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German Pages 238 Year 2015
Alexander Fleischmann, Doris Guth (Hg.) Kunst. Theorie. Aktivismus.
Alexander Fleischmann, Doris Guth (Hg.) Kunst. Theorie. Aktivismus. Emanzipatorische Perspektiven auf Ungleichheit und Diskriminierung
Der Druck dieser Publikation wurde gefördert durch die Akademie der bildenden Künste Wien, die Kulturabteilung der Stadt Wien/Wissenschafts- und Forschungsförderung, die Gesellschaft der Freunde der bildenden Künste und durch Context XXI – Verein für Kommunikation und Information.
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Inhalt Einführung Alexander Fleischmann / Doris Guth
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Über strukturelle Grenzen (hinweg). Was Kunstproduktion und soziale Bewegungen trennt und verbindet Jens Kastner
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Girl Aktivismus Anette Baldauf
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Love Attack – Über den Gebrauch von Gefühlen in queer-aktivistischen Kontexten Marty Huber 91 Die Perspektive der Migration aufzeichnen/ einnehmen/ausstellen/aktivieren Nanna Heidenreich 113 Refugee-Protest im Spannungsfeld von Aktivismus, Institutionen, Kunst und medialer Sichtbarkeit Gin Müller 147 Verwandelte Welten ohne Wunden. Über Crip, Pop- und Subkulturen, soziale Bewegungen sowie künstlerische Praxis, Theorie und Recherche Eva Egermann 175 Klassismus im Bildungssystem: Zur virtùellen Gewalt des sich senkenden Blicks Andreas Kemper 199 Autorinnen und Autoren
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Alexander Fleischmann / Doris Guth Einführung Kunst. Theorie. Aktivismus. Die drei zentralen Begriffe unseres Sammelbandes wollen wir in ihren Überschneidungspunkten in Bezug auf ein spezifisches Anliegen untersuchen: emanzipatorische Perspektiven auf Ungleichheit und Diskriminierung. Unser Hauptinteresse bei der Auswahl der Autorinnen und Autoren war es dementsprechend, Positionen zusammenzustellen, die Kreuzungspunkte auf mindestens zwei unterschiedlichen Ebenen in den Blick nehmen: Einerseits geht es um die Überschneidungen und Abgrenzungen zwischen künstlerischen, theoretischen und aktivistischen Zugängen, andererseits um eine politische Agenda der Infragestellung von Ungleichheit und Diskriminierung genau am Schnittpunkt von Kunst, Theorie und Aktivismus. Die Infragestellung der Trennung dieser drei Bereiche stellt eine Klammer über die Beiträge in unserem Buch dar und motivierte uns bei der Herausgabe. Die hier versammelten Beiträge vereinen somit künstlerisch_ theoretisch_aktivistische Praxen, die die Grenzen des Politischen austesten und auszuweiten versuchen. Dabei geht es gleichzeitig um die Sichtbarmachung existierender Verbindungen, wie um die Frage, wie diese Verbindungen politisch wirkmächtig werden können. Emanzipation und Selbstermächtigung sowie deren Erweiterung und Entwicklung für Konzepte der Antidiskriminierung stehen paradigmatisch für die vorliegenden Textbeiträge und ihre Infragestellung der Grenzen zwischen Kunst, Theorie und Aktivismus. Dieser Fokus ist unseren Arbeits- und Forschungsinteressen geschuldet, die sich in den Gender und Queer Studies sowie deren
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Erweiterungen hin zu Intersektionalität verorten lassen. Dementsprechend war der Ausgangspunkt für die Einladung der Autorinnen und Autoren auch eine – mittlerweile fast kanonische, wenngleich auch sehr umstrittene – Einteilung in Identitätskategorien bzw. Diskriminierungsformen: Geschlecht, sexuelle Orientierung, vermeintliche Ethnizität, Migrationserfahrungen, (dis-)ability oder Klasse. Wir können nicht verleugnen, dass uns diese Kategorien in unserem Herausgabeprozess begleitet haben, nicht zuletzt auch deshalb, weil sie unserer Ansicht und Erfahrung nach im sozialen Raum immer noch wirkmächtig sind und unter anderem auch juristische Ordnungsstrukturen gestalten. Gleichzeitig sind wir uns jedoch auch der symbolischen Gewalt und Verkürzung dieser Kategorien bewusst. Wie etwa Johanna Schaffer paradigmatisch in Bezug auf öffentliche Sichtbarkeit von marginalisierten Positionen zu bedenken gibt, läuft diese immer Gefahr, Minorisierung und Stereotypisierung zu reproduzieren (vgl. Schaffer 2008) – eben 8
entlang etablierter Kategorisierungen. Dennoch hoffen wir, mit dem vorliegenden Band einen Beitrag zu liefern, der sich dieser Probleme bewusst ist, gleichzeitig aber sozial wirksame Kategorisierungen aufgreift und dadurch – künstlerisch, theoretisch, aktivistisch – veränderbar macht. Jens Kastners Beitrag zeigt zu Beginn in einem umfassenden Überblick die Komplexität der Verknüpfungen von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen auf. Während diese Verbindungsstränge oftmals ignoriert, ins Gegenteil verkehrt oder als omnipräsent bzw. selbstverständlich postuliert werden, plädert Kastner dafür, sie als Ausnahme und etwas Besonderes zu konzeptualisieren. Um diesem Ansatz gerecht zu werden, ist die Berücksichtigung der strukturellen Grenzen zwischen Kunst und Aktivismus notwendig, die er an drei Punkten festmacht: den feldspezifischen Anerkennungs- und Legitimierungsmodi, Subjektivierungsweisen sowie
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Klassendispositionen. In Bezug auf Erstere konstatiert Kastner, dass im Gegensatz zum Kunstfeld soziale Bewegungen dazu tendieren, ihre Botschaften klar zu formulieren, im Sinne von einfach verständlichen politischen Forderungen. Dementsprechend unterscheiden sich auch die Subjektivierungsprozesse im künstlerischen Feld und in politischen Kontexten, das heißt, wie sich Subjekte formieren, als solche anerkannt werden und mit welchen Legitimationsbedingungen sie ausgestattet sein müssen. Während dem »Ich« im künstlerischen Feld – trotz aller Versuche der Gegenbewegung – nach wie vor eine große Bedeutung zukommt, somit das Individuum und dessen künstlerische Leistung oftmals im Zentrum des Kunstdiskurses stehen, geht es in sozialen Bewegungen hingegen vorwiegend um Kollektive und ein kritisches Hinterfragen von Repräsentationsmodi im Sinne von: Wer spricht in wessen Namen? Kastners dritte Differenz betrifft die unterschiedlichen Klassendispositionen. Das Kunstfeld ist reich an kulturellem und finanziellem Kapital; soziale Bewegungen hingegen umspannen oft mehrere soziale Milieus, verfügen meist über wenig Ressourcen und haben vorwiegend keinen spezifischen Bildungshintergrund. Aus den genannten Gründen klaffen in der wissenschaftlichen Analyse diese beiden Felder weit auseinander und werden durch das Fehlen einer reflexiven Verbindung in ihrem »Getrenntsein« erneut bestätigt. In der Literatur der sozialen Bewegungen gibt es so gut wie keine Hinweise auf künstlerische Arbeiten, die Kunstwissenschaft ist andererseits selbstbezüglich auf künstlerische Fragestellungen konzentriert. Dennoch führt Kastner einige Beispiele feministischer künstlerischer Arbeiten an, die die strukturellen Grenzen zwischen sozialer Bewegung und Kunst überwinden: Abtreibung als Form der Selbstbestimmung (Barbara Kruger), geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (Laderman Ukeles, Martha Roslers) und das Leben und Schicksal von an den Rand gedrängten Frauen (Andrea Geyer), um nur einige zu nennen.
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Durch die Auseinandersetzung mit feministischer Kunst wird auch das Spannungsfeld Universalität und Partikularität angesprochen. Als Herausgeber/-innen geht es uns dabei um eine Problematisierung der Positionierung von sogenannten Partikularinteressen, also etwa feministischen Kämpfen gegen ein »Universales«, das allzu oft das Unmarkierte ist: »Wenn man nicht das Recht hat, unter den Auspizien des Universalen zu sprechen, aber dennoch spricht und Anspruch auf universale Rechte erhebt, und zwar auf eine Weise, die die Partikularität des eigenen Kampfes bewahrt, so spricht man auf eine Weise, die schnell als widersinnig oder unmöglich abgetan werden mag. Wenn wir von ›lesbischen und schwulen Menschenrechten‹ oder gar von ›Menschenrechten für Frauen‹ hören, werden wir mit einer seltsamen Nachbarschaft des Universalen und des Partikularen konfrontiert, die die beiden weder synthetisiert noch 10
auseinanderhält.« (Butler 2013: 52)
Auf diese Problematik stoßen mitunter feministische Aktivistinnen, denen nicht selten der Vorwurf gemacht wird, dass sie mit ihren feministischen Anliegen zu partikulär sind und so vom drohenden Zerfall der Demokratie, Gefährdung von Menschenrechten usw. ablenken würden. Genau diesen Marginalisierungen geht Anette Baldauf in ihrem Beitrag Girl Aktivismus am Beispiel feministisch-aktivistischer Gruppen nach. In ihrem Text verwebt sie die wechselseitigen Bezüge und Einflüsse zwischen unterschiedlichen Gruppen sowie Korrelationen zur feministischen Theorie und Kunst. Dabei stehen Fragen zum Selbstverständnis bzw. zur Selbstfindung als Kollektiv, zu Maske und Maskerade als politische Strategie, zu Aneignungen von Punk als wutbesetzte Ausdrucksform, zu Verbindungen
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zu Antikapitalismus und Rassismus, aber auch die Problematik der Vereinnahmung sowie der Sexualisierung feministischer Akteurinnen im Vordergrund. Konkret beleuchtet Baldauf das Verhältnis von Riot Girls und Pussy Riot: Die Riot Girls eigneten sich in den 1990er-Jahren den männlich besetzten Punkrock an, ermutigten Mädchen und junge Frauen eigene Bands zu gründen und Fanzines herauszugeben. Für Baldauf stand dabei vor allem eine Neudefinition der Subjektposition »Mädchen« im Mittelpunkt. Neben Wut, Ironie und Selbstverteidigung ging es um ein feministisches Selbst, das in einer antikapitalistischen und antirassistischen Ausrichtung mit »Krach« protestierte. Im Gegensatz dazu sind Pussy Riot, die sich 2011 in Russland gründeten, keine eigentliche Musikband. Sie geben keine Konzerte, sondern platzieren ihre Performances und Protestaktionen bewusst im öffentlichen Raum, um gegen Korruption, die Beschneidung der Pressefreiheit, Homophobie und die antidemokratische Regierung in Russland öffentlich zu protestieren. Im Westen sind sie vor allem durch ihre Aktion 2012 in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau bekannt geworden, in der sie vor laufender Kamera zu Maria für die Entfernung Putins »beteten«. Die nachfolgenden Repressionen gegen Aktivistinnen von Pussy Riot, die Verhaftungen und Verurteilungen zu zwei Jahren Haft, zeigen nach Aussagen der Protagonistinnen den Erfolg der Aktion, da die Mechanismen des Regimes sichtbar geworden sind. Die Autorin fragt in ihrem Beitrag, was Pussy Riot von den Riot Girls gelernt haben, was Letztere wiederum von Pussy Riot lernen könnten und in welchem Wechselverhältnis andere feministische Gruppen, wie Femen und Guerilla Girls, stehen. Sie analysiert die unterschiedlichen Funktionen des Körpers (individuell oder kollektiv) in den Aktionen, die Bedeutung von Masken und Maskerade in der feministischen Theorie (performative Aneignung des Geschlechts) und in aktivistischen Praxen (Entindivi-
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dualisierung, Schutz) bis hin zur medialen Berichterstattung und Instrumentalisierung der Akteurinnen. Sowohl Riot Girls als auch Pussy Riot agieren im Spannungsfeld zwischen bewusster Aneignung popkultureller Formen und der Vereinnahmung ihrer politischen Forderung im (kapitalistischen) Mainstream. Dieser Ambivalenz geht auch Nanna Heidenreich in ihrem Beitrag Die Perspektive der Migration aufzeichnen/einnehmen/
ausstellen/aktivieren nach, wenn sie zwar einerseits die Wichtigkeit von Gegenöffentlichkeit und des Zur-Verfügung-Stellens von Informationen betont, dabei aber andererseits zu bedenken gibt, dass der zentrale Fokus immer nur einer sein: »Es muss um etwas gehen«. Für sie bedeutet ein Sprechen über Migration deshalb immer auch ein Sprechen über Rassismus. Migration und Rassismus stellen dabei für Heidenreich die grundlegende »Verfasstheit des ›politischen Körpers‹ als solchen« infrage, werfen also wiederum 12
die Frage nach dem Politischen an sich auf. Angesichts der formatierenden Funktion von Bildern der Migration plädiert sie mit Brigitta Kuster für eine »Umkehrung der Beweislast« in Bezug auf Repräsentationen: Es gehe nicht um die Hinterfragung der »Angemessenheit« von Repräsentation zu einer als vorgängig konzeptualisierten Realität, sondern vielmehr darum, die »geschichtsbildende Kraft« künstlerischer Arbeiten zu rekonstruieren, und zwar »aus der Perspektive der Migration selbst«. Die sich daraus ergebende Hinterfragung des »Monopols Politik« (Bourdieu) und somit der Grenze zwischen Kunst und Aktivismus, passiert ihrer Ansicht nach allerdings vorwiegend kunstimmanent und »nicht mit gleicher Rigorosität als politische Frage«. So werden in künstlerischen Projekten zwar Fragen nach Repräsentation, der Relation von Produktion und Rezeption gestellt, aber ob ein als »politisch« oder »kritisch« gesetztes künstlerisches Sujet das Politische allein schon durch diese Setzung realisiert, bleibt eine offene Frage.
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Heidenreich plädiert in ihrem Beitrag dafür, das Politisch-Werden explizit in der künstlerischen Arbeit zu reflektieren, eben im Sinne von »es muss um etwas gehen«. Eine Forderung, die sie gleichfalls an die von ihr analysierten (Kunst-)Projekte stellt. Denn »was wann wie politisch ist, muss immer wieder von Neuem ausgehandelt werden«. Eine reine Setzung – auch etwa qua Identität der Akteurinnen und Akteure – macht noch keinen politischen Akt aus. Vor diesem Hintergrund befragt die Autorin aktuelle künstlerische Projekte, die allzu oft den Anspruch stellen, politische Avantgarde zu sein, wodurch das Politische oftmals der Kunst subsumiert würde. Die Verbindung von Kunst, Theorie und Aktivismus sieht sie dabei als umkämpft, ausgehend von der Erweiterung des politischen Vokabulars Mitte der 1990er-Jahre um symbolische Guerilla-Interventionen. Dass beispielsweise Kanak Attak oder Kein
Mensch ist illegal »fälschlicherweise« als Künstler/-innengruppe verstanden wurden und werden, führt sie auch auf den Umstand zurück, dass Auftritte und Artefakte im Kunstkontext »zitatfähig« sind. Die Geschichte der Aushandlungen (auch mit anderen aktivistischen Gruppen) zu politischen Strategien und Inhalten bleibt in diesem Kontext der Bedeutungsproduktion allerdings ungeschrieben. Heidenreichs Skizzierung, wie im künstlerischen Feld symbolisches Kapital generiert wird, verweist wiederum auf den Text von Jens Kastner und bezeugt gleichzeitig, dass die Grenzen zwischen Kunst und sozialen Bewegungen fließend sind; sie werden bewusst im Sinne der Entwicklung neuer aktivistischer Formen ignoriert, hängen aber auch von den Zuschreibungen des jeweiligen Feldes ab. Für Nanna Heidenreich kann Kunst also am Aktivismus partizipieren, dieser brauche allerdings »mehr als eine Bühne, eine Leinwand oder einen Ausstellungsraum«. Gleichzeitig betrachtet sie das Kunstfeld als einen »Denkraum«, in dem die in aktivistischen Kontexten produzierten Bilder reflektiert, weitergedacht und archiviert werden können. Migration ist für Heidenreich
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dementsprechend bereits im Bild, in ihrem Text plädiert sie jedoch dafür, dass sie – weiter – politisch_künstlerisch aktiviert werden müsse. In der sozialwissenschaftlichen Ungleichheits- und Diskriminierungsforschung gilt leider längst, dass heute Pass und Visum die wichtigsten Instrumente zur Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit sind (vgl. Kreckel 2006). Im MainstreamDiskurs scheint die Unterscheidung in Bürger/-innen und NichtBürger/-innen nach wie vor legitim. Die Protestbewegungen der Refugees richten sich explizit gegen diese Trennung. Der Beitrag von Gin Müller berichtet über deren Aktionen in Wien und nimmt dabei die von Jens Kastner aufgeworfenen Fragen zu unterschiedlichen Anerkennungs- und Subjektivierungsweisen von Kunstfeld und sozialen Bewegungen auf. Müllers Text erörtert, wie mithilfe künstlerischer Felder, deren Anerkennungsmuster zwar »politi14
sche Ästhetik« in den letzten Jahren und Jahrzehnten auf- bzw. angenommen haben, bei denen aber – und das zeigt sein Beitrag eindrücklich – schlussendlich doch Grenzen des politischen Aktivismus deutlich werden, aktivistisch agiert werden kann. In seinem Protokoll der Ereignisse der Jahre 2012/13 beleuchtet er die unterschiedlichen Involvierungen von Kunstinstitutionen, Künstler/-innen und (Kunst-)Theoretiker/-innen in den Protest von Geflüchteten gegen das herrschende Grenz- und Asylregime und für Bleibe- und Arbeitsrecht. Nach der großes mediales Aufsehen erregenden Besetzung der Wiener Votivkirche und dem späteren Umzug der Refugees in ein leer stehendes Kloster engagierten sich zahlreiche Künstler/-innen und Kunstinstitutionen für den Protest. So wurde etwa einem Mitglied der Refugee-Bewegung im Rahmen der Wiener Festwochen eine Ausstellungsmöglichkeit für seine Fotografien vom Protest gegeben. Als »künstlerischer Liveact« erfolgte eine »Scheinbesetzung« des Ausstellungsortes, und
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es kam aufseiten der vorab nicht informierten Vertreter/-innen von Festwochen und Museumsquartier zu »Verzweiflungsbitten und Hinweisen zur reglementierten ›Gastfreundschaft‹«. Bereits an diesem Punkt gab es innerhalb der Bewegung Diskussionen über die Instrumentalisierung und Vereinnahmung der Proteste. Und genau »in diese Wunde« legt Gin Müllers Protokoll auch den Finger: Denn sich mit »radical chic« zu schmücken gehört längst zum guten Ton, gleichzeitig werden implizit und explizit Grenzen gesetzt, wie weit das politische Engagement gehen kann bzw. darf. Für uns steht dies im Spannungsfeld der Frage, ob Künstler/innen und Institutionen, in den Begrifflichkeiten Pierre Bourdieus, ihr symbolisches Kapital auf Kosten marginalisierter – und in diesem Fall von Abschiebung bedrohter – Gruppen steigern oder ob es gerade um das Teilen von symbolischem Kapital im Sinne eines politischen Ziels geht. Denn während Kunst- und Kulturprojekte geplant und ausgeführt wurden, kam es in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur österreichischen Nationalratswahl zur Inhaftierung und Abschiebung von acht Refugees. Und wiederum zeitgleich zur aufbrandenden öffentlichen Empörung wurden weitere Refugees wegen des Verdachts der Schlepperei ebenfalls medienwirksam inhaftiert. Die Frage, wie weit künstlerischer Aktivismus gehen kann, erfuhr mit der Besetzung der Akademie der bildenden Künste Wien ihre Zuspitzung. Gin Müller beschreibt in seinem Text ausführlich, inwieweit die Besetzung einer bekannten Kunstinstitution vor dem Hintergrund einer sich auflösenden Protestbewegung als Impuls für ein Wiederaufleben der Bewegung gesehen werden konnte. Da sich die Akademie der bildenden Künste im Vorfeld wie sonst keine vergleichbare Institution solidarisch zeigte, sollte eben nicht ein weiteres Kunstprojekt verfolgt, sondern durch eine Besetzung durch die Refugees selbst deren Handlungsfähigkeit bestärkt werden. Die Solidarität sollte also nicht nur symbolisch angenom-
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men werden, wie Gin Müller ausführt. Dementsprechend reflektiert der Beitrag, wie in einer Art »repressiven Solidarisierung« die Rektorin der Akademie zwar einerseits Verbundenheit mit den Forderungen der Wiener Refugee-Bewegung zeigte, gleichzeitig aber ganz klare Handlungen zur Räumung der Akademie setzte. Auf dem Spiel stand jedenfalls von Anfang an, ein bis dahin solidarisches Rektorat als prominente Unterstützung zu verlieren. Während Nanna Heidenreich die wohlwollende aber nicht intendierte Aufnahme von Kanak Attak in den Kunstbetrieb beschreibt, waren die Wiener Refugees mit ihrer Forderung nach Wohnraum nur kurzfristig geduldete Gäste einer Kunstinstitution. Marty Huber setzt sich in ihrem Beitrag mit Gay Pride Paraden und ihren Wurzeln in den Stonewall Riots auseinander. Dies fand ursprünglich im Format einer abendlichen performance lecture an der Akademie der bildenden Künste Wien statt. Spuren davon 16
finden ihren Widerhall in der textuellen und grafischen Ebene des Buchbeitrags. Das aktionistische Moment der Performance und deren komplexe Bedeutungsebenen zwischen Wissenschaft, installativer Gestaltung des Raumes und assoziativen Text- und Musikzitaten finden in der Buchform ihre Annäherung sowohl inhaltlich als auch gestalterisch in unterschiedlichen Textformen, Schriften, deren divergierenden Abständen und Größen, sowie in einer eigenständigen und ergänzenden Bilderfolge. Mit dem Song I feel love (Donna Summer) öffnet sich der Reigen zur komplexen Analyse von Gefühlen als »kulturellem Kitt« und »Klebstoff« bei der Schaffung von Kollektiven und deren Funktion in sozialen Bewegungen. Huber hebt die Bedeutung von Emotionen für die Ereignisse rund um die Stonewall Riots, deren Folgen in den Gay Pride Paraden und der Gegenbewegung Gay Shame hervor: Als bei den Razzien in der Bar Stonewall Inn 1969 in New York die Polizei, wie schon so oft, Verhaftun-
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gen vornehmen wollte, besonders von Menschen, die gegen die Vorschriften verstießen, die besagten, dass man mindestens drei Kleidungsstücke des »eigenen« biologischen Geschlechts tragen musste, kam es erstmals zu Widerstand. Von Wut getragen entstanden die Stonewall Riots – Aufstände und Proteste, die von neuem Selbstbewusstsein und von sozialer Erotik geprägt waren und die Scham der Betroffenen (Homosexuelle, Transpersonen etc.) transformierten, z.B. in Slogans wie »Stolz statt Scham«. Das als deviant besetzte Begehren wurde zu einer tragenden Stütze des gemeinsamen Protests. Im Lauf der Jahrzehnte sind die Gay Pride Paraden in einer neoliberalen Verwertungslogik angekommen, Homosexuelle wurden vermehrt als kaufkräftige Konsumentinnen und Konsumenten entdeckt. Als Folge dieser Entwicklung gründete sich 1998 die aktivistischen Gruppe Gay Shame in Brooklyn, die sich gegen die Kommerzialisierung der Gay Pride Veranstaltungen wendeten. Interessanterweise findet auf der begrifflichen Ebene ein Rückgriff auf eine Emotion statt, von der sich die Community ursprünglich entfernen wollte. Gefühle spielen für Marty Huber nicht nur in emanzipatorischen Bewegungen eine zentrale Rolle, sondern auch innerhalb divergierender Gruppen. Eine Aktion, die sich dieses Phänomens gezielt bediente, war die Rosa Lila Guerilla Love Attack im Rahmen der Pride Parade 2007 in Wien. Fotografierende und schaulustige Betrachter/-innen, die sich am Rande der Parade befanden, wurden herzlich umarmt und es wurde zu ihrem Outing gratuliert. Durch die emotionale Vereinnahmung wurden voyeuristische Blickposition durchbrochen, die Grenzen zwischen dem »Anderen« und der genormten Mehrheitsposition aufgelöst, und durch eine gezielte Verwirrung bzw. Überraschung wurden neue Perspektiven eröffnet.
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Irritierende Praktiken im Rahmen alltagskultureller Phänomene stehen auch im Mittelpunkt von Eva Egermanns Beitrag Ver-
wandelte Welten ohne Wunden. Über Crip, Pop- und Subkulturen, soziale Bewegungen sowie künstlerische Praxis, Theorie und Recherche. Sie interessiert sich als Künstlerin dafür, wie ideale Vorstellungen und normierte Bilder von Körpern auf Basis des politischen Unbewussten (Jameson) entstehen. Frederic Jameson beschreibt das Politische als ein Phänomen, das auch auf einer unbewussten Ebene unsere Bilder und Darstellungen durchdringt und sie zur ständigen Reproduktion zwingt. Dadurch sind visuelle und sprachliche Alltagsphänomene als sozial-symbolische Akte zu verstehen. Die Autorin begibt sich auf die Suche nach popkulturellem Material, das widerständig und (ver-)störend neue Interpretationsräume erschließt. Sie stellt in ihrem Beitrag irritierende Praktiken, soziale Bewegungen und alltagskulturelle Phänomene vor, deren Fokus auf Devianz, Krankheit und Behinderung liegt: von 18
Popsongs, wie Spasticus Autisticus (1981), der es sogar bis zum Verbot im Radio gebracht hat, bis hin zum Sozialistischen Patientenkollektiv (SPK). Letzteres entstand als ein Kollektiv von Ärztinnen/Ärzten und Patientinnen/Patienten und basiert auf der Erkenntnis, dass Krankheit nicht unabhängig von gesellschaftlichen, insbesondere kapitalistischen, Verhältnissen betrachtet werden kann. Neben popkulturellem Material und aktivistischen Formen skizziert Egermann ebenso theoretische Bezüge zu Devianz und Körper. Entlang der Definition der Disability Studies wird oftmals sogenannte »Behinderung« nicht als ein pathologischer Umstand, sondern als eine kulturelle Praxis der Ausschließung definiert. Wer von gesellschaftlicher Partizipation aus- oder eingeschlossen wird – Integration im Arbeits- und Sozialleben usw. – wird kontinuierlich anhand bestehender Normen aufs Neue ausverhandelt. Diese Sichtweise wird in der Crip Theory weiterentwickelt und mit den Ansätzen der Queer Theory verbunden. Bereits in der Namens-
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gebung bestehen strategische Parallelen zwischen den beiden theoretischen Zugängen: das »Ausgeschlossene/Verworfene« sich affirmativ anzueignen. Darüber hinaus geht es nach Egermann bei der Crip Theory um eine intersektionelle Verschränkung der Ungleichheitskategorien (wie Dis-/Ability, Sexualität usw.) und um eine Dekonstruktion bestehender sozialer Ordnungen. Diese Verschränkungen mit künstlerisch-aktivistischen Formen führt die Autorin in dem von ihr 2012 herausgegebenen Crip Magazine fort. Einer in der klassischen Diskriminierungsforschung nach wie vor verhältnismäßig wenig beachteten Kategorie widmet sich der Soziologe Andreas Kemper in seinem Beitrag. Als Ausgangspunkt seiner Überlegungen dient ihm die oftmals wahrnehmbare Ignoranz von Klassentheorien gegenüber Diskriminierungen. Letztere werden als Nebenwiderspruch abgetan, wie aber auch überwunden geglaubte Klassenverhältnisse in Diskriminierungstheorien. Vor dem Hintergrund empirischer Befunde zu Ausschlussmechanismen aufgrund der sozialen Herkunft im Bildungs- und Hochschulbereich argumentiert er, dass anstatt eines klassisch-marxistischen Basis-Überbau-Topos eine Topologie des Möglichkeitsraumes notwendig ist, um Klassenverhältnisse als veränderbar konzeptualisieren zu können. Diesen Möglichkeitsraum sieht er jedoch geprägt durch gesellschaftliche Traumata, die über Jahrhunderte die Arbeiter/-innenklasse mittels physischer, symbolischer und struktureller Gewalt formten. Die zentrale Frage für Kemper ist in diesem Zusammenhang, wie (Selbst-)Bilder von Individuen spezifisch markiert bzw. unmarkiert erscheinen. Auf Machiavellis Begriff Virtù zurückgreifend argumentiert er, dass es sich bei diesen Bildern um »virtùelle Bilder« handelt, da sie, analog zu Machiavellis Ausführungen, an die Macht der Herrschenden andocken, ihre Sichtweise übernehmen und so an der Virtù der Herrschenden teilhaben können. In einer »herrschaftsidentifizie-
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renden Selbstertüchtigung« werden also Bilder mit spezifischen intersektionellen Markierungen ständig (re-)produziert. Da dies, wie erwähnt, innerhalb bestehender gesellschaftlicher Machtverhältnisse passiert, plädiert Kemper in seinem Beitrag dafür, in der Verbindung von Kunst, Theorie und Aktivismus durch künstlerischsprachliche Interventionen in Texte sowie künstlerische Arbeiten die vertikalistischen Denkmustern dieser »virtùellen Bilder« umzuarbeiten. Nicht zuletzt, weil Traumatisierungen als »Schutzvorrichtungen« wirken, die zugrunde liegenden Kämpfe jedoch nach wie vor unabgegolten seien, plädiert er dafür, dass sich etwa studierende Arbeiter/-innenkinder politisch zusammenschließen, um »Möglichkeitsräume um das In-Möglichkeit-Seiende« zu erweitern. Dies verweist wiederum auf die Klammer, die die hier versammelten Beiträge umschließt: Gleichheit und Antidiskriminierung in das »In-Möglichkeit-Seiende« zu bringen.
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Abschließend möchten wir allen danken, die am Entstehen dieses Buch unterstützend beteiligt waren. Das Konzept der Publikation hat sich aus einer Ringvorlesung entwickelt, die im Wintersemester 2012/13 an der Akademie der bildenden Künste Wien mit zahlreichen Vortragenden zu den Wechselbezügen von Kunst, Theorie und Aktivismus abgehalten und mit Studierenden angeregt diskutiert wurde. Die Ringvorlesung wurde von Soma Ahmad, Petja Dimitrova, Alexander Fleischmann und Doris Guth konzipiert. Die ursprüngliche Initiative, sich konzentriert mit emanzipatorischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Perspektiven zu Ungleichheit auseinanderzusetzen, beruht auf einem Impuls von Jakob Krameritsch. Dank gilt auch den Sponsorinnen und Sponsoren, ohne deren Unterstützung dieses Buch nicht realisierbar gewesen wäre: Akademie der bildenden Künste Wien, im Besonderen Rektorin Eva Blimlinger; Gesellschaft der Freunde der bildenden Künste, Sylvia
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Eisenburger-Kunz; die Kulturabteilung der Stadt Wien, Wissenschafts- und Forschungsförderung, Prof. Hubert Christian Ehalt sowie Context XXI – Verein für Kommunikation und Information.
Literatur Butler, Judith (2013): »Reinszenierung des Universalen: Hegemonie und die Grenzen des Formalismus«, in: Judith Butler/Ernesto Laclau/Slavoj Žižek (Hg.), Kontingenz, Hegemonie, Universalität. Aktuelle Dialoge zur Linken, Wien/Berlin: Turia + Kant, S. 15–55. Kreckel, Reinhard (2006): »Soziologie der sozialen Ungleichheit im globalen Kontext«, in: Der Hallesche Graureiher 2006-4. Forschungsberichte des Instituts für Soziologie. Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, unter http://www.soziologie.unihalle.de/publikationen/pdf/0604.pdf vom 12.01.2015. Schaffer, Johanna (2008): Ambivalenzen der Sichtbarkeit. Über die visuellen Strukturen der Anerkennung, Bielefeld: transcript.
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Jens Kastner Über strukturelle Grenzen (hinweg) Was Kunstproduktion und soziale Bewegungen trennt und verbindet I. Einleitung (Universität – Kunst – Bewegung) Während der Studierendenproteste, die im Oktober 2009, von der Akademie der bildenden Künste in Wien ausgehend, den gesamten deutschsprachigen Raum erfassten (vgl. Wiener Kollektiv 2010, Kastner 2009a, Holert 2010a und 2010b), hing im Eingangsfoyer dieser Institution ein Transparent mit der fragenden Aufschrift »What do you represent?« Eine Frage, die von der Bewegung aufgeworfen und in ihr diskutiert wurde. Und die doch nicht neu war. In ihrer Arbeit »So Help Me Hannah: What Does This Represent/What Do You Represent (Reinhardt)« (1978–1984) hatte die feministische Künstlerin Hannah Wilke bereits vor (dem Hintergrund) der Frage posiert. Umgeben von Spielzeugwaffen, nackt in der Ecke eines Raumes mit weißen Wänden sitzend, thematisierte Wilke mit dieser Frage u.a. den männlichen Blick und die Verobjektivierung des weiblichen Körpers im Kunstbetrieb. Aber auch sie hatte die Frage nicht als Erste in die Kunst geschleust. Ihre Arbeit war bereits eine Reaktion auf ein Comic aus der Serie »How to look at Modern Art?« von Ad Reinhart (1946). In der aus zwei Bildern bestehenden Kurzgeschichte steht der prototypisch unverständige Betrachter vor einem abstrakten Gemälde und fragt: »Haha, what does this represent?«, woraufhin das Gemälde im zweiten Bild zurückfragt: »What do you represent?«
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Ad Reinhardt: What do you represent?, 1946
Studierendenprotest an der Akademie der bildenden Künste Wien, 2009
Hannah Wilke: What Does This Represent? What Do You Represent? (Reinhardt), 1978-84
Jens Kastner
Was Ad Reinhardt noch als Witz der Kunst(-rezeption) ausgewiesen sehen wollte, wird bei Wilke und im Unistreik von 2009 zur politischen Frage ausgeweitet: Deutlich verschränken sich Bewegungsmotive mit künstlerischen Diskursen, die Fragen nach der Repräsentation (was stellt es dar, wofür steht es/was stellst du dar, wofür stehst du?) stellen sich schließlich auf drei verschiedenen Ebenen: als Frage nach einer politischen Haltung, als Forderung nach angemessener Stellvertretung (von Frauen) in allen gesellschaftlichen Bereichen und als Fragen zu den Arten und Weisen der Darstellung.1 Diese Verschränkung ist jedoch alles andere als selbstverständlich. Um das zu behaupten, muss man keine Anhängerin/kein Anhänger der modernistischen Kunstauffassung sein, für die der Name Ad Reinhardt steht und für die die Frage nach politischen Intentionen oder Effekten der Kunst schon ein Kategorienfehler ist. Die These hier lautet: Es gibt vielfältige Verknüpfungen von 26
Kunstproduktion und sozialen Bewegungen, aber sie sind nicht selbstverständlich, nicht der Normalfall, sondern eher die Ausnahme. Es gilt also, sie weder zu ignorieren noch für selbstverständlich zu erklären, sondern sie als Besonderes zu konzeptualisieren. Der Kontext der Bildung (spätestens seit der Französischen Revolution wegen seiner Aufladung mit sozialen Ermächtigungs-, Aufstiegsund Transformationshoffnungen) – für den Zusammenhang von Kunst und sozialen Bewegungen scheinbar prädestiniert – ist nur einer der verschiedenen Bereiche, in denen dieses Besondere häufig zutage tritt oder auch plakativ formuliert wird.
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Repräsentationskritik beschränkt sich dementsprechend nicht auf die Frage, ob etwas Abwesendes angemessen dargestellt, vorgestellt und vertreten wird, sondern sie beginnt mit dem Hinweis darauf, dass es nichts außerhalb von Repräsentation(en) gibt, weswegen die verschiedenen Repräsentationskontexte und -prozesse untersucht werden müssen, und nicht das Verhältnis Wirklichkeit versus Darstellung/Vorstellung/Stellvertretung (vgl. auch Schaffer 2008: 83 ff.).
Über strukturelle Grenzen (hinweg)
II. Strukturelle Grenzen In den letzten Jahren hat es im Kunstfeld eine ganze Reihe aktivistischer Manifestationen gegeben, die Istanbul-Biennale von 2009 etwa, kuratiert vom Kollektiv »What, How and for Whom«, die Berlin-Biennale 2012 (von Kurator Artur ŻZmijewski) oder »Truth is concrete. Ein 7-Tage/24-Stunden-Marathon-Camp zu künstlerischen Strategien in der Politik und politischen Strategien in der Kunst« im Rahmen des Steirischen Herbsts 2012. Angesichts dieser Initiativen könnte der Eindruck entstehen, Kunst und politischer Aktivismus gehörten selbstverständlich zusammen. Dieser Eindruck aber trügt. Es gibt zwischen Kunst und politischem Aktivismus strukturelle Grenzen, oder – mit Pierre Bourdieu gesprochen – einen »strukturell bedingten Graben« (Bourdieu 2001: 399). Dieser Graben existiert mindestens in dreierlei Hinsicht. Erstens bestehen strukturelle Unterschiede zwischen Kunst und Aktivismus in Bezug auf die feldspezifischen Anerkennungsund Legitimationsmodi (also der Frage, wann eine Produktion gute Kunst bzw. gute Politik ist). Hier steht »ästhetisches Raffinement« (Bourdieu) der Einfachheit von Forderungen oder Losungen gegenüber: Die spezifisch kunstimmanente Bezugnahme, d.h. die ambivalente Expertencodierung, trifft auf die zwar spezifisch politischen, aber als solche mit dem Anspruch auf Allgemeinverständlichkeit und Klarheit auftretenden Forderungen und/oder Mottos der Bewegungen (»Mein Bauch gehört mir«, »Ya Basta!«, »Wir sind die 99 Prozent!« etc.). Ż Zweitens existiert der Graben in Form der je feldspezifischen Subjektivierungsweisen. Hier stehen individuelle Ausstellungen (im doppelten Wortsinne) kollektiven Organisierungen gegenüber. Die Formen, wie Menschen zu Subjekten gemacht werden, welche Handlungen, welche Arten von Denken und Fühlen gutgeheißen,
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gefördert, sanktioniert und als legitim angesehen werden, unterscheiden sich nach feldspezifischen Maßstäben. Das heißt weder, dass es in der Kunst keine kollektivistischen Ansätze oder Strukturen gibt, noch, dass es in den sozialen Bewegungen keine »herausragenden Individuen« oder »Führungspersönlichkeiten« gibt. Aber selbst Kunstkollektive sind dem System individueller Namen unterworfen. Man stelle sich den Ausstellungsbetrieb zeitgenössischer Kunst ohne die Nennung der Namen von Künstlerinnen/ Künstlern und Kuratorinnen/Kuratoren vor – was bleibt, ist nichts. 2 Sich soziale Bewegungen ohne Namen vorzustellen, ist hingegen relativ unproblematisch, und dies umso mehr, je stärker die Bewegungen sich basisdemokratischen oder gar libertären Prinzipien verpflichtet fühlen. Die Legitimierungsrichtung verläuft in beiden Feldern prinzipiell entgegengesetzt: Während von Künstlerinnen/Künstlern gefordert wird, dass sie sich – wenn auch mittlerweile programmatisch stil- und genreübergreifend – in inno28
vativer Affirmation bestimmten Kunstrichtungen zuordnen lassen und diese dann repräsentieren, ist umgekehrt die Repräsentation einer Bewegung durch eine Aktivistin/einen Aktivisten immer höchst legitimationsbedürftig. Grundsätzlich umstritten und umkämpft sind allerdings beide Repräsentationszusammenhänge. Die Entgegensetzung bezieht sich also auf die Funktionsweisen des jeweiligen Feldes und die darauf abgestimmte Art und Weise der Subjektivierung. Drittens äußert sich der Graben in den Klassendispositionen. Hier stehen die gebildeten und wohlhabenden Kunstfeldagentinnen/Kunstfeldagenten diversen, zum Teil von ärmeren Schichten getragenen, zum Teil aber auch milieuübergreifenden Mobilisie2 Ulf Wuggenig hebt in seiner empirisch gestützten Auseinandersetzung die Bedeutung der Namen in der »Reputationsökonomie« des Kunstfeldeshervor: »Für Künstler/-innen, Kurator/-innen, Kritiker/-innen, Galerist/-innen, aber durchaus auch für Sammler/-innen besteht die legitime Form der Akkumulation von symbolischem Kapital vor allem darin, sich einen bekannten und anerkannten Namen zu machen.« (Wuggenig 2012: 291)
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rungen gegenüber. Dieser Gegensatz, bezogen auf die sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen seit den 1970er-Jahren in Westeuropa und Nordamerika, ist sicherlich schwächer ausgeprägt, als bezogen auf einen globalen Maßstab. 3 Das heißt, die personellen Überschneidungen von Kunstproduzentinnen/Kunstproduzenten und Kunstpublikum auf der einen und politischen Aktivistinnen/ Aktivisten auf der anderen Seite sind in Nordamerika und Westeuropa wahrscheinlicher als etwa in Indien. Aktuelle soziologische Studien zum Kunstfeld spiegeln diese Gräben, indem sie ihren Gegenstand innerhalb von Institutionen (wie Museen, Galerien, Auktionen, Messen, Zeitschriften, Kunstuniversitäten, Ausstellungen/Biennalen etc.) und deren veränderter Bedeutung unter den Bedingungen der Globalisierung sowie innerhalb von Fragen der allgemeinen und spezifischen Publikumsrezeption verorten; soziale Bewegungen werden aber nicht thematisiert (vgl. exemplarisch etwa Thornton 2007, Mader/Wuggenig 2012). Auch in kunstspezifischen Büchern, Zeitschriften und Artikeln, in denen die Bezugnahme thematisch nahegelegen hätte, sind soziale Bewegungen nicht präsent. In Isabelle Graws Buch Die bessere Hälfte (2003) etwa, das von (nicht nur feministischen) Frauen in der Kunst handelt, kommen Feminismus und die Frauenbewegung(en) nur am äußersten Rande vor. In verschiedenen Artikeln, erschienen im DuMonts Begriffslexikon zur zeitge-
nössischen Kunst (2002), zu Begriffen bzw. Stichworten, wie etwa »Feminismus und künstlerische Praxis« (Marie-Luise Angerer),
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Für den deutschen Kontext zeichnen Michael Vester et al. (vgl. 2001: 253ff.) die Entstehung von neuen sozialen Milieus im Anschluss an die Protestbewegungen von 1968 nach. Hier liegt der Fokus jedoch eindeutig auf den Milieus und weniger auf den Bewegungen selbst. Das größer werdende »alternative Milieu« wuchs durch den Einfluss sozialer Bewegungen jedenfalls, stellt Vester an anderer Stelle fest, weniger in den oberen bürgerlichen Milieus, »sondern in der großen arbeitnehmerischen Mitte« (Vester 2010: 49). Letztlich ist aber wohl Wolfgang Kraushaar zuzustimmen, der konstatiert: »[E]ine differenzierte, empirisch verallgemeinerungsfähige Untersuchung über die Sozialstruktur der sogenannten Neuen Sozialen Bewegungen steht noch immer aus.« (Kraushaar 2012: 32)
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»Institutionskritik« (Johannes Meinhardt) oder »Partizipation« (Astrid Wege), die auch in einem Lexikon sozialer Bewegungen gut aufgehoben wären, ist von diesen ebenso wenig die Rede wie in einem Gespräch über »politische Kunst«, das die Zeitschrift Texte
zur Kunst (Nr. 80) in der Ausgabe zu ihrem 20-jährigen Jubiläum 2010 geführt hat (»Wenn Kunst auf Politik trifft.«).
III. Umgang mit der Verknüpfung von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen Die vorangegangenen Beispiele stellen schon einen Teil der Umgangsweise mit dem Zusammenhang von Kunstproduktion und sozialen Bewegungen dar. Im Wesentlichen gibt es hier zwei Herangehensweisen: zum einen die Ignoranz gegenüber diesem Zusammenhang und zum anderen, ganz entgegengesetzt zu den ge30
nannten Beispielen, die Behauptung seiner Allgegenwart.
