Kunst, Politik und Gesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert 9783515119337

Die Entwicklung der Künste war in den letzten zwei Jahrhunderten von Prozessen der Nationalisierung, Internationalisieru

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Table of contents :
EDITORIAL
INHALTSVERZEICHNIS
ABBILDUNGSVERZEICHNIS
Hannes Siegrist und Thomas Höpel:
Politische und gesellschaftliche Funktionen von Kunst in Europa
(19.–20. Jahrhundert)
1. BÜRGERLICHE ÖFFENTLICHKEIT UND KUNSTMÄRKTE
Jürgen Osterhammel
Herr des Publikums, Diener der Kunst
Quelle: Franz Liszt über den Beruf des Virtuosen (1852)
Joachim Eibach
Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das Öffentliche
im Privaten
Quelle: Ein Schubert-Abend bei Josef von Spaun. Sepiazeichnung von
Moritz von Schwind (1868)
Sven Oliver Müller
Angleichung und Abgrenzung. Perspektiven des Musiklebens
in Europa im 19. Jahrhundert
Quelle: Mark Twain: Bummel durch Europa (1878)
Tobias Becker
Schwindelmeier in Arkadien. Theater auf Reisen zwischen
europäischen Metropolen um 1900
Quelle: The Arcadians (1909) / Schwindelmeier & Co. (1912)
Gabriele B. Clemens
Händler, Sammler und Museen. Der europäische Kunstmarkt
um 1900
Quelle: J. Beavington Atkinson: Ausstellung alter Meister
in der Londoner Akademie (1875)
2. POLITIK UND KUNST ZWISCHEN NATIONALISMUS UND INTERNATIONALISIERUNG
Axel Körner
Oper, Politik und nationale Bewegung. Mythen um das Werk
Giuseppe Verdis
Quelle: Oper und Mythos am Beispiel Giuseppe Verdis „Nabucco“
Bertrand Tillier
Die schwarzen Männer (1899–1900), eine Vase von Émile Gallé
für die Sache von Dreyfus
Quelle: Émile Gallé: Stand auf der Pariser Weltausstellung / Die
schwarzen Männer (1899–1900)
Rüdiger vom Bruch
Geistige Kriegspropaganda. Der Aufruf von Wissenschaftlern und
Künstlern an die Kulturwelt
Quelle: Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ (1914)
Thomas Höpel
Die Abwehr internationaler Kunst im Nationalsozialismus
Quelle: „Die Geisteswende. Kulturverfall und seelische Wiedergeburt“,
Manifest des Kampfbundes für deutsche Kultur (1929)
Falk-Thoralf Günther
Das deutsch-spanische Kulturabkommen von 1939
Quelle: Deutsches Nachrichtenbüro (DNB): Meldung zum deutschspanischen
Kulturabkommen (19. Januar 1939)
Helmut Peitsch
Der Londoner Kongress des Internationalen Verbandes der
Schriftsteller PEN (Poets, Essayists, Novelists) im
September 1941
Quelle: Erika Mann: Die Zukunft Deutschlands (1941)
Hannes Siegrist
Geistiges Eigentum im Spannungsfeld von Individualisierung,
Nationalisierung und Internationalisierung. Der Weg zur
Berner Übereinkunft von 1886
Quelle: Botschaft des Schweizerischen Bundesrates / Die Berner
Übereinkunft (1886)
Isabella Löhr
Europäischer, amerikanischer oder weltweiter Schutz geistigen
Eigentums? Europäischer Urheberschutz und das amerikanische
Copyright in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
Quelle: Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit:
Vorbereitungen für eine Weltkonvention zum Schutz von
Urheberrechten (1938)
Eckhart Gillen
Abstrakte Kunst als Instrument des Kalten Krieges der Kulturen.
Der Wettbewerb für das Denkmal des unbekannten politischen
Gefangenen 1952/53
Quelle: Working Model for „The Unknown Political Prisoner“
(1955–56)
Jeannine Harder
Polnische Plakatkunst als Medium transnationaler Kunstkontakte
und Kulturpolitik im Ost-West-Konflikt
Quelle: Abbildungen Polnischer Plakate (1949)
Anne-Marie Pailhès
Die Debatte um die Lehrbarkeit des Schriftstellerberufs in der DDR.
Alfred Kurellas Rede zur Eröffnung des Instituts für Literatur
in Leipzig am 30. Juli 1955
Quelle: Alfred Kurella: Von der Lehrbarkeit der literarischen
Meisterschaft (1955)
3. KUNST, ARCHITEKTUR UND STADTENTWICKLUNG
Martin Schieder
Stadt/Bild: Gustave Caillebotte, Baron Haussmann und
eine Verkehrsinsel
Quelle: Gustave Caillebotte: Un Refuge, Boulevard
Haussmann (1880)
Eli Rubin
The Athens Charter
Quelle: The Athens Charter (1943/1973)
Thomas Höpel
Kunst als Motor städtischer Erneuerung. Birmingham in den
1980er- und 1990er-Jahren im europäischen Vergleich
Quelle: A Report and Strategy Proposal for Birmingham’s
Arts Festivals (27. März 1990)
Daniel Habit
Europäische Kulturhauptstädte. Zwischen lokaler Eigenlogik
und gesteuerter Harmonisierung
Quelle: EU-Kommission: Leitfaden für Bewerbungen als
Kulturhauptstadt Europas (2006)
AUTORINNEN UND AUTOREN
ABBILDUNGEN
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Kunst, Politik und Gesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert
 9783515119337

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Thomas Höpel / Hannes Siegrist (Hg.)

Kunst, Politik und Gesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert

3 Geschichte Franz Steiner Verlag

Europäische Geschichte in Quellen und Essays

Thomas Höpel / Hannes Siegrist (Hg.) Kunst, Politik und Gesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert

europäische geschichte in quellen und essays herausgegeben von Martin Baumeister, Rom Ewald Frie, Tübingen Madeleine Herren, Basel Rüdiger Hohls, Berlin Konrad Jarausch, Chapel Hill Hartmut Kaelble, Berlin Gabriele Metzler, Berlin Matthias Middell, Leipzig Maren Möhring, Leipzig Alexander Nützenadel, Berlin Louis Pahlow, Frankfurt am Main Iris Schröder, Erfurt Hannes Siegrist, Leipzig Stefan Troebst, Leipzig Jakob Vogel, Paris Claudia Weber, Frankfurt/Oder Michael Wildt, Berlin

band 3

Thomas Höpel / Hannes Siegrist (Hg.)

Kunst, Politik und Gesellschaft in Europa seit dem 19. Jahrhundert

Franz Steiner Verlag

Umschlagabbildung: Gustave Caillebotte, Un Refuge, Boulevard Haussmann (1880), Öl auf Leinwand, 81×100 cm. © Privatsammlung / Bridgeman Images, Barbarossastr. 39, 10779 Berlin, www.bridgemanimages.com/de/ Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11933-7 (Print) ISBN 978-3-515-11935-1 (E-Book)

EUROPÄISCHE GESCHICHTE IN QUELLEN UND ESSAYS EDITORIAL Die Reihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays behandelt die Geschichte Europas und der Europäer vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart anhand origineller Text- und Bilddokumente, die mithilfe eines begleitenden Forschungsessays in die historischen Zusammenhänge eingeordnet werden. Historiker und historisch arbeitende Sozial- und Kulturwissenschaftler zeigen, warum und in welcher Hinsicht die von ihnen untersuchten Ereignisse, Strukturen, Prozesse, Vorstellungen und Ausdrucksformen für den Verlauf der Geschichte Europas, das historische Bewusstsein der Europäer und die gegenwärtigen Herausforderungen bedeutsam sind. Die wechselvolle Geschichte der Konstruktion Europas, der Wandel der Selbst- und Fremdbilder der Europäer und schließlich der europäischen Integration wird in die Geschichte der sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Beziehungen und Entwicklungen eingebettet. Große Strukturen, fundamentale Konflikte, alltägliche Praktiken, subjektive Erfahrungen und kollektive Erinnerungen werden vergleichend, beziehungs- und verflechtungsgeschichtlich auf der lokalen, nationalen und internationalen Ebene analysiert. Zu den besonderen Anliegen der Reihe gehört es, die Spannung zwischen Tradition und Modernisierung und die damit einhergehende Dynamik der Verräumlichung sozialer, kultureller, wirtschaftlicher und politischer Ordnungen zu begreifen und die Interdependenz von Prozessen der Europäisierung, Nationalisierung und Globalisierung zu analysieren. Jeder Band vertieft und spezifiziert das Anliegen der Reihe anhand eines besonderen Themas, einer fundamentalen Problematik oder einer besonderen Zeit. Die Quellen und Essays für die Print- und E-Book-Ausgabe stammen teilweise aus dem „Themenportal Europäische Geschichte“ (www.europa.clio-online.de) von Clio-online. Der intellektuelle Mehrwert der Themenbände besteht darin, dass inhaltlich verwandte Quellen und Essays unter einem übergreifenden Gesichtspunkt integriert, aufeinander abgestimmt, durch eine themenzentrierte und problemorientierte historisch-kritische Einleitung der Herausgeber ergänzt werden. Die Reihe richtet sich insbesondere an Dozenten und Studierende der Geschichtswissenschaften sowie der historischen Fachrichtungen und Spezialgebiete in den Kultur-, Kunst-, Sozial-, Medien-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften. Sie stimuliert und unterstützt die wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung über die Geschichte Europas, der Europäer und des Europäischen in historischen, kultur-, sozial- und rechtswissenschaftlichen Studiengängen und in den interdisziplinären Studiengängen der European und Area Studies.

INHALTSVERZEICHNIS Hannes Siegrist und Thomas Höpel Politische und gesellschaftliche Funktionen von Kunst in Europa (19.–20. Jahrhundert) .................................................................................13 1. BÜRGERLICHE ÖFFENTLICHKEIT UND KUNSTMÄRKTE Jürgen Osterhammel Herr des Publikums, Diener der Kunst .....................................................43 Quelle: Franz Liszt über den Beruf des Virtuosen (1852) ........................46 Joachim Eibach Die Schubertiade. Bürgerlichkeit, Hausmusik und das Öffentliche im Privaten ................................................................................................49 Quelle: Ein Schubert-Abend bei Josef von Spaun. Sepiazeichnung von Moritz von Schwind (1868) ........................................................................57 Sven Oliver Müller Angleichung und Abgrenzung. Perspektiven des Musiklebens in Europa im 19. Jahrhundert ....................................................................59 Quelle: Mark Twain: Bummel durch Europa (1878) ...............................76 Tobias Becker Schwindelmeier in Arkadien. Theater auf Reisen zwischen europäischen Metropolen um 1900 ...........................................................79 Quelle: The Arcadians (1909) / Schwindelmeier & Co. (1912) ................86 Gabriele B. Clemens Händler, Sammler und Museen. Der europäische Kunstmarkt um 1900 .....................................................................................................89 Quelle: J. Beavington Atkinson: Ausstellung alter Meister in der Londoner Akademie (1875) ............................................................96

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Inhaltsverzeichnis

2. POLITIK UND KUNST ZWISCHEN NATIONALISMUS UND INTERNATIONALISIERUNG Axel Körner Oper, Politik und nationale Bewegung. Mythen um das Werk Giuseppe Verdis ......................................................................................101 Quelle: Oper und Mythos am Beispiel Giuseppe Verdis „Nabucco“ .....110 Bertrand Tillier Die schwarzen Männer (1899–1900), eine Vase von Émile Gallé für die Sache von Dreyfus ......................................................................113 Quelle: Émile Gallé: Stand auf der Pariser Weltausstellung / Die schwarzen Männer (1899–1900) .....................................................122 Rüdiger vom Bruch Geistige Kriegspropaganda. Der Aufruf von Wissenschaftlern und Künstlern an die Kulturwelt ....................................................................123 Quelle: Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ (1914) ........................126 Thomas Höpel Die Abwehr internationaler Kunst im Nationalsozialismus ...................129 Quelle: „Die Geisteswende. Kulturverfall und seelische Wiedergeburt“, Manifest des Kampfbundes für deutsche Kultur (1929) ..........................139 Falk-Thoralf Günther Das deutsch-spanische Kulturabkommen von 1939 ...............................143 Quelle: Deutsches Nachrichtenbüro (DNB): Meldung zum deutschspanischen Kulturabkommen (19. Januar 1939) ....................................148 Helmut Peitsch Der Londoner Kongress des Internationalen Verbandes der Schriftsteller PEN (Poets, Essayists, Novelists) im September 1941 .......................................................................................151 Quelle: Erika Mann: Die Zukunft Deutschlands (1941) .........................158

Inhaltsverzeichnis

Hannes Siegrist Geistiges Eigentum im Spannungsfeld von Individualisierung, Nationalisierung und Internationalisierung. Der Weg zur Berner Übereinkunft von 1886 ................................................................161 Quelle: Botschaft des Schweizerischen Bundesrates / Die Berner Übereinkunft (1886) ...............................................................................169 Isabella Löhr Europäischer, amerikanischer oder weltweiter Schutz geistigen Eigentums? Europäischer Urheberschutz und das amerikanische Copyright in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ...............................173 Quelle: Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit: Vorbereitungen für eine Weltkonvention zum Schutz von Urheberrechten (1938) ............................................................................180 Eckhart Gillen Abstrakte Kunst als Instrument des Kalten Krieges der Kulturen. Der Wettbewerb für das Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen 1952/53 ..............................................................................183 Quelle: Working Model for „The Unknown Political Prisoner“ (1955–56) ................................................................................................262 Jeannine Harder Polnische Plakatkunst als Medium transnationaler Kunstkontakte und Kulturpolitik im Ost-West-Konflikt ................................................191 Quelle: Abbildungen Polnischer Plakate (1949) .....................................264 Anne-Marie Pailhès Die Debatte um die Lehrbarkeit des Schriftstellerberufs in der DDR. Alfred Kurellas Rede zur Eröffnung des Instituts für Literatur in Leipzig am 30. Juli 1955 .....................................................................199 Quelle: Alfred Kurella: Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft (1955) ...............................................................................205

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Inhaltsverzeichnis

3. KUNST, ARCHITEKTUR UND STADTENTWICKLUNG Martin Schieder Stadt/Bild: Gustave Caillebotte, Baron Haussmann und eine Verkehrsinsel ...................................................................................209 Quelle: Gustave Caillebotte: Un Refuge, Boulevard Haussmann (1880). ..................................................................................266 Eli Rubin The Athens Charter .................................................................................221 Quelle: The Athens Charter (1943/1973) ................................................229 Thomas Höpel Kunst als Motor städtischer Erneuerung. Birmingham in den 1980er- und 1990er-Jahren im europäischen Vergleich .........................237 Quelle: A Report and Strategy Proposal for Birmingham’s Arts Festivals (27. März 1990) ................................................................244 Daniel Habit Europäische Kulturhauptstädte. Zwischen lokaler Eigenlogik und gesteuerter Harmonisierung ............................................................249 Quelle: EU-Kommission: Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas (2006) ...........................................................256 Autorinnen und Autoren ..............................................................................257 Abbildungen .................................................................................................259

ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: Ein Schubert-Abend bei Josef von Spaun. Sepiazeichnung von Moritz von Schwind (1868) ................................................57 Abb. 2:

Londoner Inszenierung von The Arcadians 1909 im Shaftesbury Theatre....................................................................81

Abb. 3: Émile Gallé: Die schwarzen Männer (1899–1900)..................261 Abb. 4: Stand auf der Pariser Weltausstellung......................................122 Abb. 5:

Reg Butler: Working Model for „The Unknown Political Prisoner“ (1955–56) .................................................................262

Abb. 6: Fotomontage von Reg Butler ...................................................189 Abb. 7: Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park, Berlin (2005) .....263 Abb. 8: Józef Mroszczak: Polnische Plakate (1949).............................264 Abb. 9:

6WDQLVáDZ=DPHF]QLN(U\N/LSLĔVNL$XVVWHOOXQJ Polnische Plakate (1949) .........................................................265

Abb. 10: Gustave Caillebotte: Un Refuge, Boulevard Haussmann (1880) ...................................................................266 Abb. 11: Gustave Caillebotte: Homme au balcon, Boulevard Haussmann (1880)...................................................................267 Abb. 12: Martial Caillebotte: Rond-point, vue du balcon du 9, rue Scribe, o.D .........................................................................216 Abb. 13: Claude Monet: Saint Germain-l’Auxerrois (1867) ..................268 Abb. 14: Edgar Degas: Le Vicomte Lepic et ses filles traversant la place de la Concorde (1876).................................................269 Abb. 15: Ernst Ludwig Kirchner: Potsdamer Platz (1914) .....................270

POLITISCHE UND GESELLSCHAFTLICHE FUNKTIONEN VON KUNST IN EUROPA (19.–20. JAHRHUNDERT) Hannes Siegrist und Thomas Höpel

Der vorliegende Band ist ein Studien- und Lehrbuch über den politischen und gesellschaftlichen Gebrauch von Kunst in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Die Geschichte der Herstellung, Vermittlung, Verbreitung, Rezeption und Nutzung künstlerischer Werke und Ausdrucksformen wird in die Geschichte der europäischen Gesellschaften und Kulturen sowie politischen und wirtschaftlichen Systeme eingebettet. Im Unterschied zu traditionellen Nationalgeschichten behandeln wir die Dynamik des künstlerischen Feldes stärker auch im Rahmen grenzüberschreitender Austauschprozesse und Beziehungen. Ausgangspunkt ist die These, dass die Entwicklung der Künste und des künstlerischen Feldes in Europa in den letzten zwei Jahrhunderten ganz wesentlich durch die Spannung zwischen Prozessen der Nationalisierung, Internationalisierung und Transnationalisierung bestimmt war. Das Verhältnis zwischen diesen teils alternativen, teils komplementären Symbolisierungs-, Institutionalisierungs- und Organisationsstrategien bestimmte auch die Funktionen und Bedeutungen von Kunst in Prozessen der Europäisierung und De-Europäisierung sozialer, politischer und kultureller Ordnungen. Der politische und gesellschaftliche Gebrauch von Kunst in Europa wird in diesem Band anhand verschiedener künstlerischer Sparten und Medien und in unterschiedlichen historischen Kontexten und Konstellationen analysiert. Die einzelnen Beiträge behandeln Geschichten über Akteure, Ausdrucksformen, Programme, Praktiken, Institutionen und Organisationen der Kunst. Sie führen jeweils kurz in den relevanten Forschungsstand ein und konkretisieren die Problematik anhand eines typischen und exemplarischen Text- oder Bilddokumentes. Die Autorinnen und Autoren richten ihren Blick nicht nur auf Künstler und deren Werke, Darstellungen, Vorstellungen und Strategien, sondern auch auf andere Akteure des künstlerischen Feldes. Gegenstände, Strategien und Konflikte, die in der Kunst-, Theater-, Film-, Musik-, Design-, Medien- und Architekturgeschichte unter einem engeren fach- oder disziplingeschichtlichen Gesichtspunkt behandelt werden, interessieren stärker im Zusammenhang mit allgemeinen politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Ereignissen, Strukturen und Prozessen. Die Beiträge kritisieren und revidieren einige der von der Spezialliteratur zu Bildender Kunst, Musik, Literatur oder anderen Sparten verbreiteten Stereotype über regionale, nationale und europäische Besonderheiten im Hinblick auf künstlerische Ausdrucksformen, Stile, Genres und Motive, indem sie diese historisieren und kontextualisieren. Die Literatur über die gesellschaftliche und politische Bedeutung und Funktion von Kunst unterscheidet vielfach zwischen positiven und negativen

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Hannes Siegrist / Thomas Höpel

Wechselwirkungen zwischen künstlerischen, politischen und sozialen Prozessen. Als positive Faktoren für die künstlerische Entwicklung bzw. für Synergien zwischen Kunst, Gesellschaft, Wirtschaft und Politik im modernen Europa gelten öfter der Wettbewerb sowie der technische und mediale Wandel; ein starker Kulturstaat; das Streben von Nationalstaaten und Imperien nach Repräsentation und Integration im Inneren und kultureller Hegemonie in den Außenbeziehungen; Spannungen zwischen Konfessionalisierung und Säkularisierung sowie zwischen modernen Weltanschauungssystemen; Urbanisierung und Metropolenbildung; der ‚richtige‘ Institutionenmix – z.B. die gemischte staatsförmige, marktförmige und zivilgesellschaftliche Regulierung von Kunst und Kulturwirtschaft; die Professionalisierung und Autonomisierung des Künstlers bzw. der Kunst; eine wachsende und sich differenzierende Nachfrage nach künstlerischen Werken und Dienstleistungen aufgrund wirtschaftlichen Wachstums und der Herausbildung vergleichsweise gebildeter Eliten und Mittelschichten, die als Nutzer eine zentrale Rolle beanspruchten. Als typisch für Europa im 20. Jahrhundert gelten vielfach die staatliche Förderung von Bildungs-, Aufführungs- und Ausstellungseinrichtungen, die geregelte und transparente Vergabe öffentlicher Aufträge, Stipendien und Preise für künstlerische und architektonische Werke und Leistungen sowie die öffentliche Finanzierung großer Orchester, Theater, Rundfunk-, Fernseh- und Filmgesellschaften. Tatsächlich schwankte die Entwicklung zwischen starker und schwacher staatlicher Intervention und zwischen Wettbewerb und Monopolbildung im Zeitverlauf und zwischen den Regionen Europas mitunter ganz erheblich. „Europa“ verweist hier einerseits auf einen ursprünglich geografischen Begriff, andererseits auf ein soziales und symbolisches Konstrukt oder Projekt. 1 In einigen der in diesem Band abgedruckten Beiträge geht es mehr um die Frage, wie Kunst und Kultur in den Beziehungen zwischen Individuen, Kollektiven, Organisationen, Gesellschaften und Staaten vermitteln, deren Lebens-, Tätigkeits- und Interessenschwerpunkt im geografischen Europa liegt. „Europa“ wird dabei als verfestigter Natur-, Kultur- und Geschichtsraum begriffen, der als Container (Behälter), Bühne oder Arena für das Handeln der „Europäer“ fungiert und durch vergleichsweise klare äußere Grenzen bestimmt ist. In zahlreichen Beiträgen interessieren „Europa“, das „Europäische“ und die „Europäer“ dann aber primär als 1

Vgl. Middell, Matthias, The Invention of the European, Leipzig 2016 (zugl. Comparativ. Zeitschrift für Globalgeschichte und vergleichende Gesellschaftsforschung 25 (2015), H. 5/6); Kaelble, Hartmut, Europäisierung, in: Middell, Matthias (Hg.), Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, Leipzig 2007, S. 73–89; Eberhard, Winfried; Lübke, Christian (Hgg.), Die Vielfalt Europas. Identitäten und Räume, Leipzig 2009; Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hgg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Stuttgart 2005; von Hirschhausen, Ulrike; Patel, Kiran Klaus, Europäisierung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.11.2010, URL: (12.06.2017). Vgl. die einschlägigen Beiträge auf dem Themenportal Europäische Geschichte (http://www.europa. clio-online.de/) sowie die transkulturelle Geschichte Europas „Europäische Geschichte Online“, die Europa als Kommunikations- und Transferraum thematisiert, dessen Grenzen, Zentren und Peripherien als Ergebnis der Verständigung über das „Europäische“ im Laufe der Geschichte variabel waren, URL: (12.06.2016).

Einleitung

15

soziale, kulturelle, politische und wirtschaftliche Konstruktionen oder Projekte, deren räumliche Ausdehnung und Geltung voneinander abweichen können und sich nicht zwingend oder vollständig mit dem geografischen Europa decken. Derartige historische und konstruktivistische Ansätze fragen stärker danach, wie Europa mit seinen mehr oder weniger durchlässigen inneren und äußeren Grenzen jeweils auf der symbolischen und sozialen Ebene ‚gemacht‘ wurde. Sie heben auf Praxisformen, Regeln, Normen, Einstellungen, Erzählungen, Bilder, Gewohnheiten und Erfahrungen ab, die – real oder angeblich – das Denken und Handeln der Europäer bestimmten und die Selbst- und Fremdzuordnung zu einer „europäischen“ Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft, Werteordnung, institutionellen Ordnung und Rechtsgemeinschaft begründeten. Ungeachtet der jeweiligen Perspektive bzw. begrifflichen und methodischen Präferenz in der Erforschung Europas zeigen die Beiträge dieses Bandes, erstens, wie Prozesse der Europäisierung bzw. De-Europäisierung im Medium der Kunst oder im Rahmen eines bestimmten gesellschaftlichen und politischen Gebrauchs von Kunst erfolgten; zweitens, wie die Entwicklung der Kunst und künstlerischer Felder im nationalen Rahmen wie in den grenzüberschreitenden europaweiten Beziehungen durch politische, ökonomische, soziale und kulturelle Interessen, Machtansprüche und Konflikte bestimmt war; und dass, drittens, „Europäisches“ in externe Konstellationen, fremde Kontexte und ferne Gebiete der Welt übertragen, umgekehrt durch Transfers von außen beeinflusst wurde. Die Künste und Kulturen des modernen Europa entwickelten sich im Rahmen der Spannungen und Konflikte zwischen Tradition und Innovation und zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Inhaltlich und methodisch geht es in diesem Band um die Rolle von Politik, Staat, Markt, Publikum, Öffentlichkeit und Recht in der Gestaltung und Regulierung künstlerischer und kultureller Beziehungen und Prozesse; um den Vergleich zwischen sozio-kulturellen Milieus, Städten, Ländern und Großregionen Europas; 2 und um die Problematik der grenzüberschreitenden und interkulturellen Kommunikation, Kooperation und Abgrenzung (Kulturtransfer und Verflechtung). 3 Im Folgenden diskutieren wir zuerst ausgewählte historische, sozial- und kulturwissenschaftliche Begriffe, Ansätze und Perspektiven, die das Verhältnis zwischen Kunst und Künstlern einerseits, Politik und Gesellschaft andererseits strukturieren (Kapitel 1). Im Anschluss daran wird der Zusammenhang von Kunst, 2

3

Vgl. zur Methode des Vergleichs: Kaelble, Hartmut, Historischer Vergleich, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 14.8.2012, URL: (12.06.2017); Siegrist, Hannes, Perspektiven der vergleichenden Geschichtswissenschaft. Gesellschaft, Kultur und Raum, in: Kaelble, Hartmut; Schriewer, Jürgen (Hgg.), Vergleich und Transfer. Komparatistik in den Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main u.a. 2003, S. 263–297; Haupt, Heinz-Gerhard; Kocka, Jürgen (Hgg.), Geschichte und Vergleich. Ansätze und Ergebnisse international vergleichender Geschichtsschreibung, Frankfurt am Main 1996. Vgl. zum Ansatz des Kulturtransfers: Middell, Matthias, Kulturtransfer, Transferts culturels, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 28.1.2016, URL: (12.06.2017); Kaelble; Schriewer, Vergleich und Transfer.

16

Hannes Siegrist / Thomas Höpel

Macht und Wettbewerb, wodurch die Entwicklung des kulturellen Feldes in Europa maßgeblich bestimmt war und ist, erörtert (Kapitel 2). Die folgenden drei Kapitel orientieren sich an der Gliederung des Bandes und stellen ausgewählte Aspekte im Verhältnis von Kunst, Politik und Gesellschaft während des 19. und 20. Jahrhunderts vor. Themenschwerpunkte sind die Rolle der Kunst in der bürgerlichen Öffentlichkeit und die Entwicklung des Kunstmarktes (Kapitel 3); die Funktionen von Kultur, Kunst und Künstlern in verschiedenen politischgesellschaftlichen Systemen und im Spannungsfeld zwischen der Nationalisierung und Internationalisierung kultureller Beziehungen (Kapitel 4); und das Verhältnis von Kunst, Architektur und Stadtentwicklung (Kapitel 5).

1. Ansätze und Perspektiven der historischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Forschung über Kunst, Politik und Gesellschaft Alles in allem zeigt die historische, kultur-, kunst-, medien- und sozialwissenschaftliche Forschung über Kunst, Künstler und künstlerische Felder, dass die Bedeutung künstlerischer Akteure, Artefakte und Leistungen in den europäischen Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert massiv zugenommen hat. Im Zeitalter der so genannten Massengesellschaft wurde Kunst eingesetzt, um Gesellschaften zu mobilisieren, zu integrieren, zu kultivieren, zu repräsentieren; und um die Leistungs-, Wettbewerbs- und Kooperationsfähigkeit von Individuen und Organisationen zu steigern. Im konstitutionellen Staat und in der Zivilgesellschaft sollten Kunst und Wissenschaft vielfältige Funktionen in der Kultivierung des mündigen, verantwortlichen, freien, tugendhaften und leistungsfähigen Bürgers übernehmen; nicht zuletzt dessen Urteils-, Selbststeuerungs- und Kooperationsfähigkeit begründen. Künstler und Autoren beanspruchten professionelle Leistungsrollen und Eigenständigkeit, je nach Kontext auch weitergehende Sinnstiftungs- und intellektuelle Orientierungsfunktionen in der Kultur, Gesellschaft und Politik (vgl. den Beitrag von Bertrand Tillier). Die Nutzer von Kunst – Zuschauer, Leser, Zuhörer, Käufer, Konsumenten und Kunstliebhaber – schwankten zwischen passiven und aktiven Publikumsrollen, wie Kenner, gebildeter Dilettant, Fan, Konsument, Sammler, kritischer Teilhaber am Kunstprozess, Staatsbürger oder Europäer, der die Definition von Kunst und die Gestaltung künstlerischer Leistungen, Regeln und Organisationen mitbestimmt (vgl. die Beiträge von Jürgen Osterhammel und Joachim Eibach). Bei der Analyse der Kommunikation und Kooperation zwischen Produzenten, Vermittlern und Nutzern bewegen sich die meisten der hier versammelten Beiträge mehr oder weniger ausdrücklich im Rahmen von kunstsoziologischen und sozialgeschichtlichen Ansätzen, wie Howard S. Beckers „Kunstwelt“ oder Pierre Bourdieus „künstlerischem Feld“. 4 Die historisch unterfütterte Kunstsoziologie 4

Vgl. Bourdieu, Pierre, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes, Frankfurt am Main 2001; ders., Einführung in die Soziologie des Kunstwerks, in: Jurt, Joseph (Hg.), Pierre Bourdieu, Freiburg 2007, S. 130–145; Becker, Howard S., Kunst als kollektives

Einleitung

17

von Pierre Bourdieu ist dabei in der europäischen Geschichtswissenschaft etwas intensiver rezipiert worden als der Ansatz von Becker. Kunst interessiert als kollektives Handeln (Becker) und als Feld der Macht (Bourdieu), in dem Individuen und Gruppen wie Künstler, Kenner, Laien, Käufer, Kunstkritiker, Kunsthistoriker, Kunstsammler, Mäzene, Kunsthändler, Verleger sowie Organisationen wie Kunstvereine, Galerien, Akademien und Museen interagieren. Die Akteure des jeweiligen Feldes verständigen sich dabei unter anderem auch mit politischen und administrativen Instanzen und Akteuren, wie Kultur- und Bildungsministerien, Parlamenten, städtischen Kulturämtern, die finanzielle und organisatorische Aufgaben in der Kunstförderung übernehmen, sowie Parteien, Berufs- und Interessenverbänden, über Leitbilder und institutionelle Rahmenbedingungen. Im vorliegenden Band werden klassische kunst-, kultur- und sozialgeschichtliche Themen, wie die Geschichte der künstlerischen Kreativität, Berufe, Ausdrucksformen und Meisterwerke, im Rahmen des jeweiligen künstlerischen Feldes sowie politischer und gesellschaftlicher Kontexte und Konstellationen behandelt. 5 Der von Künstlern und anderen Angehörigen des engeren kulturellen Feldes immer wieder geäußerte Anspruch auf Autonomie der Kunst – verstanden als Freiheit der Kunst und Unabhängigkeit von außerkünstlerischen, insbesondere politischen Vorgaben und kommerziellen Zwängen – wird im jeweiligen historischen Kontext analysiert. Bei der Autonomie der Kunst handelt sich um eine historisch ältere Meistererzählung (oder einen Mythos), die sich im Zeitalter der modernen liberalen und pluralistischen Kultur und Gesellschaft in Europa zunehmend durchsetzen und zu einem Markenzeichen der europäischen Kunst und Kultur werden konnte. Tatsächlich manifestierte sich der Anspruch auf künstlerische Autonomie in der Moderne in vielfältigen Rollen, Formen und Kontexten. Freiberufliche Künstler beriefen sich öfter auf einen sehr weitgehenden Autonomiebegriff. Auftragskünstler und angestellte Kunstschaffende in den hocharbeitsteiligen Großbetrieben der modernen kapitalistischen Kulturindustrien (wie in den Film- und Medienunternehmen) sowie Staatskünstler und Kulturschaffende in den zentral gelenkten Kulturapparaten moderner Diktaturen und totalitärer Staaten entwickelten dagegen

5

Handeln, in: Gerhards, Jürgen (Hg.), Soziologie der Kunst. Produzenten, Vermittler und Rezipienten, Opladen 1997, S. 23–40; Müller-Jentsch, Walther, Die Kunst in der Gesellschaft, Wiesbaden 2011. Als knappe wissenschaftsgeschichtliche Einführung nützlich: Danko, Dagmar, Kunstsoziologie, Bielefeld 2012. Vgl. Löhr, Isabella; Middell, Matthias; Siegrist, Hannes (Hgg.) Kultur und Beruf in Europa, Stuttgart 2012 (Band 2 der vorliegenden Reihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays, mit Beispielen aus verschiedenen künstlerischen Sparten und Ländern); Ruppert, Wolfgang, Der moderne Künstler, Frankfurt am Main 1998; Frevert, Ute, Der Künstler, in: dies.; Haupt, Heinz-Gerhard, Der Mensch des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1999, S. 292–323; Trebesius, Dorothea, Komponieren als Beruf. Frankreich und die DDR im Vergleich (1950–1980), Göttingen 2012; Parr, Rolf (unter Mitarbeit von Jörg Schönert), Autorschaft. Eine kurze Sozialgeschichte der literarischen Intelligenz in Deutschland zwischen 1860 und 1930, Heidelberg 2008; Belting, Hans, Das unsichtbare Meisterwerk. Die modernen Mythen der Kunst, München 1998; Reckwitz, Andreas, Die Erfindung der Kreativität. Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung, Berlin 2012.

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Hannes Siegrist / Thomas Höpel

einen engeren beruflich-technischen Autonomiebegriff, der ihnen unter komplexen organisatorischen Bedingungen Spielräume verschaffen sollte. Bisweilen ging es diesen Inhabern künstlerischer und kunstnaher Berufe stärker um die Sicherung höherer beruflicher, technischer, sozialer und wirtschaftlicher Standards; bisweilen um die Verteidigung des Anspruchs auf kollektive berufsständische Selbstverwaltung in Nischen des herrschenden Kulturregimes; und bisweilen um die Sicherung subjektiver Handlungsansprüche und Freiheitsrechte in der Gesellschaft überhaupt. 6 Formal galten Produzenten und Vermittler künstlerischer Artefakte und Leistungen als Inhaber eines Berufs und vertragsfähige Rechtssubjekte, die im Rahmen des jeweiligen Kunst- oder Kulturregimes ihre Verhältnisse zu Dritten – wie Käufern, Verwertern, Nutzern und Publikumsgruppen – selbständig aushandeln und spezifizieren konnten. Autonomie (im Sinne von Selbstbestimmung, Selbstregulierung) bedeutete jedoch selbst unter liberalen und pluralistischen Bedingungen oft nicht, dass die Regeln der Kunst von den Künstlern allein bestimmt werden konnten. In vielen Fällen waren die Kooperation zwischen Individuen, Kunst produzierenden und vermittelnden Organisationen und der Wettbewerb künstlerischer Ausdrucksformen heteronom, das heißt durch Dritte, bestimmt. Die Geschichte der Institutionalisierung und Organisation der Kunst in Europa zeigt, dass die Produktion, Verteilung, Vermittlung, Bewertung und Nutzung künstlerischer Güter und Leistungen über weite Strecken durch ähnliche Prinzipien und Institutionen wie in anderen gesellschaftlichen Sphären geregelt wurden. Die Regulierung künstlerischer oder kultureller Tätigkeiten und Beziehungen beruhte auf Prinzipien und Institutionalisierungsstrategien (und damit verbundenen Leitbegriffen, Diskursen und Erzählungen), von denen einige stichwortartig in der folgenden Aufzählung bipolarer Begriffspaare benannt werden: Autonomie versus Heteronomie, Wettbewerb versus Monopol, Exklusion versus Inklusion, Professionalisierung versus Laisierung, Individualisierung versus Kollektivierung, Privatisierung versus Sozialisierung, Konfessionalisierung versus Säkularisierung, Verbürgerlichung versus Aristokratisierung oder Nivellierung, Bürokratisierung versus Liberalisierung, Lokalisierung versus Universalisierung, Nationalisierung versus Internationalisierung, Pluralisierung versus Homogenisierung, Demokratisierung versus Zentralisierung, Einzelfertigung versus rationalisierte, standardisierte Massenproduktion usw. Vielfach handelte es sich dabei ursprünglich um Programmbegriffe von Oppositions-, Interessen- und Weltanschauungsgruppen, auch sozialer und künstlerischer Avantgarden. Autonomisierung der Kunst bedeutete vielfach bloß, dass solche Prinzipien, Deutungsschemata, Regulierungs- und Handlungsmuster ein Stück weit den besonderen Verhältnissen, Bedürfnissen, Erfahrungen und Erwartungen des künstlerischen Feldes angepasst wurden. Im Laufe der europäischen Ge6

Vgl. mit weiterführenden Angaben Siegrist, Hannes, Professionelle Autonomie in der modernen Gesellschaft, Wissenschaft und Kultur. Einführung, in: Siegrist, Hannes; Müller, Dietmar (Hgg.), Professionen, Eigentum und Staat. Europäische Entwicklungen im Vergleich – 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 2014, S. 15–38.

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schichte wurden einige dieser Regulierungsformen und Interaktionsmodi jeweils unter einem übergeordneten Ordnungsprinzip (wie Freiheit, Wettbewerb, Gerechtigkeit, Pluralität oder Gleichheit) oder im Kontext einer ideologischen Strömung, politischen Verfassung oder Gesellschaftsform (wie Liberalismus, Nationalismus, Faschismus, Staatssozialismus, Demokratie) gebündelt und als unterschiedliche Typen von Kultur-Regimen, kultureller Herrschaft, Kulturverfassung oder Cultural Governance (Steuerung der Kultur) 7 definiert. Im Kontext eines liberalen Systems z.B. wurden bestimmte Formen kultureller Herrschaft bzw. der Politisierung und Verstaatlichung der Kultur abgelehnt. Im Kontext einer verstaatlichten staatssozialistischen Kultur waren dagegen bestimmte Formen der Kommerzialisierung (das heißt profitorientierte, unternehmens- und marktförmige Regulierung) verpönt. Nachdem diese Begriffe bzw. die entsprechenden Diskurse oder Meistererzählungen von Geschichts-, Rechts-, Sozial- und Kulturwissenschaftlern systematisch erforscht und zu abstrakten Prozessbegriffen, Typen und Erzählschemata umgeformt worden sind, fungieren sie als analytische Raster-Begriffe in der wissenschaftlichen Forschung über soziale und kulturelle Beziehungen und Prozesse. Sie helfen dabei, das Verhältnis von Kunst, Politik und Gesellschaft im Laufe der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zu begreifen. Der französische Sozial- und Kulturhistoriker Christophe Charle bezeichnet in seinem Werk über den Vergleich und die Verflechtung der Künste und Kulturen in Europa das 19. Jahrhundert als das Jahrhundert der Deregulierung. 8 Das von weltlichen und geistlichen Fürsten sowie städtischen Patriziern und Berufsständen beherrschte feudale, ständische und absolutistische alte Kulturregime mit seinen festen Positionen und rigiden Regeln erodierte und wurde ersetzt durch vergleichsweise dynamische, durchlässige, transparente, kompetitive, ansatzweise pluralistische und partizipative Kulturregimes, die sich auf bürgerlich-liberale, kulturstaatliche oder demokratische Prinzipien beriefen. Die Steuerung der Kunst erfolgte vermehrt durch vergleichsweise berechenbare gesetzliche, administrative, finanzielle und kommunikative Verfahren. Das ermöglichte mitunter eine stärker an den Bedürfnissen und Möglichkeiten von Künstlern, Publikum und Öffentlichkeit orientierte Ausrichtung und Organisation des künstlerischen Feldes. Tatsächlich expandierte der private, unternehmerische, kommerziell und marktförmig koordinierte Kultursektor in weiten Teilen Europas jedoch erst im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in einer Weise, dass er eine Eigendynamik bekommen und politische und soziale Prozesse stärker bestimmen konnte. So ist das Ausmaß der Deregulierung der Künste und die Bedeutung der politischen Emanzipation der Künstler im langen 19. Jahrhundert eigentlich erst vor dem Hintergrund der (von Christophe Charle nur in einem kurzen Ausblick skizzierten) Re-Politisierung bzw. Re-Regulierungen in der Zeit zwischen dem Ersten 7

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Vgl. zu Cultural Governance: Knoblich, Tobias J.; Scheydt, Oliver, Zur Begründung von Cultural Governance, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (2009), H. 8, URL: (12.06.2017). Charle, Christophe, La dérégulation culturelle. Essai d’histoire des cultures en Europa au 19e siècle, Paris 2015.

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Weltkrieg und den späten 1980er-Jahren wirklich zu erkennen. Im 20. Jahrhundert wurden liberale und demokratische Kulturregimes in weiten Teilen Europas zuerst durch autoritäre und nationalistische Regime sowie nationalsozialistische und faschistische Diktaturen verdrängt; dann in den Ländern Mittel-, Ostmittel- und Osteuropas durch Sowjetisierungsprozesse marginalisiert und durch zentralistische national-kommunistische Kulturregime ersetzt. Zu einer neuerlichen De- und Re-Regulierung unter liberalen Vorzeichen kam es im Westen in den Jahrzehnten nach 1945, und verstärkt seit den 1970er-Jahren im Zuge der nationalen, europaweiten und globalen Liberalisierung wirtschaftlicher und kultureller Beziehungen; im Osten nach dem Fall der Berliner Mauer 1989/90. Die Beiträge des vorliegenden Bandes bestätigen diese Periodisierung über weite Strecken, variieren sie aber auch. Sie zeigen, dass die langfristige Entwicklung durch Spannungen zwischen politischen Machtinteressen und kommerziellem und künstlerischem Wettbewerb bestimmt war.

2. Kunst, Macht und Wettbewerb. Von der Kunst- zur Kultur- und Künstlerpolitik Die Innen- und Außenbeziehungen der Kunst sind im modernen Europa in hohem Maße durch Macht und Wettbewerb bestimmt. Mit dem Modus der Institutionalisierung und Organisation von Kunst, Kultur und Gesellschaft korrespondieren jeweils bestimmte Formen von Kunst-, Kultur- und Künstlerpolitik. Die Kunstpolitik wurde im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend als Teil einer umfassenden Kulturpolitik begriffen und bezeichnet. Diese bündelt im weitesten Sinne politikförmige Maßnahmen, welche die Produktion, Vermittlung, Nutzung und Rezeption von Kunst sowie die „Kultivierung“ oder „Zivilisierung“ des Bürgers und der sozialen Beziehungen bestimmen und ermöglichen. Ein enger gefasster Kulturpolitikbegriff, wie er vor allem in der politikwissenschaftlichen Forschung dominiert, begreift die Kulturpolitik als Ausdruck öffentlichen Engagements im Bereich der Produktion, Reproduktion und Vermittlung von Kultur. 9 So betrachtet die französische Forschung, die politik-, sozial- und kulturwissenschaftliche Perspektiven frühzeitig enger verknüpft hat, die Institutionalisierung staatlicher und städtischer Kulturpolitik in spezifischen Strukturen als zentrales Element der Kulturpolitik. 10 Sie unterscheidet auf dieser Grundlage dichotomisch zwischen einer Kunstpolitik (Politique des Beaux-Arts), die für die 9

Vgl. Volkerling, Michael, Deconstructing the Difference-Engine: A Theory of Cultural Policy, in: European Journal of Cultural Policy 2 (1996), H. 2, S. 189–212, hier S. 191; Gray, Clive, Comparing Cultural Policy: A Reformulation, in: European Journal of Cultural Policy 2 (1996), H. 2, S. 213–222, hier S. 215.; von Beyme, Klaus, Kulturpolitik zwischen staatlicher Steuerung und gesellschaftlicher Autonomie, in: ders., Kulturpolitik und nationale Identität, Opladen 1998, S. 9–35. 10 Vgl. dazu u.a. Urfalino, Philippe, L’histoire de la politique culturelle, in: Rioux, Jean-Pierre; Sirinelli, Jean François (Hgg.), Pour une histoire culturelle, Paris 1997, S. 311–324; ders., L’invention de la politique culturelle, Paris 1996; Dubois, Vincent, La politique culturelle. Genèse d’une catégorie d’intervention publique, Paris 1999.

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III. und IV. Republik (das heißt von 1870–1959) als typisch angesehen wird, und einer Kulturpolitik (Politique culturelle), wie sie von der V. Republik seit 1959 betrieben wird. Die traditionelle Kunstpolitik sei durch eine vergleichsweise bescheidene Intervention des Staates im Kunstbereich und einen relativ geringen Institutionalisierungsgrad gekennzeichnet gewesen, während die moderne Kulturpolitik gerade durch starke institutionelle Strukturen und eine staatliche Kulturmission charakterisiert sei. Ein weiter gefasster Begriff von Kulturpolitik dagegen beschränkt die Gruppe der Akteure nicht einseitig auf Staat, Städte, Gemeinden und öffentliche Körperschaften, bezieht vielmehr auch Vereine, Verbände und andere zivilgesellschaftliche Akteure ein, die an der politischen Aushandlung der Regeln, Verfahren und Praktiken in der Kunst und in angrenzenden Bereichen partizipieren. Damit wird berücksichtigt, dass sich die Unterscheidung zwischen Staat und Zivilgesellschaft seit dem 19. Jahrhundert öfter verwischte: Vereine gründeten Museen und Orchester, die für die lokale Kunstszene Bedeutung erlangten und in der Folge häufiger im Zusammenspiel mit städtischen und staatlichen Kulturbürokratien weiter entwickelt und als öffentliche Körperschaften betrieben wurden. Die vergleichende und verflechtungsgeschichtliche Forschung zur Kulturpolitik in Europa steht noch in den Anfängen. Sie muss berücksichtigen, dass sich Erfahrungs- und Wahrnehmungshorizonte sowie die Erwartungs- und Planungshorizonte der mit Kunst befassten und in das künstlerische Feld involvierten Akteure zyklisch und periodisch änderten. Das soll hier thesenartig erörtert werden. Aufgrund der Synchronisierung von Regeln und Abläufen nahmen die Intensität und Ähnlichkeiten in den künstlerischen und kulturellen Beziehungen zwar zeitweise europaweit zu. Prozesse der äußerlichen Homogenisierung und Angleichung wurden allerdings immer wieder dadurch relativiert, dass Ausdrucksstile und sozio-kulturelle Regeln im Kontext einer Gesellschaft oder Großregion verschieden rezipiert und zu unterschiedlichen Zwecken genutzt wurden (vgl. die Beiträge von Sven Oliver Müller, Tobias Becker und Axel Körner). Ein einmal etabliertes institutionelles Wissen, das für Erwartungssicherheit zu sorgen beanspruchte, geriet periodisch und in bestimmten Räumen an Leistungsgrenzen und unter Rechtfertigungszwänge. Institutionen und Regulierungsstrategien, die ursprünglich als funktionale und ideologische Alternativen verstanden worden waren, existierten in wechselnden Über- und Unterordnungsverhältnissen auch nach politischen Umbrüchen weiter und mussten ständig neu aufeinander abgestimmt werden – bis sie früher oder später in gewissen Hinsichten auch als wechselseitige Ergänzung oder Verstärkung erschienen. Im Rahmen der durch vielfältige Konflikte, Brüche, Konvergenzen, Divergenzen sowie Ungleichzeitigkeiten gekennzeichneten europäischen Geschichte bildeten sich so institutionelle Mischverhältnisse und hybride, ordnungspolitisch unorthodoxe Kulturregimes heraus. Dazu gehört nicht zuletzt das Muster der staatlich, gesetzlich, zivilgesellschaftlich, marktförmig und durch internationale Konventionen geregelten Kultur (vgl. die Beiträge von Hannes Siegrist und Isabella Löhr), das heute vielen als das typische europäische Kulturregime gilt. Tatsächlich ist dieses Kulturregime das Ergebnis einer langen und konfliktreichen Entwicklung, in der sich das Verhältnis

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zwischen institutionellen Haupt-, Neben- und Untergrundpfaden laufend, bisweilen auch abrupt, änderte. Im Laufe der spannungs- und konfliktreichen europäischen Geschichte gerieten etablierte nationale, imperiale und internationale Kulturregime wiederholt unter Druck, da sie im grenzüberschreitenden Wettbewerb der Ausdrucksformen nicht mehr mithalten konnten oder ihnen die Anerkennung von den eigenen Künstlern, Bürgern und Publikumsgruppen – aufgrund künstlerischer wie nichtkünstlerischer Motive – aufgekündigt wurde. Periodisch wurden Künstler, Kunstwerke, künstlerische Ausdrucksformen und damit verbundene sozio-kulturelle Regeln und ästhetische Standards im Gefolge eines politischen Wechsels in Teilgebieten Europas diskriminiert (vgl. den Beitrag von Thomas Höpel „Die Abwehr internationaler Kunst im Nationalsozialismus“), in den Untergrund oder ins Exil gedrängt, bevor sie von politischen Oppositionsbewegungen, sozialen Bewegungen und Künstler-Avantgarden wieder belebt und verbreitet wurden (vgl. den Beitrag von Helmut Peitsch). Der Wiederaufstieg wurde dabei oft durch den Transfer von Personal, Wissen und künstlerischen Artefakten aus Ländern oder Großregionen begünstigt, in denen es nicht zu gleichartigen Diskriminierungen gekommen war und deren kulturelles System aufgrund des Wettbewerbs zwischen Staaten, Unternehmen und Künstlern auf Expansion angelegt war. Bei den sogenannten alten Traditionen in der Geschichte der europäischen Kunst und Kultur handelt es sich so vielfach um programmatisch gemeinte zeitgenössische oder nachträgliche Verallgemeinerungen, die historische Brüche glätten und regionale Abweichungen unterbewerten. Wer über eine bestimmte Kombination von Macht und Vermögen oder von kulturellem, sozialem oder politischem Wissen verfügte, entwickelte früher oder später auch den Anspruch, an den Auseinandersetzungen zu partizipieren, in denen über legitime Kunst und anerkannten Geschmack entschieden wurde. Darauf beruhte sowohl die Hierarchie der Künstler, Künste und künstlerischen Ausdrucksformen als auch die Unterscheidung zwischen Hoch-, Populär- und Massenkultur. Dafür entwickelten die modernen Künstler und Gesellschaften Kriterien wie Kreativität, Gestaltungshöhe, Singularität, Originalität, Standardisierung, Reproduzierbarkeit, Auflage, Preis, soziale Zugänglichkeit, Verbreitungsgrad und Nutzen für das Privat- und Allgemeinwohl. Künstlerische Leistungen, Artefakte, Kanonisierungen und Meistererzählungen sowie komplexe ästhetisch-kulturelle Ordnungen konnten damit von Künstlern, Politikern, Kunstförderern, Experten, Unternehmern, Liebhabern, Käufern und Bürgern verglichen und bewertet werden. Diese Kriterien galten nicht nur für den Vergleich und Wettbewerb zwischen einzelnen Künstlern, Künstlergruppen und künstlerischen Sparten, sondern auch für den Wettbewerb zwischen Städten, Regionen, Nationen und Imperien – soweit er im Medium der Kunst oder im Reden über Kunst erfolgte. Unter europageschichtlichen Gesichtspunkten interessiert, auf welchen Ebenen und in welchen Arenen die Regeln der Kunst verhandelt wurden: auf der städtischen, nationalen oder internationalen Ebene. So im Rahmen von regionalen Kunstausstellungen und städtischen Kunstfestivals, oder in Diskussionen über Kunstprogramme, nationale und auswärtige Kulturpolitik und internationale Ver-

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einbarungen (vgl. die Beiträge von Eckhard Gillen, Jeannine Harder und Daniel Habit). Die besondere Dynamik der europäischen Künste, Kulturen und Gesellschaften beruhte teils auf der Rivalität zwischen großen Städten/Metropolen, Nationalstaaten und Imperien, teils auf der grenzüberschreitenden Kooperation in inter- und transnationalen Kunst-, Handels- und Medienräumen, Kulturmärkten und Öffentlichkeiten. Der einzelne Staat konnte oft weder die Vorgänge in den großen und funktional ausdifferenzierten kulturellen Metropolen noch die grenzüberschreitenden Flüsse von Gütern, Ausdrucksformen und Personen vollständig kontrollieren. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden die grenzüberschreitenden kulturellen und künstlerischen Prozesse und Beziehungen deshalb vermehrt durch multilaterale Konventionen und internationale Organisationen koordiniert, in denen staatliche, zivilgesellschaftliche und wirtschaftliche Akteure kooperierten. Die Nutzung und Verwertung künstlerischer Werke und Leistungen wurde so einerseits durch das nationale Bildungs-, Berufs-, Kunst- und Medienrecht reguliert, andererseits durch internationale Konventionen für das Urheberrecht, das geistige Eigentum und den Kulturgüterschutz. 11 Die Geschichte der Musik, der belletristischen und wissenschaftlichen Literatur, des Films, des Industriedesigns und der Architektur zeigt, dass die Verrechtlichung der kulturellen Beziehungen in den nationalen wie in den internationalen Beziehungen immer wichtiger wurde, da sie für kulturelle, politische und wirtschaftliche Erwartungssicherheit zu sorgen versprach (vgl. die Beiträge von Hannes Siegrist und Isabella Löhr). Institutionelle Bedingungen wie die Vertrags-, Berufs-, Handels- und Gewerbefreiheit, die Rede-, Ausdrucks- und Pressefreiheit sowie technische und mediale Entwicklungen begünstigten die Entwicklung des künstlerischen Feldes in Europa. Die verfassungsmäßige, gesetzliche, gerichtliche und administrative Entwicklung hatte für den Kunstbetrieb allerdings ambivalente Wirkungen. Kunst wurde für Prozesse der politischen, sozialen und kulturellen Integration auf städtischer, nationaler und internationaler Ebene eingesetzt. Sie konnte zur Zivilreligion werden, aber auch Herrschaftsprozesse ästhetisch überformen. Im Obrigkeitsstaat des 19. Jahrhunderts und in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts fungierte sie einmal als Medium der Herrschaft (vgl. die Beiträge von Thomas Höpel, Falk-Thoralf Günther und Anne-Marie Pailhès) das andere Mal als Ventil für Unterdrückte und 11 Vgl. Siegrist, Hannes, Die Regulierung kultureller Beziehungen im Zeitalter des geistigen Eigentums, in: Zeitschrift für Geistiges Eigentum / Intellectual Property Journal 6 (2014), H. 2, S. 1–33; ders., Geschichte des geistigen Eigentums und der Urheberrechte. Kulturelle Handlungsrechte in der Moderne, in: Hofmann, Jeanette (Hg.), Wissen und Eigentum. Geschichte, Recht und Ökonomie stoffloser Güter, Bonn 2006, S. 64–80, URL: (12.06.2016); Löhr, Isabella, Die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte. Neue Strukturen internationaler Zusammenarbeit 1886–1952, Göttingen 2010; Löhr, Isabella, Rehling, Andrea (Hgg.), Global Commons im 20. Jahrhundert: Entwürfe für eine globale Welt (= Jahrbuch des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 15), München 2014. Für Quellen und Essays zum geistigen Eigentum und Copyright in Europa vgl. Primary Sources on Copyright, URL: (12.06.2017).

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Emanzipationsbewegungen. Überall wurde sie zur wirtschaftlichen Ressource und zur breit vermarktbaren Ware, die den Aufstieg arbeitsteilig organisierter und kapitalintensiver Unternehmen der modernen Medien- und Kulturindustrien begründeten, von denen im 20. Jahrhundert einige zu einflussreichen Akteuren in den nationalen und internationalen wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen wurden. So positiv die Effekte des Wettbewerbs für die Dynamik in den Künsten über das Ganze gesehen waren, so ambivalent waren sie für die Mehrzahl der Künstler, die einem starken künstlerischen, sozialen, wirtschaftlichen Wettbewerb ausgesetzt waren. 12 Wachsende Teile der Künstlerschaft, die ihre beruflichen und wirtschaftlichen Ziele nicht allein oder mit eigenen Mitteln erreichen konnten, organisierten sich in Vereinen, Genossenschaften, Berufsverbänden und Künstlergewerkschaften, die spezifische berufliche, materielle und kulturelle Ziele verfolgten – und sich vorübergehend mit politischen Weltanschauungs-Lagern verbanden. Seit dem Ersten Weltkrieg wurde der Wettbewerb auf dem Markt für sogenannte Kulturgüter und künstlerische Leistungen immer häufiger auch durch Unternehmenskartelle sowie staatliche und private Monopole, die Preise, Geschäfts-, Lohn- und Arbeitsbedingungen in eigener Regie festlegten, beschränkt. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurden die Beziehungen zwischen privaten und staatlichen Kunstbetrieben, Autorenverbänden und Künstlergewerkschaften zunehmend mit Hilfe von gemeinsam ausgehandelten Kollektivverträgen reguliert. Diese wurden seit der Weltwirtschaftskrise in weiten Teilen Europas vom Staat oder Gesetzgeber für allgemeinbindend erklärt, das heißt auch für Nichtverbandsmitglieder verbindlich. In faschistischen und nationalsozialistischen Diktaturen und nationalistisch-autoritären Systemen etablierte sich seit der Weltwirtschaftskrise immer mehr das Muster des alle Beschäftigten eines Wirtschaftszweigs erfassenden berufsständisch-korporativen Zwangsverbandes. 13 In den demokratischen und liberalen Gesellschaften bildete sich in der Zwischenkriegszeit ein neo-korporatistisches Modell heraus, das die Regulierung der Beziehungen den sogenannten Tarifparteien überließ und dabei den Staat als Moderator und Vertreter des Allgemeinwohls definierte. Dieses Modell erlebte in den 1950er- und 1960er-Jahren seinen Aufschwung in den liberal, demokratisch und marktwirtschaftlich verfassten Ländern Westeuropas. 14 Alles in allem hinkte die Institutionalisierung der Beziehungen in der Kunst- und Kulturwirtschaft gegenüber anderen Berufs- und Statusgruppen allerdings vielerorts noch lange hinterher.

12 Vgl. Rosa, Hartmut, Wettbewerb als Interaktionsmodus. Kulturelle und sozialstrukturelle Konsequenzen der Konkurrenzgesellschaft, in: Leviathan. Berliner Zeitschrift für Sozialwissenschaften 34 (2006), H. 1, S. 82–104; Tauschek, Markus (Hg.), Kulturen des Wettbewerb. Formationen kompetitiver Logiken, Münster u.a. 2013. 13 Vgl. Scholz, Juliane, Der Drehbuchautor. USA – Deutschland. Ein historischer Vergleich, Bielefeld 2016. 14 Vgl. Siegrist, Hannes, Der Wandel des Urheberrechts im langen 20. Jahrhundert, in: Götz von Olenhusen, Irmtraud und Albrecht (Hgg.), Von Goethe zu Google. Geistiges Eigentum in drei Jahrhunderten, Düsseldorf 2011, S. 31–52.

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Um 1800 waren die Märkte für künstlerische, literarische und musikalische Artefakte vergleichsweise klein, übersichtlich, vielfach staatlich protegiert und politisch überwacht. Staatliche Interventionen und politische Regulierungen sollten von Anfang an unerwünschte Entwicklungen korrigieren. Teile der Künstlerschaft und Bildungseliten stimmten dem damals zu, weil sie den freien Markt als Ursache für den Niedergang der Kunst und schädlich für das Kunstschaffen hielten. Sie protestierten schon kurz nach der Liberalisierung der Kunst und kulturellen Beziehungen durch die Französische Revolution, dass der freie Markt im Buchhandel und Theaterwesen nicht in erster Linie zur Verbreitung aufgeklärter, patriotischer und künstlerischer Werte in breiteren Bevölkerungskreisen beitrage, sondern egoistischen wirtschaftlichen Interessen diene, die Theater- und Verlagsbranche aufblähe und den Aufschwung der trivialen Unterhaltungskunst befördere. 15 Gleichzeitig forderten sie die Regulierung der Marktbeziehungen durch die Sicherung der Rechte des Autors. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts expandierten in den fortgeschrittenen Ländern und großen Städten Europas die Märkte für hoch-, populär- und massenkulturelle Güter und Leistungen. Der Staat und Gesetzgeber hegte auch die letzteren immer wieder ein; so durch kulturpolitische Kampagnen gegen so genannte triviale Unterhaltungskunst. Auch im 20. Jahrhundert intensivierten Städte und Staaten periodisch ihre Bemühungen zur Bekämpfung von so genannter Schmutzliteratur und schlechten Filmen. 16 Von der herrschenden Kunstpolitik diskriminiert, bisweilen auch von Justiz und Gerichten verfolgt, wurden Werke von Künstlern, die Aufmerksamkeit am Markt und in der Öffentlichkeit durch Tabubrüche und radikale Innovationen anstrebten, die dem bisherigen Kunstideal widersprachen. In den staatssozialistischen Ländern wurde neben den trivialen Kunstformen insbesondere jene Kunst abgelehnt, die dem Konzept der sozialistischen Erziehung, wie es von der kommunistischen Partei verstanden wurde, nicht entsprach. Das war insbesondere für avantgardistisch arbeitende Künstler verhängnisvoll, traf aber im Zuge der von der Sowjetunion initiierten Formalismus-Kampagne auch Künstler, die sich nicht dem Diktat eines erstarrten und dogmatisierten sozialistischen Realismus unterordnen wollten, wie Bertold Brecht, Fritz Cremer oder Paul Dessau in der DDR.

15 Vgl. Hesse, Carla, Publishing and Cultural Politics in Revolutionary Paris, 1789–1810, Berkeley u.a. 1991; Hillmer, Rüdiger, Die napoleonische Theaterpolitik. Geschäftstheater in Paris 1799–1815, Köln 1999. 16 Höpel, Thomas, Demokratisierung von Kultur und Kulturpolitik in Leipzig und Lyon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Höpel, Thomas; Sammler, Steffen (Hgg.), Kulturpolitik und Stadtkultur in Leipzig und Lyon (18.–20. Jahrhundert), Leipzig 2004, S. 139–170; Maase, Kaspar, Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970, Frankfurt am Main 1997, S. 155–178.

