutlich. Das „[k]onstellative[s] Denken“57 aufgreifend, ergänzt Adorno das Benjaminsche Modell und macht seine theoretische Grundlage ersichtlich. Auch Adorno beschreibt die Konstellation durch die Funktion der Begriffe im Erkenntnisprozess, die der positiven Logik gegenüber umgekehrt ist: Konstellationen allein repräsentieren, von außen, was der Begriff im Innern weggeschnitten hat, das Mehr, das er sein will so sehr, wie er es nicht sein kann. Indem die Begriffe 56
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Emil Angehrn: Kritik und Versöhnung. Zur Konstellation Negativer Dialektik bei Adorno. In: Georg Kohler; Stefan Müller-Doohm (Hg.): Wozu Adorno? Beiträge zur Kritik und zum Fortbestand einer Schlüsseltheorie des 20. Jahrhunderts. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft 2008, 267–291; 279. Angehrn: Kritik und Versöhnung, 279.
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um die zu erkennende Sache sich versammeln, bestimmen sie potentiell deren Inneres, erreichen denkend, was Denken notwendig aus sich ausmerzte.58
Dadurch verweist Adorno viel expliziter als Benjamin auf ein Mehr, ein Inneres, das dem Erkenntnisobjekt eigen ist: Dieses Mehr ist die qualitative Einzigartigkeit jedes einzelnen Erkenntnisobjekts, worauf die wahre Erkenntnis abzielen muss. Denn das ‚konstellative Denken‘ „will sagen, was etwas sei, während das Identititätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist“.59 Das Konstellationsmodell berücksichtigt und bewahrt somit die Einzigartigkeit jedes Erkenntnisobjekts, das für das erkennende Subjekt in seiner absoluten, reinen Objektivität inkommensurabel bleibt. Der Erkenntnisprozess verwirklicht sich daher in einer gegenseitigen Vermittlung von Subjekt und Objekt, die jedes Mal eine neue konstellative Gestalt annimmt. Darin liegt ein besonderes Merkmal der Konstellation, die sich radikal von der deduktiven Erkenntnisform unterscheidet: Jede konstellative Struktur entsteht nach einem Gestaltungsprinzip, das ihr als einmaligem und daher unwiederholbarem Vermittlungsprozess zwischen Subjekt und Objekt immanent ist. Während ein selektierender Subsumtionsmechanismus, der sowohl vom erkennenden Subjekt als auch vom zu erkennendem Objekt absieht, im positiven Denken über die 58
59
ND, 164–165. Mit den folgenden Worten erklärt Adorno die objektive Unmittelbarkeit des Objekts, das trotz der begrifflichen Vermittlung, von der nicht mal eine dialektische Denkform absehen kann, nicht vollständig im Begriff aufgeht: „Auch die Vermittlung von Wesen und Erscheinung, von Begriff und Sache, bleibt nicht, was sie war, das Moment von Subjektivität im Objekt. Was die Tatsachen vermittelt, ist gar nicht so sehr der subjektive Mechanismus, der sie präformiert und auffaßt, als die dem Subjekt heteronome Objektivität hinter dem, was es erfahren kann. Sie versagt sich dem primären subjektiven Erfahrungskreis, ist diesem vorgeordnet. […] Daß die Daten, ihrem Anspruch nach, so und nicht anders apperzipiert werden, dafür sorgt die präsubjektive Ordnung, welche ihrerseits die für die Erkenntnistheorie konstituierende Subjektivität wesentlich konstituiert. […] Die Universalität von Vermittlung ist aber kein Rechtstitel dafür, alles zwischen Himmel und Erde auf sie zu nivellieren, wie wenn Vermittlung des Unmittelbaren und Vermittlung des Begriffs dasselbe wären. Dem Begriff ist die Vermittlung essentiell, er selber ist seiner Beschaffenheit nach unmittelbar die Vermittlung; die Vermittlung der Unmittelbarkeit jedoch Reflexionsbestimmung, sinnvoll nur in bezug auf das ihr Entgegengesetze, Unmittelbare. Ist schon nichts, was nicht vermittelt wäre, so geht, wie Hegel hervorhob, solche Vermittlung notwendig stets auf ein Vermitteltes, ohne das sie auch ihrerseits nicht wäre. Daß dagegen Vermitteltes nicht ohne Vermittlung sei, hat lediglich privativen und epistemologischen Charakter: Ausdruck der Unmöglichkeit, ohne Vermittlung das Etwas zu bestimmen, kaum mehr als die Tautologie, Denken von Etwas sei eben Denken. Umgekehrt bliebe keine Vermittlung ohne das Etwas. In Unmittelbarkeit liegt nicht ebenso deren Vermitteltsein wie in der Vermittlung ein Unmittelbares, welches vermittelt würde. Den Unterschied hat Hegel vernachlässigt. Vermittlung des Unmittelbaren betrifft seinen Modus: das Wissen von ihm und die Grenze solchen Wissens. Unmittelbarkeit ist keine Modalität, keine bloße Bestimmung des Wie für ein Bewußtsein, sondern objektiv: ihr Begriff deutet auf das nicht durch seinen Begriff Wegzuräumende. Vermittlung sagt keineswegs, alles gehe in ihr auf, sondern postuliert, was durch sie vermittelt wird, ein nicht Aufgehendes; Unmittelbarkeit selbst aber steht für ein Moment, das der Erkenntnis, der Vermittlung, nicht ebenso bedarf wie diese des Unmittelbaren.“ (ND, 172–174) ND, 152.
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Kompositionsregel jeder einzelnen Begriffspyramide entscheidet, birgt jede Konstellation die Logik ihrer Entstehung in sich. Dies beeinträchtigt jedoch nicht die Objektivität der Erkenntnis, weil die unmittelbare ‚Objektivität des Etwas‘ nicht auf eine subjektive Struktur oder Leistung reduzierbar ist. Aus dieser Entkräftung der intentionalen Leistungen, die das deduktive Denken dem Subjekt im Erkenntnisprozess zuschreibt, ergibt sich eine dem konstellativen Denken inhärente Verbindlichkeit: Das Subjekt unterliegt der immanenten Logik, nach der jede einzelne Konstellation entsteht. Jede Konstellation weist daher eine Verbindlichkeit in Bezug auf das Subjekt auf, die in jeder einzelnen, gegenseitigen Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt und daher im Geschehen des Erkenntnisprozesses entsteht und zur Geltung kommt. Das Subjekt, das einerseits aktiver Bestandteil des Erkenntnisprozesses ist, muss diesem Prozess folgen. Und dies bedeutet, dass das Subjekt, das seinerseits das Objekt vermittelt, selbst einem Vermittlungsprozess unterliegt und daher – ebenso wie das Objekt – einer Logik untersteht, die beide transzendiert und die in ihrer Begegnung immer wieder neu entsteht. Auf diesen theoretischen Grundlagen aufbauend, lassen sich nun die existenzialen Aspekte, die die Konstellation als qualitatives Erkenntnismodell mit sich bringt, veranschaulichen. Dadurch soll eine Konzeption der Erfahrung gewonnen werden, die, insofern sie auf grundlegende Weise mit der Erkenntnis verknüpft ist, einen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt und daher dazu beitragen kann, die Paradoxie der Definition des Kunstwerks als autonome Erfahrungsgestalt aufzulösen. 3.2.2 Die Konstellation als existenziales Modell Wie zuvor bereits angedeutet, erschöpft sich das Potenzial, das die Konstellation als Erkenntnismodell bei Benjamin und Adorno aufweist, nicht in einer kognitiven Leistung. Denn es geht nicht nur darum, dass ein Subjekt Gegenständen oder Phänomenen entgegentritt und sie durch eine nicht-systematische Anwendung von Begriffen erkennt. Bei Benjamin und Adorno sind Erkenntnis und Erfahrung vielmehr so eng miteinander verbunden, dass sie unmittelbar zusammenfallen. Denn das ‚Mehr am Objekt‘ – was es zu erkennen gilt – ist gerade das, was mehr als der Begriff ist: „ein nicht [im Begriff] Aufgehendes“.60 Wo sich das qualitative Moment der Erkenntnis – das ‚Mehr am Objekt‘ – der Subsumtion in begriffliche Kategorien entzieht, nimmt Erkenntnis Erfahrung in sich auf. Denn das ‚Mehr am Objekt‘ zu kennen, bedeutet, es zu erfahren: Der Konstellation gewahr werden, in der die Sache steht, heißt soviel wie diejenige entziffern, die es als Gewordenes in sich trägt. Der Chorismos von draußen und drinnen ist seinerseits historisch bedingt. Nur ein Wissen vermag Geschichte im Gegenstand zu 60
ND, 174.
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entbinden, das auch den geschichtlichen Stellenwert des Gegenstandes in seinem Verhältnis zu anderen gegenwärtig hat.61
Diese Tatsache veranlasst dazu, das Konstellationsmodell nicht nur als ein erkenntnistheoretisches, sondern auch als ein existenziales Modell zu verstehen. Diese Charakterisierung der Konstellation wird im Folgenden in Anlehnung an die Benjaminsche Geschichts- und Zeitkonzeption expliziert,62 die ihren definitivsten Ausdruck in den Thesen Über den Begriff der Geschichte findet.63 Sich mit dem historischen Materialisten identifizierend,64„unternahm er [Benjamin] den 61 62
63
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ND, 165. Es kann sich an dieser Stelle als hilfreich erweisen, noch einmal zu betonen, dass die erkenntnistheoretische sowie die existenziale Dimension des Konstellationsmodells lediglich zum Zweck ihrer jeweiligen Erschließung getrennt betrachtet werden. Diese beiden Dimensionen werden in jeder Phase des Denkens Benjamins und in all seinen Werken stets im Verhältnis gegenseitiger Implikation gedacht. Entsprechend lassen sich im Trauerspielbuch existenziale Züge finden sowie Benjamins Geschichtsauffassung als Erkenntnistheorie gelesen werden kann. Nur um Klarheit in der Argumentation zu schaffen, wurde die Vorrede zum Trauerspielbuch als Basis für die Betrachtung der erkenntnistheoretischen Aspekte und die Geschichtsauffassung als Grundlage für die Erschließung der existenzialen Dimension gewählt. Wie Willi Bolle zu Beginn seines Aufsatzes Geschichte präzisiert, stellen die Thesen Über den Begriff der Geschichte das theoretische Vermächtnis Benjamins dar. Denn sie verbinden, auf einer messianischen Zeitkonzeption aufbauend, theologische mit politischen und nicht zuletzt erkenntnistheoretischen Interessen. (Vgl. Willi Bolle: Geschichte. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Erster Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 399–442; 399) Diese Komplexität hat dazu geführt, dass in vielen Forschungstexten jeweils lediglich ein Hauptmotiv dieses Aufsatzes als Hauptthema gewählt wird. In diesem Sinne haben beispielweise Bolle und Gagnebin in ihrer jeweiligen Auseinandersetzung mit diesem Text das politische Interesse Benjamins, das sich im Kampf gegen den Faschismus konkretisiert, zum zentralen Thema dieses Werks erklärt. (Vgl. zum Begriff der Geschichte: Jeanne Marie Gagnebin: „Über den Begriff der Geschichte“. In: Burkhardt Lindner (Hg.): Benjamin-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart: J.B. Metzler 2011, 284–300; W. Bolle: Geschichte) Doch auch die Analysen Michael Lowys, Andreas Pangritzs und Irving Wohlfahrts werden – obwohl sie sich viel vorsichtiger als die ersten beiden zeigen – der Komplexität von Über den Begriff der Geschichte nicht gerecht, insofern sie sie zu stark theologisch deuten. (Vgl. Michael Löwy: Walter Benjamin: avertissement d’incendie. Une lecture des thèses „Sur le concept d’histoire“. Paris: Presses Univ. de France 2001; Andreas Pangritz: Theologie. In: Michael Opitz; Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins Begriffe. Zweiter Band. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2000, 774–825; Irving Wohlfahrt: ‚Immer radikal, niemals konsequent …‘ Zur theologisch-politischen Standortsbestimmung Walter Benjamins. In: Norbert W. Bolz (Hg.): Antike und Moderne. Zu Walter Benjamins „Passagen“. Würzburg: Königshausen & Neumann 1986, 116–137) Die These Über den Begriff der Geschichte entfalten sich entgegen all dieser Deutungen in der Verschränkung des Politischen und des Theologischen, in der des rein Erkenntnistheoretischen und des Existenziellen. Wenn daher im Rahmen dieser Forschungsarbeit der Akzent lediglich auf diesen letzten Aspekt gelegt wird, darf dies nicht als Verkennung der Komplexität der Benjaminschen Thesen gewertet werden. Vielmehr wird diese Komplexität bewusst ausgeblendet, so dass sich der für die hier verfolgte Absicht entscheidende Aspekt zeigen kann. In seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte kämpft Benjamin einen radikalen Kampf gegen den Historismus. Er kritisiert die Prämissen des Historismus sehr stark, die „das Kontinuum der Geschichte“ (B-GSI-2: Über den Begriff der Geschichte, 701–702) sicherstellen: Geschichte ließe sich als kausale Kette von Gegebenheiten erzählen; daher ergebe sich aus