III.1 Die Ignoranz Für die Ignoranzthese können im Rahmen dieses Aufsatzes bloß Indizien geliefert werden, indem auf Textstellen verwiesen wird, in denen eine Bezugnahme auf soziale Bewegungen aus verschiedenen Gründen nahegelegen hätte. Nur einige Beispiele: Trotz so verheißungsvoller Kapitelüberschriften wie »Revolution in Permanenz« (Gombrich 1996: 499) oder »Auf der Suche nach neuen Werten« (Gombrich 1996: 535), die Ernst Gombrich in seiner Ge-
schichte der Kunst (1996 [1950]) für die Kunst des 19. Jahrhunderts wählt, kommen darin etwa Arbeiter- oder Frauenbewegung nicht vor. Revolution und neue Werte finden vor allem in der Kunst statt. Zwar werden soziale Rahmenbedingungen stets erwähnt, um Veränderungen und Umwälzungen geht es aber vor allem in
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Hinblick auf technische Fragen der Bild-, Skulptur- und Architekturgestaltung (Licht, Farbe, Linie, Raumaufteilung etc.). Über die Haltung der Impressionistinnen/Impressionisten heißt es ausgerechnet am Beispiel des Malers Camille Pissarro (1830–1903): »[E]s kam ihnen darauf an, ihre Freude an der Welt des Sichtbaren dem Beschauer mitzuteilen.« (Gombrich 1996: 522) Der Anarchist Pissarro war über die Welt des Sichtbaren jedenfalls nicht ausschließlich erfreut, er floh aus Angst vor Repression gegen die Pariser Kommune (1871) aus Frankreich und unterstützte anarchistische Aktivistinnen/Aktivisten aus dem britischen Exil. Und selbst bei Herbert Read, neben seiner Profession als Kunsthistoriker immerhin bekennender Anarchist, vermisst man Hinweise auf außerkünstlerische, bewegungsmotivierte Einflüsse auf A Concise History of Modern Painting (Read 2006). Zwar beschreibt Read (2006: 314 ff.) am Beispiel der konzeptuellen Kunst der 1960er-Jahre künstlerische Versuche, die Kunst auf andere Felder auszudehnen und Forschungen aus der Linguistik, Philosophie und Soziologie zu integrieren; soziale Bewegungen kommen dabei aber auch bei ihm nicht vor (zu Read vgl. ausführlich Kastner 2012a). Dass nicht nur Kunst sich selbst ausweitet, sondern umgekehrt auch Methoden und Motive von Bewegungen aus in sie hineinsickern, wird von Gombrich und Read (und vielen anderen) nicht in Erwägung gezogen. Auf der einen Seite ignoriert also die Kunstgeschichte soziale Bewegungen. Auf der anderen Seite kommen Kunst und künstlerische Produktionen in der soziologischen und politikwissenschaftlichen Forschung zu sozialen Bewegungen (fast) überhaupt nicht vor. 4 4 In der Bewegungsforschung werden bis in die 1990er-Jahre die eher akteurszentrierten Framing‑/Interpretationsansätze von den eher strukturorientierten Ressourcenmobilisierungs- und Gelegenheitsstrukturansätzen unterschieden. Durchkreuzt werden diese vom Cultural-Politics-Ansatz, der, über die Fokussierung auf kulturelle Produktionen und Kämpfe um Bedeutungen, die Akteure/Akteurinnen und ihre Praktiken ebenso wie die Strukturen thematisiert.
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Selbst im Kontext jener theoretischen und empirischen Ansätze innerhalb der Bewegungsforschung, die sich verstärkt kulturellen Praktiken und Bedeutungsproduktionen widmen, ist Kunst kein Thema (vgl. etwa Alvarez/Escobar 1992, Alvarez/Escobar/Dagnino 1998, Alvarez/Dagnino/Escobar 2004). Auch in T. V. Reeds Studie (2005: xviii), die sich explizit der »variety of ways in which culture matters to movements and movements matter to culture« widmet, und Songs und Songwriting in der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung, die Poesie des Feminismus’, die Theatralität in der Black-Power-Bewegung und u.a. die Wandmalerei im Chicano-Movement untersucht, wird die bildende Kunst bloß gestreift. Reed (2005: 303) betont, wie auch Raymond Williams und Bourdieu, dass die politische Logik mit jener ästhetischer Objekte nur selten, wenn überhaupt jemals, übereinstimme.
III.2 Die Ubiquitätsthese 32
Der Herangehensweise, gar nicht oder kaum auf Bewegungsdynamiken für die Kunst oder den Einfluss von Kunstlogiken auf die Bewegungen einzugehen, steht gegenüber, diese Gegenseitigkeiten für allgegenwärtig oder sie in zentralen Aspekten gar für identisch zu halten. Der Philosoph Paolo Virno hat sich in verschiedenen Texten den Veränderungen der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Gegenwart gewidmet (vgl. Virno 2005, 2009, 2010). Die kreative, auf Austausch mit anderen ausgerichtete »Tätigkeit ohne Werk« (Virno 2005: 73), die heute, im postfordistischen Kapitalismus, das Paradigma der Arbeit ausmacht, findet ihr Muster laut Virno in der performativen künstlerischen Aktion. Diese habe sich gewissermaßen von der spezifischen zur allgemeinen Fähigkeit entwickelt. In einem ausführlichen Interview bezieht er diese Überlegungen auch direkt auf den Bereich der zeitgenössischen Kunst. Virno
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geht in diesem Gespräch von einer inhaltlichen Nähe zwischen künstlerischen Avantgarden und radikalen sozialen Bewegungen aus, die sich über ihre Angriffe auf gewohnte Denkweisen in sozialen Effekten gewissermaßen verwirkliche. Beiden, Kunstavantgarden und radikalen Bewegungen, gehe es darum, »to explain that the old standards are no longer valid and to look for what might be new standards« (Virno 2009: 19). Das ganze 20. Jahrhundert hindurch seien in der formalen Sphäre von Kunst und Literatur durch formale Neuerungen Vorschläge für die allgemeine kognitive und affektive Erfahrung gemacht worden. Was mit dieser Herangehensweise aber nicht thematisiert wird, ist, dass weder jede Kunstproduktion immer auf der Suche nach neuen Standards ist noch dass jeder formale Vorschlag immer neue Erfahrungen ermöglicht. Und zudem werden neue Erfahrungen von unterschiedlichen Leuten auf ganz verschiedene Arten gemacht. Der Philosoph Jacques Rancière hat bzw. umgeht ein ähnliches Problem. Immer bezieht er sich in seinen Schriften in emphatischer Weise auf die 68er-Bewegungen und deren Praxis einer neuen Form von Politik. In Abgrenzung zu Louis Althusser betont er deren Unabhängigkeit von kommunistischen Parteilogiken und -vorgaben einerseits und von der Ideen generierenden und epistemologischen Vormachtstellung der Philosophie andererseits (vgl. Rancière 2011a). Im Einklang mit dem Selbstverständnis der Revoltierenden sei Politik schließlich als »kollektive Erfindung und nicht als Machtergreifung« (Rancière 2011b: 193) zu verstehen. Dies bezieht sich auf die Formen des Denkens und Wahrnehmens im Allgemeinen. Neben der Auseinandersetzung mit dem, was Politik ausmacht, beschäftigt sich Rancière auch mit der Frage, wie im Kontext von, wie er sie nennt, »ästhetischen Regimen« Kunst als Kunst identifiziert und wie diese Identifizierung untergraben wird. Auch in der Rezeption von Kunst sieht er immer wieder die
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Möglichkeiten jener kollektiven Neuerfindungen, und zwar insofern, als Kunstpraxis die bestehenden Aufteilungen des Sinnlichen beschreibt, befragt und auch bekämpft. Ästhetische und soziale Emanzipationen gehen in den Praktiken ineinander auf, in denen der »Bruch mit den Weisen zu fühlen, zu sehen und zu sagen« (Rancière 2008: 47) vollzogen wird; ein Bruch also mit jenen, die die Identitäten im sozialen Gefüge bis dahin bestimmt haben. Solch ein Bruch, vollzogen von Kunstbetrachterinnen und Kunstbetrachtern im Museum, ist aber hinsichtlich der sozialen Ordnung als ganzer (auf die sich Rancière explizit bezieht) qualitativ und quantitativ etwas völlig anderes als ein Bruch, der von Tausenden Menschen in der gemeinsamen politischen Aktion (wie z.B. im Pariser Mai 1968) ausgeht. Diese Dynamik kann Rancières Modell nicht erfassen. Auch über das Wechselverhältnis von Kunst und sozialen Bewegungen lässt sich vor diesem Hintergrund kaum mehr behaupten, als dass es permanent besteht. 5 34
III.3 Die Ausnahmethese Es gilt ganz allgemein zu ergründen, wie und warum Kunstwerke einerseits auf wen wirken und wie und in welcher Form sich andererseits welche gesellschaftlichen Tendenzen in ihnen niederschlagen. Kunstsoziologie, schrieb etwa Arnold Hauser, dürfe sich nicht auf die Untersuchung der Einflüsse von Kunstwerken auf gesellschaftliche Entwicklungen beschränken, sondern müsse »Motive und Ziele, die im Prozeß der Entstehung, Veränderung und Differenzierung der künstlerischen Formen und Inhalte zur Geltung kommen« (Hauser 1983: 97) in den Blick nehmen. Motive und Ziele dieser Art wurden gemeinhin nicht als welche eingeschätzt, die aus allen sozialen Sektoren gleichmäßig und in glei5
Ausführlicher wird dieses Problem bei Rancière von Kastner 2012b behandelt.
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chen Anteilen in die Kunst einfließen. Vielmehr wurden sie als an Machtverhältnisse gekoppelt analysiert. Eine der wichtigen theoretischen Problemstellungen war nun, Modelle zu entwickeln, nach denen diese Beeinflussungen – nach der zunehmenden Irrelevanz der direkten Auftragsintention durch Adel und Kirche – zu beschreiben sind. Wenn auch die dominanten Ideen in der Kunst nur selten vulgärmarxistisch einfach als die Ideen der Herrschenden ausgegeben wurden, so richtete sich doch der kunstsoziologische Fokus stark auf die sozial dominanten Gruppen. Die zu Unrecht in Vergessenheit geratene deutsche Kunstsoziologin Hanna Deinhard etwa hatte betont, dass selbst wenn nicht einzelne historische Tatsachen, sondern allgemeine Strukturmerkmale im Bild zu finden seien, diese »nicht Ausdruck der ›ganzen‹ Gesellschaft sind, sondern Ausdruck (jeweils verschiedener) kulturell, wirtschaftlich, religiös führender Gruppen oder herrschender Schichten« (Deinhard 1967: 87). Und nicht zuletzt Pierre Bourdieu hat immer wieder gezeigt, dass es durch die enge Verbindung zwischen Künstlerinnen/Künstlern und deren Publikum stets die Denk- und Wahrnehmungsstrukturen der herrschenden Klassen sind, die sich im Kunstwerk ausdrücken, weil eben das Kunstpublikum stets ein sozial privilegiertes ist. Zwar warnt Bourdieu noch davor, Themen und Gehalte einer künstlerischen Arbeit ursächlich »direkt auf eine Gruppe« (Bourdieu 1993a: 205) im sozialen Raum zu beziehen. Er macht aber an anderer Stelle deutlich, dass es vor allem die Gebildeten (und damit primär die oberen sozialen Schichten) sind, die einen spezifischen Zugang zur Kunstwahrnehmung haben. Bourdieus Augenmerk liegt ja gerade darauf, diesen ausgebildeten, verkörperlichten »Grad der ästhetischen Kompetenz« (Bourdieu 1997: 169) als solchen zu beschreiben, da die Herrschenden ihn als naturgegeben zu verschleiern wissen, um ihre Überlegenheit nicht nur in Hinblick auf den Kulturgüterkonsum zu garantieren.
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Weil die dominanten gesellschaftlichen Gruppen aber weder einen homogenen noch einen dauerhaft stabilen Einfluss auf die Denk- und Wahrnehmungsweisen (und dementsprechend auch auf die Kunstproduktionen) haben und diese folglich nicht statisch, sondern stets umkämpft sind, müssen prinzipiell auch andere Gruppen als einflussreich in dieser Hinsicht gedacht werden. Es gibt permanent soziale Kämpfe um die legitimen Denk-, Wahrnehmungs- und Ausdrucksweisen, und sie finden in verschiedenen Feldern auf unterschiedliche Arten statt. Neben anderen sind soziale Bewegungen (häufig feldübergreifende) Akteurinnen dieser Kämpfe. Sie sind »sites for the production and reception of cultural texts« (Reed 2005: xvii) und spielen innerhalb sozialer »Kämpfe um Deutungsmacht […] eine – im doppelten Wortsinne – bedeutende Rolle« (Kastner/Waibel 2009: 28), d.h., sie erzeugen und haben Bedeutung. Die Spuren von Kampfeinsätzen sozialer Bewegungen finden sich offensichtlich bis indirekt auch in der 36
Kunstproduktion.
IV. Die Überwindung der strukturellen Grenzen in der Kunst Die Geschichte dieser inhaltlichen, motivischen und auch affektiven Ablagerungen sozialer Bewegungen ist also weder nicht vorhanden noch allgegenwärtig. Sie durchzieht aber als bedeutsame Ausnahme die gesamte Moderne bis in die Gegenwartskunst.
IV.1 Soziale Bewegungen im Kunstwerk In der Geschichte der Malerei sind die sozialen Bewegungen nicht selten ganz direkt thematischer Fokus. So weht etwa auf JeanJacques Davids Schwur im Ballhaus (1791) der Wind der Verän-
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derung von links nach rechts durch die Turnhalle, in der sich der Dritte Stand versammelt hat. In Honoré Daumiers Der Aufstand (um 1848) sind die kämpferisch gereckte Faust und der entsetzte Blick der gescheiterten bürgerlichen Mobilisierung von 1848 ins Bild gesetzt. In Diego Riveras Geschichte des Mexikanischen
Volkes (1929-1935) wird u.a. die Bewegung um den Bauernführer Emiliano Zapata als maßgebliche Akteurin der nationalstaatlichen Narration gezeichnet. Und in Jörg Immendorffs Wo stehst
du mit deiner Kunst, Kollege? (1973) wird das Verhältnis zwischen Kunstproduktion und politischer Mobilisierung selbst problematisiert. Aber auch in der Abstrakten Malerei ließen sich Motive und Grundfragen der sozialen Bewegungen nachweisen, sofern, wie Rosalind Krauss am Beispiel der Bilder von Piet Mondrian und Frank Stella betont, jede kulturelle Produktion »in der Schaffung eines imaginären Raumes [besteht]« (Krauss 2011: 46), in dem das Universum des Sehbaren mit dem individuellen Blick in Beziehung gesetzt werden kann.
Jörg Immendorff: Wo stehst du mit deiner Kunst, Kollege?, 1973
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In der Geschichte der Performance ist die Beschimpfung eines Priesters durch den Surrealisten Benjamin Péret (als Foto abgedruckt 1926 in »La Révolution Surréaliste«, Nr. 8) nicht ohne die linken, antiklerikalen sozialen Bewegungen der Zeit zu denken, denen sich die Surrealistinnen und Surrealisten, insbesondere Péret, verbunden fühlten. Gleiches gilt etwa für Joseph Beuys’ Postkarte »Demokratie ist lustig« (1972). Sie ist nach dem Versuch des Kunstprofessors entstanden, sämtliche Anwärter/Anwärterinnen in seine Klasse an der Kunstakademie aufzunehmen. Die Postkarte zeigt den lachenden Künstler, wie er durch ein Spalier von Polizisten den Betrachtenden entgegenkommt. Deren Interpretation bliebe ohne die bildungs- und demokratiepolitischen Mobilisierungen der späten 1960er- und
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Joseph Beuys: Demokratie ist lustig, 1973
Abbildungen Seite 33: Oben: Adrian Piper: Funk Lessons Plakat, 1983 Mitte und Unten: Adrian Piper: Funk Lessons Performances, 1983
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frühen 1970er-Jahre unvollständig bzw. falsch. Adrian Pipers Video »Funk Lesson« (1983) ist ebenfalls die Manifestation einer Kunstaktion mit Bildungsschwerpunkt, die explizit auch mit sozialen Bewegungen, hier dem musikalischen Einfluss der Bürgerrechtsbewegung, zu tun hat. 6 Auch institutionskritische künstlerische Praktiken wurden häufig rein kunsthistorisch rekonstruiert. Sie im Kontext der sozialen Mobilisierungen der 1968erJahre auch als verstrickt in die antiautoritäre Kritik der Institutionen außerhalb des Kunstfeldes zu interpretieren, erscheint jedoch nicht minder plausibel (vgl. hierzu Kastner 2009b). Luis Camnitzer (2007) etwa nennt seine Geschichte des Konzeptualismus in Lateinamerika im Untertitel »Didactics of Liberation« und bezieht sich damit auf den Anspruch auf öffentliche soziale Wirksamkeit, den die Kunst mit den sozialen Bewegungen ihrer Zeit gemeinsam gehabt hätte. In der künstlerischen Gebrauchsgrafik haben sich soziale 40
Bewegungen ohnehin zum Ausdruck gebracht. Im Kontext der Spanischen Revolution und des Spanischen Bürgerkriegs (1936– 1939) wurden aufseiten der Linken in prominenter und erstmals massenhafter Form durchaus auch gewohnte Denkweisen (etwa hinsichtlich der Geschlechterverhältnisse) zur Disposition gestellt. So trägt etwa auf dem Plakat »Les milicies, us necessiten!« eine Frau, die zur Mitwirkung in den anarchistischen Milizen aufruft, Blaumann und Waffe. Viele Plakate der Linken hatten auch bildungspolitische Inhalte. Aufklärung und Alphabetisierung wurden als erste Schritte zur emanzipatorischen Ermächtigung begriffen und die Ignoranz, wie es auf einem Plakat 6 Adrian Piper schreibt über ihre Arbeit: »Funk ist eine Sprache, die der interpersonellen Kommunikation und kollektiven Selbstdarstellung dient und deren Ursprünge in der afrikanischen Stammesmusik und den dazu praktizierten Tänzen liegen. Funk geht auf das steigende Interesse schwarzer MusikerInnen und anderer Bevölkerungsteile an eben diesen Quellen zurück, wie sie im Gefolge der Bürgerrechtsbewegung der sechziger und frühen siebziger Jahre verstärkt zu Tage gefördert wurden […].« (Piper 2002: 231)
Cristóbal Arteche: Les milicies, us necessiten!, 1936
Emory Douglas: Poster, 1969
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heißt, auf dem ein Speer mit Hakenkreuz Bücher durchbohrt, als Waffe des Faschismus. 7 Mittlerweile sowohl als Kunstform anerkannt als auch als Skateboard-Motive verkauft werden die Plakate des sogenannten Kulturministers der Black Panther Party, Emory Douglas. Die Organisation innerhalb der Bewegung der Afroamerikaner/Afroamerikanerinnen in den USA der 1960er-Jahre setzte als Teil des Kampfes gegen rassistische Diskriminierungen und für Gleichberechtigung ebenfalls stark auf Bildung. Auf dem vorangegangen Plakat von 1969 sind die Zeichnung einer Frau und das Foto eines Mannes auf gelbem Hintergrund montiert. Beide sind in ermächtigter Pose mit Gewehr abgebildet, die Frau hält in der linken Hand ein Buch mit dem Titel »Black Studies«. In einem Text in der rechten oberen Bildhälfte wird »education for our people« gefordert (vgl. Lampert 2013: 199 f.). Hinsichtlich der Genres als Mittlerposition zwischen figurativer und konzeptueller Kunst sowie Gebrauchskunst sind die Plakate zu betrachten, die Barbara Kruger 1989 zur Mobilisierung gegen die Verschärfung der Abtreibungsgesetze in den USA einbrachte (»Your body is a battleground«). Sie ohne die frauenbewegten Mobilisierungen und Slogans interpretieren zu wollen, wäre ganz offensichtlich sinnlos.
IV.2 Feminismus und die Strukturierung der visuellen Erfahrung An dieses letzte Beispiel anknüpfend, werden im Folgenden noch einige weitere Beispiele für die Wechselbeziehung zwischen feministischer Bewegung und feministischer Kunst diskutiert. Jede soziale Mobilisierung ist laut Bourdieu (hier bezogen auf die Arbeiterklasse 7 Eine Auswahl von anarchistischen Plakaten aus dem Bürgerkrieg findet sich hier: http://anarquismo.jimdo.com/carteles-guerra-civil-española/ vom 13.12.2013.
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Barbara Kruger: Untitled (Your body is a battleground), 1989
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und die Arbeitskämpfe) abhängig »von der Existenz eines symbolischen Apparats zur Produktion von Instrumenten der Wahrnehmung und des Ausdrucks der sozialen Welt« (Bourdieu 1993b: 250). Das gilt auch für die feministischen Bewegungen, die auf die Mittel der Wahrnehmungen abzielten, etwa indem sie die Frage der Abtreibung als eine um das Selbstbestimmungsrecht von Frauen formulierten oder indem sie das Thema Hausarbeit als weit über den sogenannten Reproduktionsbereich Hinausreichendes durchzusetzen versuchten. Feministische Kunstproduktion blieb nicht auf die Themen »Geschlecht« oder gar »Weiblichkeit« beschränkt, sondern weitete für die Analyse der Gegenwart wesentlich das aus, was der Kunsthistoriker Michael Baxandall für die Renaissance gezeigt hatte, nämlich dass die Wahrnehmungsweisen der Menschen von unterschiedlichen »visuellen Erfahrungen strukturiert« (Baxandall 1984: 58) werden. Die Strukturen der visuellen Erfahrungen, die kollektiven Prägungen des Blicks, beruhen auf klassenbasierter, ethnisierter und geschlechtlicher sozialer Herkunft und bringen diese zugleich zum Ausdruck. Der Umgang mit diesen Differenzen im »weißen Mittelschicht-Feminismus« wurde bereits mit Beginn der 1970er-Jahre von Schwarzen Frauen und Frauen kritisiert, deren geografische Herkunft nicht jene Westeuropas oder Nordamerikas war (und ist) (vgl. Reilly 2007: 28 ff.). Diese Kritik machte sich ganz konkret an der Unterrepräsentation letztgenannter Frauen in Ausstellungen etc. fest, richtete sich aber auch allgemein gegen weiße und bürgerlich dominierte Blickregime. Sie blieb keinesfalls auf das Kunstfeld beschränkt, denn die etwa von der Theoretikerin bell hooks aufgeworfene Frage, »wie Beherrschung und Darstellungsform ineinandergreifen« (hooks 1994: 11), betrifft sämtliche Bereiche des Sozialen. In den feministischen Bewegungen außerhalb des Kunstbereiches wurde diese Kritik ebenso angebracht und diskutiert wie innerhalb der feministischen Theorie, in der mit dem Erstarken poststrukturalistischer Ansätze gegen unhinterfragt identitätspolitische Positio-
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Mierle Laderman Ukeles: Hartford Wash: Washing, Tracks, Maintenance: Outside, 1973
nen eingeklagt wurde, »gegenüber den totalisierenden Gesten des Feminismus selbstkritisch [zu] bleiben« (Butler 1991: 33). Auf die Struktur der visuellen Erfahrungen und die darin enthaltene und reproduzierte Verknüpfung von Herrschaft und Darstellungsform gingen sowohl feministische Bewegungen als auch feministisch inspirierte Künstlerinnen ein. Diese Thematisierung bestand u.a. darin, die eigene künstlerische Arbeit im Kontext gesellschaftlicher Arbeitsteilung zu reflektieren. Mierle Laderman Ukeles verfasste 1969 das »Maintenance Art Manifesto«, in dem sie beschrieb, dass die großen Schöpfungen
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Martha Rosler: Semiotics of the Kitchen, 1975
der Moderne nur auf der Grundlage von stupiden und nicht anerkannten Instandhaltungsarbeiten (maintenance work) entstehen konnten. Sie führte in den folgenden Jahren verschiedene »Maintenance Art Performances« durch, in denen sie Museumsböden und -treppen putzte (»Bodenmalerei«) oder Vitrinen entstaubte (»Staubmalerei«). Analog zum Beginn der Zweiten Frauenbewegung in Westeuropa und Nordamerika ging es darum, die geschlechtlich formierte und sozial wie ökonomisch sehr unterschiedlich bewertete Arbeit offenzulegen. 8 In Martha Roslers »Semiotics of the kitchen« (1975) steht die Künstlerin als Hausfrau in einer Küche und führt ein Alphabet von
8 Laderman Ukeles führe vor, schreibt Ines Kleesattel in einer Besprechung zu einer aktuellen, retrospektiven Ausstellung, »wie eine strukturell ›feministische‹ Perspektive die Fundamente von kultureller Produktion und sozialer Ökonomie auf eine Weise thematisiert, die auch heute alles andere als von gestern ist« (Kleesattel 2013: 57).
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Andrea Geyer: Intaglio #4 Audrey Munson, 2008
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Küchengeräten vor. Auch hier geht es um feministische Bewegungsmotive, ohne dass spezifische künstlerische Kontexte abgeschliffen werden: Roslers Performance ist zugleich eine Persiflage auf Kochshows, mit der didaktischen Vorführung der Geräte auch Aufklärungsfernsehen, und wegen des Titels ein ironischer Kommentar zur damals erstarkenden semiotischen Lesart von künstlerischen Arbeiten. Das feministische Künstlerinnen-Duo El Polvo de Gallina Ne-
gra (Maris Bustamante und Mónica Mayer, 1983–1993) untersuchte in verschiedenen Performances die Arbeitsbedingungen von Frauen im Kunstfeld. Bereits der Name dieses ersten feministischen Kunstkollektivs in Mexiko ist eine ironische Intervention in die Politiken des Sehens – das sogenannte Pulver der schwarzen Henne, das auf manchen mexikanischen Märkten in kleinen Tüten von Wahrsagerinnen verkauft wird, dient u.a. der Abwendung des bösen Blicks. Ausgehend von den Erfahrungen, die das Frau-Sein
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in einer patriarchalen Gesellschaft mit sich bringen, war es, basierend auf einer feministischen Perspektive, eines der erklärten Ziele des Duos, »Blicke auf die visuelle Welt zu transformieren und damit die Realität zu verändern« (online 9). Die Arbeit »¡Madres!« (1984) bestand aus mehreren Elementen – Lesungen, Performances, einem TV-Auftritt – und reflektierte das Bild von Mutterschaft ebenso wie die (Un-)Vereinbarkeit der Rollen als Mutter und Künstlerin. In ihrem mehrteiligen »The Audrey Munson Project« (20042008)10 widmete sich Andrea Geyer dem Leben der Schauspielerin Audrey Munson (1891–1996), die als Fotomodell in den 1920erJahren »Queen of the Artists’ Studios« in New York war. Munson diente vielen Statuen im öffentlichen Raum Manhattans als Modell, fiel aber Anfang der 1930er-Jahre einer Verleumdungskampagne zum Opfer und verbrachte daraufhin mehr als 60 Jahre ihres Lebens in einer psychiatrischen Anstalt. Auf Geyers Fotoserie »Intaglio. Audrey Munson« (2008) sind verschiedene nach Munson gefertigte Büsten und Statuen einzeln und in Schwarzweiß zu sehen, auf den Glasrahmen der Fotos sind Bilder von Aktionen und Demonstrationen der Ersten Frauenbewegung eingraviert. Die Geschichte des einen Modells lässt sich auf diese Weise nur durch die Geschichte der sozialen Bewegungen für die Rechte der Frauen hindurch lesen. Diese künstlerischen Aktionen fokussieren nicht nur die spezifische Rolle, die der Reproduktionsarbeit innerhalb des künstlerischen Feldes zukommt. Sie reflektieren auch die allgemeine ge9 Die beiden anderen erklärten Ziele bestanden darin, erstens »das Bild der Frau in der Kunst und den Medien zu analysieren« und zweitens »die Partizipation der Frau in der Kunst zu erforschen und zu fördern« (Archivo Virtual – Artes Escénicas, http://artesescenicas.uclm.es/index.php?sec=artis&id=149 vom 13.12.2013). 10 »The Audrey Munson Project« besteht aus verschiedenen Fotoserien und einem Künstlerinnenbuch, vgl. www.andreageyer.info/projects/audrey_munson/munsonmain.htm vom 13.12.2013.
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sellschaftliche Bedeutung der Reproduktionsarbeit und knüpfen damit an ein zentrales Thema der Frauenbewegungen der 1970erJahre an. Damit werden nicht automatisch die theoretischen Grundannahmen jenes Feminismus übernommen, sondern ebenfalls reflektiert, bearbeitet und ergänzt. Inhalte und Motive aus den sozialen Bewegungen werden in der Kunst transformiert und speisen sich durch diese neue Kontextsättigung wieder verändert in die Theoriegeschichte ein. Über das Mittel der Performance wird etwa – vor allem bei Rosler und Ladermann Ukeles – der performative Aspekt der Einübung und der Aufführung von Geschlechternormen betont, der für die queer-feministischen Ansätze der 1990er-Jahre so wichtig wurde. Geschlechtliche Normen und ihre Aufführung hängen mit der Reproduktion in der kapitalistischen Arbeitsteilung eng zusammen, sie sind gewissermaßen aufeinander abgestimmt. Insbesondere materialistische Feministinnen haben auf diesen Zusammenhang immer wieder hinge50
wiesen: »Aus der Perspektive eines materialistischen Feminismus ist die Geschlechternorm so nichts anderes als das Qualitätsprofil einer Stellenausschreibung; die geschlechtliche Sozialisation eine Berufsausbildung.« (Kitchen Politics 2012: 20) Damit ist, wenn auch vielleicht etwas ruckartig, der Bogen zur Frage der Bildung wieder gespannt. Sozialisation und Bildung machen uns nicht nur zu geschlechtlichen Wesen, sondern passen uns auch in die kapitalistische Verwertung ein. Aber sie tun das nie automatisch und gleichförmig, sondern immer auf der Grundlage von Kämpfen um ihre Mittel, Formen und Inhalte und vermittelt über Institutionen (u.a. Familie, Schule, Universität).
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V. Kunst – Bewegung – Universität Grob gesprochen sind öffentliche (Bildungs-)Institutionen immer beides: einerseits Disziplinierungsanstalten, Zurichtungsapparate, die diejenigen, die sie durchlaufen, einpassen sollen in das jeweilige gesellschaftliche große Ganze. Andererseits ist mit ihnen aber immer auch ein Gleichheitsanspruch verknüpft, eine Hoffnung auf sozialen Ausgleich und (individuellen) gesellschaftlichen Aufstieg. Dass die sozialistische Gleichung »Mehr Bildung = mehr soziale Gleichheit« aufgehen kann, ist nicht unbedingt widerlegt. Dennoch hat sie etwas an Strahlkraft eingebüßt. Zumindest insofern sie als Ermöglichung des Zugangs zu Institutionen verstanden wird, wie es etwa im Gemälde des Muralisten David Álfaro Siqueiros an der Außenwand des Rektorats der größten Universität Lateinamerikas, der UNAM in Mexiko-Stadt, formuliert ist, das den Titel trägt:
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David Siqueiros: El pueblo a la universidad, la universidad al pueblo, 1952
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»Das Volk in die Universität, die Universität dem Volke« (1952– 1956). Die Institution soll in diesem Modell schließlich »anders«, gewissermaßen von außen (vom bisher ausgeschlossenen Volk, statt von den Eliten) besetzt werden. So einfach, als Prozess des Kaperns und der Masseninklusion, lässt sich die Frage nach dem Umgang mit den Institutionen wohl gegenwärtig nicht mehr beantworten. Statt mit einem Bildungssystem der Eliten, dem »das Volk« gegenübersteht, haben wir es eher mit einer Universität im »Modus der Modulation« (Raunig 2012: 41) zu tun: In sie kommen wir nicht von außen, sondern von innen, denn sie integriert uns bereits weit vor dem Eintritt in die konkrete Bildungsinstitution und zapft kreative Wissensproduktion ebenso an, wie sie neue Formen der Disziplinierung implantiert. Dieser Umstand erfordert die Suche nach neuen Antworten auf die eingangs aufgeworfene Frage nach Repräsentationsmodi – Antworten, die hier nicht mehr gegeben werden können. 52
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Anette Baldauf Girl Aktivismus1 März 2012, in einem Wahllokal in Moskau: Drei Frauen betreten den Raum, sie ziehen ihr T‑Shirt aus und entblößen ihre nackten Brüste. Auf ihrem Oberkörper steht in großen, schwarzen Buchstaben: »I steal for Putin.« Mit dem Einsatz ihrer Körper protestieren die Frauen gegen eine Scheinwahl, die den Präsidenten Russlands für eine dritte Amtsperiode legitimieren soll. Die Frauen nähern sich den Wahlurnen, schreien und schimpfen. Innerhalb weniger Minuten werden sie von bewaffneten Sicherheitsbeamten vom Ort entfernt. Einen Monat zuvor, in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale: Sechs Frauen, gekleidet in bunten Strumpfhosen, farbigen Kleidern und Balaklavas, verbeugen sich vor dem Altar. Sie bekreuzigen sich und stimmen zum Gebet an: »Jungfrau Maria, Mutter Gottes, entferne Putin.« Der Chor der Frauen singt erst sanft und zurückhaltend, dann geben aggressive Gitarrenriffs und Drumbeats den Ton an. Eine der Frauen, ihre Faust im Zorn erhoben, wütet: »Die Kirche lobpreist die faulen Diktatoren.« Zwei feministische Interventionen, ein übergeordnetes Ziel, zwei radikal unterschiedliche Taktiken. Das ukrainische Frauenkollektiv Femen setzt den nackten Körper der Frau als Werkzeug ein, um auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen. Das Kollektiv weiß um die Konditionen einer kurzweiligen Ökonomie der Aufmerksamkeit. Für eine auf Spektakel ausgerichtete 1
Eine erste Version dieses Artikels veröffentlichte ich gemeinsam mit Katharina Weingartner in Mania, Thomas et al. (Hg.) (2013), ShePOP. Frauen. Macht. Musik, Gronau: Telos Verlag, S. 41–53.
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Berichterstattung setzen sie sich aufsehenerregend in Szene. Sie nennen sich »feministische Hooligans«, sie machen Lärm, schreien, kreischen und schlagen um sich. Ihre Inszenierungen versuchen, aus dem nackten Frauenkörper Kapital zu schlagen, und hoffen diesen im Ringen um die Rechte der Frauen in eine bedeutende Währung des politischen Kampfes umzusetzen. Sie wollen die Zeichen des Sexismus so einsetzen, dass sie zu ihren Gunsten arbeiten. Zwei Mitglieder von Femen, Xenia und Nega, erklären in einem Interview mit IEET (Institute for Ethics and Emerging Technologies) im Jänner 2014: »We do not use violence because our naked bodies speak for ourselves: they are our manifestos and our battleground. Our breasts are our weapons only because established power sees them as such. Nature gives us this weapon because the social, political and economical rules, all governed by a conventional morality, 60
criminalizes our attempt towards liberation.« (Pellisier 2014: o.S.)
Im Gegensatz dazu sind die Performances von Pussy Riot völlig entsexualisiert: Ihre Interventionen greifen auf kein sexualisiertes Vokabular zurück, es gibt keine sexuell aufgeladenen Gesten und keine nackte Haut. In ihren Performances gibt es keine sexualisierten Körper; um genauer zu sein, in ihren Performances gibt es gar keine individuellen Körper. Die Körper der Aktivistinnen sind nicht nur verhüllt, sie sind so eingesetzt, dass sie Teil einer Gemeinschaft an unzähligen Körpern sind, d.h., sie treten als Teil eines kollektiven Körpers auf. »Pussy Riot is a pulsating and growing body« (Langston 2012: o.S.), erklärt ein Mitglied in einem Interview mit dem US-Lifestyle-Magazin Vibe im Jahr 2012. »We have nothing to worry about, because if the repressive Putinist police crooks throw one of us in prison, five, ten, 15 more girls will put on colorful balaclavas and continue the fight against their symbols of power.« (Ebd.)
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Der Spiegel 33/2012
Und dennoch – ein halbes Jahr nach den Moskauer Interventionen finden sich die Aktivistinnen von Pussy Riot und Femen in einem verwandten Kontext wieder: Eine Serie medialer und politischer Verschiebungen macht es möglich, dass die Protagonistinnen beider Initiativen nach demselben, altbekannten Maßstab gemessen werden. Das Foto einer Femen-Aktivistin, blond, schlank, mit einem rosaroten Rosenkranz im Haar und die Faust erhoben zum Kampf, gewinnt den World-Press-Foto-Preis 2012, während das Porträt einer Pussy-Riot-Protagonistin, im sanften Weichzeichner, mit Blick nach oben gerichtet, das Cover zahlreicher Mainstream-Zeitschriften ziert. Sind feministische Aktivistinnen nur hinter Masken sicher?
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Free Pussy Riot Im August 2012 werden drei Frauen von Pussy Riot mit Verweis auf das Verbrechen des religiös motivierten Hooliganismus zu zwei Jahren Haft in einer Strafkolonie verurteilt. Yekaterina Samutsevich fasst zusammen: »We have won because the system cannot hide the repressive nature of this trial.« (Samutsevich zit. in Gessen 2014: 220) Unmittelbar nach ihrer Verurteilung veröffentlicht das Kollektiv Pussy Riot ihre erste Single. Ihr könnt uns nicht einsperren, machen die Frauen mit ihrer Aktion deutlich und feiern Abschied von einem Regime, das von feministischen Kräften verdrängt wird. Das Video kombiniert die Aufnahmen der Aktivistinnen bei ihrem Punk-Gebet in der Kathedrale mit den Dokumentationen zahlreicher internationaler Solidaritätskundgebungen: »Free Pussy Riot« steht auf der Haut, dem Rücken, den Armen und Fingerknöcheln der anonymen Gestalten. Einige Tage 62
vor dem Gerichtsurteil veröffentlichten die Musikerin und Performancekünstlerin Peaches und ihre Kollaborateurin Simonne Jones »Free Pussy Riot« – in dem Song, Video und der Petition fordern sie die sofortige Rücknahme der Anklage. Begleitet von einem kräftigen Beat, bekundet darin eine Armee von Pussy-Riot-Aktivistinnen und -Aktivisten ihre Solidarität: »Anarchists, feminists, what we need!«, fordern sie und fügen hinzu: »Here’s the pitch/ here’s the switch/Put Putin on a stick and play Burn the Witch!« In zahlreichen westlichen Städten organisieren Feministinnen FreePussy-Riot-Veranstaltungen, Videos werden verbreitet, Petitionen zirkulieren. Ein breites Netz an Solidarität entspinnt sich innerhalb weniger Tage über nationale Grenzen hinweg. Die Aktionen folgen dem genuinen Bedürfnis, ein Zeichen zu setzen, ebenso wie dem
Videostills auf nächster Seite: Pussy Riot: Punk Prayer, 2012, Quelle: Youtube
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Umstand, dass die Unterstützer/‑innen sich vom Konzept, der Sprache und der Choreografie der Künstlerinnengruppe direkt angesprochen fühlen. In die Serie der internationalen Protestaktionen, die der Verurteilung der Pussy-Riot-Aktivistinnen folgten, mischten sich zweifelsohne Stimmen mit antirussischen Sentiments und westlichem Imperialismusgehabe sowie Reminiszenzen an den Kalten Krieg. Akteurinnen und Akteure der globalen Medienindustrie versuchten, über Branding, Celebrity Endorsement und Product Placement aus den begehrten Zeichen des Widerstands Kapital zu schlagen, und auch feministische Unterstützer/-innen machten sich über die Zeichen des Radikalismus her. Vor diesem Hintergrund sahen zahlreiche Kritiker/-innen im Phänomen Pussy Riot ein weiteres Beispiel für die Kommerzialisierung von Dissens: Westliche Unterstützer/-innen rissen Pussy Riot aus dem Zusammenhang, machten aus den Protagonistinnen revolutionäre Scha64
blonen, die sie zur Verkörperung ihrer eigenen politischen Projektionen einsetzten (vgl. Kendzior 2012: o.S.). Aber das Phänomen Pussy Riot macht es möglich, auch eine völlig andere Geschichte zu entwerfen: eine Geschichte, die sich dafür interessiert, wie feministische Bewegungen über räumliche Distanzen und kulturelle Differenzen hinweg in Kontakt treten, wie sie kooperieren und kollidieren, sich unterstützen, herausfordern und eine neue, gemeinsame Schnittstelle hervorbringen.
Pussy Riot und Riot Grrrl Es ist eine der zentralen Stärken des Kollektivs Pussy Riot, dass es aus dem Fundus unterschiedlichster politischer und künstlerischer Positionen schöpft. Die Aktionen mischen Referenzen zum russischen Kanon, zur Geschichte der Sowjet-Dissidenz und zum
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Moskauer Konzeptualismus mit dem auch westlichen Kritikerinnen und Kritikern vertrauten Kontext des deutschen Existenzialismus, der Queer Theory und dem feministischen Aktivismus. »A lot of credit certainly goes to Bikini Kill and the bands in the Riot Grrrl act«, erklärte eine Pussy-Riot-Aktivistin in einem Interview im Jahr 2012. »We somehow developed what they did in the 1990s, although in an absolutely different context and with an exaggerated political stance, which leads to all of our performances being illegal.« (Langston 2012: o.S.) Dieser Bezug überraschte viele, insbesondere jene, die Pussy Riot mit russischem Aktionismus und Riot Grrrl mit Girl-Kick-AssSlogans, babyrosa Haarspangen und eng anliegenden T-Shirts in Verbindung brachten. In ihrem Bezug zu Riot Grrrl brachte Pussy Riot wiederholt die frühen 1990er-Jahre ins Spiel, als eine Underground-Punkrock-Szene in Olympia, Washington, und eine geografisch dislozierte Hip-Hop-Szene begann, die Position »Girl« in den Mittelpunkt ihrer interventionistischen Aktionen zu stellen. Während Erstere sich bald formal organisierte, mit einem medienwirksamen Eigennamen – Riot Grrrl –, einem ausformulierten Manifest und sogenannten »chapters«, also lokalen Verbänden in zahlreichen US-amerikanischen Städten, wurde die zweite Gruppe, jene der Hip-Hop-Akteurinnen, signifikanterweise selten im Kontext des weitläufigen kulturellen Aufstands junger Frauen verortet (vgl. Baldauf/Weingartner 1998). Wenngleich beide Gruppen wenig personelle Überschneidungsfläche aufwiesen und Hybridisierungen lange eine Rarität blieben, war den beiden Kontexten doch gemein, dass die Protagonistinnen in einer sich zunehmend ausweitenden Bewegung die Bedeutung des Feminismus neu zu definieren versuchten. Als Töchter von Frauen, die sich mit der Zweiten Frauenbewegung identifiziert hatten, setzten sie ihre Agenden visuell und akustisch in Szene, hievten ihre Botschaften auf die Bühnen der Mädchen- und Frauenkultur und brachten da-
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bei altbekannte Dramen der Ersten und Zweiten Frauenbewegung erneut zur Aufführung. Wenn also die Protagonistinnen von Pussy Riot von einem Erbe der Riot Grrrls sprechen, was genau hat Pussy Riot von Riot Grrrl gelernt? Und, nun aus der Perspektive des Westens gefragt, welche Lektionen können Nachfolgerinnen der Riot Grrrls von Pussy Riot lernen? Riot Grrrl brachte in den frühen 1990ern Punkrock erneut zum Erblühen: Eine »girlaffirmative« Nachricht strahlte von den Bühnen der Musikklubs in den Alltag vieler junger Frauen, wo diese einzeln ebenso wie im Kollektiv Musik machten, Fanzines herstellten und ihre Versionen des Feminismus diskutierten. Die dominanten Medien, Musikmagazine und Fanzines experimentierten mit einer Neudefinition der Subjektposition »Mädchen«; die Techniken des Selbst inkludierten Wut, Witz, Selbstverteidigung, Geschlechterirritation und ein unterstützendes Netzwerk von Kollaborateurinnen. »Rebel Girl, you are the queen of my world, I know I want 66
to take you home«, schwärmte Kathleen Hanna von Bikini Kill im Song »Rebel Girl« (1993), und zwei Jahre später feierte Salt ’n’ Pepa mit dem Lied »Ain’t Nuthin’ But A She Thing« (1995): »It’s a she thing. So you go girl, it ain’t no man’s world, you can do anything, do what you feel.« Pussy Riot und Riot Grrrl teilen ein Interesse an der Verknüpfung von Feminismus und Antikapitalismus. Im Riot Grrrl Manifesto heißt es: »BECAUSE we hate capitalism in all its forms and see our main goal as sharing information and staying alive, instead of making profits or being cool according to traditional standards.«2 Riot Grrrl verschrieb sich dem Aufbau alternativer Mittel zur Produktion und Distribution. Die Bewegung nährte eine alternative Kultur, die das Do-it-yourself (DIY)-Prinzip hochhielt und dieses möglichst breit gefächert in den Alltag zu integrieren versuchte. 2 Riot Grrrl Manifesto, unter http://onewarart.org/riot_grrrl_manifesto.htm vom 25.08.2014.