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3. Bürgerliche Öffentlichkeit und Kunstmärkte Systemübergreifend kam es in der Moderne zu einer politischen und gesellschaftlichen Aufwertung von Kunst. Die Künstler nahmen die Chance wahr, ihren Platz und ihre Rolle in der Gesellschaft neu zu definieren und sich mehr Macht und Einfluss zu verschaffen. Ein Publikum, das mit ihnen den Glauben an die schöpferische Macht und Orientierungsfunktion der Kunst teilte, unterstützte sie dabei. 17 Ausgehend von der Idee des kreativen, individuellen und unabhängigen Schöpfungsaktes, entwickelten die Künstler Mitte des 19. Jahrhunderts einen besonderen Künstlerhabitus. 18 Die Tätigkeit als Künstler wurde mehr und mehr zu einem bürgerlichen Erwerbszweig. 19 Künstler produzierten einerseits für private und öffentliche Auftraggeber, andererseits für den Kunstmarkt und mussten in jedem Falle dem jeweiligen Publikumsgeschmack entgegenkommen. Sozial gehörten sie im 19. Jahrhundert öfter zu den bessergestellten (klein-)bürgerlichen Kreisen. Als sich im 20. Jahrhundert der Wettbewerb verschärfte und die politischen Bedingungen veränderten, erhofften sich manche Künstler mehr Anerkennung und bessere Arbeits- und Lebensbedingungen auch von nichtliberalen Systemen. Die Funktion und der Sinn von Kunst wurden seit dem 19. Jahrhundert immer stärker durch gesellschaftliche und öffentliche Bedürfnisse bestimmt. Als neuer kollektiver Akteur entstand seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert das Publikum, das sich im 19. Jahrhundert sozial und kulturell entlang von Standes- oder Klassenunterschieden etwa in ein aristokratisches und ein bürgerliches Publikum ausdifferenzierte. Das Publikum schuf neue Beziehungen zu Künstlern und Kunstwerken und setzte sich im Falle weiträumig verbreiteter Werke aus Angehörigen verschiedenster Länder zusammen. Teile des städtischen Bürgertums entwickelten damals einen eigenen Kult der Kunst mit bestimmten Regeln, Rollen und Ritualen, der seit dem späten 19. Jahrhundert periodisch zur Zielscheibe philosophisch oder weltanschaulich motivierter bürgerlicher und linker Kultur- und Kunstkritiker wurde. Jürgen Osterhammel zeigt anhand des Musikvirtuosen die Einbindung des Künstlers in die bürgerliche Gesellschaft und in den Kunstmarkt sowie die Loslösung vom aristokratischen Dienstherrn oder Mäzen. Während sich auf der einen Seite nationale Musikidiome herausbildeten, etablierte sich auf der anderen ein europäischer Konzertbetrieb, der auf städtischen Opern- und Konzerthäusern basierte und sich auch rasch auf die neo-europäischen Gesellschaften in Übersee ausdehnte. Voraussetzung dafür waren die europaweit ähnlichen Institutionen, Organisationen und Praktiken auf dem Feld der Musik. Diese ermöglichten das internationale Star- und Virtuosensystem, das seinerseits die künstlerische Integration Europas vorantrieb. 17 Bourdieu, Die Regeln der Kunst, S. 362. 18 Ruppert, Der moderne Künstler, S. 27. Zum Habitus-Begriff allgemein vgl. Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 111999, S. 585; McClelland, Charles, Prophets, Paupers, or Professionals? A Social History of Everyday Visual Artists in Modern Germany, 1850–Present, Bern u.a. 2003. 19 Frevert, Der Künstler, S. 308–311.

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Künstler gerieten dadurch aber auch zunehmend in Abhängigkeit vom Publikumserfolg. Nur sehr nachgefragte Autoren und Interpreten konnten sich ein Stück weit von den Erwartungen bestimmter Publikumsgruppen distanzieren. So wurde das bürgerliche Publikum als Träger der öffentlichen Meinung auch Subjekt der Öffentlichkeit. 20 Die bürgerlichen Salons des ausgehenden 18. und des 19. Jahrhunderts waren nicht nur Orte der gepflegten bürgerlichen Geselligkeit, wo Bürgerliche und Aristokraten ungeachtet ihrer ständischen Herkunft sich unterhielten oder Künstlern zuhörten. Sie waren zugleich Orte der bürgerlichen Öffentlichkeit. Kunstkenntnis und Kunstausübung wurden Teil des bürgerlichen Habitus und zur Grundlage für die bürgerliche Geselligkeit und Vergesellschaftung. Joachim Eibach macht das am Beispiel der Schubertiade deutlich. Laut Thomas Nipperdey wurden die Künste im 19. Jahrhundert wegen ihrer Funktion im Lebenshaushalt „bürgerlich“. 21 Das emphatische Kunstverständnis war ein wichtiges Element bei der Herausbildung des Bürgertums; zweckfreie Bildung, Selbstkultivierung und Ausbildung der individuellen expressiven und kognitiven Fähigkeiten waren Teil des „bürgerlichen Wertehimmels“. 22 Das offenbart sich auch in der weiten Verbreitung der künstlerischen Betätigung des Bürgers als Dilettant im ausgehenden 18. und im 19. Jahrhundert. „Dilettant“ war damals die Bezeichnung für einen Amateur oder Kunstliebhaber. Häufig gingen aus den kleinen Kreisen solcher Musikliebhaber Theater-, Konzert- oder Singvereine hervor. Einzelne davon entwickelten sich zu professionellen Orchestern weiter. 23 Die gesellschaftliche Öffentlichkeit war ein unerlässliches Element des Kunstbetriebs. Dilettant, Künstler und Publikum arbeiteten gemeinsam an der kulturellen Erziehung des Menschen. Der Dilettant wurde erst mit dem aufkommenden Virtuosenkult in den 1840er-Jahren zunehmend negativ konnotiert. Kunst wurde zugleich vom bürgerlichen Publikum seit Mitte des 19. Jahrhunderts in zunehmendem Maße als Mittel der Distinktion gegenüber anderen sozialen Gruppen genutzt; gegenüber traditionellen höfisch-aristokratischen Kreisen, konfessionellen Milieus, Kleinbürgern, Arbeitern und städtischen Unterschichten. So wurde Musikkonsum im städtischen Konzert- und Opernhaus als Soziabilitätsfaktor, Distinktionsmittel und zwecks politischer Positionierung eingesetzt. Die Absetzung des bürgerlichen Publikums von anderen sozialen Gruppen konnte in

20 Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 1990, S. 55. 21 Nipperdey, Thomas, Kommentar: ‚Bürgerlich‘ als Kultur, in: Kocka, Jürgen (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 143–148, hier S. 147; Nipperdey, Thomas, Deutsche Geschichte 1800–1866, Bürgerwelt und starker Staat, München 1983, S. 533–587. 22 Hettling, Manfred; Hoffmann, Stefan-Ludwig (Hgg.), Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000; grundlegend Kocka, Jürgen (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, 3 Bde., München 1988. 23 Schulz, Andreas, Der Künstler im Bürger. Dilettanten im 19. Jahrhundert, in: Hein, Dieter; Schulz, Andreas (Hgg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert: Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 34–52, hier S. 35.

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bestimmten Kunstbereichen, insbesondere der klassischen Musik, länger aufrechterhalten werden als in anderen. Die zentrale Rolle, die in den europäischen Metropolen Konzert- und Opernaufführungen bei der Schaffung neuer kommunikativer Räume spielten, arbeitet Sven Oliver Müller heraus. Er weist zugleich auf die Entwicklung eines dichten Netzes von Theatern und Konzerthäusern in europäischen Städten im Laufe des 19. Jahrhunderts hin, die zu Orten der städtischen Selbstdarstellung, bürgerlichen Repräsentation, Soziabilität und Distinktion und der Kultivierung der Gesellschaft wurden. Diese städtischen Kulturorganisationen waren in ganz Europa ähnlich und dank der neuen Verkehrsinfrastrukturen zunehmend vernetzt. Sie nutzten ähnliche Medien und engagierten dieselben Künstler und Kunstensembles. Auf diese Weise kam es im Laufe des 19. Jahrhunderts zu einer Europäisierung der musikalischen Praxis, die sich in einer Angleichung des Repertoires, der Aufführungsformen und der Rezeptionsgewohnheiten ausdrückte. Mitunter fungierten die Opernhäuser aber auch als Bühne für politische Akteure und Nationalbewegungen. Die Europäisierung der Musik- und Theaterkultur wurde durch die zunehmende Kommerzialisierung am Ende des 19. Jahrhunderts weiter vorangetrieben. Tobias Becker macht das am Beispiel der Verbreitung von Musical Comedy und Operette in den europäischen Metropolen deutlich. Die Zahl der Unterhaltungstheater stieg am Ende des 19. Jahrhunderts an. Diese versuchten die Marktrisiken durch die Übernahme erfolgreicher Stücke anderer nationaler Herkunft zu minimieren und die Gewinne zu steigern. Die Adaptation der Stücke an die jeweilige nationale Kultur blieb dabei begrenzt, wie Becker am Beispiel des Stückes Schwindelmeier & Co. sehr anschaulich herausstellt. Damit wurde ein Trend eingeleitet, der im 20. Jahrhundert auch für andere Medien der kommerzialisierten Populär- und Massenkultur wegweisend wurde. Gabriele Clemens nimmt die Interessen und Institutionen in den Blick, die die Entwicklung des europäischen Kunstmarktes vorangetrieben haben. Kunst wurde zu einem Medium der Repräsentation und Geselligkeit der bürgerlichen Eliten und Mittelschichten. In der Industrialisierung und in der Finanzindustrie reich gewordene Wirtschaftsbürger ließen sich von Kunstexperten beraten und erwarben bei Galerien die zu Repräsentationszwecken benötigten Kunstwerke für ihre Stadtvillen und Landhäuser. Der professionelle Kunstmarkt expandierte auch dank der Gründung zahlreicher Museen in den europäischen Staaten und Städten. Die großen und wichtigen Museen übernahmen als Käufer, Expertenorganisation, Orte der Bildung und Geselligkeit sowie Partner reicher bürgerlicher Sammler in einigen Sparten, wie der bildenden Kunst, wichtige Funktionen. Sie wurden spätestens im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch Instrumente im internationalen und interkommunalen Standort-Wettbewerb. Die Spannungen zwischen dem Anspruch auf die Allgemeingültigkeit von Ausdrucksformen und Werten, die sich in der Kunst verkörperten, und einer auf Unterscheidung, Abgrenzung und Machtdemonstration abhebenden Nutzung von Kunstwerken durch das bürgerliche Publikum, manifestierten sich früher oder später auch in den politischen Auseinandersetzungen in und zwischen liberalen,

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demokratischen und kapitalistischen Klassengesellschaften. In weiten Teilen des industrialisierten und urbanen West-, Süd- und Mitteleuropa organisierte die Arbeiterbewegung, anfangs oft noch im Bündnis mit den demokratischen Handwerkern und Kleinbürgern, den Zugang zu Kunst und Wissenschaft für die so genannten kleinen Leute.

4. Politik und Kunst zwischen Nationalismus und Internationalisierung Politik, Politiker und Staaten bestimmten die Kunstentwicklung und den sozialen Gebrauch der Kunst im modernen Europa in der einen oder anderen Weise stets maßgeblich mit. Das Spektrum politischen Handelns reichte dabei von der Schaffung von Regeln und Normen, die den Kunstbetrieb ermöglichen und bestimmen, über die Bereitstellung von organisatorischen Strukturen (wie staatlichen Ausbildungseinrichtungen, Ausstellungslokalen und Bühnen, Künstlerförderung und Ankäufe von Werken) bis zur aktiven Intervention in künstlerische Kanons, Inhalte, Formen und Rezeptionsprozesse. Die politikförmige Regulierung und politische Deutung von Kunst bestand auch im Zeitalter der Autonomisierung des künstlerischen Feldes in vielfältigen Formen fort. Im Folgenden sollen zuerst strukturelle und institutionelle Entwicklungen, die das Verhältnis von Politik und Kunst auf nationaler und internationaler Ebene geprägt haben, erörtert werden. In einem zweiten Teil wenden wir uns ausgehend von den Beiträgen des Bandes den Strategien und Praxisformen zu, mit denen Künstler, Kulturpolitiker, Staaten und Verbände auf diese Entwicklungen reagierten.

Strukturelle und institutionelle Entwicklungen im Spannungsfeld zwischen Nationalisierung und Internationalisierung Das Grundmuster für die Politisierung und Nationalisierung der Kunst in der Moderne stammte aus der Französischen Revolution, als sich der neue politische Souverän im Namen des Allgemeinwohls auch zum Gesetzgeber und obersten Hüter und Förderer der Kunst erklärte und das Modell einer etatistischen und liberalen Kulturpolitik schuf. Die Kunstpolitik der Revolution und des anschließenden napoleonischen Kaiserreichs leitete im damals französisch besetzten oder beeinflussten Europa eine institutionelle und rechtliche Neuordnung der Kultur- und Kunstlandschaft ein, insbesondere durch die Säkularisierung der Kunst, die Schaffung von Berufsfreiheit, einer liberalen Kunstöffentlichkeit sowie einer begrenzten, aber rechtlich abgesicherten Kultur- und Unterhaltungsindustrie und eines freien Kunstmarktes. Wegweisend war zudem die flächendeckende Einführung neuer staatlicher Kulturinstitute – wie Museen, häufig gekoppelt mit Zeichen- und

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Kunstschulen, Konservatorien 24, Archiven und Bibliotheken. Damit wurden Kunst und Kultur einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht und die künstlerische Ausbildung systematisiert und professionalisiert. Die Entwicklung der Kunst wurde mit der Entwicklung der nationalen Kultur, Gesellschaft und Wirtschaft verknüpft. Zwar gab es anfangs noch keine institutionelle oder budgetäre Abgrenzung eines Politikbereichs „Kunstpolitik“, in dem einzelne Sparten bzw. Politikfelder (policies) wie Museums-, Theater-, Bibliotheks- oder Musikpolitik zusammengefasst worden wären. Die Politik orientierte sich indessen in jedem Fall an einer übergreifenden Programmatik oder politischen Strategie, die darauf hinauslief, Kunstkenntnisse, Kunstgüter und den Gebrauch von Kunst und Kultur sowohl professionellen und wirtschaftlichen Kreisen als auch der breiteren Bevölkerung zugänglich zu machen. Die Entwicklung der Kunstpolitik war seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts eng mit bildungspolitischen Bemühungen der europäischen Staaten verbunden. Kunst sollte einen nationalen Bildungs- und Erziehungsauftrag übernehmen. Dazu diente unter anderem das – früher oder später in weiten Teilen Europas übernommene – französische Museumsmodell, das einerseits auf Öffentlichkeit angelegt war und die Volksbildung als seine Hauptaufgabe betrachtete, andererseits aber auch die Autorität von Regierung und Staat festigen und die Staatsbürger mobilisieren und disziplinieren sollte. 25 Die Französische Revolution verschränkte die Kultur- mit der Wirtschaftspolitik. Das Museum sollte breitere Bevölkerungsgruppen für die klassischen und neuen Schönheitsideale, Gebrauchsmuster und Produkte der Qualitätsgüter-Industrien, deren Absatzmärkte nach dem Ende der aristokratischen und höfischen Gesellschaft einbrachen, sensibilisieren. 26 Das kunst- und kulturgeschichtliche Museum diente sowohl der Geschmacksbildung als auch der Gewerbeförderung. Die Pariser Museen wurden zu Vorbildern in weiten Gebieten Europas. 27 Laut James Sheehan knüpfte die Einrichtung der Kunstmuseen in Deutschland ausdrücklich an die französischen Innovationen an, um die Autorität von Regierung und Staat zu festigen. 28 24 Anders als bei den Zeichen- und Kunstschulen konnten die Pläne zu einer breiten Schaffung von Konservatorien in der französischen Provinz während der Revolution nicht umgesetzt werden. Das erste Konservatorium außerhalb von Paris entstand erst 1816 in Lille gefolgt von Gründungen in anderen französischen Städten. Vgl. Maurat, Edmond, L’enseignement de la musique en France et les conservatoires de province, in: Encyclopédie de la musique et dictionnaire du conservatoire, 2. Teil, Bd. 6, Paris 1931, S. 3576–3616, hier S. 3581ff. 25 Desvallées, André, Konvergenzen und Divergenzen am Ursprung der französischen Museen, in: Fliedl, Gottfried (Hg.), Die Erfindung des Museums. Anfänge der bürgerlichen Museumsidee in der Französischen Revolution, Wien 1996, S. 65–130, hier S.123f.; Sheehan, James, Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Kunstkammer bis zur modernen Sammlung, München 2002, S. 82. 26 Cleve, Ingeborg, Der Louvre als Tempel des Geschmacks. Französische Museumspolitik um 1800 zwischen kultureller und ökonomischer Hegemonie, in: Fliedl (Hg.), Die Erfindung des Museums, S. 26–64. 27 Cleve, Ingeborg, Geschmack, Kunst und Konsum. Kulturpolitik als Wirtschaftspolitik in Frankreich und Württemberg (1805–1845), Göttingen 1996, S. 346. 28 Sheehan, Geschichte der deutschen Kunstmuseen, S. 72f , 82.

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Nach französischem Vorbild richteten manche europäische Staaten Kultusministerien und staatliche Kunstinstitute für die Verwaltung von Kunstschätzen und Leitung künstlerischer Aufgaben ein, für die bis dahin exklusiv der Monarch zuständig gewesen war. Die staatliche Kunstpolitik erweiterte und spezifizierte nach und nach ihre Aufgaben und Befugnisse und konnte immer größere staatliche Mittel mobilisieren. Anfänglich war es, im Interesse nationaler und lokaler Repräsentation sowie der Volksbildung, vor allem um die Sicherung einer hochwertigen Künstlerausbildung und die Erhaltung und Ausstellung von Kulturgütern im nationalen Interesse gegangen. In den Jahrzehnten um 1900 wurde das Konzept der Kulturpolitik auf die Förderung von Kunst ausgedehnt, die sich grundlegenden bürgerlichen Werten verpflichtete. Durch eine zunehmende Öffnung des Zugangs zu Kunst und Kultur sollten so die bürgerlichen Werte in der Gesellschaft verbreitet und eine „Kultivierung“ des Bürgers und eine „Zivilisierung“ der sozialen Beziehungen ermöglicht werden. Auf diese Weise strebten die Politiker und die gesellschaftlichen Eliten die Integration der Gesellschaft an. Seit 1900 wurde in Teilen der Arbeiterbewegung der Ruf nach einer besonderen demokratischen und proletarischen Kunst lauter. Nach der Oktoberrevolution in Russland 1917 kam es zu einer Blüte der Avantgardekunst, zu neuen Formen von Kunstvermittlung an Arbeiter, zur Proletkult-Bewegung und zu einer Revolutionierung der traditionellen Kunstinstitutionen. Die russischen Kommunisten wollten den neuen sozialistischen Menschen insbesondere durch seine Heranführung an Kunst schaffen und strebten massive Veränderungen bei der Zusammensetzung des Publikums aller Arten von Kunstveranstaltungen an. Der Bolschewismus war ein kulturelles Gesamtprojekt. Er bediente sich in einer zum Teil illiteraten Gesellschaft aber auch der künstlerischen Medien, um seine politische Mission durchzusetzen. 29 Im Zuge der Stalinisierung wurden diese vielfältigen Tendenzen dann allerdings auf die Doktrin des sozialistischen Realismus reduziert, mit der zugleich die Disziplinierung der Künstler und die Kultivierung der Arbeiter und Bauern vorangetrieben werden sollte. Kunst blieb ein wichtiges Instrument der kommunistischen Propaganda und Politik. Die kommunistischen Politiker glaubten, Kunst und Kultur könnten im wahrsten Sinne die Welt verändern, indem sie den „Neuen Menschen“ und eine neue Gesellschaft schufen. Dieser Enthusiasmus war anfänglich auch in den mittel- und osteuropäischen staatssozialistischen Staaten sichtbar, die im Gefolge des Zweiten Weltkriegs entstanden und Kunst und Künstler für den Aufbau einer neuen sozialistischen Gesellschaft einsetzten. 30 Der Staat besaß im 19. Jahrhundert durch die Neuordnung des Kunstbetriebs und seine Anstrengungen im Feld der Repräsentations- und Bildungspolitik die 29 Read, Christopher, Krupskaya, Proletkul’t and the Origins of Soviet Cultural Policy, in: International Journal of Cultural Policy 12 (2006), H. 3, S. 245–255; Beyrau, Dietrich, Intelligenz und Dissens. Die russischen Bildungsschichten in der Sowjetunion 1917–1985, Göttingen 1993; Beyrau, Dietrich (Hg.), Im Dschungel der Macht. Intellektuelle Professionen unter Stalin und Hitler, Göttingen 2000. 30 Vgl. Höpel, Thomas, Kulturpolitik in Europa im 20. Jahrhundert. Metropolen als Akteure und Orte der Innovation, Göttingen 2017.

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Führungsrolle in der Kunstpolitik; je nach Ort und Zeit im Verbund mit aristokratischen, bildungsbürgerlichen und unternehmerischen Eliten. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts übernahmen dann allerdings die bürgerlichen Eliten in den großen Städte und Metropolen Pionierfunktionen in der Kunst- und Kulturpolitik. Sie führten dabei in innovativer Weise zwei unterschiedliche Traditionslinien der städtischen Kultur und Kunst fort; nämlich erstens die Kunstpolitik der patrizisch-bürgerlichen Stadtrepubliken in den Teilen Europas, die sich in den vergangenen Jahrhunderten der Unterordnung unter einen fürstlichen Flächenstaat oder eine absolutistische Kunstpolitik verweigert oder entzogen hatten (wie in Norditalien, der Schweiz und den Niederlanden); und, zweitens die Kunstpolitik der Residenzstädte weltlicher und geistlicher Fürsten und Könige in weiten Teilen Europas. Seit dem späten 19. Jahrhundert entwickelten bürgerliche und demokratische Eliten in den rasch wachsenden Städten eine diversifizierte kulturelle Infrastruktur für breite Bevölkerungsschichten, die sie zu Vorreitern für das kulturpolitische Projekt der Kultivierung und Zivilisierung des Bürgers werden ließen. Die dabei entwickelten Initiativen und Modelle der städtischen Kulturpolitik wurden früher oder später auch in die Kulturpolitik des jeweiligen Nationalstaats übernommen. Manche dieser städtischen Kultureinrichtungen waren ursprünglich durch bürgerliche Vereine oder von Stiftungen gegründet worden, bevor sie im 20. Jahrhundert im Zuge der Demokratisierung der Gesellschaft oder im Gefolge von Inflation und Wirtschaftskrisen, die viele private Kulturinstitute in finanzielle Bedrängnis brachten, von der Stadt übernommen wurden. Die Stadtregierungen und Stadtparlamente rechtfertigten das steigende städtische Engagement mit dem gesellschaftlichen Nutzen von Kunst. Das mündete nach 1918 in die Herausbildung eines regelrechten Kulturkommunalismus in vielen europäischen Staaten. 31 Der Staat griff seit Beginn der Zwischenkriegszeit viele der kommunalen Initiativen beim Aufbau einer eigenen Kulturpolitik auf. Die Förderung der Kunst durch staatliche Bildungs-, Finanzierungs- und Schutzmaßnahmen diente auch damals noch der Sicherung und Steuerung der nationalen Kultur. In weiten Teilen West- und Mitteleuropas glich der Staat damit auch Defizite des kommerziell motivierten und unternehmerisch organisierten Kulturbetriebs aus. In manchen noch länger stärker landwirtschaftlich und ländlich geprägten Gebieten im Osten, Südosten und Südwesten Europas dagegen war der private Kultursektor bis ins frühe 20. Jahrhundert vergleichsweise klein gewesen und der Kreis der kulturell, wirtschaftlich und politisch führenden Personen und Gruppen überschaubar geblieben. Nationalistische Demokratien und faschistische Diktaturen bauten dort den staatlichen und privaten Kultursektor nach dem Ersten Weltkrieg mithilfe erheblicher Investitionen und Förderprogramme aus. Später, nach der Befreiung Mittel- und Ostmitteleuropas von der nationalsozialistischen Besatzungsherrschaft, setzten die dortigen Volksdemokratien und kommunistischen Diktaturen die nationale und europäische Tradition der staatlich verfassten Kunst31 Vgl. Höpel, Thomas, Von der Kunst- zur Kulturpolitik. Städtische Kulturpolitik in Deutschland und Frankreich 1918–1939, Stuttgart 2007.

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und Kulturwirtschaft unter neuen ideologischen Vorzeichen fort. Sie entwickelten unter der kommunistischen Parteiherrschaft und im Rahmen der Zentralverwaltungs- und Planwirtschaft ein integrales Kulturstaatsmodell, das einheimische Traditionen und Ansprüche mit den Vorgaben des sowjetischen Modells kombinierte. Im Westen, Norden und Süden Europas wurde die aktive kulturpolitische Rolle des Staates nach 1945 vielfach durch historische Traditionen und die Notwendigkeit der sozio-kulturellen Integration begründet; seit den 1950er-Jahren auch zunehmend durch das Subsidiaritätsprinzip, wonach der Staat (bzw. die nächsthöhere Instanz, wie heute die Europäische Union gegenüber den Staaten) wichtige Aufgaben übernimmt und mit neutralem Anspruch verwaltet, die vom Markt oder den kleineren politischen Einheiten nur partiell erfüllt werden können. 32 Seit den 1960er-Jahren wurde die staatliche bzw. politikförmige Kunst- und Kulturförderung in westlichen Ländern von den Anhängern einer demokratischen, auf Inklusion und breite Bürgerpartizipation abhebenden und pluralistischen Kunst- und Kulturpolitik ausgebaut. 33 Diese setzte sich sowohl von der exklusiven liberal-elitären Kulturpolitik, die in den liberalen Demokratien eine lange Tradition hatte, ab, als auch von der vom Staat und der herrschenden kommunistischen Partei gesteuerten kulturellen Massenmobilisierung in den Ländern des Ostblocks. Seit den späten 1980er-Jahren geriet sie in den westeuropäischen Ländern allerdings unter den Druck internationaler neoliberaler Strömungen. Im Osten Europas wurde mit dem Ende des europäischen Kommunismus auch dessen staatliche Kulturpolitik in Frage gestellt. In ganz Europa forderten nun Anhänger einer stärkeren Kommerzialisierung bzw. marktförmigen Regulierung künstlerischer Artefakte und Leistungen die Entstaatlichung der Medien- und Kunstindustrien im europäischen und globalen Maßstab. Es sollten Kosten und staatliche Ausgaben reduziert werden. Kunst sollte verstärkt durch die Zivilgesellschaft, das heißt durch Vereine, Genossenschaften, Stiftungen sowie private Sammler und Mäzene, gefördert werden. Viele hofften, damit europäische Traditionen wiederbeleben zu können, die in den Wirtschaftskrisen, Diktaturen und Kriegen des 20. Jahrhunderts in Europa erheblich geschwächt worden waren, 34 und von manchen nun als nachahmenswerte Besonderheit des US-amerikanischen Kulturlebens angepriesen wurden.

32 Vgl. Braun, Eckhard, Prinzipien öffentlicher Kunstförderung in Deutschland, Essen 2013. 33 Vgl. Höpel, Thomas, Städtische Kulturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland von 1945 bis 1989: Unterschiede und Gemeinsamkeiten im europäischen Vergleich, in: Ditt, Karl; Obergassel, Cordula (Hgg.), Vom Bildungsideal zum Standortfaktor. Städtische Kultur und Kulturpolitik in der Bundesrepublik, Paderborn 2012, S. 365–395. 34 Kocka, Jürgen; Frey, Manuel, Bürgerkultur und Mäzenatentum im 19. Jahrhundert, Berlin 1998; Adam, Thomas (Hg.), Philanthropy, Patronage, and Civil Society: Experiences from Germany, Great Britain, and North America, Bloomington 2004.

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Strategien und Praxisformen der Akteure im künstlerischen Feld Der Aufbau eines staatlich gelenkten und gesetzlich geregelten Kunstbetriebs sowie die Herausbildung von Nationen und nationalen Kulturpolitiken seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts kollidierte mitunter mit Interessen, Vorstellungen und Strategien derjenigen, die Kunst als grenzüberschreitenden europäischen Prozess begriffen und gestalten wollten. Axel Körner macht am Beispiel Giuseppe Verdis deutlich, auf welche Weise Musik und Theater im 19. Jahrhundert zur Prägung nationaler Gründungsmythen und für die nationale Mobilisierung umgedeutet wurden. Tatsächlich ordnete sich die Oper Nabucco, deren Uraufführung 1842 in Mailand später immer wieder als Ursprung der revolutionären italienischen Nationalbewegung dargestellt wurde, zum Zeitpunkt von Entstehung und Uraufführung nahtlos in die europäische Operntradition ein. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stellte die Oper eine in Europa verbreitete Kunstform dar, die aus grenzüberschreitenden Diskussionen und Verflechtungen im künstlerischen Feld hervorging, bei denen traditionelle Muster mit neuen Entwicklungen gegeneinander abgewogen wurden. 35 Verdi partizipierte an dieser Intertextualität der europäischen Oper. Erst deutlich nach ihrer Entstehung wurden die frühen Opern Verdis und eben Nabucco von der nationalen Bewegung patriotisch umgedeutet und vereinnahmt. Der Künstler nahm – als geschickter Vermarkter seines Werkes und seiner Person – daran tatkräftigen Anteil. Die transnationale europäische Verflechtung beruhte traditionell auf dem regen Austausch von Kunstwerken und Künstlern zwischen den europäischen Höfen und Städten sowie den verschiedenen Kunstakademien, der sich schon seit der Renaissance herausgebildet hatte. Auf dieser Grundlage hatten sich die Künstler allmählich vom Handwerk emanzipiert und einen eigenen Professionalisierungsprozess in Gang gesetzt. 36 Überregionale und übernationale Mobilität und Offenheit waren für Teile der Künstlerschaft charakteristisch. Gerade erfolgreiche Künstler bewegten sich in einem weiten geografischen Raum. Das betrifft nicht nur deren Reisen zu Stätten künstlerischer Innovation, sondern auch die ideelle Partizipation an europäischen Entwicklungen in der Kunst, die sich ebenfalls auf dem entstehenden Kunstmarkt und in der Ankaufspolitik der Museen niederschlug, die beide übernational ausgerichtet waren. Im Zeitalter des liberalen Nationalstaats engagierten sich viele Künstler länderübergreifend für Bürger- und Menschenrechte, Gerechtigkeit und Bildung. Mitunter galten sie als die Garanten eines emanzipatorischen europäischen Bürgerideals. 37 Zu ihnen gehörte um 1900 der von Bertrand Tillier vorgestellte französische Kunsthandwerker und Glaskünstler Émile Gallé, der in der Dreyfus35 Müller, Guido, Das Bild des Anderen in der deutschen und französischen Opernentwicklung 1770–1850, in: Höpel, Thomas (Hg.), Deutschlandbilder – Frankreichbilder 1700–1850. Rezeption und Abgrenzung zweier Kulturen, Leipzig 2001, S. 255–269. 36 Vgl. Ruppert, Der moderne Künstler; Löhr; Middell; Siegrist, Kultur und Beruf in Europa. 37 Hein, Dieter, Bürgerliches Künstlertum. Zum Verhältnis von Künstlern und Bürgern auf dem Weg in die Moderne, in: Hein, Dieter; Schulz, Andreas (Hgg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert: Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 102–117, hier S. 103, 113, 115.

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Affäre in Frankreich mit seiner Kunst ausdrücklich Partei für den zu Unrecht wegen Spionage und Landesverrats verurteilten jüdischen Hauptmann Alfred Dreyfus ergriff. 38 Tillier weist darauf hin, dass sich in der so genannten DreyfusAffäre Künstler und Intellektuelle aus ganz Europa für Gerechtigkeit, Demokratie und die Republik engagierten. In Perioden internationaler Spannungen und im Krieg ließen sich Künstler allerdings wiederholt auch für nationalistische Zwecke einspannen, wie Rüdiger vom Bruch anhand des Aufrufs deutscher Künstler und Wissenschaftler im Oktober 1914 deutlich macht. Zu den Unterzeichnern des Aufrufs „An die Kulturwelt“ gehörten auch Maler wie Max Klinger und Max Liebermann und Theaterregisseure wie Max Reinhardt, die sich bis dahin vom deutschen Kaiser, der alle fortschrittliche Kunst ablehnte, distanziert hatten. Geschickt manipuliert durch die kaiserlichdeutsche Politik, unterzeichneten sie neben vielen anderen renommierten Künstlern und Wissenschaftlern den Aufruf, der als Instrument deutscher Außenpolitik insbesondere in den neutralen Staaten eingesetzt wurde. 39 In der nationalsozialistischen Diktatur wurde die politische Instrumentalisierung der Kunst massiv vorangetrieben. Thomas Höpel zeigt, wie Kunst und Künstler zu Dienern eines ultranationalistischen, rassistischen und imperialistischen Herrschaftssystems gemacht wurden. Da auch die Nationalsozialisten die Verbindung „deutscher“ Künstler zu internationalen Trends und Diskussionen nie ganz beseitigen konnten, definierten sie „deutsche“ Kunst willkürlich über die Begriffe der Rasse und des Blutes. Sie forderten zugleich, dass sich die Künstler traditionellen ästhetischen Diktaten unterwarfen. Nationalsozialisten und Faschisten instrumentalisierten Kunst und Kultur auch im Rahmen der auswärtigen Kulturpolitik, wodurch die außenpolitischen und wirtschaftlichen Beziehungen gestärkt werden sollten. Laut Falk-Thoralf Günther begründete das deutsch-spanische Kulturabkommen eine gemeinsame Front der faschistischen Staaten. Seit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und nach der Besetzung weiter Teile Europas durch die Wehrmacht sollte die Kunst dann auch den nationalsozialistischen Überlegenheitsanspruch auf dem europäischen Kontinent bzw. im nationalsozialistischen Europa demonstrieren. „Deutsche Kunst“ wurde in den seit 1940 zahlreich geschaffenen deutschen Kulturinstituten im Ausland zu diesem Zweck instrumentalisiert. 40 Im besetzten Polen etwa wurde sie als Werkzeug nationalsozialistischer Hegemonieansprüche eingesetzt

38 Zur Dreyfus-Affäre vgl. Kotowski, Elke-Vera, Der Fall Dreyfus und die Folgen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, (2007), H. 50, URL: (12.06.2017). 39 Trommler, Frank, Kulturmacht ohne Kompass. Deutsche auswärtige Kulturbeziehungen im 20. Jahrhundert, Köln u.a. 2014, S. 279–281, 321–325. 40 Michels, Eckhard, Die deutschen Kulturinstitute im besetzten Europa, in: Benz, Wolfgang, et al. (Hgg.), Kultur – Propaganda – Öffentlichkeit, Berlin 1998, S. 11–33.

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und sollte die Germanisierung des okkupierten polnischen Territoriums einleiten. 41 Kritische Künstler unterschiedlicher nationaler Herkunft, von denen manche von den Nationalsozialisten und Faschisten ins Exil getrieben worden waren, stritten im Zweiten Weltkrieg über das Verhältnis von Kunst und Politik und von Kunst und Gesellschaft im Hinblick auf die große Frage, welche Rolle und Verantwortung Kunst und Künstler beim Wiederaufbau Europas und der Welt nach Kriegsende übernehmen sollten. Helmut Peitsch zeichnet dies anhand der Diskussionen auf dem 27. Kongress des internationalen Schriftstellerverbandes PEN (Poets, Essayists, Novelists) in London im September 1941 nach. Dabei prallten zwei grundlegende Auffassungen aufeinander, die auf die Missachtung grundlegender europäischer Werte durch die Nationalsozialisten und auf die Instrumentalisierung der Kunst für die menschenverachtende NS-Politik unterschiedlich reagierten: einige traten für die uneingeschränkte Autonomie der Kunst ein, andere forderten ein verstärktes politisch-soziales Engagement. Zur Thematik der Interdependenzen zwischen Nationalisierung und Internationalisierung gehören schließlich auch die Beiträge von Hannes Siegrist und Isabella Löhr über die Bedeutung des Urheberrechts für Künstler, Schriftsteller und Komponisten und über dessen Rolle in der Institutionalisierung nationaler und grenzüberschreitender kultureller und wirtschaftlicher Beziehungen. Hierbei geht es um die Verrechtlichung der Beziehungen in der Kunst und Kultur. Hannes Siegrist zeichnet den Weg von der Nationalisierung zur Internationalisierung des geistigen Eigentumsrechts im 19. Jahrhundert nach. Die Herausbildung, Expansion und Differenzierung des Buch-, Kunst- und Musikmarktes und die damit einhergehende zunehmende Produktion und Reproduktion literarischer und künstlerischer Werke begründeten die ständige Debatte über die Frage, wem Verfügungs- und Nutzungsrechte über „geistige Werke“ zugeordnet werden sollten. Diese führte zuerst zu Rechtsnormen für einzelne Länder und nationale Kulturkartelle, dann schließlich mit der Berner Übereinkunft 1886 zu einer multilateralen internationalen Regelung für die grenzüberschreitende Kooperation in der Kunst und Kultur. Dieser schlossen sich zunächst vor allem west- und mitteleuropäische Länder an. Nach dem Ersten Weltkrieg expandierte die Berner Union nach Osteuropa und in immer weitere Teile der Welt. Laut Isabella Löhr präsentierte sich die Berner Union in den Verhandlungen um eine Weltkonvention zum Schutz von Urheberrechten in den 1930er-Jahren deutlich als europäischer Akteur – und das trotz zunehmender Spannungen und der aggressiven, auf einen neuen Krieg zielenden Politik des nationalsozialistischen Deutschlands. Im Kalten Krieg spielte die Kunst als Mittel der politischen Repräsentation und Vergemeinschaftung eine wichtige Rolle. Eckhart Gillen zeigt am Beispiel des Wettbewerbs für das Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen 1952/53, wie Kunst damals auch in demokratischen Staaten politischem Einfluss 41 Höpel, Thomas, Kulturpolitik als Werkzeug nationalsozialistischer Hegemonie und Germanisierung im Generalgouvernement, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 61 (2015), H. 2, S. 146–166.

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ausgesetzt war. Das geschah in der Regel allerdings subtiler als in den nationalsozialistischen oder den staatssozialistischen Diktaturen, in denen Staat und herrschende Partei den Künstlern ein ästhetisches Diktat aufzwangen. In liberalen und demokratischen Gesellschaften konnte diese Einflussnahme offen kritisiert werden. Jeannine Harder macht am Beispiel von Ausstellungen polnischer Plakate in den frühen 1950er-Jahren in Ost und West deutlich, dass auch im Kalten Krieg Kunst nicht in jedem Falle der propagandistischen Unterfütterung des Systemgegensatzes diente; und dass dies weder von Seiten der kommunistischen Kulturbürokratien des Ostens noch von Seiten der veröffentlichten Kunstkritik im Westen in jedem Fall gefordert wurde. Obwohl der polnische Staat als Teil des Ostblocks die Doktrin des sozialistischen Realismus seit 1949 implementierte, konnten sich in der Plakatkunst politisch ursprünglich anders konnotierte Ausdrucksformen halten. Und das selbst in den frühen 1950er-Jahren, als der Kalte Krieg mit dem Korea-Krieg in eine heißere Phase geriet. Anne-Marie Pailhès stellt mit dem Institut für Literatur in Leipzig die Ausbildungseinrichtung für Schriftsteller der DDR vor, die Studierenden, welche aus der Arbeiterklasse ausgewählt wurden, die normativen politischen und ästhetischen Konzepte des kommunistischen Staates bzw. des von der Sowjetunion angeführten Ostblocks vermitteln sollte. Sie sollten systematisch in einen Beruf eingeführt werden, der bis dahin in weiten Teilen Europas nicht für lehr- und lernbar gehalten worden war, um die traditionellen kulturellen Eliten abzulösen. Allerdings gerieten auch manche der in Leipzig fachlich und ideologisch geschulten Schriftsteller früher oder später mit den starren ästhetischen Vorgaben der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) in Konflikt; nicht zuletzt weil sie sich auch an internationalen künstlerischen Diskussionen und Entwicklungen beteiligen wollten. Deshalb kam es wiederholt zu Reibungen und Konflikten zwischen der Parteileitung der SED und dem Literaturinstitut. Da sich das Literaturinstitut zudem in die Anstrengungen zur Professionalisierung künstlerischer Tätigkeiten einordnete, die unabhängig von politischen Systemen in weiten Teilen Europas und der Welt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts unternommen wurden, konnte es nach der deutschen Vereinigung unter veränderten Vorzeichen weitergeführt werden.

5. Kunst, Architektur und Stadtentwicklung in der urbanen Gesellschaft Architektur und Stadtplanung galten bis weit ins 20. Jahrhundert zumindest partiell auch als Künste, jedenfalls wurden sie mit entsprechenden ästhetischen und moralischen Erwartungen verknüpft. In den europäischen Städten spielte der Bau von Konzerthäusern, Theatern, Museen und Bibliotheken in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Stadtentwicklung eine herausgehobene Rolle.42 Während in Deutschland die Debatten über Architektur und Stadtentwicklung häufig am Rande der Kulturpolitik liefen, war die Architektur in der Kulturpolitik 42 Vgl. Höpel, Städtische Kulturpolitik in der Bundesrepublik Deutschland.

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Schwedens und USA schon früh ganz zentral. 43 So oder so beobachteten Künstler und Architekten die Veränderungen des städtischen Lebens im Gefolge der Industrialisierung und Urbanisierung. Manche von ihnen reflektierten diesen Wandel mit künstlerischen Mitteln und Ausdrucksformen, andere strebten danach, ihn mitzugestalten, indem sie nach neuen Verbindungen von Kunst, Architektur, Stadtplanung und städtischem Leben suchten. Zusammen mit anderen Akteuren verständigten sie sich über die Stadt als Kultur-, Wirtschafts- und Lebensraum. Martin Schieder diskutiert im vorliegenden Band am Beispiel der Darstellung von Paris durch den französischen Maler Gustave Caillebotte, wie bildende Künstler, Architekten, Fotografen und Schriftsteller den Wandel der Großstadt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wahrnahmen und darstellten. Ausgangspunkt ist das durch den Stadtplaner Georges-Eugène Haussmann während des zweiten Kaiserreichs (1853–1870) umgestaltete Paris, das zum Vorbild für andere französische und europäische Großstädte wurde und Künstler, Architekten, Publizisten und Wissenschaftler veranlasste, über die räumliche und soziale Erfahrung der umgestalteten modernen Großstadt, die Vermischung von Öffentlichem und Privatem, von geordneter Stadtstruktur und neuer Unübersichtlichkeit, von entstehender Massengesellschaft und gleichzeitiger Anonymität und Vereinzelung zu reflektieren. Der Städteumbau im Gefolge von Haussmann löste in manchen europäischen Gebieten zwar eine ganze Reihe der Probleme, die im Zuge der Industrialisierung und einer vielerorts wenig geplanten Stadtexpansion entstanden waren. Die hygienischen Verhältnisse und die Verkehrsverhältnisse verbesserten sich, doch die sozialen Probleme in den Städten blieben akut. Wie moderne Architekten, die sich nun stärker als Ingenieure und Stadtplaner verstanden und die Künste unter dem Schirm der Architektur zusammenführen wollten, dagegen vorgingen, zeigt Eli Rubin am Beispiel der wesentlich von Le Corbusier verfassten „Charta von Athen“, in der die vom Congrès International d'Architecture Moderne (CIAM, Internationaler Kongress für neues Bauen) entwickelte Vision einer sauberen, gesunden, sozial durchmischten und dadurch auch moralisch besseren Stadt zusammengefasst wurde. Thomas Höpel zeigt in seinem Beitrag über die Politik der städtischen Regeneration (Urban Regeneration) seit den 1980er-Jahren anhand der englischen Stadt Birmingham, wie Kunst und Architektur dann im späten 20. Jahrhundert eine zentrale Rolle bei der Erneuerung der in die Krise geratenen alten Industriestädte übernehmen sollten. Die Stadt Birmingham orientierte sich dabei wiederum an Modellen anderer europäischer und nordamerikanischer Städte und entwickelte neue Leitbilder, spartenübergreifende administrative Strukturen, Kultureinrichtungen und künstlerische Events. Daniel Habit macht schließlich in seinem Beitrag über die EU-Kulturinitiative „Kulturhauptstadt Europas“ deutlich, wie städtische Kunst und Kultur eine Symbol- und Integrationsfunktion für Europa übernehmen sollten und zugleich als Motor innerstädtischer Bau- und Infrastrukturprojekte dienten, mit denen sich die 43 Beyme, Klaus von, Kulturpolitik und nationale Identität, Opladen 1998, S. 7, 11f.

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Städte angesichts einer zunehmenden internationalen Städtekonkurrenz neu positionierten. Das Konzept der Europäischen Union von der Einheit in der Vielfalt sollte kulturpolitisch mithilfe der Auswahl typischer und vorbildlicher Städte dargestellt werden, um so die europäische Annäherung zu fördern. Der europäische Stadtraum wurde als Kulturraum stilisiert und als Projektionsfläche für europäische Gemeinsamkeiten und Vernetzungen genutzt. Die europäische Kulturhauptstadt blieb in allen Kulturkonzepten der Europäischen Union ein zentraler Bestandteil. Hintergrund dafür war das Ziel, der ursprünglich als Wirtschaftsunion konzipierten Europäischen Gemeinschaft mehr Attraktivität in der breiten Bevölkerung und Ausstrahlung nach außen zu verschaffen. 44

6. Ausblick In der Gesamtschau legen die Beiträge die Wechselwirkungen von Kunst, Politik und Gesellschaft in der Moderne offen, und sie weisen auf Konjunkturen des politischen und sozialen Gebrauchs von Kunst in Europa hin. Sie zeigen, dass nationale und lokale Kulturpolitiken an internationale Entwicklungen und Diskurse anschlossen; dass für viele Fragen, insbesondere jene, die den Kunstmarkt und die geistigen Eigentumsrechte betrafen, schon früh europäische Regelungen gefunden werden mussten; und dass spätestens im 20. Jahrhundert auch eine Positionierung angesichts der zunehmenden Globalisierung erfolgte. Gerade aufgrund der letzten Herausforderung wurden europäische Interessen vermehrt gemeinsam artikuliert. Wie sehr Kunst auch an der Wende zum 21. Jahrhundert als politisches Instrument für die kulturelle Vergesellschaftung genutzt wird, zeigen die Versuche der Europäischen Union, Identifikation über Kultur und Kunst zu stiften, oder soziale und wirtschaftliche Probleme in den europäischen Städten mit Hilfe von Kulturund Kunstprojekten zu mildern und auszutarieren, wie dies mit Hilfe der EU-Kulturförderung über Strukturfonds und Regionalpolitik in den 1990er-Jahren geschah. 45 Europa ist in den letzten zwei Jahrhunderten trotz zeitweiliger und vielfältiger Behinderungen ein kultureller Handlungsraum geblieben, in dem regional und national spezifische Entwicklungen und Institutionen auf unterschiedliche inter- und transnationale Leitbilder und Modelle trafen. Das führte zu vielgestaltigen, mitunter ungleichzeitigen Entwicklungen in Europa, eröffnete aber zugleich auch Raum für Transfers, Wechselwirkungen und Austauschprozesse zwischen den unterschiedlichen Gesellschaften und Regionen. Der sich daraus ergebende sozial, regional, national und kulturell differenzierte Diskurs- und Handlungsraum ist über die Entwicklung und Verbreitung von künstlerischen Leitbildern, die Zu44 Vgl. zur europäischen Integration Hohls, Rüdiger; Kaelble, Hartmut (Hgg.) Geschichte der europäischen Integration bis 1989, Stuttgart 2016 (Reihe Europäische Geschichte in Quellen und Essays, Bd. 1). 45 Vgl. Höpel, Thomas, Geschichte der Kulturpolitik in Europa. Vom nationalen zum europäischen Modell, in: Middell, Matthias (Hg.), Dimensionen der Kultur- und Gesellschaftsgeschichte, Leipzig 2007, S. 184–205.

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weisung von symbolischen, gesellschaftlichen und politischen Rollen von Kunst, die Definition von Inklusions- und Exklusionsmechanismen und die Institutionalisierung von Kunstvereinen, Künstlerverbänden, städtischen, staatlichen und europäischen Kunsteinrichtungen und Kunstinstitutionen historisch wirksam geworden.

1. BÜRGERLICHE ÖFFENTLICHKEIT UND KUNSTMÄRKTE

HERR DES PUBLIKUMS, DIENER DER KUNST 1 Jürgen Osterhammel

Kaum ein anderer Sozialtypus, der im frühen 19. Jahrhundert entstand, hat sich so wenig verändert in die Gegenwart hinein erhalten wie der des öffentlich auftretenden Musikvirtuosen. Bereits in früheren Jahrhunderten gab es musikalische Zelebritäten, von denen ganz Europa sprach und zu denen man von weither reiste, um von ihnen zu lernen. Sie waren zumeist Komponisten und Meister der musikalischen Theorie. Weniger den Berühmtheiten, die durch ihren Gesang oder ihr Instrumentalspiel faszinierten, galt die Verehrung der Musikwelt als den Schöpfern neuer Kunst. Viele, möglicherweise die meisten von ihnen, brachten ihre eigenen Werke mit höchster technischer Kompetenz selbst zur Aufführung. Reine musici oder virtuosi prattici genossen ein geringeres Prestige. Auch im 19. Jahrhundert hielten viele an der Einheit von Komponist und Interpret fest. Richard Wagner erstrebte die vollständige Kontrolle über die authentische Interpretation seiner Werke, und Gustav Mahler soll als Dirigent seiner eigenen Symphonien nie übertroffen worden sein. Daneben entstand der ausschließlich ausführende musikalische Star: die Operndiva, der Tastenlöwe, der vom dienenden maestro di capella zum Herrscher über Klangkörper von neuartiger Größe und oft bedeutender Leistungsfähigkeit aufgestiegene Dirigent. Diese Art des Musikbetriebs gibt es noch heute. Die technische Reproduzierbarkeit von Musik durch Schallplatte, Rundfunk und später sogar Film und Fernsehen hat die älteren Tendenzen eher noch verstärkt. Erst die Verbreitung von Konzertsälen und Opernhäusern auf allen Kontinenten, dann die Technologien der Schallaufnahme ließen wahrhafte Weltstars entstehen: den Tenor Enrico Caruso, den Bariton Mattia Battistini, die Sopranistin Adelina Patti, den Dirigenten Arturo Toscanini, die Geiger Pablo Sarasate und Joseph Joachim, die Pianisten Anton Rubinstein und Ignacy Jan Paderewski – um nur einige zu nennen. Ihr Rollenverständnis im Spannungsfeld von Showbusiness und Werktreue war ein Erbe des zweiten Quartals des 19. Jahrhunderts. Dieses Erbe beherrscht auch noch die industriell organisierte „E-Musik“ der Gegenwart. Der bewunderte Musikvirtuose und sein Gegenstück, eine kenntnisreiche Hörerschaft, waren keine europäische Besonderheit. Wir finden sie auch in entwickelten aristokratischen und höfischen Kulturen andernorts auf der Welt, zum Beispiel in Mogul-Indien. Einzigartig für das moderne Europa und universal stilbildend war indes die Lösung des Künstlers aus fürstlichem Mäzenatentum. Dieser Übergang von Gunst zu Lohn ist wohl bekannt. Schon Händel hatte in Eng1

Essay zur Quelle: Franz Liszt über den Beruf des Virtuosen (1852). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte: .

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land für ein zahlendes bürgerliches Publikum gearbeitet und Haydn dort in den 1790er-Jahren den musikalischen Markt erfolgreich bedient. Richard Wagner distanzierte sich allmählich von seinem königlichen Patron Ludwig II. von Bayern und ersann die Idee eines regelmäßigen Festspiels, das ihn zum Herrn über wallfahrende Besucher und Nutznießer ihrer Freigebigkeit machen würde. Schon um 1820 war das Zeitalter mäzenatischer Hofmusik im Wesentlichen beendet, auch wenn sich ein Musikfreund wie Herzog Georg II. von Sachsen-Meiningen im thüringischen Meiningen bis zum Ersten Weltkrieg eines der besten Orchester Deutschlands leistete. Nur in Europa entwickelten sich die städtische Oper als besonderer Raum der sozialen Repräsentation von Oberschichten und das Konzert als Geselligkeitsform einer „stockenden Masse“, wie Elias Canetti es beschrieben hat: „Wie eine ausgerichtete Herde, so sitzen die Menschen da, still und in unendlicher Geduld.“ 2 Diese Arten der Reproduktion und Konsumption von Kunst waren nicht nur „typisch“ europäisch – und verbreiteten sich rasch auch in den neo-europäischen Gesellschaften in Übersee, sodass das Opernhaus von New York zum musikalisch wichtigsten der Welt und dasjenige von Sydney zu einem ihrer bekanntesten Gebäude wurde. Sie waren auch gesamteuropäisch. Die romantische Ausprägung nationaler Musikidiome verhinderte nicht, dass der Konzertbetrieb kosmopolitisch blieb. Er gehörte zu den „Mechanismen des Internationalismus“, wie sie heute bei Historikern viel Aufmerksamkeit finden. Viele Opernsänger mochten zu einem festen Ensemble gehören und daher relativ wenig mobil sein. Die ganz großen Stars unter ihnen jedoch waren unaufhörlich unterwegs und gastierten in allen Kunstzentren zwischen Lissabon und St. Petersburg. Battistini zum Beispiel, der „König der Baritone“, stand mit dem Zaren „auf vertraulichem Fuße“ 3 und gab seinen letzten Auftritt 1927 auf dem Nebenschauplatz Graz. Instrumentalsolisten, die unweigerlich als Individualunternehmer arbeiteten, waren noch stärker als Sänger auf das Reisen angewiesen und woben die Netze ihrer Tourneen über den ganzen Kontinent hinweg. Mit dem Virtuosentum erblühte das Geschäft der Agenten und Impresarii, auch sie frühe „transnationale“ Akteure. Dass man sich in Elitekreisen aller europäischen Länder mühelos auf Französisch – und notfalls auch in mehreren anderen Sprachen – verständigen konnte, erleichterte den Umgang über Grenzen hinweg. Auch das Publikum war unterwegs und mischte sich international. Mochte Wagners Massenbasis auch aus „Bier trinkenden, Würstchen verzehrenden Spießbürgern“ bestehen, so versammelte sich doch in Bayreuth „jene internationale society, die der völkische Nationalist verabscheuen mußte“. 4 Am Anfang dieser Neuerungen steht der erste aller musikalischen Superstars: Niccolò Paganini, der 1828 die Alpen überquerte und damit eine beispiellose Karriere als konzertierender Violinist begann. Franz Liszt war bereits im De2 3 4

Canetti, Elias, Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 36. Fischer, Jens-Malte, Große Stimmen, Stuttgart 1993, S. 29. Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Reinbek 1968, S. 129.

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zember 1823 als zwölfjähriges Wunderkind aus dem Habsburgerreich nach Paris gekommen. Erst das Erlebnis Paganinis bewog ihn, sich als dämonischen Verzauberer der Massen, als einen Paganini des Klaviers, neu zu erfinden. Nicht nur verwandelte er die berühmten Capriccen des Geigers in Etüden von beispiellosem technischem Raffinement; er kultivierte auch mit Berechnung den Habitus des über extremste Schwierigkeiten triumphierenden Podiumsheroen, der sich sein Publikum unterwarf. In einer schier unglaublichen Kraftleistung reiste Liszt zwischen 1838 und 1847 – noch in Kutschen! – kreuz und quer durch Europa. Von Glasgow im Norden bis Neapel im Süden, von Cadiz bis Istanbul gab er Konzerte und vergaß dabei auch Kleinstädte wie Limerick, Montauban, Freiburg, Bautzen oder Schitomir in der Ukraine nicht. 1847 zog sich der bedeutendste Pianist des Jahrhunderts, zugleich einer seiner größten Komponisten, plötzlich vom Konzertleben zurück und trat während der restlichen 39 Jahre seines Lebens öffentlich fast nur noch als Dirigent in Erscheinung, der sich allein zu Benefizzwecken auch gelegentlich noch an den Flügel setzte. Liszt prägte das neue Konzertleben wie kein zweiter und wurde dadurch zum reichen Mann und zum berühmtesten Musiker Europas. Die Musik war ihm freilich kein bloßer Broterwerb. Er spielte eigene Kompositionen, aber auch Älteres, das sonst selten zu hören war. Der Tastenzauberer konnte auch zum selbstlosen Diener an den Werken anderer werden. Durch Bearbeitungen und Paraphrasen für Klavier machte er Beethoven-Symphonien, Schubert-Lieder und zahlreiche Opern einem provinzialen Publikum zugänglich, dem die Chance fehlte, dergleichen jemals in Originalgestalt kennenzulernen. Auf diese Weise trug er zur künstlerischen Integration, ja, zur musikalischen Zivilisierung Europas bei. Auch sonst war er ein Lehrer: Der späte Liszt, stets unentgeltlich unterrichtend, wurde zum wichtigsten Klavierpädagogen der Epoche. Zugleich erkannte er mit großer Klarsicht, in welche Widersprüche der Konzertbetrieb den romantischen Künstler, das Genie, verstrickte. 1852, drei Jahre nach dem Tod seines Freundes Chopin (der selbst öffentliche Auftritte eher gemieden hatte), nutzte er die Gelegenheit, um in einem gemeinsam mit der Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein geschriebenen Buch über den polnischen Meister die Zwänge des musikalischen Schaugewerbes schonungslos zu analysieren. 5 Für sich selbst nahm Liszt übrigens den Prozess der Emanzipation von herrscherlichem Patronat zurück. Dem „Goldregen“ des großbürgerlichen Philistertums, dessen er wie kein Zweiter teilhaftig geworden war, zog er die karge Freiheit eines kleinstädtischen Residenzlebens vor. Liszt akzeptierte das Amt eines Hofkapellmeisters in Weimar und lebte fortan, wie Alan Walker in seiner großartigen Biografie schreibt, als „Riese in Liliput“. Das Publikum wurde ihm immer gleichgültiger. Im Alter komponierte er Werke, die erst im 20. Jahrhundert verständnisvolle Spieler und Hörer fanden. Die einstige Inkarnation des musikalischen Showbusiness wurde, allein dem späten Beethoven folgend, zum soziologischen Urtyp des Avantgardisten. 5

Der Quellentext entstammt ursprünglich: Liszt, Franz, Frédéric Chopin, als Artikelserie in: La France Musicale (1851), als Buch Paris 1851, erheblich erweitert 1879, dt. Übersetzung als Band 1 der Gesammelten Schriften, Leipzig 1880.

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Literaturhinweise Adorno, Theodor W., Einleitung in die Musiksoziologie. Zwölf theoretische Vorlesungen, Reinbek 1968. Canetti, Elias, Masse und Macht, Hamburg 1960. Dahlhaus, Carl, Die Musik des 19. Jahrhunderts, in: ders., Gesammelte Schriften in zehn Bänden, hg. von Hermann Danuser, Bd. 5, Laaber 2003, S. 11–390. Ehrlich, Cyril, The Piano: A History, Oxford 2002. Gooley, Dana, The Virtuoso Liszt, Cambridge 2004. Walker, Alan, Franz Liszt, 3 Bde., London 1983–1997.

Quelle Franz Liszt über den Beruf des Virtuosen (1852) 6 Einer allgemeinen These zufolge würde es dem Künstler zum Gewinn gereichen, wenn er nur die Gesellschaft „aufgeklärter Aristokraten“ suchte; denn nicht ohne jegliche Berechtigung rief Graf Joseph de Maistre, als er einst eine Erklärung des Schönen improvisieren wollte, aus: „Schön ist das, was dem aufgeklärten Aristokraten gefällt.“ – Allerdings müßte der Aristokrat vermöge seiner gesellschaftlichen Stellung über allen eigennützigen Beweggründen und materiellen Neigungen stehen, die man als Fehler des Bürgertums betrachtet, in dessen Händen die materiellen Interessen der Nation liegen. Der Adel ist berufen, den Ausdruck aller der heroischen und zarten, den großen Gegenständen und Ideen geweihten Gefühle, welche die Kunst in ihren erhabenen Schöpfungen in all ihrem Glanze strahlen läßt, ja, zu irdischer Unsterblichkeit verklärt, nicht allein zu verstehen, sondern auch anzuregen und zu ermutigen. Dies wäre die These. Fassen wir jedoch die Antithese ins Auge, so müssen wir leider, von Ausnahmefällen abgesehen, zugeben, daß der Künstler zuweilen mehr verliert als gewinnt, wenn er an der heutigen vornehmen Gesellschaft Geschmack findet. Hier entnervt er, er geht zurück, sinkt zum liebenswürdigen Unterhalter, zu einem feinen und kostspieligen Zeitvertreib herab, dafern man ihn nicht geschickt ausbeutet, was man auf den Höhen wie in den Tiefen der aristokratischen Gesellschaft beobachten kann. Bei Hofe verbraucht man seit undenklichen Zeiten die Kraft des Dichters und Künstlers bis zur gänzlichen Erschöpfung und überläßt es dabei anderen Mäzenen, sie würdig zu belohnen, weil man sich einbildet, daß ein kaiserliches Lächeln, eine königliche Belobung und Gunstbezeigung, eine Busennadel oder ein Paar Diamantknöpfe mehr als ausreichend seien, um ihn für alle Verluste an Zeit und Lebenskraft, denen er sich durch Annäherung an diese glühenden Sonnenkreise aussetzte, zu entschädigen. [...] Bei den Königen und Fürsten der Finanzwelt dagegen, wo man die Art und Weise des wahrhaft Vornehmen mehr nachäfft als nachahmt, bezahlt man alles bar, selbst den Besuch eines Potentaten wie Karl V., dem man, wenn er sich herabläßt, sich von seinem Bankier beherbergen zu lassen, seine eigenen Wechsel anbietet, um sein Kaminfeuer anzuzünden. Somit brauchen auch Dichter und Künstler nicht umsonst auf ein Honorar zu warten,

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Liszt, Franz, Schriften zur Tonkunst, hg. von Wolfgang Marggraf, Leipzig 1981, S. 128–131. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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das ihr Alter vor Sorgen schützt. Herr von Rothschild, um nur einen einzigen zu nennen, ließ Rossini an Geldgeschäften teilnehmen, die ihm Reichtümer im Überfluss zuführten. [...] Was ist die Folge solchen Gegensatzes? Die Höfe erschöpfen Genius und Talent des Künstlers, Inspiration und Phantasie des Dichters, so wie die Schönheit aufsehenerregender Frauen durch die fortgesetzte Bewunderung, die sie herausfordert, Mut und Ausdauer des Mannes erschöpft. Das reich gewordene Bürgertum läßt Künstler und Poeten in der Gefräßigkeit des Materialismus untergehen. Hier wissen Frauen und Männer nichts Besseres zu tun, als sie zu mästen, wie man die King-Charles der Boudoir-Sofas mästet, bis sie, angesichts ihres japanischen Porzellantellers, vor Fettsucht umkommen. – Auf diese Weise ist die Herrlichkeit der ersten wie der letzten Stufen der Macht und des Reichtums gleicherweise verderblich für die vom Schicksal mit dem Stempel „schön und verhängnisvoll“ Gezeichneten, die von der Natur Bevorzugten, von denen die Griechen sagten, daß der Herr des Himmels, als er sie bei Verteilung der Güter dieser Erde vergessen hatte, ihnen zum Ersatz das Vorrecht gewährte, zu ihm emporzusteigen, sooft sie den Wunsch dazu verspürten. Da sie nun nicht minder als andere bösen Versuchungen zugänglich sind, so muß die vornehme und feine Welt die Verantwortung für diejenigen übernehmen, die sie aufreiben oder umkommen lassen hinter ihren schweren seidenen Portieren. Vergessen aber die Bevorzugten der Natur ihr Recht, zum Gott des Himmels emporzusteigen, so verlangt die Gerechtigkeit, dass man mit ihnen zugleich auch die verdamme, die, da sie nicht zu hören verstehen, wenn jene die Stimmen einer bessern Welt ertönen lassen, sich damit begnügen, das Talent derselben auszubeuten, ohne Achtung für den göttlichen Funken in ihnen. [...] Da nun der vom Thron ausgehende Sonnenstrahl vielleicht niemals zu ihnen den Weg findet, da der Goldregen, den die Banknoten ausstreuen, die Muse einschläfert, was Wunder, wenn in dieser Voraussicht Künstler und Dichter, statt ihre Offenbarungen den Verständnislosen zu künden, es oftmals vorzogen, Hunger und Frost zu leiden an Leib und Seele und in unfruchtbarer Einsamkeit zu verharren; ihrer eigensten Natur zum Trotz, die des Lichtes und der Wärme, eines Echos und Widerscheins bedarf, soll sie Glauben an sich selber gewinnen.