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so paradoxen wie stupenden Versuch, im Geist eines antievolutionistischen Geschichtsverständnisses dennoch Geschichte darzustellen“.65 Benjamin fasst sein Programm in den folgenden fünf Punkten zusammen: Zur Elementarlehre des historischen Materialismus. 1) Gegenstand der Geschichte ist dasjenige, an dem die Erkenntnis als dessen Rettung vollzogen wird. 2) Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten. 3) Wo ein dialektischer Prozeß sich vollzieht, da haben wir es mit einer Monade zu tun. 4) Die materialistische Geschichtsdarstellung führt eine immanente Kritik am Begriff des Fortschritts mit sich. 5) Der historische Materialismus stützt sein Verfahren auf die Erfahrung, den gesunden Menschenverstand, die Geistesgegenwart und die Dialektik.66
Auch in diesem Zusammenhang spricht Benjamin von der Erkenntnis als Rettung des Gegenstands der Geschichte. Und auch hier – insofern Monade, dialektisches Bild und Konstellation dasselbe sind – ist die Konstellation das einzig anwendbare Erkenntnismodell. Dennoch wird der Akzent anders als im Trauerspielbuch gelegt. Denn im Kontext der Geschichtsauffassung Benjamins hat man es nicht mehr mit der Darstellung ewiger Ideen in einer messianischen Perspektive zu tun (wenngleich die Gleichsetzung von Rettung und Erkenntnis der Phänomene gültig bleibt). Benjamin verlegt seinen Fokus nun vielmehr auf die Geschichte und daher auf die menschliche Erfahrung, die in der Auseinandersetzung mit geschichtlichen Ereignissen und Phänomenen eine entscheidende Rolle spielt.67
65 66 67
der Geschichtsschreibung eine Universalgeschichte der Menschheit, die immer entscheidend von der „Einfühlung in den Sieger“ (B-GSI-2: Über den Begriff der Geschichte, 696) geprägt sei. Daraus folge, dass der von der zunehmend positiven Entwicklung der Menschheit überzeugte Historiker den Fortgang der Geschichte als „homogene und leere Zeit“ (B-GSI-2: Über den Begriff der Geschichte, 701) verstehe, die durch ein additives Verfahren mit kausal verbundenen Fakten zu füllen sei, um ein objektiv wahres und ewiges Bild der Vergangenheit zu gewinnen. Benjamin beurteilt diese Weise der Geschichtsschreibung als das Symptom einer „einzige[n] Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft“. (B-GSI-2: Über den Begriff der Geschichte, 697) Als katastrophal bezeichnet er nicht nur die Überlieferung, die unter dem Ideal dieses wachsenden Fortschritts die Barbarei, die jede Kultur begleitet, verschleiere. Katastrophal sei daneben auch die daraus entstehende Unmöglichkeit einer Erfahrung der Vergangenheit in einer gegenwärtigen Konstellation sowie die Gefahr, dass der Bestand der Tradition und die Erben dieser Tradition Werkzeuge der herrschenden Klasse werden. Tiedemann: Einleitung des Herausgebers, 38. PA, 595–596. An dieser Stelle ist eine Präzisierung des Erfahrungsbegriffs vonnöten. Denn Erfahrung stellt in Benjamins Denken einen zentralen und vielfältigen Begriff dar. In Benjamins Verständnis gewinnt die Erfahrung ihre besondere Bedeutung vor allem dadurch, dass sie – wie die im Fließtext zitierte Textstelle belegt – auf entscheidende Weise mit der ‚Elementarlehre des historischen Materialismus‘ verbunden wird. Es ist dennoch schwierig, den Benjaminschen Begriff der Erfahrung zu definieren. Denn einerseits verändert sich die Bedeutung, die Benjamin der Erfahrung zuweist, im Laufe seines Denkens. (Vgl. Weber: Erfahrung, 230– 237) Andererseits ist der Begriff der Erfahrung stark historisch-materialistisch sowie psychologisch geprägt. (Vgl. zur Verbindung von Erfahrung und Arbeit im marxistischen Kontext: Weber: Erfahrung, 243–254; vgl. für die psychologische Konnotation der Erfahrung, die Benjamin an ein messianisch geprägtes Erinnerungskonzept koppelt: Schöttker: Erinnern,
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Benjamin schlägt ein Verfahren vor, das sich in einer Form des Andenkens verwirklicht. Dabei stützt er sich auf eine messianisch geprägte Konzeption von Zeit, die er als eine „von Jetztzeit erfüllte“68 Zeit definiert.69 Auf dieser Grundlage entwickelt er eine Begrifflichkeit für die Zeitkategorien, die darauf abzielt, dem qualitativen Moment der Erfahrung im geschichtlichen Erkenntnisprozess Rechnung zu tragen. Er deutet die Vergangenheit und die Gegenwart, derer sich der Historismus als aqualitative Zeitstrukturen für die Systematisierung eines kausalen Ablaufs von Ereignissen bedient, in das Gewesene und die Aktualität bzw. das „Jetzt“70 um. Diese Kategorien gehen über rein zeitliche Orientierungsprinzipien hinaus, die im Rahmen eines geläufigen Zeitverständnisses entstehen, das die Zeit als eine sich ins Unendliche erstreckende, gerade Linie konzipiert. Benjamins Kategorien sind durch und durch Erfahrungskategorien. Denn das Jetzt ist nie ein neutraler Nullpunkt, von welchem aus der Historiker durch eine vermeintlich objektive Brille vergangene Ereignisse betrachten kann. Das Jetzt ist vielmehr immer schon ein punktuelles und daher ständig wandelbares Jetzt: ein geschichtlich und kulturell bestimmter Moment der gesamten Menschheit und gleichzeitig ein biographisch bestimmter Moment jedes einzelnen Individuums. Als Erfahrungskategorie trägt das Jetzt jene intentionalen und intentionslosen Momente, jene bewussten und unbewussten Prozesse, jene subjektiven und kollektiven Erfahrungen in sich, die das komplexe Ganze des individuellen ebenso wie des kollektiven Lebens ausmachen. So gedacht, betrifft das Jetzt den Menschen in seiner ganzen Komplexität und kann nur in Auseinandersetzung mit diesen Momenten, Prozessen und Erfahrungen überhaupt bestimmt werden. Das will heißen: in Auseinandersetzung mit einer Vergangenheit, die als erfahrenes Gewesenes verstanden wird. Denn in diesem Zusammenhang kann sich auch die Vergangenheit in keiner Kausalkette objektiver Ereignisse erschöpfen. Auch die Vergangenheit als Gewesene wird eine Erfahrungskategorie, die sich als solche nur in einem Verhältnis dialektischer Reziprozität mit dem Jetzt bestimmen lässt. Dies bringt Jeanne Marie Gagnebin pointiert auf den Punkt: „Nur wer darauf verzichtet, die Vergangenheit als eine objektive und stets mit sich selbst identi-
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260) Von diesen marxistischen und messianisch-psychologischen Implikationen, die den Benjaminschen Erfahrungsbegriff auszeichnen, will die vorliegende Arbeit absehen. B-GSI-2: Über den Begriff der Geschichte, 701. Die Zeit, die von Jetzt-Zeit erfüllt ist und auf der Benjamin seine Konzeption des Eingedenkens aufbaut, wird von ihm eindeutig im Sinne der jüdischen Tradition aufgefasst und ausgearbeitet. Auch dieser Aspekt erweist sich im Rahmen der vorliegenden Forschungsarbeit als nur am Rande relevant und wird daher nicht ausführlich thematisiert. Entscheidend für das hier angestrebte Forschungsziel ist lediglich das qualitative Moment der Erfahrung, das durch die Zeitkonzeption Benjamin gewonnen wird. (Vgl. zu messianischen Einflüsse, Konkordanzen und Abweichungen zur messianischen Zeitkonzeption: Gagnebin: „Über den Begriff der Geschichte“, 298–299) PA, 576. Benjamin bedient sich dieser Begrifflichkeit in allen zentralen Stellen seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen. (Vgl. insb. PA, 578– 579; 591; 608)
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sche Substanz darzustellen, kann im strikten Sinne eine Erfahrung mit der Vergangenheit machen.“71 Unter diesen Voraussetzungen muss sich daher der echte Historiker, den Benjamin mit der Figur des historischen Materialisten identifiziert,72 in einem ununterbrochenen, dialektischen Verhältnis seines eigenen Jetzt zu seinem eigenen Gewesenen – die zugleich das Jetzt und das Gewesene der gesamten Menschheit sind – bewegen. Durch die Erfahrung, die der Historiker dabei macht, erschließt sich ihm Benjamin zufolge die wahre Geschichte, die wahre Erkenntnis. Diese Erkenntnis kommt nicht in einer Kausalkette von Ursachen und Wirkungen zum Ausdruck, sondern in dialektischen Bildern, in Monaden oder in Konstellationen. Diese Konfigurationen, die den von Benjamin dargestellten Erkenntnisprozess bildlich vor Augen führen sollen, entstehen, indem der Geschichtsschreiber seinen Objekten – seien es Gegenstände, Werke oder vergangene Ereignisse – begegnet. Unter dem Blick des Betrachters, der sein ganzes Leben als ‚Jetzt‘ in diesen Prozess einbringt, explodieren diese Objekte – metaphorisch gesprochen – in unzählige, kleine Splitter, die sich in einem strukturierten Ganzen organisieren. Dadurch entstehen die Konstellationen. Die Elemente, aus welchen eine Konstellation besteht, sind aber nicht nur begriffliche Elemente. Indem sie als Ergebnis eines dialektischen Verhältnisses von Gewesenem und Jetzt entstehen, bestehen diese ‚Splitter‘ aus jenen qualitativen Momenten, die das Gewesene und das Jetzt in ihrer dialektischen Reziprozität ausmachen: Erinnerungen, Erfahrungen, sinnliche Wahrnehmungen, Gefühle, Träume, Erwartungen, Hoffnungen, Gedanken, begriffliche Strukturen usw. Diesbezüglich bemerkt Angehrn treffend, dass, „[a]uf Seiten des Subjekts […] Schichten und Vermögen in den Vordergrund [rücken], die im platonisierenden Erkenntnisideal untergeordnet oder verbannt waren: Sinnlichkeit, Leiblichkeit, mimetische Kommunikation, expressive Kraft, Phantasie“.73 Dies bestätigt auch Adorno in der bereits an früherer Stelle zitierten Passage aus der Negativen Dialektik, indem er die wahre Erkenntnis grundlegend mit der Erfahrung der Geschichte des zu erkennenden Gegenstandes verbindet. An jener Stelle fährt Adorno fort: „Aktualisierung und Konzentration eines bereits Gewußten, das es verwandelt. Erkenntnis des Gegenstands in seiner Konstellation ist die des Prozesses, den er in sich aufspeichert.“74 Was Adorno damit meint, ist die geschichtliche Aktualisierung eines Gewordenen, die Aktualisierung eines gespeicherten Prozesses. Daraus erschließt sich die der Konstellation immanente, grundlegende Verbindung von Erkenntnis und Erfahrung, insofern Erkenntnis in existenzialer Erfahrung mündet. Anstatt einer Gleichsetzung zweier verschiedener Prozesse, die nachträglich zusammengebracht werden, behauptet die Konstellation eine ur71 72 73 74
Gagnebin: „Über den Begriff der Geschichte“, 292. Vgl. Bolle: Geschichte, 399. Angehrn: Kritik und Versöhnung, 277. ND, 165–166.
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sprüngliche Identität von Erkenntnis und Erfahrung. Das Konstellationsmodell impliziert und verlangt zugleich, dass sich rein rationale Fähigkeiten und jene existenzialen Momente, die den Menschen als Menschen auszeichnen, gegenseitig ergänzen, um das qualitative, sinnhafte Moment des Objekts erschließen und erkennen zu können. Eine so gedachte Erkenntnis hängt von der Erfahrung ab und betrachtet sie nicht als bloße Bereicherung ihrer durch kognitive Fähigkeiten erzielten Ergebnisse. Unter dieser Perspektive gewinnt die Erfahrung jene Eigenschaften, die die Konstellation als rein erkenntnistheoretisches Modell ausmachen: die Auflösung des intentionalen Verhältnisses von Erfahrendem und zu erfahrendem Objekt, die Bewahrung des qualitativen Moments des Objekts, eine jedem Erfahrungsprozess immante Strukturierungslogik und eine dem Erfahrungsprozess eigentümliche Verbindlichkeit, die während der Erfahrung zur Geltung kommt. Gerade dies sind die Schlüsselpunkte, die es nun ermöglichen, den Kunstdiskurs erneut aufzugreifen und das angesprochene Problem einer plausiblen Koexistenz der Subjektivität der Erfahrung und der Objektivität der Autonomie, das das Kunstwerk als autonome Erfahrungsgestalt auszeichnet, zu lösen. Inwiefern diese Auflösung stattfinden kann, wird im Folgenden veranschaulicht.