Riot Grrrl Manifesto, ca. 1991
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Sie adressierte junge Mädchen als Agentinnen ihrer eigenen ebenso wie breiter gedachter, sozialer Transformationen. Nadya Tolokonnikova, Yekaterina Samutsevich, Maria Alyokhina und einige andere Frauen gründeten Pussy Riot im Jahr 2011. In ihrem Buch Words Will Break Cement. The Passion of Pussy
Riot (2014) rekonstruiert Marsha Gessen die erklärte Mission der Gruppe: Ihr Ziel war es, so Gessen, eine schlafende Masse aufzuwecken, und zwar mit ohrenbetäubendem Lärm. In einem politischen System, das auf Lügen und Heuchelei aufbaut, meint Gessen, diskreditiert die Sprache der Lüge auch die Sprache der Kritik und Konfrontation. »There were no words left« (Gessen 2014: 35), erklärt sie – was bleibt, sind rotzige Punkrock-Gesten. Pussy Riot trat erstmals zu Beginn des Wahlkampfs im November 2011 öffentlich in Erscheinung: »Free the Cobblestones« war eine Aktion in der Moskauer U-Bahn und verwies auf die Farce der Inszenierung freier Wahlen. Im Jänner 2012 präsentierten die Frau68
en am Roten Platz in Moskau ihren Song »Putin Pissed Himself«. Einen Monat später stimmten sie in der Moskauer Christ-ErlöserKathedrale zum gemeinsamen Gebet an. Im Gegensatz zu den von einer Bandkultur getragenen Riot Grrrl ist Pussy Riot nur nominell eine Band: Pussy Riot trat noch nie in einem Klub oder auf einer Bühne der Musikszene auf. Sie konzentrieren sich auf den Schauplatz Straße und ihre Performances sind Guerillaaktionen. »What we have in common is impudence, politically loaded lyrics, the importance of feminist discourse and a nonstandard female image« (Chernov 2012: o.S.), kommentiert eine Aktivistin von Pussy Riot und ergänzt: »The difference is that Bikini Kill performed at specific music venues, while we hold unsanctioned concerts. On the whole, Riot Grrrl was closely linked to Western cultural institutions, whose equivalents don’t exist in Russia.« (Ebd.) Das Kollektiv attackiert den brutalen Machismo, die homophobe Gewalt und die vielfältigen korrupten und männerbündlerischen
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Netzwerke, die den korrupten Staatsapparat aufrechterhalten. Musik ist ein Element ihrer Interventionen, ebenso wie Style, aber ihre primäre Waffe ist eine Kombination aus aggressiver Sprache, einer gewieften Wahl des Interventionsstandorts sowie die in jeder Performance enthaltenen Drohungen eines anonymen Massenaufstands. In ihrem Gestus der rotzigen Zurückweisung verweisen Pussy-Riot‑Protagonistinnen gerne auf die Tradition der Sex Pistols – und machen über diesen Bezug ihre Abgrenzung zum westlichen Punk deutlich: Während die Sex Pistols 1977 anlässlich des silbernen Thronjubiläums der Queen ein Boot mieteten und die Feierlichkeit mit ihrem Song »God Save the Queen« verulkten, radikalisieren Pussy Riot ihre Interventionen mit der parasitären Aneignung von Räumen. »It’s difficult to find an element of protest when you perform on a boat that you have paid for; on the contrary, it’s a type of commercial performance« (Chernov 2012: o.S.), so eine Frau von Pussy Riot im Interview. »There’s no connection to Pussy Riot in this, because we didn’t rent and are not going to rent anything; we come and take over platforms that don’t belong to us and use them for free.« (Ebd.) Pussy Riot ist zwar keine konventionelle Band, aber die Identität des Kollektivs setzt auf die Kraft des Punk: So wie Riot Grrrl sieht auch Pussy Riot im Punk die Macht, Lärm zu machen und Nein zu sagen. Im Gegensatz zu zahlreichen Riot-Grrrl-Bands der 1990erJahre nutzt Pussy Riot Punk jedoch nicht als ein Mittel, um eine authentische und ekstatische Erfahrung herzustellen. Im Fall des Punk-Gebets in der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale spielte das Kollektiv nicht einmal vor einem Publikum, sondern für die anwesenden Kameras. Pussy Riot nutzt Punk – Musik, Performance, Style etc. als ein Mittel zum Zweck, d.h., ihr Punk ist sorgfältig kalkuliert und gezielt eingesetzt. Ihre Punk-Performance integriert vorab aufgenommenes Material, sie ist mehrfach geprobt, und in dem im Nachhinein veröffentlichten Video sind verschiedene
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Takes zusammengeschnitten (vgl. Gololobov 2012: o.S.). Gleichzeitig aber ist die 42 Sekunden dauernde Performance in der Kirche auch ein Meisterwerk von schrillen Schreien und Kreischen: Sie kombiniert heftiges Headbanging mit spastischen Bewegungen und einem aggressiven Sich-zwischen-die-Beine-Fassen.
Punk, Wut und Aktivismus Punk ist ein bewährtes Medium zum Ausdruck von Wut und Aggression. Aber während historisch betrachtet die Inszenierung von Wut das Konzept von Maskulinität oftmals bestätigte, hat es Frauen, so wie ethnische Minderheiten, immer wieder in Schwierigkeiten gebracht: 1964 schockierte beispielsweise die afroamerikanische Sängerin Nina Simone ihr großteils weißes Publikum in der New Yorker Carnegie Hall mit ihrer aggressiven Interpretation von 70
»Mississippi Goddamn«. Dieser Auftritt markiert den Beginn ihrer Beteiligung an der Bürger/‑innenrechtsbewegung – und das Ende ihrer Musikkarriere in den USA. Ihr bahnbrechender Song »Four Women« erzählt von der Stereotypisierung schwarzer Frauen und prangert patriarchale und rassistische Gewalt gleichermaßen an – so sehr, dass US-amerikanische Radiostationen sich weigerten, den Song zu spielen. Aber Simone inspirierte Feministinnen über mehrere Generationen hinweg, u.a. auch Peaches, die sich nach der rebellischen Frau in Simones Song benannte. 20 Jahre nach Simones Auftritt betrat die 14-jährige Roxanne Shanté die Bühne des Hip-Hop. Verärgert über einen sexistischen Rapsong, lieferte sie ihre Texte gespickt mit spitzzüngiger Kritik und einer kämpferischen Attitüde. Gemeinsam mit MC Lyte, Salt ’n’ Pepa und Queen Latifah bahnte Shanté den Weg zur Herausforderung sexistischer Abwertungen wie »pussy« und »bitch«. Aber da sich die von Frauen zum Ausdruck gebrachte Wut nicht so profitabel
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vermarkten ließ wie die von Männern, entwickelte sich Hip-Hop zu einem höchst erfolgreichen, aber über weite Strecken von ostentativem Machismo gekennzeichneten Musik- und Performancegenre (vgl. Rose 1994). Während feministische Künstlerinnen wie Nina Simone, Yoko Ono, Ana Mendieta und später auch Adrian Piper die Verschränkung von Rassismus und Sexismus bearbeiteten, schrieb die Schriftstellerin Valerie Solanas in New York an einem Manuskript, das zur Eliminierung des männlichen Geschlechts aufrief. In dem im Eigenverlag veröffentlichen Text hielt sie fest: »›Life‹ in this ›society‹ being, at best, an utter bore and no aspect of ›society‹ being at all relevant to women, there remains to civicminded, responsible, thrill-seeking females only to overthrow the government, eliminate the money system, institute complete automation and eliminate the male sex.« (Solanas 1967: o.S.)
Solanas S.C.U.M. (Society for Cutting Up Men) Manifesto setzte an der Schnittstelle von politischer Intervention, Fiktion und Provokation an. Die Veröffentlichung mokierte sich über die autoritären Sprechakte patriarchaler Autoren, wie z.B. Sigmund Freud, der in seiner Theorie der Weiblichkeit die Absolutheit, Effizienz und hierarchiebasierte Ordnung hochhielt. Solanas galt gerade im Kontext der Riot Grrrls als Symbolfigur zielgerichteter Wut – insbesondere angesichts ihres Attentats auf Andy Warhol, dessen Einordnung die feministische Szene spaltete. Auch Riot Grrrl setzte auf die Macht von Wut. Der Name »Riot Grrrl« selbst ist ein Tribut an ihre Kraft: »BECAUSE we are angry at a society that tells us Girl = Dumb, Girl = Bad, Girl = Weak«, heißt es im Riot Grrrl Manifesto. Die Protagonistinnen thematisierten die Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung, Inzest und Homophobie, während sie gleichzeitig auch um die Artikulation ihres
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eigenen Begehrens rangen. Sie forcierten Themen wie Magersucht, Menstruation und Mädchenfreundschaft in einem von Sex, Drugs and Rock ’n’ Roll bestimmten Kontext. In ihrem Sprechakt »I am a Riot Grrrl« suchten sie nach den Potenzialen kollektiver Subjektivierung; die Artikulation des eigenen Begehrens war wesentlicher Bestandteil des semiotischen Kampfes um die Bedeutung von Geschlecht und Sexualität. Aber im Zuge der flächenbrandartigen Disseminationen der Botschaften der Riot Grrrls ergab die Anbindung von Subjektivierung an Sexualität eine prekäre Konstellation: Aus dem Zusammenhang gerissen wurden die Riot-Grrrl-Performances zunehmend von voyeuristischen Blicken mit sexistischen Facetten aufgeladen, welche die Künstlerinnen zu sexualisierten Objekten degradierten und die Inszenierungen im Kontext einer exhibitionistischen Geständniskultur verorteten. Im Zuge ihrer rasanten Ausbreitung in den 1990er-Jahren verlor Riot Grrrl mehrfach die kritische Distanz zu korporativen Struk72
turen. Ihre Botschaften wurden vielerorts von kannibalistischen Mechanismen eines postfordistischen Marktes absorbiert, die in der Betonung der Subjektposition »Girl« eine neue, profitable Nische am globalen Markt der Jugendkultur sahen. Zudem machte sich auch die von neoliberalen Kräften in den 1990er-Jahren eingeleitete, großflächige politische und kulturelle Umstrukturierung das Konzept des DIY auf besonders perfide Art zu eigen, und im Kontext neoliberaler Gouvernementalität etablierte sich bald die von Riot Grrrl hervorgestrichene Handlungsfähigkeit als ein neuer, aggressiver Imperativ: Die jungen Frauen sollten nicht nur gut aussehen, sondern auch selbstverantwortlich an ihrem neuen Girlstatus arbeiten. In Abgrenzung zu populären Narrationen der Zweiten Frauenbewegungen, die oftmals um das Prinzip »Authentizität« kreisten, wurden im Mainstream-Kontext die Gegenerzählungen der »girl culture« auf die Maxime der Machbarkeit und Veränderbarkeit reduziert (vgl. Grimm/Rebentisch 1996). Aus
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dem 1970er-Jahre-Diktum »Entdecke dich selbst« wurde in den 1990er-Jahren die Aufforderung »Erschaffe dich selbst«. Neoliberale, auf Unternehmertum ausgerichtete Regierungen bauten öffentliche Gelder ab, legten Netzwerke still, trockneten Institutionen aus, und postfeministische Ansätze feierten die Produktion des Selbst als ein Projekt unbegrenzter Freiheit (vgl. McRobbie 2004). Internationale Marken brachten diese Konstellation mit Credos wie »Just Do It« oder »Just Be« so treffsicher wie zynisch auf den Punkt. Die neuen Techniken des Selbst versprachen ein selbstbestimmtes, starkes und gleichsam sexy Mädchen hervorzubringen, ungeachtet aller sozialen Zwänge (vgl. Baldauf 2006). Auf der Suche nach Reflexion richtete Riot Grrrl den Blick immer wieder auch nach innen. In den verschiedenen »chapters« organisierten die jungen Frauen neben DIY- und Selbstverteidigungskursen auch Workshops zu den Themen Kapitalismuskritik und Antirassismus. Aber trotz vielfältiger Versuche gelang es Riot Grrrl nur punktuell, Identität wie auch Differenz hervorzustreichen. Es blieb eine kontinuierliche Herausforderung, Privilegien zu reflektieren, den Einzugsradius zu erweitern und Stimmen ebenso wie Themen zu diversifizieren. Die Initiativen waren oft in den vom kolonialen Erbe durchzogenen Prämissen gefangen und reproduzierten die davon abgeleiteten normativen Ansprüche. So war das »She Thing« vielfach in der Tat ein der Privilegien der Mittelschicht erwachsenes, weißes Mädchending und in dieser Begrenzung reproduzierte Riot Grrrl ein hartnäckig anhaltendes Defizit feministischer Bewegungen. Dabei hatte Riot Grrrl ihren Anfang in der Erkenntnis von der Macht des Kollektivs genommen: Sie formulierten ihr Manifesto im Kollektiv, organisierten gemeinsam Konzerte, veranstalteten Workshops und setzten sich für den Aufbau kollektiver Netzwerke ein, wenn auch die einzelnen Projekte in der Regel den individuellen Protagonistinnen zugeordnet blieben. Im Kontext des ausge-
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feilten DIY-Paradigmas setzten die jungen Frauen Kollaboration zwar als eine aggressive Taktik in der Herausforderung einer den zentralen Säulen korporativer Kulturproduktion ein, aber die rasante Verbreitung machte auch deutlich, wie schwierig es war, dieses Prinzip längerfristig aufrechtzuerhalten. Medien wie MTV grasten die Grrrl-Szenen auf der Suche nach kompatiblen Starfiguren ab, sie suchten nach Sprachrohren einer Generation und dekorativen Titelblattabbildungen. In eben diesem Kontext tauchte erstmals in der Geschichte von Riot Grrrl eine feuerrote Balaklava auf: 1992 interviewte die Filmemacherin Tamra Davis Kathleen Hanna, Performancekünstlerin und Sängerin der Band Bikini Kill, für den Dokumentarfilm No Alternative Girls 3 . Zu diesem Zeitpunkt beschrieb die Mainstream-Presse Hanna wiederholt als das
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Portrait Kathleen Hanna 3
Davis, Tamra: No Alternative Girls, Dokumentarfilm, unter https://www.youtube.com/ watch?v=urLri4WTZW4 vom 25.08.2014.
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Gesicht der Riot-Grrrl-Bewegung. Im Interview trug Hanna eine Skimaske und verweigerte sich dem Prinzip der Identifikation.
Feminismus und Maskerade In der feministischen Theoriebildung sind Maske und Maskerade ein wiederkehrender Angelpunkt diverser Abarbeitungen: Theoretikerinnen der Zweiten Frauenbewegung kritisierten die soziale Ausformung von Geschlecht als eine Form der Maskerade, d.h. einer übergeordneten Schicht von sozialen Zwängen. Sie beschrieben die Maske als Last, als etwas, das die Gesellschaft den Frauen auferlegt und das den Ausdruck der eigenen Identität unmöglich macht. In den 1980er-Jahren begannen Feministinnen wie Teresa de Lauretis, Marjorie Garber, Laura Mulvey und, später, Judith Butler, vielfach mit Bezug auf Joan Riviere, die Produktion von Weiblichkeit im Kontext von Maskerade und Mimikry zu theoretisieren. De Lauretis beschreibt beispielsweise Maskerade als etwas, das stolz zur Schau oder zumindest wie ein Kleid getragen wird und, auch wenn es von außen auferlegt wurde, dennoch der Trägerin ein gewisses Vergnügen bereitet (vgl. De Lauretis 1987: 17). Camille Paglia spitzt 1990 diese These zu und katapultiert die Gleichsetzung von Weiblichkeit und Maskerade (mit ihrer Verehrung von Superstar Madonna und der Einberufung des Zeitalters »nothing but masks«) in die Debatten des US-Mainstreams (vgl. Paglia 1990). Zu diesem Zeitpunkt prägten die Theorien der Dekonstruktion akademische Diskurse ebenso sehr, wie sie sich auch in der Populärkultur und im Common-Sense-Verständnis der Alltagskultur niederschlugen. Diese Konstellation beschrieb Lawrence Grossberg als Teil einer postmodernen Sensibilität, die sich aus einem ironischen Nihilismus und einer authentischen Inauthentizität nährt. Distanz,
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argumentierte Grossberg in seiner Analyse der kulturellen Reproduktion der Machtverhältnisse während der Reagan-Ära, setze sich als Haltung gegenüber einer Realität durch, die keinen Sinn mehr macht. Distanz erschließe den sozialen Akteurinnen und Akteuren einen Raum, der es ihnen ermögliche, sich selbst als Performer/innen und ihre Aktionen und Haltungen als Performances zu definieren. In diesem Raum gäbe es deshalb keine universell gültigen Referenzen und keinen allgemein anerkannten Maßstab, mit denen diese Haltungen verglichen und evaluiert werden könnten. Grossberg schreibt: »If every identity is equally fake, a pose taken, then authentic inauthenticity celebrates the possibilities of poses without denying that that is all they are.« (Grossberg 1992: 227) Während eine »inauthentische Authentizität«, wie Grossberg sie beispielsweise von Bruce Springsteen oder Tracy Chapman verkörpert sieht, eine bemerkenswerte Ehrlichkeit für sich in Anspruch nimmt, weisen die ironischen, sentimentalen und hyperrealen Performances der 76
»authentischen Inauthentizität« seiner Theorie zufolge jeglichen Anspruch auf Wahrheit ebenso wie die Möglichkeit eines einheitlichen, zentrierten Subjekts zurück. Mehr noch, sie begrüßen deren Abgang. »My fake is so real – I am beyond fake«, bekundete die Musikerin Courtney Love in ihrem Album Doll Parts (1991) und irritierte Tabloid- wie Underground-Presse mit stetigen Transformationsprozessen: Aus der anfänglich furiosen Teenage Whore (1991) wurde im vielerorts zum besten Album des Jahres erkorenen Live Through
This (1994) eine blondierte, abgemagerte und nicht mehr ganz so rotzige Courtney, und 1998 trat sie als chirurgisch adaptierte Hollywoodprinzessin »Love« im Versace-Designerkleid auf. Sind diese Neuerfindungen als ermächtigendes Maskeradenspiel, als parodistische Antwort auf »Pretty on the outside/Pretty on the inside«4 (Stoller 1998) oder als postfeministischer Ausverkauf zu lesen? 4 Anspielung auf den Songtitel von Hole: »Pretty on the Inside« (1991).
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Es scheint dieses ambivalente Kräftefeld zu sein, welches das Kollektiv Femen in der Konzeptualisierung ihrer Interventionen inspiriert: Ähnlich wie Courtney Love und auch, zumindest in ihren Anfängen, Madonna insistieren die Aktivistinnen auf der Möglichkeit, repressive Körperpolitik mit den Waffen des Körpers, also Sexismus mit Sexismus zu bekämpfen. Auch die Frauen von Femen inszenieren einen aggressiven Exhibitionismus, und in ihrer Reproduktion hegemonialer Schönheitsideale – jung, groß, schlank – sind die Strategien der Entmystifizierung gefährlich eng mit Mystifizierung und Kritik mit Affirmation verwoben. Es ist daher nicht verwunderlich, dass das Kollektiv Femen für sich in Anspruch nimmt, den Feminismus für ihre Generation neu zu erfinden, und zwar in dezidierter Abgrenzung zur postulierten Körperfeindlichkeit des sogenannten »alten«, d.h. lust- und spaßfeindlichen Feminismus. Eingebettet in ihr Verständnis von Politik und Aktivismus, setzen Femen und Pussy Riot Maskerade jeweils anders ein: Femen benutzt Nacktheit bisweilen so aggressiv, dass die Enthüllung eine Form von Maskerade wird. Pussy Riot hingegen setzt das Medium der Verhüllung ins Zentrum ihrer Interventionen: »Masks are our visual style and a core principle of the group« (Clover 2012: o.S.), kommentierte eine Protagonistin in The Financial Times. Sie erklärte weiter: »We don’t want people to focus on us as individuals or biographies. We want people to look at us as an idea. It’s a principal of universality. We want people to think that anyone you see walking down the street can be a member of Pussy Riot.« (Ebd.)
Zu diesem Zweck tragen die Aktivistinnen Balaklava. Balaklava bezeichneten ursprünglich die im Krimkrieg (1853–1856) eingesetzten Sturmhauben und sind benannt nach dem Ort des Kriegsschauplatzes Balaklawa. Die Masken finden heute ihren Einsatz
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Guerrilla Girls, 1990
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beim Skifahren ebenso wie bei S/M-Spielen und treten in der prototypischen Darstellung eines Terroristen der 1970er-Jahre oder auch bei Rosemarie Trockels Werk Balaklava box – Uniqum (1986– 1990) 5 in Erscheinung. In der Konzeption ihrer Maskierung mag Pussy Riot zudem auch von einer New Yorker Künstlerinnengruppe inspiriert sein: Die Guerrilla Girls sind seit den 1980er-Jahren als prominente Rächerinnen in der Kunstwelt aktiv, sie tragen Gorillamasken und kämpfen mit Bananen und harten Fakten. Ein Guerrilla Girl dazu: »Sometimes you got to speak out publicly, but sometimes it works even better to speak out anonymously. Our anonymity, for example, keeps the focus on the issues, and away from our perso-
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Rosemarie Trockel: Balaklava box – Uniqum (1986–1990). Woll-Balaklavas auf fünf Schaufensterpuppen-Köpfen in Plexiglasschrank, 34,5 x 154 x 32cm.
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nalities. Plus … you won’t believe what comes out of your mouth while wearing a gorilla mask!« (Biondi 2013: o.S.)
Gemeinsam mit Gran Fury, einer Initiative, welche das medizinische und politische Establishment für die Verbreitung des HIV-Virus verantwortlich machte, nahmen die Guerrilla Girls in den 1980erJahren in Anspruch, das Gewissen der Kunstwelt zu verkörpern. Ihre kreative Anklage setzt auf eine direkte Sprache, die Macht der Zahlen und Fakten sowie auf eine Politik der öffentlichen Beschämung, welche sie in eine Ästhetik der Popkultur und Werbung packen und billigst reproduzieren. Die anonymen Aktivistinnen sehen ihre Aktionen in der Tradition von Robin Hood und Batman, die ihre Identität hinter schillernden Masken und Pseudonymen versteckten. Die Maske als Entindividualisierung bietet ihnen die Möglichkeit der unbegrenzten Verbreitung. Diese Einsicht teilen auch Pussy-Riot-Aktivistinnen: »Anybody can be Pussy Riot, you just need to put on a mask and stage an active protest of something in your particular country, wherever that may be, that you consider unjust.« (Alyokhina/Tolokonnikova in Wikipedia) Guerrilla Girls und die Frauen von Pussy Riot sind Aktivistinnen, aber der entscheidende Unterschied zwischen ihnen und auch Gruppen wie dem Kunstkollektiv The Residents, das seine Identität seit 1979 hinter kugelförmigen Augapfel-Helmen, schwarzen Zylinderhüten und Fracks verbirgt, liegt darin, dass Pussy Riot bei ihrer Maskerade über ihre Raumpolitik die Trennlinie zwischen künstlerischer Intervention und politischem Massenprotest kontinuierlich infrage stellt. Das Frauenkollektiv tritt nicht im tendenziell geschützten Raum eines Museums, einer Galerie oder eines Klubs auf, sondern setzt sich den grundlegenden Risiken, der Unvorhersehbarkeit und auch der Unkontrollierbarkeit des öffentlichen Platzes und der Straße aus. Deshalb ist die Maske neben dem Mittel ästhetischer Stilisierung auch Schutz und
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Guerilla Girls: Do women have to be naked to get into the Met. Museum?, 1989
Schild: In der Vermummung finden die Frauen von Pussy Riot ihre Anonymisierung und die Möglichkeit, sich der Identifikation durch den Staatsapparat zu entziehen. Aus diesem Grund verabschiedeten auch zahlreiche Staaten, inklusive Österreich, Deutschland und den USA, ein Vermummungsverbot. So konnten in New York 80
bei einer Demonstration vor der Russischen Botschaft drei in Balaklavas verhüllte Demonstrantinnen verhaftet und auf Basis ihrer illegalen Vermummung vor Gericht gebracht werden (vgl. Moynihan 2012: o.S.).
Maskierte und demaskierte Körper Aber das Potenzial der Maske erschöpft sich nicht in Stilisierung, Schutz und Schild. In ihrem Buch Precarious Life (2004) analysiert Judith Butler jene dominanten Medientechnologien, die in der Verbreitung von Opferrepräsentationen eingesetzt werden. Ihrer Analyse zufolge sind die Narrationen der Opfer in der Regel über eine Ichperspektive konstruiert; sie benutzen Verweise auf die Geschichte der Familie, deren Bildung und Lebensstil. Diese Strategie soll die Geschichte des Opfers in ihrer Einzigartigkeit
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rahmen und mit einer Brise Emotionalität lebendig werden lassen. Die Konstruktion der Icherzählung macht Abgrenzung möglich, sie erlaubt Distanzierung und – auf ein geopolitisches Agieren bezogen – eine Politik des Unilateralismus. Dem gegenüber stellt Butler die Produktivität der Maske. Eine Maske, die Abwesenheit des Gesichts des Opfers, eliminiert das Ich der Erzählung. Eine Erzählung aus der zweiten oder dritten Perspektive dezentriert das Erzählte und rückt Überlappungen, Einbettungen und Schnittmengen in den Blick (vgl. Butler 2004: 5–8, 31–38). Die Interventionen von Pussy Riot machen sich diese Erkenntnisse zunutze. Während Riot Grrrl versucht hatte, den Feminismus zu entfalten, indem sich die Protagonistinnen über Icherzählungen aus der Zurückgezogenheit des privaten Heimes bzw. Mädchenzimmers herausschälten und in den öffentlichen Raum drängten, nehmen die maskierten Pussy-Riot-Aktivistinnen eine radikale Abkürzung: Das Kollektiv attackiert direkt die Zentrale der Politik. Keine Geständnisse, lediglich Angriffe. Für deklarierte Fans wie Slavoj Žižek definiert sich an diesem Punkt die Intervention als Konzeptkunst, denn sie ist ganz und gar der Erforschung und Verteidigung einer Idee gewidmet: »Their message is: ideas matter. They are conceptual artists in the noblest sense of the word: artists who embody an Idea. This is why they wear balaclavas: masks of deindividualization, of liberating anonymity. The message of their balaclavas is that it doesn’t matter which of them are arrested – they’re not individuals, they’re an Idea. And this is why they are such a threat: it is easy to imprison individuals, but try to imprison an Idea!« (Žižek 2014: o.S.)
Dass die Maske nicht nur, wie Žižek in seiner Analyse nahelegt, die Praxis der Konzeptkunst, sondern, konkreter, deren feministi-
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sche Praxis definiert, das machte das Drama deutlich, das sich im Zuge des Pussy-Riot-Gerichtsverfahrens entfaltete. Zu dem Zeitpunkt nämlich, als das feministische Kollektiv seinen zweiten Akt begann, d.h., als seine Inszenierungen aus dem öffentlichen Raum in den weißen Käfig des Gerichtsaals verschoben wurden, drohte die Macht sexistischer Repräsentationsregime ihre Performances zu entführen. Die Gefangennahme im weißen Käfig, die öffentliche Zurschaustellung und der Verlust der bunten Kleider, Strümpfe und Balaklavas beraubten die Aktivistinnen ihrer konzeptionellen Ausstattung und damit der befreienden Anonymität. Unter diesen Bedingungen sahen sich die angeklagten Frauen, Maria Alyokhina, Nadezhda Tolokonnikova und Yekaterina Samutsevich, mit jenen Herausforderungen konfrontiert, die das Kollektiv Femen gezielt zu provozieren versucht. Die drei Frauen vor Gericht waren völlig und auch »anständig« gekleidet, und doch wurde in der Öffentlichkeit konsequent ihr Körper verhandelt. Sowohl die 82
Berichterstattung der russischen Staatsmedien als auch die der westlichen Mainstream-Presse sexualisierten und infantilisierten die Aktivistinnen; sie drängten die Frauen in bekannte Erzählmuster und heizten so die Projektion von Fantasien an. Journalistinnen und Journalisten beobachteten die Frauen dabei, wie sie sich gegen eine mehrjährige Haftstrafe zu verteidigen versuchten und dabei die Forderung wiederholten, dass es eigentlich Putin sei, der vor Gericht stehen sollte – und doch griffen sie in ihrer Berichterstattung auf die altbekannte Formel sexistischer Repräsentation zurück: Sie beschrieben die Aktivistinnen als »sultry new sex symbol« (Ioffe 2012: o.S.) und »a flash of moving color« (Vasilyev 2012: o.S.), sie hingen an »Angelina Jolie lips« (ebd.) und verloren sich in »pre-Raphaelite looks [which] project sweetness and sensitivity« (ebd.).
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Little Girls Should Be Seen and Not Heart Der Verurteilung der Frauen folgte ein über feministische Kreise hinausreichender empörter Aufschrei. Aber auch in diese Welle der Empörung mischten sich sexistisch motivierte Stimmen. So nahm ein Journalist der US-amerikanischen Zeitschrift The Atlantic die Verurteilung zum Anlass, seine Sorge um das neue Spektakel der Protestkultur zum Ausdruck zu bringen. »Pussy Riot’s newfound Western fans were taking a serious issue (Russia’s degrading political freedoms and civil liberties) and turning it into a celebration of feminist punk music and art.« (Foust 2012: o.S.) Die Produktion des Spektakels, so argumentierte Foust, verschleiere die wahren Probleme, d.h. jene Herrschaftsverhältnisse, die den Gerichtsprozess in Russland möglich machen und dessen Ausgang bestimmen. Auch der Herausgeber der russischen Ausgabe des Lifestyle‑Magazins GQ, Michael Idov, verfolgte in seiner Analyse eine ähnliche Argumentationslinie: »For all the radicalism of their actions, Pussy Riot are basically a pop crossover.« (Idov zit. nach Elder 2012: o.S.) »They are a brilliant brand – they have a very compelling story and easily reproducible look and, let’s face it, a great band name.« (Ebd.) Die beiden Kommentare bringen jene Klagen auf den Punkt, die feministischen Aktivismus seit dem Auftakt des erbosten Aufschreis begleiten. In der Erläuterung ihrer Missbilligung wiederholen die Kritiker eine These, die sich in verschiedensten Feldern hartnäckig fortschreibt – dass nämlich die Schnittstelle von Kunst und Politik ein für Frauen unmöglicher Ort ist. Denn, so die subtile Prämisse, Frauen machen nicht nur ein Spektakel, sie sind selbst das Spektakel. Unabhängig von der jeweiligen Inszenierung, ob unterwürfig oder aufmüpfig, in-your-face oder zurückhaltend mit Blick auf den Boden gerichtet, mit sexuellem Kapital aufgeladen oder ostentativ entsexualisiert, die Aktivistinnen werden selbst
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zum Objekt des Disputs: Sie werden zur Ware und ihr Status ist der eines Tauschobjekts, welcher am Markt verhandelt, verglichen und am Ende konsumiert und somit des politischen Inhalts entleert wird. Eingebettet in diese Argumentationskette ist die ebenso naive wie altbekannte Kritik, dass feministische Aktivistinnen und Aktivisten mit ihren vermeintlich partikulären Interessen von allgemeiner gefassten Problemen ablenken, z.B. jenen der Menschenrechte und des drohenden Zerfalls der Demokratie – wo doch gerade im feministischen Aktivismus deren Grenzen aufgezeigt werden. All das ist nichts Neues in der Geschichte des Feminismus im Allgemeinen und des feministischen Aktivismus im Besonderen. Im Kontext der Zweiten Frauenbewegung arbeitete sich ein breites Spektrum an Künstlerinnen an der zentralen Prämisse des Feminismus ab, dass nämlich das Konzept von Weiblichkeit (ebenso wie die Markierungen von »race« oder auch die der Klasse) an 84
Körperlichkeit und Sexualisierung geknüpft ist und dass die Herund Darstellung des Körpers – lange Zeit als Privatsache abgetan – in der Tat ein politisches Unterfangen ist. Was können also zukünftige Riot Grrrls von den Erfahrungen von Pussy Riot lernen? Können sich feministische Aktivistinnen und Aktivisten wirklich nur hinter Affenmasken und Skihauben vor sexistischen Vereinnahmungen schützen? Seit Pussy-Riot-Aktivistinnen ihr Gesicht zeigen, illustrieren ihre Präsentationen deutlich die repressiven Konventionen geschlechtshierarchischer Inszenierungen: So bebilderte beispielsweise Vanity Fair den Artikel »Riot Act« im Juli 2014 mit einem Foto von Nadya Tolokonnikova and Masha Alyokhina, das diese in einem vom Winde verwehten rosa und grünen Tüllrock, als graziöse Ballerinas über den Dächern von New York schwebend, zeigt. Im Text erläutern die Frauen ihre Kritik am russischen Regierungssystem und berichten von ihrem Kampf um die Rechte der Häftlinge (vgl. Gessen 2014: o.S.). Die Dissonanz
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der Darstellungen – kluge Aktivistinnen im Text und naive Mädchen im Bild – ist erschreckend und bezeichnend. »Little Girls should be seen and not heart«6, wusste X-Ray Spex bereits 1977, und wenig später fasste Barbara Kruger für den kulturellen Mainstream zusammen: »Your Body Is a Battleground.«7 Im Kampf gegen die Vereinnahmung ihrer Körper stützten sich feministische Aktivistinnen der sogenannten Dritten Welle, Femen und Pussy Riot inklusive, auf dekonstruktivistische Theorien und Praktiken wie Hyperbolismus, Mimikry und Parodie. Gerade der Einsatz des Grotesken, Burlesken und Queeren brachte dabei explorative Widerstandsformen hervor. Wenn sich Lady Gaga mit Vorliebe Kostümzitate und Fleischstücke anlegt, es Peaches als abgründige Krankenschwester vampiristisch nach Blut dürstet und Narcissister am New Yorker East River promeniert, oben ohne, mit einer verzerrten Puppenmaske und schwarzen Zottelperücke, dann rufen diese Performances u.a. auch den Horror in Erinnerung, dass sich da etwas gänzlich Anderes hinter der Maske »Weiblichkeit« verstecken könnte: Sie erinnern an das monströse Andere, das Abstoßende und Abgründige, das bereits Cindy Sherman in ihren Arbeiten mit Maskerade immer wieder hervorlugen ließ. »I was more interested in creating illusions of a person composed of unimaginable, unfathomable parts, meaning that one could read legs as arms or what have you«, erklärt Narcissister im Gespräch mit der Performancekünstlerin Peaches. 8 Wem das zu riskant ist, dem bleibt immer noch der Pyjama als kreatives Interventionspotenzial. Kathleen Hanna von Bikini Kill antwortet auf die Frage, wie sie sich gegen sexistische Repräsen6 Aus der Debüt-Single der britischen Punk-Rock-Band X-Ray Spex: »Oh Bondage Up Yours« (1977). 7 Barbara Kruger: Untitled (Your Body is a Battleground) (1989). Fotografischer Siebdruck auf Vinyl, 284,5 x 284,5 cm. 8 Narcissister in Conversation with Peaches, in: Document Nr. 76, unter http://documentjournal.com/document-no-76-narcissister-in-conversation-with-peaches/vom 25.08.2014.
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tationsregime zur Wehr setzt: »There is one thing I have found, and it’s wearing pajamas. If I wear pajamas and carry a handbag, nobody messes with me … So, that’s one idea!«9 Und die Guerrilla Girls fassen mit Frida Kahlo zusammen: »Women’s protests are always more scandalous. Defy entrenched notions of how females should act and you will upset people.« (Kahlo 2012: o.S.)
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Abbildungen Spiegelcover © SPIEGEL 33/2012. Pussy Riot: Punk Prayer, 2012, drei Videostills, Quelle: Youtube. Riot Grrrl Manifesto, ca. 1991, Quelle: http://www.katasharya.com/ tag/riot-grrrl/ Porträt Kathleen Hanna. Aus: Baldauf, Anette/Weingartner Katharina (Hg.) (1998): Lips. Tits. Hits. Power. Feminismus und Popkultur, Wien/Bozen: Folio, S. 137. Guerilla Girls Group Foto, 1990, © Guerrilla Girls. Guerilla Girls, 1989: Do women have to be naked to get into the Met. Museum?, © Guerrilla Girls.
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Marty Huber Love Attack – Über den Gebrauch von Gefühlen in queer-aktivistischen Kontexten Lecture/Performance1 Die im Titel genannte Lecture-Performance zu beschreiben, ist der Versuch, die Spur einer gemeinschaftlichen Situation, die Ende November 2012 an der Akademie der bildenden Künste in Wien stattfand, aufzunehmen. Bei der verschriftlichten Form geht die gemeinsame Präsenz in der Performance leider verloren. In weiterer Folge werde ich also retrospektiv über den Gebrauch von Gefühlen schreiben und dies in das Format der Lecture-Performance zu übersetzen versuchen. Dies passiert nicht ohne Widerspruch: Warum über »Gebrauch« von Gefühlen sprechen, als könnten diese so einfach benutzt werden? Und warum beschreiben, was nicht zu beschreiben ist, weil sich die Verbindungen der Live-Performance in dieser Art nicht wiederherstellen lassen? Ich entkomme dieser Übersetzungsarbeit nicht, da eine performative Inszenierung den Ausgangspunkt meiner theoretischen Überlegungen bildet. Mein derzeitiger Schwerpunkt liegt bei der Beschäftigung mit der Geschichte rund um die Gay Pride Paraden und ihrer Initiation, den Stonewall Riots. In diesem Vorhaben verstrickt, schien es mir unmöglich, nicht auch die Frage nach Emotionen aufzuwerfen 1
Die Lecture-Performance ist eine performative Übersetzung aus meiner Dissertation, die im Zaglossus Verlag unter dem Titel Queering Gay Pride. Zwischen Assimilation und Widerstand 2013 in Wien erschienen ist.
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und wie sie in den performativen Erzählungen verwendet werden. Deswegen brauche und gebrauche ich Gefühle, sie sind in ihrer Performanz wichtiger kultureller Kitt; Klebstoff, der nicht nur eine soziale Bewegung mitkreierte, sondern auch in Fortsetzung die Erzählungen miteinander verbindet und zusammenhält. So startet der Versuch, die Mechanismen dieser Erzählform der performativen Inszenierung zu nutzen und aus einer Introspektion eine von vielen möglichen Perspektiven zu entwickeln, die selbst im Vorlesungssaal temporär eine Community entstehen lassen. Der Vortragsraum füllt sich, eine Wäscheleine spannt sich vor dem projizierten Bild. Ich sitze weiß gekleidet zwischen den Reihen und höre Musik mit Kopfhörern, die ich von Zeit zu Zeit weiterreiche. Die Musikauswahl ist beschränkt, jedoch auf das Kommende gemünzt: »I feel love« von Donna Summer, »Love to hate you« von Erasure und »It’s a sin« von Pet Shop Boys. Für manche wecken diese Lieder Jugenderinnerun92
gen, andere fragen mich, wer das Lied singt. Durch diese kleine Geste entstehen beinahe intime Momente, in denen nur ich und das Gegenüber wissen, zu welchem Song gerade gewippt wird. Noch sind wir unter uns … Schließlich erschallt »I feel love« im ganzen Raum. Emotionen sind ein wichtiger Motivator für politische Aktionen, gerade in Anbetracht der Fragestellung um die performativen Geschichten rund um Gay Pride. Anders als Scham und Angst sind Stolz und Wut wichtige Komponenten sozialer Aufstände. Aus heutiger Sicht mutet die Frage nach Stolz aufgrund von sexuellen Präferenzen befremdlich an, wenn wir uns jedoch die damit verbundene Überwindung von Scham vergegenwärtigen, zeigt sich ein anderes, ein komplexeres Bild. »Out of the closet, into the streets« steht als Leitspruch der Gay-Pride-Bewegung für die Grenzüberschreitung »verwerflicher« queerer Körper, die, markiert durch »deviante« sexuelle Begehrensformen und alternative
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Genderinszenierungen, den ihnen zugewiesenen Platz nicht mehr akzeptieren. Diese Körper mit ihrem spezifischen Begehren sind der Einsatz, mit dem der öffentliche Raum erobert wird. Von diesem Terrain aus ist der Schritt zur Frage nach sozialer Erotik nicht mehr weit. Denn nehmen wir Emotionen nicht nur als Verknüpfungen wahr, sondern erweitern diese Betrachtung um den Begriff der sozialen Erotik, dann erweitert sich auch der Spielraum der Gefühle erheblich. Chela Sandoval prägte in ihrem Buch Dissident Globalizations, Emancipatory Methods, Social Ero-
tics (2002) den Begriff der sozialen Erotik. Sie selbst griff auf die Texte sogenannter Third World Feminists der 1970er- und 1980erJahre zurück, die in ihren Arbeiten auf den Zusammenhang von Erotik und politischen Aktionen eingehen. So etwa Audre Lorde, die in Uses of the Erotic. The Erotic as Power (1984) beschreibt, dass insbesondere die weibliche Erotik als eine verbannte, misstraute Ressource gehandelt und als Zeichen weiblicher Unterlegenheit gedeutet wird. Einer politischen sozialen Erotik, die nicht in den Schlafzimmern versteckt bleibt, räumt Lorde die Möglichkeit der Bildung neuer Verbindungen ein. »The sharing of joy, whether physical, emotional, psychic, or intellectual, forms a bridge between the sharers which can be the basis for understanding much of what is not shared between them, and lessens the threat of their difference.« (Lorde 1984: 57)
Wenn wir soziale Erotik als politisches Bewusstsein und politische Praxis begreifen, wird sie als das Verbindungsstück zu Gloria Anzaldúas Borderland (1983) und als nomadisches Subjekt sichtbar, welche als frei flottierende Elemente Kreuzungspunkte erzeugen und fortlaufend eine Methode entwickeln, die, wie Sandoval es ausdrückt, Identität, Community und Liebe laufend neu definiert. Sichtbarkeit erfährt diese politische Praxis in den historischen
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Entwicklungen rund um die Stonewall Riots, wo unterschiedlich prekarisierte Subjekte eine Community des Kampfes bildeten. Betrachten wir noch einmal die Anfänge von Gay Pride und die bis heute gültige Referenz, den Stonewall Riot von 1969. Das Stonewall Inn war ein Mafialokal in der Christopher Street in Manhattan, das aufgrund des Verbotes, an Homosexuelle im weitesten Sinn (also auch Trans*personen) Alkohol auszuschenken, gutes Geld mit jenen verdiente, die sich, vielfach im Gegensatz zur homosexuellen Ober- oder Mittelschicht, keine Reservierungen in Hinterzimmern von Bars leisten konnten. Bei diesen Gästinnen und Gästen handelte es sich um Queers of Colors, obdachlose Jugendliche, transsexuelle Sexarbeiter/-innen, Butches aus der Arbeiterinnenklasse und dergleichen. Nicht nur gab es ein Ausschankverbot, sondern auch eine spezielle Kleiderordnung, die vorsah, dass Personen mindestens drei dem biologischen Geschlecht entsprechende Kleidungsstücke tragen mussten. Trans*personen, die die94
sen Vorschriften nicht entsprachen, waren mehrheitlich die Ersten, die bei Razzien verhaftet wurden. Als Ende Juni 1969 wieder eine dieser Razzien anlässlich der bevorstehenden Wahl in New York stattfand, war für viele Queers eine Grenze erreicht. Anstatt die Szenerie zu verlassen oder eine Verhaftung über sich ergehen zu lassen, begannen sie, sich im und vor dem Stonewall Inn gegen die Polizeirepression zu wehren. Soziale Erotik als Community kreierender Aspekt spielte dabei eine große Rolle: »The police weren’t letting us dance, if there was one place in the world, we could dance and feel yourself fully as a person and that’s threathened with being taken away.« (Tommy Lanigan-Schmidt im Dokumentarfilm Stonewall Uprising, 2010: 01:05:20) In Folge entspringt dieser sozialen Begehrensform eine performative, politisch handelnde Erotik als Teil einer Protestform, wie sie im Spielfilm Stonewall dargestellt wird.