DIE SCHUBERTIADE. BÜRGERLICHKEIT, HAUSMUSIK UND DAS ÖFFENTLICHE IM PRIVATEN 1 Joachim Eibach

Die Musik Franz Schuberts wird man in die Kategorie ‚Hochkultur‘ einsortieren. Schubert figuriert in der Reihe der großen Komponisten, deren Werke epochen- und länderübergreifend gespielt und gehört werden. Diese ‚klassisch‘ genannte Musik ist wesentlicher Bestandteil des auditiven Gedächtnisses Europas, eine praktizierte Tradition, die auch außerhalb des Kontinents nach wie vor viel beachtet wird und als Imagination mit europäischer Kultur eng verbunden ist. Schuberts Musik ist klassisch geworden. Denn zu seinen Lebzeiten erfuhr sie nur geringe Resonanz in der Öffentlichkeit. Goethe wies die Annäherungsversuche des jungen Komponisten aus Wien wortlos zurück. Später wurde Schuberts Werk als ‚biedermeierlich‘ verniedlicht und auf sentimentale Liedchen von der ‚schönen Müllerin‘ usw. reduziert. Eine Ehrenrettung für Franz Schubert aus musikwissenschaftlicher Sicht braucht es nun längst nicht mehr. Spätestens seit Theodor W. Adornos Essay über Schubert aus dem Jahr 1928 muss man nicht beschwörend, gleich einem älter gewordenen Punk, hinterher rufen: „Schubert’s not dead!“ 2 Mit dem Namen Schuberts verbindet sich indes auch eine distinkte Praxis der Geselligkeit, die ‚Schubertiade‘, deren Analyse konstitutive Aspekte bürgerlicher Kommunikation offen legt. Die Entstehung und Entwicklung dieses Kommunikationsstils, der auf das Haus zentriert ist, ist längst nicht in allen Ländern Europas und erst recht nicht in allen sozialen Schichten gleichermaßen zu verorten. Es handelt sich um ein Ritual, mit allerdings einiger Ausstrahlung, das besonders in solchen Ländern praktiziert wurde und wird, die ein starkes Bildungsbürgertum aufweisen. Die „Schubertiade“ begegnet uns auf einer Sepiazeichnung des Schubertfreunds Moritz von Schwind unter dem Titel „Ein Schubert-Abend bei Josef von Spaun“ aus dem Jahr 1868. 3 Eine geplante Umsetzung des Motivs in einem Ölgemälde wurde durch Schwinds Tod verhindert. Nur ein Fragment des Gemäldes ist vorhanden. Wie der Maler an Eduard Mörike schrieb, meinte er, „dem vernünftigen Teil Deutschlands schuldig zu sein – meinen trefflichen Freund Schubert am

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Essay zur Quelle: Ein Schubert-Abend bei Josef von Spaun. Sepiazeichnung von Moritz von Schwind (1868). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Adorno, Theodor W., Schubert, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 17: Musikalische Schriften IV, Frankfurt am Main 1982, S. 18–33; erinnert sei an ein Graffito, das in den 1980er-Jahren oft an Häuserwände gesprüht wurde: „Punk’s not dead!“ Vgl. Von Schwind, Moritz, Schubertiade (1868).

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Klavier nebst seinem Zuhörer-Kreise“ abzubilden. 4 Die Zeichnung erinnert an eine Geselligkeit im Hause des Wiener Juristen und späteren Direktors der Staatslotterie Spaun im Dezember 1826, bei der Schubert Eigenkompositionen am Klavier vortrug und der neben ihm sitzende Bariton Johann Michael Vogl sang. Schwind wollte nicht nur Schubert, sondern ebenso der Schubertiade ein Denkmal setzen. Diese Wortschöpfung hatte sich im Freundeskreis Schuberts seit 1821 eingebürgert als Bezeichnung für Abende, an denen man sich in wechselnder Runde traf und Schubert musizierte. Sämtliche auf der Zeichnung Schwinds abgebildete Personen, einschließlich des Gemäldes an der Wand, lassen sich als Mitglieder des Schubertschen Freundeskreises und Teilnehmer/innen an Schubertiaden individuell bestimmen. 5 Meistens war die Zahl der Anwesenden bei diesen Abenden allerdings geringer als die abgebildeten 42 Personen. Vermutlich malte Schwind einfach alle diejenigen hinzu, die ihm von Schubertiaden in Erinnerung waren. Es handelt sich um bekannte und weniger bekannte Maler, Musiker, Literaten und Intellektuelle, z. B. am rechten Bildrand zwischen Türrahmen und Kamin Franz Grillparzer, aber auch angehende Juristen und Staatsdiener. Nicht wenige der Besucher/innen hatten einen Adelstitel. So erkennt man links hinter Vogl den hoch aufgeschossenen Sänger Freiherr Karl von Schönstein, gleichsam als Gegenüber und auf Augenhöhe mit dem bürgerlichen Juristen Grillparzer auf der anderen Bildseite. Das Gemälde an der Wand zeigt die von Schubert verehrte Komtesse Karoline Esterházy. Auch sich selbst verewigte der Maler: Schwinds kleiner Kopf mit Schnurrbart ist vor dem linken Türrahmen zu erkennen. Die ins Bild gesetzte Erinnerung Schwinds vermittelt einen wohlgeordneten und harmonischen, etwas statischen Eindruck von dieser Art Geselligkeit in bürgerlichem Interieur. Offensichtlich konnten sich Bürgerliche und Adlige über die Praxis der Musik – weiter gefasst: die Künste – miteinander verständigen. Im Hinblick auf die Geschlechterordnung fällt auf, dass alle Frauen sitzen dürfen bzw. müssen, während die sie überragenden Männer bis auf alte und die Ausführenden in der Regel stehen müssen bzw. dürfen. Die Musik bewegt: Es wird konzentriert, ja andächtig zugehört. Schubertiaden galten später als typisch ‚biedermeierlich‘. Darüber hinaus wurden sie als Prototyp und historisches Vorbild der bürgerlichen Hausmusik verstanden. 6 Um die Entstehung und die – wie sich zeigt – veränderliche Bedeutung dieser kulturellen Praxis, die für die Identität des Bürgertums im Verlauf des 19. Jahrhunderts so bezeichnend, die als Ritual so geliebt oder belächelt werden sollte, soll es hier gehen. Eine klare Definition von Hausmusik gibt es nicht. Als Vor- und Nebenläufer sind zu nennen: Musik als religiöse Praxis im Haus, 4

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Deutsch, Otto Erich (Hg.), Franz Schubert: Sein Leben in Bildern, München 31913, S. 5f.; vgl. auch Art. „Ein Schubert-Abend bei Josef von Spaun“, in: Schubert-Lexikon, hg. von Hilmar, Ernst; Jestremski, Margret, Graz 21997, S. 104f. Schlüssel zum „Schubert-Abend“ von Moritz v. Schwind nach Alois Trost, in: Deutsch, Schubert. Sein Leben, S. 38a. Hilmar, Ernst, Was ist an Schubert ‚biedermeierlich‘? Kurzbemerkungen zu einigen Klischees, in: Kube, Michael u.a. (Hgg.), Schubert und das Biedermeier. Beiträge zur Musik des frühen 19. Jahrhundert, Kassel 2002, S. 17–24.

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musikalische Zirkel von Professoren und Studenten, Musik im Salon, die in einer adlig-höfischen Tradition stehende Kammermusik, aufwändige Bälle in Privathäusern. Vergleichbar sind zudem Lesezirkel, auch wenn dabei meistens nicht musiziert wurde, deren Signifikanz für die Genese eines neuen, in nuce ständeübergreifenden Bürgertums seit Mitte des 18. Jahrhunderts wesentlich bekannter ist. In verschiedenen Formen ist eine Praxis des Musizierens im Haus schon seit dem Mittelalter nachweisbar. Als Begriff findet ‚Hausmusik‘ in Deutschland zu Anfang des 17. Jahrhunderts Verbreitung. Korrespondierende Begriffe wie ‚domestic music‘, ‚music of friends‘, ‚musique domestique‘ oder ‚musica domestica‘ existierten in anderen europäischen Sprachen, was jedoch nicht immer dasselbe meinte. In den protestantischen Gebieten führten vor allem die frommen Hausandachten mit Musik zur Drucklegung zahlreicher Sammlungen geistlicher Lieder unter Titeln wie Musicalische Hauß-Andacht oder Kirchen und Hauß Musica Geistlicher Lieder. 7 Aus der Frühen Neuzeit übernahm die fortan genuin bürgerliche Praxis der Hausmusik nach 1800 die Möglichkeit zur Ausübung durch Laien und den Sinn der ‚Erbauung‘ durch Musik. Allerdings waren das Erbauliche und das Andachtsvolle – als Stimmung in den Gesichtern bei Schwinds Schubertiade gut erkennbar – nun nicht mehr primär christlich buchstabiert. Vielmehr ist die Mode der Hausmusik undenkbar ohne den säkularisierten Bildungsenthusiasmus des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Ganz allgemein betraf dieser Wandel auch die konzertante Praxis. Die Erosion des alten höfischen Mäzenatentums führte zum einen zur Herausbildung eines öffentlichen Konzertwesens, zum anderen zu einer halbprivat-halböffentlichen Form in Gestalt der Hausmusik. 8 In beiden Kontexten entstand parallel die Praxis des stillen, regungslosen Zuhörens, verbunden mit selbst-reflexiver Einkehr, nicht unähnlich der meditativen Haltung beim Gottesdienstbesuch. Die Ausführenden von Hausmusik konnten Angehörige der Familie sein oder große, international bekannte Namen wie Franz Liszt, Niccolò Paganini und Clara Wieck. Dementsprechend changierte der Charakter der Hausmusik zwischen Teestunde und ‚Event‘. Zahlreiche autobiografische Erinnerungen und Bilder hausmusikalischer Praxis im Familienkreis oder aber vor Gästen belegen unzweideutig deren Relevanz während des 19. Jahrhunderts. Nicht unwesentlich ist die genaue Situierung des Geschehens innerhalb des bürgerlichen Hauses. Bereits Jürgen Habermas hat in seinem Strukturwandel der Öffentlichkeit folgende Beobachtung gemacht:

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Salmen, Walter, Haus- und Kammermusik. Privates Musizieren im gesellschaftlichen Wandel zwischen 1600 und 1900, Leipzig 1969, S. 6–9. Petrat, Nicolai, Hausmusik des Biedermeier im Blickpunkt der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse (1815–1848), Hamburg 1986; Art. Hausmusik, in: Schubert-Lexikon, S. 186f.

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Joachim Eibach „Die Sphäre des Publikums entsteht in den breiteren Schichten des Bürgertums zunächst als Erweiterung und gleichzeitig Ergänzung der Sphäre kleinfamilialer Intimität. Wohnzimmer und Salon befinden sich unter dem gleichen Dach“. 9

Das gemütvolle Wohnzimmer umfasst die intime Privatheit der Familie, der repräsentative Salon das Öffentliche im Privaten. Der Ort des Konzerts im Hause entscheidet so mit über Stil und Funktion der Musik. Damit untrennbar verbunden ist die Frage: Wo steht das Klavier? Denn das Klavier ist das bevorzugte Instrument des Bürgertums, nicht nur in Deutschland, sondern auch in England und Frankreich. Aus den Musikmetropolen Wien und Paris wird ein regelrechtes ‚Clavierfieber‘ gemeldet. Klavier bedeutet Wohlstand und Zugehörigkeit zum Bürgertum. Deswegen stellen der Besitz eines solchen und sein Erklingen bei offenem Fenster auf der Straße auch für untere Schichten ein erstrebenswertes Symbol des sozialen Aufstiegs dar. Genau genommen laufen die perspektivischen Linien in der Zeichnung Schwinds auch nicht auf Schubert zu, sondern auf das Klavier mit seinem Notenständer als Mittelpunkt des Geschehens. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts verfestigte sich die Hausmusik zu einem Ritual, das je länger umso mehr einem kanonisierten Repertoire und einer zur Tradition werdenden Bildung verpflichtet war. Das Erlernen eines Instruments, des Klavierspiels zumal, wird für Kinder aus bürgerlichem Hause verbindlich, wenn nicht unausweichlich. In Deutschland wie in England gehört es in der zweiten Jahrhunderthälfte gewissermaßen auch zur Ausbildung der heiratsfähigen ‚höheren Tochter‘, die Klaviatur der guten Sitten zu beherrschen und diese auch hin und wieder Gästen vorzuführen. 10 Einladungen und die gewandte Teilnahme an musikalischen Soiréen bedeuten Zugehörigkeit zur bürgerlichen Gesellschaft. Sie werden zu einem zentralen Mittel bürgerlicher Kommunikation. Auf die Relevanz eines bestimmten Habitus in der Lebensführung, zu dem auch Bildungskonsum und die Pflege von Hochkultur gehören, für eine Definition von Bürgerlichkeit hat bereits Jürgen Kocka hingewiesen. 11 Aufgrund der besonderen lokalen und regionalen Umstände variierte der Umgang mit der Hausmusik. Interessant ist das Beispiel Schweiz. Während im Bürgertum der alten Universitätsstadt Basel im 19. Jahrhundert die aus der Frühen Neuzeit weitergeführte Hausmusik hoch im Kurs stand, war deren Etablierung im patrizischen, stark ständisch geprägten Bern schwieriger. 12 In dem Moment, in dem sich Bürgerlichkeit zu einem hegemonialen Stil entwickelte, bestand die Tendenz, Bildungsgut und damit bestimmte Zugänge zur 9

Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt am Main 1990, S. 115. 10 Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994, S. 139; vgl. zum Folgenden ebd., S. 317. 11 Kocka, Jürgen, Das europäische Muster und der deutsche Fall, in: ders. (Hg.), Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 1: Einheit und Vielfalt Europas, Göttingen 1995, S. 9–84, S. 17 f. 12 Schanzlin, Hans Peter, Basels private Musikpflege im 19. Jahrhundert, Basel 1961; Tanner, Albert, Arbeitsame Patrioten – wohlanständige Damen. Bürgertum und Bürgerlichkeit in der Schweiz 1830–1914, Zürich 1995, S. 426–430, 438.

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Musik primär als „Bildungskapital“ und damit als Strategie sozialer Distinktion im Sinne der Kultursoziologie Pierre Bourdieus einzusetzen. 13 Im Zentrum der Praxis stand dann gewissermaßen nicht mehr die Musik selbst, sondern der performative Akt der Darbietung vor Publikum in repräsentativem Ambiente. Skepsis bezüglich dieser Aneignung von Musik wurde früh laut, bereits zu Lebzeiten Schuberts. Zeitgenössische Musikzeitschriften monieren mangelnde Professionalität und Dilettantismus in der Haus- und Salonmusik. Karikaturen, die aus dem skandinavischen Raum schon aus der Zeit vor der Jahrhundertmitte überliefert sind und damit die Rezeption des Phänomens auch dort bezeugen, weisen in die gleiche Richtung. Zu sehen sind hier nicht andächtig berührte, sondern geistig abwesende, schlafende oder miteinander flirtende Zuhörer/innen, während sich die Ausführenden am Klavier oder mit Gesangsblättern angestrengt abmühen. 14 Die Institutionalisierung der Hausmusik als Ritual bürgerlicher Selbstdarstellung bestimmte im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend diese Art des Zugangs zur Musik. Korrekte Abendgarderobe und gestrenge Klavierlehrer sorgten für stilsichere Orchestrierung. Spätestens im Moment des deutlicheren Hervortretens bürgerlicher Klasseninteressen konnten kritische Stimmen dazu nicht ausbleiben. An dieser Stelle könnte alles gesagt sein – ist es aber nicht. Denn die Bedeutung von Musik ragt über ihren Einsatz als soziale Strategie hinaus und auch der kulturelle Aspekt der Musikpraxis ist historisch nicht gleich bleibend, obwohl die Töne dieselben sein mögen. So hat Bourdieu zwar den Konnex von Musikgeschmack und Klassenzugehörigkeit in der französischen Gesellschaft offen gelegt. Er stellt – nicht allzu überraschend – Korrelationen zwischen sozialer Herkunft, Bildungsabschluss und den Präferenzen der befragten Personen für bestimmte Werke in den Metiers Populärmusik, Chanson und klassische Musik fest. Andererseits „enthält das Kunstwerk“, laut Bourdieu, „immer auch etwas Unsagbares […]; etwas, das sich […] von Leib zu Leib, jenseits der Worte und Begriffe mitteilt, wie musikalischer Rhythmus oder der Ton von Farben. Kunst ist auch etwas ‚Körperliches‘ und Musik, die ‚reinste‘ und ‚spirituellste‘ aller Künste, ist vielleicht die körperlichste überhaupt. Verknüpft mit ‚Seelenzuständen‘, Stimmungen also, die nicht minder Körperzustände sind, entzückt sie, trägt sie mit sich fort, bewegt und erregt sie“. 15

Bourdieu unterscheidet zwischen zwei Arten der Aneignung von Musik: eine rein rezeptive Aneignung über Tonträger, das heißt „eine Musik für Schallplattenfreunde“, und eine Aneignung durch Praktizieren oder unmittelbares sinnliches Erleben der Musik. Der genuine Ort der zweiten Aneignungsweise scheint für Bourdieu nun die bürgerliche Familie zu sein: „all das, was einst mit reiner Musik, dem intimen Wesen des Klaviers, dem Instrument der Mutter, und der Intimität des bürgerlichen Salons assoziiert wurde.“ 16

13 Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 1982, S. 36. 14 Salmen, Haus- und Kammermusik, S. 169–171 und S. 185. 15 Bourdieu, Unterschiede, S. 142 (Hervorhebungen im Original). 16 Ebd., S. 135 (erstes Zitat), S. 136 (zweites Zitat).

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Zurück zu Franz Schubert und der Schubertiade im Wien nach der Jahrhundertwende. Wien kann für diese Zeit als europäische Hauptstadt der Musik gelten. Die Stadt hatte Mozart, Haydn und Beethoven zwar nicht gerade hervorgebracht, aber angezogen. Dabei beschränkte sich die Entwicklung in Wien nicht auf einsame Höhenkammwanderungen genialer Komponisten. Ein expandierender Musikmarkt, das öffentliche Konzertleben, aber eben auch neue bürgerliche Formate wie Musikvereine sowie kleine Konzerte in Salons und Privathäusern sorgten für Aufbruchsstimmung. Schon vor Schubert florierten Kompositionen in Gattungen für den quasi privat-intimen Gebrauch wie Lieder und Instrumentalstücke, insbesondere für das Klavier. Schubert hat die Hausmusik nicht erfunden, auch wenn sein Name später eng mit ihr assoziiert werden sollte. In diesem Rahmen und für diese neue Form der Geselligkeit, die ihm wichtig ist, schrieb er aber seine Musik. Schwind gibt den zentralen, den heiligen Moment der Schubertiaden wieder: Schubert am Klavier. Es ist jedoch nur ein Ausschnitt aus einer umfassenderen Praxis bürgerlicher Geselligkeit. Und der Stil und Kontext dieser Geselligkeit zur Zeit Schuberts unterscheidet sich erheblich von der Hausmusik und musikalischen Soiréen im großbürgerlichen Ambiente, wo sie sich dann als ein formfestes, repräsentatives Ritual etablieren sollte. Über den Ablauf der Schubertiaden, die bis zu Schuberts Tod im Jahr 1828 mehr oder weniger regelmäßig in Wien oder an anderen Aufenthaltsorten Schuberts in Österreich stattfanden, sind wir auch aus Briefen und Tagebucheinträgen der Freunde Schuberts gut informiert. Der Charakter der Treffen, bei denen Musik Schuberts erklang, pendelte zwischen spontanen Treffen im kleinen Kreise, in diesem Fall meist nur Männer, bei denen sich die Freunde gegenseitig Belletristik vorlasen und ihre Gedanken austauschten, und Einladungen im größeren Kreise mit den Frauen (wie auf dem Bild Schwinds). Die einzelnen Elemente und der Ablauf der Schubertiaden variierten auch dann, wenn es sich um eine Einladung mit mehreren Dutzend Personen handelte. Zentral ist der begriffsstiftende Akt, dass Schubert musiziert, sei es allein, mit einem Partner vierhändig am Klavier oder einen Sänger bzw. eine Sängerin begleitend. Speziell ist im Vergleich zur späteren Hausmusik, dass neue, zum Teil noch nie aufgeführte Werke Schuberts intoniert werden. Es wird also keineswegs nur ein klassisches Repertoire ‚gepflegt‘. Nach der Musik wird gegessen, entweder ein kleiner Imbiss oder ein größeres Souper. Dazu trinkt man Punsch und es können Toasts ausgebracht werden, deren Inhalt leider nicht überliefert ist. Manchmal kommt es zu Lesungen von Gedichten. Möglich sind im größeren Kreise auch ein spontaner Tanz, gemeinsame Turnübungen oder ein Ball. Kleine Schubertiaden wie auch Leseabende der Freunde finden zeitweise mehrmals pro Woche statt, manchmal mit, manchmal ohne Musik. Gelesen werden Texte der deutschen Frühromantik, Schiller, Goethe, Friedrich Schlegel oder Heinrich Heine, das heißt auch hier Werke von zeitgenössischer Aktualität. Zum Procedere dieser Art von Geselligkeit gehört es auch, dass der engere Zirkel, inklusive Schubert, zu vorgerückter Stunde noch um die Häuser zieht und in ein Gasthaus einkehrt. Dort oder andernorts wird bis nach Mitternacht gezecht und geraucht. Mitunter wird auf der Straße auch getanzt und herumgealbert. So

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berichtet der spätere Gerichtspräsident Franz von Hartmann – sein Gesicht ist auf der Zeichnung Schwinds mittig unter dem Wandgemälde zu erkennen – in seinem Tagebuch unterm 12. Januar 1827: „Endlich nahmen wir von unseren freundlichen Wirten Abschied und gingen in hellen Haufen zum [Café] Bogner, wo wir einige Pfeifen rauchten und auf der Gasse Schwind laufend durch Mantelschwingen das Fliegen [einer Fledermaus] täuschend nachahmte.“ 17

Wie seine Freunde war Schubert selbst ein häufiger Gast in Kaffeehäusern und in den Literatur- und Musiksalons Wiens. Auch die dortige Geselligkeit ist eher spontan-informeller Art, ein Kommen und Gehen. Die Freunde teilen nicht nur ihre Ideen, ästhetischen Vorstellungen und sonstige Genüsse, sondern – für den jungen Komponisten lebenswichtig – auch manchmal Geld und öfter die Wohnung, ja sogar Kleidungsstücke tauscht man, sofern einigermaßen passförmig, untereinander aus. Zu diesem neuartigen Konzept von Freundschaft als elektiver Geistesverwandtschaft ohne zünftisch-korporative Bindung gehörte es auch, dass sich persönliche Spannungen einstellen. Davon ist in den Briefen und Tagebuchnotizen einige Male die Rede. Auf einem Gemälde aus dem Jahr 1897, das im Auftrag der Stadt Wien aus Anlass des 100. Geburtstages Franz Schuberts angefertigt wurde, sieht man einen selbstbewussten Schubert in einem bourgeoisen Salon mit großem Kronleuchter sitzen. 18 Das Publikum in diesem „Wiener Bürgerhaus“ ist arriviert, die Szenerie glanzvoll. Ob diese Aneignung Schuberts der historischen Schubertiade entspricht oder nicht eher einer nun gänzlich hochkulturellen Adaption gegen Ende des 19. Jahrhunderts, ist die Frage. Auf der Zeichnung des Schubertfreunds Schwind erscheint Schubert nicht als der große ‚Liederfürst‘, vielmehr klein und zurückgesetzt. Er wird von dem breitschultrigen Bariton neben ihm fast völlig verdeckt. Das Interieur bei Schwind ist bürgerlich, aber unauffällig. Der Komponist stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Sein Vater war Schullehrer in einer Wiener Vorstadt. Schubert war von kleiner Gestalt, korpulent und schüchtern. Er vernachlässigte sein Äußeres und roch nach Tabak. Laut den Berichten der Freunde war seine Persönlichkeit sehr ambivalent: phlegmatisch und arbeitsam, melancholisch und gesellig, bescheiden und genusssüchtig. Sein Alltag zwischen Klavier und Kaffeehaus war eher bohèmistisch als biedermeierlich, jedenfalls wenn man die übliche Verwendung der Begriffe zugrunde legt. Diesen Befund wird man für die Geselligkeit und die Musikpraxis der Schubertiade insgesamt geltend machen können, die als kulturelle Form während der avantgardistischen Phase des Bürgertums in mancher Hinsicht offener und spontaner war als das später verfestigte Ritual.

17 Deutsch, Otto Erich (Hg.), Schubert. Die Dokumente seines Lebens, Wiesbaden 1996, S. 399f.; zum Ablauf der Schubertiaden auch Briefe und weitere Tagebucheinträge ebd., bes. S. 115, 206, 275f., 388f., 424 und 488; ferner Art. Schubertiade, in: Schubert-Lexikon, S. 410 f.; Dürr, Walther, Schubert in seiner Welt, in: ders.; Krause, Andreas (Hgg.), SchubertHandbuch, Kassel 1997, S. 2–76, hier S. 26–32. 18 Hilmar, Ernst, Schubert, Graz 1989, S. 193.

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Avantgardistisch war die Bürgerlichkeit in den 1820er-Jahren nicht zuletzt deshalb, weil sie im restaurativen System des österreichischen Kanzlers Klemens Graf von Metternich polizeistaatlich, mit Zensur und Spitzelwesen, unterdrückt wurde. Regelmäßige Zusammenkünfte von Künstlern, Bürgern und Adligen als Freunde und Gleiche in Privathäusern hatten eine klar politische Dimension. Überhaupt erweist sich das bürgerliche Haus als ein öffentlicher Ort; nicht nur für die Formierung eines literarisch-kritischen Publikums im Sinne von Habermas. Die ganz konkret zu verstehende Öffnung des eigenen Hauses zur Gesellschaft hin in Form von Geselligkeit und Einladungen, angereichert durch Bildung, sollte sich für den Status und das Selbstverständnis des Bürgers und der Bürgerin in Zukunft als ausgesprochen wichtig erweisen. Literaturhinweise Budde, Gunilla-Friederike, Auf dem Weg ins Bürgerleben. Kindheit und Erziehung in deutschen und englischen Bürgerfamilien 1840–1914, Göttingen 1994. Dürhammer, Ilja, Schuberts literarische Heimat: Dichtung und Literaturrezeption der SchubertFreunde, Wien 1999. Mettele, Gisela, Der private Raum als öffentlicher Ort. Geselligkeit im bürgerlichen Haus, in: Hein, Dieter; Schulz, Andreas (Hgg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 155–169. Ottomeyer, Hans u.a. (Hgg.), Biedermeier. Die Erfindung der Einfachheit, Ostfildern 2006. Petrat, Nicolai, Hausmusik des Biedermeier im Blickpunkt der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse (1815–1848), Hamburg 1986.

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Quelle Ein Schubert-Abend

Abb. 1: Ein Schubert-Abend bei Josef von Spaun. Sepiazeichnung von Moritz von Schwind (1868) 19

19

Von Schwind, Moritz, Schubertiade (1868). Dieses Bild befindet sich in der Public Domain. Die digitale Reproduktion ist abrufbar unter (12.06.2017). Die Quelle ist zudem online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

ANGLEICHUNG UND ABGRENZUNG. PERSPEKTIVEN DES MUSIKLEBENS IN EUROPA IM 19. JAHRHUNDERT 1 Sven Oliver Müller

I. Kontexte und Kommunikation Vergleicht man die Praktiken, die Geschmäcker und das Repertoire im Musikleben des 19. Jahrhunderts in Europa, fallen zunächst Parallelen auf. In den meisten europäischen Spielstätten waren der spontane Genuss musikalischer Darbietungen und der Konsum von Musik innerhalb eines sozialen Raumes ausschlaggebend. Das Diktum des berühmten Kritikers Eduard Hanslick, wonach sich eine Arie im Unterschied zu anderen Kunstformen, wie ein Glas Champagner genießerisch „schlürfen“ lasse 2, entspricht exakt dem Reisebericht Carl Maria von Webers, der über ein Privatkonzert im Hause Lord Hartfords im März 1826 aus London an seine Frau schrieb: „Herrlicher Saal, 500 bis 600 Personen da. Alles im höchsten Glanze. Fast die gesamte italienische Opern-Gesellschaft… . Da wurden Finales gesungen ec., aber kein Mensch hört zu. Das Gewirr und Geplauder der Menschenmenge war entsetzlich. Wie ich meine Polacca in Es spielte, suchte man einige Ruhe zu stiften, und ungefähr 100 Personen sammelten sich theilnehmendst um mich; was sie aber gehört haben, weiß Gott, denn ich hörte selbst nicht viel davon. Ich dachte dabei fleißig an meine 30 Guineen und war so ganz geduldig. Gegen 2 Uhr ging man endlich zum Souper, wo ich mich aber empfahl und in mein Bett eilte.“ 3

Im 19. Jahrhundert entwickelten sich viele musikalische Spielorte zu gesellschaftlichen Begegnungsräumen in Europa. Gerade in den europäischen Hauptstädten dienten Opernhäuser und Konzertsäle den adeligen und den großbürgerlichen Eliten zur Demonstration ihrer politischen, sozialen und ökonomischen Macht. Doch auch Kleinbürger oder Bedienstete konnten sich oft preiswertere Plätze leisten. Dieser Kulturtransfer erfasste auch die Städte jenseits der großen Musikzentren London, Paris, Wien, Berlin, Mailand oder St. Peterburg. Erklärungsbedürftig sind die zunehmende Ähnlichkeit des Repertoires, der ästhetischen Präferenzen und der Aufführungen selbst, aber auch der gesellschaftlichen Funktion und des Hörverhaltens. Dieser Befund erscheint umso erklärungsbedürftiger, wenn man die deutlichen Unterschiede in der Organisation und der sozialen Zusammensetzung des jeweiligen Konzert- und Opernpublikums in den europäischen Städten 1

2 3

Essay zur Quelle: Mark Twain: Bummel durch Europa (1878). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Hanslick, Eduard, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag Zur Revision der Aestethik der Tonkunst, Leipzig 1854, S. 73. Von Weber, Carl Maria, Reise-Briefe von Carl Maria von Weber an seine Gattin Carolina, hgg. von seinem Enkel, Leipzig 1886, Brief vom 23.3.1826, S. 202.

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bedenkt. Denn es ist keineswegs selbstverständlich, dass sich ein preußischer Handwerker und ein englischer Aristokrat zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Oper ähnlich benahmen und überaus ähnlichen Aufführungen ein und derselben Werke lauschten. 4 Wichtig ist es zu diskutieren, warum gerade die Kunstmusik in vielen europäischen Großstädten im 19. Jahrhundert von einer privaten zu einer öffentlichen und mithin eminent sozialen, ökonomischen und politischen Angelegenheit avancierte. Welche Folgen hatte diese neue Erwartungshaltung der Eliten in Europa für die musikalischen Aufführungen selbst und für die gesellschaftliche Funktion der Musik in den europäischen Metropolen? Besonders vielversprechend scheint hier die Frage nach Angleichungsprozessen und Abgrenzungsstrategien bestimmter Praktiken, Geschmäcker und Konsumgewohnheiten zwischen den Ländern und ihren Spielstätten zu sein. Denn Opern- und Konzertaufführungen als Teil einer europäischen Kultur zu beschreiben, beleuchtet gemeinsame und unterschiedliche Formen der Musikproduktion und Rezeption. Dabei geht es nicht nur um einen Vergleich des Spielbetriebs in den Hauptstädten, sondern in erster Linie um die Beschreibung parallel geführter Diskurse und gelebter Verhaltensmuster. Ein linearer in eine Richtung verlaufender Prozess wird dabei nicht zutage gefördert, sondern nur Interpretationen und Variationen sozialer Interessen, kultureller Werte und politischer Utopien an bestimmten Orten. 5 Auch die historische Forschung beschäftigt sich intensiv mit der Frage nach der Rezeption von Musik im 19. Jahrhundert. Das belegen etwa die Studien von Celia Applegate, William Weber, Sven Oliver Müller oder Philip Ther. 6 Denn der Wert der Musik für die Menschen erschließt sich durch eine Analyse der Notenwerte allein nur unzureichend. Das Hören von Musik ist mindestens so sehr ein gesellschaftlicher wie ein rein musikalischer Prozess. Im Anschluss an die Konjunktur konstruktivistischer Ansätze in den Kulturwissenschaften scheint es unstrittig, dass auch die Bedeutung von Musik nicht unverrückbar besteht, sondern 4

5 6

Vgl. Kramer, Lawrence, Music As Cultural Practice, 1800–1900, Berkeley 1990; Kaschuba, Wolfgang, Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Kocka, Jürgen, Bürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 2, München 1988, S. 92–127; Lepsius, Rainer Maria, Das Bildungsbürgertum als ständische Vergesellschaftung, in: ders. (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Bd. 3, Stuttgart 1992, S. 9–18. Allerdings liegen bislang nur relativ wenige größere empirische Studien über Art und Häufigkeit der musikalischen Kontakte zwischen den großen Städten des 19. Jahrhunderts vor. Applegate, Celia, Bach in Berlin. Nation and Culture in Mendelssohn’s Revival of the St. Matthew Passion, Ithaca 2005; Weber, William, Music and the Middle Class. The Social Structure of Concert Life in London, Paris and Vienna between 1830 and 1848, Aldershot ²2004; Müller, Sven Oliver, Das Publikum macht die Musik. Das Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014; Ther, Philipp, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, Wien 2006. Vgl. Becker, Tobias, Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880–1930, München 2014; insges. Ross, Peter, Grundlagen einer musikalischen Rezeptionsforschung, in: Rösing, Helmut (Hg.), Rezeptionsforschung in der Musikwissenschaft, Darmstadt 1983, S. 377–481, und bereits Adorno, Theodor W., Typen musikalischen Verhaltens, in: ders., Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt am Main 71989 (11962), S. 14–34.

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immer auch von den Hörern selbst erzeugt wird. Dabei ist sie von zentraler Bedeutung, da der gesellschaftliche Erfolg der Oper und des Konzerts als Kunstformen und als Institutionen im 19. Jahrhundert nicht zuletzt darauf beruhte, was in sie hineingedacht, was von ihr an gesellschaftlicher und sozialer Wirkung erwartet wurde. Ein wichtiger Anstoß für die Forschung ging 1995 von James Johnsons Studie Listening in Paris aus, welche die sich wandelnde Beziehung zwischen der in Opern- und Konzerthäusern aufgeführten Musik und den Publikumsreaktionen vom späten 18. ins frühe 19. Jahrhundert untersucht. Seine pointierte, doch einer international vergleichenden Überprüfung harrende These besagt, dass sich in Paris ein schweigendes Hörverhalten des Publikums in Folge neuer Kompositionen und neuer Aufführungspraktiken durchsetzte. 7 Genau hier besteht weiterhin das Forschungspotential für eine interdisziplinär orientierte Geschichtswissenschaft. Musikalische Aufführungen bieten den analytischen Vorzug, verschiedene Segmente der Gesellschaft wie Bürgertum und Adel nicht als abstrakte Konstrukte, sondern als konkrete Handlungs- und Erfahrungsträger an bestimmten Orten in Aktion beobachten zu können. Mehr noch: Der Umgang der Produzenten und Konsumenten mit der Musik des 19. Jahrhunderts muss als soziales und politisches Handeln deutend verstanden und dadurch im Idealfall erklärt werden. Da das Erlebnis von Musik niemals allein von der Musik abhängt, sondern sozial vorgeprägt ist, kommt es darauf an, das Spannungsfeld zwischen der Aufführung, dem Erwartungshorizont des Publikums und seinen Reaktionen zu vermessen. Die Vielzahl der zu berücksichtigenden Gesichtspunkte umfasst die Musik selbst, deren Aufführungspraxis, die Rezeption durch das Publikum, sowie die sozialen Bedingungen und kulturellen Weltbilder in einer Gesellschaft, die diese Aneignung strukturieren.

II. Bedingungen der Professionalisierung des Musiklebens Um 1800 hatte sich vor allem in West- und in Mitteleuropa eine neue Öffentlichkeit herausgebildet. Die Metropolen beförderten diesen Prozess, weil sie die Zugänglichkeit zu Informationen erhöhten. Die Großstädte bildeten Räume, die die Begegnung und den Austausch einander fremder Menschen wahrscheinlich machten. Während in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts verschiedene sozial und regional abgegrenzte Öffentlichkeitsformen nebeneinander bestanden, bildete sich in den Großstädten nun ein überregionales Beziehungs- und Kommunikationsnetz heraus. Sicher, diese Verkehrskreise waren zahlenmäßig und sozial beschränkt: Doch in den Salons und Kaffeehäusern, in den frühen literarischen Zirkeln und in 7

Johnson, James H., Listening in Paris. A Cultural History, Berkeley 1995. Vgl. zur Untersuchung des Publikumsverhaltens zudem Müller, Das Publikum und die Überlegungen von Hall-Witt, Jennifer L., Representing the Audiences in the Age of Reform. Critics and the Elite at the Italian Opera in London, in: Bashford, Christina; Langley, Leanne (Hgg.), Music and British Culture, 1785–1914. Essays in Honour of Cyril Ehrlich, Oxford 2000, S. 121–144; Huebner, Steven, Opera Audiences in Paris 1830–1870, in: Music and Letters 70 (1989), S. 206–225.

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den sich seit der Wende zum 19. Jahrhundert rapide vermehrenden Zeitungen und schließlich durch die Erfindung der Eisenbahn formierten sich reale und mediale Begegnungsräume. Während die baulichen Veränderungen der Städte den Verkehr von Personen erleichterten, beschleunigten die gedruckten Medien den Transfer von Nachrichten und die intellektuelle Teilnahme von Tausenden persönlich nicht Anwesender. Der unvermittelte und der vermittelte Austausch der An- und Abwesenden erzeugte ein Gefühl der Zusammengehörigkeit bei denjenigen, die in der Lage waren, sich dieses Kommunikationsstils zu bedienen. 8 Eine wichtige Quelle dieser wachsenden Kommunikation war der wirtschaftliche Erfolg, zumal des erstarkten Bürgertums. Erst der neue Wohlstand der gesellschaftlichen Eliten ermöglichte seit den 1820er-Jahren einen bis dahin ungekannten kulturellen Verbrauch – den Erhalt etablierter und die Entstehung neuer Spielstätten sowie die Verbreitung neuer Konzertserien. Metropolen wie Paris, London oder St. Petersburg boten den Eliten unübertreffliche Möglichkeiten – politisch als Hauptstädte, wirtschaftlich durch die Kapitalkonzentration und die Konsummöglichkeiten, sozial durch den Fortbestand der Aristokratie und die Ausdifferenzierung des wachsenden Bildungs-, Wirtschafts- und Kleinbürgertums. 9 Kulturelles Wissen wurde für immer mehr Menschen zugänglich: visuell und akustisch, präsent und erfahrbar. Das Reden und Schreiben über Kunstwerke im Allgemeinen und über Musik im Besonderen bildete für städtische Eliten einen wesentlichen Bestandteil öffentlicher Kommunikation. Die Metropole beförderte die Kunstmusik durch das Zusammenspiel der im Stadtbild angelegten baulichen Ordnungen und künstlerischen Vorführungen. Da die Oper und das Konzert im Unterschied zu anderen Kunstformen der Aufführung eines Publikums bedürfen, stellen musikalische Darbietungen ohnehin öffentliche Ereignisse dar. Literatur und Werke bildender Kunst beispielsweise lassen sich auch im Privaten genießen, Opern und Sinfonien vor der Erfindung der Schallplatte nicht. Eine wichtige Veränderung im Unterschied zum Musikleben des 17. und frühen 18. Jahrhunderts aber war nun, dass sich musikalische Aufführungen zunehmend von ihren höfischen oder religiösen Zusammenhängen lösten. Vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert hatten nur Wenige die Gelegenheit, Kunstmusik außerhalb der Kirche oder in Gesellschaft von Adeligen zu hören. Die Möglichkeit, Musikdarbietungen gegen Eintritt zu besuchen, verwandelte Musik nicht nur in eine Ware, sondern in einen öffentlichen Gegenstand. Indem Konzert- und Opern8

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Vgl. Olsen, Donald J., Die Stadt als Kunstwerk: London, Paris, Wien, Frankfurt am Main 1988; Matzerath, Horst, Urbanisierung in Preußen 1815–1914, 2 Bde., Stuttgart 1985; Mommsen, Wolfgang J., Stadt und Kultur im Deutschen Kaiserreich, in: ders., Bürgerliche Kultur und politische Ordnung. Künstler, Schriftsteller und Intellektuelle in der deutschen Geschichte 1830–1933, Frankfurt am Main 2000, S. 11–45; Zerback, Ralf, Die Verbürgerlichung des städtischen Raumes. Zur baulichen Entwicklung der Haupt- und Residenzstadt im 19. Jahrhundert, in: Hein, Dieter (Hg.), Bürgerkultur im 19. Jahrhundert. Bildung, Kunst und Lebenswelt, München 1996, S. 215–233. Vgl. Sennett, Richard, The Fall of the Public Man, London 1977; ders., The Conscience of the Eye. The Design and Social Life of Cities, London 1993.

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aufführungen zugänglich wurden und sich im 19. Jahrhundert zu eigenen Institutionen entwickelten, übten sie die Funktion kommunikativer Räume aus. Durch die medialen Vermittlungs- und ökonomischen Marktmechanismen erlangten musikalische Aufführungen den Wert von Informationen. Musikalische Aufführungen stimulierten Debatten über ästhetische Präferenzen und kulturelle Normen. Im Auditorium kommunizierte die Gesellschaft mit sich selbst. 10 Stefan Zweig beschrieb in seiner literarischen Rückschau auf das Kulturleben im Wien des späten 19. Jahrhunderts eine Gesellschaft, die ihre Freude und ihr Prestige auch dadurch bezog, dass jedermann auf Musiker und Schauspieler, auf ihre Verdienste und Meriten achtete. Oft stiftete ein gemeinsamer kultureller Geschmack unter fremden Menschen kulturelle Beziehungen. „Das kaiserliche Theater […] war der Mikrokosmos, der den Makrokosmos spiegelte, der bunte Widerschein, in dem sich die Gesellschaft selbst betrachtete, der einzige richtige ‚cortigiano‘ des guten Geschmacks. […] Die Bühne war statt einer bloßen Stätte der Unterhaltung ein gesprochener und plastischer Leitfaden des guten Benehmens, der richtigen Aussprache, und ein Nimbus des Respekts umwölkte wie ein Heiligenschein alles, was mit dem Hoftheater auch nur in entferntester Beziehung stand. Der Ministerpräsident, der reichste Magnat […] konnte in Wien durch die Straßen gehen, ohne daß jemand sich umwandte; aber […] eine Opernsängerin erkannte jede Verkäuferin und jeder Fiaker.“ 11

Kaum eine Stadt, die in Europa etwas auf sich hielt, wollte auf Räume musikalischer Vergnügungen und gesellschaftlicher Repräsentation verzichten. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts nur eine relativ überschaubare Anzahl von Hoftheatern oder Konzertsälen existierte, hatten diese Spielstätten an der Wende zum 20. Jahrhundert gleichsam flächendeckend ein kulturelles Netz über Europa gelegt. Ob Zentrum oder Peripherie, ob industrialisiert oder agrarisch, im Deutschen Reich und im Habsburgerreich leistete sich fast jede größere Stadt prachtvolle Opern- und Konzerthäuser. Die Anzahl der Theaterbauten nahm zwischen 1840 und 1900 schnell zu. Im Jahr 1900 gab es in Wien 10, in Berlin 22, in Paris 36 und in London sage und schreibe 61 Musik- und Sprechtheater. Während in Großbritannien und in Frankreich aufgrund der Zentralisierung auch das Musiktheater auf relativ wenige Standorte beschränkt blieb, ist allein für Italien die Anzahl der Opern- und Theaterhäuser für die späten 1860er-Jahre auf unerhörte 942 Gebäude geschätzt worden, von denen allein zwischen 1861 und 1868 nicht weniger als 198 errichtet wurden. Wenn viele dieser Einrichtungen in Ermangelung finanzieller Ressourcen auch nur saisonal bespielt wurden und lange eher bespielbaren Lagerhäusern ähnelten, verwandelte sich im Laufe des Jahrhunderts insgesamt die Mehrzahl der Spielstätten in zentrale urbane Repräsentationsbauten. In der Architektur ähnelten sich diese Häuser sehr stark, beim Wiener Architektenbüro Helmer und Fellner konnte man sie zu relativ geringen Kosten quasi von

10 Grundlegend hierzu immer noch Habermas, Jürgen, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Frankfurt am Main 41990, bes. S. 86–107. Vgl. Sennett, Richard, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens: die Tyrannei der Intimität, Berlin 2008, S. 71–91. 11 Zweig, Stefan, Die Welt von gestern. Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt am Main 1995 (11944), S. 30.

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der Stange bestellen. Allein dieses Büro errichtete bis zur Jahrhundertwende von Aachen und Zürich im Westen, bis Odessa im Osten 48 repräsentative Theaterbauten. 12 Als Louis Spohr 1812 Kapellmeister im Theater an der Wien wurde, war für ihn diese Metropole „unbestritten Hauptstadt der musikalischen Welt“. 13 Viele große Musiker des 19. Jahrhunderts unternahmen Pilgerfahrten zu Haydns, Mozarts und Beethovens Wirkungsstätten. Von der Jahrhundertmitte vielleicht abgesehen, riss in Wien das kulturelle Erbe nicht ab. Für viele junge Komponisten blieb Wien die Wahlheimat (Brahms, Bruckner, Mahler, Wolf). Nicht zuletzt machten die vielfältigen Institutionen der Kaiserstadt und besonders die Kultur der Adelshäuser Wien zu einem musikalisch bedeutsamen Ort. Adelige Familien engagierten sich als Veranstalter zunächst halböffentlicher Konzerte und finanzierten ohne Bedenken selbst Beethovens Karriere. 14 Wenn Wien als führende Metropole der Komponisten bezeichnet werden konnte, dann war London die führende Metropole des musikalischen Konsums. Die erfolgreich befriedigte Nachfrage nach den besten Künstlern und den wichtigsten Werken spiegelte die ökonomische Macht Londons wider und stellte die musikalischen Konsummöglichkeiten in Wien und in Berlin deutlich in den Schatten. Die Royal Philharmonic Society vergab großzügig dotierte Auftragswerke – beispielhaft ist Beethovens IX. Sinfonie 1815. Den Londoner Spielplan beherrschten das italienische und das deutsche Repertoire. Nicht nur das: Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und dem Aufstieg „britischer“ Komponisten wie Arthur Sullivan und Edward Elgar spotteten viele innerhalb und außerhalb Großbritanniens über „das Land ohne Musik“. Die einzigartige Vielfalt des Londoner Konzertlebens reflektierte den wachsenden Unterhaltungsbedarf einer zu ungekanntem Reichtum gekommenen städtischen Elite. Wie in Wien formierten sich auch in London zunächst private Vereine, deren Orchester aus adeligen bzw. bürgerlichen Amateuren bestanden und für öffentliche Aufführungen um wenige Berufsmusiker ergänzt wurden. Vor der Gründung der Royal Philharmonic Society im Jahre 1813 existierte hier kein permanent etabliertes Sinfonieorchester. Nach heutigen Maßstäben waren im frühen 19. Jahrhundert alle diese Orte Kammermusiksäle, die lediglich 300 (Argyll Rooms), 500 (Hanover Square Rooms) bzw. 800 (Konzertsaal im Her Majesty’s 12 Sorba, Carlotta, Teatri. L´Italia del Melodramma Nell’ Etá del Risorgimento, Bologna 2001, S. 17–33; Forsyth, Michael, Bauwerke für Musik. Konzertsäle und Opernhäuser, Musik und Zuhörer vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1992. 13 Spohr, Louis, Lebenserinnerungen, hg. von Göthel, Folker, Bd. 1, Kassel 1860/61, S. 155. 14 Hanson, Alice M., Die zensurierte Muse. Musikleben im Wiener Biedermeier, Wien 1987; Botstein, Leon, Music and its Public. Habits of Listening and the Crisis of Musical Modernism in Vienna 1870–1914, Harvard 1985; Leppert, Richard, Music and Image: Domesticity, Ideology and Socio-Cultural Formation in Eighteenth-Century-England, Cambridge 1988; DeNora, Tia, Beethoven and the Construction of Genius. Musical Politics in Vienna, 1792–1803, Berkeley 1997; Hadamowsky, Franz, Wien – Theatergeschichte. Von den Anfängen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs, Wien 1988; insges. Die Beiträge in Erickson, Raymond (Hg.), Schubert’s Vienna, New Haven 1997.

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Theatre) Personen fassten. In London – und auch in Paris – waren Konzertsäle zunächst viel kleiner als die bis zu 2.000 Zuschauer fassenden Opernhäuser. Bereits die Abmessungen der Bauwerke für Musik zeigten ihren sozialen Stellenwert. 15 Am Ende des Jahrhunderts aber besuchten über 10.000 Besucher wöchentlich die nun viel größer gewordenen Konzertsäle in London, und selbst in Städten mittlerer musikalischer Bedeutung wie Manchester etablierten sich neue Konzertserien. Keine andere Stadt in Europa konnte darin mit London konkurrieren. Entsprechend fiel die staunende Bewunderung reisender Deutscher aus. Exemplarisch für die London-Begeisterung deutscher Musiker und Journalisten war die Freude Eduard Hanslicks. Nur noch in Superlativen schwärmte er vom größten Konzertsaal der Welt. „Die grandiose Albert Hall steht auf der Stelle des Weltausstellungsgebäudes von 1862 und wurde im März 1871 von der Königin persönlich eröffnet. [...] Zwölftausend Personen haben darin Platz, nicht etwa gedrängt, sondern auf bequemen, von allen Seiten amphitheatralisch aufsteigenden Sitzen, zu welchen 26 verschiedene Eingänge führen, nebst einem zu den obersten Plätzen emporragenden Ascenseur, der fortwährend funktionirt. Und dieser unabsehbare Raum soll hinreichend gefüllt, ja ausverkauft sein in einem Concert? Ich habe das Unglaubliche selbst gesehen und kann mir nichts Imposanteres [...] denken.“ 16

Berlin hatte der musikalischen Reputation Wiens und dem kommerziellen Potential Londons lange nichts Vergleichbares entgegenzusetzen. Die Residenz der preußischen Könige hatte trotz ihrer großzügigen Anlage bis zum zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts noch eher das Erscheinungsbild einer mittleren Garnisonsstadt. Die kulturelle Freiheit beschränkten preußische Vorschriften (das Religionsund Zensuredikt 1788) und das politische Klima der Restauration. In Berlin wirkten zunächst keine deutschen Komponisten von Rang. Musikalische Innovationen erhielt die Stadt bis 1850 vor allem durch die Leistungen von Komponisten, die im Ausland Karriere gemacht hatten und dann in Berlin als Generalmusikdirektoren wirkten (Spontini, 1820–1841, Meyerbeer, 1842–1846). Die Berliner Hofoper war das erste bedeutende Opernhaus überhaupt, das als frei stehendes Gebäude errichtet wurde. Damit wirkte es als ein frühes Element der Urbanität und verlieh dem anderweitig noch wenig konturierten Zentrum der Stadt fortan sein Gesicht. Auch 15 Vgl. Hall-Witt, Jennifer L., Fashionable Acts. Opera and Elite Culture in London, 1780–1880, Durham 2007; dies., Reforming the Aristocracy: Opera and Elite Culture, 1780–1860, in: Burns, Arthur; Innes, Joanna (Hgg.), Rethinking the Age of Reform: Britain 1780–1850, Cambridge 2003, S. 220–237; Weber, William, Redefining the Status of Opera. London and Leipzig, 1800–1848, in: Journal of Interdisciplinary History 36 (2006), H. 3, S. 507–532; Fenner, Theodore, Opera in London. Views of the Press 1785–1830, Carbondale 1994; Gunn, Simon, The Public Culture of the Victorian Middle Class. Ritual and Authority in the English Industrial City 1840–1914, Manchester 2000; McVeigh, Simon, Concert Life in London from Mozart to Haydn, Cambridge 1993; Hughes, Meirion, The English Musical Renaissance and the Press 1850–1914: Watchmen of Music, Aldershot 2002; Becker, Inszenierte Moderne. 16 Hanslick, Eduard, Musikalisches Skizzenbuch. Der „Modernen Oper“ IV. Theil. Neue Kritiken und Schilderungen, Berlin 1888, S. 269, S. 278. Hanslicks Begeisterung erhöhte die tatsächliche Anzahl der Besucher (8.000) auf 12.000.

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in Berlin war die Oper Staatsoper, die regierenden Monarchen von Friedrich II. bis Wilhelm II. finanzierten die Vorstellungen nicht nur aus dem laufenden Etat, sondern mischten sich oft direkt in die Gestaltung des Spielbetriebes ein. 17

III. Themenfelder Um die Erscheinungsformen des Musiklebens in Europa vergleichen zu können, mithin die künstlerische Produktion und die gesellschaftliche Rezeption an den verschiedenen Orten, ist der Blick auf vier Themenfelder hilfreich, deren Bedeutung auf dem ganzen Kontinent nicht zu unterschätzen ist: Erstens die Untersuchung der jeweiligen Aufführungsorte als zentrale Institution der jeweiligen Stadtgesellschaften und als Plätze sozialer Distinktionsmechanismen; zweitens die Rolle der Oper und des Konzerts als Schauplatz politischer Deutungskämpfe; drittens die Rekonstruktion des Hörverhaltens des Publikums und viertens die Konvergenz des Repertoires.

III.1 Spielstätten der Elitenkultur Im Zugang zum Opernhaus und Konzertsaal manifestierte sich die Zugehörigkeit zur Gesellschaft des 19. Jahrhunderts. Die Funktion des Opernbesuches erschöpfte sich nicht im musikalischen Genuss. Vielmehr kam es darauf an, den eigenen Status sichtbar zu machen. Nicht dass die Musik unwichtig war – aber sie bildete eben nur ein Element eines gesellschaftlichen Ereignisses, zu dem das „sehen und gesehen werden“, der soziale Kontakt, das geistreiche Gespräch, das gute Essen und nicht zuletzt der Kontakt mit dem anderen Geschlecht ebenso selbstverständlich zählten. Die Besucher repräsentierten sich nach außen, indem sie sich abgrenzten und demonstrierten gleichzeitig nach innen ihren eigenen Status durch den Aufwand an Garderobe, durch die Ordnung und Preisklasse der Sitze oder das kompetente ästhetische Urteil. Bereits die repräsentative Architektur der vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in beinahe allen europäischen Metropolen erbauten neuen Opernhäuser reflektierte die sozialen und politischen Strukturen. Man betrat etwa in London und Berlin das Gebäude streng hierarchisch durch verschiedene Eingänge und wohnte der Aufführung auf unterschiedlich teuren 17 Rehm, Jürgen, Zur Musikrezeption im vormärzlichen Berlin. Die Präsentation bürgerlichen Selbstverständnisses und biedermeierlicher Kunstanschauung in den Musikkritiken Ludwig Rellstabs, Hildesheim 1983; Mahling, Christoph-Helmut, Zum „Musikbetrieb“ Berlins und seinen Institutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Dahlhaus, Carl (Hg.), Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert, Regensburg 1980, S. 27–284; Müller, Sven Müller, Die musikalische Weltmacht. Zum Stellenwert der Musikrezeption im Deutschen Kaiserreich, in: ders.; Torp, Cornelius, (Hgg.), Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009, S. 246–261; Gramit, David, Cultivating Music. The Aspirations, Interests, and Limits of German Musical Culture, 1770–1848, Berkeley u.a. 2002; Jefferies, Matthew, Imperial Culture in Germany, 1871–1918, Houndmills 2003.

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und daher unterschiedlich prestigeträchtigen Plätzen im Parkett, in der Loge oder auf dem Balkon bei. Selbst in der Pause setzte sich die soziale Separierung in unterschiedlichen Foyers fort. 18 Der Gang in die Spielstätten dieser Metropolen lässt sich damit als öffentlicher Akt eines demonstrativen Konsums im Sinne von Thorstein Veblen begreifen. 19 Die ungeschriebenen Verhaltens- und Repräsentationsregeln wirkten für Bürger und Adelige, Städter und Landbewohner, Männer und Frauen gleichermaßen als Distinktionsbarrieren. Die Fähigkeit, Konventionen und Verhaltensmuster durch Beobachtung imitieren und adaptieren zu können, zu wissen, welche Kommunikations- und Verkehrsformen Geltung beanspruchen konnten, war für den Erwerb und die Behauptung gesellschaftlicher Positionen und für die Errichtung und die Überwindung sozialer Schranken entscheidend. 20 Folgt man Pierre Bourdieus Habituskonzept, wirkt keine Praxis stärker klassifizierend, das heißt die Verhaltensmuster einer sozialen Gruppe ausdrückend und prägend, als der öffentliche Musikkonsum. Bereits der Übertritt aus der Welt des alltäglichen Lebens in die grandiose Feierlichkeit der pompösen Säle, vor allem aber das Wissen über die Musik, über Komponisten, Stile, Sänger und Dirigenten ist demnach Herrschaftswissen, an welchem die Eingeweihten erkennen, wer zu den „happy fews“ gehört und wer nicht. Denn wer die kulturellen Regeln nicht hinreichend beherrscht, wird durch sie ausgeschlossen. 21 Der öffentlichen Aneignung und Bewertung von Musik im Kontext eines gesellschaftlichen Regelsystems fiel damit eine doppelte Funktion in den europäischen Gesellschaften des 19. Jahrhunderts zu: Zum einen festigte sie durch eine habitualisierte Praxis und den Bezug auf ideelle Werte soziale Identität. Zum anderen wirkte der praktizierte Kunstgeschmack als Distinktionsmittel, um Grenzen und Distanzen innerhalb der Gesellschaft zu wahren, um sich als Individuum wie als soziale Gruppe kenntlich zu machen. Das öffentliche Hören von Musik kreierte und legitimierte soziale und politische Ungleichheit. Dass die Oper und das Konzert als ein Mittel der gesellschaftlichen Distinktion gleichzeitig aber auch allgemein zugängliche öffentliche Orte waren, ist nur ein scheinbarer Widerspruch. Zum einen waren die Häuser in den europäischen Metropolen abgesehen von sakralen Räumen die wichtigsten Treffpunkte der Gesellschaft und demzufolge auch Foren, die zumindest dem Anspruch nach sozial 18 Vgl. McVeigh, Simon, The Musician as Concert-Promoter in London, in: Bödeker, HansErich (Hg.), Le concert et son public. Mutations de la vie musicale en Europa de 1780 à 1914 (France, Allemagne, Angleterre), Paris 2002, S. 71–89; Bitter-Hübscher, Marieluise, Theater unter dem Grafen Brühl (1815–1828), in: Dahlhaus, Studien, S. 415–428. 19 Veblen, Thorstein, Theorie der feinen Leute, München 1971 (11899). Der englische Originaltitel („The Theory of the Leisure Class“) charakterisiert den zur Schau gestellten Müßiggang und Reichtum einer von täglicher Lohnarbeit befreiten Elite weit treffender. 20 So mit Blick auf den Tanz und die Hofgesellschaft Braun, Rudolf; Gugerli, David, Macht des Tanzes – Tanz der Mächtigen. Hoffeste und Herrschaftszeremoniell 1550–1914, München 1993, bes. S. 166–202. 21 Bourdieu, Pierre, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt am Main 91997; ders., Elemente zu einer soziologischen Theorie der Kunstwahrnehmung, in: ders., Zur Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt am Main 61997, S. 159–201.

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inklusiv waren. Zum anderen begriffen Abseits der imperialen Zentren die jeweiligen regionalen Eliten die Spielstätten auch als ein Instrument der politischen und sozialen Emanzipation. In vielen deutschen Städten und ebenso in Oberitalien, in Böhmen, Polen, Ungarn sowie der Ukraine engagierten sich gerade im Vormärz breite Segmente der Gesellschaft für die Oper. Insbesondere dann, wenn die Oper zum Repräsentationsobjekt der Nation und zum Movens der Nationalbewegung wurde, wie zum Beispiel in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bei den Tschechen, avancierte das Musiktheater zum Kristallisationspunkt von Massenbewegungen. Wie Dieter Langewiesche in seinen Studien zur Sängerbewegung gezeigt hat, 22 war dies bis zur Reichsgründung auch im deutschsprachigen Raum der Fall.

III.2 Politische Herausforderungen Opernaufführungen und Konzertabende boten ein Forum für die Politisierung der europäischen Gesellschaften. Auf den ersten Blick dominiert die gesellschaftlich systemstabilisierende Funktion. Die Aufführung muss in direktem Zusammenhang mit dem soziokulturellen Habitus des Hof- und Herrschaftsstils aristokratischer und bürgerlicher Eliten gesehen werden. Die prachtvoll ausgestatteten Säle, die komplexen zeremoniellen Traditionen und die aufwendig dargebotene Musik nahmen (und nehmen) die unterschiedlichsten politischen Akteure für ihre öffentliche Repräsentation in Anspruch. Durch ihre choreografische Zelebrierung wurde die Gesellschaftsordnung visuell und akustisch in ihrer Rechtmäßigkeit bestätigt. Eine musikalische Galaaufführung für ein Staatsoberhaupt etwa versprach Legitimation durch öffentliche Kommunikation. Die Zeremonie folgte strengen Regeln, die auf die Beobachtung durch eine Öffentlichkeit abzielten. Durch das sinnliche Erleben wurde Herrschaft sichtbar erfahrbar gemacht und versprach gleichzeitig, das Bedürfnis der Beherrschten nach Selbstdarstellung zu erfüllen. So besuchten etwa der preußische König Friedrich Wilhelm III. und die englische Queen Victoria die Oper zuweilen wöchentlich und empfingen dabei die Huldigungen ihrer Untertanen. 23

22 Vgl. zur Sängerbewegung und zur kulturellen Nationsbildung Langewiesche, Dieter, Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 82–171; zudem Applegate, Celia, How German Is It? Nationalism and the Idea of Serious Music in the Early Nineteenth Century, in: 19th Century Music 21 (1998), S. 274–296; sowie Pederson, Sanna, A.B. Marx, Berlin Concert Life and German National Identity, in: 19th Century Music 18 (1994), S. 87–107. 23 Vgl. die einschlägigen Arbeiten von Paulmann, Johannes, Pomp und Politik. Monarchenbegegnungen in Europa zwischen Ancien Régime und Erstem Weltkrieg, Paderborn 2000; Röhl, John C. G., Hof und Hofgesellschaft unter Wilhelm II., in: ders., Kaiser, Hof und Staat. Wilhelm II. und die deutsche Politik, München ³1988, S. 78–115; Vernon, James, Politics and the People. A Study in English Political Culture, c. 1815–1868, Cambridge 1993; Plunkett, John, Queen Victoria. First Media Monarch, Oxford 2003.