3.3 Die Kunst und das Leben Eine kurze Rekonstruktion des Argumentationsaufbaus der vorhergehenden Abschnitte der vorliegenden Arbeit fasst im Folgenden die Ergebnisse des unternommenen Versuchs zusammen, sich der Kunst über die Auseinandersetzung mit dem Gemälde Cézannes und die Analyse des Konstellationsmodells anzunähern. Außer einer pointierten Darstellung jener Aspekte, die in der vorangehenden Analyse gewonnen werden konnten und die sich für diesen Versuch als hilfreich erweisen, will der folgenden Überblick die festgestellten, systematischen Schwierigkeiten der durchgeführten Betrachtung erneut vor Augen führen, um abschließend eine Bestimmung der Kunst zu erarbeiten und ihre Bedeutung für das Leben zu erschließen. Die Analyse von Stillleben mit Blumen und Früchten wurde mit der Absicht verbunden, eine Annäherung an die Kunst zu finden, um ihre Bedeutung für das menschliche Leben erschließen zu können. Die Vermutung, die zur ästhetischen Erfahrung als methodologischem Zugang zum Kunstwerk geführt hat, bestand darin, dass sich Kunstwerke einer allumfassenden Definition entziehen, weil sie geschlossene Gestalten sind, die immer wieder auf sich selbst zurückverweisen. Die davon ausgehende Betrachtung des Gemäldes Cézannes führte zur widersprüchlichen Feststellung, dass Kunstwerke autonome Erfahrungsgestalten sind. Es hat sich daher die Notwendigkeit aufgedrängt, diese Paradoxie aufzulösen. Die Herausforderung des daraus entstehenden Vorhabens bestand demnach darin, einen Erfahrungsbegriff zu gewinnen, der sich trotz der Subjektivität, die jeder 198
Erfahrung inhärent ist, nicht ausschließlich in einem privaten Prozess auflöst und der zugleich die Autonomie des zu erfahrenden Gegenstands bewahrt. In Anlehnung an das Adornosche sowie das Benjaminsche Konstellationsmodell konnte diese Konzeption der Erfahrung herausgearbeitet werden. In diesem Sinne hat der erste Teil der Konstellationsanalyse einen Erkenntnisprozess sichtbar gemacht, der auf das qualitative Moment der Erkenntnis achtet und zugleich die Objektivität der Erkenntnis gewährleistet, insofern er durch eine besondere Verbindlichkeit, die während jedes einzelnen Erkenntnisprozesses entsteht, ausgezeichnet ist. In einem zweiten Teil wurde gezeigt, inwiefern dieses konstellative Denken eine grundlegende existenziale Dimension mit sich bringt, die zu einer unauflösbaren Identität rein kognitiver Erkenntnis und existenzialer Erfahrung führt. Mit der Erkenntnis zusammenfallend bewahrt die Erfahrung somit jene Eigenschaften, die für den Erkenntnisprozess als kennzeichnend festgestellt werden konnten: die Anerkennung des qualitativen Moments des Objekts und eine jedem Erfahrungsprozess immanente Verbindlichkeit, die die objektive Gültigkeit jeder Erfahrung sicherstellt. In Anbetracht dessen kann nun der anfängliche Widerspruch, der der Definition des Kunstwerks als autonome Erfahrungsgestalt anzuhaften schien, ausgeräumt und in weiterer Folge ein der Kunst immanenter Autonomiebegriff ohne jenen Anspruch auf Absolutheit, den die Kunst als kulturelle Ausdrucksform nicht erheben kann, herausgearbeitet werden. Im Anschluss daran lässt sich auch die Bedeutung konkretisieren, die die Kunst für das menschliche Leben aufweist. 3.3.1 Das Kunstwerk als autonome Erfahrungsgestalt In Übereinstimmung mit dem soeben geschilderten Vorhaben soll nun die vermeintliche Paradoxie, die der Definition der Kunstwerke als autonome Erfahrungsgestalten innewohnt, aufgelöst werden. Um das Verständnis der folgenden Argumentation zu vereinfachen, soll der systematische Kernpunkt der Problematik, die dieser widersprüchlichen Definition des Kunstwerks anhaftet, kurz in Erinnerung gerufen werden: Die Betrachtung des Gemäldes Cézannes hat gezeigt, dass ein Kunstwerk infolge eines ihm immanenten Vermittlungsprinzips zwischen seinen sinnlich wahrnehmbaren und inhaltlichen Momenten als autonom zu bezeichnen ist. Doch die konkrete Entfaltung dieser Vermittlung geschieht nur beim Anlass einer Erfahrung, der daher eine konstitutive Rolle für die Autonomie des Kunstwerks zugeschrieben wurde. Daraus entstand das Problem der Vereinbarkeit der Objektivität, die das Kunstwerk als Ergebnis einer ihm immanenten Logik der Vermittlung von Materie und Inhalt beansprucht, und der Subjektivität, die jeder Erfahrung inhärent ist. Der Rückgriff auf drei das Konstellationsmodell auszeichnende, strukturelle Aspekte ermöglicht es nun, diese Schwierigkeit zu überwinden. Obwohl diese Aspekte unmittelbar aufeinander bezogen sind und auch wenn dies redundant scheinen mag, werden sie im Folgenden getrennt untersucht. Denn nur 199
eine solche Vorgehensweise erlaubt es, den Fokus jeweils auf unterschiedliche Eigenschaften des Konstellationsmodells und daher der Begegnung mit der Kunst zu legen. Der erste dieser drei Aspekte besteht in der Möglichkeit der Bewahrung der Autonomie des zu erfahrenden Objekts trotz seiner Angewiesenheit auf die Erfahrung. Das konstellative Modell hat gezeigt, inwiefern das qualitative Moment des Objekts im Erfahrungsprozess bewahrt wird: Das Objekt, das unabhängig vom Subjekt in seiner Objektivität gegeben ist, obwohl es nur in einem Verhältnis zum Subjekt erschlossen werden und an Bedeutung gewinnen kann, löst sich nicht in ein intentionales Produkt auf und bewahrt somit seine Objektivität. Auf die Erfahrung eines Kunstwerks bezogen, veranschaulicht das nicht intentionale Verhältnis des Subjekts zum Objekt, dass es möglich ist, die Autonomie des Kunstwerks trotz seiner starken Bindung an einen Erfahrungsprozess zu bewahren. Denn, wie in der Analyse des Konstellationsmodells gezeigt werden konnte, ersetzt die subjektive Erfahrung nicht die Autonomie des Kunstwerks, sondern sie wird zu einem grundlegenden Bestandteil des Prozesses, der – in seiner Entwicklung vom Objekt geleitet – die Entfaltung dieser Autonomie erst ermöglicht. Eben diese leitende Funktion des Objekts lässt sich, auf die Betrachtung des Gemäldes Cézannes zurückblickend, im Erfahrungsprozess des Kunstwerks feststellen: Sowohl auf der sinnlichen Ebene der Wahrnehmung als auch bei der Erschließung des Inhalts des Kunstwerks wurde für die Betrachtung ein Weg eingeschlagen, den das Gemälde stufenweise eröffnet hat. Schon der erste, sinnliche Zugang zum Gemälde wurde auf gewisse Weise vom Gemälde selbst durch die Verweise der Farben, die Neigung der Linien sowie die strukturellen Elemente der Gesamtkomposition bestimmt. Dadurch hat sich ein harmonisches Zusammenspiel von Verweisen ergeben, das über die sinnlich wahrnehmbaren Elemente hinaus auf ein ‚Mehr‘ als die Materialität verwiesen hat. Auf dieser Ebene sind jedoch die schwerwiegendsten Probleme in Bezug auf die Autonomie des Kunstwerks entstanden. Denn dieses ‚Mehr‘ konnte nur als Ergebnis einer subjektiven Interpretation als absolute Gestalt der lebendigen Natur bestimmt werden und war keineswegs objektiv im Gemälde enthalten. Doch gerade die subjektiven Elemente, die zur Erschließung des Inhalts des Kunstwerks beigetragen haben – seien es etwa Empfindungen, Eindrücke, Gefühle, Erinnerungen usw. –, ziehen die objektive Gültigkeit der Interpretation des Gemäldes Cézannes nicht in Zweifel, indem sie, wie das Konstellationsmodell zeigt, zu konstitutiven Bestandteilen seines objektiven Sinngehalts werden. Denn diese subjektiven Elemente werden, wie sich in Bezugnahme auf die Analyse des Konstellationsmodells präzisieren lässt, vielmehr durch die Objektivität des Kunstwerks vermittelt und daher selbst objektiviert. Gerade dieser Objektivierungsprozess subjektiver Züge, die für jegliche Erfahrung und daher auch für die ästhetische Erfahrung konstitutiv sind, verhindert die Auflösung des Kunstwerks in ein intentionales Produkt und bewahrt somit seine Autonomie.
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Dass Kunstwerke trotz ihrer Angewiesenheit auf eine Betrachtung autonom bleiben, wird auch durch einen zweiten Aspekt, der durch die Analyse des Konstellationsmodells gezeigt werden konnte, deutlich. Dieser Aspekt besteht in der besonderen Art und Weise, wie sich die Vermittlung zwischen Kunstwerk und Betrachter – im Falle der Konstellation Objekt und Subjekt – verwirklicht. Die Auseinandersetzung mit dem Konstellationsmodell hat nämlich gezeigt, dass sich eine Struktur aus der Vermittlung zwischen Subjekt und Objekt ergibt, die nach einer jeder einzelnen Vermittlung immanenten Logik eine konstellative Gestalt annimmt. Weder allein das Subjekt noch allein das Objekt entscheidet über Prinzipien oder Normen, nach denen eine Konstellation entsteht. Vielmehr bleibt das Kompositionsgesetz jeder Konstellation auf die konkrete Begegnung von Subjekt und Objekt angewiesen. Diese theoretische Beschreibung der Begegnung von Subjekt und Objekt entspricht dem, was sich im Falle der konkreten Betrachtung des Kunstwerks Cézannes gezeigt hat: eine vor der tatsächlichen Erfahrung unvorhersehbare, konstellative Struktur von aufeinander verweisenden Elementen, die nach einer Logik, die jener einzelnen Erfahrung immanent ist, Gestalt annahm. Die Verbindung zwischen roten und gelben Farben, die Verweise zwischen Blumen und Birnen sowie der erschlossene Inhalt des Gemäldes waren vor seiner konkreten Erfahrung nicht gegeben. Alle Verweise, Verbindungen, Zusammenhänge sowie der Sinngehalt des Gemäldes sind allein während der tatsächlichen Betrachtung des Kunstwerks nach einer ihr immanenten Logik entstanden. Damit wird nicht nur die bereits belegte Autonomie jedes Kunstwerks nochmals von der Intentionalität des Betrachters bestätigt, sondern auch die Eigenständigkeit jeder ästhetischen Erfahrung belegt. In Bezug auf diese Autonomie jedes Erfahrungsprozesses ergibt sich der dritte, für die Gewinnung eines der Kunst immanenten Autonomiebegriffs grundlegendste Aspekt. Dieser besteht in jenem verbindlichen Charakter, der das konstellative Modell auszeichnet. Es konnte gezeigt werden, dass der erkenntnistheoretisch-existenziale Prozess, der das Konstellationsmodell ausmacht, durch eine besondere Verbindlichkeit ausgezeichnet ist, so dass der Prozess selbst in einem gewissen Sinne für das Subjekt verbindlich wird: Das Subjekt ist folglich nicht mehr von seiner Intentionalität, sondern von der jedem Prozess immanenten Logik geleitet. Auf die Analyse des Gemälde Cézannes übertragen bedeutet dies, dass die Betrachtung eines Kunstwerks einen Prozess auslöst, der trotz seiner Abhängigkeit sowohl vom Betrachter als auch vom Kunstwerk, insofern sie sich gegenseitigen vermitteln, autonom ist, weil er sich nach einer ihm immanenten Logik entfaltet. Unter dieser Perspektive unterstehen das Kunstwerk sowie der Betrachter der Logik ihrer Begegnung, so dass die ästhetische Erfahrung einen für den Betrachter verbindlichen Charakter aufweist. Durch diese Form von Verbindlichkeit wird die Paradoxie, die in der Definition des Kunstwerks als Erfahrungsgestalt unlösbar schien, endgültig ausgeräumt. Denn diese Verbindlichkeit hebt jede mögliche Form von Beliebigkeit oder Pri-
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vatheit der Erfahrung des Betrachters auf und erteilt ihr dementsprechend einen objektiven Charakter. Dass Kunstwerke Erfahrungsgestalten sind, darf daher keinesfalls so verstanden werden, dass sie völlig von der Subjektivität eines Betrachters abhängen. Es will vielmehr heißen, dass Kunstwerke nur durch die Erfahrung eines Betrachters zu den autonomen Gestalten werden, die sie sind: Sie sind autonome Systeme sinnlicher, kognitiver und existenzialer Verweisungszusammenhänge, die sich bei jeder subjektiven Erfahrung nach einer Logik, die dieser Erfahrung selbst jeweils immanent ist, in ihrer konkreten Gestaltung neu definieren. Aus dieser jeder ästhetischen Erfahrung immanenten Verbindlichkeit lässt sich nun ein Autonomiebegriff ableiten, der der Kunst immanent ist und der zugleich die kulturell und geschichtlich unumgängliche Vermittlung berücksichtigt, die die Kunst als menschliche Ausdrucksform mitkonstituiert. Der nächste Abschnitt wird demzufolge einen Autonomiebegriff der Kunst darstellen, der dem von der Kunst selbst erhobenen Anspruch genügt, in enger Wechselbeziehung mit der menschlichen Lebenswelt gedacht zu werden. 3.3.2 Der der Kunst immanente Autonomiebegriff Der soeben erschlossene, verbindliche Charakter jeder ästhetischer Erfahrung gestattet nun die Formulierung eines Autonomiebegriffs der Kunst, der, indem er das Kunstwerk als Erfahrungsgestalt versteht, die Erfahrung trotz ihres vermeintlichen Mangels an Objektivität berücksichtigt: Die Autonomie der Kunst besteht in der Immanenz der Verbindlichkeit jeder konkreten Erfahrung eines Kunstwerks. Mit dieser Definition ist es möglich, die Kunst von der Kunst her zu denken und entsprechend zu bestimmen, ohne sie jedoch als Sonderphänomen jenseits der menschlichen Welt anzusiedeln. Denn einerseits berücksichtigt diese Bestimmung die absolute Autonomie der Kunst, insofern der verbindliche Charakter jeder einzelnen ästhetischen Erfahrung die Exklusivität und zugleich die objektive Gültigkeit jeder einzelnen Begegnung mit einem Kunstwerk aufrechterhält. Anderseits erhebt dieser Autonomiebegriff nicht einen naiven Anspruch auf Absolutheit, weil die Autonomie der Kunst konstitutiv auf die konkrete Erfahrung angewiesen und daher mit dem Menschen und seiner Welt grundlegend verbunden bleibt.75
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Autonom ist die Kunst daher in erster Linie weder, weil sie im Sinne Adornos die funktionale Zweckmäßigkeit der Gesellschaft widerlegt, noch weil sie ‚Ort der Wahrheit‘ ist – gleichgültig, ob Wahrheit mit Heidegger als Unverborgenheit des Seins des Seienden oder mit Benjamin als Idee verstanden wird. Als autonom lässt sich die Kunst primär bezeichnen, weil sie nur durch konkrete, ästhetische Erfahrungen, insofern sie sich jeweils nach einer ihren immanenten Logik jedes Mal aufs Neue entfaltet, zur Kunst wird, die sie ist. Dass sich die Kunst dadurch auch der funktionalen Gesellschaft entzieht oder sie zum Statthalter einer wie auch immer gedachten Wahrheit wird, können mögliche Konsequenzen ihrer Autonomie sein, sie jedoch nicht bewirken. Die Autonomie der Kunst gründet auf der Verbindlichkeit, die jeder konkreten Erfahrung immanent ist.