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Filmausschnitt: Eine Polizeieinheit auf Pferden biegt um die Ecke, ihr voran schreitet eine Drag Queen, so, als würde sie das Kommando leiten, ohne Furcht vor dem, was kommen mag. Und dann stellt sich eine Kick-Line von Drag Queens dieser Polizeistaffel in den Weg, sie werfen ihre Beine in die Höhe und singen: »We are the Stonewall Girls/We wear our hair in curls/We wear no underwear/We show our pubic hairs.« Diese Form des Widerstandes durch Personen mit unterschiedlich queeren, weiblichen und »trans of color« Körperlichkeiten, Begehren und Inszenierungen, verbindet ebendiese miteinander und verweist auf eine Zone, innerhalb derer sich keine klar definierten Identitäten mehr festmachen lassen. »We are the queer groups, the people who don’t belong anywhere, not in the dominant world, nor completely in our own respective cultures. We don’t have the same ideologies, nor do we derive similar solutions, but these differences do not become opposed to each other.« (Anzaldúa 1983: 209)
Entlang Gloria Anzaldúa können wir das, was vor dem Stonewall Inn stattfand, seine queeren Gästinnen/Gäste und die Welt, die sie umgab, als »Borderland« betrachten, das eine vormals klare Grenzziehung zwischen Innenraum und Außenraum zum Oszillieren bringt. »And it was … like the beginning of a lesbian and gay value system. From going to places where you had to knock on a door and speak to someone through a peephole in order to get in. We were just out. We were in the streets.« (Carter 2004: 184f.) Musik: Pet Shop Boys: »It’s a Sin« Ich hänge Wäsche auf. »Everything I ever do«, bringe das am Leib Getragene in die Öffentlichkeit. »It’s a sin«, vielleicht befindet sich dar-
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unter auch schmutzige Wäsche. »It’s always with a sense of shame«, darunter die Erinnerung an die Lust vergangener Nächte zwischen den Bettlaken, »I try not to do it«. Anstatt der Scham der »closeted queers« wurde erstmals öffentlich Stolz etabliert. In den Nächten der Stonewall Riots hallte der Ruf »Gay Pride – Gay Power« durch die Straßen Lower Manhattans. Die Christopher Street wurde befreit, nicht nur die Körper, die revoltierten. Die Slogans »Stolz statt Scham« und »Power statt Ohnmacht gegenüber der Staatsgewalt« wurden auch in Anlehnung an die sozialen Bewegungen der Zeit gewählt. Es war die Zeit der Black Panthers, des Widerstandes gegen den Vietnamkrieg und der Frauenbewegung. Die Versuche der Allianzbildung zwischen diesen Bewegungen waren beachtlich. Gemeinsam organisierte Demonstrationen von Black Panthers und Stonewall-Aktivistinnen und -Aktivisten zeug96
ten von einem Verständnis für die Notwendigkeit allgemeiner politischer Veränderungen. Doch schon in den ersten Jahren nach den Aufständen in der Christopher Street kam es zu einer Reduktion der Formulierung unterschiedlicher politischer Begehren auf nur eine Ausrichtung hin. Es fand ein Rückzug auf eine SingleIssue-Politik statt, die nicht mehr darum bemüht war, Vernetzung mit anderen sozialen Bewegungen anzustreben. Das daraus resultierende Ergebnis ist die Assimilierung von »Pride« als Begriff in eine neoliberale Ökonomie und Produktivmachung, also in die kommerzielle Verwertbarkeit von lesbischen und schwulen Individuen. Als Bild für diese Vereinnahmung lässt sich eine Kampagne anführen, die seit 2006 von niederländischen Banken und Versicherungen anlässlich der Canal Pride in Amsterdam lanciert wird. Sie reduziert dieses Phänomen auf eine simple Formel: »Personal Pride = Company Pride«. Diese Kampagne bringt die neoliberale Vereinnahmung des Kampfbegriffes »Stolz« auf den Punkt. Die
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gemeinschaftliche Überwindung von Angst und Scham sowie der Widerstand gegen Polizeirepression verschwinden in den Hintergrund, stattdessen rückt die Produktivmachung der »verwerflichen« Körper in den Vordergrund. In Reaktion auf diese Vereinnahmung von Stolz formieren sich verschiedene Formen der Gegensprache, die diese Entwicklung der ökonomischen Produktivmachung sichtbar und angreifbar machen wollen. In diesem Sinne ist die Überwindung des Stigmas und der Scham ein Kampf, der fortwährend an verschiedenen Orten und Zeiten stattfindet, mit einer Bewegung konfrontiert, die Scham als performativen Sprechakt einsetzt und als politische und kulturelle Kategorie (wieder-)einführt. Dies geschieht etwa in Formation wie der Gay Shame, einer aktivistischen Bewegung, die 1998 ihren Ausgang in Brooklyn fand, um gegen die Kommerzialisierung und den Konsumerismus der Gay-Pride-Veranstaltungen zu protestie98
ren. Eve Kosofsky Sedgwick fasst die Unterscheidung zwischen Scham und Schuld in ihrem Buch Touching Feeling folgendermaßen zusammen: »The conventional way of distinguishing shame from guilt is that shame attaches to and sharpens the sense of what one is, whereas guilt attaches to what one does.« (Sedgwick 2003: 37) Sie verwendet nicht umsonst die Formulierung »sharpens the sense of what one is«, denn es geht ihr nicht um eine essentielle Festmachung von Scham an einem queeren Körper, sondern um eine prozesshafte Wahrnehmungsqualität, die einen performativen Charakter hat. Scham kann als grundsätzlich individualisierendes, verinnerlichtes Gefühl gesehen werden, aber es produziert durch seine Spezifität unterschiedliche Formen und damit Gruppen von sich Schämenden. Es gibt Unterschiede in Bezug auf feminisierte und rassifizierte Scham, ebenso in Bezug auf diverse Körper und ihre Möglichkeit des Ausdrucks oder Zugangs
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zu Ressourcen und/oder Privilegien. Dieses Gefühl kann zum einen als Vereinzelungsmechanismus gesehen werden oder aber als politisches Momentum. Die Entwicklung einer Kritik an der Kommerzialisierung von (Gay-)Pride einerseits und die daraus resultierende Verwendung der Begrifflichkeit Gay Shame andererseits ist nicht weiter verwunderlich. Sie hat sich in den letzten Jahren insbesondere in den USA herausgebildet. Der Fokus liegt dabei auf der Single-IssuePolitik und der Nivellierung der Differenzen innerhalb der LGBTIQCommunity (Lesbian, Gay, Bi, Transgender, Intersexual, Queer). Im Gegensatz zu einer antagonistischen Wiedereinführung von Scham als binären Counterpart zu Stolz möchte ich eine dritte Position einführen, die ich »affirmative Shame« nenne. Es stellt sich nämlich die Frage, inwieweit sich Emotionen als Methode performativer Interventionen einsetzen lassen. Die Strategie dabei ist es, ein Interesse an Ambivalenzen zu erzeugen. Das Beispiel, das ich 100
dafür verwenden möchte, ist die »Lesbische Kuriositätenschau«. Dabei handelt es sich um eine Performance, die eine anrufbare Gefühlsregung erzeugen soll. Diese Anrufung versuchten die Aktivistinnen des Lila Tipp (der Lesben- und Queerberatung in der Rosa Lila Villa, dem Lesben-, Schwulen- und Trans*haus in Wien) mit ihrer Aktion »Lesbische Kuriositätenschau« während der Wiener Regenbogenparade 2000 zu evozieren. In bester Side-ShowManier wurden verschiedene Körper gezeigt, derer sich gewöhnlich geschämt wird oder die in exotisierender Weise voyeuristisch ausgebeutet werden: Die bärtige Lady, die Dame ohne Unterleib, die zwölfbrüstige Verführerin und das Mannweib waren die Figuren des Paradewagens. Ohne weiter auf die vielfältige Geschichte der Side-Shows im Zirkus einzugehen, ermöglichte die Inszenierung eine kritische Analyse der Wirkweisen von Scham, Schaulust, modifizierten Körpern und ihren oszillierenden Grenzüberschreitungen. Die parodistische Inszenierung lesbischer Sexualität und
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verschiedener Klischeebilder ist in ihrer Ausführung nicht nur die Transformierung von Diskriminierungserfahrungen via feministischer Wut, sondern bearbeitet gleichzeitig Scham und die daraus folgende Unsichtbarmachung verleugneter Körper. In diesem Sinne würde sich an dieser Stelle ein Knotenpunkt an der Kreuzung Queer Studies und Disability Studies auftun. Das Recht, über den eigenen Körper bestimmen zu können, die Anerkennung einer eigenen (befriedigenden) Sexualität, das Recht auf Reproduktion, die Infragestellung von Gesundheits- und Krankheitsparadigmen sind wenige Beispiele für diese Kreuzungspunkte. In Bezug auf Sexualität vermag der Begleittext zur »Lesbischen Kuriositätenschau« in expliziter Weise einerseits die Negierung einer lesbischen Sexualität und andererseits die Existenz einer eigenständigen weiblichen Sexualität auf den Punkt zu bringen. Der Flugblatttext, der in traditioneller marktschreierischer Manier verlesen wurde, verlautbarte Folgendes: Kommen Sie, glotzen Sie und lassen Sie sich verwirren durch unsere hier erstmals zu sehenden Mannweiber. Bar jeder weiblichen Anmut, samt ihrer unnatürlichen Erscheinung, und sie sind vermessen genug, es den Männern gleichtun zu wollen. Unhygienische Körperbehaarung – überall !!! Am deutlichsten zu erkennen sind Invertierte mit Bärten. Obwohl festgestellt werden muss, dass sie Opfer ihrer lesbischen Hormone sind, weigern auch sie sich, sich um eine weibliche Erscheinung zu bemühen. Bemitleiden Sie sie nicht, sie haben Ihre Anteilnahme nicht verdient! Eine weitere Perversion sehen Sie in der homosexuellen Frau, deren unzählige Brüste willenlose weibliche Opfer zu hemmungslosen, widernatürlichen Handlungen verleiten. Durch besondere Fertigkeiten versuchen manche von ihnen, von ihrem Mangel an natürlichen, weiblichen Anlagen abzulenken. Doch lassen Sie sich
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sagen, auch diese jonglieren nur mit Ihren Gefühlen. Unnatürlichkeit prägt diese Konträrsexuellen! Wenn auch oft in abgeschwächter Form können Sie diesen oder ähnlichen Vorstellungen und Klischeebildern zu lesbischen Frauen in unserer Gesellschaft begegnen. Diese Darstellungen sollen als Abschreckung dienen und lesbische Lebensweisen als wenig erstrebenswerte Möglichkeit der Lebensgestaltung darstellen. Lesbenfeindlichkeit lauert überall, sie macht alle Beteiligten unglücklich, darum: Lesbisch, lautstark, lebensfroh – machen Sie es ebenso!2
In den bisherigen Beispielen habe ich dargelegt, wie Gefühle im doppelten Sinne gebraucht werden, um soziale Bewegungen und performative Setzungen zu ermöglichen. Gefühle sind jedoch nicht nur innerhalb von Gemeinschaften ein Mittel der Verbindung, sondern auch eine Verbindung zwischen zum Teil konträren Gruppierungen. 102
So beschreibt Sarah Ahmed in ihrem Buch »The Cultural Politics of Emotion« (2004), wie Emotionen Oberflächen und Grenzen produzieren, die es Individuen wie Kollektiven erlauben, sich als Objekte zu sehen. Diese Oberflächen und Grenzen sind mit unserem Verständnis von Performativität als ständig in Bewegung zu begreifen (»in motion« und Emotion haben dieselbe lateinische Wurzel). Diese Zirkulationen – Emotionen, die bewegen, die ihrerseits Verbindungen herstellen, um wiederum Objekte zu verfestigen, zu materialisieren – werden eingesetzt, um nicht nur eine Intensivierung der Selbstwahrnehmung hervorzurufen, sondern auch um »das Andere« nachzuzeichnen und zu etablieren. Dieses Nachzeichnen, Umranden »des Anderen«, verweist auf die Verbundenheit und Abhängigkeit der differenten Subjekte, die sich eben nicht nur mit den Verbindungen unter ihresglei2 Aus: www.villa.at/v/index.php?artikelnr=40&seitenkat=1 vom 09.12.2013.
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chen beschäftigen können. Gewalt- und Liebesverhältnisse und ihre Ausdrucksformen produzieren jedoch nicht nur das, was sie vorgeben zu tun, sondern überschreiten oftmals ihre scheinbar fixierten Vorhaben. Dies geschieht nicht nur in zwischenmenschlichen Beziehungsformen, sondern auch bei Fragestellungen betreffend Liebesverhältnisse und Nationenbildung, wie ich im Folgenden darlegen werde. Ahmed analysiert diese Phänomene als Effekte affektiver Ökonomien. Grenzsetzungen werden als notwendig erachtet, um kollektive Körper zu formen, sie verbinden uns mit dem Abgelehnten und Ausgestoßenen: »[W]hat seperates us from others also connects us to others.« (Ahmed 2004: 25) Sie spricht von Oberflächen, Haut und dergleichen, die diese Zirkulationen von Hass und Liebe zur Materialisierung des Selbst brauchen (vgl. ebd.: 46). Ahmed geht selbst so weit, dass sie das Investment des Hasses als intimes Verhältnis darstellt, das sich nicht von der Liebe trennen lässt. »To consider hatred as a form of intimacy is to show how hatred is ambivalent; it is an investment in an object (of hate) whereby the object becomes part of the life of the subject […] Hate then cannot be opposed to love. In other words, the subject becomes attached to the other through hatred, as an attachment that returns the subject to itself.« (Ahmed 2004: 50)
In meiner Recherche über Budapest-Pride stieß ich auf ein Video, das dieses Verhältnis auf den Punkt bringt. Es handelte sich dabei um eine Veröffentlichung auf dem Internetportal index.hu, einem der größten ungarischen Webportale, das dem Boulevard zuzuordnen ist. Das Video zeigt Menschen, die gegen die Parade demonstrieren, sowie Ausschnitte der Parade selbst. Unterlegt ist das Video mit dem Lied »Love to hate you«, eine schwule Hymne der Popband Erasure.
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Youtube-Video: »Sodom und Gomorrha in Budapest« (T-Shirt einer Gegendemonstrantin) »Love and hate what a beautiful combination« (Erasure) »So sollen Schwule behandelt werden!« (Poster von Gegendemonstrantinnen und Gegendemonstranten, das einen Rosa Winkel und einen Galgenstrick zeigt) »I like to know the killer isn’t me« (Erasure) »Love and hate what a beautiful combination/Sending shivers up and down my spine« (Erasure) Hadley Renkin beschreibt die Möglichkeiten des Verqueerens von Nationalsymbolen und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Etablierung von »Queer Belonging«, einer queeren Zugehörigkeit, die nicht nur an der Partizipation an einer globalen – in der Regenbogenfahne symbolisierten – LGBTIQ-Community arbeitet, sondern auch in die Regeln der nationalen Zugehörigkeit intervenieren will. 2011 waren dies im Speziellen die von Personen der PrideOrganisation verteilten Ansteckschleifen, die den Regenbogen mit den ungarischen Nationalfarben verbinden. 3 Die ungarische Kokarde ist ein rosettenförmiger Bandstern, der traditionell am Nationalfeiertag anlässlich der März-Revolution von 1848 getragen wird, um dem Widerstand gegen die Vorherrschaft der Habsburger zu gedenken. Die Verwendung dieses Abzeichens wurde in den letzten Jahren vermehrt von konservativen und rechtsextremen Parteien wie Fidesz und Jobbik eingesetzt, um ungarisches Nationalbewusstsein zu propagieren. 4 Die herzförmigen Ansteckschleifen, die während der Budapest Pride 2011 an die Teilnehmenden ausgeteilt wurden, lösten eben aufgrund dieser nationalistischen Tendenzen im ungarischen Diskurs Kontroversen aus. Denn das Terrain der Nationalsymbolik ist umkämpft und 3
Siehe: For the Union of the Rainbow and National Colors: http://2011.budapestpride.hu/ en/for-the-union-of-the-rainbow-and-national-colors vom 07.02.2014.
4 Siehe: Gefleddertes Erbe. Nationalistische Dominanz am Nationalfeiertag der Ungarn. www.pesterlloyd.net/2010_11/1115maerz/1115maerz.html vom 07.02.2014.
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wird regelmäßig von den oben genannten rechtsextremen Parteien benutzt, um unliebsame Gruppierungen und Veranstaltungen zu kriminalisieren, indem Veranstaltende wegen Herabwürdigung nationaler Symbole angezeigt oder die Budapest-Pride per se als Landfriedensbruch definiert werden. Die Anrufung von nationaler Symbolik vonseiten LGBTIQ-Organisationen ist deshalb besonders ambivalent. Unter dem Titel »For the Union of the rainbow and national colors« schreibt das Organisationsteam: »Hungarianness cannot mean an exclusionary system of values. We must learn to live together, accept ourselves with pride, and learn to deal with the diversities and the minorities.« 5
Der Versuch, den queeren Körper in die Nation einzuschreiben, erfolgt in jenen Momenten der politischen Entwicklung, in denen das Begehren nach staatlicher Anerkennung die Fragen nach ei106
ner gesellschaftlichen Akzeptanz der/des Anderen in den Schatten stellen. Die vorrangige Kollektivität, die Bestätigung finden soll, ist die nationalstaatliche – ein Projekt, das an diesem Beispiel sichtbar die soziale Bewegung für umfassende Rechte und Anerkennung von LGBTIQ-Personen wie auch rechtsextreme Parteien beschäftigt. Diese Verhaftetheit mit dem Staat wird ebenso produziert wie die Emotionen selbst. Damit wird eine Verbundenheit hergestellt, die nicht mehr klar zwischen Oppositionen unterscheidet. Ahmed verweist zum einen auf die Produktion bestimmter einzelner und kollektiver Körper, denen gewisse Emotionen (wie etwa Liebe) anhaften, und zum anderen auf die Verstrickungen der (antagonistischen) Körper und ihrer Abhängigkeiten voneinander. Liebesverhältnisse werden in weiterer Folge benutzt, um den Körper ei5
Siehe: For the Union of the Rainbow and National Colors: http://2011.budapestpride.hu/ en/for-the-union-of-the-rainbow-and-national-colors vom 07.02.2014.
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ner Nation zu bilden, Grenzen zu ziehen, Ein- und Ausschlüsse zu produzieren. Diese Grenzlinien verlaufen dann entlang »richtiger« und »falscher« Liebesobjekte, die sich durch religiöse, rassifizierte, sexuelle oder kulturelle Merkmale unterscheiden. Diese Körper werden durch die Idee eines Ideals gespeist und in Bewegung gesetzt, um sich in Abgrenzung zu Anderen als Gemeinschaft zu etablieren. »Rather, the nation is a concrete effect of how some bodies have moved towards and away from other bodies, a movement that works to create boundaries and borders, and the approximation of what we can now call national character […].« (Ahmed 2004: 133)
Diese Abgrenzung von Anderen erfolgt nicht mehr nur durch die Betonung des Anderen als das mit Hassgefühlen bedachte, sondern immer mehr auch durch die Verlagerung des Augenmerkes auf Liebesverhältnisse zur Nation. Diese Bewegung lässt sich etwa anhand der rechtsextremen österreichischen Partei FPÖ nachweisen, die sich gerne der Performativität des (National-) Stolzes bedient, mittlerweile aber auch auf Liebe als Emotion zum Communityaufbau setzt. Die handelnden Personen dieser Partei versuchen, sich als Liebesnationalistinnen/Liebesnationalisten zu etablieren: »Wir sind heute geleitet […] von der Kraft der Liebe. Wir handeln aus Liebe, aus Liebe zu unserer Heimat, aus Liebe zu unserer Kultur, aus Liebe zu den Menschen in unserem Heimatland. Und die größte Kraft und der größte Antrieb ist die Kraft der Liebe.« (Strache: Entscheidung für Österreich, Rede vom 24. Oktober 20126)
6 Aus: www.youtube.com/watch?v=NS2qrZ41U3g vom 07.02.2014
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Eine Fortsetzung dieses Liebesnationalismus findet sich in der Wahlkampfkampagne 2013 der FPÖ, die mit Hans Christian Strache und dem Slogan »Liebe deine Nächsten – Für mich sind das unsere Österreicher« warb. Reprise: »Love to hate you« Die österreichischen Nationalfarben Rot-Weiß-Rot übernehmen die Szenerie, ich streife die Kleider ab und das weiße Outfit weicht einer nationalistisch geprägten rot-weiß-roten Turnerhose, die rot-weiß-rote Farbenkombination verbreitet sich über den gesamten Raum. Die Anrufung der Nation als Referenz, als Ort des politischen Begehrens erfolgt oftmals auch in Kontexten sozialer Bewegungen, die sich immer wieder im Verhältnis zum Staat positionieren. Dieses Verhältnis zeigte sich etwa 2006 in einem Wagen auf einer der Regenbogenparaden in Wien, der übersät war mit österreichi108
schen Fahnen und dem Slogan »Gleiche Rechte für alle Österreicher!«. Die daraus folgenden Diskussionen und Änderungsvorschläge in »Gleiche Rechte für alle!« fanden jedoch keinen Widerhall. Es kam zu einem offenen Konflikt unmittelbar auf der Parade, der die grundsätzliche antirassistische und antinationale Haltung der Veranstaltung betraf. Was aber tun? Wie kann Liebe eingesetzt werden, ohne diesen Antagonismus von innen – außen zu bedienen? Ein Versuch, die strukturelle und insbesondere visuelle Logik von Gay-Pride-Paraden zu untergraben, war die sogenannte Rosa Lila Guerilla Love Attack. 2007 widmeten sich Aktivistinnen und Aktivisten rund um die Rosa Lila Villa dekonstruierend den Blick- und Bildregimen einer Parade, um sich selbst zu ermächtigen und die hegemonialen Sichtbarkeitspolitiken zu entblößen.
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Das Ziel der Aktion war es, die Grenze zwischen Zuschauenden und Teilnehmenden zu verwischen und insbesondere jene Personen als Lesben, Schwule und Trans*personen zu begrüßen und zu integrieren, die sich mit großen Fotoapparaten daranmachten, Bilder für ihren privaten Gebrauch zu schießen. Sie wurden von kleinen Rosa-Lila-Guerillagruppen begrüßt, geherzt und umarmt. Es wurde ihnen zu ihrem Coming-out gratuliert, ihnen ein Sticker angeheftet und dann ein Familienporträt mit ihnen gemacht, das sie mit ihrer neuen queeren Familie abbildete. Diese »Liebesattacke vom anderen Ufer« beabsichtigte eine Einverleibung der am Rande der Parade befindlichen Körper. Eine Grenze wurde liebevoll überschritten, durch eine Aktion, die einer heteronormativen Unversehrtheit entgegentrat. In diesem Sinne ist die Verbindung von Liebe und Attacke der Versuch (im Bewusstsein der Abhängigkeiten zwischen den oftmals gegensätzlichen Positionen), einen dritten Schauplatz einzu110
führen. Im Sinne eines »Borderlands« können Gefühle sowie damit verbundene Ambivalenzen dazu benutzt werden, neue Perspektiven zu eröffnen. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass der Gebrauch von Gefühlen also nicht nur emanzipatorischen Bewegungen bekannt ist. Auch die Rhetorik und der performative Einsatz von rechten Gruppierungen sind durchzogen sowohl von Hass-Sprache als auch immer wieder von Liebesreden. Diese Wechselwirkungen sind nicht zu unterschätzen, und ich habe gezeigt, wie kritische Einsätze auch in kapitalistischen Verwertungen enden können. Dennoch ist der Gebrauch von Gefühlen wie Hass, Liebe, Stolz und Scham keiner, der nur von Machtpositionen aus Verwendung findet. Auch auf diesem Terrain ist mit einer Gegenmacht zu rechnen. Reprise: »I feel love« (Jimmy Somerville und Marc Almond)
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Literatur Ahmed, Sarah (2004): The Cultural Politics of Emotion, London: Routledge. Anzaldúa, Gloria (2007): Borderlands/La Frontera: The New Mestiza, San Francisco: Aunt Lute Books. Carter, David (2004): Stonewall. The Riots that Sparked the Gay Revolution, New York: St. Martin‘s Griffin. Huber, Marty (2013): Queering Gay Pride. Zwischen Assimilation und Widerstand, Wien: Zaglossus. Kosofsky Sedgwick, Eve (2003): Touching Feeling. Affect, Pedagogy, Performativity, Durham: Duke University Press. Lanigan-Schmidt, Tommy im Dokumentarfilm American Experience: Stonewall Uprising, 2010: 01:05:20, unter: http://www.pbs.org/wgbh/ americanexperience/films/stonewall/player/_vom 07.02.2014. Lorde, Audre (1984): »Uses of the Erotic. The Erotic as Power«, in: Audre Lorde, Sister Outsider. Essays and Speeches by Audre Lorde, New York: The Crossing Press, S. 53–59. Sandoval, Chela (2002): »Dissident Globalizations, Emancipatory Methods, Social Erotics«, in: Arnaldo Cruz-Malave/Martin F. Manalansan (Hg.), IV: Queer Globalization: Sexuality, Citizienship, and the Afterlife of Colonialism, New York/London: New York University Press, S. 20–32. Strache, Heinz Christian (2012): Entscheidung für Österreich, Rede vom 24. Oktober 2012, unter: www.youtube.com/ watch?v=NS2qrZ41U3g vom 07.02.2014.
Abbildungen Marty Huber: Fotoserie Hass, Liebe, Scham, Stolz, 2014. Fotos © Hannahlisa Kunyik
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Nanna Heidenreich Die Perspektive der Migration aufzeichnen/ einnehmen/ausstellen/aktivieren »Politische Subversion setzt kognitive Subversion voraus.« Pierre Bourdieu
Bilder formatieren Migration, sie leisten einen konstituierenden Beitrag zum Migrationsregime und somit dazu, wie Migration gesellschaftlich, politisch, rechtlich und polizeilich verhandelt wird. Dieses Argument von Brigitta Kuster in ihrer Analyse von Dokumentarfilmen zu Migration (vgl. Kuster 2007: 187) dreht gewissermaßen die Beweislast um: Nicht die Angemessenheit der Repräsentation, das Verhältnis vom Abbild zur vorgängigen Realität, gilt es zu betrachten, sondern auch die von anderen Theoretikerinnen und Theoretikern beschriebene geschichtsbildende Kraft von Filmen und Videos aus der Perspektive der Migration selbst. Migration, so auch Sandro Mezzadra, ist als »fait social total« zu verstehen, was bedeutet, dass Migration nicht nur mit den Mitteln und der Sprache eines der kanonisierten wissenschaftlichen Fächer untersucht werden kann, sondern es bedarf auch narrativer und metaphorischer Redeweisen sowie Bilder (vgl. Mezzadra 2005: 794). Migration fordert dabei Repräsentation fundamental heraus: Die Bewegungen der Migration stellen nationalstaatlich fundierte Konzepte, wie Staatsbürgerschaft, grundlegend infrage, und damit die Verfasstheit des »politischen Körpers« als solchem. Die Herausforderung bezieht sich aber eben nicht nur auf Reprä-
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sentation im Sinne von (politischer) Vertretung, sondern auch auf Darstellung; so stellt die sogenannte illegalisierte Migration Vorstellungen von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit zur Debatte. Von diesem Gefüge ausgehend, liegt es nahe, Migration – was immer auch heißt: Es muss auch über Rassismus gesprochen werden – mit und in audiovisuellen Medien zu verhandeln und Aktivismus und künstlerische Praktiken miteinander zu verschalten. Tatsächlich ist dies bereits seit ungefähr einem Jahrzehnt der Fall, es gibt eine beständig wachsende Anzahl von thematischen Ausstellungen und einzelnen künstlerischen Arbeiten, die Migration verhandeln. Dazu kommt, dass sich nun auch die Kunst- und Bildwissenschaften mit Migration befassen und dass in der und mit Kunst auch das Politische diskutiert wird. Mich interessiert hier nun die Frage, wie es um die »Kunst der Migration« steht, also um die Relation der findigen Strategien und Kämpfe der Migration zu künstlerischen Praktiken. 114
Diese Frage muss dabei in der Traditionslinie der Auseinandersetzungen um die Verbindung von Aktivismus, Theorie und Kunst, die für (interventionistische) künstlerische Praktiken als auch (linke) politische Organisation in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren eine wesentliche Rolle gespielt haben, betrachtet werden – zumal auch damals eine wichtige Schnittstelle der Fokus auf migrantische Kämpfe und Kämpfe gegen Rassismus war.1 Es 1
So endet das Manifest von »Republicart«, das Gerald Raunig 2002 verfasst hat, wie folgt: »Das Wieder-öffentlich-Werden von Kunst im Kontext politischer Bewegungen zeichnet sich ab. Um die Themenbereiche und aktivistischen Stränge von Globalisierung, Grenzregimes und Migration entstehen die Bedingungen dafür, dass ›revolutionäre Maschine, Kunst-Maschine und analytische Maschine wechselseitig Bestandteile und Räder voneinander werden‹ (Gilles Deleuze/Félix Guattari).« (Raunig 2002: o.S.) Raunig gehörte 2002 zu den Veranstaltern der Konferenz »Transversal« (http://igkultur.at/projekte/transversal/transversal), die neue transnationale politische Kämpfe und transsektorale Verbindungen von Aktivismus, Theorieproduktion und künstlerischer Intervention adressierte. Die Konferenz wurde von IG Kultur und European Institute for Progressive Cultural Policies (eipcp) veranstaltet, Letzteres wurde von Raunig mitbegründet. Eipcp publizierte zunächst das republicart-Webjournal (2002-2005) und heute die Onlinepublikation Transversal. In beiden finden sich zahlreiche Texte, die für diesen Beitrag relevant sind. Einige werden im Folgenden auch zitiert.
Die Perspektive der Migration
ist jedoch an der Zeit, diese Verbindungen erneut einer Betrachtung zu unterziehen, nicht zuletzt, weil die Deutungshoheit und die Ansprüche der Kunst auf gesellschaftlichen Einfluss sich ebenso verstärkt haben wie ihre ökonomische und institutionelle Macht. Während Joshua Decter 1995 im Sammelband Im Zentrum der Pe-
ripherie noch kritisch fragte, ob »Widerstand oder Opposition [bedeutet], in einer kritischen Beziehung zu soziokulturellen Positionen zu stehen« (Babias 1995: 156), scheint es heute kein Problem zu sein, wenn der Autor, Theoretiker und Medienaktivist Franco »Bifo« Berardi in einem Text, der für die 54. Biennale in Venedig in Auftrag gegeben wurde, schreibt: »In the coming months, we won’t need a political party. Rather, we’ll need a bunch of curators for the European insurrection.« (Bifo 2013: o.S.) Oder dass der Kunsthistoriker T. J. Demos, der sich in den letzten Jahren insbesondere in den Themenbereichen Migration, Exil und an weiteren Schnittstellen von Kunst und Politik einen Namen gemacht hat, 2 einen Künstler wie Renzo Martens für seinen umstrittenen Film
Enjoy Poverty (2008), der durch zahlreiche Filmförderungen und Kunstinstitutionen unterstützt wurde und ausschließlich im Kontext von Ausstellungen, kuratierten Filmprogrammen und Filmfestivals gezeigt wird, 3 öffentlich und unwidersprochen als »Aktivisten« bezeichnen kann. 4
2 Vgl. www.ucl.ac.uk/art-history/about_us/academic_staff/dr_tj_demos vom 03.09.2013. 3
Der eigentliche Titel des Films ist Episode III. Informationen zum Film, den Credits und seinen Präsentationen finden sich auf der Webseite des Künstlers: http://renzomartens. com/episode3/film vom 03.09.2013.
4 So bei der Konferenz »L’artiste en ethnographe« am Musée du Quay Branly in Paris am 26. und 27. Mai 2012.
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Nanna Heidenreich
Wer oder was ist politisch? Der gegenwärtig so populäre Anspruch in der Kunst auf den Status einer politischen Avantgarde bedeutet, dass die Frage nach den Schnittstellen von Migration, Repräsentation, Antirassismus, Kunst und Aktivismus in Zusammenhang mit den derzeitigen Aushandlungen, was politisch ist, den Diskussionen um den Begriff des Politischen, gestellt werden muss. 5 Entgegen der dem »Feld der Politik« (Bourdieu 2013: 97ff.) immanenten, empiristischen Zeitdiagnose einer zunehmenden Politikmüdigkeit geht es bei den Diskussionen darum, was politisch ist, auch um die Infragestellung des »Monopols Politik« (ebd.: 329 ff.). So werden Ereignissen, wie den Protesten in Husby, Schweden 2013, den Riots 2011 in Großbritannien, den Kämpfen in den französischen Banlieues oder den sogenannten 1.-Mai-Krawallen in Deutschland, ihre genuin politischen Anliegen in Abrede gestellt. Dieses Infragestellen ist dabei 116
jedoch als Teil jenes rassistischen Gefüges zu begreifen, das diese Auseinandersetzungen überhaupt erst ausgelöst hat. Den Akteurinnen und Akteuren dieser Proteste wird der Status als politische Subjekte in Abrede gestellt und ihnen statt dessen reine Zerstörungswut, mangelnder Integrationswille, radikale Islamisierung u.a. unterstellt.6 Im Falle der »1.-Mai-Krawalle« in Berlin und Hamburg wird die Depolitisierung beispielsweise explizit mit der vermeintlich zunehmenden Beteiligung von »Jugendlichen mit Migrationshintergrund« verknüpft. Hier greifen die Evidenzmaschinen der Rassisierung und die Diagnose des Ereignisses als zunehmend unpolitisch direkt ineinander. In der Abwehrreaktion tritt nicht nur die Verteidigung des (rassistischen) Status quo zutage, sondern auch 5
Siehe hier v.a. Oliver Marchart 2010.
6 Siehe dazu Power 2013 und Trott 2013.
Die Perspektive der Migration
die Angst vor der Macht der Umwälzung von politischer Subjektivität, die die Kämpfe der Migration versprechen (auch deswegen die beliebte Inszenierung von Bedrohungsszenarien durch Migrationsbewegungen). Die Frage danach, was das Politische sein kann oder soll, ist daher gerade produktiv von den Kämpfen insbesondere sogenannter irregulärer, klandestiner oder illegalisierter Migration her zu denken. Dies hat Etienne Balibar bereits 1997 in seiner Rede »Was wir den Sans-Papiers verdanken« formuliert: »Wir verdanken […] es ihnen schließlich […] Bürger_innenschaft unter uns neu erschaffen zu haben, insofern es sich dabei nicht um eine Institution oder einen Status, sondern um eine kollektive Praxis handelt. […] sie haben auch neue Formen von Aktivismus und politischem Engagement auf den Plan gerufen und alte erneuert.« (Balibar 2013: o.S.)
Balibars Rede stand im Kontext einer anhaltenden Solidarisierungswelle, nachdem die Besetzung der Saint-Bernhard-Kirche durch Sans-Papiers ein halbes Jahr zuvor brutal geräumt worden war. Es wäre zu einfach, Balibars Rede als bequeme Artikulation aus der Distanz heraus zu interpretieren, als wohlwollende Parteinahme, als romantische Verklärung der notwendigen Radikalität dieser Kämpfe. Natürlich besteht eine signifikante Differenz zwischen den Positionen eines (weißen) Akademikers und denjenigen der Sans-Papiers. Und diese Differenz ist auch für die Frage, wie wir die Zusammenhänge von Aktivismus, Theorie und Kunst denken, relevant, weil sie stets auf die Fundierungen von Repräsentation zurückführt, was neben Darstellung und Vorstellung immer auch Vertretung bedeutet: Wer spricht? Wer wird gehört? Wer wird gesehen, wie und was wird übersehen? Der Fragenkomplex nach Subalternität, Zeugenschaft und Autorität kann hier jedoch
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Nanna Heidenreich
nur mitschwingen. An dieser Stelle ist mir zunächst wichtig, dass Balibar einen Umschlagpunkt benennt, der den fundamentalen Beitrag migrantischer Kämpfe für die Reformulierung des Politischen, theoretisch wie praktisch, hervorhebt. Yann Moulier Boutang, dem wir die These von der »Autonomie der Migration« verdanken, hat diese Reformulierung 1999 um die Beschreibung »the art of flight« (vgl. Boutang 2001: o.S.), die Kunst des Exodus, erweitert, die die Verweigerung, die Flucht, nicht als passiv, sondern als aktive politische Artikulation versteht.7 In der Folge hat sich so das wichtige Diktum entwickelt, Migration müsse als politische und soziale Bewegung verstanden werden (vgl. Bojadzijev 2009). 8 So geht es auch heute, mehr als eine Dekade später, darum, die Refugee-Proteste überall in Europa (und nicht nur dort) als Ausdruck einer Neuformierung politischer Subjektivität zu begreifen. Exemplarisch hierzu Ilker Ataç:
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»Die Proteste dienen nicht nur dem Sichtbarwerden bislang politisch unsichtbar gemachter Subjekte, sondern lassen auch den Willen erkennen, dass es sich diese nicht mehr gefallen lassen, räumlich, sozial und rechtlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt zu werden. Im Zentrum der Bewegung stehen dabei selbstartikulierte Forderungen, die mit ihrem Kampf um die Konstituierung als politisches Subjekt einhergehen.« (Ataç 2013: o.S.) 9
7 Zum Exodus siehe auch Papadopoulos/Stephenson/Tsianos 2009; zur Analyse sogenannter sozialer Nicht-Bewegungen als politische Bewegungen siehe insbesondere Bayat 2012, der hierfür urbane subalterne Bewegungen im Iran untersucht. 8 Siehe hierzu auch das Unterkapitel »The Subject of Politics« in Mezzadra/Neilson 2013, S. 251–257. 9 Ataç führt auch aus, wie Flucht als politischer Akt zu verstehen ist: »In vielen Fällen ist also bereits der Grund für die Flucht ein politischer Akt, die Entscheidung zur Flucht wird zu einem politischen Akt und auch die Reisebedingungen sowie die Notwendigkeit, sich im Hinblick auf die Schutzsuche in einem anderen Land zu organisieren, sind politische Akte.« (Ataç 2013: o.S.)
Die Perspektive der Migration
Die Frage danach, was das Politische ist, ist meiner Ansicht nach die entscheidende Frage in Hinblick auf die »Kunst der Migration«. Was nicht heißt, dass die Frage nach deren Formatierung nachrangig wäre, im Gegenteil. So möchte ich gleichermaßen auch da kritisch einhaken, wo die reflexhafte Reaktion auf skandalöse Zustände lautet: »Lass uns einen Film (ein Video) dazu machen.« Dies ist ein Impuls, der im linken Aktivismus meiner Ansicht nach zu wenig kritisch reflektiert wird. Als würde das politische Versprechen von Kino (als Gesamtsystem, nicht nur als Summe aller Filme) beziehungsweise das Versprechen von Videoaktivismus seit Mitte des 20. Jahrhunderts ungebrochen fortbestehen. Filme und Videos über politische Ereignisse oder mit einem politischen Anliegen zu machen, behauptet damit nur zu oft, mit der Sache an sich (dem Film, dem Video) sei das Politische schon realisiert (gerne auch nur: dokumentiert). Zugleich wird über das Politischwerden, den Prozess der politischen Subjektbildung mit der Kamera nicht weiter nachgedacht. Ich behaupte, dass hier ein Defizit hinsichtlich der Reflexion der eigenen bildpolitischen Praxis besteht, und zwar jenseits der Befragung auf die jeweilige repräsentationspolitische Haltung hin, die durchaus gängig ist. Bilderpolitik steht zwar auf der Agenda, aber leider zu oft lediglich als Kritik an massenmedialen Stereotypen und der Evidenzproduktion mithilfe von Bildmaterial zur Begründung militärischer Interventionen. Wie jedoch die eigene politische Praxis auch mit und im Bild (und Ton) formatiert werden kann, bleibt zu oft außen vor. Filme und Videos – ebenso wie Ausstellungen – stehen nicht einfach nur in einer Abbildrelation zum Politischen, und sie haben auch keinen reinen Bildungsauftrag. So wichtig Gegenöffentlichkeit und das Zur-Verfügung-Stellen von Information ist, so wichtig sind auch andere Funktionen, etwa Aspekte des Ästhetischen, die Relation von Produktion und Rezeption, das Denken und Werden mit der Kamera. Auch diese Fragen sind nicht neu, im Gegenteil,
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aber sie werden wiederum zumeist vorwiegend kunstimmanent verhandelt und nicht mit gleicher Rigorosität als politische Fragen gestellt. So wird im Umkehrschluss mit der Designation des Sujets Migration für ein Ausstellungsprojekt vermeintlich die Entscheidung für diese Form der Verhandlung und Artikulation bereits vermittelt. Diese Fragen müssen nun nicht mehr explizit zur Debatte stehen, da mit der Entscheidung für das Sujet das politische Anliegen bereits ausreichend legitimiert sei. Melanie Friend beispielsweise setzt sich in ihrem Artikel »Representing Immigration Detainees« zu ihrer Ausstellung Border Country (2007) über Asylbewerber/-innen in Großbritannien zwar detailliert mit repräsentationspolitischen Komplikationen, wie problematischer Sichtbarmachung, Viktimisierung usw., auseinander. Die Frage, warum sie in diesem Feld ein künstlerisches, genauer ein fotografisches und audiobasiertes Projekt überhaupt verfolgt und für eine sinnvolle Intervention hält, wird stillschweigend als 120
beantwortet vorausgesetzt. Friend adressiert zwar ihr Unbehagen angesichts der Ungleichheit der Situation und ihre Empathie für die Leidensgeschichten ihrer Interviewpartner/-innen. Dies affiziert jedoch nicht ihre Wahl des künstlerischen Formats und gehört, vergleichbar zur Versicherung eines guten, freundschaftlichen Verhältnisses, zu den gefilmten Personen in einem Dokumentarfilm, zu den performativen Äußerungsakten eigener Involvierung, ethischer und politischer Verantwortlichkeit, deren Effekt eben jene Legitimierung des eigenen Projekts als inhärent politisch (allerdings im Modus des moralischen) ist. »Whilst in the process of making ›Border Country‹ I often felt immense empathy with the individuals I met, from the start I had to make clear to interviewees the boundaries and limits of my project. I laid out clearly the parameters of our relationship: how the project could not help them directly. I did try to assist several
Die Perspektive der Migration
detainees, […] but I had to be clear that I was neither a member of the press able to swiftly publicise their plight – which was unlikely to have an effect anyway – nor was I a legal expert who could get them out of detention. I could not claim that being interviewed was an empowering experience for the detainees, or encourage any hope that their voices could effect change; but they might help influence public opinion.« (Friend 2010: o.S.)10
Friend zählt also wichtige Punkte auf: effect, change, empowerment, help, empathy – aber jeder Moment von Involvierung wird von ihr umgehend relativiert.