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Doch in dieser politisch affirmativen Funktion ging der elitäre Musikbetrieb nicht auf. Gerade in Zeiten politischer Unterdrückung, wie etwa unter Metternich, waren die großen Operntheater nicht nur Keimzellen einer kritischen Öffentlichkeit, sondern häufig auch selbst ein Medium der Emanzipation. Die Gründung des Ständetheaters Ende des 18. Jahrhunderts, des Ungarischen Nationaltheaters und des Tschechischen Nationaltheaters war auch gegen Wien gerichtet. Die Mailänder Scala war trotz scharfer Zensurmaßnahmen als ein Ort der Kritik am österreichischen Regime bekannt, und nach der Gründung Italiens avancierte sie zum Symbol der Selbstbehauptung. Ähnliches lässt sich vom polnischen und vom ukrainischen Theater in Lemberg und Kiew sagen, die sich auch deshalb gut als Vergleichsobjekte eignen. Dies korrespondiert mit jüngeren Studien von Musikund vor allem Politikwissenschaftlern, die den politischen Charakter der Oper im 19. Jahrhundert als Institution und als Genre hervorheben. 24 Auch wenn die musikalischen Spielstätten traditionell als Kunstgenre und nicht als Politikum analysiert wurden, so ist seit der Romantik eine verstärkte Durchdringung von Musik und Politik zu beobachten. Die Ästhetisierung des Politischen mit Hilfe der Musik korrespondierte mit einer konfliktreichen Politisierung der Musik. Die Rebellion des Bürgertums gegen fürstliche Willkür und aristokratische Exklusivität vollzog sich nicht nur im sozialen und politischen Raum oder im Kampf um die Oper als Institution, sondern auch in den Theatern selbst. Der Musikgeschmack bildete eine wichtige Waffe im Arsenal des Bürgertums, in dessen Kampf zunächst gegen die etablierten aristokratischen Eliten in den 1830er- und 1840er-Jahren und später zur Verteidigung seiner politischen und sozialen Vorrangstellung gegen die Arbeiterschaft. Gezielt strebten Teile des Bildungsbürgertums danach, öffentliche Bereiche für sich zu besetzten, die vordem ein Privileg des Adels waren. Das hartnäckige Distinktionsbedürfnis der Bürger zielte nicht nur darauf, adelige Wertvorstellungen zu kopieren, sondern eigene bürgerliche Symbole und Kategorien an deren Stelle zu setzen. Umgekehrt kämpfte der europäische Adel nach 1815 um den Erhalt oder die Rückgewinnung kleinster Distinktionsprivilegien. Die bürgerlichen Eliten suchten durch eine Neubewertung des musikalischen Geschmacks im Sinne ihres eigenen Wertekanons, die Herrschaftsansprüche der Aristokratie gezielt in Frage stellten. Die quasi religiöse Umwertung der Musik und das andächtige Hörverhalten weiter Teile des Bildungsbürgertums enthielten eine antiaristokratische Spitze. Für das aufstreben-

24 Vgl. zur Politisierung der Musik u.a. die Beiträge in Müller, Sven Oliver; Toelle, Jutta (Hgg.), Die Politisierung der Oper. Inszenierungen, Bestätigungen und Bedrohungen der gesellschaftlichen Ordnung in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007; Bermbach, Udo, Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht. Politik und Gesellschaft in der Oper, Hamburg 1997; Frevel, Bernhard (Hg.), Musik und Politik. Dimensionen einer undefinierten Beziehung, Regensburg 1997; und zum Zusammenhang zwischen Musik und Nationalismus: Danuser, Hermann; Münkler, Herfried (Hgg.), Deutsche Meister – böse Geister? Nationale Selbstfindung in der Musik, Schliengen 2001; die Beiträge in Applegate, Celia (Hg.), Music and German National Identity, Chicago 2002.

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de Bürgertum waren gemeinsame Werte und soziale Praktiken ebenso konstituierend wie gemeinsame soziale Gegner. 25 Vermeintlich harmlose und unpolitische Musikkritiken in musikalischen Fachzeitschriften und in der liberalen Presse nutzten Bürger etwa in London, Berlin und Budapest zum Angriff auf das Hörverhalten und den Musikgeschmack der Aristokratie. Gerade unter den Bedingungen der Zensur ließen sich auf dem Umweg ästhetischer Stellvertreterkriege gesellschaftliche Ansprüche viel ungehinderter formulieren. Dabei gaben die Kritiker ihre musikalischen Eindrücke nicht ungefiltert wieder, sondern formulierten sie aus ihrer jeweiligen weltanschaulichen und schichtspezifischen Perspektive heraus. Die bürgerlichen Rezensenten beschrieben das Hörverhalten in den Opern in einer dichotomen Sprache und verknüpften damit implizit Herrschaftsansprüche. 26 Immer wieder kontrastierte man seit den 1830er-Jahren adäquates Hörverhalten (also das eigene konzentrierte und schweigende) mit dem geschwätzigen und genusssüchtigen Benehmen der Adeligen im Konzert. Das aufstrebende Bürgertum setzte seine vermeintlich überlegene Ästhetik als politische Waffe ein. Dabei relativierte sich die Grenze zwischen Kunst und Politik, indem die „richtig“ genossene Musik zum Ausdruck bürgerlichen Selbstverständnisses avancierte. Phasenweise wurde der Musikkonsum damit zum Objekt politischer und parteipolitischer Auseinandersetzungen. Es ist daher kein Zufall, dass mehrere Revolutionen (Brüssel 1830 oder noch in Prag 1989) ihren Ausgangspunkt im Theater hatten und die Attentäter des reformistischen russischen Ministerpräsidenten Stolypin 1909 die Oper in Kiew als symbolischen Ort ihres Anschlags wählten.

III.3 Die Disziplinierung des Publikums Die Veränderungen des Hörverhaltens spiegeln den Wandel der kulturellen Wertesysteme der Elite des 19. Jahrhunderts wider. In der Untersuchung der sich verändernden musikalischen Praxis und des neuen Musikgeschmacks besteht die Chance, die kulturellen Normen und die davon beeinflussten Ein- und Ausgrenzungsmechanismen sozialer Gruppen zu veranschaulichen. Mehr noch: Die Bewertung der Musik bezeichnete für das Publikum einen Weg der Deutung, Aneignung und Reproduktion seiner Umwelt. Bis in die 1850er-Jahre erinnerte das Hörverhalten oft nicht an den distanzierten Konsum von Bildung, sondern an die Anteilnahme und die Begeisterung auf einem Fußballplatz. Während die Musik lief, plauderte man mal leiser mal lauter; man aß und trank, besuchte sich gegenseitig in den Logen und promenierte durch 25 Vgl. Müller, Publikum; Braun; Gugerli, Tanz, S. 226–241; insges. Daniel, Ute, Hoftheater. Zur Geschichte des Theaters und der Höfe im 18. und 19. Jahrhundert, Stuttgart 1995, S. 126–157. 26 Vgl. McColl, Sandra, Music Criticism in Vienna 1896–1897. Critically Moving Forms, Oxford 1996; Schmitt-Thomas, Reinhold, Die Entwicklung der deutschen Konzertkritik im Spiegel der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung (1798–1848), Frankfurt am Main 1969.

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den Saal. Geschäftsleute besprachen ihre kommerziellen Angelegenheiten, Frauen führten ihre neueste Kleidung vor, Kurtisanen machten potentielle Liebhaber auf sich aufmerksam. Die Konzert- und Opernbesucher waren nicht eigentlich unaufmerksam; sie konzentrierten sich nur höchst selektiv auf bestimmte circensische Glanzleistungen der Künstler und die „schönen“ Stellen einer Partitur. Dann aber nahm das Publikum in der Regel überaus aktiv am Geschehen teil, wobei es potentiell jedes Musikstück und jede Bravourarie bejubeln oder ausbuhen konnte. Oft zog sich die Aufführung erheblich in die Länge, weil einzelne Arien oder Szenen nach Aufforderung der Zuhörer zum Teil mehrfach wiederholt werden mussten. Der Unterschied zwischen Künstlern und Betrachtern bei der Gestaltung einer Aufführung war daher in gewisser Hinsicht marginal. Beide prägten den Charakter eines Abends derart, dass oft unklar schien, ob sich das interessantere Spektakel auf dem Podium oder im Zuschauerraum vollzog. 27 Das Publikum besuchte Konzerte mithin nicht allein, um öffentlich gesehen zu werden, sondern weil die Darbietungen offenbar gefielen und direkte Anteilnahme erlaubten. Doch allmählich änderten sich Anspruch an und Aneignung der Musik. Vieles spricht für eine grundsätzlich neue Bewertung und Aufwertung der Musik nach 1820. Vor dem Hintergrund massiver ökonomischer, sozialer und kultureller Verwerfungen, sich relativierender Bindungen an Kirche und Tradition, Gemeinde und Zunft, erreichte die Kunst einen nie gekannten Stellenwert für die Bildungsbürger. Vor allem der Musik maßen die bürgerlichen Eliten eine transzendentale Qualität bei, die eine neue Orientierung des Lebenshorizontes und individuelle Sinnstiftung angesichts in Bewegung geratener Wertesysteme versprach. 28 Insbesondere in Deutschland und in Ostmitteleuropa wurde die Musik als eine „Gegenwelt“ begriffen, mit Schopenhauer als eine Matrix der realen Welt, als Schlüssel zur Seele und zum Glück, und mit Hegel und später Wagner als Medium der Aufklärung. Unter dem Einfluss einer neuen bildungsbürgerlichen „Kunstreligion“ (Thomas Nipperdey), die ein Musikstück zunehmend als wertvolles „Werk“ und weniger als unterhaltendes Beiwerk begriff, scheint sich ein partiell aufmerksames Publikum allmählich zu Zuhörern im eigentlichen Sinne des Wortes gewandelt zu haben. Musik sollte nicht einfach mehr „genossen“, sondern „verstanden“ werden und zur „Erbauung“ nachwirken. Und die Verhaltensweise, zu der die Musik zwang, wenn sie eine Bildungs- und Sinnstiftungsfunktion erfüllen sollte, war das schweigende Zuhören. Damit wurde das stumme Hören Element einer bürgerlichen Selbstkontrolle. Durch eine distinktive Verhaltensform machte der eigene Geschmack das Bürger27 Vgl. Hall-Witt, Representing, S. 137–144; Hanson, Muse, S. 87–90; Scott, Derek B., Music and Social Class, in: Samson, Jim (Hg.), The Cambridge History of Nineteenth-Century Music, Cambridge 2002, S. 544–567; Hays, Michael, The Public and Performance. Essays in the History of French and German Theater 1871–1900, Ann Arbor 1981, bes. S. 3–48. 28 Vgl. Johnson, Listening, S. 268f., und passim; ders., Beethoven and The Birth of Romantic Musical Experience in France, in: 19th Century Music 15 (1991), S. 23–35; Müller, Sven Oliver, Die Politik des Schweigens. Veränderung im Publikumsverhalten in der Mitte des 19. Jahrhundert, in: ders.; Osterhammel, Jürgen (Hgg.), Musikalische Kommunikation. Themenheft Geschichte und Gesellschaft 38 (2012), S. 48–85.

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tum und analog dazu in Osteuropa die Intelligenz als Wertegemeinschaft sichtbar. Mit nichts konnte man seine „Klasse“ so gut hervorheben wie mit dem Musikgeschmack. Musikalische Ästhetik und soziale Dynamik verwiesen aufeinander. Das Medium der Musik entsprach geradezu idealtypisch dem Wertehimmel des aufstrebenden Bürgertums: Die musikalische Harmonie korrespondierte mit der Utopie gesellschaftlicher Eintracht. In der Struktur der auf gesetzmäßige Wiederholung angelegten Musik erkannte das Bürgertum seine Ordnungsprinzipien. 29

III.4 Angleichung der Praktiken und der Repertoires Während sich die Repertoires in West-, Mittel-, und Osteuropa bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts teilweise noch deutlich voneinander unterschieden, glichen sie sich danach immer mehr an. Einen ganz wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung hatte der internationale Erfolg ursprünglich nationaler Opernschulen. Richard Wagner wurde, auch wenn es ursprünglich starke Widerstände gab, um die Jahrhundertwende überall in Europa aufgeführt. 30 Seine Werke wurden paradoxerweise gerade deshalb so populär, weil deutsch keine gängige Opernsprache war, und sie daher von vornherein übersetzt werden mussten. Wagner wurde auf diese Weise „nostrifiziert“ und insbesondere bei den osteuropäischen Nationen und in England als Vorbild für ein erfolgreiches musikalisches Nationbuilding empfunden. Ohne den vorherigen Aufbau nationalsprachlicher Opernensembles, im Kontext einer noch italienisch geprägten Opernlandschaft wie in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wäre ein solcher „Export“ kaum möglich gewesen. Bereits um 1850 stellte die Blüte der Grand Opéra und etwas später die Rezeption der Opern Verdis ein gesamteuropäisches Phänomen dar. 31 Dabei spielte neben der Musik vor allem die Bildsprache der Oper eine wesentliche Rolle. Die Grand Opéra revolutionierte mit ihren Massenszenen und historischen Tableaus die Bühnenpraxis. Die Oper lockte durch ihre Pracht und ihre Effekte, war auf 29 Vgl. Balet, Leo; Gerhard, E., Die Verbürgerlichung der deutschen Kunst, Literatur und Musik im 18. Jahrhundert, hgg. und eingeleitet von Gert Mattenklott, Frankfurt am Main 1972, S. 334–394, 468–481. 30 Die Musikdramen Richard Wagners galten in allen Vergleichsstädten als ein Vorbild zur Schaffung einer international anerkannten Musikkultur. Umgekehrt beriefen sich die nationalistischen Aktivisten in der Donaumonarchie und in England auf die Vorrangstellung Wagners um die Notwendigkeit einer eigenen Musiktradition einzufordern. Vgl. Müller, Sven Oliver, Richard Wagner und die Deutschen. Eine Geschichte von Hass und Hingabe, München 2013; die Beiträge in Large, David (Hg.), Wagnerism in European Culture and Politics, Ithaca ²1985; sowie in Dahlhaus, Carl (Hg.), Richard Wagner. Werk und Wirkung, Regensburg 1971. 31 Vgl. zur europaweiten Rezeption der Grand Opéra: Gerhard, Anselm, Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1992, passim; Maehder, Jürgen, Die italienische Oper des Fin de siécle als Spiegel politischer Strömungen im umbertinischen Italien, in: Bermbach, Udo (Hg.), Der schöne Abglanz. Stationen der Operngeschichte, Hamburg 1992, S. 181–210.

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heutige Zeiten übertragen zugleich Hochkultur und Hollywood. Auch dies begünstigte den internationalen Austausch und insbesondere den europaweiten Erfolg der Grand Opéra, später auch einiger Opern Verdis und Wagners. Solcherlei Austauschprozesse gab es auch schon im 18. Jahrhundert, doch waren diese ganz von italienischen und später auch von französischen Komponisten geprägt. Diese Europäisierung der musikalischen Praxis im späten 19. Jahrhundert lässt sich mit der Intensivierung der Kommunikation, regelmäßigen Kontakten und neuen Netzwerken erklären. Beispielsweise waren Berlin, Dresden, Prag, Wien und Budapest, was den Transfer von Sängern und Stücken betrifft, eng miteinander verbunden. Nicht zu vergessen ist die Wirkung reisender Musikveranstalter auf dem ganzen Kontinent. Ein dichtmaschiges Netz an Zugverbindungen erleichterte das Reisen erheblich. Dadurch wurde auch ehemaligen peripheren Regionen in Europa das Erlebnis hochkarätiger musikalischer Aufführungen zu Teil. Nicht nur bestimmte Werke, sondern auch deren Ausstattung und Interpretation waren in ganz Europa zu bestaunen. Kommerziell und kulturell erfolgreich waren beispielweise: Die Richard D’Oyle Carte Company (London) und ihre Europatournee mit den Operetten von Gilbert & Sullivan 1886–1887; das RichardWagner-Theater Angelo Neumanns (Leipzig), der zwischen 1882 und 1889 den Ring des Nibelungen von Amsterdam bis Breslau und von Rom bis Moskau aufführte; die Tourneen der Hofoper (Wien) unter Leitung Gustav Mahlers nach London 1892 und nach Paris 1900; die Ballets Russes von Sergei Diagilew (St. Petersburg), das zwischen 1909 und 1914 auf europaweiten Gastspielen die Werke und Choreografien der neuen Musik verbreitete. 32

IV. Chancen und Grenzen einer musikalischen Europäisierung Wahrscheinlich fällt die Bilanz dieser Überlegungen wenig überraschend aus. Bis zum letzten Drittel des 19. Jahrhunderts hatte sich der Umgang der adeligen und bürgerlichen Elite mit der Kunstmusik in den europäischen Opern- und Konzerthäusern weitgehend angeglichen. Der kulturelle Austausch erreichte aufgrund neuartiger Kommunikations- und Verkehrssysteme, sowie der gesteigerten Bedeutung der Märkte und technischen Medien eine nie zuvor erreichte transnationale Dimension. Die europaweite Verehrung „großer“ Musik und ihrer Interpreten und die Rolle reisender Sänger und Ensembles verdient hier Erwähnung. Ebenso kann die Funktion verschiedener Printmedien (Zeitungen, Fach- und Unterhaltungszeitschriften) in der Vermittlung musikalischer Vorlieben und für die Angleichung musikalischer Rezeptionsweisen kaum überschätzt werden. Infolge der exponentiell zunehmenden Kulturtransfers zeichnet sich eine Konvergenz der musika32 Vgl. Toelle, Jutta, „Verkündiger jener neuen musikalischen Welt“. Angelo Neumanns reisendes Richard-Wagner-Theater in Italien 1883, in: Stachel, Peter; Ther, Philipp (Hgg), Wie Europäisch ist die Oper? Wien u.a. 2009, S. 187–196; Jacobs, Arthur, Arthur Sullivan. A Victorian Musician, Ashgate 1992; insges. Jacobshagen, Arnold; Reininghaus, Frieder (Hgg.), Musik und Kulturbetrieb, Medien Märkte und Institutionen, Laaber 2006.

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lischen Praktiken ab, die sich in verschiedenen Bereichen beobachten lässt: in den Repertoires und den Konsumformen, in den Rezeptions- und Hörgewohnheiten. Auch wenn auf der Ebene der musikalischen Genres und der Geschmacksmuster nach der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Pluralisierung nachweisbar ist, deutet das Konsumverhalten der Hörer in eine andere Richtung. Diejenigen, welche die politischen, sozialen und kulturellen Strukturen in Europa vergleichen, beschreiben selten die Übereinstimmungen und konzentrieren sich meist auf unterschiedliche Entwicklungen. In der Musikrezeption scheint es aber gewinnbringender eine andere Position zu vertreten. Denn die Ähnlichkeiten im Musikleben in Europa übertrafen die Unterschiede bei Weitem. In den drei hier skizzierten Themenfeldern und Orten stechen vor allem die Gemeinsamkeiten in der Organisation musikalischer Spielstätten, die oft identischen musikalischen Repertoires und die einander so ähnlichen kulturellen Präferenzen und Verhaltensmuster der Publika ins Auge. Deutlich wurde, wie das Reden über Musik und das Konsumverhalten des Publikums Varianten einer ähnlichen sozialen Praxis in den Vergleichsstädten waren. Die kulturelle Konvergenz im Musikleben in Europa insgesamt bestand auf vielen Ebenen. Diese Konvergenz überwölbte die Spezifika in den einzelnen Regionen West-, Mittel- und Osteruropas. Sie galt etwa für die Finanzierung des Spielbetriebs und die Ausgestaltung der Häuser ebenso, wie für das Repertoire, die Inszenierungen und die Auswahl der Künstler. Der Erwerb teurer Eintrittskarten, die Gründung professioneller Sinfonieorchester und der Selbstzwang des Publikums waren Varianten einer ähnlichen sozialen Praxis in den Vergleichsstädten. Charakteristisch für den Musikbetrieb des 19. Jahrhunderts wurde zweierlei. Auf der einen Seite bildete sich ein verbindlicher musikalischer Kanon heraus, zu dem die großen Sinfoniker von Haydn bis Brahms und die Opernkomponisten von Mozart bis Verdi zählten. Auf der anderen Seite entwickelten sich parallel dazu alternative, oder gar rivalisierende Genres und Stilformen. Der Musikbetrieb in einer Stadt setzte im Regelfall keine Standards für andere Orte. Zwar sind immer wieder zeitliche Verzögerungen und Lernprozesse zu erkennen. Londoner Musikfreunde beispielsweise orientierten sich zwischen 1850 und 1880 an dem in Berlin zuvor entwickelten Maßstab des schweigenden Hörverhaltens. In den meisten Fällen aber vollzogen sich trotz aller Wechselwirkungen die Diskurse, Vorlieben und Verhaltensmuster in den Metropolen parallel zu einander. Kennzeichnend dafür waren Konvergenzen und Variationen, seltener aber exakte Kopien anderswo erfolgreicher sozialer Interessen und kultureller Utopien. Diese Geschichte des Musiklebens in Europa hat berücksichtigt, dass die Beziehungen zwischen Gesellschaften und Kulturen nicht anhand der vermeintlich getrennten Achsen von Transfer und Kommunikation einerseits und sozialen Machtkämpfen und politischen Antagonismen andererseits erfasst werden können. Konvergenz und Divergenz sollten nur selten als Antipoden in der europäischen Kulturgeschichte verstanden werden. Vielmehr ermöglichten auch Konflikte die musikalische Kommunikation. Deutlich werden sollte vielmehr, dass das Konzept nationaler Abgrenzung und die Praxis europäischer Angleichung sich gegenseitig bedingten. Vieles spricht dafür, dass Aneignung durch Abgrenzung und Abgren-

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zung wiederum durch Aneignung erfolgte. Soziale Gemeinschaften im Musikleben auch als Produkte wechselseitiger kultureller Kommunikation zu begreifen, ist normativen Ansätzen, welche oft von einem einseitigen Transfer zwischen „fortgeschrittenen“ und „rückständigen“ Geschmäckern und Repertoires ausgehen, konzeptionell überlegen. Tatsächlich wird die Kultur einer Gesellschaft wesentlich durch Anverwandlungen neuer Praktiken, Präferenzen und Fähigkeiten geprägt. Folgt man Peter Burkes Konzept des kulturellen Austausches, dann rücken die Veränderungen des Tauschgutes, hier der Kompositionen und der Praktiken, eben durch den Prozess des Transfers selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Mit der neuen Kontextualisierung geht immer auch Dekontextualisierung einher, mithin eine Veränderung kultureller Objekte als Folge ihrer jeweiligen Rezeption. 33 Vielleicht gelang es gerade einem Nichteuropäer deutlich zu machen, wie spezifisch, ja fremd der Musikbetrieb in Europa vielen Menschen bleiben musste. Was in Deutschland oder in England Erfolg haben konnte, musste nicht automatisch in den USA Gefallen finden. Das meinte jedenfalls der amerikanische Schriftsteller und Journalist Mark Twain. Er litt unter den Klängen Richard Wagners. Dabei wählte Mark Twain geschickt Häme und Spott, um seine Begegnung mit Wagners Opern in Worte zu fassen. Auf seiner Europareise 1878 besuchte er das Opernhaus in Mannheim und erlebte eine Aufführung des Lohengrin. Zunächst polemisierte er trefflich gegen die zu Lasten der endlosen Erzählungen fast vollständig fehlende Handlung. Das Wagner-Publikum sei bei diesen Klängen „so beglückt wie Katzen, denen man das Fell streichelt“. Er habe körperlich gelitten – dann aber hörte er den Brautzug im dritten Akt. „Das war Musik für mein ungebildetes Ohr – geradezu göttliche Musik. […] Es schien mir, dass ich die Qualen, die ihnen vorausgegangen waren, fast noch einmal würde erdulden mögen, um abermals so geheilt zu werden.“ 34

1891 wagte Mark Twain einen zweiten Versuch, begab sich in die Höhle des nun verstorbenen Löwen Richard Wagner in Bayreuth und erlebte einen ihn beglückenden Parsifal. Selbstredend verzichtete er nicht auf eine Satire mit dem schönen Titel At the shrine of St. Wagner. Ein Amerikaner wird neugierig auf Wagner. Vielleicht sehen wir hier doch einen erfolgreichen musikalischen Kulturtransfer zwischen den Menschen, Geschmäckern und Kontinenten.

33 Burke, Peter, Kultureller Austausch, in: ders., Kultureller Austausch, Frankfurt am Main 2000, S. 9–40; vgl. Dmitrieva, Katia; Espagne, Michel (Hgg.), Transferts culturels triangulaires France-Allemagne-Russie, Besançon 1996; François, Étienne, Europäische lieux de mémoire, in: Budde, Gunilla (Hg.), Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 290–303; die Beiträge in Müller, Sven Oliver et al. (Hgg.), Die Oper im Wandel der Gesellschaft. Kulturtransfers und Netzwerke des Musiktheaters im modernen Europa, Wien u.a. 2010. 34 Vgl. Twain, Mark, Bummel durch Europa, Frankfurt am Main 1985, S. 67.

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Literaturhinweise Bermbach, Udo, Wo Macht ganz auf Verbrechen ruht. Politik und Gesellschaft in der Oper, Hamburg 1997. Hanson, Alice M., Die zensurierte Muse. Musikleben im Wiener Biedermeier, Wien 1987. Johnson, James H., Listening in Paris. A Cultural History, Berkeley 1995. Müller, Sven Oliver, Das Publikum macht die Musik. Das Musikleben in Berlin, London und Wien im 19. Jahrhundert, Göttingen 2014. Weber, William, Music and the Middle Class. The Social Structure of Concert Life in London, Paris and Vienna between 1830 and 1848, Aldershot ²2004.

Quelle Mark Twain: Bummel durch Europa (1878)35 [65] […] An einem anderen Tag fuhren wir nach Mannheim und hörten uns eine Katzenmusik, will sagen: eine Oper an, und zwar jene, die „Lohengrin“ heißt. Das Knallen und Krachen und Dröhnen und Schmettern war unglaublich. Die mitleidlose Quälerei hat ihren Platz in meiner Erinnerung gleich neben der Erinnerung an die Zeit, da ich mir meine Zähne in Ordnung bringen ließ. Die Umstände erforderten, daß ich bis zum Ende der vier Stunden blieb, also blieb ich; aber die Erinnerung an diese lange, sich hinschleppende, unbarmherzige Leidenszeit ist unzerstörbar. Der Schmerz verschärfte sich noch dadurch, daß er schweigend und stillsitzend ertragen werden mußte. Ich saß in einem von einem Geländer umgebenen Abteil zusammen mit acht oder zehn Fremden beiderlei Geschlechts, und das erforderte Zurückhaltung; aber zuweilen war der Schmerz [66] so heftig, daß ich kaum die Tränen unterdrücken konnte. Wenn das Heulen und Wehklagen und Kreischen der Sänger und Sängerinnen und das Wüten und Toben des gewaltigen Orchesters höher anschwollen und wilder und wilder und grimmiger und grimmiger wurden, hätte ich aufschreien können, wäre ich allein gewesen. Diese Fremden hätte es nicht überrascht, einen Mann schreien zu sehen, dem Stück für Stück die Haut abgezogen wurde, aber hier wären sie verwundert gewesen und hätten zweifellos ihre Bemerkungen darüber gemacht, obgleich nichts in der gegenwärtigen Lage vorteilhafter als Gehäutetwerden war. Es gab eine Pause von einer halben Stunde nach dem ersten Akt, und ich hätte während der Zeit hinausgehen und mich ausruhen können, aber ich traute mich nicht, denn ich wußte, daß ich desertieren und draußenbleiben würde. Gegen neun Uhr kam noch einmal eine Pause von einer halben Stunde, aber inzwischen hatte ich so viel durchgemacht, daß all meine Lebensgeister hin waren und ich nur noch einen einzigen Wunsch besaß, nämlich in Frieden gelassen zu werden. Ich möchte nicht zu verstehen geben, daß es all den anderen Leuten genauso wie mir ergangen sei, denn das war wahrhaftig nicht der Fall. Ob sie diesen Lärm von Natur aus schätzten oder ob sie durch Gewöhnung gelernt hatten, ihn gern zu haben, wußte ich zu der Zeit nicht; aber sie hatten ihn gern – das war mehr als deutlich. Solange er andauerte, saßen sie da und sahen so hingerissen und dankbar aus wie Katzen, wenn man ihnen den Rücken streichelt; und sooft der Vorhang fiel, erhoben sie sich als eine einzige, mächtige, einmütige Menge, und die Luft war dicht verschneit von winkenden 35

Twain, Mark, Bummel durch Europa, Frankfurt am Main 1985, S. 65–67. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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Taschentüchern, und Wirbelstürme des Beifalls tosten durch den Raum. Dies war mir unbegreiflich. Selbstverständlich waren viele Leute dort, die sich nicht zum Bleiben gezwungen sahen; dennoch waren die Ränge am Schluß ebenso voll wie zu Beginn. Das bewies, daß die Darbietung ihnen gefiel. Es war ein merkwürdiges Stück. Kostüme und Bühnenbild waren schön auffällig, aber Handlung gab es nicht viel. Ich will [67] sagen, es wurde nicht eigentlich viel getan, sondern nur darüber geredet; und stets heftig. Es war ein Stück, das man ein Erzählstück nennen könnte. Jeder hatte eine Erzählung und eine Beschwerde vorzutragen und keiner benahm sich vernünftig dabei, sondern alle befanden sich in einem beleidigenden, zügellosen Zustand. Man sah wenig von diesem vertrauten Brauch, wo der Tenor und der Sopran vorne an die Rampe treten und mit gemischten Stimmen trällern und schmettern und immerzu die Arme einander hinstrecken und sie wieder zurückziehen und beide Hände mit einem Beben und einem Drücken erst über die eine Brustseite und dann über die andere breiten – nein, jeder Aufrührer für sich und kein Zusammenklingen, so lautete hier die Losung. Einer nach dem anderen sang, begleitet vom gesamten Orchester, das sechzig Instrumente umfaßte, seine anklagende Geschichte, und wenn dies eine Weile angedauert hatte, und man zu hoffen begann, sie würden zu einer Verständigung kommen und den Lärm einschränken, tobte ein ganz und gar aus Besessenen zusammengefügter Chor los, und während der folgenden zwei und manchmal drei Minuten durchlebte ich von neuem alles, was ich seinerzeit erlitt, als das Waisenhaus abbrannte. Nur eine einzige kleine Spanne Himmel und himmlischer Verzückung und himmlischen Friedens wurde uns gewährt während dieser ganzen langen emsigen und bitteren Wiedererschaffung jenes anderen Ortes. Dies geschah, als im dritten Akt ein prachtvoller Festzug immerzu im Kreis herummarschierte und den Brautchor sang. Das war Musik für mein ungebildetes Ohr – geradezu göttliche Musik. Während meine versengte Seele in den heilenden Balsam dieser anmutigen Klänge eintauchte, schien es mir, daß ich die Qualen, die ihnen vorausgegangen waren, fast noch einmal würde erdulden mögen, um abermals so geheilt zu werden. Hier enthüllt sich der tiefe Sinn der Oper. […]

SCHWINDELMEIER IN ARKADIEN. THEATER AUF REISEN ZWISCHEN EUROPÄISCHEN METROPOLEN UM 1900 1 Tobias Becker

Das Jahr 1912 ist kein gutes Jahr für das Transportwesen. Erst sinkt am 14. April die Titanic, dann stürzt am 27. April der Berliner Unternehmer und Lebemann Louis Meier mit seinem Eindecker ab. Allerdings hat er mehr Glück als die Passagiere der Titanic, denn statt im eiskalten Atlantik zu ertrinken, findet er sich weitgehend unversehrt an einem von der modernen Zivilisation gänzlich unberührten, idyllischen Ort wieder. Dafür muss Meier diesen Absturz wochenlang, Abend für Abend aufs Neue über sich ergehen lassen, denn er bildet den Auftakt von Schwindelmeier & Co., dem neuen Stück des Berliner Metropol-Theaters. Kaum hat Meier sich den Staub von den Kleidern geklopft, begegnet er einer Gruppe von jungen, leicht bekleideten Arkadierinnen und Arkadiern, die nicht arbeiten, nicht lügen und von der Welt außerhalb ihres Reiches allenfalls gerüchteweise gehört haben. Meier kann kaum glauben, dass sie Berlin nicht kennen: „Da habt Ihr auch wohl noch nie gewertheimt, getiezt, gejandorft, gegersont? Habt wohl keine Ahnung von den entzückenden Lädchen für die entzückenden Mädchen, wo man kaufen kann, kaufen, kaufen –.“

Fern der Heimat und seiner Gattin zögert Meier nicht lange und macht der Arkadierin Serena den Hof. Fünfunddreißig Jahre alt sei er, ledig und katholisch, erzählt er dieser – bis Serena sein Pass in die Hände fällt: Meier

Mein Pass! Oi weh – jetzt geht’s schief!

Serena (liest)

Louis Meier, Berlin. Verheiratet. 55 Jahre alt – Glaube mosaisch. Und eben, eben hast Du mir erst gesagt –

Meier

Was hab’ ich schon gross gesagt? Heutzutage macht sich jeder gern so jung und germanisch wie möglich. 2

Zur Strafe für seine Lügen werfen die Arkadier Meier in den Brunnen der Wahrheit, aus dem er als einer der ihren, moralisch geläutert, vor allem aber körperlich verjüngt wieder emporsteigt. In seiner neuen Inkarnation reist Meier mit Serena 1

2

Essay zu den Quellen: The Arcadians (1909) / Schwindelmeier & Co. (1912). Essay und Quellen sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Das einzige bekannte noch erhaltene Textbuch des Stückes befindet sich in der Theaterhistorischen Sammlung der Freien Universität Berlin, Nachlass Julius Freund 97/02/w163, Schwindelmeier & Co., 1. Akt, 6. Szene.

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Tobias Becker

nach Berlin. Dort begegnet er im zweiten Akt seiner Frau, die, unwissend, dass es sich bei dem arkadischen Jüngling um ihren Ehemann handelt, sofort für diesen in Liebe entbrennt. Und Frau Meier ist nicht die einzige, die dem Zauber der Arkadier verfällt, denn deren Schlichtheit und Genügsamkeit wird schnell große Mode in Berlin. Frau Meier wittert eine Einnahmequelle und eröffnet die Arkadierbar, wo verwöhnte und gelangweilte Großstadtmenschen für einige Stunden dem arkadischen Lebensstil frönen können. Hier spielt der dritte Akt, in dem die verschiedenen, vorher sorgsam verknoteten Handlungsstränge wieder aufgeschnürt werden: Meier fällt in eine Nachbildung des arkadischen Brunnens, wird zurückverwandelt und versöhnt sich mit seiner Frau, woraufhin die Arkadier nach Hause zurückkehren – Happy End. Schwindelmeier & Co. hatte alles, wofür das Metropol-Theater über Berlin und sogar über Deutschland hinaus berühmt war: ein witziges Textbuch von Hausautor Julius Freund, schmissige Couplets von Rudolf Nelson und in der Hauptrolle den Urberliner Komiker Guido Thielscher. Der einzige Haken: Schwindelmeier & Co. war kein genuin Freundsches, nicht einmal ein genuin Berliner Stück, sondern basierte auf der britischen Musical Comedy The Arcadians von Mark Ambient und Alexander M. Thompson mit Musik von Lionel Monckton und Howard Talbot, die im April 1909 am Londoner Shaftesbury Theatre uraufgeführt worden und dort über 800 Mal über die Bühne gegangen war. Da konnte die Vossische Zeitung noch so sehr behaupten, Freund habe sich lediglich „ein paar Anregungen aus dem Englischen“ geholt und „aus dem britischen Original für sein Publikum ein neues Stück gemacht“, da konnte der Berliner BörsenCourier noch so sehr betonen, Freund habe „völlig frei geschaffen“ – Schwindelmeier & Co. war britischer Herkunft. 3 Wer die Textbücher von The Arcadians und Schwindelmeier & Co. vergleicht, stellt schnell fest, dass Freund sich weitgehend an das Original hielt und die Handlung nur geringfügig veränderte. Vor allem verlegte er sie von London nach Berlin und deutschte die Namen der handelnden Personen ein. Für Anspielungen, die dem Publikum des Metropol-Theaters unbekannt sein mussten, fand Freund Berliner Entsprechungen. So machte er aus Bond Street, Regent Street und Oxford Street ganz einfach Unter den Linden, Friedrichstraße und Tauentzien. An die Stelle von in der deutschen Hauptstadt unbekannten Londoner Orten, setzte er vertraute Berliner Namen, wie die der Warenhäuser Wertheim, Tietz, Jandorf und Gerson, die bei ihm in Verbform zu Synonymen für Shopping wurden. Eine originär Freudsche Zutat war die Verwandlung des Londoner Restaurantbesitzers James Smith in den jüdischen Berliner Louis Meier, einer von vielen komischen jüdischen Charaktere, wie sie Julius Freund, selbst Jude, vor dem Ersten Weltkrieg für das Metropol-Theater erfand und wie sie der Nichtjude Guido Thielscher auf dessen Bühne spielte. 4

3 4

Vossische Zeitung, 28.04.1912; Berliner Börsen-Courier, 28.04.1912. Siehe Otte, Marline, Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890–1933, Cambridge 2006, S. 239–244, 258–276.

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Die Abbildung einer Schlüsselszene zwischen Frau Meier (auf der Bank) und Herrn Meier (im Baum) – links in der Aufführung von The Arcadians 1909 im Shaftesbury Theatre, rechts in der Aufführung von Schwindelmeier & Co. 1912 im Metropol-Theater – zeigt, dass eher Nuancen als Welten zwischen den beiden Inszenierungen lagen (Abbildung 2). Für Theaterdirektoren war Theater ein Paket aus Text, Musik und Inszenierung. Handlung und Dialoge waren für sie meist weniger wichtig als die Ohrwurmqualität der Melodien oder eine innovative Inszenierungsidee. Dazu genügte es nicht, ein Textbuch zu lesen, sie mussten sich das Original vor Ort ansehen. Wie Guido Thielscher in seinen Memoiren berichtet, ging Richard Schultz, der Direktor des Metropol-Theaters, ständig auf „Entdeckungsreisen nach London und Paris, um Neues ausfindig zu machen“. 5 Sein Londoner Kollege George Edwardes, der am Gaiety Theatre die Musical Comedy, das britische Equivalent zur kontinentalen Operette, erfunden hatte, fuhr so oft nach Paris, Wien und Berlin, dass er eine Dauerkarte für die Fähre zwischen Folkestone und Boulogne besaß. 6 Es ist daher wahrscheinlich, dass Schultz und Freund sich The Arcadians in London persönlich angesehen hatten, ehe sie das Stück für das Metropol-Theater erwarben.

Abb. 2: Londoner Inszenierung von The Arcadians 1909 im Shaftesbury Theatre 7

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Thielscher, Guido, Erinnerungen eines alten Komödianten. Erlebtes und Erspieltes, Berlin 1938, S. 183. Jupp, James, The Gaiety Stage Door. Thirty Years’ Reminiscences of the Theatre, London 1923, S. 84. Londoner Inszenierung von The Arcadians 1909 im Shaftesbury Theatre, in: The Play Pictorial 14 (1909), H. 82, S. 168 sowie Berliner Inszenierung von Schwindelmeier & Co. 1912 im Metropol-Theater, in: Moderne Kunst 11 (1912), o.S.

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Vielleicht waren sie dem Stück aber auch anderswo begegnet, denn Berlin war nicht die erste Station der Arkadier auf ihrem Zug durch die Metropolen. Im Januar 1910 hatten die Arkadier bereits den Broadway erobert, mit unverändertem Textbuch, aber mit amerikanischer Besetzung. Dem Theaterkritiker der New York Times ging es dabei nicht anders als Herrn und Frau Meier im Stück. Unter dem Titel „‚The Arcadians’ Charm at Liberty“ schrieb er: „After seeing ‚The Arcadians‘ one comes away with a sort of resident impression of a morning out of doors in a very pleasant sunshiny land peopled by graceful figures, a place where soft airs lull and soothe, and the prose of the workaday world seems very grey and dull beside the charming simple life.“ 8

Allerdings erfüllte sich die Prophezeiung der Times nicht, das Stück würde am Hudson seinen Londoner Erfolg wiederholen. Nach 193 Vorstellungen fiel der letzte Vorhang. Derweil spielte bereits ein englisches Tourneetheater die Arkadier in Melbourne, Sidney, Perth, Adelaide und anderen Städten Australiens und Neuseelands. 9 Ein Jahr später, im Februar 1911, lief das Stück dann erstmals in deutscher Übersetzung am Ronacher Theater in Wien unter dem Titel Die Arkadier. Möglicherweise wurden Richard Schultz und Julius Freund durch die Wiener Aufführung auf das Stück aufmerksam. Dass Freund sich an der Wiener Übersetzung orientierte, ist nicht ausgeschlossen, Schwindelmeier & Co. trägt jedoch unverkennbar seine Handschrift. Im April 1913 schließlich war das Stück als Les Arcadiens im Pariser Theater L’Olympia zu sehen. Im Gegensatz zu Schwindelmeier & Co. war Les Arcadiens keine Adaptation, sondern eine recht originalgetreue Übersetzung: James Smith blieb Engländer und London Ort der Handlung. Mehr noch, mit Julia James stand eine englische Schauspielerin auf der Bühne. Der Kritiker des Figaro rühmte sie für „toute l’ingénuité malicieuse, le plus tendre et le plus malicieux sourire, et une voix si pure et des jambes si souples de danseuse“ und bescheinigte dem Stück insgesamt „la plus joyeuse opérette“ zu sein. 10 Dass eine Operette so weite Verbreitung fand, war keineswegs ungewöhnlich. Schon die Operetten Jacques Offenbachs, des Stammvaters des Genres, hatten von Paris aus ganz Europa erobert. Offenbach profitierte davon, dass seine Karriere „mit dem Beginn der internationalen Ära“ zusammenfiel. 11 Geschickt eröffnete er sein erstes, noch provisorisches Theater 1867 in der Nähe der Pariser Weltausstellung, die Besucher*innen aus vielen Ländern anlockte. Siegfried Kracauer zufolge war seine Musik

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„The Arcadians“ Charm at Liberty, in: New York Times, 18.01.1910. „The Arcadians“. A Theatre Royal Success, in: The Argus 28.03.1910, S. 7; The Arcadians, in: The Sydney Morning Herald, 25.07.1910, S. 3. 10 Les Arcadiens, in: Le Figaro, 04.04.1913. 11 Kracauer, Siegfried, Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit [1937], Frankfurt am Main 1994, S. 151.

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„eine Art Esperanto. Ihre Zärtlichkeit und ihre Heiterkeit wiesen kein schwer durchdringliches Lokalkolorit auf, sondern klangen aus einer Heimat herüber, der alle Erdenbewohner angehörten, wie fern immer sie lag“. 12

Der grenzüberschreitende Erfolg der Offenbachschen Operetten bestätigt dies: Überall wurden sie gespielt, adaptiert und kopiert. So ging Offenbach, in der Hoffnung, dass das Publikum das Original der Kopie vorziehen würde, mit seinem Ensemble auf Tournee. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde durch eine Reihe von Abkommen ein internationales Urheberrecht etabliert. Das Kopieren hörte damit zwar nicht auf, aber wer sich bestohlen fühlte, konnte nun vor Gericht ziehen. So kam es, dass sich Richard Schultz und Julius Freund 1903 in einem Prozess auf der Anklagebank wiederfanden, der bis vor das Reichsgericht führte. Trotz Freispruch dürften sie dadurch vorsichtig geworden sein. Die Rechte für The Arcadians haben sie allem Anschein nach ganz legal erworben. Die Kodifizierung des Urheberrechts führte nebenbei zur Herausbildung neuer Geschäftszweige. So verlegten sich die Theater- und Musikverlage vom Notendruck immer mehr auf den Handel mit Rechten. The Arcadians war nicht die erste Musical Comedy, die übersetzt, adaptiert und im Ausland gespielt wurden. Gleich eine der ersten Musical Comedies überhaupt, The Geisha von 1896, war an deutschen, österreichischen, ungarischen, französischen, italienischen, schwedischen und russischen Theatern zu sehen gewesen. Bereits ein Jahr nach ihrer Londoner Uraufführung kam sie am Berliner Lessing-Theater heraus, wo sich das Stück schnell zu einem Liebling des Berliner Publikums entwickelte, auf das die Bühnen immer wieder zurückgriffen, wenn ihnen nichts Neues einfiel. So etwa das Theater des Westens, an dem die Geisha 1900 ihre fünfhundertste, aber keineswegs letzte Berliner Aufführung erlebte.13 Nach dem Erfolg der Geisha importierten die Berliner Theaterdirektoren noch weitere Musical Comedies aus London, die allerdings nur selten die in sie gesetzten Erwartungen erfüllten. International erfolgreicher als die Musical Comedy war die Operette Wiener und Berliner Provenienz. Am Anfang stand der sensationelle Erfolg von Franz Lehárs 1905 in Wien uraufgeführter Operette Die lustige Witwe, die innerhalb von nur fünf Jahren 18.000 Aufführungen weltweit erlebte. 14 Angespornt durch diesen Erfolg, sahen sich Londoner, Pariser und New Yorker Theaterdirektoren nun zunehmend im deutschsprachigen Raum nach Stücken für ihre Bühnen um. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg entwickelte sich Berlin zu einem der wichtigsten Exporteure im Bereich des populären Musiktheaters. Selbst eine Urberliner Operette wie Paul Linckes Frau Luna erlebte Inszenierungen in Paris und London. Stolz berichtete Lincke 1913 einem Journalisten:

12 Ebd. 13 Vgl. Gänzl, Kurt, The Encyclopedia of the Musical Theatre, Oxford 1994, S. 519–521. 14 Vgl. Frey, Stefan, „Was sagt ihr zu diesem Erfolg“. Franz Lehár und die Unterhaltungsmusik des 20. Jahrhunderts, Frankfurt am Main u.a. 1999, S. 78.

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Tobias Becker „Meine Operetten werden jetzt in England, Frankreich, Italien, Spanien, Skandinavien und Russland stark gespielt, am stärksten in Russland.“ 15

Doch Linckes Oeuvre war international nie so erfolgreich wie die Stücke von Jean Gilbert und Walter Kollo. Gilberts Hit-Operette Die keusche Susanne von 1910 lief in den folgenden Jahren in Wien, Budapest, New York, London, Paris, Sydney und weiteren Metropolen. Walter Kollos 1912 uraufgeführte Operette Filmzauber war unter anderem in Wien, Budapest, London, New York und Sydney zu sehen. Und nachdem diese Werke erst einmal im Ausland bekannt waren, sicherten sich die dort ansässigen Theater auch die Rechte an den künftigen Werken dieser Autoren. 1914 liefen an gleich vier Londoner Theatern Operetten von Gilbert und Kollo – um dann bei Kriegsausbruch sämtlich abgesetzt und durch patriotische Revuen ersetzt zu werden. Kaum war jedoch der Krieg vorbei, reaktivierten die Theaterdirektoren die alten Netzwerke. Schon bald erfreute sich auch das Publikum im Ausland an Berliner Operetten wie Der Vetter aus Dingsda, Das Land des Lächelns oder Im Weißen Rössl. Warum aber reiste das Theater überhaupt und wieso reiste die Operette mehr als andere Genres? Wandernde Theatergruppen hatte es schon lange gegeben. Die Oper und die Commedia dell’arte erreichten bereits in der Frühen Neuzeit von Italien ausgehend viele Gegenden Europas, während englische Theaterkompanien die Stücke Shakespeares auf dem Kontinent aufführten, lange bevor die ersten Übersetzungen gedruckt wurden. Eisenbahn und Dampfschiff beschleunigten und verbilligten das Reisen, aber das veranlasste noch niemanden, ein Ticket zu lösen. In Bewegung kam das Theater aus ökonomischen Gründen. Als in den europäischen Metropolen im 19. Jahrhundert viele neue Bühnen gebaut wurden und sich regelrechte Theaterviertel herausbildeten, wie der Boulevard du Temple in Paris, das West End in London oder die Friedrichstraße in Berlin, hatte dies eine steigende Nachfrage nach Stücken zur Folge, die nicht immer im Inland gedeckt werden konnte. Außerdem versprach ein Stück, das bereits anderenorts volle Häuser beschert hatte, diesen Erfolg zu wiederholen. Da der Betrieb eines Theaters außerordentlich teuer war – so teuer, dass ein einzelner Flop bereits den Bankrott einer Direktion bedeuten konnte – war dies lebensnotwendig. Umgekehrt erkannten Direktoren und Verleger, dass sie mit dem Vertrieb der Rechte im In- und Ausland zusätzlichen Profit erwirtschaften konnten. Mit der Operette war potentiell das meiste Geld zu verdienen, denn sie war ein durch und durch kommerzielles Produkt, das ein möglichst breites, heterogenes Publikum unterhalten sollte, um, sobald seine Zugkraft erschöpft war, ersetzt zu werden. Hinzu kam, dass bei der Operette Dialoge und Handlung weniger wichtig waren als die Musik – und die kannte wohl Geschmacks-, aber keine nationalen Grenzen. Es war also die Kommerzialisierung des Theaters, die seine Internationalisierung vorantrieb. Das verhält sich im West End und am Broadway bis heute so. Erfolgreiche Megamusicals wie Les Miserables oder Das Phantom 15 Ein Gespräch mit Paul Lincke, in: Neues Wiener Journal, 27.07.1913, S. 14f. (zitiert nach Linhardt, Marion, Stimmen zur Unterhaltung. Operette und Revue in der publizistischen Debatte (1906–1933), Wien 2009, S. 92).

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der Oper werden in alle Welt verschifft. Vergleichbare deutsche Beispiele finden sich deshalb nicht, weil das privatwirtschaftliche Unterhaltungstheater hierzuland an dem doppelten Schlag von Weltwirtschaftskrise und nationalsozialistischer Gleichschaltung zugrunde ging. Und da das Prinzip Staatstheater nach dem Zweiten Weltkrieg in beiden deutschen Staaten beibehalten wurde, kam es auch nach 1945 zu keiner Wiederbelebung. Wie europäisch aber war das populäre Musiktheater damals? Europäisch war es, insofern Nationalität – im Unterschied zur Oper etwa – eine geringe Rolle spielte. Wie bereits Genrebezeichnungen wie Wiener und Berliner Operette, West End Musical Comedy und Broadway Musical nahelegen, standen urbane Identitäten im Vordergrund. Für das populäre Musiktheater – wie für die Populärkultur überhaupt – waren lokale und internationale Entwicklungen wichtiger als nationale. Europäisch war es zudem, insofern sich seine Produzenten in europäischen Hauptstädten wie Paris, Wien, London und Berlin befanden, in engem Kontakt miteinander standen und laufend Stücke in- und exportierten. Allerdings wurden die transferierten Operetten dem neuen kulturellen Kontext angepasst, sodass dem Publikum oft nicht bewusst war, dass es kein Original, sondern ein adaptiertes Stück sah. Schwindelmeier & Co. ist dafür ein gutes Beispiel. Und diejenigen, die von Berufswegen mit solchen Details vertraut waren – die Kritiker – wetterten nicht selten gegen die Invasion der Bühne durch ausländische Stücke und lehnten in der Tendenz den Kulturaustausch ab. Auch dafür ist Schwindelmeier & Co. ein Beispiel, spielten die Berliner Kritiker doch bewusst die Bedeutung des Londoner Originals herunter. Theaterdirektoren und -verleger, die den Austausch anstießen und unterhielten, ging es nicht um Politik. Für sie war das Theater ein Geschäft, keine Institution zur Völkerverständigung. Mitunter löste der internationale Austausch nationalistische Gegenreaktionen über die so genannte kulturelle Invasion aus. „Man darf meist noch von Glück sagen,“ schrieb der Kritiker Harry Kahn 1922 in der Weltbühne, „wenn das Ergebnis all dieser vordringlichen und nicht immer billigen Mitmacherei gleich Null bleibt und sich nicht direkt ins Negative auswächst, indem sie, statt zum Abbau, zur Bestätigung oder gar Verstärkung alter Vorurteile der Völker gegeneinander beiträgt.“ 16

Und schließlich ging auch damals schon der Radius der Populärkultur weit über Europa hinaus. Erfolgreiche Stücke reisten nach Russland und Amerika. Britische Tourneetheater führten die West End-Hits im gesamten Empire, in Afrika, Indien, Asien und Australien auf. Umgekehrt gelangten bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts die ersten Broadway Musicals nach Europa, wie die Operette The Belle of New York, die lange Spieldauern in London, Paris und Berlin erzielte. Das kommerzielle Unterhaltungstheater partizipierte an der kulturellen Globalisierung und trieb ihn mit voran. Während heute Broadway und West End die globale Produktion im Bereich des populären Musiktheaters dominieren, war dies damals multipolarer und auch europäischer. Die Menge der ausgetauschten Stücke und die relative Leichtigkeit, mit der diese adaptiert wurden, deutet darauf hin, dass, 16 Kahn, Harry, Austauschtheater, in: Die Weltbühne 24 (1922), S. 987–990, hier S. 987.

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wenn nicht Briten, Deutsche und Franzosen, so zumindest doch Londoner, Berliner und Pariser sich kulturell angenähert hatten. Die Transformation von The Arcadians in Schwindelmeier & Co. bzw. Les Arcadiens ist dafür ein gutes Beispiel. Dass Richard Schultz und Julius Freund es für notwendig hielten, das Stück dem lokalen Publikumsgeschmack anzupassen, weist auf den kulturellen Abstand hin; dass ihnen diese Anpassung leicht fiel und dass sie eher oberflächlich war, zeigt, dass er so groß eigentlich gar nicht war. Literaturhinweise Becker, Tobias, Inszenierte Moderne. Populäres Theater in Berlin und London, 1880–1930, München 2014. Gänzl, Kurt, The Encyclopedia of the Musical Theatre, 2 Bde., Oxford 1994. Otte, Marline, Jewish Identities in German Popular Entertainment, 1890–1933, Cambridge 2006. Platt, Len; Becker, Tobias; Linton, David (Hgg.), Popular Musical Theatre in London and Berlin, 1890–1939, Cambridge 2014. Scott, Derek, Sounds of the Metropolis. The Nineteenth-Century Popular Music Revolution in London, New York, Paris, and Vienna, New York u.a. 2008.

Quellen The Arcadians (1909) / Schwindelmeier & Co. (1912) 17

Quelle 1: The Arcadians 18 Sombra Smith Sombra Smith Sombra Smith Chrysaea Smith

Sombra Smith All

Have you come from Time? No, from London. London? Oh, they’ve heard of the wicked old village. It’s one of the monsters! Monster! That’s nasty! Oh, it’s the aeroplane suit. You wait till you see me in frock coat and top hat basking in Bond Street. Bond Street? Yes, you have heard of Bond Street? No? Oxford Street? Regent Street? A woman and never heard of Regent Street? Why, don’t you know what shops are? No, what are shops? Never heard of shops? No. Tell us about shops.

17 Die Quellen sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . 18 The Arcadians (1909), British Library, Manuscripts, Lord Chamberlain’s Plays 1909/10, 1. Akt.

Schwindelmeier in Arkadien

Smith Sombra Smith

Astrophel Smith

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Well, thank goodness, they know what curiosity is. Well, shops, you know, – well, they’re the places where they sell things. Sell? What is sell? I begin to think this is the biggest sell I’ve had. Good gracious! Do you mean to say you never buy anything? You, sir — you buy them frocks and jewellery and ice creams and chocolates and motor cars? No. I don’t know what it is to buy. Lucky beggar. But you know what money is? (Shows some. They take it eagerly and examine it) Ah, that’s woke ‘em up- They’re human after all. Here, I say, you don’t want to keep it too long. You might get attached to it.

Quelle 2: Schwindelmeier & Co. 19 Alle (mit wildem Aufschrei) Meier Alle Meier Chrisea Meier

Damon Meier

Aus Berlin!! (Die Frauen verstecken sich hinter den Männern) Ein Wilder, ein Barbar! Man sollte gar nicht meinen, wie beliebt wir Berliner um Auslande sind. – Beruhigt Euch Kinder, ich bleibe bei Euch! Du bleibst. Ich werde Euch erzählen von den Linden, der Friedrichstrasse, von der Tauentziehn. Lauter Worte, die wir noch nie im Leben gehört haben. Da habt Ihr auch wohl noch nie gewertheimt, getiezt, gejandorft, gegersont? Hab wohl keine Ahnung von den entzückenden Lädchen für die entzückenden Mädchen, wo man kaufen kann, kaufen, kaufen…20 Kaufen? Was bedeutet dieses seltsame Wort? Haben Sie so was erlebt? – Kaufen heisst kaufen! Nu nein – man wird ihnen was schenken! Wollen Sie mir etwa einreden, dass Sie blos wegen Ihrem schönen Ponim 21 hier Hahn im Korbe sind? Wollen Sie mir einreden, dass sie Ihre Puppchen noch niemals eingepuppt haben? – Erst Bonbonchen,

19 Schwindelmeier & Co. (1912), Theaterhistorische Sammlung der Freien Universität Berlin, Nachlass Julius Freund 97/02/w163, 1. Akt, 6. Szene. 20 Wertheim, Tietz, Jandorf und Gerson waren die größten Warenhäuser von Berlin um die Jahrhundertwende. 21 Gesicht.

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Serena Meier

Tobias Becker

dann boutonchen, 22 ’n paar Schleierchen, ’n paar Reiherchen, Blüschen für’s Büschen, Dessouchen, Froufrouchen 23 – mit einem Worte – alles was Ihr anhabt – das nennt man schenken! Schweig Fremdling, wir wollen gar nicht, dass man uns etwas schenkt! … Ihr habt kein Geld? – Wir in Berlin auch nicht, aber wir tun wenigstens so! Wenn Ihr übrigens durchaus wissen wollt, was Geld ist, müsst Ihr Euch nicht an mich, sondern an Bleichröder wenden, der hat mehr praktische Erfahrung. Hier habt Ihr ’ne Probe! (Zeigt ihnen Geld) 24

22 Ohrring. 23 Rüschenbesetzter Unterrock. 24 Gerson von Bleichröder (1822–1893), Bankier.

HÄNDLER, SAMMLER UND MUSEEN. DER EUROPÄISCHE KUNSTMARKT UM 1900 1 Gabriele B. Clemens

Der Kunstmarkt beschränkte sich nie auf einzelne Städte oder Regionen, doch spätestens seit dem Ancien Regime nahmen seine europäischen Dimensionen kontinuierlich zu. Dabei sind Kunst und Kommerz zwei Sphären, die sich nicht voneinander trennen lassen. Noch nie wurde so viel Geld mit Kunst umgesetzt wie heute. Niemals zuvor war Kunst so teuer, zu keiner Zeit fanden sich so viele Kenner, Käufer und Spekulanten. Vor rund 200 Jahren waren die Dimensionen noch andere. Während im 18. Jahrhundert neben der Kirche das Mäzenatentum der Fürsten und einer kleinen Elite von weiteren Adeligen und reichen Bürgern entscheidend war, trat im 19. Jahrhundert ein breiteres Publikum auf den Plan, das die Ausstellungen der Akademien und die der neu gegründeten Museen zu regelrechten Massenspektakeln anschwellen ließ. Vielerorts wurden Kunstvereine gegründet, deren Mitglieder kollektiv Künstler förderten. In der Publizistik nahmen Diskussionen über Kunst und Kunstwerke auffallend zu. Eine besonders große Dynamik erfuhr der europäische und transatlantische Kunstmarkt dann seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Preise für die sogenannte klassische Kunst schossen förmlich durch die Decke, da es immer mehr steinreiche Käufer gab, die ihre neu gebauten oder renovierten Villen und Schlösser dem Zeitgeschmack entsprechend opulent ausstaffieren wollten. Dieses außerordentliche finanzielle und partiell auch persönliche Engagement der Eliten konzentrierte sich darüber hinaus auf die Gestaltung des öffentlichen städtischen Raumes. In Europa vollzog sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein geradezu stürmischer Urbanisierungsprozess. Mit den neuartigen Lebensbedingungen veränderten sich auch die Gesellschaft und ihre kulturellen Bedürfnisse. In den rasch expandierenden Zentren prägten die durch Industrialisierung und Handel reich gewordenen Bürger neben dem weiterhin gesellschaftlich dominierenden Adel eine elitäre Kultur. Auf der Grundlage ihres enormen Vermögens entstanden neue exklusive Stadt- und Villenviertel, 2 sie stifteten Denkmäler, zoologische Gärten, Opernhäuser, 3 Gemäldegalerien, Bibliotheken, 1

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Essay zur Quelle: J. Beavington Atkinson: Ausstellung alter Meister in der Londoner Akademie (1875). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Reif, Heinz (Hg.), Berliner Villenleben. Die Inszenierung bürgerlicher Wohnwelten am grünen Rand der Stadt um 1900, Berlin 2008. Schimpf, Gudrun-Christine, Geld – Macht – Kultur. Kulturpolitik in Frankfurt am Main zwischen Mäzenatentum und öffentlicher Finanzierung 1866–1933, Frankfurt am Main 2007; Zimmermann, Clemens (Hg.), Städtische Kulturförderung, Berlin 2008.

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Museen 4 sowie Kirchen, Kranken- und Waisenhäuser. 5 Zur Förderung von Kultur, Wissenschaft und Caritas versammelten sich die Honoratioren in zahllosen Gesellschaften und Vereinen. So entstanden im städtischen Raum neue kulturelle Institutionen, wo sich Mitglieder der örtlichen Oberschicht regelmäßig begegneten. Aufgrund der rasch wachsenden Vermögen traten Industrielle, Bankiers und Kaufleute nun aber auch zunehmend als Mäzene und Kunstsammler auf. Die sich formierende „gute Gesellschaft“ bot den glanzvollen Rahmen für die Entwicklung nicht nur von öffentlichen, sondern auch von privaten Sammlungen, die interessierten Besuchern gerne präsentiert wurden. 6 Die in historistischen Stilen erbauten Stadtvillen und Sommerschlösser mit ihren in wenigen Jahren erworbenen Kunstsammlungen wurden zu einer Bühne, auf der Sammler ihre kulturelle Praxis effektvoll inszenierten. Es erhöhte das Prestige beträchtlich, wenn man als Kunstkenner galt, denn Mäzenatentum und „Kennerschaft“ bildeten ein wesentliches Merkmal sozialer Distinktion. Pierre Bourdieu betont, dass die Bedeutung von Machtkämpfen im ästhetischen Feld nicht auf die Sphäre der Kunst beschränkt bleibt, sondern dass diese immer auch sozial wirksam sind. 7 Warum gerade exquisite Kunstsammlungen gesellschaftliches Prestige versprachen, erläuterte der Kunsthistoriker Max J. Friedländer: „Der Kunstbesitz ist so ziemlich die einzige anständige und von gutem Geschmack erlaubte Art, Reichtum zu präsentieren. Den Anschein plumper Protzigkeit verjagend, verbreitet er einen Hauch ererbter Kultur. Die Schöpfungen der großen Meister geben dem Besitzer von ihrer Würde ab, zuerst nur scheinbar, schließlich auch wirklich.“ 8

Dabei waren die Neureichen auf Expertenrat angewiesen, um Wert und Echtheit von Bildern, Plastiken, kunstgewerblichen und archäologischen Objekten besser beurteilen zu können. Das Spektrum der Kunsthändler und -makler war groß und wurde bisher kaum erforscht, was sich nicht zuletzt aufgrund der schwierigen Quellenlage erklären lässt. Fest steht, dass sich der professionelle Kunstmarkt in den deutschen Ländern erst viel später entwickelt hat als in den Niederlanden, England oder Frankreich. Zunehmend etablierten sich erfolgreiche Kunsthandlungen in den Metropolen im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, wie etwa die von Alfred Flechtheim, Bruno und Paul Cassirer sowie Hermann Pächter in Berlin. Typisch ist, dass selbst Pächter, der immerhin Max Liebermann zeitweilig unter Vertrag hatte und den mit Adolph von Menzel eine lebenslange Freundschaft und Geschäftsbeziehung verband, sich nicht einzig und allein auf den Handel mit Bildern konzentrierte. Er verkaufte darüber hinaus Ostasiatika und Edelsteine, wobei 4 5

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Sheehan, James J., Geschichte der deutschen Kunstmuseen. Von der fürstlichen Wunderkammer zur modernen Sammlung, München 2000. Adam, Thomas; Retallack, James (Hgg.), Zwischen Markt und Staat: Stifter und Stiftungen im internationalen Vergleich, Leipzig 2001; Adam, Thomas; Frey, Manuel; Strachwitz, Graf Rupert von (Hgg.), Stiftungen seit 1800. Kontinuitäten und Diskontinuitäten, Stuttgart 2009. Zum Begriff der „guten Gesellschaft“ vgl. Elias, Norbert, Studien über die Deutschen. Machtkämpfe und Habitusentwicklung im 19. und 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 31998. Bourdieu, Pierre, Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, Reinhard (Hg.), Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 183–198. Friedländer, Max J., Über das Kunstsammeln, in: Der Kunstwanderer 1 (1919), S. 1.