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Außerdem bestätigt die gewonnene Definition der Autonomie der Kunst die Vermutung, die in Anbetracht der vielfältigen Schwierigkeiten, die die Frage nach der Kunst bereitet, geäußert wurden und die deshalb die Betrachtung eines einzelnen Kunstwerks als methodischen Weg für die Erlangung einer Bestimmung der Kunst begründet hat. Diese Vermutung, die Kunstwerke als selbstbezügliche Gestalten definierte, kann nun ohne Vorbehalt in eine Feststellung umgewandelt werden: Kunstwerke sind selbstbezügliche Gestalten, die ausschließlich durch ihre Erfahrung und einer jeder einzelnen Erfahrung immanenten Verbindlichkeit folgend zu den Gestalten werden, die sie sind. Indem die der Betrachtung vorangehende Vermutung bestätigt wird, belegt der gewonnene Autonomiebegriff der Kunst somit nachträglich auch die Gültigkeit der gesamten Argumentation. Die Gewinnung eines der Kunst immanenten Autonomiebegriff, der die Kunst als kulturelle Ausdrucksform berücksichtigt, ist jedoch nicht das alleinige Hauptanliegen der vorliegenden Forschungsarbeit. Denn ihre vorwiegende Aufgabe besteht darin, noch einen Schritt weiter zu gehen und die Frage nach der Bedeutung der Kunst für das Leben zu beantworten. Wenngleich diese Frage in der bisherigen Untersuchung eingeklammert wurde, ist es dennoch auch an dieser Stelle notwendig, noch beim Autonomiebegriff der Kunst zu verweilen. Dadurch kann die richtige Perspektive gewonnen werden, um direkt auf die Bedeutung der Kunst für das Leben eingehen zu können. Denn die Definition der Autonomie der Kunst offenbart – wie bereits erwähnt – eine grundlegende Verbindung zwischen Kunst und Leben. Genau diesen Aspekt gilt es nun in den Fokus der Analyse zu rücken. Denn im Anschluss daran lässt sich abschließend die Bedeutung der Kunst für das Leben bestimmen. Da die Erfahrung ein wesentlicher Bestandteil des Wesens jedes Kunstwerks und seiner Autonomie ist, lässt sich annehmen, dass das Leben des Betrachters Bestandteil des erfahrenen Kunstwerks ist. Bereits die Analyse des Konstellationsmodells hat die Struktur einer Erfahrung veranschaulicht, die sich aus der Verflechtung kognitiver Leistungen und existenzialer Zügen ergibt. Das Spiel von sinnlich wahrnehmbaren Elementen und Begriffen wird somit durch Erinnerungen, Empfindungen, Erwartungen etc. ergänzt, die, obwohl vermittelt, zu einem Bestandteil der Erfahrung werden und die sie daher mitkonsituieren. Doch diese existenzialen Momente lassen sich nicht auf allgemeine, abstrakte Operationsgrößen reduzieren. Erinnerungen, Empfindungen oder Erwartungen sind immer schon bestimmte Erinnerungen, Empfindungen und Erwartungen eines bestimmten Individuums. In diesem Sinne wurde in Anlehnung an die ‚Analytik des Daseins‘ gezeigt, dass das menschliche Leben schon immer der je geführte Lebensvollzug eines bestimmten Selbst in einer kulturellen Welt ist. Folglich kann ein Mensch nur von seinem kulturell und geschichtlich bestimmten Standort aus oder – in den Worten Benjamins – aus seinem ständig beweglichen ‚Jetzt‘ ein Kunstwerk betrachten. Dieses Jetzt ist kein neutraler Blickwinkel. Dieses Jetzt ist ein unauflösbares Spannungsfeld, das jedes Individuum als Einzelnen und als Mitglied der ge-
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samten Menschheit ausmacht. In diesem Spannungsfeld konzentrieren sich Traditionen, Sitten, Gewohnheiten, gesellschaftliche Ordnungen, Institutionen und alle kulturelle Praktiken – also all jene verbindlichen Strukturen, die die Welt als dynamisches Ergebnis kultureller Praktiken ausmachen. Zugleich und mit diesen Strukturen verwoben, besteht dieses Spannungsfeld auch aus privaten Beziehungen, Gefühlen, Stimmungen, Wünschen usw. Dieses Spannungsfeld macht die existenziale Lage jedes Menschen aus, die sich als gegenseitige Implikation und Bestimmung der verbindlichen Weltstrukturen und der Freiheit der Gestaltung des je eigenen Lebens entfaltet. Aus diesem Blickwinkel, von diesem existenzialen Ort aus betrachtet der Mensch ein Kunstwerk: Seine gesamte Lebenswelt wird daher in die Betrachtung miteinbezogen. Aus der Binnenperspektive des Kunstwerks bedeutet dies, dass das Kunstwerk, da es eine Erfahrungsgestalt ist, die reale, geschichtlich wandelbare und kulturell bedingte Welt des Betrachters in sich aufnimmt und vermittelt, und somit erst zu einem Kunstwerk wird. Auf Basis dieser Wechselbeziehung von Kunst und Leben, die konstitutiver Bestandteil einer Kunstauffassung ist, die die Autonomie der Kunst mit der Einzigkeit und zugleich mit der objektiven Gültigkeit jeder Erfahrung verknüpft, wird es nun möglich, die Ausgangsfrage der vorliegenden Arbeit erneut aufzugreifen: Welche Bedeutung hat die Kunst für das Leben? Im nächsten Abschnitt wird diese Frage abschließend beantwortet. 3.3.3 Auf das je eigenen Selbst zurück Ausgehend von der engen Korrelation zwischen Kunst und Leben, die im Autonomiebegriff der Kunst zum Ausdruck kommt, wird es nun möglich, die Bedeutung der Kunst für das Leben zu erschließen und somit das zentrale Forschungsanliegen dieser Arbeit zu erfüllen. Es sei vorweggenommen, dass sich die Bedeutung der Kunst für den Menschen, was sich im Folgenden zeigen wird, aus einer Aufhebung ergibt, die die ästhetische Erfahrung indirekt auf die Weltstrukturen bewirkt. Deshalb konkretisiert sich das folgende Vorhaben in der Aufgabe, diese Aufhebung mit besonderer Aufmerksamkeit hinsichtlich ihrer Konsequenzen für den Menschen zu fokussieren. Zu diesem Zweck scheint es hilfreich, die Ergebnisse der Auseinandersetzung mit der ‚Analytik des Daseins‘ erneut vor Augen zu führen und sie in Bezug zur ästhetischen Erfahrung zu setzen. Der Lebensbegriff, der in diesem Kontext herausgearbeitet werden konnte, bestimmt das menschliche Leben als Selbst-Verbindlichkeit. Auf Basis einer grundsätzlichen Unergründlichkeit des je eigenen Selbst drückt diese Definition des Lebens die unüberwindliche Spannung zwischen der absoluten Freiheit des Prozesses der Selbstwerdung und der unüberwindlichen Verbindlichkeit der Weltstrukturen aus, die die Existenz jedes einzelnen Menschen schon immer prägen. Die Bestimmung dieser Weltstrukturen als kulturelle Praktiken und die Erschließung ihrer Normativität hat die anziehende Wirkung, die die204
se Strukturen auf den Menschen ausüben, sichtbar gemacht. Folglich neigt der Menschen dazu, die tiefe Beunruhigung, die aufgrund der Unverfügbarkeit seines Selbst auf ihn einwirkt, durch bequemere, bereits festgelegte Bedeutungsstrukturen zu ersetzen. Aufgrund dieser Schwäche der menschlichen Natur tendiert der Mensch dazu, ein ‚unmenschliches Leben‘ zu führen. Dieser kurze Überblick über die Ergebnisse der Frage nach dem Leben ist an dieser Stelle insofern bedeutsam, als der Mensch, der zumeist in einem ‚unmmenschlichen‘ Zustand lebt, potenzieller Betrachter eines Kunstwerks ist. Denn ein Betrachter ist immer ein bestimmter Mensch, der sich in einer bestimmten Welt befindet. In Anlehnung an die Analyse des Lebens lässt sich daher präzisieren, dass jeder potenzielle Betrachter immer schon ein Selbst ist, der entweder bei der Gestaltung seines Lebens die Spannung zwischen der Freiheit seiner Selbstbestimmung und der Bedingtheit der Weltstrukturen aushält oder der sich die Frage nach dem Sinn seines Lebens nicht (mehr) stellt und der sich entsprechend völlig mit den weltlichen Strukturen identifiziert. In Anbetracht dessen soll die Bedeutung der Kunst und präziser noch der Aufhebungseffekt, den die ästhetische Erfahrung auf die Weltstrukturen hat, nicht in Bezug auf eine allgemeine Bestimmung des menschlichen Lebens erarbeitet werden, der, wie die Auseinandersetzung mit der ‚Analytik des Daseins‘ verdeutlicht hat, nie an sich gegeben ist. Da sich die Frage nach dem Leben schon immer in den Fragen nach dem WER und dem WIE eines bestimmten Lebensvollzugs konkretisiert, soll der erwähnte Aufhebungseffekt der ästhetischen Erfahrung in Bezug auf das jeweils bestimmte Selbst, das ein Kunstwerk betrachtet, erschlossen werden. Zwei Fragen drängen sich aufgrund dessen auf: Was wird aufgehoben? Und was bewirkt diese Aufhebung? Die Beantwortung der ersten Frage zielt darauf ab, die Aufhebungskraft der ästhetischen Erfahrung zu verdeutlichen. Daran anschließend fokussiert die zweite Frage die Konsequenzen dieser Aufhebung für das ein Kunstwerk betrachtende Selbst. Es geht im Folgenden demnach darum zu verstehen, was auf welche Weise von dieser Aufhebung betroffen ist. Zu diesem Zweck wird der Fokus auf der jeder ästhetischen Erfahrung immanenten Verbindlichkeit liegen. Durch die Auflösung der Paradoxie, die der Definition eines Kunstwerks als Erfahrungsgestalt anzuhaften schien, konnte sichtbar gemacht werden, dass bei der Betrachtung eines Kunstwerks ein Prozess in Gang gesetzt wird, der, obwohl er ausschließlich aus der gegenseitigen Vermittlung von Kunstwerk und Betrachter entsteht, eine gewisse Unabhängigkeit von beiden gewinnt. In Anbetracht dessen wurde offensichtlich, dass der ästhetischen Erfahrung ein für den Betrachter verbindlicher Charakter eigen ist, insofern der Betrachter einer jeder ästhetischen Erfahrung immanenten Entfaltungslogik folgen muss. Was in diesem Zusammenhang implizit mitgedacht, doch nicht ausreichend reflektiert wurde, ist die Absolutheit, die jeder konkreten ästhetischen Erfahrung aufgrund ihrer Verbindlichkeit innewohnt. Denn jede Form von Verbindlichkeit ist als solche mit
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jeder anderen inkompatibel. Unter einer Binnenperspektive der ästhetischen Erfahrung bewirkt diese Absolutheit daher die Unmöglichkeit der vollkommenen Identität zweier oder mehrerer ästhetischer Erfahrungen. Denn jede konkrete ästhetische Erfahrung als einmalige Entfaltung eines vom Kunstwerk geleiteten und daher objektiven Vermittlungsprozesses zwischen Kunstwerk und Betrachter beansprucht für sich Absolutheit. Doch dieser Anspruch auf Absolutheit gilt auch außerhalb eines rein ästhetischen Bereichs in der menschlichen Lebenswelt, wo alleine ästhetische Erfahrung möglich ist. Und auch dort entsteht eine Inkompatibilität, die von der jeder ästhetischen Erfahrung immanenten Verbindlichkeit bewirkt wird. Im nun auf die Welt erweiterten Wirkungsfeld des Absolutheitsanspruchs jeder ästhetischen Erfahrung geht es aber nicht mehr nur um eine gegenseitige Unverträglichkeit verschiedener ästhetischer Erfahrungen. Der verbindliche Charakter jeder ästhetischen Erfahrung tritt vielmehr zu jener Verbindlichkeit kultureller Praktiken, die die Lebenswelt jedes Betrachters ausmacht, in Kontrast. Dieser Gegensatz zwischen zwei Verbindlichkeitsformen – die eine der ästhetischen Erfahrung und die andere der Welt als Kultur bzw. dynamisches Ergebnis kultureller Praktiken – bewirkt eine vollkomme Aufhebung der Gültigkeit der Verbindlichkeit der Weltstrukturen, wobei Aufhebung in der möglichst neutralen Bedeutung von Suspension zu verstehen ist. Diese Präzisierung ist, wie sich bald zeigen wird, für das richtige Verständnis der Bedeutung der Kunst für das Leben entscheidend. Aufhebung will daher in diesem Kontext nicht Schwächung oder sogar Abschaffung heißen. Denn die Weltstrukturen werden durch die ästhetische Erfahrung weder explizit kritisiert noch ausdrücklich für ungültig erklärt oder gar verändert. Vielmehr wird die Verbindlichkeit dieser Strukturen durch jene der ästhetischen Erfahrung schlicht suspendiert. Da aber die Welt immer schon die kulturell und geschichtlich bestimmte Bedeutungsdimension eines Betrachters ist, bewirkt dieser Aufhebungsprozess – bildlich gesprochen – eine Einklammerung seiner gesamten Lebenswelt. Deshalb konkretisiert sich die Aufhebungskraft der ästhetischen Erfahrung in einer momentanen Suspension der Gültigkeit aller kulturellen Praktiken, Institutionen oder gesellschaftlicher Ordnungen sowie in einem Bedeutungsverlust etwa von Tradition und Geschichte und daher in einer allgemeinen Infragestellung jener vermeintlich sicheren Bezugspunkte, vertrauten Gewohnheiten und entlastenden Strukturen, die die Lebenswelt als dynamischen Zusammenhang kultureller Praktiken ausmachen. Dieser Weltentzug stellt für einen Betrachter die erste grundlegende Wirkung der Begegnung mit der Kunst dar. Dieses Phänomen kann jedoch in seiner gesamten Tragweite nur dann verstanden werden, wenn man mitbedenkt, dass die ästhetische Erfahrung keinen Ersatz der verlorenen Weltstrukturen bereithält: Die ästhetische Erfahrung bietet keine Alternative, die den Verlust der Welt kompensieren kann. Die Verbindlichkeit der Kunst ist so eng an die spezifische Erfahrung jedes einzelnen Kunstwerks gebunden, dass sie zu asystematisch, zu beweglich, zu brüchig und unvorhersehbar ist, um allgemeingültige, verstehend-auslegende