Radical rewind Dass Kunst und politischer Aktivismus als selbstverständlich miteinander verschaltet gedacht werden, ist allerdings auch als das Ergebnis von radikalen Interventionen in früheren Jahrzehnten, die sowohl das Feld der Kunst und die künstlerische Praxis als auch das Feld des Politischen entscheidend verändert haben, zu sehen. Das große Versprechen der 1990er-Jahre lautete: Aktivismus und künstlerische Praxis sind keine Dichotomie mehr.11 Ihren Grund fand diese Behauptung dabei auch ganz wesentlich in der Erweiterung eines aktivistischen/politischen Vokabulars um symbolisch-interventionistische Formen im 1997 erstmalig erschienenen »Handbuch der Kommunikationsguerilla«12 , das sich als »der 10 Wie so ein Verhältnis auch anders reflektiert werden kann, führt die Filmemacherin, Kuratorin und Vermittlerin Madhusree Dutta in einem Interview aus (siehe Sarkar/Wolf 2012). 11 Für einen Überblick politischer Kunst in den 1990ern im deutschsprachigen Raum siehe Kube Ventura 2002. Siehe außerdem zu den Diskussionen um die Relation von Theorie, Aktivismus und Kunst: Raunig 2005 sowie Babias 1995. 12 Vgl. autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/Luther Blisset/Sonja Brünzels (1997): Handbuch der Kommunikationsguerilla, Berlin: Assoziation A.
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unentbehrliche Werkzeugkasten für soziale Protestbewegungen«13 begriff. Anlässlich der 4. Auflage des Buches hieß es wie folgt: »Ob Castor-Transport oder Grenzcamp, Abschiebepraxis von Fluglinien, Ausverkauf eines ganzen Stadtteils in London oder Regierungswechsel in Österreich, unwillkommener Ministerbesuch in der Provinz oder globaler Protest in Genua: Die Kommunikationsguerilla hat ihre Finger drin. Nicht dass die einzelnen Einheiten sich untereinander kennen – was sie verbindet, ist ein bestimmter Blick auf die Paradoxien und Absurditäten der Macht, ein Spiel mit Repräsentationen und Identitäten, mit Verfremdung und Überidentifikation.« (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/Sonja Brünzels 2002: o.S.)
Zwei Beispiele für einen Aktivismus, der erfolgreich die Usurpation der herrschenden kulturellen Grammatik mit Fokus auf Migration und Antirassismus betrieben hat, möchte ich hier hervorheben: 122
die Aktion »kein mensch ist illegal« (kmii) und das antirassistische Netzwerk »Kanak Attak« (zu dem ich einige Jahre selbst gehört habe). kmii wurde 1997 auf der »documenta X«, ausgehend vom Hybrid Workspace14 , ins Leben gerufen und war »von Anfang an als hybrides Projekt künstlerischer wie politischer Praxis angelegt« (Homann 2002: o.S.). Es verband einen »radikalen politischen Anspruch mit taktischem Medienverständnis und einer Präsenz im Kunstdiskurs [und verknüpfte] vielfältige antirassistische Aktivitäten in komplexen politischen sowie ästhetischen, z.B. (pop-)kulturellen Bündnissen« (ebd.). Dem Aufruf schlossen sich in kürzester Zeit zahlreiche Gruppen und Einzelpersonen an, die Initiative setzt
13 Siehe die Blogchronik der Kommunikationsguerilla: http://kommunikationsguerilla.twoday.net/ vom 05.09.2013. 14 Der Hybrid Workspace wurde von Geert Lovink und Pitz Schultz konzipiert und umfasste eine lange Liste von beteiligten Einzelpersonen, Initiativen und Gruppen. Siehe dazu: www. medialounge.net/lounge/workspace/ vom 05.09.2013.
Die Perspektive der Migration
sich im »No-Border-Netzwerk« und Kampagnen wie der »Deportation Class« bis heute fort.15 Während kmii zunächst dezidiert im Kunstkontext verortet war, war Kanak Attak von Anfang an ein politisches Projekt, ein antirassistisches Netzwerk, das jedoch regelmäßig aufgrund der verwendeten Methoden und Werkzeuge immer wieder als Künstler/innengruppe missverstanden wurde, und zwar bis heute.16 Das Bündnis wurde 1998 mit einem Manifest ins Leben gerufen.17 Alle, die an diesem Manifest mitschrieben, waren zuvor bereits in antirassistischen, migrantischen und linken Zusammenhängen umtriebig; nicht wenige davon waren auch als Kulturproduzentinnen und -produzenten tätig. Dem Aufruf leisteten zahlreiche Personen Folge. Nach einem ersten bundesweiten Treffen in Frankfurt a.M. bildeten sich zahlreiche Kanak-Attak-Gruppen in verschiedenen (west-)deutschen Städten. Zugleich wurden Veranstaltungen auch auf Bühnen unter dem Label »Kanak« (dieses hatte Feridun Zaimoğlu bereits zuvor für seine Performances geprägt) beziehungsweise »Kanak Attak« organisiert, darunter die Lese- und Soundtour »VIP: KANAK« von Imran Ayata und Feridun Zaimoğlu. Bei der Hamburger Station dieser Tour 2000 in der damaligen Schilleroper hat Aljoscha Zinflou die Verquickung von politischer Praxis und Kultur in einem Statement von Kanak Attak als Ausrichter des Abends so formuliert: »[I]ndem wir in den Bereich der Kultur vordringen, besetzen und politisieren wir einen Bereich, der auch in dieser Zeit Kanaken ihre Arbeit nur unter bestimmten Voraussetzungen erlaubt. Sexy, hybrid, bereichernd, erfolgreich, so sollen die Ghettokids aus 15 Siehe zum No-Border-Netzwerk: www.noborder.org/ sowie zu Deportation Class: www. noborder.org/archive/www.deportation-class.com/lh/ vom 04.09.2013. 16 Siehe hierzu Heidenreich 2013b und Heidenreich/Vukadinovi 2008. 17 Siehe dazu: www.kanak-attak.de/ka/archiv.html vom 05.05.2013.
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Kreuzberg die Vorzeigekanaken der Berliner Republik sein. Wir jedoch kommen nicht nur aus Kreuzberg, sondern von überall und lassen uns nicht anpassen oder vorschreiben, wie unser Feld auszusehen hat.« (eigene Transkription18)
2001 fand die erste große Veranstaltung von Kanak Attak mit dem Titel »Dieser Song gehört uns« in der Volksbühne am RosaLuxemburg-Platz in Berlin statt. Das gesamte Haus wurde mehrere Tage mit Vorträgen, DJ-Sets, Diskussionen, kommentierten Filmausschnitten und mit der »OpelPitbullAutoput«-Revue bespielt. Diese »History Revue« ist insofern hervorzuheben, als in ihr zum ersten Mal in einer Performance Migrationsgeschichte(n) mit Fokus auf die Dynamiken der Kämpfe präsentiert wurde(n). Klassische Archiv- bzw. Forschungsarbeit fand hier den Weg ins Rampenlicht und diente zugleich dazu, daraus Positionen zur aktuellen gesellschaftspolitischen Situation zu entwickeln. Es folgten »Konkret/ 124
Konkrass« 2002, wiederum eine Mischung aus Bühne, Panels, Filmen und DJ-ing, mit den Themen »No Integration«, Recht auf Legalisierung und Globalisierung von unten. 2003 und 2004 wurden die Performance »Le Show Papers Royal«, die im Rahmen der Kampagne »Recht auf Rechte« und der Gründung der »Gesellschaft für Legalisierung« entstand sowie die Produktion »Dönerstress«19 aufgeführt. Die letzte Performance von Kanak Attak, »The Walking Cube«, fand 2008 und 2009 statt. Sie wurde erst im Haus der Kulturen der Welt in Berlin im Rahmen der Ausstellung »In der Wüste der Moderne. Koloniale Planung und danach«20 präsentiert und
18 Eigene Transkription der Videoaufzeichnung des Abends aus dem verstreuten Kanak-Attak-Archiv. 19 Siehe zu allen Veranstaltungen www.kanak-attak.de und www.rechtauflegalisierung.de. 20 Siehe www.hkw.de/de/programm/2008/wueste_der_moderne/_wueste_der_moderne/ projekt-detail_wueste_20465.php vom 23.12.2012.
Kanak Attak: »Dieser Song gehört uns!«, Poster, Berlin, 2001
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dann als neue Version für das Ausstellungs- und Rechercheprojekt »Crossing Munich«21. Diese Aufzählung scheint nahezulegen, wie und warum Kanak Attak als Künstler/-innengruppe missverstanden werden konnte. Sie fokussiert aber auch nur auf eben jene Momente, in denen Kanak Attak auf die Bühne gegangen ist (daneben gab es Videos, Vorträge, Textproduktionen, Broschüren, eine CD, T-Shirts u.v.m.). Man könnte die Geschichte dieses Bündnisses auch völlig anders erzählen und auf Diskussionsprozesse, Gruppentreffen, schwierige und langwierige Aushandlungen von gemeinsamen Argumenten, Strategien und Kampagnen mit anderen Aktivistinnen und Aktivisten fokussieren. Wie nicht anders zu erwarten, sind diese Prozesse jedoch weniger oder gar nicht dokumentiert, wohingegen die kulturellen Artikulationen Artefakte produziert haben, auf die ich heute zurückgreifen kann. Dass Kanak Attak jedoch oftmals als Kunst und nicht als Politik rezipiert wurde, liegt aber vielmehr daran, wie im Feld der Kunst 126
symbolisches Kapital generiert wird (»zitatfähig« wird man jedenfalls nicht durch die Teilnahme an Gruppentreffen und Diskussionsprozessen). In weiser Voraussicht hieß es schon 2000 im Hamburger Schilleroper-Statement: »Wer wird wann zur Kanaka-Crème und warum?« (eigene Transkription22). Dazu kommt der Umstand, dass das Versprechen der 1990er-Jahre, Kunst und Politik zu einer neuen Einheit zu verbinden, auf institutionelle und ökonomische Logiken traf, die eher an der Absorption in ihre jeweiligen Codes und Systeme interessiert waren. Es war aber auch nicht so, dass im Kontext der sogenannten Poplinken um diese Verwechslung nicht gewusst wurde: »Kommunikationsguerilla ist Theorie, Aktivismus, Poesie, Handwerk, Technik, politische Arbeit, Genuss, manche halten sie für Kunst [Hervorh. N.N.].« (autonome a.f.r.i.k.a. gruppe/Sonja Brünzels 2002: o.S.) 21 Siehe www.crossingmunich.org/ vom 23.12.2012. Das Projekt widmet sich der Geschichte und Gegenwart der Migration in München. 22 Siehe Fußnote 18.
Kanak Attak: Konkret Konkrass. no integracíon, Poster, Berlin, 2002
Nanna Heidenreich
Die Kunst der Migration Das Missverständnis war also auch gewollt und selbst induziert – ging es doch gerade darum, die Reglementierungen in beiden Feldern, der Politik und der Kunst, zu ignorieren. Dies war getragen von der Überzeugung, dass hier eine neue aktivistische Praxis am Entstehen ist, die sich um eine Zuordnung nicht nur nicht kümmerte, sondern das Projekt des Politischen durch Einnahme und Umschrift der politischen und kulturellen Grammatik voranzutreiben gedachte. In der Folge hat sich ab den frühen 2000er-Jahren jedoch eine wesentliche Veränderung vollzogen. Kunst brachte nicht mehr nur Superstars hervor, Kunst wurde selbst zum Superstar, und dies schloss interventionistische und politische Kunst mit ein. Die Kunsttheorie, insbesondere auch die sogenannte Bildwissenschaft, erklärte sich zur Masterwissenschaft. Kunst wurde 128
Marktmacht und Themengenerator. In den letzten Jahren kommt hinzu, dass im Kontext der Kunst die Überzeugung gehandelt wird, dass man angesichts des Versagens der institutionalisierten Politik nunmehr aufgerufen sei, die Aufgabe einer politischen Avantgarde zu übernehmen, wie das Zitat von Bifo eingangs plastisch belegt. Aber anstatt Kunst und Politik nicht mehr als sich ausschließende Bereiche zu verstehen (und die alte »Form versus Inhalt-Debatte« produktiv auf andere Gleise zu bringen), wird stattdessen ein Avantgardestatus reklamiert, der beides umfasst und dabei das Politische der Kunst subsumiert, beziehungsweise in der Kunst jenen Ort behauptet, an dem das Politische (neu oder überhaupt erst) entfaltet werden kann. Diese Beobachtung stellt die Bedeutung neuer theoretischer Ansätze zur produktiven Verschaltung von Ästhetik und Politik – Gewährsmann Nummer Eins ist hier Jacques Rancière – dabei keineswegs in Abrede, im Ge-
Die Perspektive der Migration
genteil. 23 Das Politische weiter zu denken, setzt eben gerade die Entwendung der Definitionshoheit aus dem Feld der Politik voraus. Aber praktische Konkretisierungen im Kunstfeld müssen diesen Umschlagpunkt bedenken. Wie bereits erwähnt, ist Migration zu einem erfolgreichen Ausstellungsthema geworden. Es gibt kuratierte Ausstellungen zeitgenössischer Kunst, Ausstellungen, in denen es vor allem darum geht, Migration als geschichtsmächtige Bewegung anzuerkennen (das betrifft auch die sogenannte Musealisierung von Migration) sowie dokumentarische Ausstellungen, die politisch (und historisch) aufklären wollen. Daneben finden Ausstellungen im aktivistischen Kontext statt, wie beispielsweise das »Kunstfestival der Flüchtenden« im Rahmen des »refugee protest camps« oder im Rahmen des »Festivals gegen Rassismus« (beide in Berlin 2013). Auch haben sich Kultur- und Kunstprojekte mit aktivistisch-politischem Anspruch wie die »Wienwoche« (2012) gegründet; 2014 ist deren Motto »Migrazija-yeah-yeah … wie Migration uns alle verändert«. 24 Ich habe an anderer Stelle die aktuelle Prominenz von Migration im kunsttheoretischen Diskurs bereits diskutiert (vgl. Heidenreich 2011, 2013a) und verzichte hier auf eine (erneute) Auflistung von Titeln, Forschungsprojekten und Personen. Stattdessen greife ich beispielhaft jene Problematik heraus, die ich anschließend mit Blick auf Partizipation und Rezeption zuspitzen möchte, nämlich: Worum geht es? Es muss um etwas gehen, wenn der politische Anspruch, sei es in (kunst‑)theoretischer Aushandlung oder in künstlerischer Praxis, plausibel sein soll. Das heißt nicht, dass alleine die Dringlichkeit des Anliegens oder der Situation als Antwort auf die Frage, wie Kunst und Aktivismus verschränkt werden 23 Siehe dazu u.a. Rebentisch 2011 und Kastner 2012. 24 Siehe dazu www.wienwoche.org vom 28.10.2014.
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können, genügt oder dass damit die Frage nach den Formen des Politischen als beantwortet gelten kann. Aber es macht einen entscheidenden Unterschied, ob sich die These von der Autonomie der Migration auf die Kämpfe der Migration bezieht oder auf ein Videoessay. 25 Man kann die richtigen Themen besetzen und verhandeln und doch falsch liegen, im Sinne von nichts damit meinen. Es gibt auch kein erblich verbrieftes Recht auf Transgressivität, weder in der Sphäre der Kunst noch in der eigenen Biografie und auch nicht mit Verweis auf die eigene Identität. Was wann wie politisch ist, muss immer wieder von Neuem ausgehandelt werden. Es gibt daher auch keine ästhetischen oder formalen Strategien, die Affekte und Effekte steuern könnten, ein Format, das garantiert – und dann auch noch in die richtige Richtung – in Bewegung zu setzen vermag. Es gibt nur die immer wieder zu stellenden Fragen, so auch die nach Partizipation und Rezeption. 130
Gerald Raunig hat 2000 die folgenden (durchaus plausiblen) Kriterien für eine kritische, wie er schreibt »nichtinhaltistisch verstandene Interventionskunst« (Raunig 2000: o.S.) zusammengestellt. »Die Tätigkeit der InterventionistInnen liegt erstens eindeutig im Präproduktiven, also neben und vor allem vor dem Werkcharakter. Das bedingt ein weitgehendes Ausfallen der Ausstellbarkeit von Produkten, des Zirkulierens im Kunstmarkt, der Notwendigkeit von Vermittlung. Sie hat zweitens mit Eingriffen in die Form, in die Strukturen eines mikropolitischen Felds zu tun. Statt einer 25 So verwendet T. J. Demos im Grunde das Vokabular der These von der Autonomie der Migration, wenn er über Ursula Biemanns »Sahara Chronicle« (2006–2007) schreibt: »[W] herein migrants are shown as definers of their own destiny, existing outside of the nation’s attempts at controlling them. According to their geography of resistance, migrants chart their course defiantly through the state’s space, rendering its borders porous, positioning themselves as rebels against the sovereignty that otherwise excludes them.« (Demos 2008: 190)
Die Perspektive der Migration
Arbeit an Produkten muß sie die Arbeit an den Mitteln der Produktion sein. Drittens ist über die mikropolitischen Effekte hinaus der Modellcharakter maßgeblich, der anderen ProduzentInnen einen verbesserten Apparat zur Verfügung stellen, sie zur Produktion anzuleiten vermag.« (Ebd.)
Im letzten Punkt klingt die Idee der Partizipation mit an, die vor allen Dingen in der »Community Art« umgesetzt wurde. Jedoch, wie Stella Rollig am selben Ort (die Transversal-Ausgabe »kunst 2.0«) konstatiert: »Die Gleichheit von Künstlern und Nicht-Künstlern in von Künstlern erdachten und initiierten Projekten bleibt Fiktion.« (Rollig 2000: o.S.) Auch Raunig ist sich dieser Fiktion bewusst, er beschreibt in derselben Transversal-Ausgabe, wie Community Art fehlschlagen kann, wenn sie die Ungleichheit selbst noch kommodifiziert und ausstellt (vgl. Raunig 2000). Auf die Spitze getrieben, findet aber gerade dies erfolgreichen Anklang in der Kunstwelt: zum Beispiel die Perversion partizipativer Kunst in der Zuspitzung der Über-Ausstellung des Elends in zahlreichen Arbeiten von Santiago Sierra, in denen er u.a. politische Flüchtlinge, Straßenhändler, Prostituierte und (illegalisierte) Migrantinnen und Migranten sinnlose, brutale, redundante, mühevolle und grenz- und schamverletzende Tätigkeiten gegen minimale Bezahlung ausüben lässt, 26 um damit »Ausbeutung und Unterdrückung in die Kunstwelt hineinzutragen« (Kampnagel Programm vom August 201227). Ähnlich auch die Zurschaustellung und Indienstnahme von Armut in dem bereits erwähnten Film »Enjoy Poverty« (2008) von Renzo Martens. Martens wiederum macht sich das (ebenfalls überzeu-
26 Siehe u.a. die Einzelausstellung in der Tübinger Kunsthalle 2013: www.kunsthalle-tuebingen.de/index.php?option=com_content&task=view&id=281&Itemid=194&catid=148/ vom 06.09.2013. 27 Unter: www.kampnagel.de/de/programm/archiv/?rubrik=archiv&detail=1140 05.09.2013.
vom
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gende) Kriterium einer intensiven, weil verstörenden, Rezeption als Zeichen engagierter Kunst zunutze und besteht darauf, dass das Publikum denselben Schmerz zu fühlen habe wie den, den er zeigt. Die Pein der Seherfahrung bestehe gerade darin, die (eigene sonstige) Immunität gegenüber dem Elend der Welt vorgeführt zu bekommen. »That’s what angers people: the fact that they see what it is to be part of zero reaction, and that watching this film, which is indeed quite an ordeal, makes them part of that zero, not of a better world. But really, what I show is the price that we pay, and that we ask others to pay, for privilege, for art.« (Martens in Demos 2012: 98)
Diese Argumentation besitzt zwar eine gewisse Plausibilität, aber nur, wenn der Künstler von ihr ausgenommen wird und damit auch 132
die Umstände und das Anliegen der Produktion. Martens stellt sich zwar als Produzent in seinem Film mit aus, aber er ist zugleich nur der Analyst und Dokumentarist jenes Elends, das »das Publikum«, also alle anderen, durch allgemeine Teilnahmslosigkeit mitverursachen und aufrechterhalten. Die eigene Verwicklung in das Elend dient dabei nur der großen Kunst-Kolumbus-Geste, ein wahrhaft neues dokumentarisches Genre erfunden zu haben. 28 Schockiert werden müssen nur die Anderen – jene Anderen, die auch von der von Martens kritisierten Form der Empathie-basierten Rezeption (das Leiden der Welt erschüttert, führt im wörtlichen Sinne zu Mitleid; vgl. ebd.) vorausgesetzt werden. Das Publikum muss also entweder aufgeklärt oder vorgeführt werden. Die Kunstproduktion und der/die Kunstproduzent/-in bleiben darin unangreifbare 28 Ein Anspruch, den Martens für »Enjoy Poverty« erhebt. Quelle: Hörensagen, also privater Gossip. Zur Funktion von Gossip als alternative Form der Wissensproduktion siehe die Arbeiten von Marc Siegel und Vaginal Davis’ Blog »Speaking from the Diaphragm«.
Die Perspektive der Migration
Leerstelle, im Besitz einer »phantasmatische[n] Stellung als flexible, alles überblickende UniversalistInnen« (Raunig 2000: o.S.). Dabei kann die Rolle der partizipativen Produktion hinsichtlich der »Kunst der Migration« in der Tat diese beiden Begriffe – Kunst und Migration – engführen. Die Strategien (in) der Migration als Kunst zu beschreiben, kann auch wörtlich verstanden werden. Nicht nur lässt sich das globalisierte Kunstsystem (ähnlich dem Tourismus) mit Migration analytisch verschränken (geteilte Räume, Überschneidungen, Parallelen) 29 , auch besitzen die Listen und Taktiken (im Sinne de Certeaus) in der Migration künstlerische Schaffensqualität – Maskierungen und Erzählungen beispielsweise 30 –, Kunst kann selbst zur Migrationsstrategie werden. So hat »WochenKlausur«31 zum steirischen Herbst 1995 sieben Flüchtlinge mit der Produktion einer »sozialen Plastik« beauftragt und über den Verkauf dieser Kunstwerke diesen dann den Erwerbsstatus »Künstler« verschafft, was wiederum den Zugang zu einem legalen Aufenthaltsstatus ermöglichte (vgl. Kube Ventura 2002: 194). Noch präziser wird dies in den Arbeiten von Tanja Ostojić und Petja Dimitrovas »Looking for a Husband with EU Passport« (2000–2005) respektive »Staatsbürgerschaft/Nationality« (2003) 32 gezeigt. Beide inszenierten, realisierten und dokumentierten ihren Kampf um einen legalen Aufenthaltsstatus in der EU als künstlerischen Prozess. Sie haben so die Kunst als Institution 29 Vgl. Holert/Terkessidis 2006. 30 Maskierungsstrategien wie z.B. als Handballnationalmannschaft aus Sri Lanka, als Autositz, als alter weißer Mann. Zur Geschichte der 2004 nach Europa gereisten fiktiven Handballnationalmannschaft aus Sri Lanka siehe u.a. www.taz.de/1/archiv/ archiv/?dig=2004/09/17/a0068. Die Geschichte wurde von Uberto Pasolini in seinem Spielfilm Machan (Sri Lanka 2008) aufgegriffen. 31 Zur Arbeit der Gruppe WochenKlausur, die 1993 gegründet wurde, siehe deren Webseite www.wochenklausur.at/ vom 10.03.2014. 32 Siehe www.petjadimitrova.net/works/Staatsbuergerschaft.html, vom 06.09.2013. Petja Dimitrova gehört auch zum künstlerischen und geschäftsführenden Leitungsteam der »Wienwoche«.
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Tanja Ostojic: »Integration Project Archive« 2000-08, Ausstellungsansicht, Xenepolis, Stadtgalerie München, 2005
Tanja Ostojic: Detail aus »Looking for a Husband with EU Passport«, 2000-05
Nanna Heidenreich
und (ökonomisches) System für Migrationszwecke in den Dienst genommen und die Listen und Findigkeiten migrantischer Strategien als Kunst und in der Kunst kenntlich gemacht, kurz: Sie haben die Kunst der Migration wörtlich genommen.
Fast Forward Von der »Kunst der Migration« zu sprechen, ruft natürlich sofort die Debatten zum Spannungsverhältnis zwischen Fakt und Figur, die Kritik an metaphorischen Romantisierungen des Nomadischen, des Exils und der Mobilität auf. 33 Dieses Spannungsverhältnis taucht auch in meiner Formulierung, dass es um etwas gehen muss, auf. Allerdings geht es nicht darum, erneut das Verhältnis zwischen vorgängiger Realität und nachrangiger Repräsentation aufzumachen, sondern darum, von einer verquickten Relation 136
auszugehen. An dieser Stelle nun doch Rancière: »[D]ie Fiktion des ästhetischen Zeitalters [hat] Modelle geschaffen […], die es erlauben, die Darlegung von Fakten mit Formen des Verstehens zu verbinden, die die Trennung zwischen der Ratio der Fakten und der Ratio der Fiktion gerade aufgehoben haben.« (Rancière 2006: 61)
Diese Verbindung, so Rancière, ist von der Literatur zur »neuen Erzählkunst – dem Kino – übergegangen« (ebd.). Wobei das Kino »jene beiden Mittel, die stumme und vielsagende Spur und die
Videostills nächste Seite: Petja Dimitrova: Staatsbügerschaft ? / Nationality?, 2003 33 Siehe z.B. Ahmed 2000.
Nanna Heidenreich
Konstruktion, die die Bedeutungsmacht und den Wahrheitswert berechnet, auf die Höhe ihrer Möglichkeiten« (ebd.) führt. In diesem Sinne möchte ich abschließend kurz auf die Bedeutung der (Video-)Kamera für politische Subjektivierungen zurückkommen, indem ich kursorisch auf die Arbeiten von Maurizio Lazzarato und Angela Melitopoulos, in denen theoretische und künstlerische Praxis verquickt sind, 34 Bezug nehme. Für beide ist Video kein Repräsentationsmedium, sondern eine Technologie der Zeit, der Subjektivierung, des Werdens: »Es handelt sich nicht mehr einfach um ein Bild, das gesehen werden soll, sondern um ein Bild, in das man sich einmischt, mit dem man arbeitet (eine Zeit des Ereignisses).« (Lazzarato 2002: 79) Für Melitopoulos ist Video ein wesentliches Medium der Migration, ebenso für Mieke Bal im Kontext ihres vieldiskutierten Begriffs der »migratory aesthetics« und dem Katalogbeitrag zu ihrer Ausstellung »2MOVE« (vgl. Bal/Hernández-Navarrao 2008). Mikropolitische Strategien 138
von Migrantinnen und Migranten werden hier auch als eine Art nichtlinearer Montage begriffen, die darin besteht, im »Denken und Handeln heterogene Elemente zu verknüpfen, die man normalerweise als widersprüchlich betrachten würde« (Melitopoulos 2007: o.S.). Für sie ist daher »die wesentliche Funktion des Bildes […] hier nicht die passende Repräsentation einer vorgegebenen Realität oder die Hervorhebung einer Korrespondenz zwischen einem realen Objekt und unserem Gedächtnis, sondern das Bild (und die Idee) ist das, wodurch sich unser Bewusstsein orientiert, den Denk- und Bildfluss lenkt, den es kreuzt« (ebd.).
34 Hier relevante Videoarbeiten von Melitopoulos sind z.B. »Passing Drama« (1999), »Corridor X« (2006) sowie das Projekt »Timescapes«, unter: www.videophilosophy.de vom 10.9.2013.
Die Perspektive der Migration
Das Videobild ist in diesem Sinne aktivierend, es ist »ein Bild, in das man eingreifen kann, [und weniger] ein Bild, das man anschaut« (Lazzarato 2002: 174). Das Problem liegt daher grundlegend nicht in der Repräsentation, sondern darin, dass die Macht der Bildbearbeitung der gesellschaftlichen Praxis entzogen wird (vgl. ebd.: 78). Ich kann Lazzaratos und Melitopoulos Medienontologie nicht ganz teilen, da sie den Anteil, den die kapitalistische Logik der Marktfähigkeit einer Technologie in der Geschichte und Praxis von Video hat, ignoriert. Ihre Ausführungen würden demnach auch bedeuten, dass zu Zeiten, in denen Video eine andere (oder zumindest zu Zeiten des analogen Videos: keine) Geschichte im Kontext politischen Filmschaffens hatte, das Bild sich nicht als Ereignis artikulieren konnte, sondern lediglich als Abbild. Dennoch kann ihr Ansatz hier als ein mögliches Beispiel für die eingangs erwähnte, notwendige Umkehrung des repräsentationspolitischen Paradigmas in der Perspektive der Migration in Hinblick auf konkrete Praktiken im Zusammenhang mit Video dienen. Dass diese aber eben nicht nur im Feld der Kunst relevant sind, belegen unter anderem die zahlreichen Harga-Youtube-Videos 35 und deren ReEdits in Raï/Rap Musikvideos (vgl. Friese 2012). Wie die Debatten um das Verhältnis von (sozialen) Medien und politischen Bewegungen als Henne-Ei-Frage deutlich gemacht haben: Medien partizipieren, sie produzieren aber keinen Aktivismus (vgl. u.a. Ohm 2013). So gilt ebenso schlicht für die Kunst: Sie kann partizipieren, aber Aktivismus braucht mehr als eine Bühne, eine Leinwand oder einen Ausstellungsraum. 35 Harga-Videos dokumentieren bzw. zitieren (in Musikvideos) die Mittelmeerpassage; sie sind gewissermaßen ein eigenes Migrationsgenre. Harga steht für »brennen« und »seine Papiere verbrennen«, also auch den brennenden Wunsch, zu fliehen, nach Europa zu gelangen. Siehe dazu das Interview mit Heidrun Friese im Tagesspiegel vom 16.02.2011: www.tagesspiegel.de/kultur/ethnologin-heidrun-friese-im-interview-der-aufstand-in-tunesien-lag-in-der-luft/3845482.html vom 28.12.2013. In diesem Interview verweist Friese auch auf die Rolle von populärer Musik zur politischen Mobilisierung.
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Nanna Heidenreich
Kunst bietet jedoch als Denkraum die Möglichkeit, die Rolle der digitalen (Handy-)Kameras und die neuen Bilder zu begreifen, die in den großen politischen Kämpfen unserer Zeit entstanden sind und entstehen, von der Grünen Revolution im Iran 2009 über den sogenannten arabischen Frühling bis zu den Gezi-Park-Protesten in der Türkei. Politische Subjektivierungsprozesse finden heute immer mit und im (Video-)Bild statt – um sich zu ereignen, brauchen sie die Kunst nicht. Aber in den ästhetischen Reflexionsprozessen künstlerischen Arbeitens können diese weitergedacht, archiviert und auf andere Räume projiziert werden, wie z.B. in Rabih Mroués Arbeit »Pixelated Revolution« zu Handy-Videos aus Syrien,36 die auch konkretes Erfahrungswissen um politische Kameraarbeit vermittelt. Nimmt man Migration als soziale und politische Bewegung ernst, als eine Bewegung, die das Politische grundsätzlich rekonfiguriert, und begreift man Migration nicht als etwas Abzubildendes, sondern als Ereignis, so eröffnet sich damit auch für die Frage der 140
Relation von Kunst und Aktivismus eine andere Perspektive. Diese – die Perspektive der Migration – ist bereits im Bild. Es gilt jedoch, sie zu aktivieren: politisch und ästhetisch.
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36 Mroué präsentiert die Arbeit sowohl als Performance-Lecture als auch als Installation. Zur Performance-Lecture siehe u.a. https://www.hkw.de/de/programm/projekte/ veranstaltung/p_76790.php vom 10.04.2014. Die Installation (begleitet von mehreren Performances) wurde u.a. bei der dOCUMENTA (13) in Kassel 2012 gezeigt.
Die Perspektive der Migration
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Die Perspektive der Migration
Abbildungen Kanak Attak: »Dieser Song gehört uns!«, Poster, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 2001 © Kanak Attak/Sandy Kaltenborn (image-shift.net). Kanak Attak: Konkret Konkrass, no integracíon, Poster, Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz, Berlin 2002 © Kanak Attak/ Sandy Kaltenborn (image-shift.net). Tanja Ostojic: »Integration Project Archive« 2000-08. Archive in gedruckten und digitalen Medien, Ausstellungsansicht, Xenepolis, Stadtgalerie München, 2005. Photo: © Tanja Ostojic. Tanja Ostojić: Detail aus: »Looking for a Husband with EU Passport« 2000-05, Partizipatives Projekt / Combined Media Installation. Bild: Eines der Reisepassfotos, kaschiert auf Aluminium, jeweils 70 x 50 cm, Photo: © Tanja Ostojić. Petja Dimitrova: drei Videostills aus »Staatsbügerschaft ? / Nationality?« Video, DVD Pal, 8min, Deutsch/Englisch, 2003, © Petja Dimitrova, www.petjadimitrova.net
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Gin Müller Refugee-Protest im Spannungsfeld von Aktivismus, Institutionen, Kunst und medialer Sichtbarkeit Protokoll/Reportage eines Supporters1 über die Monate nach der Besetzung der Votivkirche »Stop Deportation« stand für einige Monate mit großen Lettern auf einem Transparent, das über dem Eingang des würdevollen Gebäudes der Akademie der bildenden Künste in Wien zu sehen war. Damit wurde zu Zeiten des »Refugee-Protests« in Wien 2012/13 öffentliche und sichtbare Solidarität mit »Geflüchteten« bzw. »Non-Citizens« zum Ausdruck gebracht. Nicht nur, dass sich diese Universitätsinstitution wie keine andere zur Solidarität mit den Refugees bekannte, es waren auch einige Kunststudentinnen und Kunststudenten sowie Mitarbeiter/-innen der Universität von Anfang an äußerst aktiv an den Protesten beteiligt. Besonders Studentinnen und Studenten der Klasse für »Konzeptuelle Kunst« (= Postconceptual Art Practices) spielten bei der Unterstützung des Protests eine entscheidende Rolle – und das mitten im Spannungsfeld zwischen Aktivismus, Theorie und Kunst. Vorgeschichte: Am 18. Dezember 2012, also kurz vor Weihnachten, betrat eine 1
Die Personen, die den Protest von Geflüchteten und »Non-Citizens« (im Folgenden Refugees genannt) unterstützt haben, werden im Weiteren, wie auch während des Protests, als Supporter/-innen bezeichnet.
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Gin Müller
Gruppe von Refugees und Supporter/-innen die Wiener Votivkirche, die sich in unmittelbarer Nähe zum Refugee-Protestcamp befindet, und forderte in einer Pressekonferenz vor Ort den Schutz des Kirchenhauses und die Hilfestellung der zuständigen Kleriker. Was zuvor schon seit vielen Jahren von verschiedenen Sans-Papiers- und Refugee-Bewegungen in Europa mit Kirchenbesetzungen in Frankreich, Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern als Protestmittel praktiziert wurde, fand nun erstmals in Österreich statt. Nach dem symbolischen Protestcamp somalischer Flüchtlinge am 10. Oktober 2012 vor dem österreichischen Parlament und dem erfolgreichen großen Marsch vom Flüchtlingslager Traiskirchen nach Wien, mit der anschließenden Errichtung des Camps im Sigmund-Freud-Park vor der Votivkirche am 24. November 2012, waren die Forderungen der Flüchtlinge (wie Bleibe- und Arbeitsrecht) von den Medien und von der Politik weiterhin ignoriert wor148
den. Deshalb, aber auch weil sich der polizeiliche Druck gegenüber den Refugees steigerte, wurde die nahe Votivkirche als Schutzort gewählt, zumal es wahrscheinlicher schien, dass das Thema vor Weihnachten und mit Unterstützung der Kirche in einer breiteren Öffentlichkeit sichtbar gemacht werden könnte. Und diese Strategie sollte sich als richtig erweisen: In den folgenden zwei Monaten der Kirchenbesetzung stand die Refugee-ProtestBewegung im Mittelpunkt des medialen Interesses. In diesem großen Ausmaß war es das erste Mal in der österreichischen Geschichte, dass Flüchtlinge sowie Migrantinnen und Migranten ihre Menschenrechte lautstark und selbstbestimmt einforderten und im öffentlichen Diskurs damit wahrgenommen wurden.
Fotos nächste Seite: Oben: Refugee Protest Camp vor der Wiener Votivkirche, 2012 Unten: Pressekonferenz der Refugees in der Votivkirche, Dezember 2012
Gin Müller
In Wien, aber auch in anderen Städten, fanden zahlreiche Solidaritätsveranstaltungen statt (Diskussionen, Konzerte, Lesungen, Kunstauktionen u.a.), und einige der Refugees beteiligten sich sogar gemeinsam mit Supporter/-innen am Protest-Song-Contest des Radiosenders FM4 im Rabenhoftheater, wo sie nicht nur die Sieger/-innen der Herzen wurden, sondern auch nur knapp den ersten Platz verpassten. Doch nach fast zwei Monaten Hungerstreik in der Votivkirche unter winterlichen Bedingungen und zähen Auseinandersetzungen zwischen Refugees, Supporter/-innen und der Kirche bzw. Caritas, die von Anfang an im Auftrag der Erzdiözese Wien das Kirchenmanagement und auch die Medienarbeit dominierte, 2 waren die Kräfte, die erforderlich waren, um weiter in der Kirche auszuharren, zusehends am Ende. Und so entschlossen sich die fast 70 Refugees (vor allem Männer aus Pakistan und Afghanistan), die zu diesem Zeitpunkt noch in der Kirche waren, in das von der Caritas 150
und von Kardinal Schönborn persönlich angebotene Ersatzquartier, das leer stehende Servitenkloster im 9. Wiener Gemeindebezirk, zu wechseln. In Begleitung zahlreicher Medien und Kameras wurden Matratzen, Schlafsäcke und andere Habseligkeiten in das Kloster gebracht, in dem ein Veranstaltungskeller (ehemaliger »Theaterraum«) vorerst für Unterbringung und Plenen zur Verfügung stand. Der Umzug fand aufgrund einer protokollierten und unterzeichneten Gesprächs- und Verhandlungsrunde zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Erzdiözese Wien einerseits und
Fotos nächste Seite: Oben: Hungerstreik der Refugees in der Votivkirche, Winter 2012/13 Unten: Schild im Servitenkloster, 2013 2 Siehe ausführlich zur Medienstrategie der Caritas im Rahmen der Besetzung der Votivkirche: http://eipcp.net/transversal/0313/mueller/de
Gin Müller
den Refugees und Supporter/-innen andererseits am 2. März 2013 statt, in der festgelegt wurde, dass das Kloster nicht wie eine reguläre Grundversorgungseinrichtung durch die Caritas geführt, sondern als zum Teil selbstbestimmtes Modellprojekt verstanden wird. Der Refugee-Protest sollte dort jedenfalls mit voller Kraft fortgesetzt werden, die politische Bewegung hatte schließlich nach den monatelangen Kämpfen nicht nur viel öffentliches Interesse geweckt, sondern auch viele neue Unterstützer/-innen aus den verschiedensten sozialen, politischen und künstlerischen Spektren angezogen.
Parkplatz Kloster Im Hof des Servitenklosters steht eine Verkehrstafel mit der Aufschrift »Parkplatz Kloster«. In gewisser Weise spiegelte das auch 152
die Situation der Refugee-Aktivistinnen und -Aktivisten in den folgenden Monaten im Frühjahr 2013 wider. Denn sobald sie Anfang März die Votivkirche verlassen hatten, war es für die Medien an der Zeit, sich anderen Themen zu widmen. Gleichzeitig zogen sich auch viele Supporter/-innen wieder in ihren (Arbeits-)Alltag zurück, da die mehr als vier Monate andauernden Kämpfe viel Substanz gekostet hatten. Trotzdem kamen, wie bereits erwähnt, auch viele neue Aktivistinnen und Aktivisten sowie Supporter/-innen hinzu. Und so gestaltete sich die anfängliche Reorganisation in diverse Gruppen (Presse, Strategie, Aktivitäten, Rechtshilfe, medizinische Hilfe, Demo-Organisation, Deutschkurse, Zeitungsprojekt u.a.) zum Teil recht schwierig, weil die vielen unterschiedlichen Anliegen möglichst vielsprachig und basisdemokratisch organisiert und koordiniert werden mussten, wobei sich wiederum einige im Prozess ausgeschlossen fühlten. Es war wohl auch nicht leicht für Außen-
Refugee-Protest
stehende, Anschluss an die Refugee-Protest-Bewegung zu finden. Die Koordination verlief bei der anfänglich großen Menge an Menschen und Redebeiträgen, die zum Teil durchaus von patriarchaler Raumnahme und patriarchal-dominanten Gesten dominiert wurde, daher mitnichten reibungslos. Zumal diverse Auseinandersetzungen und Streitereien sowohl zwischen Caritas und Refugees, aber auch innerhalb sowie zwischen einzelnen Refugee-Gruppen und unter den Supporter/-innen nach all den Spannungen vorprogrammiert waren. Von der Caritas wurden, wie schon in Zeiten der Kirchenbesetzung, viele Regeln gesetzt, die von den durch sie Betroffenen nicht akzeptiert wurden. Zu diesen zählte etwa die Beschränkung der Zugangszeiten für Supporter/-innen sowohl zum Wohnbereich als auch zum Gemeinschaftsraum im Keller. Aber auch andere Versprechen, die vor dem Verlassen der Kirche gegeben wurden, relativierte die neu aufgestellte Caritas-Betreuung. Und so fühlten sich viele der Refugees und Supporter/-innen erneut einem sozialinstitutionellen Kontrollregime ausgesetzt.
Die Unterstützung des Protests durch Kunst- und Kulturschaffende Schon in der Zeit der Votivkirchenbesetzung wurde den Refugees von vielen prominenten Leuten aus Kunst-, Kultur-, Medien- und Politikkreisen Unterstützung in Form von Solidaritätserklärungen und offiziellen Besuchen entgegengebracht (u.a. von Jean Ziegler, Paul Gulda, Marlene Streeruwitz, Peter Waterhouse, Susanne Scholl). Darüber hinaus entwickelten sich bereits früh konkrete Filmdokumentationsprojekte, Solidaritätskonzerte, Theaterideen usw., die Supporter/-innen planten und durchführ(t)en.