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diese breite Angebotspalette im Konsumverhalten der Kunden begründet lag. Diese beauftragen Kunsthändler nicht selten mit der Gesamtausstattung ihrer Villen angefangen bei Bildern, über kunstgewerbliche Sammlungen bis hin zu alten orientalischen Teppichen. 9 Der exklusive Kunstmarkt mit seinen elitären Kunden umfasste Europa, die transatlantische Welt und nahm aufgrund des Einsatzes von Eisenbahnen und Dampfschiffen schließlich globale Dimensionen an. Vermögende Sammler wie das Fabrikantenehepaar von Heyl zu Herrnsheim bewegten sich bei ihren Erwerbungen für ihre Stadtvilla bzw. ihr Privatmuseum in Worms ganz selbstverständlich im europäischen Rahmen. Sie erwarben Kunstobjekte von dem Hofantiquar Julius Böhler in München, von den Kölner Kunsthändlern Frères Bourgeois, dem Kunst- und Antiquitätenhändler Julius Goldschmidt in Frankfurt und kauften über den Kölner Kunsthändler Steinmeyer einen Rubens für 45.000 Mark, den jener in London akquiriert hatte. Von Charles Sedelmeyer, der eine „Galerie de dernier chic“ in Paris führte, bezogen sie zwei Gemälde von Frans Hals für 70.000 Mark. Dessen Schwiegersohn Eugen Fischhof vertrat Sedelmeyer wiederum in Amerika und betrieb ebenfalls eine Niederlassung in Paris. 10 Ein Teil des Kunsthandels wurde nicht in speziellen Galerien abgewickelt, sondern lief über private Netzwerke, über die wir noch wenig wissen. So standen die Heyls auf der Kundenliste des Berliner Museumsdirektors Wilhelm von Bode. Er spielte eine kaum zu überschätzende Rolle beim Aufbau vor allem deutscher Sammlungen. 11 Jährlich reiste er nach Ober- und Mittelitalien, Paris und London, häufig auch nach Wien auf der Suche nach möglichst preiswerter Renaissancekunst, wobei er sich auf italienische und niederländische Stücke spezialisierte. Seinen exzellenten Ruf als Experte nutzte er geschickt, um die Sammlerszene reichsweit zu beraten; und diesen Rat bezüglich Wert und Echtheit vor allem barocker und renaissancezeitlicher Kunst ließ er sich teuer bezahlen. Neben seinen Honoraren legte er den Kunden nahe, hohe Geldbeträge oder Gegenstände für die staatlichen Museen in Berlin oder Straßburg zu stiften. 12 Zu seiner Klientel gehörten neben der Wormser Familie von Heyl zu Herrnsheim, die Kölner Bankiers von Oppenheim und die Berliner Sammlerszene. Auf seinen Reisen quer durch Europa baute von Bode ein internationales Kontaktnetz zu Antiquaren, Händlern und Sammlern auf. In seinen Memoiren berichtet er von erfolgreichen Ankäufen, seinen sicheren Einschätzungen bezüg9

Clemens, Gabriele B., Der rheinische Kunstmarkt, Mäzene und Sammler im langen 19. Jahrhundert, in: Rheinische Vierteljahresblätter 76 (2012), S. 205–225. 10 Heisig, Ines, Die Unternehmerfamilie von Heyl in Worms: Aspekte privater Kulturförderung im Kaiserreich, in: Clemens, Gabriele B.; König, Malte; Meriggi, Marco (Hgg.), Hochkultur als Herrschaftselement. Italienischer und deutscher Adel im 19. Jahrhundert, Tübingen 2011, S. 233–252. 11 Gaehtgens, Thomas W.; Paul, Barbara (Hgg.), Bode, Wilhelm von, Mein Leben, 2 Bde, Berlin 1997. 12 Lenman, Robin, Die Kunst, die Macht und das Geld. Zur Kulturgeschichte des kaiserlichen Deutschland 1871–1918, Frankfurt am Main 1994, S. 79; Stockhausen, Tilmann von, Gemäldegalerie Berlin. Die Geschichte der Erwerbungspolitik 1830–1904, Berlin 2000.

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lich Echtheit und Zuschreibungen, aber auch von der zunehmenden Konkurrenzsituation, denn gleich ihm bereisten andere Experten und Sammler die wichtigsten Marktplätze in Italien, Frankreich und England auf der Suche nach Altmeistern, Keramik und Trouvaillen aller Art. Wiederholt begegnete Bode dem französischen Bankier Alphonse de Rothschild, der bereit war, Höchstpreise für seine Sammlungen auszugeben. Wenn er persönlich als Interessent auftrat, schnellten die Preise gleich in die Höhe. Deshalb verhandelten häufig Strohmänner oder Makler für die prominente Kundschaft. Regelmäßig reiste auch das Pariser Bankiersehepaar Jacquemart-André nach Italien und kaufte dort systematisch italienische Renaissancekunst für ihr Stadtpalais am Boulevard Haussmann auf.13 Mitstreiter um die schönsten Stücke stammten aus der Bourgeoisie und dem frischen Adel aus Turin, Genua, Mailand, Livorno und Rom, die denselben Handlungsmechanismen folgten. In den Jahrzehnten vor dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges etablierten sich in den Metropolen Europas ganze Sammlerszenen, die aufgrund von industriellen Unternehmungen, Eisenbahnbau, Immobilienspekulationen und Bankgeschäften binnen weniger Jahrzehnte zu immensen Vermögen gekommen waren. Diese neuen großbürgerlichen Kunstsammler gesellten sich zu den traditionellen Kunstkäufern aus Adels- und Hofkreisen und orientierten sich weitgehend an den von der Aristokratie vorgelebten Wertemustern. Stilprägend für die Sammlerkultur waren neben den bereits seit Jahrhunderten aufgebauten Sammlungen des Adels im langen 19. Jahrhundert weiterhin italienische und französische Vorbilder. Die Metropole Paris gab in Fragen des guten Geschmacks, der Mode und der Kultur unangefochten den Ton an. Vorbildcharakter für ein aufwendig arrangiertes repräsentatives Kunstsammeln wurde Alexandre Du Sommerards privatem kulturhistorischen Museum im Pariser Hôtel de Cluny zugesprochen. Der Beamte und Archäologe lebte in seinem mittelalterlichen Palais inmitten von Originalgemälden, Skulpturen und Möbeln, was ihm als Sammler die Möglichkeit einer spezifisch historisierenden Inszenierung bot. Den Schwerpunkt der Kollektion bildeten die während Jahrzehnten gesammelten Kunstwerke, kunstgewerbliche Objekte und Textilien des Mittelalters und der Renaissance. Nach dem Tod Du Sommerards kaufte der Staat 1843 sie samt Palais und verwandelte es in ein öffentliches Museum. Sowohl in Frankreich, als auch in Europa und später in Amerika ging von dieser Art des repräsentativen Sammelns eine prägende Wirkung aus. Dem Vorbild Du Sommerards folgend wurden Gemälde, Skulpturen und Möbel in Stadtpalais und Schlössern nach Themengruppen arrangiert. Im Inneren der großbürgerlichen Villen dominierte wie in Paris der Hofstil mit Repräsentationstreppen, Salons und Damen- und Herrenzimmer, in denen ältere Portraits eine imaginäre historische Ahnenreihe vorspielten. 14 Auch skulpierte Wappenschilde und die 13 Monnier, Virginie, Édouard André. Un homme, une famille, une collection, Paris 2006. 14 Neureiche Bürger und frisch Nobilitierte inszenierten mit älteren Portraits derartige Ahnengalerien, um ihrer Familie altehrwürdiges Ansehen zu verleihen, Prevost-Marcilhacy, Pauline, James de Rothschild à Ferrières: les projets de Paxton et Lami, in: Revue de l’Art 100 (1993), S. 58–73.

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Vorliebe für alte Gobelins spiegelten höfische Repräsentationsformen. Wie in Frankreich richtete man die Zimmer nach der jeweiligen Funktion in verschiedenen Stilen ein. Schlafzimmer und Salon hielt man im französischen Königsstil (Louis XV. oder Louis XVI.), wohingegen Speisezimmer und das Arbeitszimmer der Hausherren bevorzugt im Stil der Renaissance eingerichtet wurden. 15 Da die deutsche Bürgertumsforschung das Mäzenatentum im 19. Jahrhundert als Form bürgerlichen Engagements entdeckt hat, mag in den letzten Jahren der Eindruck entstanden sein, der typische Mäzen sei ein erfolgreicher Großindustrieller gewesen, der mit Sachverstand und Spürsinn Impressionisten und Expressionisten gekauft habe. Als Beispiele seien hier nur die Sammlungen von Max Silberberg, Alfred Cassirer und Bernhard Koehler genannt. 16 Diese Art von Mäzenen hat es natürlich gegeben, aber sie befanden sich noch in der absoluten Minderheit, denn die überwiegende Mehrzahl huldigte einem traditionellen bis konservativem Kunstgeschmack. Sie orientierten sich an aristokratischen Vorbildern und kauften klassische Bilder, allen voran die der holländischen Maler des Goldenen Zeitalters und Renaissancekunstwerke aus Italien, was auch die vorliegende Quelle über die Ausstellung der alten Meister in der Londoner Akademie belegt. 17 Folglich entsteht insgesamt der Eindruck, dass hier nicht leidenschaftliche Kunstsammler am Werk waren, sondern Kaufleute, die kanonisierte Kunst als Investition betrachteten. Deutlich wird dies vor allem bei Akquisitionen „en bloc“. So kauften die Oppenheims – auch hier aristokratischen Vorbildern folgend – gleich ganze Sammlungen auf. 18 Als Lieferanten für die begehrten Objekte fungierten jene aristokratischen Familien Europas, die finanziell unter Druck geraten waren. So vermittelte Wilhelm von Bode 1866–1869 gleich 13 Bilder der alten Florentiner Adelsfamilie Marchese Torrigiani für die Sammlungen der Lady Harriet Sarah Wantage in London, den Wiener Fürsten von Liechtenstein und den Bankier Rudolf Kann in Paris. Dieser aus Frankfurt stammende Kaufmann hatte sich zu Beginn der 1870er-Jahre in Paris etabliert und in seinem Palais in der Avenue d’Jéna eigene Galeriesäle mit Oberlicht einrichten lassen. Nach Kanns Tod 1905 wurde die Kunstsammlung über den Kunsthändler Duveen an verschiedene amerikanische Sammler vermittelt. Auch die italienische Fürstenfamilie Sciarra ließ einen Teil ihrer wertvollen Sammlung 1891/92 heimlich außer Landes bringen und in Paris versteigern, was in Italien zu erregten Diskussionen führte. Zum einen waren diese Bilder Bestandteil des Fideikommiss der Familie und hätten gar nicht verkauft werden dürfen, zum anderen beobachtete der italienische Staat die zahlreichen 15 Kuhrau, Sven, Der Kunstsammler im Kaiserreich. Kunst und Repräsentation in der Berliner Privatsammlerkultur, Kiel 2005. 16 Ludwig, Anna-Dorothea et al. (Hgg.), Aufbruch in die Moderne. Sammler, Mäzene und Kunsthändler in Berlin 1880–1933, Köln 2012. 17 Vgl. Atkinson, J. Beavington, Ausstellung alter Meister in der Londoner Akademie, in: Kunstchronik (1875), H. 21, S. 326–330. 18 Effmert, Viola, Sal. Oppenheim jr. & Cie. Kulturförderung im 19. Jahrhundert, Köln u.a. 2006, S. 120. Diese Akquisitionen en bloc imitierten wiederum traditionelle feudale Sammelmuster.

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Kunstverkäufe seitens der alten Familien mit Argwohn und interpretierte diesen Prozess als Aderlass des nationalen Erbes. Die Verkäufe in andere europäische Länder oder in die Vereinigten Staaten nahmen aber kein Ende. So veräußerte das Adelsgeschlecht Chigi aus Siena seine frühneuzeitliche Kunstsammlung. Und die Londoner Nationalgalerie kaufte gleich vier Werke von Canaletto, die sich zuvor im Besitz des Conte Fenaroli in Brescia befunden hatten. Auch englische Adelsgeschlechter sahen sich zum Verkauf einzelner wertvoller Stücke oder ganzer Sammlungen gezwungen. So spekulierte die internationale Kunstszene Ende der 1870er-Jahre darauf, dass die Sammlungen des Herzogs von Hamilton, des Herzogs von Marlborough und des Earls von Ashburnham unter den Hammer kämen. 1881 wurde dann die Kollektion des Herzogs von Hamilton versteigert, 1892 die Sammlung des Earl of Dudleys. Im selben Jahr erwarb der italienische Staat die Stadtvilla der Familie Borghese mit ihren Kunstsammlungen. Nobilitierte und Großbürgerliche kauften jedoch nicht nur Kunst, sondern auch Landsitze des Adels und bewahrten ihn so partiell vor seinem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Abstieg. Außerdem trug ihre Heiratspolitik dazu bei, den alten Adel zu stabilisieren. Die frisch Geadelten heirateten nach ihrer Standeserhöhung ganz bewusst in adlige Traditionsfamilien ein, welche partiell durch die Umwälzungen und Reformen seit der Französischen Revolution in eine finanziell schwierige Lage geraten waren. In dieser Situation konnte es entlasten, einen Teil der Güter zu verkaufen, um das Familienerbe zu retten. Auch hohe Mitgiftzahlungen seitens des neuen Adels trugen dazu bei, Überschuldungen abzubauen. Die neuen Kunstsammlungen wurden aber nicht nur genutzt, um sie in privaten Räumlichkeiten einem exklusiven Kreis zu präsentieren, sondern auch um sie öffentlich zur Schau zu stellen. Kaufleute und Bankiers liehen immer wieder Bilder europaweit für öffentliche Ausstellungen aus, weil sie so für den Namen ihrer Firma werben konnten, und zugleich stieg der Wert der Gemälde. So schickten etwa Kölner Sammler, wie die Bankiersfamilie der Freiherren von Oppenheim im Laufe des 19. Jahrhunderts ihre Kunstwerke auf die Weltausstellungen in Paris oder Wien und zu nationalen Kunstschauen nach Berlin, um so ihren Ruhm und ihr Prestige zu mehren. In der deutschen Reichshauptstadt war es wiederum Bode, der es verstand, die Sammlerszene zu Leihgaben zu bewegen, etwa anlässlich der Silberhochzeit des Kronprinzen Friedrich. Ein weiteres Ziel der Sammler war es, ihre Sammlungen oder einen Teil davon für öffentliche Museen etwa den Berliner und Münchener Galerien oder dem Louvre zu stiften, wobei derartige Stiftungen und Schenkungen fast immer an die Bedingung gebunden waren, einen Raum nach den großzügigen Gebern zu benennen. So sollte ein ehrendes Andenken an die Familie für alle Ewigkeit gewahrt werden. Topsammler gingen sogar noch einen Schritt weiter. Sie schenkten ihren Kommunen gleich ein ganzes Museum, wiederum mit der Auflage, den Namen und die komplette Sammlung für zukünftige Generationen zu erhalten. Auch hierbei handelt es sich um ein europaweites und transatlantisches Phänomen, was einige prominente Beispiele belegen mögen. So stiftete die Familie der Freiherren Heyl zu Herrnsheim ihre neubarocke Stadtvilla samt Sammlung der Stadt Worms.

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Die sogenannte Stiftung Kunsthaus Heylshof kann man noch heute besichtigen. Die Pariser Bankiersfamilien Jacquemart-André und die des Grafen Moïse de Camondo schenkten ihre während des Zweiten Kaiserreichs errichteten Stadtpalais im vornehmen Viertel Monceau der Kommune. 19 In Mailand waren es wiederum die Familien Bagatti Valsecchi oder der Conte Gian Giacomo Poldi Pezzoli, die ihre Palazzi inklusive Sammlungen der Stadt vermachten, wobei das Vorbild der Poldi-Pezzoli, wiederum die Amerikanerin Isabella Stewart Gardner in Boston zur Nachahmung inspirierte. 20 Weitere heute noch zu besichtigende Sammlungen wie die Wallace Collection oder das Wellington House in London verdanken ihren Ursprung ebenfalls adligen Familien. 21 Fest steht, dass sich die Szene europaweit wetteifernd beobachtete und als Vorbild für amerikanische Sammler wirkte. 22 Es besteht aber noch ein erheblicher Forschungsbedarf bezüglich des Aufbaus dieser transnationalen Netzwerke, des Funktionierens der Marktmechanismen und der Preisentwicklung. Auf jeden Fall hatte sich der Kunstmarkt im langen 19. Jahrhundert von einem noch weitgehend privat organisierten Handel, als etwa Könige wie Wilhelm I. von Württemberg seinen Konsul in Rom beauftragte, das eine oder andere Stück aufgrund von Expertenrat anzukaufen und Ölgemälde noch für einige 100 Taler zu haben waren, zu einem globalen Spekulationsgeschäft entwickelt. 23 Vor allem für begehrte Altmeister waren die neureichen Eliten vor dem Ersten Weltkrieg bereit, Unsummen auf den Tisch zu legen, egal ob sie Krupp von Bohlen und Halbach, Baron von Rothschild oder J. Pierpont Morgan hießen. 24 Die Sammler und Händler nutzten für ihre Geschäfte selbstverständlich ihre europäischen und transatlantischen Verbindungen, wobei die Auktionshäuser in London und Paris mit Abstand als Marktführer agierten. Literaturhinweise Gaehtgens, Thomas W.; Paul, Barbara (Hgg.), Bode, Wilhelm von, Mein Leben, 2 Bde., Berlin 1997. Kuhrau, Sven, Der Kunstsammler im Kaiserreich. Kunst und Repräsentation in der Berliner Privatsammlerkultur, Kiel 2005. Lenman, Robin, Die Kunst, die Macht und das Geld. Zur Kulturgeschichte des kaiserlichen Deutschland 1871–1918, Frankfurt am Main 1994. Prevost-Marcilhacy, Pauline, Les Rothschild. Batisseurs et mécènes, Paris 1995. 19 Als Lektüre ist in diesem Zusammenhang der sehr gut recherchierte Roman zu einer weiteren Pariser Bankiers- und Sammlerfamilie den Ephrussis, von De Waal, Edmund, The Hare with Amber Eyes, London 2000 (in deutscher Übersetzung: Der Hase mit den Bernsteinaugen, München 2013) zu empfehlen. 20 Pavoni, Rosanna, Reviving the Renaissance. The Use and Abuse of the Past in NineteenthCentury Italian Art and Decoration, Cambridge 1997; Goldfarb, Hilliard T., The Isabella Stewart Gardner Museum, New Haven, London 1995. 21 Hughes, Peter, The Founders of the Wallace Collection, London 2011. 22 Saltzmann, Cynthia, Old Masters, New World. America’s Raid on Europe’s Great Pictures, London 2008. 23 Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 14 Königliches Kabinett, 220. 24 Prevost-Marcilhacy, Pauline, Les Rothschild. Batisseurs et mécènes, Paris 1995.

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Saltzmann, Cynthia, Old Masters, New World. America’s Raid on Europe’s Great Pictures, London 2008.

Quelle J. Beavington Atkinson: Ausstellung alter Meister in der Londoner Akademie (1875) 25 Diese sechste Jahresausstellung liefert den erneuerten Beweis von der Bedeutung der englischen Privatsammlungen in Ansehung sowohl der Qualität als auch der Quantität. Die Royal Academy, welche eine Körperschaft lebender Künstler zur Pflege und Förderung der modernen Kunst bildet, hat auch der alten Kunst einen guten Dienst geleistet, indem sie ihre schönen Säle der Ausstellung alter Meister und verstorbener britischer Künstler zur Verfügung stellte. Mit großem Beifall, namentlich seitens der gebildeten Welt, wurde auch heuer die Ausstellung begrüßt, die so viele Meisterwerke, welche dem Publikum sonst nicht zugänglich sind, da sie sich in den vornehmen Häusern London’s und der Provinzen befinden, an die Oeffentlichkeit zieht. In früheren Jahren waren die Sammlungen des Grafen von Dudley und des Herzogs von Westminster ausgestellt; zu dieser sechsten Ausstellung haben vornehmlich die Königin, der Graf von Yarborough, der Herzog von Abercorn, der Marquis von Bristol, Graf Fitzwilliam, der Herzog von Sutherland und Sir William Miles beigesteuert, dazu noch manche hier nicht genannte Kunstfreunde, deren Namen von dem Aufschwunge des Kunstinteresses Kunde geben, der mit dem Wachsthume des Nationalwohlstandes Hand in Hand gegangen ist. Im Ganzen sind 269 Werke ausgestellt, von denen die Hälfte etwa auf die englische Schule kommt. Sie sind meist von kleinem Formate, wie es die englischen Sammler lieben, doch füllen sie fünf Säle und einen Vorsaal. Die Bestimmung von vielen Gemälden unterliegt wie gewöhnlich dem Zweifel, und die Akademie hat wohlweislich, um sich keiner Beschämung auszusetzen, angekündigt, daß sie für die Authencität keine Verantwortung übernehmen könne. Dr. Waagen, der viele unserer Privatsammlungen besucht und über ihre Bestände in seinen „Treasures of Art in Great Britain“ berichtet hat, war bisweilen zu leichtgläubig und zu nachsichtig, als daß man ihm eine unfehlbare Autorität beimessen könnte. Seine Bücher besitzen indeß immer noch den Werth von Katalogen für diejenigen Sammlungen, über welche Verzeichnisse nicht vorhanden sind. Die Art und Weise, wie viele englische Sammlungen zusammengebracht sind, flößt kein großes Vertrauen ein. Vor einem Jahrhundert oder noch längerer Zeit schickte man Agenten oder Händler nach Italien, die für unseren Adel ankaufen mußten, was eben zu haben war; und so wurde denn eine große Menge von Schulbildern eingeführt, denen man auf Muthmaßung hin große Namen anheftete. Jetzt ist aber die Zeit gekommen, wo in Folge der strengeren Prüfung, welcher Männer wie Crowe und Cavalcaselle die Kunstgeschichte unterworfen haben, die Privatsammlungen England’s manch glänzende Künstlernamen von ihren Bildern fahren lassen müssen. Indeß enthalten sie im Durchschnitt kaum 25 Atkinson, J. Beavington, Ausstellung alter Meister in der Londoner Akademie, in: Kunstchronik (1875), H. 21, S. 326–330. Die Quelle im Transkript und als Faksimile ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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mehr gefälschte Bilder als die Privatgalerien Italiens. England hat immer das vorausgehabt, mehr Geld für den Ankauf von Bildern zur Verwendung zu haben, und so waren Graf Dudley und der verstorbene Marquis von Hertford in der Lage, sich in den Besitz von historisch berühmten Meisterwerken der Kunst setzen zu können, wie die „Kreuzigung“ von Raffael und die „Regenbogen-Landschaft“ von Rubens. Der größte Theil der ausgestellten Gemälde ist nur für England von Interesse; jedoch mögen einige hervorgehoben werden, welche überall gekannt zu werden verdienen. Die Sammlung des Herrn Fuller Maitland zeigt abermals, wie reich sie an Frühitalienern ist. Dieser einsichtsvolle Kunstkenner sicherte sich ebenso wie der verstorbene Alexander Barker zu mäßigen Preisen seltene Denkmäler der toskanischen und anderer Schulen, welche mit dem Fortschritte des öffentlichen Geschmackes zugleich an Werth gewonnen haben. Eine bemerkenswerthe Komposition dieser Gattung ist: „Die Auferstehung Mariä, St. Bonaventura und St. Franciscus in Anbetung.“ Nun regt sich die Frage nach dem Urheber. Das Bild ist früher einmal als ein Werk des Giotto gestochen, ist aber sicherlich keines; jetzt wird es in dem Ausstellungskataloge dem Fra Angelico zugeschrieben, dem es auch Crowe und Cavalcaselle zusprechen. Indeß machen sich bei seiner gegenwärtigen Ausstellung auch dagegen Bedenken geltend. Man hat darauf hingewiesen, daß der Goldgrund und die goldenen Verzierungen der Draperien, die mit durchsichtigen Farben übergangen und geglättet sind, der eigenthümlichen Weise der frühsienesischen Schule angehören. Die Arbeit, mag nun der Maler gewesen sein, wer er wolle, ist unzweifelhaft ein treffliches Beispiel der spiritualistischen toskanischen Schule. Ein anderes bedeutendes Gemälde, ebenfalls aus der Sammlung Fuller Maitland, ist von Cosimo Rosselli gemalt, einem Künstler, der am meisten durch sein Fresko in der Sixtinischen Kapelle: „Die Bergpredigt“ bekannt ist. Die hier ausgestellte sonderbare Komposition ist „Christus am Kreuze“; der Erlöser, dick eingehüllt in ein schwarzes, mit Juwelen verziertes Gewand, den einen Fuß auf den Abendmahlskelch setzend, ist umgeben von Engeln und Seraphim; im Vordergrunde befinden sich in lebensgroßen Figuren Johannes der Täufer, die Heiligen Dominicus und Hieronymus und der Erzbischof Antonius von Florenz. Das Bild, in Tempera auf Holz gemalt, ist theilweise restauriert. Es stammt aus der Sammlung Golly, war auch in der großen Ausstellung zu Manchester vorgeführt und ist von Waagen sowohl als auch von Crowe und Cavalcaselle beschrieben. Es gehört dem fünfzehnten Jahrhundert an und ist merkwürdig wegen des bekleideten Kruzifixes zu einer Zeit, als in der römischen Kirche die bekleidete Figur des Gekreuzigten der nackten Platz gemacht hatte. Außerdem ist das einzige, hier ausgestellte erwähnungswerthe Werk der frühitalienischen Schulde, „Die Anbetung der heiligen drei Könige“ aus der Sammlung Barker, genugsam bekannt aus der Beschreibung bei Crowe und Cavalcaselle, welche in der Darstellung des Nackten einen großen Fortschritt rühmen. Der muthmaßliche Urheber war Fra Filippo Lippi, doch muß die Arbeit dann früher entstanden sein, zu einer Zeit, als er unter den Einfluß des Fra Angelico kam. Die „Verkündigung“ in der Nationalgalerie gehört derselben Richtung und Zeit an. Einige Kritiker wollen beide Gemälde dem Pesellino zuweisen, der ein Schüler und Nachahmer des Frau Filippo Lippi war. Diese die verschiedensten Richtungen vertretende Sammlung liefert abermals den Beweis, daß bedeutende Gemälde Nachahmungen im Gefolge haben; wir sehen, wie die Alten sich nicht scheuten, ihre Kompositionen bei vorhandener Nachfrage zu wiederholen, und nach Verlauf von Jahrhunderten wird es nun kaum noch möglich sein, Priorität und Urheberschaft zu bestimmen, eine Konfusion, welche durch die sonst unschätzba-

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ren Arbeiten von Crowe und Cavalcaselle in einigen Punkten schlimmer als je geworden ist. Nicht weniger als sieben Gemälde sind hier dem Tizian zugeschrieben; das eine ist das wohlbekannte „Abendmahl zu Emaus.“ [sic] Es giebt wenigstens vier Darstellungen dieser Scene von Tizian, eine im Louvre, eine andere in dem Nationalmuseum zu Neapel, eine dritte im Nationalmuseum zu Dublin und nun eine vierte, aber gewiß nicht die beste, aus der Sammlung Yarborough. Ebenfalls zum Widerspruch herausfordernd ist eine ausgeführte Studie zu dem berühmten Gemälde „Petrus Martyr“, das im Jahre 1867 in Venedig bei dem Brande der Kirche S. S. Giovanni e Paolo zu Grunde ging. Nach diesem verhängnisvollen Brande würde die Nationalgalerie zu London gern jede Anzahl derartiger „Studien“ angekauft haben. Sieben Jahr früher besaß die irische Nationalgalerie schon eine „Replik oder sehr alte Kopie“, eine andere Replik oder Kopie ist im mittleren Frankreich aufgetaucht. Diese verschiedenen Versionen unterscheiden sich in einigen Punkten von dem Original – Abweichungen, welche, wie man schließt, nur von Tizian selbst herrühren können. Originalzeichnungen zum Petrus Martyr wurden auf der Auktion Woodburn in London verkauft. England besitzt eine große Anzahl spanischer Gemälde; die Kriege, welche Spanien arm machten, bereicherten die Privatsammlungen des Herzogs von Wellington und anderer. Indeß die vorzüglichsten Werke der spanischen Schule, die sich in England finden, fehlten auf der diesjährigen Ausstellung. Lord Heytesbury hat die lebensgroßen Figuren der Heiligen Benedikt und Hieronymus hergegeben, die dem Zurbaran zugeschrieben werden und in Anbetracht ihres prächtigen Naturalismus und ihrer tiefernsten Färbung seiner nicht unwürdig sind. Velazquez ist mit einem seiner (23) bekannten Bildnisse Philipps IV. vertreten, auch mit einem von den (12) bekannten Bildnissen des Infanten Don Balthazar Carlos. Die holländische Schule mit Einschluß Rembrandt’s ist besonders stark in englischen Sammlungen vertreten. Von untergeordneter Qualität erscheint die „Anbetung der heiligen drei Könige“ (im Besitze der Königin) und die „Kreuzabnahme“ (Herzog von Abercorn), die beide auf dem Namen Rembrandt getauft sind. Diese zwei Bilder gehören, ob sie gleich aus bedeutenden Sammlungen stammen, demselben Range an, welchen auch der von Herrn Suermondt an die Nationalgalerie verkaufte „Christus, die Kinder segnend“, einnimmt. Dieses von der Regierung zu theuer bezahlte Bild gilt jetzt allgemein als eine Arbeit von Eeckhout oder einem anderen Schüler des großen Meisters. Auch an „Rubens“ fehlt es in englischen Sammlungen nicht; die von Sir William Miles dargeliehene „Bekehrung Pauli“ ist eine wohlbekannte Komposition, von der sich eine etwas variierte Wiederholung in der Münchener Pinakothek findet. J. Beavington Atkinson (Schluß folgt.)

2. POLITIK UND KUNST ZWISCHEN NATIONALISMUS UND INTERNATIONALISIERUNG

OPER, POLITIK UND NATIONALE BEWEGUNG. MYTHEN UM DAS WERK GIUSEPPE VERDIS 1 Axel Körner

Die Geschichte der italienischen Oper ist voll wunderbarer Anekdoten, denen wir häufig mit wohlwollender Sympathie begegnen, die wir teilweise belächeln, denen wir jedoch auch allzu leicht Glauben schenken. Der folgende Beitrag beschäftigt sich mit der Beziehung zwischen Kunst und Politik, speziell der politischen Konnotierung von Oper im 19. Jahrhundert und der Inanspruchnahme Giuseppe Verdis als „Barde der italienischen Nationalbewegung“, ein Bild, das die Rezeption seiner Musik auch heute noch prägt. Aufgrund der engen Verbindung zwischen aufsteigendem Bürgertum, nationalen Bewegungen und dem Kulturanspruch der entstehenden Nationalstaaten untersuchen Historiker das Musiktheater des 19. Jahrhunderts häufig in Hinsicht auf seine Funktion bei der Herausbildung national konstituierter Gesellschaften und nationaler Identitäten. 2 Dabei war Oper jedoch vor allem seit dem 18. Jahrhundert immer eine internationale Kunstform, die Opernindustrie ein internationales Geschäft. So machte der aus Halle stammende Händel in London mit italienischer Oper und dann mit englischen Oratorien Karriere. Mozarts Opern überlebten auf deutschen Bühnen den Tod des Komponisten dank einer in Prag ansässigen italienischen Operntruppe. 3 Der italienische romantismo entstand durch Auseinandersetzung mit englischer und schottischer Literatur. 4 Die so französische Gattung der grand opéra war ganz entscheidend vom preußischen Hofkomponisten Giacomo Meyerbeer bestimmt, prägte aber auch Giuseppe Verdi und Richard Wagner. Selbst transatlantische Ereignisse wie der amerikanische Unabhängigkeitskrieg hatten starke Auswirkungen auf die inhaltliche Entwicklung der europäischen Oper, während ein Roman wie Onkel Toms Hütte den Stoff für das viel-

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Essay zu den Quellen: Oper und Mythos am Beispiel Giuseppe Verdis „Nabucco“. Essay und Quellen sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Siehe beispielsweise die aufschlussreiche Studie von Ther, Philipp, In der Mitte der Gesellschaft. Operntheater in Zentraleuropa 1815–1914, München 2006. Woodfield, Ian, Performing Operas for Mozart. Impresarios, Singers and Troupes, Cambridge 2012. Jahrmärker, Manuela, Themen, Motive und Bilder des Romantischen. Zum italienischen Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Berlin 2006.

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leicht bedeutendste Ballett in der Geschichte des italienischen Tanztheaters lieferte. 5 Trotz dieser transnationalen Bedeutung des Musiktheaters besteht kein Zweifel, dass der Musik des 19. Jahrhunderts, vor allem der des nach-klassischen Zeitalters und dabei ganz besonders der Oper, auch eine große Bedeutung im Prozess der Nationswerdung und der Definition bürgerlicher Nationalkultur zukommt. Was dabei jedoch gelegentlich übersehen wird, ist nicht nur die internationale Dimension der bürgerlichen Musikkultur des 19. Jahrhunderts sondern auch die Tatsache, dass Musik nicht unbedingt von sich aus Nationalkultur war. Vielmehr bedurfte es in der Regel komplizierter Konstruktionsprozesse, um Musik und Musiktheater im Sinne nationaler Ideologie oder der Politik bestehender Nationalstaaten zu deuten. Manchmal sind es die Schöpfer der Musik selbst, die diese national deuten, manchmal das politische und intellektuelle Umfeld der Rezipienten und Kommentatoren. Zahlreiche (vor allem der Romantik und Spätromantik zugeordnete) Komponisten haben sich explizit darum bemüht, nationale Idiome zu entwickeln, häufig durch Bezugnahme auf volkstümliche Traditionen, die wiederum selbst das Produkt kultureller Invention waren. Doch entsprach es durchaus nicht immer den ursprünglichen Intentionen der Komponisten, dass ihre Musik national verstanden wurde; gelegentlich kamen sie erst im Laufe späterer Ereignisse auf entsprechende Ideen. Und was dann eindeutig national konnotiert scheint, klang seinerzeit noch ganz anders. Zur semantischen Entschlüsselung bedürfen wir daher sorgfältig ausgesuchter Quellen der zeitgenössischen Rezeption. Im Folgenden geht es um ein solches Beispiel, in dem Musik erst später, im Rückblick auf den Verlauf politischer Ereignisse, gewissermaßen in teleologischer Perspektive, als Beitrag zur Nationswerdung interpretiert wurde. Jede Prozessgeschichte, auch die Musik betreffend, birgt die Gefahr, historische Entwicklungen auf spätere Ergebnisse hin zu deuten. In der Geschichte des 19. Jahrhunderts wird Kultur daher leicht national verklärt. Gerade darum ist es für Geschichtswissenschaft und historische Musikwissenschaft wichtig, solche Konstruktionsprozesse zu hinterfragen, Quellen der Rezeption genau zu erforschen und sich nicht im Netz romantischer Mythen zu verstricken. Der übereilige Rückgriff auf überlieferte Anekdoten und populärwissenschaftliche Darstellungen der Musikgeschichte kann dazu leicht verleiten. Verdi ist ein klassisches Beispiel für die Projektion national-ideologischer Entwicklungen und patriotischen Engagements auf die Werke des Komponisten. Verdi und das Risorgimento werden gemeinhin in einem Zug genannt, ohne viel Zeit auf die Quellenkritik zu verwenden. Andere, in gewisser Hinsicht viel interessantere Dimensionen seines großartigen Werks verschwinden zuweilen vor diesem recht einfältigen Deutungshintergrund. Während für die Zeit um die Revolution von 1848 recht klare Bezugnahmen des Komponisten auf die politischen Ereignisse Italiens vorliegen, betrifft die national-romantische Verklärung vor 5

Polzonetti, Pierpaolo, Italian Opera in the Age of the American Revolution, Cambridge 2011; Körner, Axel, Uncle Tom on the Ballet Stage. Italy’s Barbarous America, 1850–1900, in: The Journal of Modern History, 83 (2011), H. 4, S. 721–752.

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allem dessen frühere Opern, mit Hilfe derer die nationale Idee in eine Zeit projiziert wird, als Verdi zum Risorgimento kaum Bezug hatte und die nationale Bewegung in Italien auch nur eine recht untergeordnete Rolle spielte. Gelegentlich wird sein gesamtes Leben in der Perspektive späterer politischer Ereignisse und Entwicklungen, vor allem der Einigung Italiens, gedeutet. Insbesondere Verdis Oper Nabucco, im März 1842 in Mailand uraufgeführt, wird häufig als Beispiel für die patriotischen Überzeugungen des Komponisten gedeutet. Dabei wird die Rezeption der Uraufführung durch das Mailänder Publikum, vor allem die angebliche Reaktion auf den berühmten Va pensiero-Chor der von den Babyloniern versklavten und an den Ufern des Euphrats singenden Hebräer, als Schlüsselereignis der italienischen Nationalbewegung rekonstruiert. Vom Heimweh der Hebräer durch Verdis Chor zu Tränen gerührt, wird sich das Opernpublikum (und damit die Nation) ihres eigenen Schicksals bewusst: so oder so ähnlich geht die unzählige Male wiedererzählte Geschichte (Quelle 1). Im Chor der versklavten Hebräer aus dem dritten Akt der Oper ist tatsächlich vom süßen Boden der Heimat und der Erinnerung an das Vaterland, so schön und doch verloren, die Rede (Quelle 2). Doch was moderne Historiker und Historikerinnen leicht als Bezugnahme auf die damalige politische Situation Italiens und Zeichen nationaler Erregung deuten mögen, war für das Publikum der Uraufführung lediglich eine vertraute Geschichte aus dem alten Testament mit Bezug auf Psalm 137. Auch für Verdi selbst und seinen Librettisten Themistokles Solera klang das nicht nach einer Bezugnahme auf die derzeitige Situation Italiens. Zumindest gibt es in den Quellen aus den 1840er-Jahren keinerlei Hinweise darauf, dass Verdi seine Oper als Beitrag zur Nationalbewegung konzipiert hatte, oder dass sein Publikum das Werk entsprechend deutete. Die Legende, dass das Publikum der Mailänder Uraufführung spontan eine Wiederholung des Va pensiero-Chors eingefordert habe – ein Ritus der auch heute in vielen italienischen Opernhäusern anlässlich der Aufführung von Nabucco praktiziert wird – hat sich als Geschichtsklitterung herausgestellt: ein als Beweis zitierter Zeitungsausschnitt bezog sich auf einen ganz anderen Chor. 6 Trotzdem wirkt der Mythos des Va pensiero als nationales Erweckungserlebnis der Italiener oder gar Ursprung der revolutionären Bewegung bis heute nach und rührt patriotisch gesinnte Italiener zu Tränen. Verdi übrigens widmete die Oper einer Prinzessin des Hauses Habsburg, was wohl für eine antiösterreichische Nationaloper kaum angemessen wäre. Das Mailänder Teatro alla Scala wurde derzeit in einer Art joint-venture mit dem kaiserlichen Opernhaus in Wien betrieben. Falls die Uraufführung tatsächlich revolutionäre und nationale Gefühle erregt hätte, wäre die Oper wohl kaum zur Eröffnung der Herbstsaison wiederum auf den Spielplan gelangt; gleichfalls hätten die Behörden die Aufführungen im habsburgischen Venedig, in Wien und in zahlreichen anderen Theatern der Habsburger Monarchie und des Kirchenstaates nicht gestattet. Auch in Folge der kommenden Ereignisse änderte sich nichts an der politischen Harmlosigkeit Nabuccos: zur Zeit der Reaktion, nach der gescheiterten Revolution von 1848, 6

Parker, Roger, ‚Arpa d’or dei fatidici vati‘. The Verdian Patriotic Chorus in the 1840s, Parma 1997, S. 23.

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stand die Oper direkt wieder auf den Spielplänen. Tatsächlich wurde der Mythos um Nabucco erst viel später, in den 1880er-Jahren, lange nach Vollendung der italienischen Einigung erfunden – und der Va pensiero Chor wurde zu einer inoffiziellen Nationalhymne. Verdi selbst wirkte daran mit. Seit 1848, und noch deutlicher um die Zeit des Zweiten Befreiungskriegs im Jahre 1859, identifizierte er sich mit der nationalen Bewegung und ließ sich sogar verschiedene politische Ämter antragen. Doch geht es hier nur indirekt um Verdis musikalische Intentionen oder seine Einstellung zur nationalen Bewegung. Von Interesse ist vielmehr, inwiefern seine Musik, und hier besonders die frühen Opern, einen Beitrag zum Nationalgefühl der Italiener geleistet hat, wie es der Mythos um den Barden des Risorgimento noch immer propagiert. Wurde Nabucco zur Zeit der Uraufführung und in den folgenden Jahren vom Publikum oder den Kritikern entsprechend rezipiert? Dazu gibt es in Quellen und Archiven keinerlei Hinweise. Die überlieferten Zeitungsnotizen zur Frühgeschichte der Oper schweigen sich diesbezüglich aus. Obwohl die Oper sehr erfolgreich war, wird insbesondere der Va pensiero-Chor nur selten erwähnt. Zwar wäre es durchaus denkbar, dass die Zensur Berichte über nationale Ausbrüche der Mailänder anlässlich des Nabucco unmöglich machte, doch auch die in der Stadt immer zahlreichen Ausländer schweigen sich diesbezüglich aus; und als die Oper kurze Zeit später im liberalen London aufgeführt wurde, wo viele italienische Patrioten (darunter der Musikenthusiast Mazzini) im Exil lebten und die italienische Nationalbewegung mit großer Sympathie und diplomatischem Eigeninteresse verfolgt wurde, erwähnt keiner der Rezensenten die nationale Erregung der Mailänder oder mögliche Vergleiche zwischen dem Chor der Hebräer und dem Schicksal der Italiener. Es gibt auch keinerlei Hinweis, dass die Zensoren am Libretto Nabuccos Anstoß nahmen; und das, obwohl bestimmte Verse oder manchmal auch nur einzelne Worte häufig aus den Libretti auf dem Spielplan stehender Opern gestrichen wurden. Später, seit 1846, gibt es vereinzelt politische Bezugnahmen auf Verdis Opern Ernani, I Lombardi und Attila, doch in den musikalischen Untermalungen patriotischer Veranstaltungen dieser Zeit glänzt der inzwischen auch international bekannte Verdi vor allem durch Abwesenheit. Seine angeblich so patriotischen Chöre erscheinen nicht auf den Programmen revolutionärer Konzerte und Festlichkeiten. 7 Der dritte Akt von Ernani wurde seit 1846 gelegentlich auf den „liberalen“ Papst Pius IX. bezogen, doch waren dies ausschließlich offizielle Feierlichkeiten für den weltlichen Herrscher im Kirchenstaat, keine spontanen Sympathiebekundungen des Volkes; und entsprechende PapstHymnen waren keine Ausnahmen und auch nicht auf Verdi beschränkt. La Battaglia di Legnano, im Januar 1849 in Rom uraufgeführt, war tatsächlich auf die politischen Ereignisse bezogen, doch sagt dies wenig bezüglich der Rezeption seiner früheren Werke. Als die Oper einige Jahre später im Zuge der Einigung in Bologna auf die Bühne kam, schrieb die Presse jedoch, dass sie nicht genügend den Patriotismus der literarischen Vorlage von Giovanni Berchet widerspiegele, die der 7

Siehe z.B. die „Grande Accademia per Argomento di Patria e Cittadina Carità“ im Dezember 1848 in Venedig: Parker, ‚Arpa d’or dei fatidici vati‘, S. 129.

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Komponist auf eine „private Geschichte um Liebe und Eifersucht“ reduziert habe. 8 Trotz der intensiven Forschungsdiskussion der letzten Jahrzehnte findet sich das erst im späten 19. Jahrhundert konstruierte Cliché von Verdi als dem Barden des Risorgimento und der besonderen Funktion Nabuccos in dieser Entwicklung jedoch immer wieder: in der Populärkultur (Filmen zu Verdi oder zur Nationalbewegung; populärwissenschaftlichen Biografien; CD-Beilagen oder Opernprogrammen); im politischen Diskurs (beispielsweise zur 150-Jahrfeier der italienischen Einigung 2011 oder dem zweihundertsten Geburtstag des Komponisten 2013); und in den noch immer mit großer Passion ausgefochtenen musikwissenschaftlichen Debatten. 9 Die Dekonstruktion der Legende wird dadurch kompliziert, dass sich zum einen in Verdis Briefen aus späterer Zeit, um 1848, tatsächlich Bezugnahmen auf die Nationalbewegung finden; zum anderen hat Verdi (unterstützt durch seinen Verleger Ricordi und seine frühen Biografen) nach Vollendung der italienischen Einigung am Mythos und der Konstruktion seiner patriotischen Lebensgeschichte selbst kräftig mitgebastelt. 10 Dabei rückten dann Nabucco und der Va pensiero-Chor plötzlich in den Fokus national inspirierter Biografik (Quelle 3.) Die spätere Identifizierung Verdis mit der nationalen Bewegung und die im Zuge der Ereignisse zunehmend national inspirierte Rezeption seiner Musik bedeuten jedoch nicht, dass die frühen Opern, insbesondere Nabucco, bereits Anfang der 1840er-Jahre als Beitrag zur nationalen Befreiung verstanden wurden. Auch bedeutete dies nicht, dass der Komponist schon in der Frühphase des Risorgimento als Fürsprecher der Nationalbewegung gefeiert wurde. Die berühmte Leseweise seines Namens als Akronym für den zukünftigen König Italiens auf Graffiti in den Straßen Mailands (Viva V.E.R.D.I = Vittorio Emanuele Re d’Italia / König Italiens) entstand erst in den Monaten der Einigung um 1859. Auch die historisch-politische Entwicklung Italiens in den frühen 1840er-Jahren legt die Hinterfragung des patriotischen Mythos um Verdi nahe. Bis Mitte der 1840er-Jahre war die italienische Nationalbewegung tatsächlich nur eine kleine Sek8 9

Monitore di Bologna, 28. Dezember 1860. Siehe dazu insbesondere die Beiträge in Opera and Nation in Nineteenth-Century Italy, Journal of Modern Italian Studies, Sonderheft 12 (2012), H. 3. Ein Beispiel für die traditionelle Sichtweise ist die ansonsten sehr informative Biografie von Mary Jane Philips-Matz, der zufolge Verdi mit den Opern Nabucco, Ernani und Attila Waffen für die Revolution von 1848 geschmiedet hätte: Verdi. A Biography, Oxford 1993, S. 50f. Ähnlich Martin, George, Verdi and the Risorgimento, in: Weaver, William; Chusid, Martin (Hgg.), The Verdi Companion, New York 1979, S. 13–41; Gossett, Philip, Becoming a Citizen. The Chorus in Risorgimento Opera, in: Cambridge Opera Journal, 2 (1990), H.1, S. 41–64. 10 Wegweisend für die Revision des traditionellen Verdibilds war Roger Parkers Einleitung zu der kritischen Edition von Nabucco: The Works of Giuseppe Verdi, Reihe 1, Bd. 3, Chicago 1987. Weiterhin Parker, ‚Arpa d’or dei fatidici vati‘; ders., Leonora’s Last Act. Essays in Verdian Discourse, Princeton 1997; Smart, Mary Ann, Liberty On (and Off) the Barricades: Verdi's Risorgimento Fantasies, in: Russell, Albert Ascoli; von Henneberg, Krystyna (Hgg.), Making and Remaking Italy. The Cultivation of National Identity around the Risorgimento, Oxford 2001, S. 103–118. Auch Budden, Julian, The Operas of Verdi, Bd. 1. London 1973, S. 61–96.

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te von Aktivisten, Literaten und gesellschaftlichen Eliten, die kaum Einfluss auf breitere Bevölkerungsschichten hatte. Viele Anhänger lebten im Exil und ihre Schriften waren in den italienischen Staaten nur begrenzt verfüg-bar. Die Idee eines italienischen Nationalstaats erschien kaum plausibel: Italien hatte nie als Nationalstaat existiert und staatliche Herrschaft hatte mit Nation, wie sie von Propagandisten auf einmal definiert wurde, wenig zu tun. Auch Napoleons Königreich Italien umfasste nur einen Teil der Halbinsel. Nach anfänglicher Begeisterung unter den Jakobinern machte sich schnell Desillusionierung über den französischen Despotismus breit. Viele der Grenzen zwischen den Staaten Italiens waren Jahrhunderte alt und die Habsburger herrschten in Teilen des Nordens seit dem 16. Jahrhundert. Als Großherzoge der Toskana hatten sich aufgeklärte Habsburger zudem ausgesprochen progressiv gezeigt: der Verfassungsentwurf von Pietro Leopoldo, dem späteren Kaiser Leopold II., war gar von der Virginia Bill of Rights inspiriert. Die angebliche Rückständigkeit der alten Staatenwelt war vor allem ein ideologisches Argument der Nationalbewegung, wurde gelegentlich auch von internationalen Akteuren bemüht, die auf der italienischen Halbinsel eigene Interessen verfolgten. Die italienische Sprache, das heißt die Sprache der Toskana, beherrschten lediglich die gebildeten Oberschichten. Infolge der Französischen Revolution und der napoleonischen Erfahrung zeigte die auf das Gedankengut der Aufklärung und dann der Romantik zurückgehende Idee der Nation und des Nationalstaats trotzdem auch in Italien ihre Wirkung, ohne damit jedoch zunächst breitere Bevölkerungsschichten anzusprechen. Die Geheimbünde der sogenannten Carbonari, häufig mit der entstehenden Nationalbewegung in Verbindung gebracht, hingen noch überwiegend einem früheren Begriff von politischer und individueller Freiheit an, der wenig mit Demokratie und Volkssouveränität gemein hatte. Die Aufstände und Revolutionen der 1820er- und 1830er-Jahre richteten sich zwar gegen die zunehmend als „ausländisch“ wahrgenommene Herrschaft in einzelnen Staaten und den Einfluss Österreichs, doch war es bislang schwierig, diese Proteste in nationalstaatliche Konzeptionen zu übersetzen. Gerade im Kirchenstaat, der sich seit dem frühen Mittelalter über große Teile Italiens erstreckte, stellte die Masse der Einwohner die päpstliche Herrschaft kaum in Frage. Vor diesem Hintergrund erscheint die nationale Deutung von Verdis Frühwerk also kaum plausibel. Wie Alberto Banti in seiner bedeutenden Studie zum Begriff der Nation in der italienischen Nationalbewegung zeigen konnte, kam es in der zweiten Hälfte der 1840er-Jahre dann zu einer dramatischen Veränderung in der Massenwirksamkeit der italienischen Nationalbewegung. 11 Entscheidend war dabei 1846 die Wahl von Papst Pius IX., der zunächst als Liberaler und Anhänger der nationalen Idee galt. Die von Vincenzo Gioberti und anderen politischen Denkern propagierte Idee einer Föderation der italienischen Staaten unter Vorsitz des Papsts gewann so schnell eine neue Bedeutung und wurde in Folge weithin als mögliche Lösung der sich nun immer deutlicher stellenden nationalen Frage diskutiert. Im 11 Banti, Alberto M., La nazione del Risorgimento. Parentela, santità e onore alle origini dell'Italia unita, Turin 2000.

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Vergleich dazu blieb Mazzinis Strategie einer republikanischen Volkserhebung eher unbedeutend, obwohl auch seine Ideen nun von immer weiter gefassten Bevölkerungsschichten rezipiert wurden. Als dann ausgehend von der JanuarRevolution in Sizilien die Europäischen Revolutionen von 1848 ihren Lauf nahmen, war es jedoch zunächst immer noch das Streben nach Unabhängigkeit von Neapel, das Palermo auf die Barrikaden trieb; und einer der bedeutendsten Protagonisten der Revolution in Mailand, Carlo Cattaneo, arbeitete noch in der Nacht vor dem Aufstand an einer Schrift zur Neuordnung der Lombardei innerhalb der Habsburgermonarchie, ohne dabei an die Einigung Italiens zu denken. Cattaneo war auch ein begeisterter Förderer eines bürgerlich-mittelständischen Bewusstseins in Mailand, unterstützt durch kulturelle Institu-tionen, Periodika, aber auch durch das Theater. Im Zuge der Ankündigung einer neuen Musikzeitschrift schrieb Cattaneo 1847 einen kurzen Artikel zu Italiens Musikleben. 12 Darin kommentiert er Bellini, Rossini und verschiedene gefeierte Sänger; und mehrmals erwähnt er in diesem Zusammenhang Italiens „sentimento nazionale“ (Nationalgefühl). Doch Verdi erscheint in seinem Aufsatz mit keinem Wort, obwohl der Verleger der Zeitschrift ein Bekannter des Komponisten war, der auch mit dessen Librettisten eng zusammenarbeitete. Sollte Cattaneo die nationale Erweckung seiner Heimatstadt anlässlich der Aufführung Nabuccos einfach nicht bemerkt haben? Auch Kaiser Franz Joseph I, der in Folge der italienischen Einigung immerhin sein Königreich LombardeiVenezien verloren hatte, scheint die nationalbewegte Bedeutung Nabuccos entgangen sein. Der Kaiser war von Verdi so begeistert, dass er wenige Jahre nach dem Verlust der Lombardei gleich dreimal den Aufführungen seines Requiems beiwohnte. 13 Auch deshalb ist es naheliegend, dass es zu dem berühmten, mit Nabucco in Verbindung gebrachten nationalen Erweckungserlebnis erst viel später kam: lange nach der Einigung, im Zuge der Konstruktion nationaler Mythen. Nabucco war 1842 durchaus ein großer Erfolg, aber aus ganz anderen Gründen. Wichtig war dabei unter anderem ein bereits vor der Oper auf dem Programm der Scala stehendes, beliebtes Ballett zum gleichen Thema, welches dem Publikum durch die Bibel vertraut und daher leicht zugänglich war. 14 Auch ein französisches Theaterstück über König Nebukadnezar II war derzeit in Italien im Umlauf. Verdis Oper war gewissermaßen nur die musikalische Fassung eines ohnehin beliebten Sujets. Verdi integrierte zudem eine beim Publikum weitgehend auf Zuspruch stoßende neue Form des Chors in seine frühen Opern, doch bedeutete dies nicht, dass diese vom Publikum als Stimmen des (unterdrückten) Volkes verstanden wurden. Erst nach der (insgesamt kaum glücklich verlaufenen) Einigung wurde sich Italien des Bedürfnisses nach Ursprungsmythen und damit auch eines compositore nazionale bewusst, eines Komponisten, der den kulturellen 12 Cattaneo, Carlo, Programma al giornale L'Italia musicale (1847), in: ders., Scritti letterari (herausgegeben von Piero Treves), Florenz 1981, S. 422–428. 13 Zur Verdi Rezeption Deutschland und Österreich siehe Kreuzer, Gundula, Verdi and the Germans. From Unification to the Third Reich, Cambridge 2010. 14 New York Public Library, Walter Toscanini Collection, Libretti di ballo, Nr. 432.

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Anspruch der Nation patriotisch vertreten konnte. Im Zuge dessen wur-den Oper und Nationalbewegung immer enger zusammengerückt. Die Anhänger dieser Idee schrieben nicht nur Verdis Biografie entsprechend um, sondern auch die Geschichte des italienischen Musiktheaters im 19. Jahrhundert. Noch zwei Punkte sollten im Zusammenhang mit der Dekonstruktion nationaler Mythen um Verdi Erwähnung finden. Gerade im Fall des italienischen Musiktheaters bemühen Kritiker und Kommentatoren häufig ein weiteres Cliché, das des unbedingt nationalen Charakters von Musik. In ihrer philosophischen und musikästhetischen Dimension gehen solche Ideen zurück auf Jean-Jacques Rousseau, dessen Oper Le Devin du village und die sogenannte Querelle des Bouffons in der französischen Aufklärung. 15 Dabei wird vergessen, wie stark gerade die italienische Oper seit dem 18. Jahrhundert von internationalen Einflüssen und vor allem von aus dem deutschen Sprachraum stammenden Komponisten geprägt war. Zu nennen wären hier der zum Katholizismus konvertierte Bachsohn Johann Christian, aber auch Georg Friedrich Händel, Johann Adolf Hasse, Adalbert Gyrowetz, Peter von Winter, Joseph Weigl und vor allem Johann Simon Mayr, der über 70 Opern für die Bühnen Italiens schrieb und zu dessen bekanntesten Schülern Donizetti zählt. Rossini wurde gelegentlich als „Tedeschino“ (kleiner Deutscher) beschimpft, nicht nur wegen seiner politischen Haltung sondern auch weil er im Stil angeblich zu stark von deutscher Musik geprägt war. Na-bucco sollte ursprünglich von dem ebenfalls in Italien sehr beliebten preußischen Komponisten und Begründer der Wiener Philharmoniker Otto Nicolai in Musik gesetzt werden. Später machte sich der Einfluss des schon erwähnten Giacomo Meyerbeers in Italien bemerkbar. So wäre es auch vollkommen falsch, Verdi als den „italianissimo“ von internationalen Einflüssen freizusprechen. Seine Konzeption des musikalischen Dramas entstand in Auseinandersetzung mit Shakespeare, Schlegel und Schiller. In seiner ästhetischen Entwicklung nahm er zudem Elemente der französischen grand opéra auf, die selbst ein transnationales Phänomen war. 16 Verdi selbst schrieb nach der Einigung vor allem für ausländische Bühnen. Nur wenige seiner Opern blieben in Italien im Repertoire. Sein Werk wurde zudem gerade in Italien, sowohl von der Presse als auch vom Publikum, häufig eher kritisch aufgenommen. Bezüglich Nabucco kritisierte die musikalische Presse den „ohrenbetäubenden Lärm“. 17 Die erste Venezianische La Traviata (1853) kommentierte der Komponist lediglich mit den Worten „Fiasco. Fiasco. Fiasco“. Auch 15 Blanning, Timothy, The Culture of Power and the Power of Culture. Old Regime Europe 1660–1789, Oxford 2002, S. 356–427; Charlton, David, Genre and Form in French Opera, in: Del Donna, Anthony R.; Polzonetti, Pierpaolo (Hgg.), The Cambridge Companion to Eighteenth-Century Opera, Cambridge 2009, S. 155–183; Launay, Denise (Hg.), La Querelle des bouffons, 3 Bde., Genf 1973. 16 Hierzu vor allem Gerhard, Anselm, Die Verstädterung der Oper. Paris und das Musiktheater des 19. Jahrhunderts, Stuttgart 1992. 17 Zum Beispiel La Farfalla und Teatri Arti e Letteratura, zitiert in Verdi, Luigi (Hg.), Le opere di Giuseppe Verdi a Bologna (1843–1901), Lucca 2001, S. 3f.; auch Mondo Illustrato, zitiert in Tedeschi, Rubens, L‘Opera italiana, in: Storia d'Italia, Bd. 5/2, Turin 1974, S. 1141–1180, 1171.

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die Mailänder Erstaufführungen von La Forza del destino, I Masnadieri, Un Ballo in maschera und Aida waren allesamt von Unmutsäußerungen des Publikums überschattet. 18 Der einflussreiche Kritiker des Universo Illustrato, Emilio Treves, bemerkte 1867, dass Verdi in seiner langen Karriere „mehr als nur ein fiasco zu erleiden hatte“ und „häufig seine Verdienste in Zweifel gezogen sah“. 19 Während Verdi also durchaus gelegentlich in der Kritik stand und sich die italienische Oper in den Jahren nach der Einigung überhaupt in einer Krise befand, sah sich das italienische Musiktheater selbst einer bemerkenswerten Internationalisierung ausgesetzt. So machte die Einigung das Theater nicht nationaler, sondern internationaler. Besonders Wagner erhitzte die italienischen Gemüter, fand dabei aber auch eine bemerkenswerte Anhängerschar. In Bologna wurde Lohengrin, nach der italienischen Premiere 1871, zur meistgespielten Oper des legendären Teatro Comunale, gefolgt von La Traviata, aber mit Tristan und Isolde auf dem dritten Platz.20 Für Italien war das „musica del futuro“, 21 der Aufbruch in die Moderne, die über die Ästhetik des legendären compositore nazionale hinausging. Gleichzeitig begann die internationale Verdi-Renaissance des 20. Jahrhunderts ausgerechnet im deutschen Sprachraum, wobei vor allem die Begeisterung Franz Werfels für den Komponisten den Ausschlag gab. 22 Diese transnationalen Vernetzungen wiesen Versuche zur nationalen Vereinnahmung von Oper immer wieder in die Schranken. Denken wir beim Thema Oper im „Dritten Reich“ schnell an Wagner, war der meistgespielte Opernkomponist Nazi-Deutschlands Giuseppe Verdi. Moderne Musik half, die Erfahrung sozialen Wandels zu verarbeiten; und die internationale Dimension dieser Moderne wurde zu einer Strategie, die sich verändernde Semantik historischer Zeit zu entschlüsseln. Literaturhinweise Anselm, Gerhard; Schweikert, Uwe (Hgg.), Verdi-Handbuch. Zweite überarbeitete Auflage, Stuttgart 2013. Capuzzo, Ester; Casu, Antonio; Sabatini Angelo G. (Hgg.), Giuseppe Verdi e il Risorgimento, Soveria Mannelli 2014

18 Phillips-Matz, Verdi, S. 158f., 179; Gatti, Carlo, Il Teatro alla Scala nella storia e nell’arte (1778–1963), Mailand 1964, S. 101. Budden, The Operas of Verdi, Bd. 2, S. 339. 19 L’Universo Illustrato. Giornale per tutti, 1 (1867), H. 36, S. 577. Zu Verdis Kritikern siehe auch Körner, Axel, Ein soziales „Dramma in musica“? Verdi, alte Notabeln und neue Eliten im Theater des liberalen Italiens, in: Historische Zeitschrift, (2008), H. 287, S. 61–89. 20 Körner, Axel, Music of the Future: Italian Theatres and the European Experience of Modernity between Unification and World War One, in: European History Quarterly, 41 (2011), H. 2, S.189–212. 21 „Zukunftsmusik“ ist ein allgemeiner Hinweis auf zukünftige musikästhetische Entwicklungen, war aber auch ein direkter Hinweis auf Wagners theoretische Schriften, die in Italien (wie auch in anderen Teilen Europas) schon vor dem Bekanntwerden seiner Musik rezipiert wurden. 22 Kreuzer, Gundula, Verdi and the Germans. From Unification to the Third Reich, Cambridge 2010.