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Strukturen anbieten zu können, die die aufgehobenen ersetzen könnten. Die von der ästhetischen Erfahrung bewirkte Aufhebung der Welt bleibt daher absolut: Dem Betrachter wird seine Lebenswelt völlig entzogen. Welche Bedeutung hat nun dieser Weltentzug für den Menschen in Anbetracht des im Laufe dieser Forschungsarbeit erarbeiteten Lebensbegriffs? Indem im Folgenden eine Antwort auf diese Frage gefunden wird, lässt sich die Bedeutung der Kunst für das Leben endgültig erschließen. Durch die Erarbeitung eines Lebensbegriffs wurde die Welt als grundlegender Bestandteil des menschlichen Lebens erkennbar gemacht. Dementsprechend wurde die Welt in erster Linie als kulturell und geschichtlich bestimmte Bedeutungsdimension definiert, die der Mensch schon immer erschlossen hat und ständig aufs Neue erschließt, insofern er sich als verstehend-auslegendes Wesen in der Welt befindet. Lediglich in einem daraus abgeleiteten Sinne und infolge unterschiedlicher, funktionaler Akzentverschiebungen kann die Welt als dreidimensionaler Raum bzw. als neutrales Behältnis, das Menschen, Tiere, Pflanzen und alle anderen Objekte enthält, verstanden werden. Wenn daher die ästhetische Erfahrung dem Menschen seine Welt entzieht, bewirkt sie einen Verlust, der für das Leben tiefgreifende Folgen hat. Denn aus den Ergebnissen der Auseinandersetzung mit der ‚Analytik des Daseins‘ ergibt sich, dass das, was durch die ästhetische Erfahrung ohne jegliche Kompensation aufgehoben wird, die Gültigkeit jener Verbindlichkeit ist, die die Faktizität des Menschen bzw. sein ‚in-der-Weltsein‘ ausmacht. Die Faktizität ist dem Menschen aber wesentlich. Der Aufhebungseffekt der ästhetischen Erfahrung auf die Welt scheint daher in einer Auflösung der Faktizität und somit in einer Verunmöglichung des menschlichen Lebens zu münden. Diese erheblich negative Konsequenz der ästhetischen Erfahrung ist jedoch nur scheinbar. Denn der durch die ästhetische Erfahrung bewirkte Aufhebungseffekt auf die Verbindlichkeit der Weltstrukturen ist, wie es oben bereits vorweggenommen wurde, im Sinne einer Suspension und nicht als vollständige Abschaffung zu verstehen. Das ‚In-der-Welt-sein‘ des Menschen wird daher nicht verkannt. Es handelt sich vielmehr um eine Einklammerung der Gültigkeit etwa von Gewohnheiten, Vertrautheiten, Traditionen, gesellschaftlichen Ordnungen, Institutionen und all jenen kulturellen Praktiken, als deren dynamisches Ergebnis sich die Welt konstituiert. Aus dieser so verstandenen Aufhebungskraft, die die jeder ästhetischen Erfahrung immanente Verbindlichkeit in Bezug auf die Verbindlichkeit der Welt ausübt, lässt sich nun die Bedeutung der Kunst für das Leben ableiten. Indem die Gültigkeit bereits bestehender Weltstrukturen aufgehoben und kein Ersatz dafür bereitgestellt wird, geht die anziehende Wirkung, die sie auf den Menschen ausüben und wodurch sie seine Selbstbestimmung erschweren, verloren. Ihm wird somit implizit die herausfordernde Aufgabe zuteil, neue Orientierungspunkte und Strukturen zu schaffen, neue Vertrautheiten zu suchen, eigene Wege der Selbstbestimmung und Selbstwerdung zu gehen. Doch
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dies ist nichts anders als die Aufgabe, die jedem menschlichen Leben als SelbstVerbindlichkeit bzw. jedem Menschen als Selbst ohnehin zukommt: bewusst einen Bezug zu seinem je eigenen Selbst aufzubauen, die grundlegende Unverfügbarkeit seines Selbst auszuhalten und seine je eigene Existenz in der Welt sinnvoll zu gestalten. Die Kunst besitzt aufgrund der Verbindlichkeit, die jeder konkreten Erfahrung eines Kunstwerks als Erfahrungsgestalt immanent ist, die Kraft, den Menschen immer wieder aufs Neue vor die Aufgabe der Selbstverständigung und Selbstwerdung zu stellen.
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Fazit Der vorliegende Versuch, die Bedeutung der Kunst für das Leben zu erschließen, ist zu folgendem Ergebnis gelangt: Das Potenzial der ästhetischen Erfahrung, durch die die Kunst erst zu Kunst wird und die daher ein konstitutiver Bestandteil der Kunst selbst ist, besteht darin, dass sie den Menschen mit der Aufgabe seiner Selbstwerdung konfrontiert. Dieses Ergebnis konnte durch drei aufeinander aufbauende Schritte gewonnen werden, die im Folgenden noch einmal kurz zusammengefasst werden. Abschließend soll ein Ausblick mögliche Anknüpfungspunkte des hier erzielten Ergebnisses darlegen.
Resümee Durch eine kritische Auseinandersetzung mit den Kunstauffassungen Heideggers, Adornos und Benjamins, die der Kunst ein rettendes Potenzial für den Menschen zuschreiben, wurde im ersten Kapitel (Die Kunst als Rettung des menschlichen Lebens) dafür argumentiert, dass die Kunst notwendigerweise ausgehend von der Kunst betrachtet werden muss, um einen ihr immanenten Autonomiebegriff erschließen zu können. Diese Vorgehensweise erklärt sich nicht zuletzt daraus, dass die rettende Rolle, die Heidegger, Adorno und Benjamin der Kunst zuschreiben, in zweierlei Hinsicht in den Grundannahmen ihres jeweiligen Denkens, die der Kunst heteronom sind, verhaftet bleibt. Dies betrifft einerseits die Verknüpfung dieser Rolle mit ihren zeitkritischen Diagnosen und andererseits ihre damit verbundene Begründung der Autonomie der Kunst. Durch die Auseinandersetzung mit ihren zeitkritischen Diagnosen konnte festgestellt werden, dass die drei Autoren das menschliche Leben ausgehend von den ontologischen, sozio-ökonomischen bzw. politischen Grundannahmen ihres jeweiligen Denkens betrachten. Dies lässt sich bereits als Zeichen einer gewissen Verankerung ihrer Argumentationen in ihrem jeweiligen Denken deuten, was durch ein weiteres Moment verstärkt wird: Denn in weiterer Folge konnte durch einen kritischen Blick auf die Kunstkonzeptionen der drei Autoren gezeigt werden, dass die Autonomie, die sie der Kunst zusprechen und aufgrund derer die Kunst in ihrem Verständnis eine Rettung für den Menschen darstellt, in einer Heteronomie mündet. Denn der Anspruch auf Autonomie, den die Kunst Heidegger, Adorno und Benjamin zufolge erhebt, bleibt nur solange gültig, wie ihren ontologisch, ökonomisch bzw. politisch geprägten Annahmen entsprechende Gültigkeit zuerkannt wird. Daher ist die Vermutung naheliegend, dass die Kunst von der Kunst her betrachtet werden muss, um die Bedeutung der Kunst für das Leben bestimmen zu können. Ein vorläufiger Annäherungsversuch an das Phänomen ‚Kunst‘ führte jedoch zur Notwendigkeit, der Frage nach der Kunst eine
Analyse des menschlichen Lebens voranzustellen. Denn die Kunst verlangt, insofern sie eine kulturelle Ausdrucksform ist und daher nicht unabhängig vom menschlichen Leben verstanden werden kann, danach, vom Leben her gedacht und erschlossen zu werden. Aus diesem Grund hat sich das zweite Kapitel der vorliegenden Arbeit (Das Menschsein) der Frage nach dem Menschen gewidmet. In Anlehnung an Heideggers ‚Analytik des Daseins‘ wurde der Versuch unternommen, das Leben vom Lebensvollzug her zu denken und seine Wesenszüge darzustellen. Dadurch konnte ein stark normativer Lebensbegriff gewonnen werden, der das Menschsein mit der Selbst-Verbindlichkeit bzw. mit der unumgänglichen und unaufhörlichen Aufgabe der Selbstforschung und Selbstwerdung identifiziert. Doch in dieser Aufgabe, die jedem Menschen die volle Verantwortung für die freie Gestaltung seines je eigenen Lebens überträgt, sieht sich der Mensch zugleich mit der Verbindlichkeit festgelegter Weltstrukturen, in die er schon immer versetzt ist, konfrontiert. Es konnte gezeigt werden, dass dadurch eine unauflösbare Spannung entsteht, der kein Mensch entgehen und die die Aufgabe der Selbstwerdung erschweren oder sogar verunmöglichen kann. Um die anziehende Kraft, die die Weltstrukturen auf den Menschen ausüben, betrachten zu können, und um dadurch wiederum eine ganzheitliche Bestimmung des Lebens zu gewinnen, wurde die Frage nach der Verbindlichkeit der Welt gestellt. In Anlehnung an eine kulturphilosophisch geprägte Bestimmung der Welt als Kultur konnte eine Spezifizierung der Forschungsfrage erzielt werden, wodurch es möglich wurde, Heideggers Erschließung der Welt durch die Zeuganalyse zu ergänzen. In diesem Sinne konnte die Frage nach der Verbindlichkeit der Welt durch die Frage nach der Verbindlichkeit kultureller Praktiken präzisiert werden. Diese Praktiken haben eine ihnen immanente Verbindlichkeit aufgezeigt, die sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens erstreckt, wodurch die Verbindlichkeit der Welt – nun als dynamisches Ergebnis kultureller Praktiken verstanden – erst entsteht. Dieses Ergebnis, das im Rahmen der vorliegenden Arbeit die Frage nach dem Menschsein beantworten konnte, wurde zugleich zum Ausgangspunkt der daran anschließenden Betrachtung der Kunst, insofern durch die Bestimmung der Welt als Kultur die Frage nach der Kunst angemessen gestellt werden konnte. In einem dritten und abschließenden Kapitel (Die Kunst) wurde deshalb die bis dorthin eingeklammerte Frage nach der Kunst wieder aufgegriffen und zum Thema der Analyse gemacht. Ausgehend von der sich als plausibel herausgestellten Vermutung, dass Kunstwerke selbstbezügliche Gestalten sind und daher lediglich durch eine Einzelbetrachtung erschlossen werden können, wurde ein Zugang zur Kunst durch die konkrete Betrachtung eines Stilllebens Cézannes gesucht. Dabei gelangte die Analyse zur scheinbar paradoxen Feststellung, dass Kunstwerke autonome Erfahrungsgestalten sind. Um das Dilemma der scheinbar unmöglichen Vereinbarkeit der Subjektivität, die jeder Erfahrung inhärent ist, mit der Objektivität, die ein Kunstwerk aufgrund seiner Autonomie beansprucht, zu lösen, wurde eine Auseinandersetzung mit dem Konstellationsmodell Adornos und Benjamins
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vorgenommen. Wie sich dabei herausgestellt hat, ist dieses Modell durch eine unauflösbare Identität rein kognitiver Erkenntnis und existenzialer Erfahrung gekennzeichnet und bewahrt dennoch die Objektivität der Erkenntnis, insofern es eine besondere Verbindlichkeit, die während jedes Erkenntnisprozesses entsteht, aufweist. Darauf aufbauend wurde es möglich, die Widersprüchlichkeit, die die Bestimmung des Kunstwerks als autonomer Erfahrungsgestalt anzuhaften schien, aufzulösen und daran anschließend den folgenden, der Kunst immanenten Autonomiebegriff zu gewinnen: Die Autonomie der Kunst besteht in der Immanenz der Verbindlichkeit jeder konkreten Erfahrung eines Kunstwerks. Auf Basis der engen Wechselbeziehung von Kunst und Leben, die dieser Autonomiebegriff zum Ausdruck bringt und die daher zu einem konstitutiven Bestandteil der Kunst selbst wird, konnte die Ausgangsfrage der vorliegenden Untersuchung abschließend wie folgt beantwortet werden. Infolge einer Aufhebung der Verbindlichkeit der Welt, die die ästhetische Erfahrung aufgrund ihrer immanenten Verbindlichkeit bewirkt, wird der Betrachter völlig auf sich selbst zurückgeführt: Er wird von der ästhetischen Erfahrung mit der Aufgabe der Selbstwerdung konfrontiert.