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Gin Müller
In der Akademie der bildenden Künste initiierten Studierende und Lehrende im Jänner 2013 zum jährlichen Rundgang eine Diskussionsrunde mit Repräsentantinnen und Repräsentanten der Refugee-Protest-Bewegung. Ein Teil des Geldes, das bei der jährlich von Studierenden organisierten Kunstauktion der Akademie eingenommen wurde, kam der Protestbewegung zugute. Des Weiteren sprachen Refugees im Rahmen der Ringvorlesung »Kunst Theorie Aktivismus«. Vor der Großdemonstration am 19. Februar 2013 sprach Adalat Khan, einer der Sprecher der Refugees, bei einer Veranstaltung von SOS Mitmensch im Volkstheater. Unterschiedliche Akteurinnen und Akteure von (Kunst-)Institutionen wollten sich mittlerweile gerne mit den »Geflüchteten«, über deren Schicksal die Medien in vorangegangenen Monaten so breit berichtet hatten, sehen und fotografieren lassen. Auch im Kloster tauchten ab März 2013 viele Künstler/-innen und politische Kulturarbeiter/‑innen auf, um die 154
Refugee-Aktivistinnen und -Aktivisten zu Veranstaltungen einzuladen oder auch, um mit ihnen bestimmte künstlerische oder aktivistische Projekte umzusetzen. So gab es etwa ein Projekt eines Malers, der einige Refugees porträtierte und diese dann in einer Galerie ausstellte, sowie Menschen, die mit ihnen Musik machen wollten oder sich aus Solidarität für 24 Stunden am Stephansplatz in einen Käfig sperren ließen. Der Pianist Paul Gulda, der seit seinem Kirchenbesuch aktiver Teil der Bewegung war, wollte in der Servitenkirche ein Konzert gemeinsam mit Musikerinnen und Musikern aus anderen Ländern geben, was der Pfarrer jedoch verweigerte, woraufhin das Konzert, an dem auch drei der Refugees mit einem bekannten Pashtunlied beteiligt waren, im Frühjahr am Platz vor der Kirche stattfand. Auch die Wiener Festwochen zeigten plötzlich großes Interesse, ein Event mit den Refugees in ihr Programm aufzunehmen, und boten einen Abend zur »natürlich« unbezahlten Performance
Refugee-Protest
in den Räumlichkeiten des Museumsquartiers an. Um das Festwochen-Event als Sichtbarkeitsplattform zu nutzen, entschlossen sich die Aktivistinnen und Aktivisten, eine große »repräsentative« Ausstellungseröffnung zu initiieren: Mustafa Naqvi, der Fotograf der Refugee-Gruppe, zeigte dort seine Fotos und Porträts aus der Kirche. Als »künstlerischen« Liveact gab es eine Scheinbesetzung, inklusive Aufbau eines symbolischen Refugee-Camps in den institutionellen Räumlichkeiten. Dieser Teil der Veranstaltung war natürlich mit den zuständigen Verantwortlichen der Festwochen und des Museumsquartiers nicht abgesprochen, was bei diesen zu kurzen Schockmomenten, Verwirrung, Verzweiflungsbitten und Hinweisen zur reglementierten »Gastfreundschaft« führte. Das Statement bei den Festwochen entstand auch aus den vermehrten Diskussionen unter Refugees und Supportenden über Instrumentalisierung und Vereinnahmungen durch Kunstinstitutionen und Künstler/-innen, die aus der Bewegung zwar »Profit« schlagen, der Umsetzung der Forderungen der Bewegung aber wenig dienlich sein würden. Zahlreiche weitere Diskussionen und Politiken der Sichtbarkeit für die Refugee-Forderungen fanden in dieser Zeit auf verschiedenen Universitäten sowie in gewerkschaftlichen und kulturpolitischen Spektren statt, auf die sich die Refugee-Aktivistinnen und -Aktivisten engagiert aufteilten, um ihre Anliegen weiter in die Öffentlichkeit zu bringen. Sowohl auf politischer als auch auf medialer und künstlerischer Ebene versuchten sie, einerseits um Verständnis zu werben und andererseits weitere Vernetzungen voranzutreiben: durch Strategien der Sichtbarkeit, wie Demos, Interventionen (z.B. Ansprechen von Ministerinnen und Ministern bei Veranstaltungen), (Nachbarschafts-)Veranstaltungen im Kloster und der Teilnahme an öffentlichen Diskussionen. Auch in der Zusammenarbeit mit politischen Künstlerinnen/Künstlern und Aktivistinnen/Aktivisten, die mit künstlerischen Bildpolitiken zum Teil
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alternative Wahrnehmungsspielräume öffneten, wurde das »Protestdesign« nach außen geprägt. Die mediale Aufmerksamkeit war zu diesem Zeitpunkt schon abgeklungen, aber ein professionelles Filmteam, das an einem Dokumentarfilm über die RefugeeProteste arbeitet, und Video-Aktivistinnen/Aktivisten begleite(te) n die Refugees weiterhin an viele Aktionsorte. Neben Studierenden der Kunst, die bereits von Anfang an Teil des inneren Protestzirkels der Supporter/-innen waren, konstituierte sich an der Akademie der bildenden Künste eine weitere Support-Gruppe – eine Zusammensetzung aus Lehrenden und Studierenden – die den Protest mit Kunst- und Kulturvernetzung bestärken wollte. Im Juni 2013 beschloss diese Gruppe, ein Solidaritäts-Picknick im Kloster zu veranstalten und besonders auch Menschen aus dem Kunstbereich einzuladen. Der Austausch wurde von vielen begrüßt und es entstanden zahlreiche Ideen, von denen schließlich einige wenige realisiert wurden. So zum Beispiel 156
die Initiative, die Stimmen prominenter Persönlichkeiten zur Unterstützung auf Video aufnahm und ins Netz stellte. Diese sollten sowohl für den Protest als auch für ein eigenes Haus für die Refugees werben, weil abzusehen war, dass die Räumlichkeiten des Klosters eigentlich nur bis Ende Juni (also insgesamt vier Monate) genutzt werden durften. Eva Blimlinger, Paul Gulda, Schorsch Kamerun, Dirk Stermann und viele andere prominente Kunst- und Kulturschaffende beteiligten sich an dieser Solidaritätsaktion. Das Leben im Kloster lief in den ersten vier Monaten nicht konfliktfrei, und viele Refugees wollten nach den Anstrengungen des Winters mehr Ruhe und einen weniger anstrengenden Alltag – und so arrangierte man sich in gewisser Weise auch an bestimmten Punkten und durch die Vermittlung vieler unterstützender Stimmen mit der Caritas. Ende Juni wurde nach dem öffentlichen und medialen Druck auf die Caritas die Aufenthaltsmöglichkeit im Kloster bis Ende Oktober verlängert. Sogar Kardinal Schön-
Refugee-Protest
born tauchte einmal unangekündigt bei einer Geburtstagsfeier der Refugees auf, um sich nach deren Befinden zu erkundigen. Der »Theaterkeller« im Kloster, in dem die Geflüchteten nach der Übersiedelung von der Votivkirche zuerst in Campingbetten übernachtet hatten, diente inzwischen als Plenarraum, Wohnzimmer, Veranstaltungs- und Partyraum, Deutschkurs-Klassenzimmer und im Fastenmonat Ramadan als Gebetsraum. Die diversen Plenen fanden weiterhin statt, aber immer mehr Leute blieben mit der Zeit fern. Während des Fastenmonats gab es zum Teil heftige Diskussionen, inwieweit das Fastenbrechen am Abend Teil der Sichtbarkeitspolitiken der Refugee-Protest-Bewegung sein sollte oder nicht, also welchen Raum Religion in einer »linken sozialen Bewegung« einnehmen kann bzw. soll. Die meisten der Refugees hielten sich aus dieser Auseinandersetzung heraus und nahmen Einladungen von diversen kirchlichen Organisationen und Institutionen – auch zum Fastenbrechen – an. Für das Kunst- und Kulturfestival »Wienwoche«, das zeitgleich unter dem Titel »Demokrazija, ja, ja, ja« stattfand, wurden einige Projekte, die mit der Refugee-Protest-Bewegung assoziiert waren, ausgewählt und über die Sommermonate geplant. Die österreichischen Nationalratswahlen am 29. September 2013 standen unmittelbar bevor, und so bestand die Hoffnung, die Anliegen der Refugees in diesem Wahlkampf verstärkt mit politischen und künstlerischen Aktionen zum Thema machen zu können. Eine Kunst- und Aktivistinnen/Aktivisten-Gruppe rund um einige Refugees aus dem Maghreb realisierte für das Wienwoche-Festival einen Videoclip und die Dokumentation »Aufenthaltsraum«3 über den Weg eines Migranten nach Europa und seine Erfahrungen. Auch die Dokumentation »Da.Sein«4 über das Leben abge3
Ausführlicher zum Film siehe: www.wienwoche.org/de/238/aufenthaltsraum
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Ausführlicher zum Film siehe: www.wienwoche.org/de/225/da.sein
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schobener Menschen wurde von Aktivistinnen und Aktivisten im Umfeld des Refugee-Protests realisiert. Ein anderes Projekt mit dem Titel »Re-Emphasis« hatte zum Ziel, einerseits ein internationales Vernetzungstreffen und ein dreitägiges »Forum on Refugee and Migrant Struggle« im Kloster zu organisieren und andererseits den Sigmund-Freud-Park als Ausgangspunkt der Refugee-Proteste wieder in Erinnerung zu rufen: Eine Werbeplakatwand zeigte grafisch mit Piktogrammen, Texten und Botschaften den geräumten Sigmund-Freud-Park. Eine aktivistische Theatergruppe (Rebelodrom) versuchte währenddessen, ein ehemaliges Grenzstationshäuschen von der österreichischen Bundesimmobiliengesellschaft zu erwerben, um dieses dann symbolisch zur No-Border-Zone und zum RefugeeInfopoint mitten in Wien (am Karlsplatz bzw. Museumsquartier) umzufunktionieren. Zudem wurde von der Kulturabteilung der Stadt Wien ein Theaterprojekt mit den Refugees unter der Lei158
tung von Tina Leisch genehmigt, an dem sich sowohl einige der Refugees als auch einige Supporter/-innen beteiligten. Eine andere kleine Gruppe, die Kontakte zu prominenten Personen aus den österreichischen Medien-, Kunst- und Kulturkreisen hatte, begann zur sichtbaren Unterstützung der Flüchtlinge die Werbe- und Infoscreenkampagne »Faces for the Refugees«. Die Unterstützer/innen der Akademie schalteten eine Printanzeige und starteten eine Onlinepetition von Kunst- und Kulturschaffenden.
Abschieberealität und Kriminalisierung Ende Juli 2013, noch zur Zeit des Ramadan, kam es im Kloster jedoch erneut zur ernsten Alarmsituation: 20 der Refugees mussten sich nun nach einem Bescheid »des gelinderen Mittels« von der Fremdenpolizei täglich morgens bei einer Polizeistation mel-
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den und konnten somit jederzeit abgeschoben werden. Drei Tage später, am 28. Juli, war es dann so weit: Acht Refugees wurden in Schubhaft genommen und trotz großer Proteste und Verhinderungsversuche (Protest am Flughafen, im Flugzeug, bei den Fluglinien, Medienarbeit, Demos und Blockaden vor dem Abschiebegefängnis) nach Pakistan bzw. nach Ungarn abgeschoben. Die Medien waren plötzlich wieder vor Ort, und viele Organisationen von der Caritas und Kirche abwärts solidarisierten sich mit der Bewegung. Auch der Kardinal sprach von Brasilien aus seine Solidarität aus und bekräftigte den »Schutz« der Kirche. Die amtierende Innenministerin Johanna Mikl-Leitner war in der Folge verstärkt mit öffentlicher Kritik konfrontiert, zumal es auch zu polizeilichen Übergriffen auf einige Aktivistinnen und Aktivisten kam. Doch dann folgte innerhalb weniger Tage der nächste repressive Schritt. Die Polizei verhaftete weitere Refugee-Aktivistinnen und -Aktivisten wegen des Verdachts der Schlepperei. Am darauf folgenden Tag titelte das österreichische Boulevardblatt Kronen Zei-
tung: »So brutal waren die Schlepperbanden aus dem Kloster«. Auch die Innenministerin selbst sprach davon, dass die Mitglieder dieser »kriminellen Vereinigungen« nicht davor zurückschrecken würden, schwangere Frauen aus dem Zug zu werfen, mit äußerster Brutalität vorgehen würden und international bestens vernetzt seien.5 Nicht nur die Caritas und Kirche distanzierten sich infolge von den »kriminellen Personen« unter den »Schutz suchenden Refugees« und bezeichneten diese rassistisch als »schwarze Schafe«. Andere politische, aber auch kulturelle Institutionen wurden mit einem Mal vorsichtig, denn mit »Schleppern« wollte man nichts zu tun haben. Innerhalb des Klosters führte die Situation zu der Annahme, die Polizei könnte noch mehr Leute verhaften, abschieben und 5
Siehe dazu detaillierter: http://derstandard.at/r1392688452038/Prozess-wegen-Schlepperei
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die ganze Refugee-Protest-Bewegung kriminalisieren und überwachen. Es kam zu extremen Spannungen, Konflikten und der Paranoia, wem man überhaupt noch vertrauen könne bzw. wer vielleicht mit der Polizei zusammenarbeite. Die breite öffentliche Solidarität mit den wegen des Schleppereivorwurfs verhafteten Refugees brach ein, und eine kleine Rechtshilfegruppe hatte alle Hände voll zu tun, im Sommer Anwältinnen und Anwälte zu finden, die sich um diese Fälle kümmern wollten. Die zeitliche Korrelation zwischen den Abschiebungen und den darauf folgenden Verhaftungen just in den Sommermonaten vor den Nationalratswahlen sowie die Art der medialen Berichterstattungen darüber legen den Schluss nahe, dass dieser Schlag gegen die Refugee-Protest-Bewegung nicht zufällig gewählt wurde. Der Prozess gegen die vermeintlichen »Schlepper«, der im März 2014 am Wiener Neustädter Gericht begann und im Dezember 2014 in 1. Instanz mit sieben Schuldsprüchen endete, enthüllt mehr denn 160
je die Konstruktionen und die Strategien der Kriminalisierung von Refugees durch die Staatsgewalt.
Im Wahlkampf mediales Stillschweigen Die Angst vor weiteren Repressionen prägte die Bewegung im August und September 2013, doch vonseiten der Staatsgewalt wurde nicht repressiv nachgelegt, sondern es herrschte eine seltsame politische und mediale Ruhe rund um den Protest. Sowohl künstlerisch-aktivistische Projekte als auch Demos und andere politische Interventionen wurden von den Mainstream-Medien weitgehend ignoriert. Die Veranstaltungen im Rahmen der Wienwoche und im Vorfeld der Nationalratswahlen fanden wenig mediales Echo, genauso wenig wie die Großdemonstration am 20. September.
Refugee-Protest
Ein Versuch, kurzfristig die Votivkirche erneut zu besetzen, scheiterte nach wenigen Stunden. Weder die Grenzstation-Installation vor dem Künstlerhaus mit kunstpolitischen Interventionen von den Gruppen »Maiz«, »Roma Armee Fraktion« und der »Perversen Partei Österreichs« noch das Votivpark-Projekt ließen die medialen Wogen hochschlagen. Allerdings fanden speziell auf dem »Forum on Refugee and Migrant Struggles« im Kloster weitere wichtige Vernetzungen statt, z.B. für den Refugee-Marsch nach Brüssel 2014. Insgesamt hatte es aber den Anschein, als sei die Refugee-Protest-Bewegung durch die Schleppereivorwürfe in Zweifel geraten. Einige der Aktivistinnen und Aktivisten wollten noch vor den Wahlen weiter in die Offensive gehen und zum Protestmarsch nach Brüssel aufbrechen, aber auch diese Idee konnte nicht durchgesetzt werden. Im Oktober nahte auch die Tatsache, die über die anstrengenden Sommermonate verdrängt wurde: Das Kloster musste verlassen werden und die Refugee-Protest-Bewegung drohte langsam zu zerfallen. Einige wollten weiterhin das Kloster besetzen, andere wollten Österreich enttäuscht verlassen, eine Reihe anderer Refugees forderten weitere öffentliche Protestaktionen, um die Anliegen und die politische Situation abermals sichtbar zu machen und den öffentlichen Druck zu erhöhen. Die Diskussionen über mögliche weitere Unterbringungsorte gingen den Oktober intensiv weiter, und der Aufruf nach einem Haus für die Refugees wurde zwar über diverse Medien und im Internet verbreitet, aber die Zeit schien dagegen zu laufen. Diverse realistische und unrealistische Optionen über mögliche Objekte wurden abgewogen, derweilen kam das Ultimatum zum Verlassen des Klosters immer näher, die Unsicherheit und Nervosität stiegen.
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Die Besetzung der Akademie der bildenden Künste Im Oktober lud wieder die solidarische Gruppe von der Akademie der bildenden Künste zu einem Gespräch ein, wie man den vor dem Sommer angefangenen Vernetzungs- und Unterstützungsprozess zwischen Akademie und Refugee-Protest-Bewegung solidarisch weiterführen könnte. Zu diesem Zeitpunkt stand bereits im Raum, einen Teil der Erlöse der Kunstauktion (die im Rahmen des Rundgangs 2014 diesmal direkt vom Rektorat der Akademie veranstaltet werden sollte) der Protestbewegung zu spenden. Es stand bei diesen Treffen aber auch die aktuelle Notsituation der weiteren Unterbringung im Mittelpunkt des Gesprächs sowie die Frage, wie der Ruf der Refugees nach einem gemeinsamen Haus unterstützt werden könnte. Etwa drei Wochen vor dem Ablauf des Ultimatums kam die Op162
tion ins Spiel, die Akademie der bildenden Künste als Protestort zu nützen. Überlegt wurde, ob offiziell gemeinsam mit der Rektorin eine »Kunst-Protest-Aktion« geplant werden sollte oder ob eine aktive Besetzung durch die Refugees selbst politisch sinnvoller wäre. Verschiedene Überlegungen spielten dabei eine Rolle: Einerseits wollte man die Solidarisierung der Akademie nicht nur symbolisch annehmen, sondern gemeinsam sichtbar etwas tun, um noch mehr mediale Aufmerksamkeit zu erzeugen. Andererseits ging es auch darum, Zeit für die Häusersuche zu gewinnen und noch mehr öffentlichen Druck zu erzeugen. Nachdem die Entscheidung nach langen Plenen und Diskussion unter den Refugees gefallen war, der vorübergehenden »Raumnahme« nachzugehen, gab es einige intensive Treffen zwischen Refugee-Protest- und Akademie-Aktivistinnen und -Aktivisten, um die Vorgangsweise zu erörtern und die Risiken abzuschätzen. Die Zeit drängte, andere Optionen, außer der Verbleib im Kloster oder
Refugee-Protest
die Aufteilung der Refugees auf Heime oder in Privathaushalte, gab es nicht. Eine Hauptfrage im Vorfeld betraf die Einschätzung, ob die Rektorin Eva Blimlinger, die sich über den Sommer durch ein Statement gegen die Kriminalisierung der Refugee-Bewegung sowie durch einen Besuch des Klosters solidarisch gezeigt hatte, über die Aktion informiert werden sollte oder nicht. Würde sie dann nicht gleich schon im Vorfeld Nein sagen? Konnte trotzdem von so viel Solidarität ausgegangen werden, dass die Rektorin die Refugee-Bewegung zumindest für eine bestimmte Protestdauer in der Aula der Akademie dulden und ihre Anliegen vielleicht sogar noch öffentlich unterstützen würde? Oder würde die Rektorin als prominente Unterstützerin vor den Kopf gestoßen werden? Die Handlungstendenzen bei den langen nächtlichen konspirativen Diskussionen gingen in Richtung unangekündigte Besetzung, und letztlich überzeugten die Refugees mit dem Argument, dass sie in der Kirche schließlich auch nicht vorher gefragt hätten. Zudem hatten sich Personen aus der Akademie von Anfang an solidarisch gezeigt und es ging letztlich immer darum, zum (niemals) richtigen Zeitpunkt Stellung zu beziehen. Die Tatsache, dass viele solidarische Menschen rund um die Akademie zu dieser Zeit der Planung gerade nicht in Wien waren und durch den Zeitdruck zu wenig eingebunden werden konnten, wurde leider bei der knappen Zeit der Planung übersehen. Trotz allem hofften Refugees und Supporter/innen darauf, dass es durch die Besetzung erneut Medienaufmerksamkeit, weitere Solidaritätsbekundungen und zusätzliche Unterstützung innerhalb und außerhalb der Institution geben würde, um somit der Protestbewegung einen neuen Impuls geben zu können. Die solidarische Akademie-Gruppe setzte daraufhin gemeinsam mit der Refugee-Bewegung eine öffentliche Diskussion zur Zukunft des Protests mit dem Titel »Art, Activism, Academy« am 29. Oktober an, also zwei Tage vor dem Ultimatum der Caritas zum
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Verlassen des Klosters. Nachdem schon zuvor einige Gerüchte gestreut wurden, sagten zu dieser Veranstaltung binnen weniger Tage knapp 200 Menschen via Facebook zu. Zu diesem Zeitpunkt war zumindest zu vermuten, dass auch die Rektorin Wind von der geplanten Besetzungsaktion bekommen hatte. Danach ging alles vielleicht viel zu schnell und eine gewisse Dynamik ließ sich auch nicht mehr aufhalten. Die Stimmung bei der Diskussionsveranstaltung war von Anfang an angespannt, die Rektorin, die Vizerektorinnen und anderes Lehrpersonal erschienen. Zwei Vertreter/‑innen der solidarischen Akademie-Gruppe eröffneten den Abend mit einem Statement zur Unterstützung der Refugees und ihren Anliegen zur Sichtbarkeit und der Forderung nach einer gemeinsamen Unterbringung. Doch der im Zuge der Diskussionsveranstaltung ausgerufene solidarische Besetzungsversuch wurde postwendend von der Rektorin zurückgewiesen. Solidarität ja, die Aula als Veranstaltungsort 164
ja, aber die Akademie wäre kein geeigneter Schlaf- und Wohnort. Punkt. Trotz Bitten, solidarischen Aufforderungen, dramatischen Appellen und Hinweisen, dass auf der Akademie das solidarische Transparent »Stop Deportation« stehe und die Tradition der Unterstützung von Refugee-Bewegungen durch Künstler/-innen und Kunstinstitutionen sich schon oft als strategisch wichtig erwiesen hat (z.B. Ariane Mnouchkine, die mit Sans Papiers in Paris in den 1990ern zusammenarbeitete), blieben die Fronten hart. Vonseiten der zum Teil anwesenden solidarischen Lehrenden kamen keine Wortmeldungen. An diesem Abend war allerdings die Mehrheit der präsenten Personen auf der Seite der Refugees und befürwortete eine Besetzung, die in Folge auch beschlossen wurde. Die
Fotos nächste Seite: Besetzung der Akademie der bildenden Künste Wien durch die RefugeeBewegung, 31. Oktober 2013
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Rektorin stellte ein Ultimatum zum Verlassen der Akademie und zeigte sich nicht gesprächsbereit, sondern vor den Kopf gestoßen. Für eine Nacht wurde die Unterbringung in einem Hörsaal jedoch zugesagt und auch eine polizeiliche Räumung wurde von der Rektorin zunächst nicht ins Spiel gebracht, die Option stand aber letztlich immer im Raum. Medien und Kameras waren inzwischen eingetroffen und berichteten schon am gleichen Abend in den Spätnachrichten. Für den nächsten Tag wurde eine Pressekonferenz angesetzt, bei der auch zahlreich Medienvertreter/-innen anwesend waren. Der Schritt in die öffentliche (Medien-)Sichtbarkeit schien gelungen, aber es war nun auch klar, dass die Refugee-Protest-Bewegung zu diesem Zeitpunkt nicht auf eine solidarische und kreative Zusammenarbeit mit der Akademie hoffen konnte, sondern – im Gegenteil – nicht willkommen war. Es gab aber leider keinen Plan B bezüglich anderer Orte zum Bleiben und Leben. Wie so oft im 166
fortdauernden Prozess einer prekären Bewegung, die in diesem Fall mit dem Marsch von Traiskirchen nach Wien begann, mit dem Protest-Camp im Sigmund-Freud-Park ein Zeichen setzen wollte und zur Überraschung vieler eine große Solidaritätsbewegung auslöste, war und ist deren schwieriger Fortgang nicht absehbar und bedeutet er zu vielen Zeitpunkten eine angespannte Reise in eine ungewisse Zukunft. Matratzen, Decken, Kücheninventar, Plastiksäcke mit Kleidung und persönlichen Dingen wanderten am Morgen nach der Besetzung in die Aula der Akademie. Binnen weniger Stunden wurde der repräsentative Ort zum Protestlager und Diskussionsraum mit
Fotos nächste Seite: Aula der Akademie der bildenden Künste Wien während des Refugee Protests Oben: Vor der Diskussionsveranstaltung, 29. Oktober 2013 Unten: Pressekonferenz, 30. Oktober 2013
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Transparenten, Stühlen, Bänken und Infotisch. Kritische Stimmen aus den Reihen der Akademie mehrten sich und von vielen Seiten wurde um Verständnis für die schwierige Position der Rektorin geworben. Sie stünde sowohl durch Medienanfragen und polizeiliche Erkundigungen, aber auch akademieintern enorm unter Druck. In den Anfangstagen kamen noch viele interessierte, neugierige und unterstützende Menschen. Aber in Folge der Unsicherheit der Situation und der spürbaren Distanznahme der Rektorin, aber auch von vielen Studierenden und Lehrenden der Akademie, ob aus Desinteresse oder aus Vorsicht heraus, kam der Besetzungsprozess nicht so richtig in Gang. Die Hoffnung auf solidarische Unterstützung hatte sich in diesem schwierigen institutionellen Gefüge als falsch erwiesen. Speziell nach den ersten Polizeieinsätzen (wegen Farbbeutelwürfen auf die Denkmäler vor dem Gebäude, aber auch Problemen mit Personen, die an dem Ort bewusst Unruhe provozieren wollten) erhöhte die Rektorin so168
wohl über die Medien als auch mittels ausgedruckter und in der Aula angebrachter Botschaften mit Aufforderungen zum Verlassen der Akademie den Druck auf die Refugees. In Gesprächen mit ihnen bot die Rektorin quasi im Tausch gegen eine »friedliche Räumung« der Akademie »Stundenpläne« für die weitere Nutzung der Aula als Versammlungs- und Protestort an. Die Stimmung unter Supportenden und Refugees schlug von der anfänglichen positiven Proteststimmung der ersten Stunden der Besetzung in eine nachdenkliche bis resignierende Haltung um, da der Handlungsspielraum an der Akademie durch die offizielle Ablehnung der vorübergehenden Raumnahme sehr beschränkt schien. Dazu kam, dass in der HochschülerInnenschaft sowie in anderen Kreisen Studierender und Lehrender eine gewisse Apathie herrschte, die möglicherweise durch Überforderung entstand bzw. war es wahrscheinlich für viele schlichtweg immer der falsche Zeitpunkt, um in den Protest einzusteigen.
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Es kam zu keinem Aufstand gegen die Rektorin, womöglich gerade deshalb, weil sie ja »eigentlich« auf der solidarischen Seite des Refugee-Protests stand. Für viele unterstützende Mitarbeiter/innen der Akademie waren auch die dadurch aufbrechenden Konflikte im institutionellen Arbeitsgefüge sicherlich nicht hilfreich zur aktiven Unterstützung der Besetzung. Außerdem wollte niemand, dass es zu einem polizeilichen Räumungsszenario kommt, das trotz gegenteiliger Bekundungen im Raum stand. Ein gemeinsamer Wohn- und Protestort oder gar ein Haus für die Refugees war jedenfalls nicht in Sicht. Die Meinungen unter den Refugees und Supporter/-innen waren geteilt, denn es war klar, dass die Besetzung nicht den erhofften neuen Impuls brachte, sondern im Gegenteil die Auflösung der Besetzung auch die Auflösung der Gruppe bedeuten würde, denn es standen nur noch Ausweichzimmer in Form von Einzelunterbringungen bei solidarischen Supportenden zur Verfügung. Das Argument der Unverantwortlichkeit, die Refugees überhaupt in eine solche Lage gebracht zu haben, bekamen die Supporter/-innen seitens der Akademie ebenso zu hören wie den Vorwurf, dass man nun das ausbaden müsse, was weder die Caritas noch die Supporter/-innen geschafft haben, nämlich ein Haus zu organisieren. Ähnlich wie während der Besetzung der Votivkirche, durch das Agieren der Caritas und in den vielen medialen Berichten, wurde den Refugees die eigene Handlungsmacht abgesprochen sowie auch »die armen Refugees« von den »bösen und instrumentalisierenden Supporter/-innen« unterschieden. Die Unterstützung des Protests endete zu dem Zeitpunkt, an dem die Refugee-Protest-Bewegung nach dem Rauswurf aus dem Kloster und auf Herbergssuche an die Türen der Akademie der bildenden Künste klopfte und weitere solidarische Unterstützung forderte. Die Chance, ein politisches und künstlerisches Statement gemeinsam für die Anliegen der Refugees zu machen, scheiterte
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damit auch an der Überforderung innerhalb einer an sich solidarischen Institution. Die letztlich gescheiterte Besetzung markiert somit den Beginn des Endes des Protests. In einem von den Refugees einberufenem Plenum am Tag vor dem Ablauf eines weiteren Ultimatums, eine Woche nach Beginn der Besetzung, erklärten die Sprecher der Refugees die Protestbewegung frustriert für beendet. Es war ein Bekenntnis des Scheiterns, bei dem bezeichnenderweise kaum solidarische Menschen aus dem Umfeld der Akademie in der großen Aula anwesend waren. Am nächsten Tag packten die Refugees und Supporter/innen langsam ihre Sachen und ein bereitgestellter Transporter der Akademie verteilte die Protestutensilien und Matratzen auf verschiedene Zwischendepots. Die meisten der Refugees kamen in Wohnungen von Unterstützenden unter, und die Refugee-Protest-Besetzung der Akademie endete ziemlich leise.
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Der Kampf um Refugee-Rechte geht mit und ohne Kunstsupport weiter In den weiteren Wochen nutzten die Refugees weiterhin einige Räume der Akademie, aber die organisatorischen Treffen wurden in weniger sichtbare Orte verlagert. Nach einiger Zeit wurde sogar ein Wohnhaus am Stadtrand von Wien gefunden, in dem zumindest zehn bis zwölf der Refugees gemeinsam wohnen können und das durch Mittel der Grundversorgung und Spenden finanziert wird. Im Winter wurde es um die Protestbewegung ruhiger, aber nach wie vor gab es viel zu tun und auch der »Schlepperei-Prozess« stand bevor. Das Rektorat der Akademie der bildenden Künste spendete immerhin durch die Kunstauktion der Refugee-Bewegung viel Geld für rechtliche und medizinische Kosten (aber nicht
Refugee-Protest
für Wohn- und andere Lebensfinanzierungskosten bzw. politische Protestorganisation). Während die Auktion im Semperdepot, dem Atelier- und Veranstaltungshaus der Akademie, stattfand, umstellten ca. 300 Polizistinnen und Polizisten das Hauptgebäude der Akademie mit dem Argument, einige Demonstrantinnen und Demonstranten gegen den ebenfalls zeitgleich in der Hofburg stattfindenden »Akademikerball«6 hätten sich in die Akademie geflüchtet. Alle Veranstaltungen in der Akademie mussten abgebrochen werden, und die ca. 100 Besucher/-innen mussten ein stundenlanges Prozedere zur Erfassung ihrer Identität über sich ergehen lassen. Diese unverhältnismäßige Vorgangsweise kann nur als Ausdruck repressiver Machtausübung gegenüber einer Institution verstanden werden, die zeitgleich eine Auktion zugunsten (u.a.) der Refugees abhielt. Im Februar 2014 konnte die Band EsRap gemeinsam mit einigen der Refugee-Aktivistinnen und -Aktivisten letztlich verdient den FM4-Protest-Song-Contest gewinnen und ihre Aufforderungen zur Solidarität bei diversen Konzerten bestärken. Auch die künstlerisch-politische Kampagne »Fluchthilfe und Du«, die im Internet und an der Wiener Secession zur Unterstützung und Hinterfragung des Schleppereibegriffs propagiert wurde, konnte öffentliche und mediale Aufmerksamkeit erzeugen und stieß notwendige Diskussionen im Vorfeld des Gerichtsprozesses an. Gleich am Anfang des Prozesses führte die unklare Beweislage im März 2014 dazu, dass alle inhaftierten Refugees nach sechs bzw. acht Monaten Gefängnis freikamen und die Anklage erhebliche Probleme mit der Darlegung der Konstruktion der »organisierten Schlepperbande« hatte. Der Prozess, in dem es vor allem darum
6 Der Wiener Akademikerball ist seit 2013 der inoffizielle Nachfolger des Wiener Korporations-Balls, der von 1952 bis 2012 jährlich von mehrheitlich schlagenden und Farben tragenden Hochschulkorporationen ausgerichtet wurde. Er wird von der rechten Partei »Freiheitliche Partei Österreichs« organisiert.
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ging, wer wem ein Kebab und eine Fahrkarte auf dem Fluchtweg gekauft hat und demgemäß dem Schlepperei-Paragrafen unterliegt, wurde am 4. Dezember 2014 mit sieben Schuldsprüchen und einem Freispruch beendet. Nachdem die Refugees schon acht Monate in U-Haft zugebracht hatten, musste niemand mehr in Haft zurück, trotzdem haben die Verurteilten damit kaum mehr Chance auf Asyl und Aufenthalt. Einige wenige Refugees bekamen inzwischen eine einstweilige Aufenthaltsgenehmigung, heirateten oder studieren an der Akademie der bildenden Künste, andere warten noch immer auf ihre Bescheide oder sind in andere Länder gezogen. Der Refugee-Protest geht einstweilen in kleineren Kreisen, mit anderen Akteurinnen/Akteuren und Vernetzungsversuchen und wie immer mit prekärer, ungewisser Zukunft weiter. Im Rahmen der Summer School of Arts im Juni 2014 zog eine »Collective-Listening-Führung« mit Beteiligung internationaler 172
Künstler/-innen und Refugee-Aktivistinnen und -Aktivisten an der Akademie der bildenden Künste als einem der historischen Orte des Protestgeschehens vorbei. Die Akademie-Besetzung wurde damit bereits ein künstlerisch rezipierter Teil einer konstruierten Refugee-Protest-Geschichte. Auch die österreichische Nobelpreis-Autorin Elfriede Jelinek schrieb unter dem Eindruck der Refugee-Proteste das eindrucksvolle und komplexe Stück »Die Schutzbefohlenen«, das am 23. Mai 2014 im Rahmen des »Theater-der-Welt-Festivals« im Stadttheater Mannheim Premiere hatte und auch im Wiener Burgtheater auf dem Spielplan stehen wird. Wie würde man dort wohl reagie-
Fotos nächste Seite: Oben: Demonstration vor dem Servitenkloster, 28. Juli 2013 Unten: Auftritt refugees of the vienna refugee camp im Rahmen des Protest Song Contest, 12. Februar 2013
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ren, wenn Refugees in Form von Performance-Theater-Kunstaktivismus und mit performativer Geste zur Unterstützung des realen Refugee-Protests und zum gemeinsamen solidarischen Handeln aufriefen?
Abbildungen Fotos: Gin Müller
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Eva Egermann Verwandelte Welten ohne Wunden Über Crip, Pop- und Subkulturen, soziale Bewegungen sowie künstlerische Praxis, Theorie und Recherche »Transformal perception when you dance« Die Techno-formation Orbital via Stephen Hawkins, August 20121
Als Künstlerin interessiert mich, wie ideale Vorstellungen von Raum, gesellschaftlichen Verhältnissen oder Formen und Körpern in Kunst- und Kulturproduktion vermittelt werden. Frederic Jameson spricht vom politisch Unbewussten, welches diese Formen und Entwürfe bestimmt. Er definiert es als kollektiven Impuls, der die Erfahrung der Gruppe als absoluten Horizont jeder Interpretation setzt. Das Politische wirke auf einer zutiefst unbewussten Ebene, durch zahllose Bilder und Darstellungen, die in Kunst, Wirtschaft und Medien reproduziert und repräsentiert werden. Diese Erkenntnis macht eine Interpretation von kulturellen Artefakten als sozialsymbolische Akte notwendig. 2 Kulturelle Darstellungen prägen gesellschaftliche Verhältnisse und individuelle Beziehun1 Songtext während der Eröffnungsveranstaltung der Paralympische Spiele am 29. August 2012, siehe: http://www.youtube.com/watch?v=KfmpxaLl6c4 vom 16.05.2014. 2 Vgl. Jameson, Frederic (1981): The Political Unconscious. Narrative as a Socially Symbolic Act, New York: Cornell University Press.
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gen, insofern sie bestimmte Vorstellungen und Bilder von Verhaltensweisen, Handlungen, Haltungen und Gesten liefern. Es sind sozusagen Formationen des »politisch Unbewussten«, »that ideological objective spirit in which we store up our social imaginary and accumulate various fantasy pictures (of no little active reality) of the global system we blindly inhabit« (Jameson 1994: 55). Unsere Vorstellungen und die Fantasie(-bilder), die wir uns ausdenken, die aktiv und real werden, sind demzufolge in dieser Art ideologischem »Spirit« gespeichert, welcher unsere soziale Imagination beeinflusst. 3 Das politisch Unbewusste ist als eine Art Wechselwirkung zwischen den realen Bildern, die uns umgeben, und dem, was wir uns hinsichtlich Gesellschaft vorstellen und ausdenken können, zu verstehen. Es ist auch der Ort des Begehrens nach veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen, »a realm of social desire« (Jameson 1990: 107 f.), »the longing for transfigured collective relation176
ships« (ebd.: 230). Der Ort also, an dem der Wunsch nach einem veränderten Sozialen und transformierten kollektiven Beziehungen auftaucht und an dem (Fantasie-)Bilder und eine kulturelle Praxis entstehen können, die wiederum Rückwirkungen auf kulturelle Vorstellungen, Darstellungen und Artefakte möglich machen. Eine »transformierende Wahrnehmung, beim Tanzen« (siehe Eingangszitat), wie das Techno-Duo Orbital bei der großen Eröffnungsshow der Paralympischen Spiele4 im Sommer 2012 durch den Sprachcomputer sampeln. Dabei verweisen sie auf und zitieren den auf der Bühne ebenfalls anwesenden Astrophysiker und 3
Wenngleich Jameson vorgeworfen wird, in seiner Theorie wage zu bleiben, liefert die Vorstellung eines unbewusst Politischen die Ausgangsbasis für verschiedene Ideen, aber auch einen gewissen Deutungszusammenhang für persönliche und alltägliche Erfahrungen (im Allgemeinen und im künstlerischen Feld).
4 Die Paralympischen Spiele gelten als paradigmatisch dafür, wie sich das Feld des Normalen ständig erweitert, flexibilisiert und wie der neoliberale Leistungsgedanke reproduziert wird. Emanzipation kann in diesem Sinn als ambivalent gesehen werden. Im Vordergrund steht das nationale Großevent.
Verwandelte Welten ohne Wunden
wegen amytropher Lateralsklerose Rollstuhl und Sprachcomputer benutzenden Stephen Hawkings. Zuvor wurde das Stadion in eine riesige Replika des großen Hadronen-Speicherrings (CERN) verwandelt. Hawking erklärte, wie diese Entwicklungen der Teilchenkollision die Wahrnehmung der Welt und der Realität verändern könne. Die Aufführung mündete in ein großes Finale, ein Mash-up des Songs »Spasticus Autisticus« (von Ian Dury and the Blockheads) wurde gespielt, Banner forderten »Rights« und »Equality« ein, und sowohl die Menge im Stadium als auch die Sänger/-innen des Graeae Theatre Orchester riefen gemeinsam: »I’m Spasticus!« Eine etwa 30 Meter große Nachbildung der Skulptur »Alison Lapper, pregnant« von Marc Quinn (welche die britische Künstlerin Alison Lapper ohne Arme und mit verkürzten Beinen während der Schwangerschaft zeigt) erhob sich auf der Bühne und bildete, umgeben von allen Performerinnen/Performern, Musikerinnen/Musikern und Aktivistinnen/Aktivisten, das Schlussbild dieses »CripPop-Medienmoments« (McKay 2013: 50). Wegen der anstößigen Inhalte und der radikalen, tabulosen Realitätsbeschreibung wurde besagter Song »Spasticus Autisticus« kurz nach der Entstehung (1981) von öffentlichen Radiosendern verbannt. Neben den geordneten und idealen Darstellungen gibt es immer auch Cuts und Verletzungen, Abweichungen, Irritationen und Bilder, die nicht produktiv erscheinen, eklektisch und zu laut anmuten. 5 Einige der Materialien – wie auf den folgenden Seiten dargestellt – lösen teilweise auch heute noch, teils über 100 Jahre nach ihrer Entstehung Staunen, ein gewisses Unverständnis oder Empörung aus, wenn ich sie im künstlerischen, akademischen und aktivistischen Kontext zeige. Zum Beispiel die vom 5
»Too loud in it’s patterns« (Egermann/Schweik 2013: 230) ist auch der unansehnliche Bettler, der durch die amerikanischen »Ugly Laws« zu Beginn des 20. Jahrhunderts von öffentlichen Straßen und Plätzen verbannt wurde. Vgl. das Gespräch mit Susan Schweik in: Model House Research Group (Hg.) (2013): Transcultural Modernisms, Berlin: Sternberg Press.
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Sozialistischen Patientenkollektiv (eine Therapiegemeinschaft aus Ärztinnen/Ärzten und Patientinnen/Patienten in Heidelberg in den 1970er-Jahren) im Sinne der Antipsychiatriebewegung formulierte und politisch theoretisierte Forderung, »aus der Krankheit eine Waffe«6 für eine klassenlose Gesellschaft zu machen. Abgesehen vom inhaltlichen Kontext, der Wirkmächtigkeit und radikalen Symbolik des SPK-Slogans und deren ironischer Metaphern (wie z.B. den Nierenstein zum Wurfgeschoss zu machen, siehe Poster auf Seite 161) liefern mir diese Materialien heute ein Art Vehikel, um über den künstlerischen Subjektstatus im »fitten« Neoliberalismus und Kunstsystem, zwischen multifunktionell einsetzbarer künstlerischer Ich-AG oder Supercrip, Body Issues, Arbeitsverhältnissen und dem Wunsch nach Kollektiven nachzudenken. Und natürlich darüber hinaus. Welche radikalen Äußerungen sind in heutigen neoliberalen, normativen und individualisierten Lebens- und Arbeitsverhältnissen möglich und welche Umwendung von stigmati178
sierenden, diskriminierenden und abgrenzenden Körperzuschreibungen ist in der Gegenwart möglich? Songzeilen, Slogans, Titel, Plakattexte und -designs, Albumcovers oder Zeitungsinhalte etc. sind Beispiele für kulturelle Artefakte, die nach Jameson als sozialsymbolische Akte zu interpretieren sind. Es interessiert mich der Moment, in dem sich solche nicht produktive, eklektische oder störende Titel/Bilder von der ursprünglichen Bedeutung loslösen, metaphorisch werden und universelleren Charakter annehmen, sie z.B. für eine (fiktive) Bewegung oder eine bestimmte (andere) Zeit stehen könnten oder zum Container verschiedenster Vorstellungen werden. Ohne den Verweis zu kennen, wird ein T-Shirt mit einem bestimmten Aufdruck zum Interpretationsraum. Man stellt sich die Frage, worauf 6 Vgl. Sozialistisches Patientenkollektiv (SPK) (1987): Aus der Krankheit eine Waffe machen. Mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre von 1972, Mannheim: KRRIM – PF-Verlag für Krankheit.
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das T-Shirt verweist bzw. für welchen Zweck es gedruckt wurde, und kommt vielleicht auf andere Interpretationen als ursprünglich intendiert (informiert von eigenen Themen bzw. dem unbewusst Politischen). Entkoppelt vom Kontext lässt sich in den Bildern (bzw. Titel, Slogans, Songzeilen, Covers etc.) – als kulturelle Artefakte und Darstellungen – nachdenken.7 Manche erzählen und handeln bereits von transformierten Wahrnehmungen oder geben Aufschluss über eine veränderte/verändernde, alternative Kunst-/Kulturproduktion. Als Sammlung und Interpretation werden sie zu (pop-)kulturellen Artefakten einer selbst ausgedachten transhistorischen Subkultur und zu Fragmenten sozialer Imagination. Meine Recherche beschäftigt sich mit widerständigen Praktiken, Aneignungen, sozialen Bewegungen und Popkulturen, die mit Devianz, Abnorm-Krankheit und Behinderung zu tun haben. Ich arbeite mit Beispielen aus verschiedenen Zeiten und Orten, die Aufbegehren, Irritation oder Widerspruch innerhalb ästhetischer Repräsentationen von Unbeschädigtheit auslösen. Verschiedenste Materialien finden sich in meinen künstlerischen Projekten wieder oder während einer Bandprobe. Entstanden sind dabei ein Zeitschriftenprojekt (das »Crip Magazine« 8), eine Ausstellung (»Über unheimliche Zustände und Körper« 9) und künstlerische Arbeiten 7 Die Fragmente wandern und tauchen andernorts wieder auf oder beeinflussen andere Schauplätze und Szenen: Die Australische Industrial Band »SPK« benannte sich u.a. nach dem Sozialistischen Patientenkollektiv (die Abkürzung wurde von der Band mit jeder Veröffentlichung anders interpretiert, z.B. auch als »Surgical Penis Klinik« oder »System Planning Korporation«). Die Band wurde 1978 in Sydney von Graeme Revell, der als Pfleger in einer psychiatrischen Klinik arbeitete, Neil Hill, einem ambulanten Schizophrenie-Patienten dieser Klinik, und Sinan, Graeme Revells späteren Ehefrau, gegründet. Bei Auftritten von SPK wurden u.a. Filmaufnahmen aus der Pathologie gezeigt. 8 In der ersten Ausgabe des Crip Magazine (2012) sind folgende Künstler/-innen und Autorinnen/Autoren vertreten: Printeretto, Cosmic Creatures und Linda Bilda, Heike Raab, das SPK, Philmarie, die Outcast Nights und Reitmans radikale Kartografie, Volker Schönwiese, Susanne Schuda, Nina Stuhldreher, Karin Michalski, Sabine Baumann, Dafne Boggeri, Cornelia Renggli, Wiebke Grösch und Frank Metzger. 9 Die Ausstellung »Über Unheimliche Zustände und Körper« war vom 22. März bis zum
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wie Installationen, Performances oder Videoarbeiten. Im April 2013 habe ich Musiker/-innen10 in einen Proberaum eingeladen, um zu dem im Jahr 1981 zensierten Song »Spasticus Autisticus« zu improvisieren bzw. diesen zu covern. Die von mir gestalteten Poster an den Wänden des Proberaums verwiesen auf crip-popkulturelle Bezüge und meine Recherche. Auf den folgenden Seiten finden sich Ausschnitte aus dem Crip Magazine. Der Textteil im Anschluss liefert eine Vertiefung bzw. Erläuterungen zu theoretischen Bezügen wie Disability Studies und Crip Theory sowie den genannten sozialen Bewegungen und Beispielen aus der Popkultur, wie ich sie im Rahmen der Ringvorlesung »Kunst, Theorie, Aktivismus« vorgestellt habe.