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Körner, Axel, The Risorgimento's Literary Canon and the Aesthetics of Reception. Some Methodological Considerations, in: Nations and Nationalism, 15 (2009), H. 3, S. 410–418. Opera and Nation in Nineteenth-Century Italy, Journal of Modern Italian Studies, Sonderheft 12 (2012), H. 3. Parker, Roger, ‚Arpa d’or dei fatidici vati‘. The Verdian Patriotic Chorus in the 1840s, Parma 1997. Vella, Francesca, Verdi and Politics (c. 1859–1861), in: Studi verdiani 24 (2014), S. 79–121.

Quellen Oper und Mythos am Beispiel Giuseppe Verdis „Nabucco“ 23 Quelle 1: Oper und Mythos: ein historiografisches Beispiel 24 Jener Chor „Va pensiero“ – „Zieh, Gedanke, auf goldenen Flügeln“ –, die Keimzelle der Nabucco-Komposition, wurde nach der Premiere zu einem wahren Volkslied der Italiener. Als im Jahre 1901 des toten Maestros Sarg durch die Straßen Mailands zum Begräbnis gefahren wurde, stimmte eine hunderttausendköpfige Menge die geliebte Weise an: „Va pensiero...“ Fast sechzig Jahre zuvor schon war der bis dahin fast namenlose junge Komponist zum musikalischen Abgott seines Volkes geworden. Die Italiener bezogen das Schicksal der Hebräer, die sich aus Unterjochung nach Freiheit sehnen, auf sich selbst. Auch sie fühlten sich in dem von fremden Dynastien beherrschten und vielfach gespaltenen Vaterland unterdrückt. Verdis feurige Melodien, biblischen Hebräern in den Mund gelegt, klangen den Italienern der Vierzigerjahre als tönende Symbole ihrer eigenen Sehnsucht nach Freiheit in den Ohren.

Quelle 2: Der Kern des Mythos: Va pensiero 25 Va pensiero sull’ali dorate, Va, ti posa sui clivi, sui colli Ove olezzano libere e molli L’aure dolci del suolo natal! Del Giordano le rive saluta, Di Sïonne le torri atterrate...

Zieh, Gedanke, auf goldenen Schwingen, Zieh und ruhe auf Fluren und Hügeln! Lass die Sehnsucht den Lauf dir beflügeln, Bis zu Zions Gebirge und Tal! Grüß die Ufer des Jordans, die schönen! Zu dem Tempel des Herrn mögest du

Oper und Mythos am Beispiel Giuseppe Verdis „Nabucco“. Die Quellen sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . 24 Honolka, Kurt, Zur Einführung, in: Giuseppe Verdi, Nabucco. Oper in vier Teilen von Temistocle Solera. Deutsche Übertragung von Kurt Honolka. Klavierauszug mit deutschem und italienischem Text, Mailand 1970, S. IX. 25 Verdi, Giuseppe; Solera, Temistocle, Nabucco, „Va pensiero Chor“ (Akt III, 2. Bild). Deutsche Übersetzung nach Verdi, Giuseppe, Nabucco. Oper in vier Teilen von Temistocle Solera, S. 242–252. In der ursprünglichen Fassung der Oper stand der Chor nicht separat sondern war in die Profezia Zaccarias integriert und daher nicht als das freistehende Stück intendiert, als das Verdis beliebtester Opernchor jetzt vor allem bekannt ist. 23

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Oh mia patria sì bella e perduta! O membranza sì cara e fatal! Arpa d’or dei fatidici vati Perché muta dal salice pendi? Le memorie nel petto raccendi, Ci favella del tempo che fu! O simile di Solima ai fati Traggi un suono di crudo lamento, O t’ispiri il Signore un concento Che ne infonda al patire virtù! [...]

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dringen! Ach, die Heimat, nach der wir uns sehnen, Grüß, Gedanke so süß und voll Qual! Goldene Harfe der göttlichen Seher, Warum hängst du so stumm an der Weide? Schenke Hoffnung und Trost uns im Leide Und erzähle von glorreicher Zeit. Auch vom Schicksal geschlagener Hebräer, Singe Harfe, in klagenden Tönen. Mit dem Willen des Herrn zu versöhnen, Schenk uns Hoffnung, zu tragen dies Leid! [...]

Quelle 3: Ursprung des Mythos: kreative Biografik 26 „Hier ist das Libretto von Solera. Es ist ewig schade um die schöne Dichtung!... Nimm sie doch einmal mit, und sieh‘ sie Dir an!“ „Was soll ich damit? Ich bin durchaus nicht in der Stimmung Operntexte zu lesen.“ „Nun, dieser hier wird Dich nicht verletzen; lies ihn, und bring ihn mir gelegentlich wieder mit.“ (U]ZDQJLKQPLUI|UPOLFKDXI(VZDUHLQVWDUNHV+HIWXQGLQJURƢHQ%XFKVWDEHQ geschrieben, wie sie zu jener Zeit Mode waren. Ich machte eine Rolle daraus, steckte sie in die Tasche und begab mich nach Hause. Unterwegs bemächtigte sich meiner eine Art unerklärlichen Unbehagens; eine tiefe Traurigkeit, ja fast eine wahre Todesangst schnürte mir die Brust zusammen. Zu Hause angelangt warf ich das Manuscript mit einer fast gewaltsamen Bewegung auf den Tisch. ,P)DOOHQZDUGDVHOEHDXIJHJDQJHQXQGRKQHGDƢLFKPLU5HFKHQVFKDIWGDUEHU]XJeben vermochte, blieben meine Augen auf der vor mir geöffneten Seite und speciell auf dem Verse haften: Va, pensiero, sull’ali dorate. Ich durchflog die folgenden Verse und wurde um so tiefer von denselben ergriffen, als dieselben fast eine Paraphrase der Bibel bildeten, an der mein Herz stets mit warmer Begeisterung hing. Ich lese einen Abschnitt, einen zweiten, dann fest auf meinem VorVDW]HEHKDUUHQGQLFKWVPHKU]XVFKUHLEHQVFKOLHƢHLFKGDV+HIWXQGOHJHPLFKVFKODIHQ ...aber was half’s!... Nabucco ging mir fortwährend durch den Kopf... der Schlaf kam 26

Pougin, Arthur, Giuseppe Verdi. Vita Aneddotica. Con note ed aggiunte di Folchetto, Mailand 1881. Zitiert nach Pougin, Arthur, Verdi. Sein Leben und seine Werke. Authorisierte Übersetzung von Adolph Schulze, Leipzig 1887, S. 56–57, 62–63, 70. Pougins Buch ist die wichtigste „Quelle“ für die angeblich so herausragende Rolle Nabuccos im frühen Schaffen des Komponisten und sein nationales Erweckungserlebnis. Auf Folchetto, Pseudonym des Musikkritikers Jacopo Caponi, gehen viele der patriotischen Anekdoten zu Verdis Leben und Werk zurück. Dessen Erfindungen wurden von den meisten Biografen kritiklos übernommen. Der Textausschnitt beginnt mit einem Bericht Verdis, in dem ihn der Impresario des Teatro alla Scala, Merelli, nach dem Fiasco seiner Oper „Un giorno di regno“ zur Annahme des Nabucco zu überreden versucht.

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nicht. Ich stehe wieder auf und lese das Libretto nicht einmal, nein zwei-, dreimal, so oft, GDƢ LFK DP DQGHUQ 0RUJHQ GDV *HGLFKW 6ROHUD·V YRQ $QIDQJ ELV ]X (QGH DXVZHQGLJ ZXƢWH >@'LH YRUVWHKHQGH (U]lKOXQJ 9HUGLV ZXUGH DP  2NWREHU  YRQ *LXOLR Ricordi aufgenommen. [...] Der Erfolg des neuen Werkes begann bereits mit den Proben. Während des ganzen 9HUODXIHV GHUVHOEHQ EHIDQG VLFK GDV 7KHDWHU JHZLVVHUPDƢHQ LQ $XIUXKU LQ )ROJH MHQHU Musik, von der man bisher auch nicht einmal eine Idee gehabt hatte. Der Charakter der 3DUWLWXUZDUVRQHXVRXQEHNDQQWGLH0XVLNIORƢVRUDVFKVRXQJHZ|KQOLFKGDKLQGDƢ ein allgemeines Staunen sich sämtlicher Mitwirkenden bemächtigte. Sowohl die Sänger, wie auch der Chor und das Orchester waren davon begeistert; ja sowohl die Arbeiten DXƢHUKDOE GHU 6FHQH K|UWHQ DXI ZHQQ GLH 3UREHQ EHJDQQHQ Beamte, Arbeiter, Maler, /DPSHQSXW]HU 0DFKLQLVWHQ OLHƢHQ ZLH HOHFWULVLUW GXUFK GLH VHOWVDPH 0XVLN LKUH %eschäftigung im Stich und lauschten mit offenem Munde der Vorgängen auf der Bühne. Wenn eine Partie beendigt war, hörte man sie dann wohl im mailändischen Dialekt ihre Meinung austauschen. „Che fota nova!“ [„wie ungewohnt!“] riefen sie erstaunt. Alles dies war jedoch nichts im Vergleich zu dem Triumph der ersten Vorstellung. [...] In der That bildete der ganze Abend einen einzigen, ununterbrochenen Triumph für GHQ &RPSRQLVWHQ 'DV (UVWDXQHQ ZDU DOOJHPHLQ 'DV 3XEOLFXP ZDU DXƢHU VLFK XQG jeden Augenblick brach der Beifall von neuem los. [...] Schon mit Nabucco und I Lombardi, d.h. fast mit Beginn seiner öffentlichen Thätigkeit, begann Verdi gleichsam uQEHZXƢWHUZHLVH GXUFK VHLQH 0XVLN HLQHQ SROLWLVFKHQ (LQIOXƢ DXI VHLQ 9DWHUODQG DXV]XEHQ :LU )UHPGH GUIWHQ NDXP LP 6WDQGH VHLQ XQV Rechenschaft zu geben von dem Eindruck, den in einer gewissen Zeit die gluthvollen, ]QGHQGHQ0HORGLHQKHUYRUEULQJHQPXƢWHQ, welche Verdi fand, wenn die Situation oder auch nur einzelne Verse ihn an die traurige Lage Italien’s, an die Vergangenheit oder die Hoffnungen des Landes erinnerten.

DIE SCHWARZEN MÄNNER (1899–1900), EINE VASE VON ÉMILE GALLÉ FÜR DIE SACHE VON DREYFUS 1 Bertrand Tillier

Die Dreyfus-Affäre wird meist als eine politische und moralische Krise mit tiefen Wirkungen auf die französische Gesellschaft oder die diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich betrachtet. Sie ist aber auch ein Kristallisationspunkt für die europäische öffentliche Meinung. Die Ereignisse und Entwicklungen in der Affäre, die Debatten und die Leidenschaften, die sie entfachte, und auch der Kampf um die Werte von Gerechtigkeit und Wahrheit, den sie vorantrieb, bildeten die ersten Momente eines europäischen Gewissens. Es manifestierte sich auf unterschiedliche Weise: durch Petitionen, Zeitschriften, Illustrationen, Karikaturen, Zeichnungen in der Tagespresse, Plakate, Postkarten und vieles mehr. All diese Medien verband, dass sie sich für eine rasche kollektive Mobilisierung eigneten, leicht reproduzierbar waren und zur Massenkultur gehörten. Welche Strategien verfolgten in diesem politischen und polemischen Kontext die Künstler in Europa? Die meisten von ihnen entschieden sich dafür, kritische oder satirische Bilder an die Presse zu geben, wie z.B. Jean-Louis Forain, Caran d’Ache, Félix Vallotton, Théophile-Alexandre Steinlen und Maximilien Luce. Ihnen war bewusst, dass ihre Werke in verschiedenen Zeitungen in Europa nachgedruckt werden würden: z.B. im Punch in London, im Simplicissimus in München, im Wahren Jakob in Berlin und im Asino in Rom. Einige Künstler schufen Gemälde, die sie zu verschiedenen Anlässen in Europa ausstellten, wie der Pole Samuel Hirszenberg das Bild Der ewige Jude (1899, Israel Museum) oder der Schweizer Ferdinand Hodler verschiedene Versionen von Die Wahrheit (um 1900). Émile Gallé fertigte mehrere Glaswaren und Möbel, die er ausstellte, in der Presse bewarb und an Kunstliebhaber in- und außerhalb Frankreichs verkaufte. Im Europa der Nationen und Nationalismen war er einer der Ersten, die noch vor dem Internationalismus der Avantgarden des 20. Jahrhunderts begriffen, welche Möglichkeiten eine internationale Tribüne wie die Pariser Weltausstellung von 1900 bot. Das zeigt die Geschichte einer seiner Vasen, mit der er für Dreyfus Stellung bezog: Die Schwarzen Männer (Abb. 3, S. 261).

1

Essay zu den Quellen: Émile Gallé: Stand auf der Pariser Weltausstellung / Die schwarzen Männer (1899–1900). Essay und Quellen sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Der Essay wurde von Thomas Höpel aus dem Französischen übersetzt. Vgl. für die französische Version Bertrand, Tillier, Les Hommes noirs, Une verrerie dreyfusarde d’Émile Gallé (1899–1900), in: Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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Bertrand Tillier

Émile Gallé (1846–1904), der Gründer und erste Präsident der École du Nancy, war nicht nur ein Kunsthandwerker, der für seine Möbelkreationen, seine Glas- und Keramikkunst wie auch für sein leidenschaftliches Interesse an Literatur und Botanik berühmt war. Er war auch ein Humanist und Aktivist, der zu vielfältigen Anlässen sein Werk in den Dienst von moralischen und politischen Angelegenheiten stellte und Sensibilität für aktuelle internationale Entwicklungen zeigte: Er unterstützte das Engagement von Bernard Lazare für die Juden in Rumänien, die Opfer von staatlichem Antisemitismus wurden. Er ehrte den irischen Patrioten William O’Brien für seinen Kampf um die Unabhängigkeit des katholischen Irlands vom anglikanischen England. Er sensibilisierte die öffentliche Meinung für die Massaker und Ausschreitungen, denen die Armenier im ottomanischen Reich des „roten (blutigen) Sultans“ Abdülhamid II. ausgesetzt waren. Er klagte die Untaten bei der Kolonisierung Westafrikas an, indem er den Skandal um die „Freiheitsdörfer“ bekannt machte, in denen die französischen Truppen mehrere tausend ehemalige Sklaven unterbrachten, die zwar befreit waren, aber weiter als billige Arbeitskräfte abhängig gehalten wurden. Außerdem war er aktiv an der Gründung der Liga der Menschen- und Bürgerrechte, der Volkshochschule und des Volkshauses in Nancy beteiligt. Der geborene Lothringer Gallé, der die deutsche Annexion der östlichen Gebiete nach der Niederlage von 1870 miterlebt hatte, verteidigte unermüdlich die Minderheitenrechte, das Recht auf territoriale Unabhängigkeit, religiöse Toleranz und die individuellen Bürgerrechte. Während der hitzigsten Jahre der Dreyfus-Affäre von 1898 bis 1900 widmete Gallé der Sache des jüdischen Hauptmanns, der ungerechter Weise des Verrats schuldig gesprochen und zur Deportation verurteilt worden war, zahlreiche Glaskunstarbeiten. Er überließ sie z.B. dem Richter Henry Hirsch, verschenkte sie, insbesondere an den Anwalt Joseph Reinach, oder widmete sie Prominenten, die von Dreyfus’ Unschuld überzeugt waren – Auguste Scheurer-Kestner, Émile Zola, Pierre Quillard und Sarah Bernhardt. 2 Zur Weltausstellung 1900 in Paris, deren Vorbereitung ihn während der Jahre 1898 und 1899 fast ausschließlich beschäftigte, präsentierte er eine große Zahl seiner „sprechenden Glaskunstwerke“, die Werte wie Gerechtigkeit, Wahrheit, Menschlichkeit, Vernunft und Aufklärung beschworen. Angeordnet waren sie auf einem Stand, der nach dem Vorbild eines Glasbrennofens gestaltetet war. Zusammen mit der spektakulären Amphore des Königs Salomon, die im Museum der Schule von Nancy aufbewahrt wird, gehört die Vase Die schwarzen Männer zu diesem Ensemble, das eine Inschrift Hesiods auf dem Mantel des Ofens krönte: „Aber wenn alle Männer boshaft, falsch und untreu sind Ergreife ich die üblen Dämonen des Feuers: Die Vasen bersten! Der Ofen stürzt ein! Damit alle lernen, Gerechtigkeit zu üben.“

2

Tillier, Bertrand, Émile Gallé, le verrier dreyfusard, Paris 2004. Siehe auch La Tacon, François, Émile Gallé, Maître de l’Art nouveau, Straßburg 2004, S. 90–111.

Die schwarzen Männer

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Der „rächende Ofen“, wie ihn der Komponist und Dreyfus-Anhänger Albéric Magnard nannte 3, war mit Glaskrügen dekoriert, die von den sieben Krügen Marjolaines inspiriert waren. Das Motiv ist einem poetischen Märchen aus dem 1894 erschienenen Buch von Monelle entlehnt, in dem Marcel Schwob junge Mädchen beschrieb, die mit dem Geheimnisvollen ringen. 4 In „Die Träumerin“ war Marjolaine die Waise eines Vaters, der Erzähler und Bildner von Träumen gewesen war. Er hatte ihr als einziges Erbe eine armselige Strohhütte und einen Kamin hinterlassen sowie „die sieben Krüge, die ganz verraucht oben auf der Esse standen und voller Geheimnisse waren“ und „an einen hohlen und wellenförmigen Regenbogen“ erinnerten. Schwob beschrieb den Inhalt eines jeden Kruges mit einer Fülle an Details und symbolistischen Assoziationen, die Gallé faszinierten. Aber diese Wunder, Träume und Geheimnisse waren nur von Marjolaine wahrnehmbar, die „die Wahrheit wußte“, während jene, „die von diesen Dingen nichts wußten“, nur alte, unbedeutende Krüge sahen. 5 Gallé übernahm diese Ambivalenz des Sichtbaren, um seine Glaswaren anzuordnen. Auch die Vase Die schwarzen Männer ist davon durchdrungen. Im April 1898 schrieb Émile Gallé in der Revue des arts décoratifs: „Heute muss man Blumen vor die Füße der Barbaren werfen! Man muss die berührende Anmut ihres Sterbens über die bescheidensten Gegenstände ausbreiten! Was bedeutet es schon, wenn hunderte dieser schönen Stückchen Leben unter den Raubtieren und Bestien im Staub ihr Leben aushauchen, wenn nur ein einziger in dieser den blühenden Pfaden entfremdeten Meute eine Blume mit nach Hause nimmt! Was bedeutet der Schmerz, was die tausendfache Zerstörung der Blüten, wenn eines dieser harten Herzen sich einen Moment für eine zu Boden geworfene Rose erbarmt und sich trotz seiner Müdigkeit und des Abscheus vor am Boden liegenden Dingen hinabbeugt.“ 6

Diese Erklärung spricht von der Resignation des Künstlers und zugleich von der Hoffnung, die ihn im Kampf für die Wiederherstellung der Wahrheit antrieb. Mit dem Bild der vom Welken bedrohten Blume definierte Gallé auch die Begriffe von Anmut und Schönheit im Gegensatz zur Barbarei der Gleichgültigkeit. Zugleich führt er die Idee eines notwendigen Opfers ein, dessen Schauplatz auch sein Werk ist. „Das Denken Gallés stimmt in seinem Wesen mit dem von Carrière überein. Für Eugène Carrière wie auch für Gallé bedeutete das Künstlersein in erster Linie ein Mensch zu sein, der unter den Leiden der anderen leidet und sich an ihren Freuden erfreut; ein Mensch, der weit davon entfernt ist, sich den Problemen seiner Zeit, den Kontakten mit anderen Menschen und den Konflikten innerhalb des Volkes zu entziehen; der sich vielmehr in alle großen Auseinandersetzungen seiner Epoche einmischt und an allen Bestrebungen, Nöten und Wünschen seiner Zeit Anteil nimmt“,

3 4 5 6

Perret, Simon-Pierre; Halbreich, Harry, Albéric Magnard, Paris 2001, S. 169–170. Schwob, Marcel, Das Buch von Monelle, Leipzig 1983, S. 50–53. Ebd. Revue des arts décoratifs, XVII, April 1898, S. 144–148.

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schrieb Gaston Varenne voller Anerkennung. 7 Kurz zuvor hatte der Kunstkritiker Roger Marx das politische Engagement von Gallé unterstrichen: „Nichts lag ihm ferner, als zaghaft in der sicheren Abgeschiedenheit eines Elfenbeinturmes zu leben. Er wollte den Lärm der Außenwelt hören und sich in die Ereignisse seiner Zeit einmischen. Genauso wie er während des unseligen Krieges seine Pflicht als Patriot erfüllte, erlebte man ihn später mit dem gleichen Einsatz als Staatsbürger. Er fragte sich, wer denn die Massen leiten sollte, wenn sich die Eliten der Verantwortung entzögen?“ 8

Varenne und Marx reagierten damit nach dem Tod Gallés auf unterschiedliche Weise auf die scharfen Angriffe, denen der Künstler während der Dreyfus-Affäre ausgesetzt gewesen war. Die Zeitung L’Est républicain in Nancy hatte damals sein Engagement ironisch kommentiert: „X. Ihre Mitteilung, dass G..., der exquisite Glaskünstler, ein Dreyfusianer oder Dreyfusard ist, überrascht mich!! Z. Mehr noch, er ist Dreyfusartiste.“ 9

Aufgrund der Dreyfus-Affäre und im Zuge der Herausbildung einer „gesellschaftlich verantwortlichen Kunst“, die von Roger Marx gepredigt wurde 10, wandte sich Gallé zunehmend der Idee zu, dass die Kunst und das Schöne nützlich zu sein hätten. Das bezeugt eine Erklärung des Künstlers in seiner Rede über den symbolischen Dekor, die er am 17. Mai 1900 vor der Académie de Stanislas hielt: „Das Entwerfen von Motiven, um die Fassaden unserer Häuser und nützliche oder rein angenehme Gegenstände mit Linien, Formen, Nuancen und Gedanken zu versehen [...] ist eine ernsthaftere und folgenreichere Beschäftigung, als der Ornamentschöpfer gemeinhin annimmt.“ 11

Gallé stellte sein Kunstkonzept in einem Text dar, der Rodins Denkmal Claude Lorain aus dem Jahr 1892 verteidigte. 12 Er definierte darin zuerst die „dekorative“ Form: Sie sei raffiniert, angenehm, verführerisch und perfekt, aber ohne moralischen Anspruch. 13 Dieser unfruchtbaren und einschränkenden Konzeption von Kunst stellte Gallé die „expressive“ Form gegenüber. Sie ermögliche es zu sehen, zu verstehen und zu fühlen, da sie sich am Schnittpunkt des „physischen und moralischen Lebens“ entwickle und zugleich die Persönlichkeit des Künstlers ausdrücke. Gallé unterstrich, dass Kunst nur dann entstehe, wenn sie expressiv sei 7 8 9 10 11 12 13

Varenne, Gaston, La pensée et l’art de Gallé, in: Le Mercure de France, 1. Juli 1910, S. 31–40. Marx, Roger, Émile Gallé écrivain, in: Mémoires de l’Académie de Stanislas, 1906–1907, S. 240. L’Est républicain, „Toujours l’Affaire“, 18. Dezember 1898. Marx, Roger, L’Art social, Paris 1913. Gallé, Émile, Le Décor symbolique, 1900, wiederveröffentlicht in: Écrits pour l’Art, S. 212. Gallé, Émile, L’Art expressif et la statue de Claude Gelée par M. Rodin, 1892, wiederveröffentlicht in: Écrits pour l’Art, S. 136. Ebd., S. 137.

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und zwar noch bevor sie dekorativen Charakter habe. Durch diese Umkehrung richtete er die Bestimmung seiner „dekorativ“ genannten Kunst neu aus. Erst durch die Darstellung einer Botschaft, eines Engagements oder einer Überzeugung gewinne sie Gültigkeit. Auf diese Weise emanzipierte Gallé seine Kunst von den üblichen Kategorien und Kriterien. Sein Werk befreite sich von den herkömmlichen Vorstellungen, um eine andere ästhetische Funktion und eine andere moralische Bedeutung zu erlangen. Gallé forderte zugleich dazu auf, das Kunstgewerbe zu verändern. Die bürgerliche Vorstellung eines Kunstobjekts als Nippsache sollte durch den Anspruch auf staatsbürgerliche und moralische Nützlichkeit erneuert werden, die alle sozialen Schichten für die Schönheit zu sensibilisieren trachtete. Das künstlerische und soziale Anliegen Gallés zielte sowohl darauf, das alltägliche Leben einer größtmöglichen Zahl von Kunstliebhabern jenseits der wirtschaftlichen und intellektuellen Elite zu verschönern, als auch auf die Verbreitung von Meinungen, ganz so, als wäre sein mehrdimensionales Werk eine Art Tribüne geworden. Daher stammen seine Idee einer „Kunst für alle“ und sein Eintreten für die Serienproduktion. 14 Es ist wahrscheinlich auch der Grund dafür, dass er zwei ähnliche Versionen der Schwarzen Männer schuf. Eine, die aus dem Besitz der Familie Eugène Corbins stammt, wird heute im Museum der Schule von Nancy aufbewahrt. Die andere verblieb bis in jüngere Zeit in der Familie des Künstlers 15 und gehört jetzt zur Sammlung des Corning-Glasmuseums in den USA. Weil Gallé seine Fayencen, Glaswaren oder Intarsienmöbel als Absichtserklärungen, als Verkündung von Überzeugungen, gar als Protestkundgebung, aber auch als Zeit-Zeugnisse und Denkmäler betrachtete, schuf er immer mehr polemische, apologetische, kommemorative und belehrende Werke. 16 Gallé entschied sich angesichts der Dreyfus-Affäre für eine definitive Veränderung seines symbolischen und ikonografischen Registers. Er gab die Allegorie auf und wandte sich der Natur zu, die er für poetischer, sensibler und verständlicher hielt. 17 Sie schien ihm zudem besser zur kämpferischen Mission zu passen, mit der er sein Werk betrauen wollte. Bereits 1893 hatte er sich in seinem Kommentar zur Vase Pasteur (Paris, musée Pasteur), die man bei ihm zur Ehrung des Werkes des großen Gelehrten bestellt hatte, gefragt: „[...] wie stellt man die Metamorphose falscher Lehrmeinungen plastisch dar [...]?“ 18 Auf diese Frage, die auf eine Darstellung der wissenschaftlichen Irrtümer zielt, antwortet der Glaskünstler indirekt in seiner Rede vor der Academie de Stanislas: „[...] wünschens-

14 Thiébaut, Philippe, Art et industrie, Pièces „uniques“ et séries „riches“ dans la production d’Émile Gallé: in: Ausstellungskatalog, Verreries d’Émile Gallé, De l’œuvre unique à la série, Paris/ Nancy, musée de l’École de Nancy, 2004, S. 13–23. 15 Siehe den Auktionskatalog: Succession Jean Bourgogne, unique petit-fils d’Émile Gallé, Paris, SVV Ader & Nordmann, Richelieu-Drouot, 20. März 2009, Teil 54, S. 30–31. 16 Siehe den Ausstellungskatalog: Gallé, hrsg. von Françoise-Thérèse Charpentier et Philippe Thiébaut, Paris 1985–1986. 17 Thiébaut, Philippe, Gallé, Le testament artistique, Paris 2004. 18 Gallé, Émile, Écrits pour l’Art, S. 151.

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wert wäre, dass das Symbol nicht zu rätselhaft ist; der französische Geist liebt die Klarheit, und recht hat er [...]“.19 In diesem Zusammenhang schuf Gallé „sprechende“ Glasobjekte, die für Dreyfus, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und den Humanismus eintraten. Unter ihnen gebührt der Vase Die schwarzen Männer ein einzigartiger Platz. Gallé schuf sie gemeinsam mit dem Maler und Bildhauer Victor Prouvé (1858–1943), der auch Dreyfus-Anhänger war, und Prouvé hat sie auch mit signiert. Die aus dreischichtigem Glas gefertigte Vase mit rundem Bauch, engem Hals, zwei Henkeln und einem mit Kupfergravur erzeugten Dekor ist von der Antike inspiriert und sollte „Fanatismus, Hass, Lügen, Vorurteile, Feigheit, Egoismen und Heuchelei aller Art“ 20 anprangern. Die Botschaft wird zuerst von der Pflanze vermittelt, die den Anschein einer weißen Lilie hat, sich aber als schwarzer Schierling entpuppt, den der Botaniker Gallé 21 als Symbol der Lüge und der Verleumdung verwendet, aber auch als Metapher für die Finsternis und die böse Tinte, die von den DreyfusGegnern genutzt würden. Noch während die Vase entworfen wurde, kamen in Gallé schon Zweifel auf: „[...] ich fragte mich, ob diese satirische, quasi pamphletartige Bedeutung zu dem klaren, fragilen Material Glas passt. Ist es nicht eher die Domäne der Radierung, die spontan mit aller Rücksichtslosigkeit der Säure ätzt, wie es zum Beispiel Goya getan hat [...]“. 22

In der gleichen schwarzen, monströsen Art wie Goya in seinen Grafiken Los Caprichos und sogar bereit, gegen das Material Glas anzukämpfen, führte Gallé ein Dekor aus, das nach den Effekten des Materials und der Färbungen ersonnen wurde. Es stellte das Matte und das Brillante, mächtiges Schwarz und leuchtendes Gelb gegenüber. Daraus ragten formlose Lichtfelder und hybride Figuren hervor, die nicht auf „irgendeine Klasse von Staatsbürgern“ 23 abzielten, sondern auf die Männer im Schatten, die Komplotte schmiedeten, von Fortschrittsfeindlichkeit getrieben und von Antisemitismus durchdrungen waren. „Ich habe nicht die Figuren vermehrt [...], ich habe sie so gestaltet, dass sie sich von den schlechten Dämpfen abheben [...], ich habe oben die Köpfe hell gelassen, als Köpfe des Lichts und der bestürzten Gerechtigkeit [...]. Die Henkel müssen meiner Meinung nach als bedrohliche Hydren gestaltet werden...“,

schrieb Prouvé an Gallé. 24 Schwarze Schlammflecken und ein orangefarbenes Leuchten gehen tatsächlich aus den Kreaturen der Nacht hervor – fratzenhaft verzerrten Fabelwesen mit krallenbewehrten Pranken, Fledermausflügeln, Tentakeln einer Hydra und dem Körperbau von Raubtieren. Sie evozieren die verbündeten geheimen Kräfte der Kirche, der Armee und der Justiz, die konspirieren, um den un19 Ebd., S. 215. 20 Émile Gallé an Victor Prouvé, Privatarchiv. 21 Le Tacon, François, Émile Gallé ou Le Mariage de l’art et de la science, Paris 1995; Gallé, Émile, L’Amour de la fleur, hrsg. von François Le Tacon und Pierre Valck, Nancy 2008. 22 Ebd. 23 Émile Gallé an Victor Prouvé, Privatarchiv. 24 Victor Prouvé an Émile Gallé, 14. November 1899, zitiert in Thiébaut, Philippe, Les dessins de Gallé, Paris 1993, S. 57.

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schuldigen Dreyfus zu verurteilen, und die entschlossen sind, eine Revision seines Prozesses zu verhindern. Die Wirkung der Vase Die Schwarzen Menschen basiert auf der Sparsamkeit der Suggestion und auf der Verbindung von Ikonografie, Formen, Materialien, Farben und poetischem Text. Denn es ist ein „sprechendes“ Kunstwerk: Auf ihrem Hals trägt die Vase in stilisierten Lettern die Frage: „Sagt, woher ihr schwarzen Herrn?“ Die Antwort findet sich auf dem Bauch der Vase, sie scheint sich aus dem Dunst hervorzuquälen: „Kommen aus dem Erdenschlunde.“ Diese Worte stammen aus dem antiklerikalen Chanson des Dichters Pierre-Jean de Béranger (1780–1857) „Die hochwürdigen Väter“, das er 1819 schuf. Es richtete sich gegen die zunehmende Macht der Jesuiten im Frankreich der Restauration, insbesondere im Bereich der Volksbildung 25:

„Sagt, woher ihr schwarzen Herrn?“ Kommen aus dem Erdenschlunde, Sehn, halb Fuchs, halb Wolf, es gern Dunkel über unsrem Bunde; Loyola’s Schaar sind wir genannt: Ihr wisst, warum man uns verbannt. Da sind wir wieder, schweigt vom Grunde. Wir stächen euren Kindern gern den Staar. Wie’s vor Zeiten war, Bringt sie uns nur dar Die liebe, gute, kleine Kinderschaar. 26

Indem er den Anfang dieses Gedichts von Béranger entleiht, versucht Gallé die Erinnerung an ein populäres Chanson wiederzubeleben, das nur wegen seines ‚Antiklerikalismus vor dem Vergessen bewahrt wurde, welchem das Werk des Dichters seit Mitte des 19. Jahrhunderts allmählich anheimfiel. Bérangers Spottworte erlaubten es dem Glaskünstler vielleicht, die Schwärze des Dekors zu mildern und dabei das Erbe der Aufklärung zu bewahren. Der Künstler, der eigentlich die strahlenden Worte der sonnigen Verse Hugos bevorzugte („Das Licht steigt in allem auf wie eine Macht“, „Licht, du wirst nie verlöschen“, „Die Dunkelheit bedeckt die Welt/ aber die Idee illuminiert und leuchtet“), hatte auf diese Weise vielleicht ein Mittel gefunden, um über eine verzweifelte Feststellung hinauszugelangen. „Bald wird man nicht mehr das Licht ersehnen oder von Gerechtigkeit und Wahrheit reden können, ohne für einen schlechten Patrioten gehalten zu werden. Es ist schmerzhaft, das feststellen zu müssen“,

klagte er in einem offenen Brief im Progrès de l’Est. 27 25 Touchard, Jean, La gloire de Béranger, 2 Bde, Paris 1968. 26 „Die hochwürdigen Väter“, in: Beranger’s Sämmtliche Werke, 1. Band, Stuttgart 21859, S. 456f. 27 Le Progrès de l’Est, 24. Januar 1898.

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Für Gallé war das Licht sowohl ein plastischer Wert, den er der Dunkelheit entgegenstellte, als auch ein moralischer Wert, der verbunden war mit den Prinzipien von Gerechtigkeit, Wahrheit, Brüderlichkeit, Gewissen, Unschuld, Menschlichkeit und Achtung, die „dem Menschen wie Fackeln gegeben wurden“, wie er an Louis Havet schrieb. 28 Indem er entschied, mit der Vase Die schwarzen Männer die Finsternis und ihre hybride Gestalt darzustellen und zu erforschen, und zwar im gleichen Moment, in dem sein Glaube an die humanistischen Werte durch die Dreyfus-Affäre gestärkt wurde, verkündete er noch einmal nachdrücklich seine Überzeugung: „[...] es gibt keine Kunst, es gibt keine Schönheit, es gibt kein anderes Interesse am Leben als das Heil der unantastbaren Ideen.“ 29 Mit Blick auf diese Forderung stellt sich die Frage nach der Darstellungsweise. Wie ließen sich die Werte darstellen, die im Zuge der Dreyfus-Affäre und des davon ausgelösten Machtkampfes in den Vordergrund rückten? Wie konnte man die Affäre selbst darstellen, wenn doch, wie Gallé Hugo zitiert, die Beleidigung „niemals ein Gesicht, niemals einen Namen hat“? 30 Der symbolistische Künstler zog die Suggestion der Abbildung vor, weil Kunst seiner Meinung nach nur aus der Evokation lebt und sich nur „in Abgrenzung von der Imitation“ etabliert. 31 Gallé stellte an seine für Dreyfus Partei ergreifenden Werke viele Ansprüche: Kraft, Ernsthaftigkeit, Belehrung, Großherzigkeit, Intelligenz u.a. 32 Sie erlaubten es ihm, seine Kunstliebhaber, die er als Betrachter und Leser ansah, zu unterweisen. Sie waren aufgefordert seine Werke zu befragen und zu dechiffrieren. „Ob man darüber spottet oder nicht, ich bleibe wie die Künstler des Mittelalters, die auf der Grundlage des Glaubens und der Ideen ihre Werke schufen, meiner Arbeitsweise treu, indem ich auf meinen Vasen Texte anbringe und meine Käufer durch Schriftzüge aufkläre“,

machte Gallé in Abgrenzung zu Barrès geltend. 33 Statt die Geschichte in ihrer Gänze darzustellen, bevorzugte Gallé das Mysterium mit seinen Fragen und seiner Mehrdeutigkeit. Henriette Gallé bekannte dies indirekt in einem späten Brief an Joseph Reinach im Jahr 1906, während der erneuten Lektüre der Bände seiner Geschichte der Dreyfus-Affäre: „[...] die wunderbare Affäre bleibt fesselnd und in einiger Hinsicht noch mysteriös. Alle mit ihr zusammenhängenden Verbrechen und vor allem alle ihre Beweggründe sind, auch wenn man sie erahnt, noch nicht aufgedeckt.“ 34

28 Émile Gallé an Louis Havet, 10. September 1899, Paris, Bibliothèque nationale de France, département des Manuscrits. 29 Ebd. 30 Gallé, Émile, Le Vase Prouvé, 1896, wiederabgedruckt in: Écrits pour l’Art, S. 185. 31 Gallé, Émile, Le Vase Pasteur, 1893, wiederabgedruckt in: Écrits pour l’Art, S. 152. 32 Gallé, Émile, L’Art expressif et la statue de Claude Gelée par M. Rodin, S. 146. 33 Gallé, Émile, Mes envois au Salon, 1898, wiederabgedruckt in: Écrits pour l’Art, S. 200–201. 34 Henriette Gallé an Joseph Reinach, 17. Juli 1906, Paris, Bibliothèque nationale de France, département des Manuscrits.

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Ist das nicht auch die Botschaft der Schwarzen Männer, wie dies Louis de Fourcaud 35 in seiner 1903 veröffentlichten Monographie vorschlug, in der er das kompromisslose Engagement des Dreyfus unterstützenden Künstlers begrüßte: „[...] unter den Schlägen aufgepeitschter Emotionen, die aus den öffentlichen Ereignisse hervorgingen, zeigte Gallé 1900 eine Tintenphiole, die Holunderbeeren, entstellt vom Abbild der Verleumdung, und eine düstere Vase (Die schwarzen Männer), versehen mit der grauenhaften Erscheinung von Scheinheiligkeit, Lüge und Falschheit. Diese polemischen Werke haben den Weg zu neuartigen Beschwörungen einer poetischen Menschlichkeit gebahnt.“ 36

Durch ihr Dekor und ihre Inschrift will die Vase Die schwarzen Männer jene Menschen ansprechen, die noch nicht „die Ungeheuerlichkeit des nationalen Verbrechens empfunden haben, die zwanghafte Empfindung, dass eine Strafe um jeden Preis und sofort aufgehoben werden muss, die einen Unschuldigen trifft und sich dadurch zu einem furchtbaren Martyrium entwickelt.“ 37

Gallé wollte die expressive Vase zugleich zu einem Kenotaph machen: „Mögen die von Ihnen und den Ihren erlittenen unaussprechlichen Schmerzen für unsere traurige Gemeinschaft nicht vergebens gewesen sein! Mögen sie das Gewissen aus seinem Tiefschlaf wachrütteln! Mögen viele Menschen daran denken, dass in jedem Augenblick Unschuldige die höchste Not der Verlassenheit und Verzweiflung erleiden!“ 38

Diese Mahnung Gallés in einem Brief an Alfred Dreyfus, der gerade seine Erinnerungen an die Deportation veröffentlicht hatte, hätte die Erklärung Der schwarzen Männer ersetzen können; sie war der leitende Impuls für die Erschaffung der Vase. Literaturhinweise Ausstellungskatalog: Gallé, hrsg. von Françoise-Thérèse Charpentier et Philippe Thiébaut, Paris 1985–1986. Ausstellungskatalog: The Dreyfus Affair: Art, Truth & Justice, hrsg. von Norman L. Kleeblatt, New York 1988. Le Tacon, François , Émile Gallé, Maître de l’Art nouveau, Straßburg 2004. Tillier, Bertrand, Émile Gallé, le verrier dreyfusard, Paris 2004. Tillier, Bertrand, Les artistes et l’affaire Dreyfus (1898–1908), Seyssel 2009.

35 Louis de Fourcaud war Professor für Kunstgeschichte und Ästhetik an der École nationale des Beaux-Arts. 36 Fourcaud, Louis de, Émile Gallé, Paris 1903, S. 46. 37 Émile Gallé an Émile Zola, 19. Februar 1901, Paris, Bibliothèque nationale de France, département des Manuscrits. 38 Émile Gallé an Alfred Dreyfus, 8. Mai 1901, Paris, Musée d’art et d’histoire du Judaïsme.

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Quellen Émile Gallé: Stand auf der Pariser Weltausstellung / Die schwarzen Männer (1899–1900)

Abb. 4: Stand auf der Pariser Weltausstellung 39

39 Gallé, Émile, Stand auf der Pariser Weltausstellung 1900, Fotografie, Privatarchiv; ders., Die schwarzen Männer, 1899–1900, collection particulière. Die Quellen sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Die Abb. 3 Émile Gallé: Die schwarzen Männer (1899–1900) befindet sich auf S. 261.

GEISTIGE KRIEGSPROPAGANDA. DER AUFRUF VON WISSENSCHAFTLERN UND KÜNSTLERN AN DIE KULTURWELT 1 Rüdiger vom Bruch

Wahrlich, international war die Gelehrtenrepublik vor dem Ersten Weltkrieg. Man kannte sich, man las einander, korrespondierte miteinander, Fremdsprachen bildeten keine Barriere. Man traf sich auf internationalen Kongressen, publizierte in den gleichen Zeitschriften, beteiligte sich an Besuchsprogrammen wie etwa dem deutsch-amerikanischen Professorenaustausch, bei dem der deutsche Kaiser Wilhelm II. als Schirmherr den amerikanischen Präsidenten Roosevelt 1910 als Redner in Berlin begrüßte. Führende deutsche Gelehrte waren Mitglieder bedeutender ausländischer Wissenschaftsakademien, und bedeutende Ausländer waren an deutschen Akademien willkommen. Internationalismus verband im Zeitalter des Imperialismus, der zugleich nationale Konkurrenzen förderte. Man war überzeugt von der weltweiten Überlegenheit der weißen Rasse und wetteiferte um Kulturmission im Nahen und im Fernen Osten wie in Südamerika. Man sah in den Konkurrenten die gleichwertigen Herausforderer, nicht einen Feind – allenfalls mit Ausnahme der deutsch-französischen Beziehungen, auch wenn hier enge personelle Kontakte bestanden. Sogar bedeutende russische Gelehrte waren in Deutschland willkommen, auch wenn im Frühjahr 1914 eine systematisch von der deutschen Reichsleitung inszenierte Pressekampagne östliches Barbarentum als Zivilisationsbruch perhorreszierte. Grundlegend veränderte sich die Situation Anfang August 1914. Im Gefolge der Julikrise nach dem serbischen Mordanschlag auf den österreichischen Thronfolger in Sarajewo eskalierten Ultimaten und Mobilmachungen. Das mit Österreich verbündete Deutsche Kaiserreich erklärte Russland den Krieg, was aufgrund der Bündniskonstellationen automatisch den Kriegszustand mit Frankreich bewirkte. Damit trat für Deutschland jener Zweifrontenkrieg ein, für den der Schlieffenplan gedacht war: Dieser sah die rasche Niederringung Frankreichs unter Verletzung der belgischen Neutralität sowie danach einen neuen Hauptschlag gegen Russland vor. Wie würde sich England verhalten, das war die entscheidende Frage. Zum Entsetzen der Deutschen erklärte auch England den Krieg, relativ leicht vorhersehbar aufgrund der Bündnisverpflichtungen und von den Briten mit dem völkerrechtswidrigen Einmarsch in Belgien begründet. Nachrichten von deutschen Kriegsgräueln in Belgien machten rasch die Runde, sie schienen die Propagandathesen vom barbarischen deutschen Militarismus 1

Essay zur Quelle: Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ (1914). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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zu bestätigen. Die Deutschen empfanden sich als hilflos, weil mit dem Kappen der Überseekabel Gegeninformation unterbunden und die Informationshoheit der Entente gesichert war. In dieser Situation wurden zahlreiche deutsche Gelehrte und Künstler aufgefordert, eine Protestresolution zu unterzeichnen. Die Stimmung war eindeutig. Das „Augusterlebnis“ hatte die Deutschen zusammengeschmiedet, wenn auch nicht so einheitlich, wie die deutsche Propaganda glauben machen wollte. Von Region zu Region schwankte die Stimmung, in den Städten zeigte sich vor allem das Bürgertum kriegsbegeistert, weniger die Arbeiterschaft, und auf dem Lande gab es verhaltene Reaktionen. Gleichwohl beherrschten die „Ideen von 1914“ die öffentliche Meinung. Man befinde sich isoliert in einer Welt von Feinden, man verteidige deutsche Kultur gegen östliche Barbarei, gegen verflachte westliche Zivilisation und gegen englischen Krämergeist. Zudem erschien der Krieg als rettender Ausbruch aus kultureller Einöde, aus massengesellschaftlichem Materialismus, aus der Erstarrung idealistischer Impulse. Befreiungsschlag aus innerer Stagnation und Empörung über unerträgliche feindliche Vorwürfe, das war die Grundstimmung in intellektuell führenden bürgerlichen Schichten unter Einschluss der künstlerischen Avantgarde. Der vom Kaiser verordnete überparteiliche „Burgfrieden“ wurde überschwänglich begrüßt, an die Stelle innerer Zerrissenheit sollte ein gesamtnationaler Aufbruch treten. In diesem Kontext ist der „Aufruf der 93“ zu verorten. 2 Er erschien am 4. Oktober 1914 als ein von 93 deutschen Schriftstellern, Gelehrten und Künstlern unterzeichneter Aufruf „An die Kulturwelt“, um Vorwürfe der Entente gegen einen deutschen „Militarismus“ und gegen Gräuel der deutschen Armee insbesondere im überfallenen neutralen Belgien als „unwahr“ zurückzuweisen. Der Aufruf fügt sich in zahlreiche, vor allem von bekannten Kulturgrößen getragene Manifeste beider Seiten im „Krieg der Geister“ (Hermann Kellermann 1915) zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung vornehmlich in den neutralen Staaten ein, galt aber bereits zeitgenössisch und im Nachhinein als ein verhängnisvolles Schlüsseldokument arroganter und freilich auch naiver deutscher Überheblichkeit. Ausgangspunkt für den Aufruf war zum einen ein Artikel über „Die Wirkung der englischen Lüge“ im Berliner Tageblatt vom 9. September 1914, der den Kaufmann Erich Buchwald zur Anregung einer Gegenaktion beim Schriftsteller Hermann Sudermann bewog. Hinzu kam zum anderen eine damit verknüpfte systematische Propagandakampagne des Chefs des Nachrichtenbüros im Reichsmarineamt, Heinrich Löhlein, der gemeinsam mit dem Schriftsteller Ludwig Fulda, dem Berliner Archäologen und Vertreter des Auswärtiges Amtes Theodor Wiegand und dem Berliner Bürgermeister Georg Reicke aktiv wurde. Unter Mitwirkung Sudermanns verfasste Fulda den Text, den Reicke in rhetorisch einprägsamer, an Luthers 95 Thesen von 1517 angelehnter Wucht auf ein sechsfaches „es ist nicht wahr“ zuspitzte

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Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ (1914), in: vom Bruch, Rüdiger; Hofmeister, Björn (Hgg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung (Kaiserreich und Erster Weltkrieg 1871–1918 Bd. 8), Stuttgart 22002, S. 366–369.

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„gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten.“

Unterzeichnen sollten 40–50 weltberühmte Künstler und Gelehrte. Politiker, Industrielle und hohe Beamte sollten bewusst außen vor bleiben. Am 19. September setzte die reichsweite, zumeist telegrafische Werbung für das Manifest ein, das neben den Akteuren bereits von den Gelehrten Emil Fischer, Adolf von Harnack, Franz von Liszt, Alois Riehl und Gustav von Schmoller sowie von dem Komponisten Engelbert Humperdinck und dem Maler Max Liebermann unterzeichnet worden war. Einige von ihnen waren nach eigener späterer Aussage über den genauen Text gar nicht informiert worden. 93 Unterschriften kamen bis zur Publikation zusammen, ein geistig und politisch breit gefächertes Spektrum von Kunst und Wissenschaft. Entschiedene Pazifisten und Weltbürger wie Albert Einstein, Friedrich Wilhelm Foerster und Hermann Hesse wurden gar nicht erst gefragt. Einige Unterzeichner wie der Münchener Ökonom Lujo Brentano und der Physiker Max Planck distanzierten sich wenig später entschieden oder gewunden von dem Aufruf, dessen Text offenbar in vielen Fällen bei der Unterzeichnung nicht oder nicht vollständig vorlag und im Vertrauen auf die Integrität bereits bekannter Unterschriften unterstützt wurde. Ironischerweise wurzelte dieser im Ausland als Ausweis einer chauvinistisch verblendeten deutschen Kultur gebrandmarkter Aufruf vielfach in kulturliberalen intellektuellen Netzwerken. Diese reichten zurück bis zu den Protesten von 1900/01 gegen eine Knebelung künstlerischer und wissenschaftlicher Freiheit in der so genannten lex Heinze. Das mindert nicht die Verantwortung der Unterzeichner, verweist aber zum einen auf eine vorrangig defensiv konsensfähige, freilich im Ausland so nicht rezipierte Tendenz bei vielen Unterzeichnern des Aufrufs. Zum anderen deutet er auf eine bezeichnende Diskrepanz zwischen intellektueller emphatischer Naivität und politisch kühl gesteuerter Kampagne hin. Im Original und in zehn Übersetzungen gelangte der Text in mindestens 14 neutrale Staaten. Kühl-distanziert bis ablehnend wurde er etwa in Holland, der Schweiz und den USA aufgenommen. Gelassen-maßvoll blieben die Reaktionen in England, wo man allerdings wirkungsvoll-spaltend zwischen einer positiv gewerteten deutschen Kulturtradition und einem nunmehr übermächtigen deutschen Militarismus unterschied. Voller Hass reagierte Frankreich, dessen führende Akademiemitglieder das Band zu den Unterzeichnern des Aufrufs durchschnitten und auf internationale Isolation der deutschen Wissenschaftsinstitutionen drängten, welche freilich auch einer Selbstisolation Vorschub leisteten. In der Sache konnte die vermeintliche im Aufruf beschworene Wahrheit nicht überzeugen, da allein schon der völkerrechtswidrige deutsche Einfall in Belgien die neutralen Staaten als Zielgruppe des Aufrufs bedenklich stimmen musste und da sich deutsche Kriegsgräuel wie Geiselerschießungen und die Zerstörung der einzigartigen Universitätsbibliothek in Löwen, sowie zuletzt auch der Beschuss der Kathedrale von Reims nicht leugnen ließen.

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Spätestens die Diktatur der 3. Obersten Heeresleitung (OHL) von 1917 bestätigte einen Politik, Gesellschaft und Militär umschließenden deutschen Militarismus. Vereinzelte distanzierende Stimmen vormaliger Unterzeichner des Aufrufs noch während des Krieges und eine von dem Völkerrechtler Hans Wehberg 1919 betriebene, freilich in der Stoßrichtung versandende aufklärend-korrigierende Gegenkampagne zum Aufruf vermochten dessen verheerende Wirkung nicht wirklich einzudämmen, welche maßgeblich zu einer internationalen Ächtung vor allem der deutschen Wissenschaft bis zum Ende der 1920er-Jahre beigetragen hat. Literaturhinweise Flasch, Kurt, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Ein Versuch, Berlin 2000. Hirschfeld, Gerhard; Krumeich, Gerd; Renz, Irina (Hgg.), Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn 22004. Mommsen, Wolfgang J. (Hg.), Kultur und Krieg. Die Rolle der Intellektuellen, Künstler und Schriftsteller im Ersten Weltkrieg, München 1996. Ungern-Sternberg, Jürgen von; Ungern-Sternberg, Wolfgang von, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“ Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation, Stuttgart 1996.

Quelle Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ (1914) 3 An die Kulturwelt! Wir als Vertreter deutscher Wissenschaft und Kunst erheben vor der gesamten Kulturwelt Protest gegen die Lügen und Verleumdungen, mit denen unsere Feinde Deutschlands reine Sache in dem ihm aufgezwungenen schweren Daseinskampfe zu beschmutzen trachten. Der eherne Mund der Ereignisse hat die Ausstreuung erdichteter deutscher Niederlagen widerlegt. Um so eifriger arbeitet man jetzt mit Entstellungen und Verdächtigungen. Gegen sie erheben wir laut unsere Stimme. Sie soll die Verkünderin der Wahrheit sein. Es ist nicht wahr, daß Deutschland diesen Krieg verschuldet hat. Weder das Volk hat ihn gewollt noch die Regierung noch der Kaiser. Von deutscher Seite ist das Äußerste geschehen, ihn abzuwenden. Dafür liegen der Welt die urkundlichen Beweise vor. Oft genug hat Wilhelm II. in den 26 Jahren seiner Regierung sich als Schirmherr des Weltfriedens erwiesen; oft genug haben selbst unsere Gegner dies anerkannt. Ja, dieser nämliche Kaiser, den sie jetzt einen Attila zu nennen wagen, ist jahrzehntelang wegen seiner unerschütterlichen Friedensliebe von ihnen verspottet worden. Erst als eine schon lange 3

Der Aufruf der 93 „An die Kulturwelt!“ (1914), in: vom Bruch, Rüdiger; Hofmeister, Björn (Hgg.), Deutsche Geschichte in Quellen und Darstellung (Kaiserreich und Erster Weltkrieg 1871–1918 Bd. 8), Stuttgart 22002, S. 366–369. Auch abgedruckt in: UngernSternberg, Jürgen von; Ungern-Sternberg, Wolfgang von, Der Aufruf „An die Kulturwelt!“. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg. Mit einer Dokumentation, Stuttgart 1996, S. 144f. Die Quelle ist zudem online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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an den Grenzen lauernde Übermacht von drei Seiten über unser Volk herfiel, hat es sich erhoben wie ein Mann. Es ist nicht wahr, daß wir freventlich die Neutralität Belgiens verletzt haben. Nachweislich waren Frankreich und England zu ihrer Verletzung entschlossen. Nachweislich war Belgien damit einverstanden. Selbstvernichtung wäre es gewesen, ihnen nicht zuvorzukommen. Es ist nicht wahr, daß eines einzigen belgischen Bürgers Leben und Eigentum von unseren Soldaten angetastet worden ist, ohne daß die bitterste Notwehr es gebot. Denn wieder und immer wieder, allen Mahnungen zum Trotz, hat die Bevölkerung sie aus dem Hinterhalt beschossen, Verwundete verstümmelt, Ärzte bei der Ausübung ihres Samariterwerkes ermordet. Man kann nicht niederträchtiger fälschen, als wenn man die Verbrechen dieser Meuchelmörder verschweigt, um die gerechte Strafe, die sie erlitten haben, den Deutschen zum Verbrechen zu machen. Es ist nicht wahr, daß unsere Truppen brutal gegen Löwen gewütet haben. An einer rasenden Einwohnerschaft, die sie im Quartier heimtückisch überfiel, haben sie durch Beschießung eines Teils der Stadt schweren Herzens Vergeltung üben müssen. Der größte Teil von Löwen ist erhalten geblieben. Das berühmte Rathaus steht gänzlich unversehrt. Mit Selbstaufopferung haben unsere Soldaten es vor den Flammen bewahrt. – Sollten in diesem furchtbaren Kriege Kunstwerke zerstört worden sein oder noch zerstört werden, so würde jeder Deutsche es beklagen. Aber so wenig wir uns in der Liebe zur Kunst von irgend jemand übertreffen lassen, so entschieden lehnen wir es ab, die Erhaltung eines Kunstwerks mit einer deutschen Niederlage zu erkaufen. Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegführung die Gesetze des Völkerrechts mißachtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen. Es ist nicht wahr, daß der Kampf gegen unseren sogenannten Militarismus kein Kampf gegen unsere Kultur ist, wie unsere Feinde heuchlerisch vorgeben. Ohne den deutschen Militarismus wäre die deutsche Kultur längst vom Erdboden getilgt. Zu ihrem Schutze ist er aus ihr hervorgegangen in einem Lande, das jahrhundertelang von Raubzügen heimgesucht wurde wie kein zweites. Deutsches Heer und deutsches Volk sind eins. Dieses Bewußtsein verbrüdert heute 70 Millionen Deutsche ohne Unterschied der Bildung, des Standes und der Partei. Wir können die vergifteten Waffen der Lüge unseren Feinden nicht entwinden. Wir können nur in alle Welt hinausrufen, daß sie falsches Zeugnis ablegen wider uns. Euch, die Ihr uns kennt, die Ihr bisher gemeinsam mit uns den höchsten Besitz der Menschheit gehütet habt, Euch rufen wir zu: Glaubt uns! Glaubt, daß wir diesen Kampf zu Ende kämpfen werden als ein Kulturvolk, dem das Vermächtnis eines Goethe, eines Beethoven, eines Kant ebenso heilig ist wie sein Herd und seine Scholle. Dafür stehen wir Euch ein mit unserem Namen und mit unserer Ehre!

DIE ABWEHR INTERNATIONALER KUNST IM NATIONALSOZIALISMUS 1 Thomas Höpel

Die Nationalsozialisten haben Kunst und Kultur große Aufmerksamkeit geschenkt und früh politisch instrumentalisiert. Sie wollten so auch Anhänger aus bildungsbürgerlichen und kirchlichen Milieus, die den Nationalsozialisten politisch nicht in jedem Falle nahe standen, gewinnen. In diesen Milieus hatte sich seit 1918 ein kritischer Diskurs gegenüber der republikanischen Kulturpolitik und der modernen Kunstentwicklung herausgebildet. 2 Die nach 1918 aufblühende Kunst der Avantgarde war, trotz ihres Prestiges, eine Schöpfung von Außenseitern, die am Rande der etablierten bürgerlichen Gesellschaft blieb und deren Wertordnung in Frage stellte. 3 An die daraus in breiten Teilen des Bildungsbürgertums resultierende Kritik trachteten die Nationalsozialisten anzudocken. Zudem bezogen sich ihre rasseideologischen Vorstellungen besonders nachdrücklich auf den Kunstbereich, was im Begriff der „Entartung“ zum Ausdruck kam. 4 Den „internationalen“ Kunstströmungen, dem „Amerikanismus“ und dem „Kulturbolschewismus“ sollte durch die Rückbesinnung auf sogenannte „arteigene“ deutsche Kunst- und Kulturwerte begegnet werden. Im Zusammenhang mit dem Aufbau der NSDAP zu einer Massenpartei wurden seit 1925/26 verschiedene Organisationen geschaffen, die einzelne soziale und berufliche Gruppen erfassen sollten. Um Gruppen im bildungsbürgerlichvölkischen Milieu zu mobilisieren und die „geistig Schaffenden“ zu erreichen, übernahm Alfred Rosenberg 1927 von der NSDAP-Führung den Auftrag, eine Kulturorganisation zu gründen. Rosenberg suchte daraufhin Kontakt zu kulturinteressierten Kreisen in der NSDAP sowie im völkischen Spektrum und gründete im Januar 1928 die Nationalsozialistische Gesellschaft für deutsche Kultur, deren Zielgruppen neben Künstlern noch Ärzte, Rechtsanwälte, Richter, Beamte, Offiziere und Techniker waren. 5 Die Gesellschaft residierte in München, unter der gleichen Adresse, unter der auch die NSDAP zu finden war. Diese direkte Identi1

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Essay zur Quelle: „Die Geisteswende. Kulturverfall und seelische Wiedergeburt“, Manifest des Kampfbundes für deutsche Kultur (1929). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Vgl. Bollenbeck, Georg, Tradition, Avantgarde, Reaktion. Deutsche Kontroversen um die kulturelle Moderne 1880–1945, Frankfurt am Main 1999, S. 207–210. Vgl. insbesondere Gay, Peter, Weimar Culture. The Outsider as Insider, New York 1968. Schon Hitler hatte dies in „Mein Kampf“ getan: Hitler, Adolf, Mein Kampf, München 161932, S. 283. Piper, Ernst, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005, S. 259f.

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fizierung mit der NSDAP entsprach aber eigentlich nicht dem Anliegen, das mit der Kulturorganisation verbunden wurde. Deshalb gab Rosenberg bei der Veröffentlichung eines Aufrufes im Weltkampf eine andere, neutrale Adresse an. Zugleich unterstrich er, dass zwar die Initiative von nationalsozialistischen Kreisen ausginge, es aber das Anliegen der Gesellschaft sei, besonders „jene volksbewußten Persönlichkeiten“ für eine Mitarbeit zu gewinnen, die politisch andere Ansichten als die NSDAP hätten. 6 Ende 1928 etablierte sich die NS-Kulturorganisation endgültig unter dem Namen Kampfbund für deutsche Kultur (KfdK), der nicht mehr auf Anhieb eine Verbindung zur NSDAP nahe legte. Das Gründungsmanifest des Bundes erschien unter dem Titel „Die Geisteswende. Kulturverfall und seelische Wiedergeburt“ im Januar 1929 im ersten Heft der Mitteilungen des Kampfbundes. 7 Hier wurden Vorstellungen, die die Kunstund Kulturpolitik der Nationalsozialisten in der Folge kennzeichnen sollten, präsentiert. Ausgangspunkt des Manifests war die Klage über den modernen Kulturverfall in Deutschland, der die Ursache für die gesamtgesellschaftliche Krise darstellen würde. Verantwortlich dafür machte der Kampfbund die kulturellen Einflüsse, die von außen auf Deutschland wirken sowie jene Deutschen, die für eine „Weltkultur“ eintreten würden. Nur durch die Rückbesinnung auf die Werte der deutschen Kunst und Kultur, auf die sogenannte „arteigene“ Kultur, wäre ein Wiederaufstieg Deutschlands und das Aufhalten des Kulturverfalls möglich. Die „arteigene Kunst“ wird durch den Zusammenhang von „Rasse, Volk, Staat, Sprache und Geschichte“ charakterisiert. Alles was dem entgegenstehen würde, wurde abgelehnt. Das Manifest nimmt ziemlich unverblümt die kulturellen Repräsentanten der Weimarer Republik, die „Asphalt-Feuilletonisten oder internationalistische, an ihrem Volkstum Verrat übende Gelehrte“ als Feindbild ins Visier. Gegen diese „Träger der Zersetzung“ kündet der Kampfbund Widerstand an. Das Manifest macht die generelle „Kunstabwehrgesinnung“, die die Kulturpolitik der Nationalsozialisten kennzeichnen sollte, sehr deutlich. Sie richtete sich gegen die kulturelle Degeneration der Großstädte, gegen Liberalismus, die „Mulatten- und Negerkultur“ und überhaupt alles „Internationale und Laue“. Nach der generellen Diagnose des Dilemmas der Kultur in Deutschland wandte sich der Aufruf dezidiert an bestimmte soziale Gruppen. Er sprach die schwierige Situation von Journalisten, Schriftstellern, Architekten, Künstlern und Musikern in der Weimarer Republik an, die sich in der Weltwirtschaftskrise dramatisch verschärfen sollte. 8 Die Republik hatte trotz einer Debatte über die „Not der geistigen Arbeiter“ zu Beginn der 1920er-Jahre für diese Gruppen keine grundlegenden Verbesserungen erzielt. 9 Zudem konnten sie aufgrund ihrer sehr unterschiedlichen Interessenslagen kaum genügend politischen Druck gegenüber der Regierung aufbauen. Der KfdK bot sich ihnen als gemeinsame Plattform und 6 7 8 9

Der Weltkampf (1928) H. 53, S. 210–212. Mitteilungen des Kampfbundes für deutsche Kultur 1 (1929) H. 1, S. 1–7. Steinweis, Alan E., Art, Ideology, & Economics in Nazi Germany, Chapel Hill 1988, S. 8–16. Jarausch, Konrad H., Die Krise des deutschen Bildungsbürgertums im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts, in: Kocka, Jürgen (Hg.), Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, Teil IV. Politischer Einfluß und gesellschaftliche Formation, Stuttgart 1989, S. 180–205, hier S. 195f.