Ausblick Dieses Ergebnis kann über die Forschungsfrage nach der Bedeutung der Kunst für das Leben hinaus, von der die vorliegenden Überlegungen ihren Ausgang genommen haben, interessante Denkanstöße bieten, die sowohl für den ästhetischen Diskurs im Allgemeinen als auch für eine Präzisierung des Verhältnisses von Kunst und Leben und nicht zuletzt für eine Kunsttheorie gewinnbringend sein können. Wie in der Einleitung verdeutlicht, positioniert sich die vorliegende Betrachtung an der Schnittstelle zwischen den Interessen der Ästhetik des englischsprachigen Raums, die nach einer Definition der Kunst und des Kunstwerks sucht, und dem gegenwärtigen Fokus der Ästhetik in Mitteleuropa, die sich über die Kunst hinaus mit dem Ästhetisierungsprozess aller Lebensbereiche auseinandersetzt. Dieser Gedanke, inwiefern die Überlegungen der vorliegenden Arbeit als fruchtbare Erweiterung dieser beiden Schwerpunkte verstanden werden können, soll hier erneut aufgegriffen und präzisiert werden. In Bezug auf die vielfältigen Kunsttheorien, die sich im englischsprachigen Raum auch heute noch finden, stellt die hier gewonnene Definition des Kunstwerks als autonome Erfahrungsgestalt einen innovativen Ansatz dar. Im Gegensatz zu den mitteleuropäischen Definitionsversuchen der Kunst nahm die ästhetische Erfahrung im Laufe des 20. Jahrhunderts in jenen des englischsprachigen Raums keine entscheidende Rolle ein. Von wenigen Ausnahmen wie etwa den Theorien Monroe Beardsleys, Harold Osbornes oder William Tolhursts abgesehen,1 die sich 1
Vgl. Monroe Beardsley: An Aesthetic Definition of Art. In: Hugh Mercer Curtler (Hg.): What Is Art? New York: Havens Publisher 1983, 15–29; Osborne: What is a Work of Art;
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zwischen den 1970er und den 1980er Jahren entwickelt haben, wurde die ästhetische Erfahrung nicht als Kriterium dafür gesehen, einem Artefakt oder einem Naturobjekt den Kunststatus zuzuschreiben. Diese Ansätze, die ausgehend von der ästhetischen Erfahrung eine Theorie der Kunst entwickeln, lassen sich – wie Carroll zeigt – in den sogenannten ‚content-orientet account‘ und ‚affect-oriented account‘ unterteilen, die jeweils die ästhetischen Eigenschaften eines Kunstwerks bzw. das durch das Kunstwerk ausgelöste, interessenlose Wohlgefallen fokussieren. Wie Carroll deutlich macht, besteht die Problematik dieser Ansätze jedoch darin, dass sie die Intention des Künstlers in den Mittelpunkt ihrer Definitionen rücken: Die Möglichkeit der ästhetischen Erfahrung ist deshalb von der Intention des Künstlers abhängig.2 Unter diesem Gesichtspunkt lassen sich diese Ansätze der Produktionsästhetik zuordnen. Insofern stellt die hier vorgeschlagene Definition des Kunstwerks als autonome Erfahrungsgestalt, die aus einer der Kunst immanenten Perspektive gewonnen wurde, im Kontext der englischsprachigen Debatte um das Kunstwerk einen neuen Ansatz dar. Im Rahmen der gegenwärtigen Definitionsversuche der Kunst im mitteleuropäischen Raum scheint die hier vorgenommene Analyse jedoch einen noch bedeutenderen Beitrag leisten zu können. Es wurde oft betont, dass die Forschungsinteressen der Ästhetik in Mitteleuropa, indem sie alle Lebensbereiche einschließt, weit über eine Theorie der Kunst hinausgehen. Dennoch war und ist es ebenso ein Anliegen der mitteleuropäischen Ästhetik, eine allgemeingültige Definition der Kunst zu finden, wie die Vielfalt an Kunsttheorien in 20. Jahrhundert verdeutlicht. Diese Theorien haben, nachdem sie die Unzulänglichkeit der Werkästhetik für eine systematische Betrachtung neuer künstlerischer Ausdrucksformen festgestellt haben, die ästhetische Erfahrung zum Schlüsselbegriff der Frage nach der Kunst erhoben. Wenn daher auch eine Definition der Kunst, die auf der Erfahrung des Kunstwerks beruht, nicht als bahnbrechende Innovation der mitteleuropäischen Ästhetik bezeichnet werden kann, so leistet die vorgenommene Analyse dennoch einen fruchtbaren Beitrag auch zur mitteleuropäischen Debatte um die Definition der Kunst. Aus diesem Grund werden sich die folgenden Schlussbemerkungen vornehmlich darauf konzentrieren, inwiefern die Ergebnisse dieser Forschungsarbeit auch für die ästhetische Debatte in Mitteleuropa gewinnbringend sind. Es gilt insbesondere den folgenden Aspekt zu betonen, durch den die systematischen Schwierigkeiten, mit denen sich die aktuellen Denkansätze konfrontiert sehen, überwunden werden könnten: Die Verbindlichkeit, die jeder ästhetischen Erfahrung immanent ist, könnte ein neues Fundament einer Theorie der ästhetischen Erfahrung darstellen, die als solche dem Anspruch auf Allgemeingültigkeit genügt und zugleich die Vielfältigkeit der möglichen Erfahrungen
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William Tolhurst: Toward an Aesthetic Account of the Nature of Art. In: The Journal of Aesthetics and Art Criticism, 42.3, 1984, 261–269. Vgl. Noël Carroll: Philosophy of art. A Contemporary Introduction. London: Routledge 2002, 162–174.
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berücksichtigt. Durch einen kurzen Überblick über die aktuelle Entwicklung der ästhetischen Forschung in Mitteleuropa wird im Folgenden die Hauptproblematik umrissen, mit der sich eine Ästhetik konfrontiert sieht, die ausgehend von der ästhetischen Erfahrung eine Definition der Kunst zu gewinnen versucht. Trotz der offenbaren Unterschiede, die – wie bereits in der Einleitung festgestellt – nicht nur methodologische Aspekte, sondern ebenso das Objekt der ästhetischen Disziplin betreffen, scheinen die verschiedenen ästhetischen Denkansätze in einem Verständnis des Kunstwerks übereinzustimmen, das dessen Offenheit und Einzigartigkeit akzentuiert: Ein Kunstwerk – sei damit ein Kunstwerk im klassischen Sinne, ein Kunstausdruck der Moderne, der Postmoderne oder aber der Gegenwartskunst gemeint – ist eine offene, singuläre Gestalt.3 Obwohl diese Be3
Der Ausdruck ‚offenes Kunstwerk‘ ist die deutsche Übersetzung von ‚opera aperta‘, dem Titel eines 1962 in Italien erschienenen Werkes Umberto Ecos. (Vgl. Umberto Eco: Opera aperta. Forma e indeterminazione nelle poetiche contemporanee. Milano: Bompiani 1962) Obwohl der Begriff – wie Juliane Rebentisch bemerkt – unscharf bleibt (vgl. Juliane Rebentisch: Theorien der Gegenwartkunst zur Einführung. Hamburg: Junius 2015, 27), erläutert Eco den von ihm geprägten Ausdruck mit folgenden Worten: „[E]in Kunstwerk [ist] […] eine in ihrer Perfektion eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne daß seine irreproduzible Einmaligkeit davon angetastet würde. Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt.“ (Umberto Eco: Das offene Kunstwerk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, 30) Von dieser Definition des ‚offenen Kunstwerks‘ ausgehend hat die gegenwärtigen Ästhetikforschung den Akzent auf den einen oder den anderen Aspekt des Kunstwerks gelegt. In diesem Sinne definiert Bubner das Kunstwerk als ein „singulare tantum“. (Bubner: Zur Analyse ästhetischer Erfahrung, 59) Figal argumentiert daneben aus einer hermeneutischen Perspektive für die Unerwartbarkeit jedes Kunstwerks. (Vgl. Figal: Erscheinungsdinge, 10–11; 18; 22) Von der selben Perspektive ausgehend interpretieren beispielsweise Simone Neuber oder Tom Poljanšek die Offenheit von Kunstwerken als „nie vollständig voreinholbare Verweisungszusammenhänge“. (Tom Poljanšek: Beruhigen und Befremden – Zwei Tendenzen in Kunst und Philosophie. In: Werner Fitzner (Hg.) Kunst und Fremderfahrung. Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen. Bielefeld: Transcript 2016, 97–117, 113; vgl. Simone Neuber: Kunsterfahrungen. In: Werner Fitzner (Hg): Kunst und Fremderfahrung. Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen. Bielefeld: Transcript 2016, 141–155) Gamm und Schürmann insistieren dagegen auf der Unendlichkeit und Unbestimmtheit des Kunstwerks (vgl. Gamm; Schürmann: Die Unbestimmtheit der Kunst), während etwa Werner Fitzner oder Philip Hogh auf die Singularität von Kunstwerken im Kontrast zur wiederholbaren, gewöhnlichen Wirklichkeit setzen. (Vgl. Werner Fitzner (Hg): Kunst und Fremderfahrung, 9; Philip Hogh: Die Grenzen der Gewohnheit. Überlegungen zur Fremdheit in der Kunsterfahrung. In: Werner Fitzner (Hg): Kunst und Fremderfahrung. Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen. Bielefeld: Transcript 2016, 177–195) Es sei in diesem Zusammenhang bemerkt, dass sich die Tendenz, das Kunstwerk als offene, einzigartige Gestalt zu verstehen, auch im englischen Sprachraum – unabhängig von Ecos Definition des ‚offenen Kunstwerks‘ – feststellen lässt. Wie in der Einleitung festgestellt, stimmen die aktuellen Kunsttheorien trotz ihrer beträchtlichen Differenzen darin überein, dass sie Kunstwerke als bewegliche Gestalten verstehen, die sich nicht eindeutig definieren lassen. Nicht nur die Neo-Wittgensteinian Theories, die für die Unmöglichkeit einer Realdefinition des Kunstwerks argumentieren, vertreten seine grundsätzliche Undefinierbarkeit. (Vgl. Weitz: The Role of Theory in Aesthetics) Auch die Institutional Theory, die notwendige und hinreichende Bedingungen für die Definition eines Kunstwerks anführt, schreibt dem Kunstwerk eine nicht eindeutig zu
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stimmung sehr allgemein ist und alle Kunstwerke umfasst, hat sich diese Auffassung von Kunstwerken in den letzten Jahrzehnten radikalisiert. Der Kreis der „‚offenen‘ Kunstwerke“,4 die nur metaphorisch als offen „im Sinne einer generellen Bedeutungsoffenheit”5 definiert werden, hat sich diversifiziert und es ist „eine neue, enger umschriebene Kategorie von Kunstwerken [entstanden]‚ […], die wir wegen ihrer Fähigkeit, verschiedene unvorhergesehene, physisch noch nicht realisierte Strukturen anzunehmen, als ‚Kunstwerke in Bewegung‘ bezeichnen können“6. Wenngleich diese von Eco geprägte Charakterisierung der neuen ‚Formen‘ von Kunstwerken aufgrund der vielen unterschiedlichen Phänomene, die Ecos Verständnis dieses Begriffs umfasst, unscharf und daher strittig ist,7 erfasst dieser Ausdruck die primäre Charakteristik, die die künstlerischen Ausdrucksformen der letzten Jahrzehnte gemeinsam zu haben scheinen. Dieser Besonderheit scheint darin zu bestehen, dass Kunstwerke – um erneut mit Eco zu sprechen – „‚nicht fertige‘ Werke […] sind, die der Künstler dem Interpreten mehr oder weniger wie die Teile eines Zusammensetzspiels in die Hand gibt, scheinbar uninteressiert, was dabei herauskommen wird“.8 Es ist daher nicht verwunderlich, dass die Entstehung und die Vervielfachung dieser künstlerischen Ausdrucksformen seit den 1960er Jahren die Krise des herkömmlichen Werkbegriffs verursacht und konsequenterweise jener ästhetischen Forschung Vorschub geleistet hat, die eine Differenzierung,9 wenn nicht sogar eine „Erosion des Werkbegriffs“10 konstatiert. Ent-
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fassende Natur zu. Indem diese Theorie die Definition eines Kunstwerks an die Entscheidung der Kunstwelt darüber, ob etwas Kunst ist oder nicht, bindet, wird diese geschichtlich und kulturell notwendigerweise variabel. (Vgl. Dickie: Art and the Aesthetic: An Instiutional Analysis) Auch die aktuelleren, historischen und hybriden Ansätze, die die Ästhetik des englischsprachigen Raum aktuell dominieren, bestätigen eine Auffassung des Kunstwerks, das sich aufgrund seiner Offenheit – sei es durch seine Form, seinen Inhalt, seinen Sinn, seine Funktion oder seine historische und kulturelle Bedingtheit – nicht eindeutig definieren lässt. (Vgl. Levinson: Extending Art Historically; Carney: The Style Theory of Art; Carroll: Art, Practice, and Narrative; Danto: What Art Is; Stecker: Artworks: Definition, Meaning, Value; Kamber: A Modest Proposal for Defining a Work of Art) Eco: Das Offenen Kunstwerk. Rebentisch: Theorien der Gegenwartkunst zur Einführung, 28. Eco: Das Offenen Kunstwerk, 42. Vgl. Rebentisch: Theorien der Gegenwartkunst zur Einführung, 32–36. Eco: Das Offenen Kunstwerk, 30–31. Vgl. Anne-Marie Bonnet: Kunst der Moderne. Kunst der Gegenwart. Herausforderung und Chance. Köln: Deubner Verlag für Kunst, Theorie & Praxis 2008, 97. Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung, 138. Es kann interessant sein, auch im Hinblick auf die Akzentverschiebung der neuen ästhetischen Denkansätze die ästhetische Erfahrung zu betrachten, wie es Fischer-Lichte in diesem Zusammenhang tut: „An seine Stelle [des Werkbegriffs] ist zunehmend der Begriff des Kunstereignisses getreten. Diese Schwerpunktverlagerung hat für die ästhetische Theorie weitreichende Konsequenzen. Denn während Werke in der Regel gedeutet und verstanden werden wollen, sind Ereignisse wahrzunehmen und zu erfahren. An die Stelle der Begriffe Interpretation, Bedeutung, Sinn, Verstehen treten hier eher Begriffe wie Ereignis, Inszenierung, Aufführung, Spiel, Verkörperung. Diesem Phänomen ist entsprechend nicht mehr mit einer hermeneutischen oder semiotischen Ästhetik beizukommen. Es verlangt vielmehr die Ent-
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sprechend wurde die Werkästhetik für ungeeignet erachtet, die hermeneutischen und theoretischen Werkzeuge zur Verfügung zu stellen, um eine Auseinandersetzung mit künstlerischen Ausdrucksformen vorzunehmen, die eben die Überwindung, wenn nicht sogar die Negation des Ausgangspunkts der Werkästhetik – das Werk – bewirken und festlegen. Als Reaktion auf die theoretische Unzulänglichkeit der Werkästhetik gegenüber ‚Kunstwerken in Bewegung‘ entstanden immer mehr Paradigmen, die nun statt des Werks die ästhetische Erfahrung fokussieren: Die Theorien Wolfgang Isers, Hans Robert Jauß‘, Rüdiger Bubners sowie Max Imdahls sind die ersten systematischen Beispiele einer philosophischen Ästhetik, die nun die ästhetische Erfahrung als Ausgangspunkt ihrer Entfaltung annimmt.11 Küpper und Menke bringen mit den folgenden Worten den theoretischen Kernpunkt, den diese Ansätze trotz unterschiedlicher methodischer Zugänge zum Forschungsgegenstand miteinander teilen, auf den Punkt: Man kann sich dann weiterhin darüber streiten, wie sich das Gegebensein der Kunst für uns in unserer Erfahrung von Kunst am besten analysieren läßt: ob durch phänomenologische Deskription, hermeneutische Deutung, sprachanalytische Unterscheidung – oder gar nicht allgemeiner, abstrakter Weise, sondern allein im Aufweis einzelner exemplarischer Erfahrungsvollzüge, an besonderen künstlerischen Gegenständen. Alle diese verschiedenen Ansätze eint aber, daß sie das, was sie unter Kunst verstehen, von seiner Gegebenheitsweise im Erfahren her erfassen.12
In diesem Sinne wird die ästhetische Erfahrung zum Schlüsselbegriff einer Ästhetik, die sich bewusst gegen die Werkästhetik stellt. Dass die sich neu entwickelte, philosophische Ästhetik als Theorie der ästhetischen Erfahrung als Reaktionstheorie auf das vermeintliche Scheitern der klassischen Kunstphilosophie, einen angemessen Umgang mit neuen künstlerischen Ausdrucksformen zu finden, die die traditionellen Kategorien für ungültig erklärt haben, entstanden ist, ist – wie bereits erwähnt – eine weit verbreitete Meinung in der Forschungsliteratur. Ebenso verbreitet scheint in der Ästhetik-Forschung die Akzentuierung von zwei Phänomenen, die mit der Zentralität, die die ästhetische Erfahrung im ästhetischen Diskurs gewinnt, unmittelbar verbunden sind. Auf das erste dieser Phänomene wurde schon in der Einleitung verwiesen: Es besteht in der Schwierigkeit, aufgrund der Erweiterung des ästhetischen Forschungsfelds, die durch die Fokussierung der ästhetischen Erfahrung bewirkt wurde, eine einheitliche Definition des ästhetischen Objekts und daher eine einheitliche Bedeutung des Ästhetischen zu gewinnen. Küpper und Menke bemerken diesbezüglich:
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wicklung einer anderen Ästhetik – eine Ästhetik des Performativen.“ (Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung, 138) Vgl. insb. Wolfgang Iser: Die Appellstruktur der Texte. Unbestimmtheit als Wirkungsbedingung literarischer Prosa. Konstanz: Universitätsverlag 1970; Jauß: Ästhetische Erfahrung und literarische Hermeneutik; Bubner: Ästhetische Erfahrung; Max Imdahl: Gesammelte Schriften, Bd. 1–3. Gottfried Boehm (Hg.). Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996. Küpper; Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, 8.