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Abbildungen Seite 175:
Crip Magazine Nr. 1/2012, Titelseite
Seite 176:
Ausschnitte aus Crip Magazine Nr. 1/2012
Seite 177:
Crip Magazine Nr. 1/2012, S. 7, Original in: SPK – Aus der Krankheit eine Waffe machen, S. 83
Seite 178-179:
Crip Magazine Nr. 1/2012, S. 12–13
3. Mai 2013 im Kunstraum Lakeside in Klagenfurt zu sehen. Teilnehmer/-innen waren: Franz Artenjak, Drew Danielle Belsky, Diedrich Diedrichsen, Mareike Bernien und Kerstin Schrödinger, Eva Egermann, Luke Fowler, Roland Gaberz, Philipp Timischl; siehe: www. lakeside-kunstraum.at/index.php?id=470 vom 16.05.2014. 10 Darunter waren Veronika Eberhart und Julia Mitterbauer (von der Band Plaided) und Bernhard Hussek, Bernhard Kern, Agnes Slowik, Martin Zenker, Cordula Thym, Roland Gaberz und Phillip Schwarzbauer.
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Die Wellness der Normalen »Hello to you out there in Normal Land You may not comprehend my tale or understand As I crawl past your window give me lucky looks You can read my body but you’ll never read my books« (Strophe aus »Spasticus Autisticus« von Ian Dury & the Blockheads, 1981)
Das politisch Unbewusste beschreibt die grundlegende Ebene »of our collective thinking and our collective fantasies about history and reality« (Jameson 1981: 34). Tobin Siebers hat Jamesons These aufgegriffen: Verlangt sind makellose öffentliche Körper, während Vorstellungen einer imperfekten – inkompetenten, kranken, defekten – Gemeinschaft als Zeichen der Entfremdung gelten. Das politisch Unbewusste »befördert die wechselseitige Iden186
tifikation bestimmter Erscheinungsformen, seien es organische, ästhetische oder architektonische, mit Idealbildern des gesunden idealen Staatskörpers« (Siebers 2009: 21). Siebers ist einer von vielen Autoren/Autorinnen, die kritisch über die Repräsentation von Körpern und »Behinderung« geschrieben haben und seit den 1980er-Jahren die Auseinandersetzung innerhalb der Disability Studies prägen.11 Weit spezifischer als das politisch Unbewusste kann etwa der Begriff »Ableism« gefasst werden. Damit sind soziale Verhältnisse, Ideen, Praktiken und Prozesse gemeint, die gesunde, d.h. fähige (abled-bodied), Körper als Standard voraussetzen. Es geht um die Vorstellung eines körperlichen Ideals und die grundlegende Unterscheidung von 11 Siehe beispielsweise Garland Thompson, Rosemary (1996): Freakery: Cultural Spectacles of the Extraordinary Body, New York University Press und dies. (1997): Extraordinary Bodies: Figuring Physical Disability in American Culture and Literature, New York: Columbia University Press sowie u.a. die Bücher von Susan Schweik, David T. Mitchell & Sharon L. Snyder und Robert Imrie.
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allem, was davon abweicht. Diese Idealvorstellung, meint Fiona Kumari Campbell, kennen wir aus verschiedenen Bereichen und geschichtlichen Kontexten, »whether it be the ›species typical body‹ (in science), the ›normative citizen‹ (in political theory), the ›reasonable man‹ (in law)« (Campbell 2009: 44). Campbell beschreibt Ableism als ein Denksystem, welches sich permanent auf Normativität bezieht und diese somit auch hervorbringt, sozusagen das »Normal Land«, welches Ian Dury in dem Song »Spasticus Autisticus« beschreibt. In der oben angeführten ersten Strophe wird die Grenzziehung zum Normalen deutlich: »Hallo an euch da draußen im Land der Normalen.« (»Spasticus Autisticus«, Ian Dury & the Blockheads, 1981) Wie die soziale und kulturelle Konstruktion von Behinderung in der Geschichte die normative Ausrichtung der westlichen Moderne funktional mitprägte, haben eine Reihe von Autorinnen und Autoren in den Disability Studies beschrieben (z.B. Imrie 1996, Schweik 2009). So schreibt etwa Mathias Danbolt: »Ideologies of progression legitimized the containment of ›deviants‹ on a moral ground by presenting racial, gendered, and sexual others as a threat to the development of the society. […] Art museums, as well as medical and entertainment institutions, all had their share in straightening out the understanding of time and history, harnessing a racialized and heteronormative ideology of straight time that could manage and control ›anachronistic‹ subjects that slowed down the progress of Modernity.« (Danbolt 2011: 1986)
Während lange Zeit eine medizinische, pathologische und defizitäre Interpretation die dominante Definition von Behinderung bildete, wird diese Kategorie – den Disability Studies folgend – als Produkt sozialer Organisation sowie kultureller und historischer Konstruktion betrachtet, deren Formationen sich im historischen
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Prozess untersuchen lassen. Margrit Shildrick und Janet Price stellen dahingehend fest: »The body as abled/disabled has historicity and is constructed, not by once-and-for-all acts, nor yet by intentional processes, but through the constant reiteration of a set of norms. It is through such repetitive practice that the body as abled/disabled is both materialized and naturalized.« (Shildrick/Price 1996: 94)
Anne Waldschmidt beschreibt zudem, dass »Disability« nicht der Effekt medizinischer Pathologie, sondern das Produkt sozialer Organisation sei: »Sie entsteht durch systematische Ausgrenzung. Menschen ›sind‹ nicht zwangsläufig aufgrund ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigungen ›behindert‹, sondern sie ›werden‹, indem Barrieren gegen 188
ihre Partizipation errichtet werden, im sozialen System und durch das System ›zu Behinderten gemacht‹.« (Waldschmidt 2010: 43)
Diese Analyse und Kritik werden von Ansätzen wie der Crip Theory geteilt und weiterformuliert. Das Ziel ist, normative Gewissheiten zu hinterfragen und verschränkt mit der Perspektive von Queer Theory Ungleichheitskategorien (wie Abledbodiedness/nichtbehinderte Körperlichkeit und Heterosexualität) zu dekonstruieren. Ähnlich wie »Queer« bemächtigt sich »Crip« eines abwertenden Diskurses bzw. abwertender Begrifflichkeiten. Mit der eigenmächtigen Aneignung des Begriffs »cripple«/Krüppel werden verweigerte Sprech- und Subjektpositionen entgegen einer einseitigen stigmatisierenden Sichtweise auf »behinderte« Körper eingenommen. Codierte Unterscheidungsweisen, wie Norm/Abnorm, bezogen auf Selbstverhältnisse und Zugriffe auf Körper, Identitäten, sexuelle Politiken sowie gesellschaftliche Verhältnisse, werden in
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den Blick genommen. »Behinderung«, Verletzung, Abweichung, Aneignung und Widerstand stellen Gegenbewegungen zu den dominanten Ordnungen dar. Crip Theory zeigt, wie verschiedene Ungleichheitskategorien intersektionell miteinander verknüpft sind, und nimmt explizit die Perspektive von Gesellschaftskritik ein. Crip-Dekonstruktionen können dementsprechend als analytische Kategorie innerhalb von Geschichte und Gesellschaft dienen.
Reclaiming Krank »54 appliances in leather and elastic 100 000 thank yous from 27 spastics I’m spasticus, I’m spasticus I’m spasticus autisticus« Strophe aus »Spasticus Autisticus« von Ian Dury & the Blockheads, 1981 189
** »Identität ist keine Sache, sondern ein Prozeß – ein Prozeß der Erfahrung, der sich am deutlichsten als Musik erfassen läßt.« Frith 1999: 15312
Im Jahr 1981 schrieben Ian Dury und Chris Jankel (von der britischen Punkrock-Band »Ian Dury and the Blockheads«) den Song »Spasticus Autisticus«. Der Ausruf »I am Spasticus« sollte eine Kriegserklärung (»War Cry«) gegenüber dem im selben Jahr stattfindenden internationalen »UNO Jahr der Behinderten« sein und war abgeleitet von dem Ausspruch »I am Spartacus« in Stanley Kubricks Film Spartacus (1960). Ian Dury, der selbst im Alter von 12 Simon Frith beschreibt in »Musik und Identität« wie »Herstellung und Gebrauch von Musik die Menschen als Persönlichkeiten, als Gewebe von Identitäten erst erschafft« (Frith 1999: 153), denn Popmusiken sind alternative Formen sozialer Interaktion.
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sieben Jahren an Polio erkrankte und seine Kindheit in diversen Sonderschulen zubrachte,13 begriff ihn als »Anti-Charity-Song« entgegen der Bevormundung. Wegen der (für die damalige Zeit) anstößigen Inhalte und tabulosen Realitätsbeschreibungen wurde der Song von öffentlichen Radiosendern zensiert. Die radikalen Texte und Performances erzeugten, was Ian Dury »that Outcast Thing« (McKay 2013: 44) nannte, das die Band verkörperte. Die soziale Realität, die im Song beschrieben wird, ist jenes »Normal Land«, in welchem normale/abnormale Körper konstruiert, reproduziert und gelesen werden. Im selben Jahr fand auch im deutschsprachigen Raum eine Vielzahl von Aktionen gegen das »UNO Jahr der Behinderten« statt, denn es wurde von vielen eher als »Jahr der nichtbehinderten Wohltäter« gesehen, wie auch Franz Christoph in der Krüppelzeitung, einer Zeitschrift, die zwischen 1979 und 1985 erschien und von der deutschen Behindertenbewegung herausgegeben 190
wurde, schrieb. Horst Frehe, ein weiterer Aktivist der deutschen Krüppelbewegung, meinte daran anschließend: »Das Jahr zu nutzen heißt, gegen das Jahr aufzutreten.« (Mürner/Sierck 1981: 66) Neben einer Bühnenbesetzung und einer »Danke-Lied-Performance« bei der Eröffnungsveranstaltung des »UNO Jahr der Behinderten« in der Dortmunder Westfalenhalle wurde Ende des Jahres 1981 das erste Krüppeltribunal veranstaltet. Für Aufsehen sorgte zuvor eine Aktion von Franz Christoph am 18. Juni 1981 im Düsseldorfer Messe-Kongress-Center, als er mit seiner Krücke auf den Bundespräsidenten Karl Carstens losging. In der Krüppelzeitung (2/81) wurde diese Aktion als Reaktion auf die permanente strukturelle und persönliche Gewalt, die Menschen mit Behinderungen zu spüren bekommen, beschrieben (vgl. Mürner/Sierck 1981: 71), sowie als »symbolischer Akt der notwendigen Gegen13 Vgl. Ian Dury im Interview unter: www.youtube.com/watch?v=LcnAi7y7Oc0 vom 18.05.2013.
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gewalt, der zugleich in den Reaktionen der Rehabilitationsmafia deren strukturelle alltägliche Gewalttätigkeit der Entmündigung offenlegte« (ebd.). Es folgten Schlagzeilen wie »Jedem Krüppel seinen Knüppel«. Die Verwendung des Begriffs »Krüppel« durch die radikale Krüppelbewegung (vgl. Mürner/Sierck 2009: 24) bediente sich einer abwertenden Beschreibung und wendete sie zu einer eigenmächtigen Sprechposition. So wurden Strategien der Fehlaneignung von verletzenden Anrufungen entwickelt. Diese Selbstdefinition und die Aneignung der Krücke als Knüppel kann als emanzipatorische Anwendung der Prothesen und abwertenden Begrifflichkeiten angesehen werden. In diesem Sinne ist auch das Motto »Krankheit als Waffe« des bereits erwähnten »Sozialistischen Patientenkollektivs« (SPK) zu verstehen. Entgegen der Isolierung der »anerkannt Kranken« durch die »ärztlichen Poli-zisten«, wie Jean-Paul Sartre in einem Vorwort zu SPK schreibt (vgl. SPK 1995: 6), gibt es innerhalb des SPK »keine Unterscheidung zwischen ÄrztInnen und PatientInnen« (Geene/ Lorenz 1996: 22). »Der Arzt isoliert die einzelnen Fälle, als ob die festgestellten Störungen Mangel und Schicksal bestimmter Personen sei. Der Kranke wird also als Kranker atomisiert und in eine besondere Kategorie eingeordnet, in der sich noch andere Kranke befinden, die aber keine soziale Beziehung zu ihm haben können, denn sie werden alle als besondere Exemplare derselben Kategorie betrachtet.« (SPK 1995: 6)
So ist eine Solidarisierung unterbunden, die kollektiven gesellschaftlichen Ursachen von Krankheit können nicht gesehen werden. »Die Errichtung eines PatientInnenkollektivs folgt der Einsicht, dass Krankheit nicht getrennt von den kapitalistischen Verhält-
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nissen zu beschreiben ist, unter denen sie entsteht und unter denen sie als ein Widerstand oder Entzug aus den Verhältnissen gesehen werden kann.« (Geene/Lorenz 1996: 22)
Outcasts & Ugly Crowds »So place your hard-earned peanuts in my tin And thank the Creator you’re not in the state I’m in So long have I been languished on the shelf I must give all proceedings to myself« Strophe aus »Spasticus Autisticus« von Ian Dury & the Blockheads, 1981
Widerständige Praktiken von Abnormen können in der Geschichte noch weiter zurückverfolgt werden. Eine Landkarte des Anarchisten Ben Reitman aus dem Jahr 1910 (siehe Seite 178–179) illu192
striert die Repression gegenüber verschiedenen devianten Gruppen und lässt deren Widerstand nachvollziehen. Die Landkarte, welche ich andernorts ausführlicher beschrieben und nachgezeichnet habe,14 stellt Chicago dar; sie wurde bei einer von Reitman organisierten »Outcast Night« (Nacht der Ausgestoßenen) präsentiert. Tim Cresswell beschrieb die Veranstaltung folgendermaßen: »Anarchisten, Intellektuelle, darunter [Emma] Goldman, waren Zeugen der Präsentation unterschiedlicher Typen von gesellschaftlich Ausgestoßenen, wie Landstreicher, Prostituierte, ›Homosexuelle‹ und Kriminelle. Der Saal war überfüllt, und auch die Presse war anwesend. Am Ende des Abends nützte Reitman die Gelegenheit, um seine ›soziale Geographie‹ zu präsentieren – ein Vortrag in Verbindung mit einer großen Landkarte.« (Cresswell 1998: 208) 14 Dies geschah etwa im Rahmen des Forschungsprojekts »Model House. Mapping Transcultural Modernism«, unter: www.transculturalmodernism.org oder im Crip Magazine, S. 12–15.
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Der Text des Vortrags ist verschollen, die Landkarte selbst – ursprünglich auf ein Leintuch gezeichnet – wird heute im ReitmanArchiv der Universität von Illinois in Chicago aufbewahrt. Ben Reitman war Arzt und anarchistischer Aktivist in den Vereinigten Staaten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er war Zeitgenosse der Chicago School of Sociology, Freund von Emma Goldman und Begründer des Arbeitslosenmarsches von 1908. Er hatte selbst als Landstreicher gelebt und in Chicago »Hobocolleges« (Schulen für Landstreicher) gegründet. Seine Karte zeigt Chicago, und wir sehen, dass die »Armen«, die »Kranken«, die »Behinderten«, die »Verrückten«, die »Obdachlosen«, die »Prostituierten«, die »Nicht-Weißen«, die »Alten«, die »Waisen« und die »politisch Radikalen« alle auf Inseln leben, die nicht mit dem Festland verbunden sind. Sie zeigt eine Reihe von Punkten, die mit dem Ausschluss verschiedener Gruppen im Chicago des frühen 20. Jahrhunderts zu tun haben. Susan Schweik bezeichnet diese Zeit (1867 bis 1920) als »Ära der Unansehnlichen« (Schweik 2009: 16). Es war die Zeit, als die sogenannten »Ugly Laws« (offizielle Bezeichnung: »Unsightly Beggar Ordinances«/»Verordnungen über unansehnliche Bettler«) formuliert und in den meisten Städten im Mittleren Westen und Westen der USA eingeführt wurden. Dabei handelte es sich um Bestimmungen, die »unansehnlichen« und »entstellten« Personen den öffentlichen Raum verboten. In vielen Staaten wurden Versionen der »Ugly Laws« erst in den 1970er-Jahren aufgehoben.15 Staatliche Institutionen reglementierten das Verhalten und Aussehen der Menschen in den Straßen und an öffentlichen Plätzen der Stadt. Gleichzeitig kam es zur Entwicklung moderner Stadtplanung und des »City Beautiful Movements«16. »Entstellte« 15 Das Phänomen der »Ugly Laws« hat Susan Schweik 2009 ausführlich in ihrem Buch The Ugly Laws, Disability in Public beschrieben. 16 Das »City Beautiful Movement« war eine nordamerikanische Stadtplanungsbewegung
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Menschen galten als »Probleme, die ebenso zu verwalten waren wie Architektur oder Straßenplanung« (Schweik 2009: 67). Das Land des Respekts/der Fähigkeit, welches auf Reitmans Karte zu sehen ist, ist laut Tim Cresswell »kein erstrebenswerter sozialer Raum und auch keiner, der zwangsläufig alle Unterschiede in sich aufnimmt. Es ist ein Raum, der ständig ausschließt und zurückweist und Inseln von Ausgestoßenen hervorbringt.« (Cresswell 1998: 208) Der Ort auf der Karte, der mich am meisten interessiert, ist die Stadt »Crankly« auf der »Radikalen Insel«. Mit dem Wort »crankly« – einer Ableitung vom deutschen Wort »krank« – wurden damals sonderbare oder exzentrische Personen bezeichnet. Laut Susan Schweik ist es ein Wort, das man genauso gegen Anarchisten, Freidenker und politisch Radikale verwenden konnte. Auf der Karte kommt der Begriff als Umdeutung zum Einsatz – im Sinne einer Aneignung eines vormals verletzenden Begriffs. Sich »crankly« anzueignen heißt u.a, nicht mehr zwischen dem Krank-Sein, dem 194
Simulieren und dem Betteln unterscheiden zu können. Oder, wie Susan Schweik es ausdrückt: »Jeder Platz auf dieser Karte, einschließlich der Disable-Insel und Crankly, ist ein Ort für politische Organisierung mit dem Ziel, den Prozess des Outcastings aufzulösen.« (Schweik 2009: 73) Diese sehr unterschiedlichen Erzählungen sind Beispiele für geschichtliche Kontexte, in denen neben der Repression gegenüber als »behindert« geltenden Personen auch Widerstand und Aufbegehren ebenjener ausgeübt wurden. Diese Verschiebung der Perspektive auf die Aneignungen, Konflikte und Verhandlungen, auf das Anachronistische und die Orte des Widerstands ermöglicht alternative Lesarten, Repräsentationen und Bildproduktionen, die ein anderes Material und andere kulturelle in der Zeit von 1893 bis 1929. Ihr Beginn wird zumeist mit der Weltausstellung in Chicago im Jahr 1893 datiert. Siehe dazu z.B. die Texte »Uglyness« und »Beautification« von mir und Moira Hille unter www.transculturalmodernism.org/page/59 vom 21.05.2014.
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Darstellungen, jenseits von Stigma und Bevormundung, hervorgebracht haben und hervorbringen. Lennard Davis beschreibt diesen Perspektivenwechsel in seinem Entwurf des Dismodernen Zeitalters17 als eine globale Vorstellung von Welt »ohne Wunden und Gefügigkeit« (Davies 2002: 390).
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Eva Egermann
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Abbildungen Alle Abbildungen bis auf Seite 177: Copyright Eva Egermann und die Projektbeteiligten. Abbildung Seite 177 aus: Sozialistisches Patientenkollektiv (SPK) (1995): Aus der Krankheit eine Waffe machen. Mit einem Vorwort von Jean-Paul Sartre von 1972, Mannheim: KRRIM – PFVerlag für Krankheit, S. 83.
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Andreas Kemper Klassismus im Bildungssystem: Zur virtùellen Gewalt des sich senkenden Blicks Seit wenigen Jahren organisieren sich Studierende mit einer sogenannten ^niedrigen^1 sozialen Herkunft gegen den Klassismus 2 im Bildungsbereich. In ihrer Positionierung gegen die konservative Begabungsideologie 3 überbrücken sie die Ignoranz ^abgehobener^ Klassentheorien gegenüber Diskriminierungen (Stichwort: Diskriminierung als »Nebenwiderspruch« im Klassenkampf) ebenso wie die Ignoranz ^diskriminierungshierarchischer^ Antidiskriminierungspraktiken gegenüber Klassenverhältnissen, die davon ausgeht, dass es weder Arbeiter/-innenkinder noch Klassen gebe. In diesem Beitrag werden einleitend die klassenbezogenen Ausschlüsse an ^Hochschulen^ am Beispiel der Akademie der bildenden Künste Wien skizziert. Fremd- und Selbstausschlüsse werden anschließend in einem topologischen Denkmuster verortet, in dem die ^Hochschule^ zu ^hoch^ für Arbeiter/-innenkinder erscheint. Ich plädiere hier dafür, Ideologie und Bewusstsein in einer Topolo1
Die »Dachzeichen« ^^ (Zirkumflexe) sollen Ausdrücke kennzeichnen, die vertikale Bilder erzeugen. Unter »vertikalen Bildern« bzw. »sozialem Vertikalismus« sind Denkstrukturen zu verstehen, die gesellschaftliche Verhältnisse an einer vertikalen Achse anordnen (Oberschicht/Unterschicht, hohe Begabung/niedrige Begabung, hohes Niveau/niedriges Niveau etc.). Diese Anordnungen gehen mit Wertungen (hochwertig) und Bilderproduktionen (»Untermenschen«) einher.
2 Vereinfacht gesagt ist Klassismus die Diskriminierung aufgrund einer Klassenzugehörigkeit. Zum Begriff Klassismus siehe auch Kemper/Weinbach (2009). 3
Stellvertretend für diese Ideologie sei hier Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab von 2011 genannt.
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Andreas Kemper
gie des Möglichkeitsraums zu denken, statt in einem Oben-untenSchema. Im »Äther« der kapitalistischen Vergesellschaftung findet sich die Kehrseite der Akkumulation des Reichtums, nämlich die jahrhundertelange Akkumulation von traumatischen Gewalterfahrungen, die zu angepassten Selbstertüchtigungen führen. Die Macht, die diese Selbstertüchtigungen ermöglicht, wird im Folgenden als »Virtù« bezeichnet. Im virtùellen Möglichkeitsraum der kapitalistischen Gesellschaft sind die Existenzweisen durch klassenspezifisch unterschiedlich bewertete Tüchtigkeiten bedingt, in denen die Menschen sich spiegeln und derart ein verzerrtes Bewusstsein ihrer Möglichkeiten erhalten. Durch Selbstorganisierung könnte es studierenden Arbeiter/-innenkindern gelingen, vorgegebene Denkmuster zu durchbrechen und das »In-MöglichkeitSeiende« gegenüber dem bloß »Nach-Möglichkeit-Seiendem«4 konkret utopisch zu formulieren.
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Soziale Barrieren – Beispiel: Akademie der bildenden Künste Wien An der Akademie der bildenden Künste in Wien untersuchte Barbara Rothmüller 2009 zusammen mit der dortigen Arbeitsgruppe »Antidiskriminierung« Formen von mittelbarer und unmittelbarer Diskriminierung. An dieser Universität ist es möglich, das Studium der Bildenden Kunst ohne allgemeine ^Hochschulreife^ zu studieren, allerdings gibt es ein komplexes Zulassungsverfahren. In der Studie wurden potenzielle Diskriminierungen hinsichtlich der 4 Das »Nach-Möglichkeit-Seiende« wird mit der »kritischen Betrachtung des jeweils zu Erreichenden« (Bloch 1979: 238) erfasst. Um das »In-Möglichkeit-Seiende« zu erkennen, bedarf es jedoch einer »fundierten Erwartung der Erreichbarkeit« (ebd.: 239), die Erreichbarkeit muss also als denkmöglich erscheinen. Die »Aussichts-Erforschung des In-Möglichkeit-Seienden« (ebd.: 240) wäre danach die »Theorie-Praxis des NachhauseGelangens« (ebd.: 241).
Veranstaltungseinladung: Klassismus? Was ist das denn?, 2012
Andreas Kemper
Fragen untersucht, ob Bewerber/-innengruppen auszumachen sind, die sich seltener zur Zulassungsprüfung anmelden und ob Bewerber/-innengruppen im Zuge der Aufnahmeverfahren benachteiligt werden (vgl. Rothmüller 2012: 96 ff.). Die Gruppe kam zu dem Ergebnis, dass bereits vor der Aufnahmeprüfung Barrieren vor allem aufgrund der ^niedrigen^ sozialen Herkunft bestanden. »Betrachtet man die Ergebnisse der Untersuchung am Institut für bildende Kunst […], fällt auf, dass die weitreichendsten Zugangsbarrieren bereits vor der Anmeldung zur Prüfung wirksam wurden. Interessent_innen aus bestimmen Migrant_innengruppen, Bewerber_innen, deren Eltern Arbeiter_innen waren oder niedrige Bildungsabschlüsse hatten, sowie Kandidat_innen unter 20 Jahren waren bereits bei der Anmeldung zur Prüfung unterrepräsentiert – im Vergleich mit ihren Bevölkerungsanteilen und/ oder im Vergleich mit ihren Anteilen an anderen Hochschulen.« 202
(Rothmüller 2012: 96)
Zusätzlich wurden Bewerber/-innen mit ^niedriger^ sozialer Herkunft seltener zum Studium zugelassen: »Die Analyse der Zulassungschancen am Institut für bildende Kunst konnte sichtbar machen, dass ungleiche Studienchancen insbesondere hinsichtlich eines Merkmals auftraten, nämlich bei der sozialen Herkunft.« (Ebd.: 101) Rothmüller konnte zeigen, dass das Wissen über bestimmte Bewerbungsmodalitäten relevant für die Aufnahme zum Studium war. Dieses Informationsdefizit (mangelndes kulturelles Kapital nach Bourdieu) hänge aber mit dem sozialen Kapital zusammen, also mit den Tipps und dem abfragbaren Wissen von Bekannten, die bereits an der Akademie studieren oder studiert haben (vgl. ebd.: 96 f.). Sie weist darauf hin, dass dieser Informationsmangel von einigen ^Kunsthochschulen^ mit Absicht nicht behoben wird, da es zur Prüfungsphase gehöre, »intuitives Wis-
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sen und Gespür für die Zusammenstellung und Präsentation der Arbeiten« (ebd.: 98) zu testen. Rothmüller kritisiert diese institutionelle Perspektive. Dieser Standpunkt übersehe, dass die Mappenvorbereitung und -gestaltung in großem Ausmaß ein sozialer Prozess sei. So hätten sich sechs von sieben Bewerberinnen und Bewerbern im Vorfeld der Aufnahmeprüfung Rückmeldungen zu ihren Mappen von Personen aus zwei verschiedenen Gruppen (Bekannte, Lehrende) eingeholt. Hochschulen würden durch so eine Verfahrensgestaltung und -organisation zur Benachteiligung beitragen. »Weil Bewerber_innen niedriger sozialer Herkunft bereits bei der Anmeldung zur Prüfung stark unterrepräsentiert waren, wies am Ende des Verfahrens die Zusammensetzung der Studienanfänger_innen eine in sozialer Hinsicht starke Homogenität auf, die selbst andere, für ihre soziale Homogenität bekannte Studien wie Medizin oder Jus übertraf.« (Rothmüller 2012: 101)
In der Studie wurden auch individuelle Diskriminierungserfahrungen abgefragt. Bewerber/-innen mit ^niedriger^ sozialer Herkunft fühlten sich im Rahmen des Aufnahmeverfahrens allerdings nicht diskriminierter als andere Gruppen, was Rothmüller dadurch erklärt, dass Angehörige benachteiligter Gruppen aufgrund »vorangegangener Entmutigungen [das] ›persönliche Scheitern‹« (ebd.: 102) bei sich selbst suchten. So zeigte sich, »dass sich Bewerber_ innen mit niedriger sozialer Herkunft relativ häufig bereits mit der Erwartung zur Prüfung anmeldeten, ohnehin mit ihrer Bewerbung nicht erfolgreich zu sein« (ebd.). Da für das Studium der Bildenden Kunst an der Akademie der bildenden Künste, wie erwähnt, kein formaler Bildungsabschluss nötig ist, gibt Rothmüller zu bedenken, dass hier zwei Ausgrenzungen – seltenere Bewerbungen und vorschnelle Akzeptanz der eigenen Aussiebung – stattfinden,
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die auf internalisierte Erwartungshaltungen der Ausgegrenzten hinweisen. In diesem Zusammenhang möchte ich davor warnen, die Erkenntnisse Rothmüllers als psychologische Probleme von Arbeiter/-innenkindern zu deuten. Vielmehr haben wir es hier mit Ideologie, Denkmustern und entsprechendem Bewusstsein zu tun, worauf ich im folgenden Abschnitt eingehen werde.
Korporative Strukturen und Oben-unten-Dichotomien Dass Arbeiter/-innenkinder sich erst gar nicht zum Studium anmelden, lässt sich mit Pierre Bourdieus Begriff der symbolischen Gewalt erklären. Arbeiter/-innenkinder schätzen sich entsprechend der herrschenden Sichtweise ein. Der Begriff Gewalt ist hier in doppelter Weise richtig, denn zum einen handelt es sich 204
um Gewalt als psychosoziale Einschränkung, zum anderen basiert diese Einschränkung auf einem geschichtlichen Kontinuum brachialer Gewalt gegen Arbeiter/-innen. Es gibt viele kulturell verankerte Warnungen an Menschen mit sogenannter ^niedriger^ Herkunft, ^unten^ zu bleiben, die sich unter anderem auch sprichwörtlich ^niederschlagen^: »Schuster bleib bei deinen Leisten« (zum Sprichwort siehe auch Kemper 2013). Das mehrgliedrige Schulsystem mit seinen Selektionsmechanismen suggeriert, dass es unterschiedliche soziale Orte gibt, zu denen entsprechende Personengruppen gehören. Mit einer ^höheren Herkunft^ kommt man auf eine ^höhere Schule^, das entspricht sich schon sprachlich. In der europäischen Kulturtradition sind diese Orte topologisch in einem ^vertikalen^ System kartiert, welches mit einem deutlichen Wertemuster verbunden ist. In der Bibel lesen wir von Jakobs Himmelsleiter, wie Engel von ^oben^, vom ^Himmel^, dem ^Thron^ Gottes, ^herunterwandern^. Ähn-
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liche Bilder finden sich bei den Neuplatonikern in der Emanationstheorie Plotins, wo der Geist als Lichtkegel von ^oben^ nach ^unten^ fließt und die Menschen erleuchtet; die ^Hochscholastik^ baute dieses Denkmuster aus und ließ die Ständegesellschaft mit einfließen. Mit der bürgerlichen Gesellschaft dynamisierte sich schließlich die ^Oben-unten-Hierarchie^ mit dem Bild der ^Höherentwicklung^. Die Rede von der ^Höheren Schule^ im 19. Jahrhundert ist in diesem Diskurs verortet und damit auch alle ^vertikalistischen^ Ausdrücke, wie ^Bildungsaufstieg^, ^niedriger IQ^ bis hin zu ^Hochbegabung^. Hier treffen also implizite Drohungen, nicht ^zu hoch hinaus^ zu wollen, mit vorbegrifflichen Schemata (vgl. Foucault 1991: 89 ff.) 5 und inkorporierten Schemata (vgl. Bourdieu 1987: 729), wonach die Gesellschaft ^geschichtet^ sei, zusammen. Pierre Bourdieu sieht hier eine »Elementarerziehung« am Werk: »Unsere ganze Ethik, von der Ästhetik nicht zu reden, ist in dem System der wichtigsten Adjektive enthalten: hoch/niedrig, gerade/krumm, starr/biegsam, offen/geschlossen u.s.f., von denen ein Gutteil auch Positionen oder Dispositionen des Körpers oder eines seiner Teile bezeichnet – z.B. ›erhobenen Hauptes‹, ›mit gesenktem Kopf‹.« (Bourdieu 2005: 53)
»Diese Klassifikationsschemata sind allerdings nicht nur in der Sprache, sondern auch in Institutionen wie der Schule eingebunden« (ebd.: 734) und sorgen für ein »begriffsloses Erkennen« (ebd.: 734 f.). Arbeiter/-innenkinder treffen in der Schule auf einen zentralen ideo5
Claudia Leeb bezieht sich ausdrücklich auf diese Schemata, wenn sie von »Klassen-Denkschemata« im Rahmen »klassendisziplinärer Macht« nach Foucault spricht: »KlassenDenkschemata berauben Studierende aus der ArbeiterInnenklasse jeder Gelegenheit, ihren Hintergrund aus der ArbeiterInnenklasse positiv zu belegen. Es kann daher nicht erstaunen, wenn sie sich für ihren Hintergrund zu schämen beginnen und diesen im akademischen Kontext verschweigen.« (Leeb 2007: 80)
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logischen Staatsapparat6, der nicht die primäre Benachteiligung durch unterschiedliche Bildungsressourcen im Elternhaus kompensiert, sondern mit sekundären Benachteiligungen multipliziert. In Deutschland liegen verschiedene Untersuchungen vor, die verdeutlichen, dass bereits in der Primarstufe Arbeiter/-innenkinder bei gleichen Leistungen schlechter benotet werden (vgl. Maaz/Baeriswyl/ Trautwein 2011: 13). Diese chronische Missachtung der intellektuellen Vermögen von Arbeiter/-innenkindern sorgt für Effekte, die in der Psychologie als Gratifikationskrise (vgl. Siegrist/Dragano 2008) und als Impostor-Syndrom (vgl. Clance 1988) bezeichnet werden. Eine Gratifikationskrise ist eine depressive Reaktion auf die mehrfache Nichtanerkennung von Leistungen, die mit psychosomatischen Verhaltensmustern einhergeht. Das Impostor-Syndrom bezeichnet die Schwierigkeit oder gar Unfähigkeit, eigene Leistungen anzuerkennen. Die Anerkennung prallt ab, da man sich als ^Hochstapler/in^ fühlt. Am Begriff ^Hochstapler/-in^ zeigt sich, wie mächtig die 206
Denk- und Bewertungsmuster der ^Vertikalität^ sind. Dass im Bildungsbereich ^vertikalistische^ Denkmuster so mächtig sind, heißt nicht, dass sie auf dieses Feld beschränkt sind. Popitz et al. (1967) hatten in den 1960er-Jahren das Bewusstsein von Fabrikarbeitern erforscht und stellten fest, dass dies gespalten sei. Solange Arbeiter/-innen über »ihre Leute« erzählten, wirkten sie lebendig, selbstbewusst, intelligent. Sobald sie aber zu ^denen da oben^, der Unternehmensleitung, befragt wurden, ^senkten^ sie den Blick, machten unklare und stereotype Angaben, als stocherten sie widerwillig im Nebel – das Selbstbewusstsein war mit einem Schlag verschwunden. Popitz et al. nannten dieses Verhaltensmuster »Zweites Bewusstsein«7. 6 Dies ist ein Begriff von Louis Althusser, auf den im Folgenden noch eingegangen wird. 7 »Aber sobald unsere Fragen über den unmittelbaren Erfahrungsbereich hinausgehen, wird gleichsam ein anderes Bewußtsein ›eingeschaltet‹, ein Bewußtsein, das ›sowieso Bescheid weiß‹ und für das es daher nur noch wenige konkrete und interessante Tatsachen gibt.
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Dieses zweite Bewusstsein lässt sich nicht allein über Gratifikationskrisen erklären. Es ähnelt dem Impostor-Syndrom und hat wahrscheinlich ähnliche Ursachen. Um dieses Verhaltensmuster zu erklären, müsste man Marx, Foucault und Bourdieu miteinander verbinden8 und auf Feministinnen wie Silvia Federici zurückgreifen, die sich alle ausführlich mit Körperpolitiken im Zuge der sogenannten ursprünglichen Akkumulation befasst haben. Die Existenzweise des Proletariats wurde den Menschen in einem vierhundertjährigen Disziplinierungsprozess mit grausamen Vagabundengesetzen und Gefangenschaften in Arbeits- und Zuchthäusern eingeschrieben (vgl. Marx 1968: 764, Foucault 1976 und Federici 2012). Es handelte sich um eine Körperpolitik der Einschreibung, mit der die für die kapitalistische Industrialisierung notwendigen Arbeiter/-innen konstruiert wurden. 9 In der Traumaforschung ist bekannt, dass Traumata über Generationen weitergereicht werden können (vgl. Kestenberg 1998: 9). Dies trifft vor allem auch auf gesellschaftliche Traumata zu (vgl. Kemper 2011), die sich nicht nur individuell, sondern gesellschaftlich einschreiben, d.h. institutionalisieren. Wir haben es hier also nicht nur mit einem Problem der individuellen Psyche zu tun, welche traumatisiert ist, sondern mit einem gesellschaftlichen Trauma, welches sich symbolisch und strukturell wiederfindet, beispielsweise in Sprichwörtern (»Schuster bleib bei deinen Leisten«, »HochEs besteht kaum noch die Bereitschaft, Informationen aufzunehmen. Dieses zweite Bewußtsein beruft sich plötzlich auf die ›kleinen Leute‹, auf die eigene Ohnmacht – mit dem Bewußtsein des selbstsicheren Spezialarbeiters hat es nichts mehr zu tun.« (Popitz et al. 1967: 205) 8 Siehe aktuell hierzu die sehr umfangreiche Studie von Tino Heim (Heim 2013). 9 Die neue politische Anatomie der Disziplin »spaltet die Macht des Körpers; sie macht daraus einerseits eine ›Fähigkeit‹, eine ›Tauglichkeit‹, die sie zu steigern sucht; und andererseits polt sie die Energie, die Mächtigkeit, die daraus resultieren könnte, zu einem Verhältnis strikter Unterwerfung um« (Foucault 1976: 177). Innerhalb der Disziplin wirkt die Disziplinarstrafe als ein Element. »Die Disziplinarstrafe hat die Aufgabe, Abweichungen zu reduzieren. Sie ist darum wesentlich korrigierend. Neben den Strafmitteln, die direkt der Justiz entliehen sind (Geldbuße, Peitsche, Karzer), bevorzugen die Disziplinarsysteme Bestrafungen, die in den Bereich des Übens, des intensivierten, vervielfachten, wiederholten Lernens fallen.« (Foucault 1976: 232, Herv. i.O.)
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mut kommt vor dem Fall« etc.), also in vertikalen Denkmustern und entsprechenden vertikalistischen architektonischen Dispositiven, die das Herauf- und Herabblicken klassenspezifisch anordnen. Traumatisierungen können zur Identifikation mit dem Aggressor führen. Dies gilt in gewisser Weise auch für gesellschaftliche Traumata, wenn die Aggressoren diese Traumata für herrschaftsstabilisierende Maßnahmen ausnutzen.10 Auf diese Identifikationen und Spiegelungen wird noch einzugehen sein. Davor soll allerdings noch der soziale Raum, in dem diese Spiegelungen stattfinden, erörtert werden. Hierzu möchte ich an den Marxismus anknüpfen, der Ideologie mit der räumlichen Metapher Basis-Überbau erklärt. Die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse bestimmen demnach als Basis die Ideologie, den Überbau.11
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Kritik am Basis-Überbau-Topos Eine materialistische Ideologiekritik geht also davon aus, dass die Ideologie durch die Produktionsverhältnisse bestimmt wird. Tino Heim kritisiert in seiner umfangreichen Studie Metamorphosen
des Kapitals die Suggestivkraft dieses Topos, nach der Marx angeblich von einer einfachen Determination ausging. 10 Siehe hierzu ausführlich Naomi Klein (2007): Die Schock-Strategie. Klein beschreibt zwar die Schock-Strategie als moderne Entwicklung im Kapitalismus, stellt aber deren Urheber Milton Friedman in die Tradition Machiavellis, welcher 1513 riet, »Gewalttaten alle auf einmal zu begehen« (Machiavelli zit.n. Klein 2007: 109). 11 Althusser macht kritisch darauf aufmerksam, dass es sich um eine »räumliche Metapher, einen Topos« (Althusser 1973: 120) handelt: »Wie jede Metapher gibt diese Metapher vor, etwas zu zeigen. Was? Nun, genau folgendes: daß die beiden oberen Etagen sich nicht alleine (in der Luft) ›halten‹ könnten, wenn sie nicht auf ihrer Basis ruhen würden. Die Metapher des Gebäudes hat also zum Ziel, vor allem die ›Determinierung in letzter Instanz‹ durch die ökonomische Basis zu zeigen. Diese räumliche Metapher bewirkt also die Zuordnung eines Wirksamkeitsmerkmals zur Basis, das bekannt ist durch die berühmten Worte: Determinierung in letzter Instanz dessen, was sich in den ›Etagen‹ (des Überbaus) abspielt, durch das, was sich in der ökonomischen Basis abspielt.« (Ebd.)
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Tatsächlich umfassen bei Marx die Klassenverhältnisse als Produktionsverhältnisse die »Gesamtheit der Lebensbedingungen, Interessen und Beziehungen heterogener Gruppen« (Heim 2013: 54). Seine historischen Analysen der revolutionären Kämpfe in Frankreich seien nach Heim nie kausal mit Klasseninteressen der »ökonomischen Basis« erklärt worden, sondern mit Wechselwirkungen, »die heterogene und ambivalente Strategien und Koalitionen zahlloser gesellschaftlicher Gruppierungen in ihrem Aufeinandertreffen entfalten« (ebd.). Diese Kämpfe gingen damit weit über die unmittelbaren Produktionsverhältnisse hinaus und seien mit Konflikten12 verknüpft, die ihnen ein »hohes Maß an Entwicklungsoffenheit« (ebd.) verleihen. Heim betont in diesem Zusammenhang die Unabgegoltenheit früherer Kämpfe, die sich durch ein simples BasisÜberbau-Schema nicht darstellen lassen. Vielmehr sei »die Ungleichzeitigkeit13 der Entwicklungsverläufe, in denen Ideen über die gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer Entstehung hinausweisen oder kulturelle Hinterlassenschaften längst vergangener Epochen unter ganz anderen Verhältnissen neue Bedeutung gewinnen« (ebd.) zu berücksichtigen, aber auch die »Kontingenz des Zusammentreffens verschiedener Entwicklungspfade und Ereignisse« (ebd.). Aus dieser Kritik am marxistischen Basis-Überbau-Topos folgt für Heim, nicht länger vom Basis-Überbau-Topos14 zu sprechen, sondern vielmehr vom Topos des »vorgeprägten Möglichkeitsraumes«, der durch die Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse 12 Als Konfliktpotenziale nennt Heim u.a. die Bereiche Arbeitszeit, Lohn, Gesundheit, Bildung, Schutz, Sicherheit, soziale und politische Teilhabe (vgl. Heim 2013: 54). 13 »Ungleichzeitigkeit« ist hier ein Begriff Ernst Blochs, mit dem er u.a. die Rückschrittlichkeit des deutschen Mittelstandes bezeichnete, die ihren Anteil an der Entstehung des nationalsozialistischen Regimes hatte. 14 Auch Althusser sieht im Basis-Überbau-Topos nur eine beschreibende Theorie, die einerseits zwingt, über sie hinaus zu gehen, andererseits aber Gefahr läuft, die Entwicklung der Theorie vom Standpunkt der Reproduktion zu blockieren (vgl. Altusser 1973: 122 ff.). Althusser geht über den Basis-Überbau-Topos hinaus und entwickelte die Theorie der Ideologischen Staatsapparate mit der Schule als dominierenden Ideologischen Staatsapparat.