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Vertretung an und war damit in der Folge durchaus erfolgreich. 1932 befanden sich unter den 2.100 Kampfbundmitgliedern 15 Prozent Künstler, Schriftsteller und Architekten. 10 Der im Gründungsmanifest des KfdK propagierte national-völkische Kulturbegriff knüpfte an die Auffassungen des nationalistischen Bildungsbürgertums an, um es für die nationalsozialistische Kulturorganisation zu gewinnen. Die Liste der Personen, die das Gründungsmanifest des KfdK unterzeichnet haben, zeugt davon, dass die gesuchte Klientel tatsächlich erreicht wurde. Knapp die Hälfte der 65 öffentlichen Förderer setzte sich aus Hochschullehrern zusammen, unter ihnen waren Paul Schultze-Naumburg, Mitgründer des Deutschen Bundes Heimatschutz und des Deutschen Werkbundes, der bald zum bedeutendsten Redner des Kampfbundes wurde 11, der Tierbildhauer Professor Fritz Behn 12, der Physiknobelpreisträger Philipp Lenard, der Professor in Heidelberg war und eine rassistisch fundierte „Deutsche Physik“ propagierte, der Historiker Adalbert Wahl, der Architekt Albert Geßner, der Jurist Friedrich Grimm, der Maler Hermann Groeber, der Psychologe Felix Krueger, der Kunsthistoriker Heinrich Wölfflin sowie der Soziologe und Philosoph Othmar Spann, der in Wien eine Professur für Nationalökonomie und Gesellschaftslehre inne hatte und als Vordenker des Austrofaschismus gilt. 13 Spann trug auf der ersten öffentlichen Veranstaltung des Kampfbundes in München am 23. Februar 1929 auch über „Die Kulturkrise der Gegenwart“ vor. 14 Laut Jürgen Gimmel, der die öffentliche Tätigkeit des KfdK in München detailliert untersucht hat, konnte der Kampfbund zahlreiche Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Kultur bei seinen Veranstaltungen rekrutieren, die mit der NSDAP und auch dem KfdK offenbar keine erkennbare Beziehung besaßen. Die Veranstaltungen fanden an repräsentativen Orten der städtischen Kunst und Wissenschaft statt und waren stets gut besucht. Als Paul Schultze-Naumburg in seinem berüchtigten Vortrag „Kampf um die Kunst“ die Entartung der modernen Kunst und Architektur beklagte, mussten sogar hunderte draußen bleiben. Der Vortrag wurde daraufhin wiederholt und ging anschließend auf „Deutschlandtournee“. 15 Es gelang den Nationalsozialisten mit der vom KfdK verfochtenen Kulturauffassung unterschiedliche Strömungen im deutschen Bildungsbürgertum anzuspre10 Steinweis, Art, S. 23. 11 Piper, Alfred Rosenberg, S. 265–267. 12 Zu Behn vgl. Zeller, Joachim, Umstritten, vergessen. Der Tierplastiker Fritz Behn, in: Berger, Ursel; Ladwig, Günter (Hgg.), Tierplastik deutscher Bildhauer des 20. Jahrhunderts, Berlin 2009, S. 43–48. 13 Mitteilungen des Kampfbundes für deutsche Kultur 1 (1929) H. 1, S. 6. 14 Brenner, Hildegard, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963, S. 7; zu Spann vgl. Klee, Ernst, Personenlexikon zum Dritten Reich. Wer war was vor und nach 1945?, Frankfurt am Main 2003, S. 589. 15 Gimmel, Jürgen, Die politische Organisation kulturellen Ressentiments: Der „Kampfbund für deutsche Kultur“ und das bildungsbürgerliche Unbehagen an der Moderne, Siegen 1999, S. 322–327, 334f.

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chen, nämlich die völkischen Gruppen, die für Heimatschutz und gegen sogenannte gleichmacherische internationale Entwicklungen eintraten; bildungsbürgerliche Kreise, die ihren Bildungsprivilegien aus dem Kaiserreich nachtrauerten, sozialkritische Kunst als Schwächung des Staates ablehnten und überzeitliche Kunstwerte in den Vordergrund rückten; sowie schließlich die alldeutschen Gruppen, die antisemitisch und kulturimperialistisch ausgerichtet waren und eine Expansion nach Osten propagierten. Alle Gruppen einte die Ablehnung der kulturellen Moderne, die im Bereich der Höhenkünste die traditionelle Wertordnung des Bildungsbürgertums außer Kraft setzte und bei den Massenkünsten deren Definitionsmacht gänzlich in Frage stellte. Über die vom KfdK verfochtene Kulturvorstellung und Kulturpolitik gelang ein Schulterschluss mit diesen Gruppen, selbst wenn mitunter politisch die Spannungen zwischen der NSDAP und den völkischen Parteien und Gruppen zunahmen. Besonders wichtig war dabei, dass der KfdK diese Kunstdoktrin unmissverständlich und handgreiflich propagierte. Bei Vorträgen von Kampfbundrednern wurden Gegner solcher Ideen vor die Tür gesetzt und zuvor oft misshandelt. 16 Schließlich erlaubte die Regierungsbeteiligung der Nationalsozialisten in Thüringen 1930 wichtigen Protagonisten des KfdK, wie Paul Schultze-Naumburg, Wilhelm Frick, Hans Severus Ziegler und Hans Günther, ihre aggressive völkischnationale Kulturpolitik ohne Widerspruch von Seiten der bürgerlichen Koalitionäre ganz praktisch in einem Land vorzuführen. Mit dem Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“ wurden erste Verbote unerwünschter Kunstwerke eingeleitet. Betroffen waren Literatur, Bühnen, Film und auch moderne bildende Kunst, die aus dem Weimarer Schlossmuseum entfernt wurde. 17 Dieses Vorgehen traf beim konservativen und deutschnationalen Thüringer Bürgertum weitgehend auf Zustimmung. 18 Bis 1930 hatte der KfdK sowohl verschiedene nationale Jugendverbände integriert als auch aktive Landesorganisationen aufgebaut, die im nationalen und bildungsbürgerlichen Milieu mit ihren Aktionen auf Resonanz stießen. Seit 1931 stieg die Mitgliederzahl, wobei besonders Angehörige technisch-naturwissenschaftlicher Berufe, Kaufleute, Lehrer und Künstler dem Kampfbund beitraten. Daraufhin wurde er in Fachgruppen aufgegliedert. Architekten und Ingenieure wurden in einem eigenen Verband ausgegliedert. 19 16 Ebd., S. 337–340. 17 Brenner, Kunstpolitik, S. 32f; Bollmus, Reinhard, Das Amt Rosenberg und seine Gegner. Zum Machtkampf im nationalsozialistischen Herrschaftssystem, Stuttgart 1970, S. 34; Reichel, Peter, Der schöne Schein des Dritten Reiches. Faszination und Gewalt des Faschismus, München u.a. 1991, S. 87. 18 Vgl. exemplarisch für die Stadt Weimar: Die völkische und nationalsozialistische Instrumentalisierung der kulturellen Traditionen Weimars. Bilanz eines Forschungsprojekts, in: Ehrlich, Lothar; John, Jürgen; Ulbricht, Justus H. (Hgg.), Das Dritte Weimar. Klassik und Kultur im Nationalsozialismus, Köln u.a. 1999, S. 335–351, besonders S. 338, 342–345; Bollenbeck, Tradition, S. 201–206. 19 Brenner, Kunstpolitik, S. 17f, 20. Zur Mitgliederentwicklung des KfdK vgl. Bollmus, Das Amt Rosenberg, S. 29, 37. Zu den beigetretenen Komponisten vgl. Prieberg, Fred K., Musik im NS-Staat, Frankfurt am Main 1982, S. 39f.

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Die Nationalsozialisten instrumentalisierten erfolgreich den von der bürgerlich konservativen Rechten verfochtenen völkisch-nationalen Kulturbegriff und radikalisierten ihn im Laufe der Jahre. Sie machten sich dabei geschickt deren Vokabular zu eigen, was sich auch am Aufgreifen der Parole vom „Kulturbolschewismus“ zu Beginn der 1930er-Jahre zeigt. Dieser Begriff war seit etwa 1927 im Anschluss an den Begriff „Kunstbolschewismus“ aufgekommen, mit dem seit 1918 die modernen Künste politisch motiviert diffamiert wurden. Er bezog sich auf alles, was angeblich „zersetzend auf die deutsche Kultur“ wirken würde, wie Entsittlichung, Frauenemanzipation, Säkularisierungstendenzen und Antimilitarismus. Insbesondere Protagonisten aus den christlichen Kirchen beider Konfessionen nutzten im Rahmen ihrer umfangreichen antibolschewistischen Propaganda den Begriff bis 1933 weitaus häufiger als die Nationalsozialisten, weil damit das Schreckensszenario von der „Entchristlichung der Massen“ besonders dramatisch unterstrichen werden konnte. Die Nationalsozialisten verwendeten den Begriff erst massiv, als er bereits etabliert war. 20 Sie konnten durch die Übernahme und Propagierung solcher Begriffe neue gesellschaftliche Gruppen für sich gewinnen. 21 Der KfdK geriet nach den Erfolgen der Anfangsjahre jedoch bald in Schwierigkeiten, was auf das taktische und organisatorische Unvermögen der Münchner Führung zurückgeführt wird. Innerhalb der NSDAP wurde Ende 1930 eine eigene Abteilung für Rasse und Kultur geschaffen, die dann als Abteilung Volksbildung Goebbels unterstellt wurde. 22 Die späteren Interessenkonflikte zwischen Rosenberg und Goebbels waren bereits hier angelegt. Wichtig war der KfdK aber durch das von ihm errichtete Netz von Landes- und Ortsgruppen. Sie brachten das Personal für die später flächendeckend umgesetzte nationalsozialistische Kulturpolitik hervor. Die lokalen Kampfbundleiter übernahmen nach der Machtergreifung die Geschicke der städtischen Kulturpolitik. Sie leiteten rigide eine Säuberung der städtischen Kultureinrichtungen von sogenanntem „undeutschem Kulturgut und undeutschen Künstlern“ ein und gründeten in der Folge Kulturämter wie 1934 unter anderem in Breslau, Frankfurt am Main, Leipzig und München, die der politischen Überwachung und Lenkung der städtischen Kultur dienten. 23 Führende Protagonisten des Kampfbundes landeten nach 1933 auf hohen Posten in der Kulturbürokratie. Hanns Johst wurde Präsident der Reichsschrifttumskammer. Der Leiter der Ortsgruppe Hannover des KfdK, Bernhard Rust, wurde 1934 Reichsminister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung. Der Führer der Ortsgruppe Berlin des KfdK, Hans Hinkel, wechselte nach 1933 ins Propaganda20 Interessanterweise wurde der Begriff von katholischen Kreisen zu Beginn der 1930er-Jahre sogar gegen die NSDAP und insbesondere Rosenberg verwandt, was insbesondere auf dessen Ausfälle gegen die katholische Religion und den Papst im „Mythus des 20. Jahrhunderts“ zurückzuführen war, vgl. Gimmel, Die politische Organisation, S. 354ff. 21 Vgl. John, Eckhard, Musikbolschewismus. Die Politisierung der Musik in Deutschland 1918–1938, Weimar 1994, insb. S. 192–207. 22 Bollmus, Das Amt Rosenberg, S. 30–39; Piper, Alfred Rosenberg, S. 273. 23 Höpel, Thomas, Von der Kunst- zur Kulturpolitik, Städtische Kulturpolitik in Deutschland und Frankreich 1918–1939, Stuttgart 2007, S. 473.

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ministerium und war dort für die „Entjudung“ des deutschen Kulturlebens zuständig. Aus dem dramaturgischen Büro des Kampfbundes ging 1933 die Theaterbesucherorganisation Deutsche Bühne hervor, die sich die bestehenden Theaterbesucherorganisationen ganz einverleibte oder wie im Falle der sozialdemokratisch geführten Volksbühne versuchte, zumindest deren Klientel zu absorbieren. 1934 bildete Rosenberg aus Deutscher Bühne und KfdK die NS Kulturgemeinde. 24 Das Dilemma der nationalsozialistischen Kulturpolitik war indessen, dass die kulturpolitischen Protagonisten zwar sehr genau formulierten, welche Kunstformen es abzulehnen galt, zu bleibenden künstlerischen Leistungen kam es aber kaum oder gar nicht. Versuche, eine genuin nationalsozialistische neue Kunst hervorzubringen, wie sie zum Beispiel mit dem Thingspiel unternommen wurden, scheiterten kläglich. 25 Es stellt sich die Frage, inwieweit die nationalsozialistische Kulturpolitik die deutsche Kunst nach 1933 von europäischen Kunstentwicklungen abkoppeln konnte. Während in der Forschung anfangs die kunstfeindliche Entwicklung im NS-Staat von der vorangegangenen und der nachfolgenden Kunstentwicklung klar getrennt wurde, setzte spätestens seit den 1980er-Jahren eine Nuancierung ein. Die Postulate der NS-Kulturpolitik wurden den realen Gegebenheiten von Kunstproduktion und Kunstrezeption zwischen 1933 und 1945 gegenübergestellt. Im Ergebnis konstatierten Historiker wie Konrad Dussel, dass die Nationalsozialisten beim Versuch scheiterten, eine spezifisch nationalsozialistische Kunst zu schaffen, die sie als „deutsch“ kennzeichneten. Das betraf insbesondere die Versuche einer betont politischen Kunst. Lediglich die radikal antisemitische Kunstpolitik setzten sie kompromisslos durch. Ansonsten bestimmten „Überschneidungen und Brüche sowie Nuancen [...] das Bild der Künste im NS-Staat mindestens ebenso sehr wie gerade Linien und kontrastreich gegeneinander gesetzte Farben.“ 26

Wurde das kulturpolitische Programm der Nationalsozialisten letztlich also überbewertet und gab es keine so weitgehende Abgrenzung der Kunst im NS-Regime von europäischen und transnationalen Trends? In der Forschung unbestritten ist, dass es seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten sehr schnell zur flächendeckenden Ausgrenzung jüdischer Künstler und von deren Werken kam. Zudem fand sich sozialkritische linke Avantgardekunst rasch auf dem Index wieder. Betrachtet man die kulturpolitischen Diskussionen im NS-Regime, scheint darüber hinaus Vieles Verhandlungssache gewesen zu sein. Das wird darauf zurückge24 Bollmus, Das Amt Rosenberg, S. 39–42, 66f; zu den Grenzen der Gleichschaltung am Beispiel Leipzigs: Höpel, Von der Kunst- zur Kulturpolitik, S. 152f. 25 Vgl. zum Thingspiel als genuin nationalsozialistischer Massenkunstveranstaltung und dessen Scheitern: Eichberg, Hennin et al., Massenspiele: NS-Thingspiel, Arbeiterweihespiel und olympisches Zeremoniell, Stuttgart u.a. 1977; Lurz, Meinhold, Die Heidelberger Thingstätte. Die Thingbewegung im Dritten Reich: Kunst als Mittel politischer Propaganda, Heidelberg 1975; Stommer, Rainer, Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die Thing-Bewegung im Dritten Reich, Marburg 1985. 26 Dussel, Konrad, Der NS-Staat und die „deutsche Kunst“, in: Bracher, Karl Dietrich; Funke, Manfred; Jacobsen, Hans-Adolf (Hgg.), Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 256–272, hier S. 267, 272.

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führt, dass sich die kulturpolitischen Hardliner der „Kampfzeit“ wie Rosenberg oder Frick nicht durchsetzen konnten und es im Jahr 1933 dem Propagandaminister Goebbels mit Unterstützung Hitlers gelang, einen Großteil der kulturpolitischen Kompetenzen an sich zu ziehen. 27 Die Goebbels’sche Kulturpolitik zeichnete sich durch Opportunismus und Willkür aus und war gerade deshalb so wichtig für das NS-Regime. Goebbels wollte vor allen Dingen Konsens organisieren, weshalb er Kunst- und Kulturbereiche förderte, mit denen breite gesellschaftliche Gruppen der deutschen Volksgemeinschaft gewonnen bzw. das Bild des nationalsozialistischen Deutschland im Ausland verbessert werden konnte. Goebbels’ eigentliche Domäne waren die modernen Massenmedien. Hier hat er auch ohne Skrupel an internationale Trends angeknüpft, wenn diese denn vielversprechend und für das NS-Regime instrumentalisierbar waren. Im Bereich der Höhenkünste nahm er stärker auf die Vorstellungen Hitlers Rücksicht, der Kunst und Architektur als seine Domänen betrachtete und auch stets die „Kulturreden“ auf den NSDAP-Parteitagen gehalten hat. 28 Das zeigt sich dann insbesondere an der Kontroverse um den „nordischen Expressionismus“, bei der Goebbels schließlich von eigenen Vorstellungen Abstand nehmen musste. Die Diskussion, wie denn die Kunst im NS-Regime tatsächlich aussehen sollte und ob Vertreter der künstlerischen Moderne dabei einen Platz hätten, setzte bereits wenige Monate nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten ein. Mit stillschweigender Duldung von Goebbels versuchten Vertreter des NSD-Studentenbundes moderne deutsche Künstler unter dem Etikett des „nordischen Expressionismus“ in den Kanon der tolerierten Kunst einzubeziehen. Sie organisierten im Juni 1933 eine öffentliche Kundgebung im Auditorium maximum der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität und im Juli 1933 sogar die Ausstellung „Dreißig deutsche Künstler“ in einer Berliner Galerie. Dabei wurden unter anderem Arbeiten von Barlach, Heckel, Lehmbruck, Macke, Nolde, Pechstein und Schmidt-Rottluff gezeigt. 29 Die offene Kampfansage an den KfdK quittierte dieser mit der Schließung der Ausstellung durch Reichsinnenminister Frick. Nach ihrer Wiedereröffnung war der NSD-Studentenbund nicht mehr Veranstalter und die Werke Barlachs und Noldes waren entfernt worden. Die Protagonisten der Ausstellung wurden wenige Tage danach aus dem NSD-Studentenbund ausgeschlossen. 30 Alois Schardt, aktives Mitglied von NSDAP und KfdK, der 1933 den entlassenen Ludwig Justi als Direktor der Neuen Abteilung der Nationalgalerie Berlin im Kronprinzenpalais abgelöst hatte, versuchte ebenfalls, die deutschen Expressionisten in den Kanon der „Deutsch-Völkischen“ Kunst zu integrieren. Die von ihm umgebaute Ausstellung im Kronprinzenpalais wurde aber umgehend geschlossen und er selbst noch im November 1933 entlassen. 31 Die Expressionismusdebatte setzte sich trotzdem 1934 fort, bevor Hitler sie beendete und sowohl 27 28 29 30

Brenner, Kunstpolitik, S. 42; Reichel, Der Schöne Schein, S. 88f. Reichel, Der Schöne Schein, S. 98–100. Brenner, Kunstpolitik, S. 67. Paret, Peter, An Artist Against The Third Reich. Ernst Barlach, 1933–1938, Cambridge 2003, S. 69. 31 Brenner, Kunstpolitik, S. 71f.

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die Weimarer Moderne als auch die völkische Gegenposition der Protagonisten aus dem KfdK verurteilte. 32 Damit war die offizielle Kunstdoktrin verkündet, die für das öffentliche Erscheinungsbild der Kunst in Deutschland bis 1945 richtungsweisend war. Da dies aber nicht mit klaren Weisungen an Goebbels verbunden war, schwenkte der erst 1935 auf diesen rigorosen Kurs um. Dafür verantwortlich war auch, dass Rosenberg tatkräftig verschiedene Skandale ausnutzte, die zur Entlassung und zum Rücktritt mehrerer von Goebbels berufener Präsidenten der verschiedenen Unterkammern der Reichskulturkammer führten. 33 Goebbels trat die Flucht nach vorn an. Mit dem 1935 erfolgten Verbot der Kunstzeitschrift Kunst der Nation, dem Verbot der Kunstkritik 1936 und der von ihm organisierten Ausstellung „Entartete Kunst“ wehrte er alle Versuche ab, seine Position aufgrund der Förderung ehemaliger „Systemkünstler“ zu gefährden. 34 Nun wird zwar darauf hingewiesen, dass es den Protagonisten der deutschen Moderne gelang, auch weiterhin ihre Vorstellungen umzusetzen. Im Rahmen ihrer Funktionen in der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude (KdF) organisierten die ehemaligen Verfechter des „nordischen Expressionismus“ bis in die Kriegszeit KdF-Ausstellungen in Unternehmen, die auch Werke der als „entartet“ bezeichneten Künstler umfassten. 35 In den von Baldur von Schirach und Robert Ley initiierten Adolf-Hitler-Schulen wurde im Kunstunterricht auch die Moderne bis zum Expressionismus behandelt. Und Schirach veranstaltete 1943 in Wien die Ausstellung „Junge Kunst im Reich“, auf der auch Werke mit avantgardistischen Zügen gezeigt wurden. Allerdings wurden solche Initiativen in nichtöffentliche Randbereiche des NS-Regimes abgedrängt und sie änderten vor allem nichts an der prekären Situation der unter dem Verdikt der Systemzeit firmierenden Künstler. Die Ausstellung „Junge Kunst im Reich“ wurde nach nur einer Woche auf Intervention Hitlers geschlossen. 36 Auch die „Neue Musik“ wurde nicht gänzlich verboten – Hindemith und Strawinsky wurden zum Ärger der Puristen aus dem KfdK nach 1933 in Deutschland weiter gespielt. Die Ausstellung „entartete Musik“ 1938 in Düsseldorf, organisiert von Hans Severus Ziegler, einem alten Kämpfer des Kampfbundes, der in Thüringen 1930 den berüchtigten Erlass „Wider die Negerkultur für deutsches Volkstum“ entworfen hatte, wandte sich gerade gegen diese Praxis und wollte Hindemith und Strawinsky endgültig aus dem deutschen Musikleben verbannen. Aber die Ausstellung war keine Staatsaktion, selbst wenn sie im Rahmen der von Goebbels organisierten ersten Reichsmusiktage stattfand. Weder Hitler, noch Goebbels und nicht einmal Rosenberg erschienen zur Eröffnung. Der Präsident 32 Zur Expressionismus-Debatte vgl. Merker, Reinhard, Die bildenden Künste im Nationalsozialismus. Kulturideologie, Kulturpolitik, Kulturproduktion, Köln 1983, S. 131–137. 33 Bollmus, Das Amt Rosenberg, S. 78f. 34 Bahr, Ehrhard, Nazi Cultural Politics: Intentionalism vs. Functionalism, in: Cuomo, Glen R. (Hg.), National Socialist Cultural Policy, New York, 1995, S. 5–22, hier S. 16. 35 Vgl. Paret, An Artist, S. 72; Brenner, Kunstpolitik, S. 86. 36 Merker, Die bildenden Künste, S. 137; Müller-Mehlis, Reinhard, Die Kunst im Dritten Reich, München 1976, S. 187–193.

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der Reichsmusikkammer, Peter Raabe, ein überzeugter Nationalsozialist, weigerte sich später, eine Eröffnungsansprache zu halten, als die Ausstellung in Weimar gezeigt wurde. Atonale Musik wurde nach 1933 nicht konsequent verboten, selbst wenn der Versuch der Verfechter moderner Musik, sie als neuen revolutionären Musikstil mit dem NS-Staat zu versöhnen, scheiterte. Werke von als „entartet“ stigmatisierten Komponisten wie zum Beispiel von Hermann Reutter oder Wolfgang Fortner wurden weiter aufgeführt. 37 Im offiziellen Programm der Reichsmusiktage 1938 befand sich auch Boris Blachers Geigenmusik in drei Sätzen, die vom Abteilungsleiter Musik im Amt Rosenberg als „entartet“ bezeichnet wurde. Das bedeutet aber nicht, dass „neuer Musik“ kein Makel angehangen hätte. Sie wurde als „entartet“ verunglimpft, selbst wenn sie nicht durchgehend von Aufführungsverboten betroffen war. Damit befand sie sich in einer prekären Situation, die der Willkür Tür und Tor öffnete. So verhinderte der Leipziger Kulturamtsleiter und alte Kampfbund-Kämpe, Friedrich August Hauptmann, im September 1934, dass Wilhelm Furtwängler im Gewandhaus Hindemiths Sinfonie Mathis der Maler aufführte, obwohl Furtwängler die Aufführung des Werkes durchgesetzt und es bereits im März 1934 in Berlin uraufgeführt hatte. 38 Für die Künstler bedeutete das Verdikt „entartet“ im höchsten Maße Unsicherheit in Hinsicht auf die weiteren Arbeits- und Lebensbedingungen in Deutschland. Selbst wenn sie noch nicht ausdrücklich verboten waren, konnten sie zum Freiwild für radikale NS-Führer in der Provinz werden. Hindemith wurde 1935 gezwungen, sich von der Musikhochschule Berlin beurlauben zu lassen, und emigrierte schließlich 1938. 39 Nolde wurde 1941 sogar die Mitgliedschaft zur Reichskulturkammer entzogen, was einem Arbeitsverbot gleichkam. Peter Paret hat die Konsequenzen dieser äußerst diffizilen Situation am Beispiel Barlachs sehr deutlich gemacht. 40 Die Künstler wurden letztlich zum Spielball im Kampf der kulturpolitischen Akteure um Macht und Einfluss und waren dabei in jeder Hinsicht die eigentlichen Verlierer. Wenn einige Vertreter der Moderne schließlich auch unter den Nationalsozialisten zu Ehren gelangten, dann lag das auch daran, dass sie sich deren ästhetischem Diktat ein Stück weit unterwarfen. 41 In der Diskussion darum, welche deutschen Künstler, die an modernen, übernationalen Trends partizipierten, zu akzeptieren wären, wurde ausgehandelt, was als „deutsche“ und was als „artfremde“, internationale und „entartete“ Kunst zu gelten hatte. Moderne avantgardistische Kunstrichtungen, die als Erscheinungen der Weimarer „Systemzeit“ galten, wurden als „artfremd“ eingeschätzt, wobei 37 John, Musikbolschewismus, S. 371–379; weitere Beispiele bei Walter, Michael, Die Vermählung einer idealen Politik mit einer realen Kunst. Oper und Musikpolitik im Dritten Reich, in: ders., Hitler in der Oper. Deutsches Musiktheater 1919–1945, Stuttgart u.a. 1995, S. 213–262, hier S. 215f. 38 Höpel, Von der Kunst- zur Kulturpolitik, S. 297. 39 Prieberg, Fred E., Handbuch Deutsche Musiker 1933–1945, Kiel 2004, S. 3207; Bollmus, Das Amt Rosenberg, S. 76f. 40 Paret, An Artist. 41 Paret nennt als Beispiele die Bildhauer Klimsch und Kolbe, ebd., S. 34f.

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„jüdischer Einfluss“ auf Kunstproduktion und Kunstvermarktung unterstellt wurde. Was genau unter deutscher Kunst zu verstehen sei, versuchten die Nationalsozialisten eher vage über die Begriffe der Rasse und des Blutes zu erfassen. 42 Damit konnten sie aber das Problem der Einbindung „deutscher“ Künstler in internationale Trends und Diskussionen nicht auflösen. Letztlich entpuppte sich akzeptierte „artgemäße“ Kunst häufig als ziemlich unspektakulär und traditionell. Anhand der Zurückdrängung von Kunstwerken nichtdeutscher Provenienz seit 1933 im Bereich der darstellenden Künste lässt sich zeigen, welche simplen Kriterien des Blutes und der Herkunft die neue „artgemäße Kunst“ leiteten. Im Schauspiel kam es nach der Machtübernahme der NSDAP 1933 zum massiven Rückgang von Stücken ausländischer Autoren, insbesondere französischer und englischer. Hatten deutsche Bühnen von 1929 bis 1933 noch 25 Prozent des Spielplans mit ausländischer Dramatik bestritten, sank dieser Anteil 1933/34 auf acht Prozent ab. Seit 1934 musste für jedes ausländische Werk eine Genehmigung des Reichsdramaturgen eingeholt werden. Zeitgenössische russische Dramen wurden ganz verboten, englische und französische drastisch reduziert. Das galt auch für französische Klassiker, an deren Stelle skandinavische oder italienische Klassiker traten. William Shakespeare war die große Ausnahme. Er wurde aber von den Nationalsozialisten de facto als „deutscher Klassiker“ eingestuft. Trotzdem wurden auch von ihm bestimmte Werke nicht mehr aufgeführt und besonders nach Kriegsbeginn wurden Shakespeare-Stücke deutlich weniger inszeniert. Englische und französische Gesellschaftsdramen verschwanden im Krieg ganz von den Bühnen. 43 Die Nationalsozialisten veränderten nicht nur die Theaterspielpläne gegenüber der Zeit vor 1933 grundlegend, sie beseitigten seit 1933 auch konsequent die modernen Aufführungspraktiken der Weimarer Zeit, die versuchten, den kritischen Zeitwert der Überlieferungen durch Hinterfragen traditioneller Spielformen und inhaltliche Aktualisierungen des Kunstwerks herauszuarbeiten. Die Nationalsozialisten entsprachen damit auch den Forderungen, die schon in der Weimarer Republik aus dem konservativen Bildungsbürgertum kamen. „Rassereinheit“, „Entpolitisierung“ und „Nationalisierung“ der Kunst wurden wie im Manifest von 1929 gefordert nach 1933 zu zentralen Ecksteinen nationalsozialistischer Kunstpolitik. Resümierend lässt sich sagen, dass die nationalsozialistische Kunstpolitik letztlich bei weitem weniger widersprüchlich war, als mitunter konstatiert wird. Es kam sehr wohl zu einer deutlichen Abgrenzung von modernen europäischen Kunstentwicklungen, wobei flächendeckend jüdische Künstler und deren Werke diskriminiert und verboten wurden. Zudem wurde die Präsenz internationaler Kunst in Deutschland zurückgedrängt. Eine zentrale europäische Errungenschaft, 42 Vgl. zur erfolglosen Definition „deutscher Musik“: Walter, Michael, Die Vermählung, S. 217–229. 43 Vgl. die Spielplananalyse der deutschen Schauspieltheater von 1929–1944 von Thomas Eicher: ders., Spielplanstrukturen 1929–1944, in: Rischbieter, Henning (Hg.), Theater im Dritten Reich. Theaterpolitik, Spielplanstruktur, NS-Dramatik, Seelze-Velber 2000, S. 478–484.

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die Autonomie der Kunst, wurde ausgehebelt. Kunst sollte im Dienst des NS-Staates, des Volkes und der Rasse stehen. Wer solchen Forderungen nicht nachzukommen bereit war und auf der Autonomie des Künstlers beharrte, wurde, selbst wenn er deutsch und wie Nolde Mitglied der NSDAP und antisemitisch gesinnt war, beschimpft, behindert, angegriffen und mit Berufsverbot belegt. 44 Dass nichtdeutsche Werke im Bereich der darstellenden Künste nicht konsequent von deutschen Bühnen verbannt wurden, lag vor allem daran, dass sie nicht in angemessener Weise von deutschen oder wenigstens „nordischen“ ersetzt werden konnten. Das Manifest des KfdK von 1929 gab damit einen deutlichen Vorgeschmack auf die nach 1933 in Deutschland durchgesetzte Kunstpolitik. Literaturhinweise Bahr, Ehrhard, Nazi Cultural Politics: Intentionalism vs. Functionalism, in: Cuomo, Glen R. (Hg.), National Socialist Cultural Policy, New York, 1995, S. 5–22. Brenner, Hildegard, Die Kunstpolitik des Nationalsozialismus, Reinbek 1963. Dussel, Konrad, Der NS-Staat und die „deutsche Kunst“, in: Bracher, Karl Dietrich; Funke, Manfred; Jacobsen, Hans-Adolf (Hgg.), Deutschland 1933–1945. Neue Studien zur nationalsozialistischen Herrschaft, Bonn 1992, S. 256–272. Gimmel, Jürgen, Die politische Organisation kulturellen Ressentiments: Der „Kampfbund für deutsche Kultur“ und das bildungsbürgerliche Unbehagen an der Moderne, Siegen 1999. Paret, Peter, An Artist Against The Third Reich. Ernst Barlach, 1933–1938, Cambridge 2003. Piper, Ernst, Alfred Rosenberg. Hitlers Chefideologe, München 2005.

Quelle „Die Geisteswende. Kulturverfall und seelische Wiedergeburt“, Manifest des Kampfbundes für deutsche Kultur (1929) 45 1. Der politisch-wirtschaftliche Zusammenbruch Deutschlands war mehr als bloß äußeres Geschehen: er war nur das Gleichnis einer inneren Glaubenslosigkeit gegenüber dem Wert des Deutschtums und der von ihm verfochtenen Sache; die Ziellosigkeit der deutschen Politik erscheint deshalb als Zeichen eines Mangels an einem allgemeinvolklichen, staatlichen und kulturellen Ideal. Vereinsamung, Verlassenheit, innere Zerspaltung und Hoffnungslosigkeit sind deshalb die Kennzeichen vieler um das seelische und geistige Gut ihres Volkes besorgter Deutscher. Die überwiegende Anzahl jener, die berufen waren, das deutsche Geisteserbe zu verteidigen und schöpferisch erneut hinüberzutragen in die Zukunft, ging dabei zweien Phantasmen nach: dem Ich und der sogenannten Menschheit. Daß zwischen diesen Ideen das blutmäßig gebundene Volkstum lag, wurde oft nur als notwendiges Übel, nicht 44 Zum Schicksal Noldes vgl. Danker, Uwe, „Vorkämpfer des Deutschtums“ oder „Entarteter Künstler“ – Nachdenken über Emil Nolde in der NS-Zeit, in: Jahrbuch Demokratische Geschichte, Bd. 14, Kiel 2001, S. 149–188. 45 Die Geisteswende. Kulturverfall und seelische Wiedergeburt, in: Mitteilungen des

Kampfbundes für deutsche Kultur 1 (1929), H. 1, S. 1–7. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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als urewiger Born alles Schöpferischen fast schamhaft mit in den Kauf genommen. Heute haben alle Gegenkräfte gesiegt, die ohne jedes Volksbewußtsein politisch für eine Weltrepublik (bzw. Paneuropa) eintreten, gesittungsmäßig eine in keinem Boden urverwurzelte „Menschheitskultur“ schaffen wollen. Das Einzelwesen wird somit ohne jeden Zusammenhang mit Rasse, Volk, Staat, Sprache und Geschichte betrachtet und theoretisch zusammengefügt mit Hunderten von Millionen von Einzelwesen anderer Völker, Staaten und Erdteile. [...] 2. Es gibt in der Geschichte aller Völker Epochen, welche im Taktschlage des fortschreitenden Lebens tiefe Klüfte bilden, Abgründe aufreißen, nach deren Überwindung eine unveränderte Fortentwicklung alter, einmal zusammengebrochener Weltanschauungen und Wertsysteme unmöglich erscheint. An Schwellen solcher Katastrophen vollzieht sich nun entweder ein Niederdrücken des inneren geistigen und willenhaften Gesamtniveaus einer Rasse oder eines Volkes, oder aber nach einer schmerzlichen Umschmelzung alter Bindungen und Wertsetzungen die Geburt einer neuen Gesittung. [...] Heute ist aus den Tiefen der uns alle verseuchenden Weltstädte der Untermensch heraufgestiegen. Millionen unselig Entwurzelter sind auf den Asphalt geworfen, arm an Raum, entnationalisiert, richtungslos, preisgegeben jeglichen schillernden Volksverführern, die heute in der sog. Weltpresse Mulatten- und Negerkultur als die höchsten Errungenschaften der Jetztzeit aufzutischen wagen. [...] 4. Wie weit bereits die Knebelung der deutschen Geistesfreiheit und der Zerfall aller kulturellen Grundlagen gediehen ist, das weiß jeder im tätigen Leben stehende Deutsche. [...] Die schon bestehenden Bünde kultureller Art haben es meist trotz sonstiger Verdienste an Kampfeswillen und Zielbewußtsein fehlen lassen. Wir wollen gewiß vieles Wirken dankbar anerkennen; es ist aber ein offenes Geheimnis, daß z. B. Kant- und Goethe-Gesellschaften nach und nach unter die Führung jener Kräfte gerieten, die dem Wollen der deutschen Großen genau entgegengesetzt sind. So sprechen denn auch auf ihren Veranstaltungen fast nur Asphalt-Feuilletonisten oder internationalistische, an ihrem Volkstum Verrat übende Gelehrte. S c h u l d d a r a n s i n d i n e r s t e r L i n i e w i r s e l b e r. D i e s e S c h u l d a b e r f o r d e r t S ü h n e. Die Schuld sühnen wir p a s s i v durch das heutige geistige Elend, da Gelehrten von Hochschulen das Lehrrecht entzogen wird, weil die augenblicklich herrschenden Mächte das fordern, dafür aber Männer der deutschen Studentenschaft aufgezwungen werden, die den deutschen Frontsoldaten und deutsche Führer in schwerer Zeit beschimpfen. Wir sühnen, wenn deutsche Künstler heute planmäßig zugunsten exotischer Sensationsmacher ausgeschaltet werden. Wir sühnen dadurch, dass deutsche Dichter hungern, an ihr Volk gar nicht herankönnen, weil zwischen beiden sich ein nichtdeutsches Theater erhebt und ein internationaler Pressering durch Totschweigen wertvolle Kräfte lahmlegt. Wir sühnen dadurch, daß unser Rechtswesen korrumpiert wird und jeder Glaube an Gerechtigkeit schwindet. Diese Sühne ist verdient und es wird niemals anders werden, wenn sich die Träger des deutschen Wesens in allen Schichten der Nation nicht zum Widerstand zwecks Erkämpfung der Geistes- und Schöpfungsfreiheit zur tätigen Sühne aufraffen.

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[...] Die Erkenntnis der bitteren Notwendigkeit der Zusammenfassung der einzelnen im Dienste eines alt-neuen Kulturideals hat einen Kreis im Leben stehender Männer und Frauen zu einer Neugründung veranlaßt, die nun in die Öffentlichkeit tritt. Diese Gründung verzichtet bewußt auf die beliebte „breite Basis“, welche immer empfohlen wird, um „Namen“ zu sammeln, sie bekennt sich vielmehr zur scharfen Abgrenzung gegenüber allem Internationalen und Lauen. Das Wesentliche einer echten tätigen Sühne besteht also in Abwehr, Aufnahme der echten Überlieferung, Neuschöpfung aus den ewigen Werten des Volkstums und Schutz dieser hervordrängenden Kräfte. Zu diesem Zwecke hat alle Arbeit mit mündlicher und schriftlicher Aufklärung über die tatsächlichen Verhältnisse zu beginnen, um den erschreckenden Mangel an Einsicht zu überwinden, dann das Gefühl und den Willen zum Widerstand gegen alle Träger der Zersetzung, aber auch gegen die eigene Schuld und Schwäche zu wecken. Und endlich soll ein Forum geschaffen werden für alle so mannigfaltigen, blutgebundenen deutschen Kräfte auf allen Gebieten des Lebens. [...] Der Kampfbund für deutsche Kultur hat, voller Glauben an die ewige Kraft des deutschen Geistes, den Entschluß gefaßt, allen echten deutschen Schöpferkräften die Bahn brechen zu helfen. Hier mitzukämpfen sind alle Deutsche daheim und draußen, aber auch alle Freunde der deutschen Kultur in aller Welt aufgerufen. * Der Kampfbund für deutsche Kultur hat auf Grund der Erkenntnis der furchtbaren Lage des deutschen Lebens einen Aufruf hinausgehen lassen, der das oben Niedergelegte in knapper gefaßter Form ausspricht und Zweck und Ziel mit dem § 1 seiner Satzungen wie folgt angibt: „Der Kampfbund für deutsche Kultur hat den Zweck, inmitten des heutigen Kulturverfalles die Werte des deutschen Wesens zu verteidigen und jede arteigene Äußerung kulturellen deutschen Lebens zu fördern. Der Kampfbund setzt sich als Ziel, das deutsche Volk über die Zusammenhänge zwischen Rasse, Kunst und Wissenschaft, sittlichen und willenhaften Werten aufzuklären. Er setzt sich zum Ziel, bedeutende, heute totgeschwiegene Deutsche in Wort und Schrift der Öffentlichkeit näherzubringen und so dem kulturellen Gesamtdeutschtum ohne Berücksichtigung politischer Grenzen zu dienen. Er setzt sich zum Ziel, durch Sammlung aller Kräfte, welche diese Bestrebungen teilen, die Voraussetzung für eine das Volkstum als ersten Wert anerkennende Erziehung in Schule und Hochschule zu schaffen. Er setzt sich namentlich das Ziel, im heranwachsenden Geschlecht aller Schichten des Volkes die Erkenntnis für das Wesen und die Notwendigkeit des Kampfes um die Kultur- und die Charakterwerte der Nation zu wecken und den Willen für diesen Kampf um die deutsche Freiheit zu stählen.“ [...]

DAS DEUTSCH-SPANISCHE KULTURABKOMMEN VON 1939 1 Falk-Thoralf Günther

Mit dem Kulturabkommen vom 19. Januar 1939 vereinbarten Spanien und das Deutsche Reich Studentenaustauschprogramme, Buchausstellungen oder die Einrichtung von entsprechenden Sprachkursen an den höheren Schulen, um die Beziehungen beider Länder zu vertiefen. 2 Das Abkommen beruhte auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit zwischen zwei augenscheinlich gleichberechtigten Partnern. Am Anfang dieser Beziehungen hat allerdings ein Hilferuf Francos an Hitler gestanden. Am 23. Juli 1936 schickte Francisco Franco den deutschen Geschäftsmann Johannes Bernhardt zu Hitler. Bernhardt sollte den „Führer“ davon überzeugen, die Truppen des revoltierenden spanischen Generals mit Waffen und Flugzeugen zu unterstützen. Der am 18. Juli 1936 von Franco und einigen spanischen Offizieren initiierte Militärputsch war bereits einige Stunden nach seinem Beginn quasi gescheitert, da große Teile der Armee, der Polizei und der Bevölkerung sich ihm nicht angeschlossen hatten, sondern auf der Seite der gewählten republikanischen Regierung geblieben waren. Die Putschisten Francisco Franco und Emilio Mola waren dessen ungeachtet wild entschlossen, den Kampf nicht aufzugeben und wenn es sein musste, bis zum Äußersten zu gehen. Und das Äußerste war für die aus nationalistischen, konservativen und faschistischen Kreisen bestehenden Aufständischen der Bürgerkrieg. Franco und die anderen aufständischen Offiziere konnten die Militäroffensive, mit der sie Spanien unter ihre Kontrolle zu bringen hofften, jedoch nur mit ausländischer Hilfe durchführen. Franco selbst stand mit seinen kampferprobten Söldnereinheiten, denen eine hohe strategische Bedeutung in den bevorstehenden Kämpfen zugedacht war, in Spanisch-Marokko. Da sich sowohl Marine als auch Luftwaffe auf die Seite der Republik gestellt hatten, war ein Übersetzen der Franco-Truppen auf die Iberische Halbinsel unmöglich. Für den General gab es nur eine Lösung: Das faschistische Italien und das nationalsozialistische Deutschland mussten helfen! Da Franco zu diesem Zeitpunkt noch über keinerlei verlässliche politische Kontakte in diese beiden Länder verfügte, musste er unkonventionell vorgehen. Er bat den ihm bekannten, in Spanisch-Marokko ansässigen deut-

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Essay zur Quelle: Deutsches Nachrichtenbüro (DNB): Meldung zum deutsch-spanischen Kulturabkommen (19. Januar 1939). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . In den Quellen des Auswärtigen Amtes wird die Unterzeichnung des Kulturabkommens erst auf den 24. Januar 1939 datiert. Vgl. Schmitt, Bernadotte E. et al. (Hgg.), Akten zur deutschen auswärtigen Politik 1918–1945 aus dem Archiv des deutschen Auswärtigen Amtes, Serie D (1937–1945), Bd. III, Baden-Baden 1951, S. 697–704.

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schen Geschäftsmann Johannes Bernhardt, die fehlenden Kontakte nach Deutschland aufzubauen. Bernhardt war Mitglied der Auslandsorganisation der NSDAP (NSDAP/AO) und konnte mithilfe seines Ortsgruppenleiters dem Unternehmen einen parteiamtlichen Charakter verleihen. Es gelang ihm schließlich auch, Hitler davon zu überzeugen, dass eine Unterstützung Francos Erfolg versprechend sei. Nach seiner Rückkehr aus Deutschland gründete Bernhardt mit der Genehmigung Francos am 31. Juli 1936 die Compania Hispano-Marroqui de Transports, kurz HISMA genannt, die er in der Folgezeit auch leitete. Die HISMA war zunächst als Tarnorganisation gegründet worden, um die mit deutschen Flugzeugen abgewickelten Truppentransporte von Spanisch-Marokko auf das spanische Festland zu verschleiern. Durch die Hilfe aus dem Deutschen Reich, welches Waffen, Flugzeuge und später auch Soldaten – die berühmt-berüchtigte „Legion Condor“ – nach Spanien entsandte, gelang es Franco, nicht nur das spanische Festland zu erreichen, sondern auch – von Westen kommend – den Zusammenschluss mit den anderen aufständischen Militärverbänden aus dem Norden und Nordwesten zu realisieren. Dadurch wurde der zweiten spanischen Republik nach und nach Raum entzogen. Im März 1939 zogen die Rebellen schließlich in Madrid ein. 3 Das Kulturabkommen mit Deutschland kam zu einer Zeit zustande, als das Franco-Regime noch nicht fest im Sattel saß und der General sich der Rückendeckung anderer faschistischer und autoritärer Regierungen vergewissern musste. Für Hitler hingegen ging es eher um Einflussnahme, wodurch die Position des Deutschen Reiches in Europa gestärkt werden sollte. Dem NS-Regime waren ab 1936 einige außenpolitische Coups gelungen, wie die Remilitarisierung des Rheinlandes, womit die Regelungen des Versailler Vertrags und des Locarnopakts negiert wurden, und die Eingliederung der mehrheitlich von Deutschen bewohnten Gebiete Böhmens und Mährens (damals als „Sudentenland“ bezeichnet) sowie Österreichs in das Deutsche Reich, wodurch Europa bereits 1938 an den Rand eines Krieges gedrängt worden war. Um nicht noch isolierter dazustehen und die eigene Lage sichern zu können, war es für Hitler notwendig, seinen Einflussbereich in Europa zu erweitern. Und das sollte auch auf kultureller Ebene geschehen, wofür das deutsch-spanische Kulturabkommen den Weg bereiten sollte. Mittelfristig wollte das Deutsche Reich Spanien in die so genannte „Achse BerlinRom“ einbinden, um damit das zunächst auf sich selbst konzentrierte autoritäre Regime Francos in die Machtpolitik des faschistisch-nationalsozialistischen Blocks einzubinden. Dies geschah freilich nicht nur aus rein politischen Motiven, sondern war auch durch die Rohstoffversorgung des Reiches begründet. Schon Ende 1936, kurz nachdem Hitler und Mussolini die Regierung Francos anerkannt hatten, sandte Deutschland den Direktor des Berliner Ibero-Amerikanischen Instituts,

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Vgl. Eickhoff, Georg, Das Charisma der Caudillos. Cárdenas, Franco, Perón, Frankfurt am Main 1999, S. 77–133.

Das deutsch-spanische Kulturabkommen

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Wilhelm Faupel, als Sonderbotschafter nach Spanien. „Wenn Spanien rot wird“, schrieb Propagandaminister Goebbels damals in sein Tagebuch, „dann ist Portugal und ein großer Teil von Südamerika kaum noch zu retten. Damit verlieren wir unsere Rohstoffbasis. Das darf um keinen Preis geschehen. Darum weitere Unterstützung.“ 4

Ähnlich drückte sich Wilhelm Faupel in seiner Denkschrift „Zur Spanienpolitik“ vom April 1938 aus, worin er gleich am Anfang auf die strategische Bedeutung der Iberischen Halbinsel einging, die als „Stütz- und Ausgangspunkt für [eine] weitere bolschewistische Ausbreitung in West-Europa, Nord-Afrika und IberoAmerika“ hätten dienen können. Er wies darin besonders auf die seit dem deutschen Engagement im Bürgerkrieg guten Möglichkeiten für einen kulturellen, militärischen und wirtschaftlichen Austausch mit Spanien hin. 5 Es ist freilich davon auszugehen, dass diese vermeintliche kommunistische Gefahr lediglich konstruiert war, um die geostrategischen und wirtschaftlichen Ambitionen des Deutschen Reiches zu verschleiern, die ohne Zweifel im Mittelpunkt der Bemühungen um Spanien standen. Demnach ist es der deutschen Führung vielmehr darum gegangen, die spanischen und lateinamerikanischen Rohstoffe abzuschöpfen, sich einen Markt zu erschließen und Großbritannien im besten Fall von diesem Handelsplatz fern zu halten. Das Primat der wirtschaftlichen Interessen des Deutschen Reichs an Spanien kam in der Gründung der Rohstoff- und Wareneinkaufsgesellschaft (ROWAK) im Jahr 1936 zum Ausdruck, die als Pendant zu der von Johannes Bernhardt geleiteten HISMA zu sehen ist. HISMA und ROWAK übernahmen im Zusammenspiel das Monopol im auf Kompensationsgeschäften beruhenden Handel zwischen dem Deutschen Reich und den von Franco kontrollierten spanischen Gebieten. Sinn und Zweck von HISMA und ROWAK war es hauptsächlich, möglichst viele Rohstoffe und Lebensmittel von Spanien nach Deutschland zu transferieren. Die HISMA erwarb zudem immer mehr Bergbaurechte in Spanien und konnte damit einen großen Teil der Versorgung des Deutschen Reiches mit wehrwirtschaftlich relevanten Ressourcen gewährleisten. Das iberische Land wurde dadurch aus deutscher Sicht ein immer wichtigerer Rohstofflieferant, der zudem nicht mit raren Devisen bezahlt werden musste. In Anbetracht dessen muss die vorgeschobene kommunistische Gefahr, die von Spanien ausgehen sollte, tatsächlich bloß als unkomplizierte Variante zur Legitimierung des deutschen Eingreifens in Spanien verstanden werden. Faupels Aufgabe als deutscher Geschäftsträger bei Franco sollte es also auch nicht sein, sich in die Belange Spaniens einzumischen. Vielmehr hatte er dafür zu sorgen, dass nach einem Ende des Bürgerkriegs die Außenpolitik des Landes, egal welches politische System in Spanien herrschen

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Zitiert nach: Fröhlich, Elke (Hg.), Die Tagebücher von Joseph Goebbels, Teil 1, Bd. 3, München 2001, S. 302; vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R 61227, Denkschrift „Zur Spanienpolitik“ vom April 1938. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R 61227, Denkschrift „Zur Spanienpolitik“ vom April 1938.

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würde, vom Deutschen Reich beeinflusst wurde – und nicht von Frankreich, Großbritannien oder der Sowjetunion. 6 Das Kulturabkommen steht im Kontext dieser Ereignisse und sollte auf der kulturellen Ebene den Schulterschluss mit Spanien vervollständigen. 7 Bis auf kürzere Passagen, durch die geregelt wurde, dass politische Emigranten aus einem der beiden Partnerländer im jeweils anderen Land nicht publizieren und regimekritische Bücher nicht in den Handel oder in öffentliche Bibliotheken gelangen durften, ist der Kulturvertrag sprachlich sehr neutral gehalten. Das allein ist noch nicht so bemerkenswert, denn diplomatische Texte werden in der Regel unverfänglich formuliert. Vielmehr sind es die Mittel, mit denen die kulturellen Beziehungen zementiert werden sollten, denen einige Aufmerksamkeit geschenkt werden muss. Studentenaustauschprogramme und Stipendien waren ebenso Bestandteil des Kulturabkommens wie der Austausch im Bereich von Film und Theater. Ebenso sollten deutsche bzw. spanische Schulen im jeweils anderen Land entstehen, deren Zeugnisse volle Anerkennung bekommen sollten. Auswärtige Kulturpolitik geht bekanntlich selten ohne weitere Absichten über den Nutzen des kulturellen Engagements für andere Politikfelder vonstatten. Im „Dritten Reich“ war die auswärtige Kulturpolitik eng mit der nationalsozialistischen Kulturpropaganda verbunden. Was unter der Bezeichnung „Studentenaustausch“ sehr harmlos daher kommt, birgt die Idee der ideologischen und kulturellen Einflussnahme auf die künftigen spanischen Eliten in sich und bekommt, gepaart mit dem Ansatz der Kulturpropaganda, einen aggressiven Beigeschmack. Auch der Austausch im filmischen Bereich bekommt eine deutlich politische Konnotation, wenn dabei berücksichtigt wird, dass gerade die Nationalsozialisten den Wert des Films für Propagandazwecke sehr früh erkannt und davon auch intensiv Gebrauch gemacht haben. Eine der wichtigen Stellen, über die diese Kulturaustauscharbeit in Deutschland lief, war das Ibero-Amerikanische Institut in Berlin. Nachdem Wilhelm Faupel 1938 als Direktor an das Institut zurückgekehrt war, wurde dem iberischen Raum, vor allem Spanien, mehr Aufmerksamkeit geschenkt. In der seit etwa 1938 bestehenden Betreuungsabteilung des Instituts kümmerte man sich in zunehmendem Maße auch um spanische Gäste, zu denen nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges besonders die Angehörigen der „Blauen Division“, einer spanischen Freiwilligeneinheit, gehörten. Das deutsch-spanische Kulturabkommen lehnte sich in Grundzügen an den bereits am 23. November 1938 unterzeichneten deutsch-italienischen Kulturvertrag an. Die Vereinbarungen, die das Deutsche Reich und Italien darin getroffen hatten, waren in vielen Belangen umfangreicher. Vor dem Hintergrund der bereits seit Längerem bestehenden intensiven Kontakte zwischen beiden autoritären Staaten dürfte das kaum verwundern. So unterstützte das nationalsozialistische Deutschland Italien nicht nur durch Rohstofflieferungen im Abessinienkrieg 1935, 6 7

Vgl. Bernecker, Walther L., Krieg in Spanien 1936–1939, Darmstadt 1991, S. 50–62. Vgl. Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R 61256, DNB-Meldung zum Abschluss des deutsch-spanischen Kulturabkommens, 19. Januar 1939.

Das deutsch-spanische Kulturabkommen

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sondern vereinbarte mit ihm auch eine intensive deutsch-italienische Zusammenarbeit, für die Mussolini die griffige Bezeichnung „Achse Berlin-Rom“ prägte. Dadurch, dass das deutsch-spanische Abkommen den Vereinbarungen zwischen Deutschland und Italien so ähnlich war, die sozusagen einen Teil des Präludiums für den 1939 geschlossenen „Stahlpakt“ und die Allianz der so genannten „Achsenmächte“ im Zweiten Weltkrieg darstellten, wird erkennbar, welche Tragweite diesem Abkommen – zumindest von deutscher Seite – beigemessen wurde: Aus Italien, Spanien und dem Deutschen Reich sollte wenigstens schon einmal auf kulturpolitischer Ebene eine faschistische Front gebildet werden, durch die die expansionistische Politik Deutschlands und zumindest auch Italiens vorbereitet werden konnten. Allerdings zeigte sich Francisco Franco nicht unbedingt als der treue Verbündete, den sich die deutsche Führung gewünscht hatte, denn trotz der deutschen und italienischen Unterstützung im Bürgerkrieg und des darauf aufbauenden Kulturabkommens gelang es nicht, Spanien stärker in den Kreis der Achsenmächte einzubinden. Die Folgen des verheerenden Bürgerkriegs waren in Spanien noch so deutlich zu spüren, dass eine Kriegsteilnahme des Landes, bis auf die Entsendung der „Blauen Division“, zu riskant erschien. Franco gelang es, bis zu seinem Tode 1975 in Spanien an der Macht zu bleiben, wozu neben der äußerst repressiven Innenpolitik auch die offizielle Neutralität des Landes während des Zweiten Weltkrieges beigetragen hat. Nach dem Krieg war Spanien zunächst außenpolitisch isoliert; aufgrund seiner geostrategischen Lage und bedingt durch den Kalten Krieg gelang es Franco jedoch diese Isolation zu durchbrechen und sein Land enger an die Vereinigten Staaten zu binden. Im Jahre 1954 kam es zu einem erneuten deutsch-spanischen Kulturabkommen, welches nun die Bundesrepublik Deutschland mit dem Franco-Regime schloss und das ebenfalls Studentenaustauschprogramme als ein probates Mittel der interkulturellen Verständigung kannte. Literaturhinweise Abendroth, Hans-Henning, Hitler in der spanischen Arena. Die deutsch-spanischen Beziehungen im Spannungsfeld der europäischen Interessenpolitik vom Ausbruch des Bürgerkrieges bis zum Ausbruch des Weltkrieges 1936–1939, Paderborn 1973. Bernecker, Walther L., Krieg in Spanien 1936–1939, Darmstadt 1991. Schauff, Frank, Der Spanische Bürgerkrieg, Göttingen 2006. Seidel, Carlos Collado, Der Spanische Bürgerkrieg. Geschichte eines europäischen Konflikts, München 2006. Whealey, Robert H., Hitler and Spain. The Nazi Role in the Spanish Civil War 1936–1939, Lexington 1989.

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Quelle Deutsches Nachrichtenbüro (DNB): Meldung zum deutsch-spanischen Kulturabkommen (19. Januar 1939) 8 DNB. Berlin, 19. Jan. In der Einleitung des deutsch-spanischen Kulturabkommens heisst es, dass der Führer und der Chef der Spanischen Nationalregierung in der Überzeugung, dass zur Vertiefung des zwischen beiden Ländern bestehenden freundschaftlichen Verhältnisses ein Ausbau der wechselseitigen geistigen und kulturellen Beziehungen und eine damit verbundene Förderung der gegenseitigen Kenntnis der Kultur und des Geisteslebens beider Völker erstrebenswert ist, beschlossen haben, ein Abkommen über die geistige und kulturelle Zusammenarbeit beider Staaten abzuschließen. Im Artikel 1 erklären sich die vertragschliessenden Teile bereit, der Erhaltung oder Begründung kultureller und wissenschaftlicher Einrichtungen, die sich die Verbreitung und Vervollkommnung der Kenntnis der Kultur jedes der beiden Länder auf dem Gebiet des befreundeten Staates zum Ziele setzen, ihr besonderes Wohlwollen und ihren Schutz angedeihen zu lassen. Um die Gegenseitigkeit mit den in Deutschland dem Studium der spanischen Kultur dienenden Instituten herzustellen, wird die Spanische Regierung auf die Schaffung entsprechender Institute zum Studium der deutschen Kultur in Spanien bedacht sein. Nach Artikel 2 werden die vertragschliessenden Teile Vereinbarungen über die Einrichtung eines Deutschen Hauses in Spanien durch die Deutsche Regierung und über die Errichtung eines Spanienhauses in Deutschland durch die Spanische Regierung treffen. Artikel 3 besagt, dass die vertragschliessenden Teile gemeinsam und nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit die Möglichkeiten einer fiskalischen Bevorzugung untersuchen werden, die den kulturellen Einrichtungen beider Länder zur Förderung ihrer geistigen Aufgabe gewährt werden können. […] Ferner werden die vertragschliessenden Teile – das wird in Artikel 4 des Abkommens vereinbart – das Studium der beiderseitigen Sprachen und Kulturen auch im Rahmen der Universitätseinrichtungen fördern. Nach Artikel 5 wird es das Bestreben der vertragschliessenden Teile sein, zur Förderung des Unterrichts der Sprache des anderen Landes an Universitäten und anderen Hochschulen Lektorate zu unterhalten, während nach Artikel 6 die vertragschliessenden Teile an ihren Universitäten und Hochschulen die Durchführung von Gastvorträgen und Gastvorlesungen für Gelehrte und Wissenschaftler des anderen Landes fördern und darüber hinaus bei gegebener Gelegenheit einen Austausch von Hochschulprofessoren und von Fall zu Fall auch Hochschulassistenten durchführen werden. Artikel 7 vereinbart die Einrichtung eines regelmäßigen Studentenaustausches zwischen dem Deutschen Reich und Spanien. Die Durchführung des Studentenaustausches liegt auf deutscher Seite in den Händen des Deutschen Akademischen Austauschdienstes e.V. und auf spanischer Seite der entsprechenden Abteilung des „Ministerio de Educacion Nacional“. 8

Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, R 61256, DNB-Meldung zum Abschluss des deutsch-spanischen Kulturabkommens, 19. Januar 1939. Das DNB entstand aus Gründen der Gleichschaltung der deutschen Medienlandschaft 1933 aus den beiden älteren Nachrichtenagenturen, der Telegraphen Union (TU) und Wolffs Telegraphischem Bureau (WTB). Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

Das deutsch-spanische Kulturabkommen

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Artikel 8 lautet: „Die Alexander von Humboldt-Stiftung beabsichtigt, spanischen Bewerbern in jedem Jahre einige Stipendien zu gewähren, die nach den üblichen Bedingungen der genannten Stiftung vergeben werden. Spanien wird im Falle der Schaffung einer ähnlichen spanischen Einrichtung nach dem Grundsatz der Gegenseitigkeit gleichfalls deutschen Studenten Stipendien gewähren.[“] Ferner wird [durch] Artikel 9 die Teilnahme von Studierenden an den an Universitäten und Hochschulen des anderen Landes eingerichteten Sommerkursen sowie [durch] Artikel 10 die Annäherung der deutschen und spanischen Jugend unter Wahrung der Gegenseitigkeit durch Schüleraustausch zwischen deutschen und spanischen Schulen und durch Veranstaltung von Studienreisen und Gemeinschaftslagern gefördert werden. Um die Ausbildung der Lehrer und ihre Kenntnisse des anderen Landes zu fördern, wird dem Austausch von Lehrern der deutschen und der spanischen Sprache und Literatur besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Im Artikel 11 des Abkommens verpflichten sich die vertragschliessenden Teile, den auf ihrem Gebiet bestehenden oder zu gründenden Schulen des anderen Landes ihren besonderen Schutz angedeihen zu lassen. Die deutschen Schulen in Spanien sind berechtigt, nach dem deutschen Lehrsystem zu unterrichten. Das an deutschen Schulen in Spanien erworbene Reifezeugnis wird in Spanien als mit dem an entsprechenden deutschen Höheren Schulen in Deutschland erworbenen Reifezeugnis gleichgestellt betrachtet. Artikel 12 lautet: „Die vertragschliessenden Teile werden sich den Unterricht der Sprache des anderen Landes an den Höheren Schulen des eigenen Landes unter möglicher Wahrung der Gegenseitigkeit angelegen sein lassen.“ […] In allen die Verbreitung des Buches betreffenden Fragen (Artikel 13) werden gegenseitig die im Rahmen der geltenden Bestimmungen möglichen Einrichtungen gewährt werden. U.a. denkt man dabei auch an Buchausstellungen. Um die deutschen und spanischen Bibliotheken mit den wissenschaftlich, literarisch und zeitgeschichtlich bedeutendsten Werken des anderen Landes zu versehen, wird ein Austausch der Veröffentlichungen zwischen dem Deutsch-Ausländischen Buchtausch und der Abteilung für Bibliotheken, Archive und Museen am „Ministerio de Educacion Nacional“ durchgeführt werden (Artikel 14). Auch die Übersetzung von geeigneten deutschen Büchern in die spanische und von geeigneten spanischen Büchern in die deutsche Sprache soll gefördert werden (Artikel 15). Für das Erscheinen einer Anzahl von Übersetzungen solcher Werke, die für die Kenntnis des anderen Landes wichtig sind, wird Sorge getragen werden. Die Veröffentlichung von Übersetzungen von Werken politischer Emigranten des anderen Landes werden die vertragschliessenden Parteien im Rahmen der geltenden Bestimmungen verhindern. Werke, die sich unter Verfälschung der geschichtlichen Wahrheit gegen das andere Land, seine Staatsform oder seine führenden Persönlichkeiten richten, werden nach Artikel 16 des Abkommens zum Vertrieb im Buchhandel oder zur Verbreitung durch öffentliche Bibliotheken nicht zugelassen. Unter Wahrung der Gegenseitigkeit sollen ferner kulturelle und wissenschaftliche Ausstellungen, die geeignet sind, das Verständnis für die Kultur des anderen Landes zu vertiefen, veranstaltet und gefördert werden (Artikel 17). Nach Artikel 18 werden die nötigen Vereinbarungen getroffen werden, um einen wirksamen Austausch zwischen den beiden Ländern auf dem Gebiet des Theaters und der Musik sicherzustellen.