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Eine Ästhetik, die vom Begriff der Erfahrung ausgeht, kann nicht auf eine Theorie der Kunst beschränkt, ja, nicht einmal mehr um eine Theorie der Kunst zentriert bleiben. […] Die ursprünglich kunsttheoretisch motivierte Wendung zur ästhetischen Erfahrung hat daher zu einer grundlegenden Reorganisation, oder eher zu einer grundlegenden Öffnung und Pluralisierung, des Feldes der Ästhetik geführt; Design, Mode, Körpertechniken, Medien, Natur – all dies gehört nun auch dazu.13
Dies bewirkt in weiterer Folge jenes Phänomen, das als ‚Ästhetisierung der Lebenswelt‘ bekannt ist, und somit die Konzentration des Interesses der Ästhetik nicht mehr (lediglich) auf die Kunst, sondern auch auf die ästhetischen Prozesse der Welterzeugung, der Welterschließung und des Weltverständnisses. Ausgehend von dieser Erweiterung des Forschungsbereichs der Ästhetik lässt sich ein zweites Phänomen bezüglich der Bestimmung des Kunstwerks feststellen: Die außerästhetische Realität wird in der aktuellen ästhetischen Forschung zum konstitutiven Bestandteil des Kunstwerks. Denn was Kunst und Kunstwerk sind und welche Wirkung sie aufgrund ihres Wesens sowohl auf das einzelne Subjekt als auch auf die soziale Dimension haben (können), wird durch den Kontrast zur außerästhetischen Realität oder – um mit Marquards zu sprechen – als ‚anaesthetische‘14 Realität bestimmt.15 In diesem Zusammenhang scheinen vielfältig bestimmte Prozesse von Entfremdung eine entscheidende Rolle zu spielen. Dafür ist der 2016 von Werner Fitzner herausgegebene Sammelband Kunst und Fremderfahrung ein Paradebeispiel. Denn der Entfremdungsprozess, der, wie der Titel des Sammelbandes bereits ankündigt, zum Schlüsselbegriff des Verhältnisses von ästhetischer und außerästhetischer Realität wird, erweist sich nicht nur in einer rezeptionsästhetischen Perspektive als eine grundlegende Deutungskategorie künstlerischer Ausdrucksformen.16 Vielmehr wird die Fremdheit der gewöhnlichen Realität – wie etwa Daniel Martin Feige, Simone Neuber oder Herbert Grabes argumentieren –17 und daher auch die gewöhnliche Realität selbst als konstitutiver Bestandteil der Kunst erfasst. 13 14 15
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Küpper; Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, 9. Vgl. Marquard: Aesthetica und Anaesthetica. Vgl. dazu Fußnoten 27 und 28 der Einleitung der vorliegenden Arbeit. Die dort erwähnten Autoren schlagen Kunsttheorien vor, in denen die gesamte Lebenswelt des Menschen zum konstitutiven Bestandteil der ästhetischen Erfahrung und der Kunst selbst wird. Trotz vielfältiger Unterschiede lassen sich unter dieser Perspektive auf die Kunst und auf die ästhetische Erfahrung auch die entsprechenden Aufsätze Fitzners und Hoghs nennen. Denn Fitzner sieht das allen neuen Kunstwerken gemeinsame Merkmal in einer strukturellen Unvollständigkeit, die die Rezeption von Kunstwerken auszeichnet. Aufgrund dieser Unvollständigkeit gelangt er zu der Auffassung, dass allen Kunstwerken eine Dimension von Fremdheit eigen ist. (Vgl. Fitzner: Kunst und Fremderfahrung, 9) Hogh bestimmt in Anlehnung an Menke dagegen die Kunsterfahrung als „Erfahrung der Grenzen der Gewohnheit“. (Hogh: Die Grenzen der Gewohnheit, 190) Davon ausgehend bestimmt auch er die ästhetische Erfahrung als eine Erfahrung der Fremdheit. Feige sieht die Fremdheit als „ein[en] wesentliche[n] Aspekt der Form der Kunsterfahrung überhaupt“. (Daniel Martin Feige: Fremdheit als Aspekt der Form der Kunsterfahrung. In: Werner Fitzner (Hg.): Kunst und Fremderfahrung. Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen. Biele-
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Bezüglich dieser kurz skizzierten, neuen Entwicklungen der ästhetischen Forschung zur Kunst nimmt die vorliegende Betrachtung eine Position ein, die sich – wie bereits erwähnt – als ambivalent erweist: Einerseits genügt die vorliegende Untersuchung, indem das Kunstwerk als Erfahrungsgestalt definiert und daher die ästhetische Erfahrung ins Zentrum der Analyse gerückt wird, den Ansprüchen der philosophischen Ästhetik, die, die Unzulänglichkeit der Werkästhetik feststellend, ausgehend von der ästhetischen Erfahrung nach einem angemessenen, theoretischen Zugang zu den neuen künstlerischen Ausdrucksformen sucht. Andererseits nimmt die vorliegende Betrachtung einen gewissen Abstand von den Tendenzen der aktuellen ästhetischen Forschung, indem sie nicht ein der Werkästhetik alternatives Paradigma vorschlagen will, um neuen künstlerischen Ausdrucksformen gerecht zu werden. Denn die durch die vorgenommene Analyse gewonnene Definition des Kunstwerks als autonome Erfahrungsgestalt veranlasst dazu, die ästhetische Erfahrung als konstitutiven Bestandteil aller ‚Formen‘ von Kunstwerken und nicht nur der ‚Kunstwerke in Bewegung‘ anzusehen. Diese Feststellung will weder die Unterschiede zwischen den ‚klassischen‘ und den postmodernen, gegenwärtigen künstlerischen Ausdrucksformen einebnen noch die Krise des herkömmlichen Werkbegriffs leugnen, die diese neuen ‚Formen‘ von Kunstwerken bewirken: Dass sich diese Kunstformen durch „Begriffe wie Ereignis, Inszenierung, Aufführung, Spiel, Verkörperung“18, wie es Erika Fischer-Lichte im Rahme ihrer Ästhetik des Performativen betont, treffender als durch den Begriff ‚Werk‘ fassen lassen, ist eindeutig. Doch diese Veränderungen, die Kunstwerke und daher ebenso das für ihre Erfassung notwendige, theoretische Rüstzeug betreffen, lassen sich nicht durch die konstitutive Rolle, die die ästhetische Erfahrung für das Kunstwerk spielt, begründen: Kunstwerke sind Erfahrungsgestalten – seien es ‚geschlossene‘ Werke im klassischen Sinne oder aber ‚Kunstwerke in Bewegung‘. Aufgrund dieser Feststellung liegt die Vermutung nahe, dass die Alternative ‚Werk oder Erfahrung‘ das Wesen des Kunstwerks verfehlen kann. Vielmehr als eine Theorie der ästhetischen Erfahrung, die gegen der Werkästhetik neue Deutungskategorien für sogenannte‚Werke
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feld: Transcript 2016, 197–213, 199) Er begründet seine These ausgehend von der Schwierigkeit einer begrifflichen Artikulation, die vor allem die neuen künstlerischen Ausdrucksformen ab den Modernen dem Betrachter bereiteten. (Vgl. Feige: Fremdheit als Aspekt der Form der Kunsterfahrung, 200–207, insb. 206) Neuber vertritt eine noch radikale Sicht als Feige und macht aus der Fremdheit ein Kriterium für den Kunstwerksstatus: „Versuchsweise sei daher angenommen, dass Kunst einen konstitutiven Fremdheitscharakter hat oder präziser: dass der, der sich auf einen Gegenstand als einen Gegenstand der Kunst bezieht, auf einen Gegenstand bezieht, der ihm genau aufgrund der Tatsache, dass er auf eine distinkte Art befremdet, als Kunstwerk erscheint.“ (Neuber: Kunsterfahrungen, 144) Wie Neuber ist auch Herbert Grabes der Auffassung, dass moderne und vor allem postmoderne Kunst konstitutiv Fremdheit auszulösen vermögen. (Vgl. Herbert Grabes: Vom fremden Neuen zum nicht mehr neuen Fremden. Über den Wandel der Ästhetik nach der Postmoderne. In: Werner Fitzner (Hg.): Kunst und Fremderfahrung. Verfremdungen, Affekte, Entdeckungen. Bielefeld: Transcript 2016, 59–76, 59) Fischer-Lichte: Ästhetische Erfahrung als Schwellenerfahrung, 138.
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in Bewegung‘ entwickeln will, scheint es daher notwendig, eine Theorie der ästhetischen Erfahrung zu entwerfen, die sowohl klassische Kunstwerke als auch neue künstlerische Ausdrucksformen, die sich nicht mehr unter dem herkömmlichen Werkbegriff fassen lassen, berücksichtigt. Zu einer solchen Theorie der ästhetischen Erfahrung, die alle Formen von Kunstwerken in ihre theoretische Erörterung mit einbezieht, könnte die vorliegende Betrachtung einen grundlegenden Beitrag leisten. Worin dieser Beitrag besteht, sei im Folgenden im Rückgriff auf eine Problematik erschlossen, die eine Theorie der ästhetischen Erfahrung notwendigerweise mit sich bringt. Diese Problematik, auf welche etwa Küpper, Menke, Recki und Figal immer wieder hinweisen,19 besteht im scheinbar widersprüchlichen Anliegen, dem Anspruch einer Theorie auf theoretische Grundlegung und Allgemeingültigkeit zu genügen und zugleich das Besondere und Einzigartige, das jeder Erfahrung eigen ist, „auf (notwendig) allgemeine Begriffe bringen zu wollen“ 20. Diese Problematik ist für eine Theorie der ästhetischen Erfahrung derart zentral und schwerwiegend, dass sie die Möglichkeit einer philosophischen Ästhetik, die systematisch von der ästhetischen Erfahrung ausgehen möchte, überhaupt bezweifeln lässt.21 Gerade in Bezug auf diesen für eine Theorie der ästhetischen Erfahrung intrinsisch paradoxen Charakter scheint die vorliegende Betrachtung einen entscheidenden Beitrag leisten zu können. Denn durch die hier gewonnene Kunstauffassung, die die Erfahrung als konstitutiven Bestandteil des Kunstwerks versteht und zugleich seinen Autonomieanspruch berücksichtigt, wird eine Perspektive auf die Kunst gewonnen, die, indem sie Werkästhetik und philosophische Ästhetik miteinander verbindet, die objektive Gültigkeit der ästhetischen Erfahrung bewahrt und daher eine Theorie der ästhetischen Erfahrung ermöglicht. Inwiefern dies möglich wird, kann durch eine kurze Skizzierung des Kontrasts zwischen Werkästhetik und philosophischer Ästhetik verdeutlicht werden. In Anlehnung an Figal22 kann dieser Kontrast folgendermaßen zusammengefasst wer-
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Vgl. Recki: Ästhetik, 247–248; Figal: Erscheinungsdinge, 2. Die folgenden Worte Küppers und Menkes können in Bezug auf die Schwierigkeit, eine Theorie der ästhetischen Erfahrung zu entwerfen, erhellend wirken: „[…] die Rede von ‚ästhetischer Erfahrung‘ [hat sich] in der deutschsprachigen Diskussion [...] als Bezeichnung nicht nur für einen Gegenstandsbereich der Ästhetik, sondern für deren Grundbegriff durchgesetzt. Darin sind alle Ebenen der Ästhetik – Kunstkritik, Kunstwissenschaft und Philosophie – zuletzt auf die Erfahrung zurückbezogen. Seit diesem Neueinsatz könnte man die Ästhetik, in Abwandlung ihrer ersten Definition bei Alexander Gottlieb Baumgarten, als die Wissenschaft der ästhetischen Erfahrung definieren – wenn nicht mit dem Konzept ‚ästhetische Erfahrung‘ zugleich fragwürdig geworden wäre, ob und wie es von ihr eine ‚Wissenschaft‘ noch geben könne.“ (Küpper; Menke (Hg.): Dimensionen ästhetischer Erfahrung, 7) Vgl. Recki. Ästhetik, 248. Vgl. Bubner; Cramer; Wiehl (Hg.): Ist eine philosophische Ästhetik möglich? Vgl. Figal: Erscheinungsdinge, 2.