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bedingt sei. Man solle sich diesen Möglichkeitsraum aber nicht als leeren Raum vorstellen, dessen Ränder durch die Produktionsverhältnisse begrenzt sind, sondern er sei vielmehr von der je spezifischen Form der Produktion durchdrungen. Marx benutzt hier die Bilder der Beleuchtung oder des Äthers: »Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert […], ein besonderer Äther, der das spezifische Gewicht alles in ihm hervorstechenden Daseins bestimmt.« (Marx 1983: 40; zit.n. Heim 2013: 55)
Problematisch am Basis-Überbau-Modell ist zudem, dass es als räumliche Metapher ein sehr mächtiges Denkmuster bedient, nämlich die Oben-unten-Dichotomie mit ihren klassenspezifischen Zuschreibungen. Es verkehrt zwar die Richtung der Wirkmächtigkeit (^unten^ bestimmt ^oben^), bleibt aber im eigentlichen 210
Denkmuster gefangen. Dabei liegt gerade eine wichtige Erkenntnis der marxistischen Klassenanalyse darin, Klassen nicht vertikal, sondern horizontal gegenüberzustellen. Dialektisch gesehen befinden sich Proletariat und Bourgeoisie auf ^Augenhöhe^15 , sonst könnten sie keine antagonistischen Klassen sein. Dieses Bild des vom Licht und Äther durchdrungenen Möglichkeitsraumes möchte ich nun mit der Metapher der Luftspiegelung in Verbindung bringen.
15 »Augenhöhe« ist zwar horizontal, bezieht sich aber auf ein vertikales System.
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Spiegeleien: Zweites, Doppeltes und Intersektionelles Bewusstsein Spiegel hüben, Spiegel drüben, Doppelstellung, auserlesen; Und dazwischen ruht im Trüben Als Kristall das Erdewesen. Goethe, Entoptische Farben
Selbstbewusstsein ist eine Reflexion, da das Selbst sich seiner bewusst ist. Daher wird das Selbstbewusstsein oftmals mit der Metapher des Spiegels erläutert. Für eine erste Skizzierung möchte ich auf eine Anekdote verweisen, die der Männerforscher Michel Kimmel als persönliches Schlüsselerlebnis anführt (vgl. Kimmel 2013). Er berichtet von einem Erlebnis in einem feministischen Seminar, in dem sich eine weiße und eine schwarze Frau über die Einheit und Spaltung in der feministischen Bewegung stritten. Die schwarze Studentin stellte der weißen schließlich die Frage, was sie im Spiegel sähe. Die weiße Studentin sagte: »Eine Frau«. Daraufhin erwiderte die schwarze Studentin: »Ich sehe eine schwarze Frau, wenn ich in den Spiegel blicke.« An dieser Stelle zeigt sich, wie sich Diskriminierungsformen in einer Person überschneiden – man spricht von »Intersektionalität« (intersection: Überschneidung). Kimmel überlegte und stellte dann fest, dass er als weißer Mann einen Menschen im Spiegel sieht, wenn er sich darin betrachtet.16 Diese Anekdote macht deutlich, was es heißt, als das Andere in einem »vorgeprägten Möglichkeitsraum« markiert zu sein. 16 Wobei »der Mensch« auch ein Trugbild ist, da das Nicht-Markierte zur Norm gesetzt wird, in diesem Fall der Androzentrismus, der »Mann« und »Mensch« gleichsetzt. Interessant sind hierzu auch Ausführungen aus Pierre Bourdieus Werk Die männliche Herrschaft: »Der Status des Mannes im Sinne des vir impliziert ein Seinsollen, eine virtus, die sich im Modus des Fraglosen und Selbstverständlichen aufzwingt.« (Bourdieu 2005: 90)
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Dieses Bild möchte ich auf die Situation von Arbeiter/-innenkindern übertragen, die sich nicht als Studierende sehen, sondern als Arbeiter/-innenkinder, die studieren. Was führt dazu, dass die einen Studierenden sich als Studierende sehen, die anderen sich hingegen als Arbeiter/-innenkinder, Schwarze, Frauen usw., die studieren? Ich bleibe bei der Spiegelsituation und nehme einen Begriff aus der Optik auf, der ursprünglich aus der Sozialphilosophie kam: Virtualität. In der Optik spricht man bei Spiegelbildern von virtuellen Bildern, die durch eine Spiegelfläche entstehen. Dieses virtuelle Bild kann z.B. die Markierung Arbeiter/-innenkind in sich tragen, es kann aber auch unmarkiert spiegeln wie oben im Beispiel der Anekdote von Michel Kimmel. Wenn wir uns an die Formulierung von Marx erinnern, dass die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft kein leerer Möglichkeitsraum ist, sondern einer, der von einem Äther durchzogen wird,17 welcher von den Produktionsver212
hältnissen ausgeht, dann sind alle Bilder gebrochen, verzerrt, also virtuell. Ich nenne diese spezifisch markierten bzw. unmarkierten virtuellen Bilder virtùelle Bilder, denn meine These ist, dass die markierende Kraft mit dem Machtbegriff des Renaissance-Philosophen Niccolò Machiavelli als Virtù erklärt werden kann.18
17 Es handelt sich wohlgemerkt um eine Metapher, eine Alternative zum Basis-ÜberbauTopos. 18 Ich gehe später noch auf Machiavelli und die Virtù ein. Ich benutze den Begriff Virtù weitgehend im Sinne des foucaultschen Machtbegriffs. Ein Verwandtschaftsverhältnis besteht auch zu Dorothy Smiths Begriff »Regelungsverhältnisse«: »Der Ausdruck ›Regelungsverhältnisse‹ bezeichnet den Komplex außerlokaler Verhältnisse, die Organisation, Kontrolle und Initiative in heutigen Gesellschaften zu speziellen Tätigkeiten machen. Wir kennen sie als Bürokratie, Verwaltung, Management, Professionen und Medien. Sie umfassen auch die wissenschaftlichen, technischen und kulturellen Diskurse, die die vielfältigen Orte der Durchregelung durchschneiden und koordinieren.« (Smith 1998: 15) Sie spricht in diesem Zusammenhang von »virtueller Realität« und bezieht sich damit auf die marxsche Vokabel »Überbau«: »Mir geht es im Wesentlichen um die Erforschung jener virtuellen Realitäten, die die Welt als eine solche konstituieren, mit der man in diesen virtuellen Realitäten selbst umgehen kann. Natürlich erkunde ich damit ein Terrain, das Marx im Vorwort zu seiner Kritik der Politischen Ökonomie als ›Überbau‹ bezeichnet hat.« (Ebd.)
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Machiavelli schreibt über Virtù unter anderem im berüchtigten Büchlein Il Principe und betont, dass es sich bei der Virtù nicht mehr um Virtus als Tugend handle, sondern viel eher um eine männlich identifizierte (vir = Mann) Tüchtigkeit.19 Ein mächtiger Fürst hat viel Virtù, aber auch ein Volk kann viel oder wenig davon haben. Mit dieser Virtù liegt für Foucault eine der wenigen Machtkonzeptionen vor, die im Kontext von Kräfteverhältnissen analysiert wurden (vgl. Foucault 1983: 118). 20 Machiavelli hat das Buch in einem durch ein massives Foltertrauma hervorgerufenem Zustand verfasst. Unmittelbar nachdem die Medici ihn foltern ließen, schrieb er Il Principe mit »verkrüppelten« Händen – und widmete es den Medici. Er legitimierte in der Schrift implizit die ihm kurz zuvor zugefügten Folterungen. So überwand er sein Ohnmachtsgefühl, indem er an die Macht der Herrschenden andockte, ihre Sicht der Dinge zu übernehmen versuchte. Machiavelli diagnostizierte nicht seine Traumatisierung, sondern er virtùalisierte sich, indem er die Denkweise der Herrschenden übernahm und so an ihrer Macht, ihrer Virtù, Teil hatte. Wie kommt es also, dass der materielle Mensch virtùell erscheint, wie schafft es diese Virtù, bestimmte Menschen zu markieren, mit gruppenbezogenen Attributen auszustatten, anderen hingegen »Normalität« zuzuerkennen und sie damit unmarkiert zu belassen? Mögliche Antworten dazu finden sich bei Hegel und Althusser. Hegel schildert den Kampf zweier Selbstbewusstseine auf Leben und Tod im Kapitel »Herrschaft und Knechtschaft« in der Phäno-
menologie des Geistes (vgl. Hegel 1986: 145 ff.). Das unterlegene
19 Zur Problematik der Übersetzung von »Virtù« siehe Knauer 1990: 33–45 und 116. 20 Allerdings führt Foucault an, dass man »heute vielleicht einen Schritt weitergehen und unter Verzicht auf die Figur des Fürsten die Machtmechanismen von einer den Kraftverhältnissen immanenten Strategie her entschlüsseln« (Foucault 1983: 118) müsse. Zu weiteren Ausführungen siehe auch Foucault 2010: 92 ff.
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Selbstbewusstsein wird zum Knecht. Er sieht sich (spiegelt sich) in seiner Arbeit für den Herrn und ist dadurch erkenntnistheoretisch im Vorteil, denn der Herr spiegelt sich nicht. Aber das geknechtete Bewusstsein sieht sich selbst nur durch die Arbeit für den Herrn. Sein Selbstbild ist durchdrungen von der Arbeit für den Herrn. Da diese Szene jedoch auf einen Interessenkonflikt zweier antagonistischer Gruppen reduziert werden könnte, lehnt Althusser diese einfache Ableitung der Ideologie aus dem Interessenkonflikt ab und erweitert sie in seiner Konzeption der ideologischen Staatsapparate. Althusser benutzt in Ideologie und ideologische Staatsappa-
rate ebenfalls die Spiegelmetapher, um den Zusammenhang von Bewusstsein und Ideologie zu erklären. Das Wesen der Ideologie bestehe darin, dass Individuen als Subjekte angerufen würden (vgl. Althusser 1973: 162). Am Beispiel der religiösen Ideologie des Christentums möchte Althusser darstellen, 214
»daß die Struktur jeder Ideologie, durch welche die Individuen im Namen eines absoluten und einzigen SUBJEKTS 21 als Subjekte angerufen werden, spiegelhaft ist, und zwar in doppelter Weise: die spiegelhafte Verdopplung ist für die Ideologie konstitutiv und gewährleistet ihr Funktionieren. Dies bedeutet, daß sich jede Ideologie um einen Mittelpunkt dreht, daß das ABSOLUTE SUBJEKT den einzigen Mittelpunkt bildet und um sich herum die unendliche Zahl der Individuen als Subjekte anruft.« (Ebd.: 167, Herv. i.O.)
Zu diesem Zitat ist anzumerken, dass nach Althusser das SUBJEKT Gott zusammen mit dem religiösen Staatsapparat seine do21 Althusser bedient sich hier einer graphostilistischen Schreibweise, die wahrscheinlich nicht zufällig an die Bibel erinnert. Die Großbuchstaben des einzigen SUBJEKTS sollen es von der Vielzahl der Subjekte unterscheiden.
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minierende Stellung verloren hat. »Das Gespann Schule–Familie hat das Gespann Kirche–Familie ersetzt« (ebd.: 139), nachdem der schulische ideologische Staatsapparat »in der reifen kapitalistischen Formation in eine dominierende Position gebracht worden ist, am Ende eines gewaltigen politischen und ideologischen Klassenkampfes gegen den früheren dominierenden Ideologischen Staatsapparat« (ebd.: 138), nämlich die Kirche. Althusser bleibt allerdings die Beantwortung der Frage schuldig, was das SUBJEKT des ideologischen Staatsapparats (ISA) Schule sei. Wenn das SUBJEKT Gott als der spiegelnde Bestandteil des nicht mehr dominanten ISA Kirche fungierte, würde ich vorschlagen, analog in Bezug auf den ISA Schule das schulische Bewertungssystem 22 des sogenannten Leistungsprinzips 23 als modernes SUBJEKT zu identifizieren. Das Leistungsprinzip zielt darauf, die Tüchtigkeit zu erkennen, zu markieren und zu fördern. Ich spreche bewusst von »Tüchtigkeit« statt von »Leistung«, weil im Begriff der »Tüchtigkeit« auf die sogenannte »Begabung« zurückgegriffen wird, was besonders deutlich wird im rassenhygienischen Wort »Erbtüchtigkeit«. Die Zuschreibung der Tüchtigkeit, insbesondere die Zuschreibung der Begabung, ist geprägt durch eine Gruppenbezogenheit: Schülerinnen und Schülern werden aufgrund klassistischer Vorurteile entsprechende Tüchtigkeiten zugeschrieben (vgl. Bos et al. 2007: 18). Diese Zuschreibung von Tüchtigkeit findet beispielsweise durch »Gatekeeper/-innen« statt, also durch die Entscheidungsinstanzen, die über den weiteren Bildungsweg urteilen sowie durch 22 Das schulische Bewertungssystem umfasst z.B. (be-)wertende Lehrkräfte, Eltern und Schüler/-innen, Bewertungsregeln, Bildungszertifikate, ein differenziertes Schulsystem mit vielfältigen Rangpositionen, wie Klassensitzplatz, Schultyp, (Führungs-)Zeugnisse, Gatekeeping etc. 23 Das Leistungsprinzip wurde vormals auch als Dispositiv der »Tüchtigkeit« bezeichnet (spannend hierzu sind die Arbeiten von Michel Foucault zur Disziplinierung und Normalisierung).
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(stadt-)architektonische Anlagen und nicht zuletzt durch vertikalistische Denkschemata. Hierdurch werden Schüler/-innen durch das SUBJEKT Leistungsprinzip angerufen, sie spiegeln sich in ihm hinsichtlich ihrer Tüchtigkeit und werden entsprechend subjektiviert. Das Prinzip der Tüchtigkeit ist das anrufende Spiegelnde. Damit wären wir bei der Beantwortung der Frage, wie das virtùelle Bild entsteht. Virtù ist Tüchtigkeit, das virtùelle Bild ist das Bild der Tüchtigkeit. Althusser macht die Anrufung deutlich an einem Polizisten, der »He, Sie da!« ruft und damit den/die Angesprochene/n als Subjekt rekrutiert (vgl. Althusser 1973: 160). Er vergisst darauf hinzuweisen, dass Polizeibeamte in der Regel bewaffnet sind und notfalls mit Gewalt dafür sorgen werden, dass das Individuum sich in ein Subjekt verwandelt. Dies wird in der Regel nicht nötig sein, denn der Polizeiapparat basiert auf der gesellschaftlichen Traumatisierung, die er in einem vierhundertjährigen Prozess von Polizeimaßnahmen gegen 216
Arme mit geschaffen hat. Ähnliches gilt für den Schulapparat, wobei dieser jünger ist. Otto Rühle machte vor rund hundert Jahren in Zur Psychologie des proletarischen Kindes darauf aufmerksam, dass Arbeiter/-innenkinder in der Schule ständig geprügelt wurden, Kinderheime hatten als ständiges Drohpotenzial gegen Arbeiter/innenkinder in Westdeutschland bis Ende der 1960er-Jahre grausame, traumatisierende Strukturen. Das Leistungsprinzip ist strafend und drohend, diese Funktion hat es als neues dominantes SUBJEKT vom alten dominanten SUBJEKT Gott übernommen. Es basiert letztlich auf Strafe, da im Leistungssystem auch strafende Institutionen wie Gefängnisse einbezogen sind. Ohne Gefängnis gäbe es bestenfalls den Leistungsgedanken, aber kein Leistungsprinzip. In der althusserschen Spiegelmetapher fehlt jedoch das konstituierende Moment der physischen Gewalt, welches Hegel noch demonstrativ hervorhob. Insbesondere Passagen in Phänomeno-
logie des Geistes (vgl. Hegel 1986: 153) lassen die Interpretation
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einer Schilderung von Traumatisierung zu, die zu einer Identifikation mit dem Aggressor führt. 24 Wenn sich der Knecht in seiner Arbeit für den Herrn selbst spiegelt, dann ist diese Arbeit kein befreiender Moment, sondern die vermeintlich einzige Möglichkeit traumatisierter Personen, wieder einen Bezug zur Wirklichkeit zu erhalten, aus der sie mit der traumatisierenden Gewalt herausgeschleudert wurden. Die Virtù stellt über die Arbeit für den Herrn eine neue Realität für den Knecht her – eine virtùelle Realität. Hegels Überlegungen finden sich in verschiedenen theoretischen Ansätzen zu Diskriminierung wieder. So bezog sich etwa der antirassistische Theoretiker Du Bois vor einhundert Jahren auf dieses Kapitel, als er davon sprach, dass Schwarze sich mit den Augen der Weißen sahen, was er als das »Doppelte Bewusstsein« benannte. 25 Iris M. Young griff die Erklärung des Doppelten Bewusstseins auf, sie sprach vom Kultur-Imperialismus, dem Menschen ^unterworfen^ sind, die dieses Doppelte Bewusstsein entwickeln. 26
24 Das ^unterlegene^ Bewusstsein »hat die Furcht des Todes, des absoluten Herrn, empfunden. Es ist darin innerlich aufgelöst worden. […] Durch die Arbeit [für den Herrn] kommt es aber zu sich selbst« (Hegel 1986: 153). 25 »[T]he Negro is a sort of seventh son, born with a veil, and gifted with second-sight in this American world, – a world which yield him no true self-consciousness, but only lets him see himself through the revelation of the other world. It is a peculiar sensation, this double consciousness, this sense of always looking at one’s self through the eyes of others, of measuring one’s soul by the tape of a world that looks on in amused contempt and pity. One ever feels his two-ness, – an American, A Negro; two souls, two thoughts, two unreconciled strivings; two warring ideals in one dark body, whose dogged strength alone keep it from being torn asunder.« (Du Bois 1969: 8) 26 »The group defined by the dominant culture as deviant, as a stereotyped Other, is culturally different from the dominant group, because the status of Otherness creates specific experiences not shared by the dominant group, and because culturally oppressed groups also are often socially segregated and occupy specific positions in the social division of labor. Members of such groups express their specific group experiences and interpretations of the world to one another, developing and perpetuating their own culture. Double consciousness, then, occurs because one finds one’s being defined by two cultures: a dominant and a subordinate culture. Because they can affirm and recognize one another as sharing similar experiences and perspectives on social life, people in culturally imperialized groups can often maintain a sense of positive subjectivity.« (Young 1990: 60)
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Wie entsteht also ein virtùelles Bild von der eigenen Person? Machiavelli versuchte, sich von seiner traumatischen Lähmung nach der Folter zu befreien. Unter Virtù ist in Il Principe die Tüchtigkeit des Herrschers und des Volkes zu verstehen. Die Handlung des Verfassens des Buchs Il Principe würde ich dementsprechend als eine herrscheridentifizierte Selbstertüchtigung mit der Bezeichnung »Virtù« fassen. Machiavelli beschreibt die Macht/Virtù vom Standpunkt der Herrschenden, 27 der durch die Realitätsverschiebung/Virtùalisierung eingenommen wurde, als er auf traumatische Gewalt mit einer Identifikation mit dem Aggressor reagierte. Die Virtù erneuert sich also beständig durch gesellschaftliche Traumatisierungen und den damit einhergehenden Identifikationen mit den Aggressoren und den Arbeiten der Knechte für die Herren. Folglich bestimmt die Virtù als »Äther« den vorgepräg218
ten Möglichkeitsraum, von dem Marx sprach, um zu kennzeichnen, dass unsere Gesellschaft durch die Produktionskräfte und Produktionsverhältnisse bedingt ist. Dieser »Äther« ist in den Personen inkorporiert als Habitus, aber auch im sozialen Raum, »in der Luft«, wo er Luftspiegelungen ermöglicht, um diese Metapher auszureizen. Der durch die Produktionsverhältnisse geprägte Möglichkeitsraum ist also nicht leer, sondern vielmehr durchzogen von Machtverhältnissen, basierend auf sich ständig erneuernden gesellschaftlichen Traumatisierungen, die virtùelle Bilder jedes und jeder Einzelnen spezifisch hervorbringen. 27 Tatsächlich reflektiert Machiavelli, dass er das Blickfeld des Beherrschten hat: »[D]enn wie die Landschaftserzieher sich unten in die Ebene stellen, um den Anblick der Berge und der hochgelegenen Orte zu erfassen, und sich nach oben auf die Berge begeben, um die Weite der Niederungen zu überblicken, so muß man Fürst sein, um den Charakter der Völker zu verstehen, und dem Volk anzugehören, um das Wesen der Fürsten recht zu erkennen.« (Machiavelli 1997: 6 f.) Er bietet aber den Herrschenden (den Medici, die ihn foltern ließen) seinen Blickpunkt an, lässt sie durch seine Augen blicken, inkorporiert ihren Blick. Das ist das doppelte Bewusstsein, von dem Du Bois spricht.
Klassismus im Bildungssystem
Auf dem Weg zum intersektionellen Klassenbewusstsein Das Zweite Bewusstsein nach Popitz und das Doppelte Bewusstsein nach Du Bois bzw. das virtùelle Selbstbild haben ihre Ursache in den Todesdrohungen, sowohl in aktuellen Workfare-Konzepten 28 , also auch in der disziplinierenden Gewalt, mit der willige Arbeiter/innen in einem vierhundertjährigen Prozess geschaffen wurden und deren gesellschaftliche Traumatisierungen sowohl individuell als auch soziokulturell und institutionell perpetuiert wurden. »Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.« Workfare impliziert Prisonfare, Zwangspsychiatrisierung und sozialen Tod. Der Möglichkeitsraum ist zunächst bedingt durch gesellschaftliche Traumata, die mit den ideologischen Staatsapparaten virtùelle Luftspiegelungen erzeugen und so Möglichkeiten auf statisches Nach-MöglichkeitSeiendes 29 beschränken. Traumatisierungen sind allerdings als Schutzvorrichtungen zu verstehen, die das Wirkliche nur temporär ins Unbewusste verlagern, um in besseren Zeiten die Sicht wieder freizugeben. Die Kämpfe, deren Gewalt traumatische Auswirkungen hatten, sind entsprechend unabgegolten. Wie kann nun über das scheinbar statische Nach-Möglichkeit-Seiende auf das In-Möglichkeit-Seiende zugegriffen wer28 »Unter Workfare wäre […] eine seit den achtziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts aufgekommene Form von Sozialpolitik zu verstehen, in deren Rahmen – so mindestens im Vorsatz – erwerbslos gewordene Personen mittels verpflichtender Maßnahmen wieder in die Lohnarbeit zurückgebracht werden sollen.« (Wyss 2007: 9) »Wer sich der im globalisierten Kapitalismus statthabenden allgemeinen Prekarisierung der Arbeit nicht füge, so also die ideologische Botschaft an alle Unterschichts- und auch Mittelschichtsangehörigen – ideologisch deshalb, weil es die sich Fügenden genauso trifft –, dem drohe der Abstieg in die Workfare-Kaste. Genauso, wie die Work Houses im Zuge der Industrialisierung die Funktion erfüllten, die ›normale‹ Bevölkerung in die mörderischen Arbeitsverhältnisse der – wie sie hier kurz bezeichnet seien – Digitalfakturen hinein sozial zu disziplinieren.« (Ebd.: 16) 29 Hier und im Folgenden bediene ich mich der Terminologie Ernst Blochs (Unabgegoltenheit, In-Möglichkeit-Seiendes, Konkrete Utopie), wie sie sich insbesondere im Kapitel »Das Antizipierende Bewusstsein« in Das Prinzip Hoffnung findet (vgl. Bloch 1979: 49-391).
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Veranstaltungseinladung des Fikus-Referats, 2010
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den? Es wäre wichtig, dass sich studierende Arbeiter/-innenkinder bzw. Working Class/Poverty Class Academics politisch zusammenschließen, damit Möglichkeitsräume um das In-Möglichkeit-Seiende erweitert werden, sodass Praktiken der konkreten Utopie gegen klassistische Benachteiligung entwickelt werden können. Hier gibt es bereits Ansätze, z.B. der informelle Zusammenschluss der Working Class/Poverty Class Academics, das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende in Münster (Fikus-Referat) und ein entsprechendes Referat in der Österreichischen HochschülerInnenschaft (vgl. Erler 2007). Interessant an diesen Selbstorganisierungen sind die vorgegebenen emanzipatorischen Strukturen gegen Heteronormativität, die die Möglichkeitsräume von anti-klassistischen Selbstorganisierungen bilden. Nur am Rande sei darauf verwiesen, dass der Begriff »classism« nicht einfach von Arbeiter/ -innenkindern gebildet wurde, sondern von einem Kollektiv von
Klassismus im Bildungssystem
lesbischen Arbeiter/-innentöchtern bekannt gemacht wurde. 30 Insofern scheint die Selbstorganisierung von Arbeiter/-innenkindern mit einem intersektionellen Klassenbewusstsein einherzugehen. Es geht darum, die gleiche ^Augenhöhe^ sichtbar zu machen, um sich gegenseitig mit dem Blick der anderen zu sehen. Hierzu ist es wichtig, dass Arbeiter/-innenkinder mittels politischer Selbstorganisierung lernen, nicht mehr ^aufzublicken^ oder den Blick zu ^senken^. Diese politische Selbstorganisierung wendet sich unmittelbar gegen ein Privilegierungssystem und wird daher sowohl mit politischen Angriffen als auch mit Marginalisierung rechnen müssen. Die politischen Arbeiter/-innenkinderreferate existieren sehr viel länger als das explizit unpolitische »Netzwerk: Arbeiterkind.de« 31, sie werden aber im Gegensatz zum Netzwerk weder von Medien noch von Stiftungen, Preisverleihern oder Konferenzen ernst genommen. Hier zeigt sich, wie mächtig die Virtù ist: Die Gesellschaft beschreibt sich als Bildungsgesellschaft, eines der großen ungelösten Probleme ist die Bildungsbenachteiligung – dennoch wird seit über zehn Jahren ignoriert, dass Betroffene sich demokratisch
Logo The Dishwasher, Zeitschrift und Blog des Fikus-Referats, 2010/11
30 Erwähnt werden sollte noch das Co-Counseling-Konzept, einer Working-Class-orientierten Form von Therapie ohne Therapeuten, die anscheinend noch früher mit dem Begriff classism arbeitete. 31 Siehe: www.fikus-muenster.de/, http://www.arbeiterkind.de/ vom 12.11.2014 und vgl. Erler 2007.
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Veranstaltungsplakat Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW, 2012
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selbst organisieren. Virtù wirkt also nicht nur auf die individuelle (Selbst‑)Wahrnehmung von Arbeiter/-innenkindern, sondern auch auf die (Selbst‑)Wahrnehmung ihrer politischen Selbstorganisierung. Das Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende in Münster wurde nach einer vorbereitenden Phase von einer Vollversammlung von studierenden Arbeiter/-innenkindern gegründet. Vorbild waren die bereits seit 20 Jahren existierenden autonomen Antidiskriminierungsreferate, die sich in den meisten größeren Studierendenvertretungen an deutschen ^Hochschulstandorten^ finden, wie z.B. die autonomen Frauenreferate, die autonomen Schwulen- und Lesbenreferate, die autonomen Referate für behinderte und chronisch kranke Studierende und die Studierendenvertretungen von nationalstaatlich Nicht-Mehrheitsangehörigen. Einmal jährlich findet eine Vollversammlung von studierenden Arbeiter/-innenkindern statt, die dort die Problematiken von Habitus-Struktur-Konflikten 32 benennen, Vorschläge für zukünftige Arbeit einbringen, kritisch die Arbeit der vorgängigen Referentinnen und Referenten beurteilen und neue wählen. Obschon die letzten Vollversammlungen mit je 40 bis 60 studierenden Arbeiter/-innenkindern sehr gut besucht waren, scheinen die ^Hemmschwellen^ für weitere Referate sehr ^hoch^ zu sein.
32 Der Habitus ist nach Bourdieu die Art und Weise, wie man sich gibt und wie man die Welt wahrnimmt. Er wird in der Kindheit geprägt, es gibt klassen- und geschlechterbezogene Habitus. Die Hochschule harmoniert mit dem Habitus von Akademiker/-innenkindern, Arbeiter/-innenkinder kommen mit der Hochschulstruktur oft in Konflikt, es wird in diesem Zusammenhang auch von »institutioneller Diskriminierung« (vgl. Schmitt 2010) gesprochen.
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Soziale Vertikalismen in Texten – graphostilistisch »gedacht« Auch mit künstlerischen Mitteln gilt es, Vertikalisierungsdenkmuster zu dekonstruieren. Hier könnte sich am Feminismus orientiert werden. Dieser griff unmittelbar in die Sprachgestaltung ein, indem mit dem Binnen-I der Androzentrismus der Sprache durchbrochen werden sollte. Der Rat für deutsche Rechtschreibung (2013) stellte hierzu fest, dass es sich um eine graphostilistische Maßnahme handle, die also eher die Frage der Kunst als die der Rechtschreibung betrifft. Entsprechend könnten Vertikalismen in der Sprache markiert werden. Eine hier vorgenommene graphostilistische Maßnahme ist die Einrahmung vertikalistischer Ausdrücke mit Zirkumflexen. Mit dem Dach-Symbol bzw. dem PfeilSymbol, als das es gelesen werden kann, verweist es bereits auf die Vertikale. Mit den Zirkumflexen (circumflexus: umbiegen) wird 224
der Automatismus des Andockens von vertikalistischen Ausdrücken an das Denkmuster des Vertikalismus unterbrochen, umgebogen, diese Ausdrücke werden somit »bewusst gedacht«. Konkret sieht diese graphostilistische Maßnahme so aus: ^Hochschule^, ^abgewertet^, ^Niedriglohn^, ^Unterschicht^, ^Niveau^, ^Unteroffizier^, ^Bildungsaufstieg^, ^fällt^ etc. Allerdings müsste bei dieser Maßnahme die Vermittlung mitgedacht werden. Zum einen entstehen graphostilistische Interventionen in akademischen Milieus, Menschen, die »weit entfernt« von diesen Milieus sind, könnten erst zu einem Zeitpunkt damit konfrontiert werden, an dem in akademischen Milieus diese Maßnahme bereits als Selbstverständlichkeit empfunden wird. Sprachregelungen gehören zu den Ausschlussmechanismen gegenüber Menschen der beherrschten Klassen. Zudem stillen Sprachregelungen keinen Hunger und heilen keine Traumata, sie können daher von Betroffenen als wirkungsloses Gerede wahr-
Klassismus im Bildungssystem
genommen werden, vor allem dann, wenn die Vermittlung fehlt. Da zunehmend Texte im Internet gelesen werden, ist es möglich, graphostilistische Textelemente auf erklärende Seiten zu verlinken, was zumindest einmal im Text geschehen sollte, auch wenn diese Elemente in einem bestimmten Milieu als selbstverständlich erscheinen. Vertikale Denkmuster sind auflösbar. Da sie unbewusst sind, ist das Bewusstmachen dieser Denkmuster deren Auflösung vorausgesetzt. Da aber disziplinierende Gewaltverhältnisse mit der Etablierung dieser Denkmuster einhergehen, müssen sowohl disziplinierende Gewaltverhältnisse als auch die über Generationen sich fortpflanzenden Traumata überwunden werden, die den Klassen-Denkschemata erst ihre Plausibilitäten verleihen. Neben Möglichkeiten der Selbstorganisierung gegen Klassismus fällt es also auch in den Bereich künstlerischer Gestaltung, vertikalistische Denkmuster bewusst zu machen, damit sich alle Menschen auf ^Augenhöhe^ begegnen können – eine Voraussetzung für Gegenseitigkeit.
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Klassismus im Bildungssystem
Abbildungen Veranstaltungseinladung: Klassismus? Was ist das denn? (2012), ASta Universität Bielefeld. Veranstaltungseinladung: Arbeiterkinderschmaus (2010), Referat für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (FikusReferat), AStA Universität Münster. Logo The Dishwasher (2010/11), Zeitschrift und Blog des Referats für finanziell und kulturell benachteiligte Studierende (FikusReferat), AStA Universität Münster. Veranstaltungsplakat Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW (2012), Grafik: Willi Hölzel, Courtesy Rosa-Luxemburg-Stiftung NRW.
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Autorinnen und Autoren Anette Baldauf interessiert sich für die Potenziale einer kritischen Interdisziplinarität in der Forschung, der Lehre, dem Schreiben und Filmemachen im Kontext von Cultural Studies, Urban Studies und Feminismus. In kontinuierlichen Kooperationen mit Künstler/innen verfolgt sie Fragen zum Verhältnis von öffentlichem Raum, Ökonomie und Konsum sowie Visionen radikaler Veränderung. Sie studierte Erziehungswissenschaften an der Universität Wien und Soziologie an der New School for Social Research in New York und unterrichtete an der New School for Social Research, der New York University und der Universität Innsbruck. Seit 2012 ist sie Professorin am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Akademie der bildenden Künste Wien und koordiniert gemeinsam mit Renate Lorenz das PhD-in-Practice Programm. Eva Egermann ist Künstlerin und lebt in Wien. Sie arbeitet in unterschiedlichsten Medien und Kollaborationen (wie z.B. der Manoa Free University). Neben künstlerischen Projekten sind Publikationen (z.B. Regime. Wie Dominanz organisiert und Ausdruck for-
malisiert wird, gemeinsam mit Petja Dimitrova, Tom Holert, Jens Kastner und Johanna Schaffer, Münster: edition assemblage 2012 oder Class works – weitere Beiträge zu vermittelnder, künstleri-
scher und forschender Praxis, gemeinsam mit Anna Pritz, Wien: Löcker Verlag 2009) und kuratorische Projekte (z.B. On Uncanny
States and Bodies) entstanden. Sie ist Teil der Forschungsgruppe »Model House. Mapping Transcultural Modernisms«, Lehrende an der Akademie der bildenden Künste Wien, Herausgeberin des Crip
Magazines und derzeit PhD-in-Practice-Kandidatin an der Akademie der bildenden Künste Wien.
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Kunst – Theorie – Aktivismus
Alexander Fleischmann war nach einem Studium der Internationalen Betriebswirtschaft wissenschaftlicher Mitarbeiter der Abteilung »Gender and Diversity in Organizations« an der WU Wien. Seit 2010 ist er an der Akademie der bildenden Künste Wien tätig, an der er zuerst für das Büro des Arbeitskreises für Gleichbehandlungsfragen verantwortlich und im Vorsitzteam vertreten war. Seit 2013 zeichnet er an der Akademie für das Netzwerk für Frauenförderung | Büro für Geschlechtergleichstellung und Geschlechterforschung verantwortlich. Darüber hinaus absolviert er ein Masterstudium der Gender Studies an der Universität Wien mit einer Arbeit zum Subjektbegriff bei Jacques Lacan aus queerfeministischer Perspektive. In Sammelbänden erschienen u.a. »Queering the principles: a queer/intersectional reading of Frederick W. Taylor’s ›The Principles of Scientific Management‹«, in: Mustafa Ozbilgin (Hg.), Equality, Diversity and Inclusion at Work: A Research Companion, Cheltenham/New York: Edward Elgar 232
2009, S. 159–170 sowie »Target: BUTT. Das BUTT Magazine als queere Position zwischen Nischen-Marketing und Subversion«, in: Birgit Richard/Alex Ruhl (Hg.), Konsumguerilla, Frankfurt/New York: Campus 2008, S. 157–168, gemeinsam mit Josef Jöchl. Doris Guth ist Kunsthistorikerin/Kulturwissenschafterin und arbeitet als Assistenzprofessorin an der Akademie der bildenden Künste Wien / Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Gender und Queer Studies in zeitgenössischer Kunstproduktion und visueller Kultur, Liebe und Popkultur, Liebe und Feminismus, weibliche Homoerotik in der frühen Neuzeit, Geschlechter und Religionen in der visuellen Kultur sowie Geschlechterpolitik an Universitäten. Sie hat in den letzten Jahren folgende Bücher herausgegeben: Love me or leave me. Lie-
beskonstrukte in der Populärkultur, Frankfurt a.M.: Campus 2009 (gemeinsam mit Heide Hammer), Bilder der Liebe. Liebe, Begeh-
Autorinnen und Autoren
ren und Geschlechterverhältnisse in der Kunst der frühen Neuzeit, Bielefeld: transcript 2012 (gemeinsam mit Elisabeth Priedl). Ihre aktuelle Veröffentlichung ist: »Gender und Queer Studies. Eine Einführung«, in: Elke Gaugele/Jens Kastner (Hg.), Critical Studies. Kultur- und Sozialtheorie im Kunstfeld, Wiesbaden: Springer Verlag 2015. Nanna Heidenreich ist seit Sommer 2011 wissenschaftliche Mitarbeiterin in den Medienwissenschaften an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Sie ist Ko-Kuratorin von »Forum Expanded« bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin (Berlinale), einer Sektion, die sich den ästhetischen und politischen Rändern und Erweiterungen des Kinos widmet. Ihre Arbeitsschwerpunkte (kuratorisch, publizierend, lehrend) sind: Migration, Kunst, Kino & Politik, visuelle Kultur, Bilderstreite, Antirassismus. Ihre Dissertation V/Erkennungsdienste, das Kino und die Perspektive der
Migration sowie der mit Ulrike Bergermann gemeinsam herausgegebene Band Total. Universalismus und Partikularismus in post_ko-
lonialer Medientheorie erscheint 2015 bei transcript. Herausgaben u.a. die DVDs Riki Kalbe – 15 Filme und Philip Scheffner. The Half-
moon Files & Der Tag des Spatzen (beide Berlin: Filmgalerie 451 2013) sowie die Ausgabe Nr. 67 Migration von Frauen und Film (erscheint im Frühjahr 2015 bei Stroemfeld). Ko-Herausgeberschaft (zusammen mit Florian Krautkrämer, Heike Klippel und Birgit Hein):
Film als Idee – Birgit Heins Texte zu Film/Kunst (erscheint 2015 bei Vorwerk 8). Marty Huber arbeitet seit einigen Jahren an den Schnittstellen Aktivismus, Theoriebildung und Kulturarbeit. Insbesondere die Übersetzungen zwischen diesen Feldern, das Zusammenführen von Theorien und Praxen sind ein Schwerpunkt ihrer Arbeit und ihres Engagements, etwa in Kunstvermittlungsprojekten, in Lecture Per-
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formances oder diversen Publikationen. Seit 1996 ist sie in der Rosa Lila Villa, im Lila Tipp, Aktivistin und weitgehend mit verschiedenen Communities aus den Kontexten des politischen Antirassismus und der Kulturarbeit vernetzt. Jens Kastner, Dr. phil., ist Kunsthistoriker und Soziologe. Er arbeitet als Senior Lecturer am Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften an der Akademie der bildenden Künste Wien und schreibt regelmäßig für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften (u.a. graswurzelrevolution, Jungle World, springerin). Seine Forschungsschwerpunkte sind Kunst-, Kultur- und Sozialtheorien sowie Geschichte und Theorie sozialer Bewegungen. Er ist koordinierender Redakteur von Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende
Kunst (Wien). Zuletzt erschien von ihm Alles für alle! Zapatismus zwischen Sozialtheorie, Pop und Pentagon, Münster: edition assemblage 2011 und Der Streit um den ästhetischen Blick. Kunst 234
und Politik zwischen Pierre Bourdieu und Jacques Rancière, Wien/ Berlin: Turia + Kant 2012. http://www.jenspetzkastner.de Andreas Kemper ist Soziologe. Er gründete das bislang einzige Referat für studierende Arbeiter/-innenkinder in der deutschen Studierendenschaft und richtete einen E-Mail-Verteiler für »Working Class Academics« ein. Er promoviert in Münster zum Thema Klassismus. Publikationen: Klassismus. Eine Einführung (gemeinsam mit Heike Weinbach), Münster: Unrast 2009, kritische Bücher zum organisierten Antifeminismus/Maskulismus sowie Buch-Publikationen zur rechten Partei »Alternative für Deutschland« und zu Thilo Sarrazin. https://andreaskemper.wordpress.com Gin Müller, Dr., ist Theaterwissenschaftler, Dramaturg und Aktivist und unterrichtet u.a. am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft (Universität Wien). Aktivistischen Tätigkeiten u.a. beim
Autorinnen und Autoren
Refugee Protest Wien, Rosa Lila Villa, VolxTheaterKarawane, noborder Netzwerk. Seine letzten Theater/Performance-Produktionen waren: Trans Gender Moves (2014), Rebelodrom – Aktions-
labor (2013), Melodrom – The Making of a Rebellious Telenovela (2012/14). Sein Buch Possen des Performativen, Theater, Aktivis-
mus und queere Politiken erschien in Wien bei Turia + Kant 2008.
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Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Februar 2016, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Kai-Uwe Hemken Exposition/Disposition Eine Grundlegung zur Theorie und Ästhetik der Kunstausstellung August 2015, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2095-5
Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Juni 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
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Johannes Springer, Thomas Dören (Hg.) Draußen Zum neuen Naturbezug in der Popkultur der Gegenwart Februar 2016, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1639-2
Marc Wagenbach, Pina Bausch Foundation (Hg.) Tanz erben Pina lädt ein 2014, 192 Seiten, kart., zahlr. Abb. , 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2771-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Kultur- und Medientheorie Hermann Blume, Elisabeth Großegger, Andrea Sommer-Mathis, Michael Rössner (Hg.) Inszenierung und Gedächtnis Soziokulturelle und ästhetische Praxis
Vincent Kaufmann, Ulrich Schmid, Dieter Thomä (Hg.) Das öffentliche Ich Selbstdarstellungen im literarischen und medialen Kontext
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Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik (unter Mitarbeit von Sieglinde Borvitz, Aurora Rodonò und Sainab Sandra Omar) 2014, 356 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2160-0
Frédéric Döhl, Renate Wöhrer (Hg.) Zitieren, appropriieren, sampeln Referenzielle Verfahren in den Gegenwartskünsten 2014, 288 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2330-7
Christian Hißnauer, Stefan Scherer, Claudia Stockinger (Hg.) Zwischen Serie und Werk Fernseh- und Gesellschaftsgeschichte im »Tatort« 2014, 414 Seiten, kart., zahlr. Abb., 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2459-5
Gerald Kapfhammer, Friederike Wille (Hg.) »Grenzgänger« Mittelalterliche Jenseitsreisen in Text und Bild Februar 2016, 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., 31,80 €, ISBN 978-3-89942-888-9
Christopher F. Laferl, Anja Tippner (Hg.) Künstlerinszenierungen Performatives Selbst und biographische Narration im 20. und 21. Jahrhundert 2014, 278 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2215-7
Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Januar 2015, 304 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-1993-5
Michael Niehaus, Wim Peeters (Hg.) Rat geben Zu Theorie und Analyse des Beratungshandelns 2014, 328 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2359-8
Brigitte Obermayr Datumskunst Zeiterfahrung zwischen Fiktion und Geschichte Februar 2016, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 17,80 €, ISBN 978-3-89942-921-3
Manfred Pfaffenthaler, Stefanie Lerch, Katharina Schwabl, Dagmar Probst (Hg.) Räume und Dinge Kulturwissenschaftliche Perspektiven 2014, 350 Seiten, kart., 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2420-5
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de