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den: Während die Werkästhetik23 einerseits ihre Analyse auf die Struktur von Kunstwerken richtet, macht die philosophische Ästhetik andererseits die ästhetische Erfahrung zu ihrem Thema. Aufgrund ihrer jeweiligen Zugangsweisen zur Kunst zeigen sich unterschiedliche Problematiken. So gelingt es der Werkästhetik zuweilen nicht, von geschichtsphilosophisch oder anthropologisch bestimmten Grundannahmen abzusehen, während sich die philosophische Ästhetik aufgrund einer gewissen Beliebigkeit der ästhetischen Erfahrung immer wieder mit der Schwierigkeit konfrontiert sieht, auf systematische Ansprüche verzichten zu müssen. Die hier erarbeitete Kunstauffassung nimmt zwischen diesen beiden Herangehensweisen an die Kunst eine Zwischenstellung ein: Insofern sie der Kunst aufgrund des ihr immanenten Vermittlungsprinzips zwischen Inhalt und Materie Autonomie zuspricht, kann die vorliegende Untersuchung als werkästhetisch bezeichnet werden. Da es aber nur während der konkreten Betrachtung eines Kunstwerks tatsächlich zu einer Vermittlung zwischen Materie und Inhalt kommt, wird die ästhetische Erfahrung zu einem konstitutiven Bestandteil der Kunstanalyse, was für die Verortung dieser Überlegungen im Rahmen einer philosophischen Ästhetik spricht. Inwiefern ermöglicht diese Kunstauffassung nun, diese kurz angerissenen Schwierigkeiten dieser beiden Zugangsweisen zur Kunst zu umgehen? Die grundsätzliche Rolle, die die ästhetische Erfahrung in der Definition des Kunstwerks als autonome Erfahrungsgestalt spielt, stellt einerseits einen immanenten Zugang zur Kunst sicher, wodurch eine Instrumentalisierung der Kunst erschwert wird. Zugleich gewinnt die ästhetische Erfahrung andererseits objektive Gültigkeit, wodurch sich jeder Verdacht von Beliebigkeit als unbegründet erweist. Ausgehend von dieser objektiven Gültigkeit der ästhetischen Erfahrung, deren Begründung sich als eines der primären Forschungsziele der vorliegenden Betrachtung erwiesen hat, lässt sich eine einheitliche Theorie der ästhetischen Erfahrung entwerfen. Wie erwähnt, erweist sich eine Theorie, die die Erfahrung berücksichtigen oder sogar auf ihr aufbauen will, als paradox und stößt immer wieder auf das Problem, vor der Privatheit jeder Erfahrung kapitulieren oder umgekehrt die qualitativen Differenzen zwischen verschiedenen Erfahrungen einebnen zu müssen. Diese Schwierigkeit kann nun im Rückgriff auf die gewonnene Definition des Kunstwerks als autonome Erfahrungsgestalt und präziser noch in Anlehnung an die Verbindlichkeit, die jeder ästhetischen Erfahrung immanent ist, überwunden werden. Denn diese Verbindlichkeit lässt sich als jenes objektive, einheitliche Element verstehen, von dem eine Analyse, die die Erfahrung als 23
Eigentlich spricht Figal vom Kontrast zwischen Kunstphilosophie und philosophischer Ästhetik und lässt die Werkästhetik unerwähnt. Jene Philosophen, die er als Vertreter der Kunstphilosophie nennt – Hegel, Schelling, Nietzsche, Heidegger, Gadamer und Adorno – und seine implizite Definition der Kunstphilosophie als Analyse der Struktur von Kunstwerken erlauben dennoch eine Gleichsetzung der Kunstphilosophie im Sinne Figals mit der Werkästhetik. (Vgl. Figal: Erscheinungsdinge, 2)
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konstitutiven Bestandteil der Kunst berücksichtigt, systematisch ausgehen kann. Diese Vorgehensweise würde der Einzigartigkeit jeder Erfahrung gerecht werden, da die Verbindlichkeit, auf der sie aufbaut, jeder Erfahrung immanent ist. Zugleich kann ein solches Vorgehen dennoch Anspruch auf objektive Gültigkeit erheben, insofern diese Verbindlichkeit während der reziproken Vermittlung von Subjekt und Objekt der Erfahrung entsteht und dadurch von beiden unabhängig bleibt. Diese Verbindlichkeit eröffnet daher die Möglichkeit, eine einheitliche Theorie zu entwickeln, die die Pluralität verschiedener Erfahrungen nicht einebnen und dennoch Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Indem sich die hier umrissene Theorie der ästhetischen Erfahrung auf die Verbindlichkeit, die jeder Erfahrung immanent ist, gründet, ermöglicht sie darüber hinaus die Wiedergewinnung einer der Kunst immanenten Forschungsperspektive, die durch die Verschiebung des Fokusinteresses vom Werk auf die Erfahrung verloren geht. Marquards Überzeugung, dass die „Ausschließlichkeit ästhetischer Immanenz“24 die Ästhetik verfehle und dass ‚Anaestetica‘ – als nichtästhetische Wirklichkeit verstanden – zur Ästhetik „als notwendige Ergänzung und Fundierung“25 gehöre – eine Überzeugung, die, wie einleitend gezeigt, von den meisten Ästhetik-Forschern geteilt wird –, riskiert, die Ästhetik in eine heteronome Disziplin zu verwandeln. Denn sowohl jene Theorien der ästhetischen Erfahrung, die bereits als klassisch gelten, als auch jene neuen Theorien, für die Entfremdungsprozesse und -phänomene zentral werden, scheinen – wie schon verdeutlicht – ausschließlich die Effekte der ästhetischen Erfahrung auf den Betrachter zu fokussieren und daraus eine Bestimmung des Kunstwerks und der Kunst herzuleiten. Eine Theorie der ästhetischen Erfahrung auf ihre immanente Verbindlichkeit und nicht auf mögliche Wirkungen auf den Betrachter zu gründen, ermöglicht es, eine Binnenperspektive auf die Kunst zu gewinnen und daher die Kunst von der Kunst her zu denken. Dies schafft nicht nur die Möglichkeit, unter einer von der Kunst her geöffneten Perspektive das Verhältnis von Kunst und Leben, von ästhetischer und außerästhetischer Realität und ihre möglichen Verschränkungen neu zu bestimmen. Eine solche Vorgehensweise, die auf die Verbindlichkeit der ästhetischen Erfahrung als ihr systematisches Prinzip aufbaut, wäre zudem für eine Analyse, die sowohl Kunstwerke im klassischen Sinne als auch gegenwärtige künstlerische Ausdrucksformen in den Fokus ihres Forschungsinteresses rückt, gewinnbringend. Denn die erschlossene Verbindlichkeit kann als systematisches Prinzip einer Auseinandersetzung mit jenen zeitgenössischen künstlerischen Ausdrucksformen und Phänomenen genutzt werden, die konventionellerweise nicht dem Bereich der schönen Künste zugeordnet werden. Die Frage danach, ob auch im Umgang mit neuen Kunstformen wie etwa Konzeptkunst, Videokunst oder performance-Kunst eine Verbindlichkeit entsteht und 24 25
Marquard: Aesthetica und Anaesthetica, 11. Marquard: Aesthetica und Anaesthetica, 11.
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inwiefern sich diese eventuell von jener unterscheidet, die durch eine Betrachtung eines ‚klassischen‘ Kunstwerks entsteht, könnte dazu verhelfen, ihren künstlerischen Status zu bestimmen, ohne sie in herkömmliche Kategorien zu zwingen. Die Verbindlichkeit der ästhetischen Erfahrung als Prinzip einer Theorie der „nicht mehr schönen Künste“26 würde daher eine noch fehlende Fundierung dieser künstlerischen Ausdrucksformen ermöglichen,27 ohne sie in lineare Anordnungen zu zwängen, die – wie Anne-Marie Bonnet ausführlich zeigt –28 ihrer diachronen und synchronen Vernetzung nicht gerecht wird. Eine Theorie der Kunst, die auf die immanente Verbindlichkeit der ästhetischen Erfahrung gegründet ist, stellt außerdem wenigstens zwei Kriterien bereit, um das Verhältnis der Kunst der Vergangenheit und der Gegenwartskunst zu untersuchen. Das erste dieser zwei Kriterien besteht in der bereits ausführlich behandelten ästhetischen Erfahrung. Indem alle Kunstwerke und nicht nur ‚Kunstwerke in Bewegung‘ als Erfahrungsgestalten definiert werden, wird die ästhetische Erfahrung zu einem einheitlichen Charakter aller Kunstwerke. Unter dieser Voraussetzung könnte die Fragen danach, wie die Verbindlichkeit der ästhetischen Erfahrung im Falle eines klassischen Kunstwerks und im Falle eines neuen Kunstwerks zu Stande kommt und inwiefern sie sich voneinander unterscheiden, dazu führen, ihr Verhältnis zueinander zu untersuchen, alte Kategorien zu revidieren und neue zu prägen. Das zweite Kriterium besteht in der Autonomie des Kunstwerks. Denn in der vorgeschlagenen theoretischen Perspektive sind Kunstwerke nicht nur Erfahrungsgestalten, sondern zudem auch autonom. Jene Autonomie, die ausschließlich den Kunstwerken seit der Modernen – sei es aufgrund ihrer Unabhängigkeit von religiösen oder sozial-politischen Zwecken, sei es aufgrund einer gewissen Stilfreiheit – zuerkannt wird, wird zu einer Eigenschaft auch klassischer Kunstwerke, indem die Autonomie in Bezug auf die Immanenz der Verbindlichkeit jeder ästhetischen Erfahrung definiert wird. Die Autonomie der Kunst besteht – so wurde in der vorliegenden Betrachtung festgestellt – in der Immanenz der Verbindlichkeit jeder konkreten Erfahrung eines Kunstwerks. Auf dieser Weise bestimmt, wird die Autonomie eine Eigenschaft, die alte und neue Kunstwerke teilen, und kann daher als Kriterium genutzt werden, um ihr gegenseitiges Verhältnis zu untersuchen. In dieser Perspektive scheint es darüber hinaus plausibel, dass ästhetische Erfahrung und Autonomie in ihrem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit zu Kriterien werden können, um sich mit möglichen zukünftigen Entwicklungen des künstlerischen Panoramas systematisch auseinanderzusetzen.
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Jauß: Die nicht mehr schönen Künste. Bonnet macht darauf aufmerksam, dass „[k]unsthistorische Darstellungen, sofern es sie gibt, [...] sich vornehmlich auf die Zeit bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges [konzentrieren]. Für die Zeit nach 1945 ist man weitgehend auf Kunstpublizistik und Ausstellungskataloge angewiesen“. (Vgl. Bonnet: Kunst der Moderne. Kunst der Gegenwart, 13) Vgl. Bonnet: Kunst der Moderne. Kunst der Gegenwart, 40.
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Über die Kunst hinaus sei abschließend auch auf mögliche Beiträge verwiesen, die die gewonnene Verbindlichkeit sowohl in Bezug auf die einleitend angesprochene Unbestimmtheit des Ästhetischen als auch auf das Phänomen der ‚Ästhetisierung der Lebenswelt‘ leisten kann. Die gewonnene Verbindlichkeit könnte in diesem Zusammenhang auch als systematisches Prinzip für einen Versuch dienen, der eine einheitliche Definition des ästhetischen Objekts anstrebt. Auch in diesem Sinne kann die Frage nach der möglichen Entstehung eines verbindlichen Charakters im Umgang mit verschiedenen Objekten und eine Analyse über die unterschiedlichen Art und Weisen, in der eventuell eine Verbindlichkeit zu Stande kommt, ausschlaggebend für die Bestimmung des ästhetischen Objekts werden. In Anbetracht der anfänglich erwähnten Unbestimmtheit des ästhetischen Objekts und folglich auch der Ästhetik, die sich für den aktuellen ästhetischen Diskurs als konstitutiv herausgestellt hat, könnte die Verbindlichkeit der ästhetischen Erfahrung ein Leitprinzip darstellen, das zu einer einheitlichen Bestimmung des Ästhetischen und somit der ästhetischen Disziplin beitragen könnte. Im Anschluss an die Möglichkeit einer Bestimmung des Ästhetischen könnte sich die erschlossene Verbindlichkeit für die Betrachtung des Phänomens, das als ‚Ästhetisierung der Lebenswelt‘ bezeichnet wird, als anschlussfähig erweisen. Denn eine eindeutige Definition des Ästhetischen ermöglicht eine entsprechende Bestimmung dieses Phänomens. Dadurch wäre es auch möglich, jene ästhetischen Prozesse der Welterzeugung, der Welterschließung und des Weltverständnisses, die eng mit der ‚Ästhetisierung der Lebenswelt‘ verbunden sind, unter einer einheitlichen, systematischen Perspektive zu betrachten. Dies könnte eine systematische Basis für ein Forschungsanliegen darstellen, das darauf abzielt, über die Bedeutung der Kunst hinaus die Bedeutung des Ästhetischen für das Leben zu erschließen.
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