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Ferner werden die vertragschliessenden Teile auch auf dem Gebiet des Films und Rundfunks um die Förderung des gegenseitigen Verständnisses bemüht sein (Artikel 19). Sie werden Vereinbarungen treffen, um die Einfuhr von Filmen, insbesondere von Kultur- und Unterrichtsfilmen, des anderen Landes zu erleichtern. Bei der Ausgestaltung der Rundfunkprogramme sollen solche Sendungen gebührend berücksichtigt werden, die geeignet sind, die allgemeine Kenntnis der Kultur des befreundeten Landes zu fördern. Besondere Vereinbarungen sollen das Auftreten von Devisenschwierigkeiten in der Durchführung des Abkommens verhindern (Artikel 20). Nach Artikel 21 wird zur Durchführung dieses Abkommens ein deutsch-spanischer Kulturausschuss gebildet. Dieser Ausschuss soll auch weitere Möglichkeiten des […] Ausbaues der deutsch-spanischen Kulturbeziehungen erörtern und feststellen und sich möglichst einmal im Jahr abwechselnd in Deutschland und Spanien versammeln. Die Schlussbestimmung (Artikel 22) sieht vor, dass das Abkommen ratifiziert werden soll. Die Ratifikationsurkunden werden alsbald in Berlin ausgetauscht werden. Das Abkommen wird 30 Tage nach Austausch der Ratifikationsurkunden in Kraft treten. Es wird ohne zeitliche Begrenzung abgeschlossen und kann durch jeden vertragsschliessenden Teil mit einjähriger Frist gekündigt werden.

DER LONDONER KONGRESS DES INTERNATIONALEN VERBANDES DER SCHRIFTSTELLER PEN (POETS, ESSAYISTS, NOVELISTS) IM SEPTEMBER 1941 1 Helmut Peitsch

Vom 10. bis 13. September 1941 fand in London der XVII. Kongress des Internationalen PEN statt. In London war die Schriftstellerorganisation, die sich für Völkerverständigung, Frieden und die Freiheit der Literatur und Kultur einsetzte, im Jahr 1921 gegründet worden. Zunächst lag der Schwerpunkt der internationalen Schriftstellervereinigung auf Europa – 1925 zählte sie dort 25 nationale Zentren. Danach expandierte sie in die ganze Welt und umfasste im Jahr 1939 sowohl Zentren in Nord- und Südamerika, als auch in Ägypten, Palästina, dem Irak, Indien, Japan und Neuseeland. Ursprünglich hatte der XVII. Kongress vom 3. bis 7. September 1939 in Stockholm stattfinden sollen, wohin die meisten Delegierten angereist waren. Er war dann aber wegen des Kriegsausbruchs abgesagt worden. Als deutsche Redner waren damals Thomas Mann und Gerhart Hauptmann vorgesehen gewesen. Thomas Mann lebte bereits im Exil, Hauptmann dagegen war im nationalsozialistischen Deutschland geblieben, wo das nationale PEN-Zentrum nach dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund ein Bekenntnis zu Hitler abgelegt, am 8. November 1933 den Austritt aus dem Internationalen PEN erklärt, und sich in Union Nationaler Schriftsteller umbenannt hatte. Die daraufhin vom Internationalen PEN-Club, insbesondere seinem Generalsekretär Hermon Ould zusammen mit Rudolf Olden initiierte German Group von Autoren, die aus unterschiedlichen Gründen Deutschland verlassen hatten 2, hatte 1939 über achtzig Mitglieder. Präsident war Heinrich Mann, Generalsekretär der im Londoner Exil lebende Rudolf Olden. Zusammen mit den Mitgründern Lion Feuchtwanger, Max HerrmannNeiße und Ernst Toller erhoben sie den Anspruch, die freie deutsche Literatur zu repräsentieren und die Redner für die internationalen Kongresse auszuwählen. Die kurzfristige Einberufung des XVII. Kongresses durch den Internationalen PEN in das London des Bombenkriegs für September 1941 hatte innerorganisatorische Gründe, die allerdings mit der Ausweitung des Kriegs in diesem „welthisto-

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Essay zur Quelle: Erika Mann: „Die Zukunft Deutschlands“ (1941). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Berthold, Werner; Eckert, Brita, Der deutsche PEN-Club im Exil 1933–1948. Eine Ausstellung der Deutschen Bibliothek, Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1980, S. 37.

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rischsten Jahr“ 3 zusammenhingen. Sie erfolgte vor dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion (22. Juni), dem britisch-sowjetischen Bündnis (12. Juli), dem US-amerikanischen Angebot der Lieferung von Kriegsmaterial (30. Juli) und der britisch-US-amerikanischen Verabschiedung der Atlantik-Charta (14. August). Auf diese Ereignisse – im Unterschied zu späteren im selben Jahr wie dem sowjetischen Abkommen mit der polnischen Exilregierung (4. Dezember) und dem auf Pearl Harbour (7. Dezember) folgenden Kriegseintritt der USA – bezogen sich im September einzelne Redner des Londoner Kongresses, aber alle nahmen, wie der Generalsekretär des Internationalen PEN in seiner Publikation einer Auswahl der Beiträge betonte, 4 Stellung zu der Frage, welche Alternative der drohenden Verwirklichung der deutsch-italienisch-japanischen ‚Neuordnung‘ der Welt entgegenzusetzen sei. Indem sie über Europa und die Welt nach dem Krieg diskutierten, brachten sie unterschiedliche Auffassungen über die Rolle der Literatur und des Autors zum Ausdruck. Mit der Einberufung des Kongresses für September 1941 im Mai desselben Jahres reagierte der Internationale PEN-Club auf die Gründung eines European PEN in America am 15. Mai 1941 in New York. Diese war vom Dramatiker Ferdinand Bruckner angestoßen worden, der dafür die Unterstützung des nach New York übergesiedelten Präsidenten des Internationalen PEN Jules Romains gewonnen hatte. Bruckner war Vizepräsident der 1940 gegründeten German-American Writers Association (GAWA), in die sich der Pariser Schutzverband Deutscher Schriftsteller (SDS) in New York transformiert hatte und die korporatives Mitglied des US-PEN geworden war.5 Die GAWA zählte damals 183 Mitglieder, von denen die meisten in New York lebten. Bruckner stellte sich mit seiner Sammlungspolitik gegen die von Rudolf Oldens vertretene Abgrenzungspolitik gegenüber dem SDS, die der kommunistisch dominierten Bündnisorganisation Internationale Schriftstellervereinigung zur Verteidigung der Kultur (ISVK) angehörte. Olden hatte vor seinem Tod auf der Überfahrt nach New York das dortige deutsche literarische Exil als „a stronghold of communists and ,keep out‘ defeatists“6 eingeschätzt. Der Generalsekretär des Internationalen PEN-Club Hermon Ould protestierte in seinem Schreiben vom 20. Mai 1941 an Jules Romains nicht nur gegen die New Yorker Neugründung, sondern kündigte auch – wenngleich nicht offen – die Reaktivierung der Deutschen Gruppe an, deren Tätigkeit mit dem Tod des Generalsekretärs erloschen war. Er unterstellte, dass diese bereits erfolgt sei, um die Legitimität der von Romains und Bruckner etablierten Konkurrenzorganisation zu bestreiten:

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Berghahn, Volker, August 1941. The Atlantic Charter and the Future of Europe, in: Themenportal Europäische Geschichte (2008), URL: (12.06.2017). Ould, Hermon (Hg.), Writers in Freedom. A Symposium. Based on the XVII International Congress of the P.E.N. Club Held in London in September, 1941. London u.a. 1941, S. 150. Berendsohn, Walter A., Die humanistische Front. Einführung in die deutsche EmigrantenLiteratur. Erster Teil: Von 1933 bis zum Kriegsausbruch 1939, Zürich 1946, S. 181. Berthold, Werner et al., So viele Bücher, so viele Verbote. Reden zur Eröffnung der Ausstellung „Der deutsche PEN-Club im Exil 1933–1948“, Frankfurt am Main 1981, S. 55.

Der Londoner Kongress

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„If there must be a ,European P.E.N.‘ so-called (and we do not, as a matter of fact, see any reason for this new classification), so its seat must be in England, which remains free and is, after all, Europe.“ 7

Ould wies nicht nur einen US-amerikanischen Führungsanspruch zurück, sondern meldete zugleich – im Namen des Internationalen Exekutivkomitees mit Sitz in London – den eigenen Anspruch an: England sollte das freie literarische Europa repräsentieren. Kategorisch ausgeschlossen wurde die Repräsentation der deutschen Literatur (und der Literaturen der von den Nazis eroberten Länder) durch Zentren außerhalb Londons. Die Bezeichnung „German Group“ sollte durch „German (anti-Nazi) Group“ ersetzt werden. Zur ersten Mitgliederversammlung der als ‚anti-Nazi‘ reaktivierten German Group kam es erst am 4. September 1942. Der vom Internationalen PEN anstelle von Heinrich Mann eingesetzte Präsident Alfred Kerr schrieb dazu einem Mitglied: „Es galt für uns nur ein festeres Angliedern des winzigen deutschen Beiwägelchens an die Mutterkutsche.“8 In bezeichnend diplomatischer Form – als scheinbares Zitat aus einer US-amerikanischen Zeitschrift – dokumentierte zur selben Zeit eine Meldung in der in Moskau erscheinenden, der ISVK verbundenen Internationalen Literatur, dass die kommunistischen Literaturpolitiker die alleinige Legitimität des Londoner PEN anerkannten: „Wie die amerikanische Zeitschrift ,Saturday Review of Literature‘ mitteilte, ist die Haupttätigkeit des Pen-Klubs jetzt in London konzentriert.“9 Während Oulds Protestbrief vom Mai 1941 bereits sieben der zehn in London vertretenen Zentren für besetzte oder mit Nazi-Deutschland verbündete Länder nannte, deren Repräsentanten auf dem Kongress im September sprechen würden (hinzu kamen Spanien, Frankreich und Ungarn), schwieg er über die außereuropäischen Vertretungen aus Indien, China, Kanada und Palästina. Ebenso verfuhr er mit Autoren, die Romains als Internationalen Präsidenten absetzen wollten, gegen dessen „political perambulations“ die Präsidentin des englischen Zentrums, Margaret Storm Jameson, in einer Luncheon-Rede vor Vertretern von zwanzig Zentren am 15. Juli 1941 bekräftigt hatte: „Here we are and here we intend to remain, Europe in England and England in Europe.“ 10 Viele der Redner waren mit in London tätigen Exilregierungen verbunden, so André Labarthe als Herausgeber von La France Libre oder Tymon Terlecki als Herausgeber von 3ROVND :DOF]ąFD, dem offiziellen Organ der Polish Armed Forces in the West. Andere Redner waren in London in politischen Organisationen tätig. So auch Robert Neumann 11, dessen Rede „When a Writer Goes into Politics“ 12 Romains’ Sturz begründete, und der als Organisator – in Zusammenar7 8 9

Archiv der Akademie der Künste Berlin (AdK), Bestand Bruckner, 764. Brief von Alfred Kerr an Kurt Hiller vom 02.05.1942, AdK, Bestand Kerr, H br D h pe. Roha (d.i. Heinz Willmann), Die Arbeit des Pen-Klubs, in: Internationale Literatur 12 (1942), H. 5/6, S. 127. 10 Stadler, Franz (Hg.), Robert Neumann. Mit eigener Feder. Aufsätze. Briefe. Nachlassmaterialien, Innsbruck u.a. 2013, S. 162. 11 Wagener, Hans, Robert Neumann. Biographie, München 2007, S. 91, 94. 12 Ould, Writers, S. 99–103.

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beit mit dem Foreign Office – des Free Austrian Movement fungierte. Für britische zivile oder militärische Dienststellen arbeiteten Arthur Koestler, der – als Ungar eingeführt – in der Uniform des Pioneer Corps auftrat 13, für das Ministry of Information (seit 1939) Peter de Mendelssohn14 und für die BBC der Inder Mulk Raj Anand ebenso wie Erika Mann. In seinem Nachwort zu der als Buch veröffentlichten Dokumentation des Kongresses hob Ould diese Mitwirkung an dem britischen „war effort“ 15 und den Wechsel zum Englischen hervor; mit Koestler, Mendelssohn und Neumann nannte er die erfolgreichsten unter den nach Großbritannien Geflohenen, die englisch zu schreiben begonnen hatten. Ould erwähnte auch die Meinungsverschiedenheiten auf dem Kongress am Beispiel der deutschsprachigen Delegierten, die „apparently irreconcilable“ wie „fundamentally opposed opinions“ 16 über die Umerziehung der Deutschen nach dem Krieg von Alfred Kerr, Erika Mann und Robert Neumann auf der einen, Wilhelm Wolfgang Schütz, dem London-Korrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung auf der anderen Seite. Erika Mann erklärte die Schriftsteller zwar nicht für zuständig für „die nach dem Krieg auf uns zukommenden großen politischen und wirtschaftlichen Probleme“, aber für „das Problem der Erziehung in Europa und vor allem der Umerziehung in Deutschland“17: „unsere Aufgabe“ als Schriftsteller sei es, „die Deutschen“ „von […] Wünschen“, „einen weiteren Krieg vorzubereiten“, zu „befreien“. Der Literatur stellte sie die Aufgabe der Umerziehung durch „Bücher“, die „die deutsche Erziehung völlig neu [...] gestalten“, denn „schon seit Generationen sind sie in hohem Maße falsch erzogen worden; ihr Verstand ist vergiftet, sie sind geistig krank.“ Aber die Deutschen seien nicht „unheilbar“. Der exilierte tschechoslowakische Präsident Eduard Benes hatte in seiner Grußbotschaft an den Kongress die Erwartung geäußert, dass die Literatur und die Welt nach dem Krieg das wichtigste Thema des Kongresses seien, und betont, „that literature […] must play an influential part in the reconstruction of the world after the war, that ‚The Writers‘ Part in Social Reconstruction‘ […] must be a great and responsible one.“ 18

Heftig umstritten war die Äußerung des tschechoslowakischen Vertreters Frantisek Langer, dass der Internationale PEN-Clubs seit dem Kongress von 1933 in Ragusa/Dubrovnik eine offene politische und antifaschistische Haltung eingenommen habe. 19 Als Zeitverschwendung lehnte E. M. Forster jedes Reden über 13 Cesarani, David, Arthur Koestler. The Homeless Mind, London 1998, S. 181. 14 Pross, Harry, Mendelssohn, Peter de, in: Neue Deutsche Biographie 17 (1994), S. 63–65, hier S. 64. 15 Ould, Writers, S. 11. 16 Ebd., S. 150. 17 Mann, Erika, Die Zukunft Deutschlands, in: dies., Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen. Herausgegeben von Irmela von der Lühe, Uwe Naumann, Reinbek 2000, S. 229–233, hier S. 230. Im Folgenden stammen alle Quellenzitate, soweit nicht anders vermerkt, aus der hier abgedruckten Quelle. 18 Ould, Writers, S. 5. 19 Ebd., S. 35.

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eine Neuordnung ab, weil Ordnung nur mystisch in Gott und in der ‚inneren Harmonie‘ 20 des Kunstwerks zu erfahren sei. Als außerhalb des Zuständigkeitsbereichs des Schriftstellers wies J. B. Priestley die Aufgabe zurück, die Storm Jameson den britischen Autoren in der Selbsterneuerung der westlichen Kultur nach dem Krieg stellte, nämlich die Engländer von ihrer Verantwortung gegenüber Europa zu überzeugen 21; für solche Ratschläge oder gar Führungsaufgaben seien Schriftsteller nicht zuständig. 22 Als Vernachlässigung dessen, was ein Schriftsteller sei 23, konterte Rebecca West Koestlers Kritik am Elfenbeinturm; sie verteidigte deshalb Jules Romains, gegen den Neumann eine ‚Hexenjagd‘ eröffnet habe. 24 Der exilierte spanische Autor Salvador de Madariaga erinnerte im Anschluss an Koestlers Kritik an E. M. Forsters Verteidigung der ‚Kunst um der Kunst willen‘, dass man als Autor immer in einem Elfenbeinturm arbeite, aber nicht in diesem lebe. 25 Als überzeugter Atlantiker äußerte er die Meinung, dass Europa nach dem Weltkrieg entweder von Großbritannien und den USA neu geschaffen werde oder in einem weiteren Krieg versinke. 26 Gegen Erika Manns Vorstellung, dass die Umerziehung der Deutschen nach der nationalsozialistischen Herrschaft und dem von Deutschland ausgegangenen Krieg durch das Ausland getragen werden müsse, betonte Madariaga in Überstimmung mit Wilhelm Wolfgang Schütz, dass die europäische Tradition einer gemeinsamen Kultur in Deutschland immer noch existiere 27, weil der Geist das einzige Reich des Lebens sei, an dem die Macht des Nazi-Systems ende. 28 Diese sehr starken positiven Elemente Europas 29 setzte Madariaga von negativen ab. Dem norwegischen Vertreter Wilhelm Keilhau warf er vor, dass dieser mit seiner Aussage, „making ‚Europe‘ a political unit is to-day a main programme of the Nazis“, Europa bedeute die fünfte Weltmacht mit Deutschland als ihrem zentralen Imperium, die europäische Idee verrate. 30 Daraus leitete Keilhau den Vorschlag ab, überhaupt die Vorstellung von Europa als unrealistisch und sogar gefährlich aufzugeben 31 und stattdessen als wahre Weltbürger an das Friedensproblem heranzugehen. 32 Seine Auffassung einer neuen Achse Washington-London-Moskau-Tschungking als Grundlage des Umbaus der Welt33 nach dem Krieg stieß indes auf den Widerspruch derjenigen, die in ihren Redebeiträgen Kosmopolitismus und Internationalismus als billig oder oberflächlich be-

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Ebd., S. 74f. Ebd., S. 16. Ebd., S. 19. Ebd., S. 20. Ebd., S. 23. Ebd., S. 28. Ebd., S. 33. Ebd., S. 86. Ebd., S. 89. Ebd., S. 32/33. Ebd., S. 111. Ebd., S. 104. Ebd., S. 112. Ebd.

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zeichneten. 34 Der französische Vertreter Labarthe betont in Übereinstimmung mit anderen Rednern, dass das Ende von Hitlers imperialistischem Traum nicht die Wiedergeburt eines destruktiven Nationalismus bedeuten müsse; denn Nationalismus behindere an und für sich die Befriedung Europas nicht. Labarthe erteilte zugleich der Vorstellung einer auf dem gemeinsamen Leiden der Völker und Menschen aufbauenden europäischen Einheit eine Absage, indem er zwischen ‚Opfer-‘ und ‚Täter-Ländern‘ unterschied: Rekonstruktionspläne für Europa müssten den Gefühlen der Opfer-Länder entsprechen, wenn gelten solle, dass man nie wieder eine solche Katastrophe über die Welt hereinbrechen lassen dürfe. 35 Eine andere Grenze zog der katalonische Vertreter J. M. Batista i Roca, als er Nationalismus und Internationalismus für keineswegs unvereinbar erklärte: Er unterschied zwei Ideologien, nämlich den ‚freien Geist‘, für den Europa eine kulturelle und spirituelle Einheit bilde, und die ‚totalitäre Neuordnung‘, die die kulturellgeistigen Verbindungen zerbreche. Um jedes Land als eine Facette eines Edelsteins zu begreifen, forderte Roca, dass das neue Konzept von Nationalismus die Vaterlandsliebe um das Interesse an allen anderen Ländern ergänzen müsse. 36 Das Bild von der Literatur als Brücke wurde nur vereinzelt angesprochen. Der zum englischen Schriftsteller gewordene Peter de Mendelssohn hielt die Bücher der aus Deutschland geflohenen Autoren, die nach dem Krieg nach Deutschland zurückkehren wollten, für genauso notwendig und unersetzlich, wie die Bücher der Autoren, die nicht mehr dahin gehen wollten; jedes Buch werde auf seine Weise eine Niete in der großen Brücke sein, die errichtet werden müsse, um die Kontinente und ihre Völker wieder zu verbinden. 37 Was für Literatur in Maidanek geschrieben werde, fragte hingegen der britische Autor jüdischer Herkunft Joseph Leftwich 38, und der polnische Vertreter Tymon Terlecki wies in seinem Überblick über deutsche Unterdrückung in Polen als Teil eines Kriegs um Weltherrschaft auf Schriftsteller in Auschwitz hin.39 Leftwich brachte eine Resolution zur jüdischen nationalen Heimstatt in Palästina ein, zu deren Begründung der Vertreter des PEN-Zentrums in Palästina an eine Tradition appellierte, die zuvor nur der tschechoslowakische Delegierte Josef Kodicek gegen den Elfenbeinturm, den ‚extremen Formalismus moderner Kunst‘ und den Abgrund zwischen Schriftsteller und Volk 40 ins Spiel gebracht hatte: Die Welt und ihre Literatur bräuchten mehr von dem Geist Zolas. 41 Zeitlich parallel zur Reaktion des Internationalen PEN-Clubs auf die Initiative zu einem Europäischen PEN in Amerika waren die Vorbereitungen zu einer nationalsozialistischen Gegenorganisation in dem von Deutschland beherrschten Europa gelaufen. Keine vierzehn Tage vor dem Überfall auf die Sowjetunion, am 11. Juni 34 35 36 37 38 39 40 41

Ebd., S. 123. Ebd., S. 41f. Ebd., S. 120–122. Ebd., S. 98. Ebd., S. 139. Ebd., S. 148/149. Ebd., S. 71. Ebd., S. 143.

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1941, schrieb der Geschäftsführer der Reichskulturkammer im Auftrag von Minister Goebbels an eine Reihe von Experten über den Plan, „möglichst bald eine Gegenbewegung bzw. eine Vereinigung gegen den PEN-Club einzuleiten und einzurichten, d.h. zunächst auf europäischer Basis“. 42 Im Oktober 1941 gründete das Propagandaministerium die Europäische Schriftsteller-Vereinigung (ESV), zu deren erster Jahrestagung in Weimar Goebbels für seine Rede notierte: „Der PENKlub wird von mir als ‚Penn‘-Klub gekennzeichnet, der nicht mehr das Recht habe, im Namen des intellektuellen Europa zu sprechen.“ 43 Unter Beteiligung von ausländischen Autoren wie Robert Brasillach, Marcel Jouhandeau, John Knittel und Drieu la Rochelle wurde Hans Carossa zum Präsidenten gewählt, der sich in seinem „Lebensbericht“ 1951 auf die „Geistesgegenwart“ seiner Erklärung bei der Annahme des Vorsitzes berief: „In Ihnen allen, meine Herren, lebt sicherlich so fest wie in mir selber der Glaube, daß eine Erneuerung des Abendlandes nur vom Geist und von der Seele her erfolgen kann.“ 44

Welchen europäischen Geist Carossa repräsentieren sollte, hatte im Pressedienst Das neue Europa eine polemische Glosse zum Londoner PEN-Kongress deutlich gemacht, die in Vorbereitung des Europäischen Dichtertreffens in Weimar erschienen war. Unter dem Titel „Pen-Klub ohne Auditorium“ hieß es dort, namentlich gegen Kerr und Erika Mann gewendet: „Die Emigranten müßten sich englisch oder hebräisch unterhalten [...], sie seien blind für eine Erneuerung der Kultur aus arischem Geist, doch zum Glück sei man sie in Deutschland für immer los.“ 45

Die Kontroversen des PEN-Kongresses von 1941 über Europa und die Rolle der Literatur fanden nach dem Sieg der Alliierten und unter den Bedingungen des bald darauf beginnenden Kalten Krieges ihre Fortsetzung in einer Serie von internationalen Konferenzen von Intellektuellen. 1946 unternahm Georg Lukács bei dem ersten Europäischen Gespräch in Genf den Versuch, das Bündnis von 1941 als eines von Demokratie und Sozialismus wiederherzustellen. 46 Das scheiterte mit dem Ausschluss Russlands aus der abendländischen Kultur, den Max Frisch aufgrund der Diskussionen des Weltkongresses der Intellektuellen für den Frieden 1948 in Wroclaw konstatierte 47, oder mit der Erhebung Europas zur Schutzmacht

42 Hausmann, Frank-Rutger, „Dichte, Dichter, tage nicht!“ Die Europäische Schriftstellervereinigung in Weimar 1941–1948, Frankfurt am Main 2004, S. 29. 43 Ebd., S. 52. 44 Carossa, Hans, Ungleiche Welten. Lebensbericht, Frankfurt am Main 1978, S. 109. 45 Hier referiert nach Hausmann, Dichter, S. 52. 46 Lukács, Georg, Aristokratische und demokratische Weltanschauung, in: Benseler, Frank (Hg.), Georg Lukács: Revolutionäres Denken, Darmstadt, Neuwied 1984, S. 197–223, hier S. 219. 47 Frisch, Max, Tagebuch 1946–1949, Frankfurt am Main 1950, S. 299–301.

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nationaler Kulturen gegen die USA und die Sowjetunion, die Jean-Paul Sartre 1949 begründete. 48

Literaturhinweise Abbey, William, ,Die Illusion genannt Deutscher PEN-Club‘. The PEN-German Group and the English Centre, 1933–45, in: ders. et. al. (Hgg.), Between Two Languages. German-Speaking Exiles in Great Britain 1933–45, Stuttgart 1995, S. 135–153. Feigel, Lara, Writing the Foundations of a Better World. The Role of Anglo-German Literary Exchange in the Reconstruction of Germany and the Construction of Europe, 1945–1949, in: Bru, Sascha (Hg.), Europa! Europa? The Avant-garde, Modernism and the Fate of a Continent, Berlin 2009, S. 229–243. Lühe, Irmela von der, Erika Mann. Eine Biographie, Frankfurt am Main u.a. 1994. Peitsch, Helmut, „No Politics“? Die Geschichte des deutschen PEN-Zentrums in London 1933–2002, Göttingen 2006. Wilford, R. A., The PEN Club, 1930–50, in: Journal of Contemporary History 14 (1979), H. 1, S. 99–116.

Quelle Erika Mann: Die Zukunft Deutschlands (1941) 49 Rede auf dem Internationalen PEN-Kongreß Es ist mir eine Ehre und wirklich eine große Freude, bei Ihnen zu sein. Nichts könnte angenehmer, ermutigender und bedeutender sein als dieses Zusammentreffen freier Geister in der Hauptstadt der Welt – ein Treffen von geistig tätigen Menschen, die alle für die Demokratie kämpfen. Ich werde dieses Bild vom XVII. Internationalen P.E.N.Kongreß mit mir nach Amerika nehmen, und wann immer die Krakeelerei von Mr. Lindbergh und Mr. Wheeler mich während meiner nächsten Vortragsreise stören und behaupten, daß Hitler schließlich den Kontinent geeint habe und daß Deutschland Europa sei, werde ich an Sie denken und sagen: «Wie kann Deutschland behaupten, Europa zu sein, wenn ich mit eigenen Augen gesehen habe, daß Europa in London ist?» Im Anschluß an meine Vorträge und nach den Publikumsfragen warten immer ein paar Botenjungen hinter der Bühne auf mich und geben mir ein paar Briefe. Auf diesen Briefen steht meist «Persönlich», «Dringend» oder «Wichtig»; einer mag mit «Ein wahrer Amerikaner» unterschrieben sein, ein anderer mit «Eine amerikanische Mutter», ein dritter mit «Ein christlicher Amerikaner» und ein vierter einfach mit «Heil Hitler! ».Sie alle pflegen in schrecklichem Englisch geschrieben zu sein, das deutlich ihre Naziherkunft verrät, und sie versichern mir, daß die Geduld des Absenders erschöpft sei, 48 Sartre, Jean-Paul, Verteidigung der französischen Kultur durch die europäische Kultur. Vortrag am Centre d’Études de Politique étrangère vom 24. April 1949, in: ders., Schwarze und weiße Literatur. Aufsätze zur Literatur 1946–1960, Reinbek 1984, S. 92–111.

49 Mann, Erika, Die Zukunft Deutschlands, in: dies., Blitze überm Ozean. Aufsätze, Reden, Reportagen. Herausgegeben von Irmela von der Lühe, Uwe Naumann, Reinbek 2000, S. 229–233. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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was mich anbetrifft, und daß bald ein gewaltsamer Tod meine kriminellen, verräterischen und kriegstreiberischen Aktivitäten beenden werde. Sie alle werden per Boten zugestellt, weil das moderne Gesetz verbietet, Menschenleben bedrohende Nachrichten mit der Post zu schicken. Nur, damit kann ich leben, weil ich entschlossen bin, niemals die Geduld zu verlieren, sondern mit meiner Aufklärungsarbeit weiter zumachen [sic] und gleichzeitig meine eigene Bildung langsam, aber sicher zu verbessern. Geduld, heißt es, kommt vom Himmel, und solange sie mit einer kämpferischen Tätigkeit einhergeht, stimme ich aus ganzem Herzen zu. Denn kämpferische Tätigkeit ist notwendig, und sie ist jetzt notwendig, im Erziehungsbereich mehr als anderswo, glaube ich, denn während die nach dem Krieg auf uns zukommenden großen politischen und wirtschaftlichen Probleme von den Berufspolitikern gelöst werden müssen und vor dem Ende des Krieges nicht in allen Details und offen erörtert werden können, ist das Problem der Erziehung in Europa und vor allem der Umerziehung in Deutschland unsere Angelegenheit, und je eher wir uns damit befassen, desto besser ist es. Fast neun Jahre lang sind die Deutschen erzogen – in einem fast unglaublichen Grad falsch erzogen – worden, und schon seit Generationen sind sie in hohem Maße falsch erzogen worden; ihr Verstand ist vergiftet, sie sind geistig krank. Bedeutet dies, daß sie unheilbar sind? Wenn sie es wären, hätten wir allen Grund zu verzweifeln, denn weder eine einseitige Entwaffnung noch die allgemeine wirtschaftliche Sicherheit, wie sie in der Atlantik-Charta vorgesehen ist, würde die Deutschen daran hindern, im geheimen einen weiteren Krieg vorzubereiten, wenn sie es wollten. Wir müssen sie von solchen Wünschen befreien. Das wird unsere Aufgabe sein; es wird eine harte Aufgabe sein, äußerst schrecklich und oft ziemlich gefährlich, das gebe ich zu, aber einen weiteren Krieg in zwanzig Jahren durchzustehen, wäre unendlich härter, unangenehmer, gefährlicher. Die militärische Abrüstung Deutschlands muß mit der moralischen Aufrüstung verbunden werden. Der Begriff «moralische Aufrüstung» wird von einer ziemlich zwielichtigen Organisation benutzt und mißbraucht, aber er bleibt trotzdem ein guter Begriff. Beim Versuch, Deutschland moralisch aufzurüsten haben wir es mit drei Generationen zu tun: mit den Erwachsenen, den Älteren, die sich noch an die Zeit vor den Nazis erinnern und nie ganz von Hitler unterjocht wurden; mit den Jüngeren, die von ihm besessen sind und nichts als den Nazismus kennen; und mit den Kindern, deren Geist immer noch formbar genug ist, um für neue Einflüsse offen zu sein. Ich glaube nicht, daß es schwierig sein wird, die deutschen Kinder umzuerziehen, und ich spreche da aus eigener Erfahrung. Immerhin war unsere eigene Erziehung während des letzten Krieges auch nicht allzu gut; sie war fast so schlecht, wenn auch nicht so durchdringend und totalitär wie die NaziErziehung. Wir hörten nichts anderes, als daß Deutschland wirklich das einzige annehmbare Land sei, daß alle anderen degeneriert, dumm und kriminell seien und daß wir den Krieg zweifellos gewinnen würden; wir waren unbesiegbar und unser Kaiser ein gottähnlicher Übermensch. Als wir 1918 ziemlich plötzlich den Krieg verloren und uns gesagt wurde, daß der Kaiser nicht gottähnlich, sondern in Holland war, war das natürlich ein ziemlicher Schock. Ich war damals zwölf Jahre alt, und es schockierte auch mich, aber nach sehr kurzer Zeit freute ich mich, daß ein neues Leben begonnen hatte, daß die Dinge, die man uns gesagt hatte, offensichtlich falsch gewesen waren, und daß wir nicht länger an sie denken sollten. Wir waren offen und bereit für etwas Neues; wenn diese militärischen Lehrer nicht noch immer am Ruder gewesen wären, hätten wir uns trotz Karl dem Großen, Friedrich dem Großen, Bismarck und dem Kaiser noch gut entwickeln können.

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Diesmal wird es unsere Aufgabe sein, nicht nur die große industrielle Produktion Deutschlands, die politische Maschinerie Deutschlands, sondern vor allem die Erziehung in Deutschland zu überwachen. Das Prinzip der Nichteinmischung, das sich als ein derartig entsetzlicher Mißerfolg in der Politik erwiesen hat, ist ebenso töricht und gefährlich auf kulturellem und erzieherischem Gebiet. Wir ·werden die Deutschen erziehen müssen – darüber kann es keinen Zweifel geben. Bücher müssen jetzt schon zum Gebrauch in allen europäischen Schulen vorbereitet werden; niemals wieder dürfen die Deutschen ihre Geschichte, Geographie, Rassenpsychologie lehren; wir müssen uns mit diesen neuen Büchern befassen, Pläne um die Verteilung von Millionen englischer Bücher an diese Institutionen müssen ausgearbeitet werden, wir müssen uns darauf vorbereiten, deutsche Erziehung aus dem Fenster zu werfen, die deutsche Erziehung völlig neu zu gestalten. Die ältere Generation wird nicht allzuviel gegen solch eine Veränderung haben; ich kann mir vorstellen, daß viele ältere Deutsche dabei mithelfen. Die Jüngeren – diejenigen, die zwischen neun und vierzehn Jahre alt waren, als Hitler an die Macht kam – werden unser größtes Problem darstellen. Viele von ihnen sind schon gestorben, viele werden noch sterben müssen, bevor dieser Krieg gewonnen wird, aber mit den Überlebenden dieser Generation wird es Schwierigkeiten geben. Wir werden ihnen für einige Zeit nicht trauen können, wir werden sie überwachen müssen, während wir versuchen, sie umzuerziehen. Es wäre eine große Hilfe für sie, wenn man ordentliche Arbeit im Ausland für sie finden könnte, um ihnen so eine Chance zu geben, sich die Welt anzusehen. Wie wird sie aussehen, unsere Welt? Das hängt weitgehend von uns ab. Wir werden sehr geduldig und sehr fleißig sein müssen. Einer Sache können wir wohl relativ sicher sein: das besiegte, das vollkommen besiegte Deutschland muß und wird leiden. Die Niederlage wird die Deutschen wie ein gewaltiger Schock treffen, und wenn wir sie so ansehen, wie wir es sollten, als ein Volk nämlich, das geisteskrank ist, wird uns die Erinnerung helfen, daß Schocks erfolgreich gegen alle möglichen Formen von Geisteskrankheit eingesetzt werden. Der Schock der Invasion hat schon manchen Patienten wieder zu Verstand gebraucht, und ich glaube, die Einschätzung ist nicht zu optimistisch, daß der Schock der Niederlage eine ähnliche Wirkung auf die Deutschen haben wird. Das Gift des Nazismus wird ihnen zumindest teilweise ausgetrieben werden. Es wird an uns sein, die Köpfe und Herzen der Deutschen mit neuen Ideen, neuen Hoffnungen und einem besseren Glauben zu füllen.

GEISTIGES EIGENTUM IM SPANNUNGSFELD VON INDIVIDUALISIERUNG, NATIONALISIERUNG UND INTERNATIONALISIERUNG. DER WEG ZUR BERNER ÜBEREINKUNFT VON 18861 Hannes Siegrist

Stichworte wie „Medienrevolution“, „Leserevolution“ und „Verwissenschaftlichung“ verweisen auf den tiefgreifenden gesellschaftlichen und kulturellen Wandel im 19. Jahrhundert. Seit dem späten 18. Jahrhundert stieg die Produktion, Reproduktion und Nutzung von Texten, Bildern und Tonwerken auf immer neue Höhen. Den Zeitgenossen stellte sich angesichts der massiven Veränderungen und Potentiale die Frage, wer über „Kultur“ und „Wissen“ verfügen sollte. Vor diesem Hintergrund frage ich im Folgenden nach der Individualisierung, Nationalisierung und Internationalisierung der Verfügungs- und Handlungsrechte von Autoren, Verlegern, Publikum und Staaten über „geistige Werke“. Der Beitrag skizziert die Entwicklung des „literarischen und künstlerischen Eigentumsrechts“ (bzw. der „Urheberrechte“, „Autorenrechte“ und des „Copyrights“) im 18. und 19. Jahrhundert, die mit der „Berner Übereinkunft“ zur Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst 1886 einen vorläufigen Höhepunkt erreichte. Der Begriff des geistigen Eigentums profilierte und etablierte sich zwischen 1750 und 1850 in den Staaten Europas, Nord- und Südamerikas und verbreitete sich im späten 19. und 20. Jahrhundert weltweit. 2 Die moderne Institution des geistigen Eigentums wurde in liberalen Gesellschaften und weltlich geprägten Kulturen entwickelt. Sie sollte in Systemen mit wirtschaftlichem, kulturellem und sozialem Wettbewerb die Handlungsrechte von Autoren, Verlagen, Bühnen, Publikum, Öffentlichkeit und Staat garantieren und die Kooperationsbeziehungen in der Produktion, Distribution und Rezeption von Kultur und Wissen in typisierter Form regeln. Die Gesetzgeber erhofften sich von der individualistischen und eigentumsförmigen Institutionalisierung von Kultur und Wissen Anreize für kreatives wissenschaftliches und künstlerisches Schaffen und Impulse für den kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritt. Die auf dem Privatrecht aufbauende bürgerliche Gesellschaft unterstellte auch die Kultur dem Leitwert des 1

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Essay zu den Quellen: Botschaft des Schweizerischen Bundesrates / Die Berner Übereinkunft (1886). Essay und Quellen sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Die Geschichte des geistigen Eigentums umfasst verschiedene, je nach Ort und Zeit mehr oder weniger verbundene Entwicklungsstränge. Ich konzentriere mich hier auf die Geschichte des literarischen und künstlerischen Eigentums und lasse die Geschichte des Erfinder- und Patentrechts sowie die Geschichte des Warenzeichenrechts beiseite.

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possessiven Individualismus und förderte damit die Kommerzialisierung von Kultur und Wissen. Die Rechte der Schöpfung, Bearbeitung, Umformung, Bezeichnung, Verbreitung, Veröffentlichung, Verwertung und Nutzung eines „individuellen geistigen Werks“ wurden zu einem umfassenden Bündel exklusiver und individueller Verfügungs- und Ausschlussrechte zusammengefasst. In der Umgangssprache und vielfach auch im Recht bezeichnete man dieses – je nach Ort und Zeit mehr oder weniger umfassende – Bündel individueller oder persönlicher Rechte als „geistiges Eigentum“, „literarisches und künstlerisches Eigentum“, „intellektuelles Eigentum“, „Autorenrechte“, „Urheberrechte“ oder „Copyright“. Das bürgerliche Grundrecht des Eigentums, das zunächst den Umgang mit materiellen produktiven Gütern und Ressourcen regelte und gleichzeitig die individuelle Freiheit begründen sollte, prägte nun auch den Geistesschaffenden, indem es ihn zum kulturellen Schöpfer und Teilhaber an der Öffentlichkeit, zum „Bourgeois“ und zum „Citoyen“ zugleich machte. Die revolutionäre französische Gesetzgebung von 1793 bezeichnete das Eigentumsrecht der Autoren von Schriften aller Gattungen, der Komponisten musikalischer Werke, der Maler und Zeichner als das persönlichste und heiligste aller Eigentumsrechte. Sie definierte es als das exklusive Recht der Autoren, ihre Werke zu verkaufen, verkaufen zu lassen und im Gebiet der französischen Republik zu verbreiten. Das preußische Gesetz zum Schutze des Eigentums an Werken der Wissenschaft und Kunst gegen Nachdruck und Nachbildung von 1837 bestimmte, dass nur der Autor oder der von diesem Befugte das Recht habe, den Druck oder die mechanische Vervielfältigung einer Schrift, Predigt oder Vorlesung zu autorisieren. Entscheidend war hier das Recht der Veröffentlichung bzw. der Schutz vor dem unerlaubten Nachdruck. In den 1840er-Jahren wurde dann allerdings das geistige Eigentum auch in Deutschland zu einen zentralen Element des Diskurses über Bürgerlichkeit. In weiten Teilen Europas wurde das geistige Eigentum im mittleren Drittel des 19. Jahrhunderts als Kernstück der individualisierten und marktförmigen Institutionalisierung von Kultur, Wissen und Unterhaltung diskutiert. Seine Wirkung hing indessen auch in Zeiten der raschen Ausdehnung des kulturellen Markts davon ab, dass alternative, nicht eigentumsförmige Formen der Institutionalisierung und Organisation der nationalen Kultur und des Wissens – staatliche Schulen, Akademien und Museen – für Bildung und Nachfrage sorgten und so die Akzeptanz und den Absatz kommerziell vermittelter Kulturgüter und künstlerischer Dienstleistungen unterstützten. Der Begriff des geistigen Eigentums stützte den moralischen Anspruch auf Berechenbarkeit und Erwartungssicherheit. Das geistige Eigentumsrecht wurde zu einer Strategie des Risikomanagements in einer dynamischen Wirtschaft und Kultur; das Marktrisiko wurde durch die Rechte des formal unabhängigen, vertragsfähigen „freien Autors“ abgefedert. Aufgrund seiner beruflichen und bürgerlichen Rechte näherte sich der Schriftsteller, Publizist, Wissenschaftler, Gelehrte und Künstler im 19. Jahrhundert als „geistiger Eigentümer“ gesellschaftlich dem Boden-, Immobilien- und Fabrikeigentümer an. Das geistige Eigentum befähigte den Gelehrten, Schriftsteller und Künstler idealerweise zu autonomem und kreativem

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Handeln. Es wurde zu einem Schlüsselelement der Meistererzählung vom Umbruch von der ständischen zur bürgerlichen Gesellschaft und der dazu gehörigen Untererzählungen vom institutionellen Wandel in der Kunst und Kultur; das heißt der Verwandlung des „Hofkünstlers“ zum „bürgerlichen Künstler“ und des Endes des adeligen Mäzenatentums. Die – soziale, moralische und rechtliche – Institution des geistigen Eigentums sicherte und standardisierte die Handlungsbedingungen, Verhaltensweisen und Beziehungen der „geistig Schaffenden“ in der bürgerlichen Gesellschaft und im Rechtsgebiet des jeweiligen Landes. Das „geistige Eigentumsrecht“ wurde in den entwickelten Gesellschaften sukzessive in der Verfassung, im Privatrecht und in einem besonderen Rechtsbestand kodifiziert und durch die Doktrin und Rechtsprechung ständig fortentwickelt. Es wurde zunehmend primär naturrechtlich begründet, das heißt es galt als vorstaatliches Recht, das durch die Arbeit und Leistung des schöpferischen Individuums begründet wurde. Tatsächlich sorgte dann aber ein Gesetzgeber und Staat dafür, dass die Rechte des geistigen Eigentums kodifiziert und durch die Rechtsprechung in seinem Territorium garantiert wurden. Im Zuge der Nationalisierung und Verrechtlichung von Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur wurde das geistige Eigentumsrecht zu einer grundlegenden Institution der nationalen Kultur und zum Statut des nationalen Kulturkartells, das die Beziehungen zwischen den verschiedenen Trägern der nationalen Kultur und Öffentlichkeit regelte. Die Verrechtlichung der Beziehungen und die Standardisierung der Verfahren bestimmte die Herausbildung eines kulturellen Marktes und ermöglichte den kulturellen und geschmacklichen Wandel. Im 19. Jahrhundert differenzierte und erweiterte sich das Bündel der geistigen Eigentumsrechte. Grundsätzlich ging es – erstens – um die Rechte des Autors in der Gestaltung und Bearbeitung von Texten und symbolischen Formen, um das Paternitätsrecht des „kreativen Schöpfers“, das Recht des Signierens und den Schutz der „Originalwerke“ vor Entstellungen, Verfälschungen und Nachahmung durch Dritte. Die Wurzeln dafür lassen sich historisch weit zurückverfolgen, tatsächlich etablierte sich aber erst seit dem späten 19. Jahrhundert in Europa dafür der Begriff der „moralischen Rechte“ oder der „Urheberpersönlichkeitsrechte“. Zweitens ging es um Vermögensrechte, nämlich um die Honorare, Tantiemen und Einnahmen aller Art von Autoren, Verlegern, öffentlichen und privaten Bühnen und Konzerthäusern, die aus der erwerbsorientierten, kommerziellen Veröffentlichung, öffentlichen Aufführung und Ausstellung resultierten. Das ursprünglich in der Analogie zum Eigentum an materiellen Gegenständen und Boden entwickelte „geistige Eigentumsrecht“ konzentrierte sich bis ins frühe 20. Jahrhundert sehr stark auf die vermögensrechtlichen Aspekte. Es begründet das Recht der Veröffentlichung, Vervielfältigung, Verbreitung und Verwertung geistiger Werke. Der angelsächsische Begriff des „Copyright“ signalisiert – drittens –, wozu das geistige Eigentumsrecht auch in Europa ursprünglich primär diente, nämlich dem Schutz des Autors oder Rechteinhabers (Druckers, Medienunternehmens) vor unerlaubten „Nachdrucken“ und Aufführungen. Viertens regelte die Vorstellung und Institution des geistigen Eigentums die Zugangs- und Nutzungsrechte des Publikums, der Öffentlichkeit, der Wissenschaft und Bildung, der Nation, des

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Kulturstaats und der Allgemeinheit. Diesbezüglich ging es um das Verhältnis von „privaten“ und „kollektiven“ geistigen Eigentumsrechten. Die private Verfügung über kulturelle Werke und Wissen wurde schon bei der Einführung des privaten geistigen Eigentumsrechts im öffentlichen, staatlichen und nationalen Interesse zeitlich befristet und inhaltlich eingeschränkt, um das Wohl von Staat, Allgemeinheit und Nation zu sichern. In den etatistischen Gesellschaften und liberalen Kulturstaaten sorgte der freie oder erleichterte Zugang zur nicht kommerzialisierten Kultur für die Kultivierung und soziale Integration der Staatsbürger sowie für jene kulturelle Bildung der Sinne und des Verstandes, welche wiederum die Voraussetzung für die marktförmige Nachfrage bildete. Die staatliche und nationale Kodierung des geistigen Eigentumsrechts intensivierte sich seit den 1790er-Jahren. Anfang der 1880er-Jahre verfügten die europäischen und amerikanischen Nationalstaaten und Vielvölkerreiche über ein ausgearbeitetes Urheber-, Autoren- und Verlagsrecht. Dieses mochte gewisse nationale Besonderheiten aufweisen, richtete sich insgesamt aber an transnationalen Standards aus, die sich im Verlaufe einer internationalen Debatte herauskristallisierten. Seit der Jahrhundertmitte propagierten Verleger, Autoren, Juristen und Politiker die Internationalisierung des geistigen Eigentumsrechts, um einige Probleme, die durch die Verstaatlichung und Nationalisierung des Rechts nicht gelöst bzw. verschärft worden waren, zu beheben. Im Kern ging es darum, die Eigentumsrechte an leicht transportierbaren und kopierbaren Werken wie Büchern, Notenwerken, Bildern und Kunstwerken im Ausland zu sichern und die privaten Vermögensrechte, die aus der Bearbeitung, Übersetzung, Wiederveröffentlichung und öffentlichen Aufführung des Originalwerks im Ausland resultierten, durchzusetzen. Texte und Bilder, Zeichen und symbolische Formen wurden über Staats-, Zoll- und Rechtsgrenzen hinweg gehandelt. Güter der Kultur, des Wissens und der Unterhaltung waren zugleich Waren, die international nachgefragt wurden. Die moderne Kultur lebte genauso von der Diversität und Neuigkeit wie der Markt. Das geistige Eigentumsrecht stimulierte und belohnte das Prinzip der Umformung und Variation. Der in einem Staats- und Rechtsgebiet arbeitende und publizierende geistige Eigentümer riskierte allerdings, dass sich Übersetzer, das ausländische Publikum und der ausländische Verleger und Bühnenunternehmer nicht an seine Eigentumsrechte hielten. Deshalb drängten Autoren, Komponisten und Verleger seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auf die zwischenstaatliche und internationale Angleichung des geistigen Eigentums bzw. auf die Anerkennung der individuellen Autorenrechte außerhalb des Landes der Erstveröffentlichung des Werks oder des Herkunftslandes des Autors. Sie forderten die Gleichbehandlung des ausländischen und inländischen Autors bzw. geistigen Werks. Die Exportländer von Kultur und Kulturgütern intensivierten seit den 1840er-Jahren ihre Bemühungen, den zwischenstaatlichen und internationalen Austausch kultureller Güter und Dienstleistungen einem internationalen Regime des geistigen Eigentums zu unterstellen, indem sie bilaterale Handelsverträge abschlossen, die das Prinzip der gegenseitigen Gleichbehandlung festlegten. Die ersten multilateralen zwischenstaatlichen Verträge wurden in sprachlich

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homogenen, aber politisch differenzierten Gebieten wie dem vornationalen Deutschland und dem vornationalen Italien 1832/37 bzw. 1840 abgeschlossen. In Italien wie in Deutschland wollten sich damit die Autoren und Originalverleger der nördlichen Staaten gegen die Nachdrucker im „Süden“ schützen. Indem Frankreich mit der Gesetzesrevision von 1852 die in Frankreich erschienenen Werke ausländischer Autoren denjenigen von Inländern in jedem Fall gleichstellte, setzte es ein Zeichen für die Internationalisierung und Universalisierung der geistigen Eigentumsrechte. Belgien folgte diesbezüglich 1886 nach. Etwas weniger weit waren Mitte der 1880er-Jahre England, Italien, Spanien und die Schweiz, die ausländische Autoren nur dann wie die Inländer behandelten, wenn sie aus einem Staat stammten, mit dem ein Abkommen über gegenseitige Gleichbehandlung bestand. Während in Frankreich, Belgien und Spanien der Originalautor ein unbefristetes Recht zur Autorisierung von Übersetzungen seiner Werke genoss, war dieses Recht in Deutschland, der Schweiz und Italien damals noch auf einen kurzen Zeitraum nach dem Erscheinen des Originals befristet. Die nationalen Urheberrechtsgesetze des Deutschen Reichs aus den 1870er-Jahren gingen sogar noch davon aus, dass dem ausländischen Urheber kein eigenständiger Anspruch auf Schutz des geistigen Eigentums eingeräumt werden sollte. Sein geistiges Eigentum war nur insofern geschützt, als es von einem inländischen, deutschen Verleger verwertet wurde. Die meisten europäischen Staaten machten den Schutz von – inländischen wie ausländischen – Werken zudem von der Erfüllung gewisser Formalitäten abhängig; indem etwa das veröffentlichte Originalwerk in Form einer Kopie in der Nationalbibliothek deponiert oder beim Bildungsministerium oder einem Gericht registriert werden musste. Die Vielzahl und Verschiedenartigkeit der Vorschriften erschwerte die Wahrnehmung der Autoren- und Verlegerrechte im internationalen Maßstab. Nur noch einige spezialisierte Advokaten und Rechtslehrer, die sich vielfach auch als Lobbyisten und Politiker betätigten, überblickten die Gesetzgebung, Rechtsprechung und jeweilige Doktrin. Einige betätigten sich an führender Stelle an der Reform der nationalen Gesetzgebung, an der Ausarbeitung der internationalen Verträge und an der Gründung nationaler und internationaler Verbände von Autoren und Verlegern. Schriftsteller, Wissenschaftler, Künstler, Musiker, Verleger, Juristen und Politiker warben in der nationalen und internationalen Öffentlichkeit für die Internationalisierung und Universalisierung der Rechte des Autors. Ihre Bemühungen gipfelten in der „Berner Übereinkunft“ von 1886. Die Initiative zu dieser multilateralen internationalen Konvention zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst ging von nationalen und internationalen Autoren- und Verlegerverbänden aus. Die diplomatischen Vorberatungen fanden unter der Vermittlung des Schweizerischen Bundesrates in Bern statt. Der – im Anhang dem Vertragstext vorangestellte – kurze Auszug aus der Botschaft der Schweizer Regierung an die Bundesversammlung zeigt exemplarisch die kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Motive für den Abschluss einer solchen

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internationalen Vereinbarung. 3 An den mehrjährigen, immer wieder unterbrochenen Verhandlungen beteiligten sich nicht nur die nachmaligen Gründungsmitglieder der Berner Union, wie Frankreich, Deutschland, England, Spanien, Italien, Belgien und die Schweiz, sondern auch die meisten anderen europäischen Länder; sowie die USA und die Staaten Lateinamerikas, die der Berner Union schließlich nicht beitraten, sondern später eine panamerikanische Parallelorganisation gründeten. Vielen Zeitgenossen erschien die Gründung der Berner Union als Krönung einer zumindest teilweise gemeinsamen Emanzipationsgeschichte der Autoren und Verleger, die mit der Individualisierung der Gestaltungs-, Veröffentlichungsund Vermögensrechte der Geistesschaffenden in der national-liberalen Gesellschaft begann und in der Entgrenzung des menschlichen Geistes und der Universalisierung des Rechts gipfelte. Tatsächlich handelte es sich weniger um eine Universalisierung, sondern um eine Internationalisierung des Rechts. Die Berner Union legte als zwischenstaatliche, internationale Organisation die Regeln und Leitlinien für die nationale Gesetzgebung und Rechtsprechung fest. In langwierigen Verhandlungen verständigte man sich auf ein gemeinsames Rahmenkonzept des „Schutzes der Autorenrechte“, worunter sich in gewissen Hinsichten sowohl der angelsächsische Begriff des „Copyright“ als auch die von Frankreich (und vielen romanischen Ländern) vertretene Konzeption der „literarischen und künstlerischen Eigentumsrechte“ und die von den deutschen Repräsentanten favorisierten Konzeptionen des „Immaterialgüterrechts“ bzw. des „Schutzes der Urheberpersönlichkeit“ subsumieren ließen. Die erste und wichtigste Bestimmung der Berner Übereinkunft lautete: „Die einem der Verbandsländer angehörigen Urheber oder ihre Rechtsnachfolger genießen in den übrigen Ländern für ihre Werke [...] diejenigen Rechte, welche die betreffenden Gesetze den inländischen Urhebern einräumen oder in Zukunft einräumen werden.“

Für die Förmlichkeiten und die Dauer der Schutzfrist galten für den im Ausland publizierenden Autor die Gesetze des Herkunftslandes (Artikel 2). Mithilfe einer Aufzählung der Werkarten wurde der Ausdruck „Werke der Literatur und Kunst“ definiert (Artikel 4). Artikel 5 regelte das Übersetzungsrecht im Ausland. Laut Artikel 8 entschieden die Landesgesetze über die Aufnahme von Auszügen von Werken der Literatur und Kunst in Unterrichtswerke. Die Staaten akzeptierten diese Regeln und deren Umsetzung durch die nationalen Gerichte, indem sie ihre Gesetze entsprechend änderten und den Vertrag

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Vgl. Übereinkunft, betreffend die Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst vom 9. September 1886 (Quelle 1) sowie Botschaft des Schweizerischen Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die internationale Konvention zum Schutz der literarischen und künstlerischen Werke vom 19.11.1886 (Quelle 2). Die folgenden Quellenzitate stammen, sofern nicht anders ausgewiesen, aus den hier abgedruckten Quellenausschnitten.

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ratifizierten. 4 Die wissenschaftliche Literatur betont die zentrale Rolle der Berner Union für die Entwicklung des Urheberrechts und die internationale Rechtsangleichung bis heute. Die Berner Union fungierte, genau so wie andere damals gegründete internationale Organisationen, das eine Mal als ein Instrument staatlicher Diplomatie, das andere Mal als Arena für internationale Verhandlungen zwischen Regierungen und Interessenverbänden und bisweilen als quasi-autonomer supranationaler Akteur. Bei den Gründungsmitgliedern der Berner Union handelte es sich um Staaten und Imperien mit einer großen kulturellen und wissenschaftlichen Eigenproduktion bzw. um Länder, die – in absoluten Zahlen oder relativ zur Bevölkerungszahl – eine erhebliche Buch- und Zeitschriftenproduktion hatten und am Export interessiert waren. 5 Die großen mehrsprachigen und multikulturellen europäischen Reiche an der Ostgrenze des europäischen Kontinents, das Habsburger Reich und das Zarenreich, traten dagegen der Berner Übereinkunft nicht bei. In ÖsterreichUngarn befürchteten Verleger, Regierungskreise und Politiker, dass Werke der Weltliteratur nicht in die kleinen Nationalsprachen des Habsburgerreichs übersetzt und von einem Verleger veröffentlicht würden, wenn sie tantiemepflichtig wären. Im Falle von Russland lautete das Argument, dass es sich bei vielen wissenschaftlichen, schulischen und literarischen Publikationen um nicht autorisierte Übersetzungen, Nachdrucke oder Bearbeitungen ausländischer Werke handle. Die eigene Produktion und die Kaufkraft seien zu gering, so dass der Beitritt zu internationalen Abkommen nicht zu empfehlen sei. Zu den Gründerstaaten gehörten auch Tunesien (ein französisches Protektorat), Haiti und Liberia. Im Kern war die Berner Union aber ein (west-)europäisches Kulturkartell, das unter der Führung der großen Imperien und einiger exportstarker Kleinstaaten weltweit expandierte und die Standards vorgab. Kolonialgebiete mit einer hohen Kultur- und Buchproduktion wie Indien, wo allein in englischer Sprache mehr Bücher gedruckt wurden als in Großbritannien selbst, wurden als Teil des Britischen Imperiums zwangsintegriert, was gemäß Artikel 19 der Berner Übereinkunft ausdrücklich möglich war. Japan, dessen Buchproduktion mit 19.500 Werken im Jahr 1901 zahlenmäßig fast an die deutsche heranreichte und wo sich in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts das Autorverständnis und das Copyright europäischen Standards annäherte, trat der Berner Union 1899 bei. 6 4

5

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Vgl. dazu Botschaft des Schweizerischen Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die internationale Konvention zum Schutz der literarischen und künstlerischen Werke vom 19.11.1886 (Quelle 2). Laut einer Statistik des Leiters des Büros der Berner Union entfielen von den 120.000 Büchern, die um 1900 pro Jahr weltweit gedruckt wurden, 27.000 auf Deutschland, 10.300 auf Russland, 10.100 auf Frankreich, 7.000 auf Großbritannien, 6.000 auf Spanien, 5.000 auf Österreich, 2.900 auf die Niederlande, 2.600 auf Belgien, 1.600 auf Ungarn, 1.700 auf die Schweiz, und 1.400 auf Spanien. Vgl. Röthlisberger, Ernst, Geistige Produktion, in: Reichesberg, Naum, Handwörterbuch der schweizerischen Volkswirtschaft, Sozialpolitik und Verwaltung, Bd.2, Bern 1903–1911, S. 203–211, hier Tabelle S. 205. Kornicki, Peter, The book in Japan. A Cultural History From The Beginning To The Nineteenth Century, Honolulu 2001, S. 225–251.

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1886 gehörten laut Mitteilung des Schweizer Bundesrates weltweit 500 Millionen Seelen, das heißt ein Drittel der Weltbevölkerung zum Geltungsgebiet der Berner Union. Und 1906 stellte der Generalsekretär des Büros der Berner Union, Ernst Röthlisberger, im Handbuch zur Berner Union mit einiger Genugtuung fest: „Die heutigen fünfzehn Vertragsstaaten wiesen zu Anfang des Jahres 1906 eine annähernde Seelenzahl von 666 Millionen auf, wovon allerdings fast 400 Millionen Seelen auf England und seine sämtlichen Kolonien und Besitzungen fallen. Stellt man das Unionsgebäude nach der Bevölkerungszahl der Verbandsstaaten grafisch dar, so nimmt sich Englands Kolonne neben den anderen Staaten aus wie ein New-Yorker Wolkenkratzer gegenüber gewöhnlichen Häusern.“ 7

In Bezug auf die Zahl der geistigen Werke, Geistesschaffenden und Verleger, die durch die Berner Übereinkunft geschützt wurden, war das englische Übergewicht zweifellos weniger krass. Mit seiner Bemerkung über die zahlenmäßige Dominanz des britischen Imperiums und mit dem Bild des amerikanischen Wolkenkratzers wies Röthlisberger auf eine Stärke und auf ein Defizit der Berner Union hin. Die Stärke bestand in der weltweiten Verbreitung und Attraktivität des Konzepts des geistigen Eigentums, das im 20. Jahrhundert verfeinert, auf neue Autorengruppen und Medien ausgedehnt und mithilfe von Verwertungsgesellschaften effizienter gemacht wurde. Bis in die Zwischenkriegszeit traten zahlreiche weitere Länder der Berner Union bei. Die Schwäche der Berner Union bestand zum einen im Fernbleiben der USA, die im 19. Jahrhundert als Importeur kultureller Güter die geistigen Eigentumsrechte der Europäer vielfach ignorierten und im 20. Jahrhundert zum großen Konkurrenten wurden, sich aber bis Ende der 1980er-Jahre nicht einbinden ließen. Zum anderen bestand sie darin, dass die in der Berner Union zusammengeschlossenen kulturexportierenden Staaten und Imperien mithilfe ihrer internationalen Organisation nicht nur Druck auf die so genannten Piratenstaaten ausübten, sondern auch auf die Kolonien. Dort formierte sich im 20. Jahrhundert ein Gegendiskurs zur Emanzipations- und Freiheitserzählung des geistigen Eigentums; nämlich der Diskurs der Entrechtung, Unterdrückung und Ausbeutung der wirtschaftlich ärmeren Nationen und Großregionen. Diese monierten, dass die reichen Länder ihnen mithilfe des geistigen Eigentumsrechts den Zugang zu Wissen und bestimmten kulturellen Hervorbringungen erschwerten oder gar verunmöglichten. In vielen Fällen seien zudem ihre kollektiven kulturellen Rechte ignoriert und von den Ausländern mithilfe des privaten geistigen Eigentumsrechts angeeignet worden. Literaturhinweise Cavalli, Jean, La genèse de la Convention de Berne pour la protection des œuvres littéraires et artistiques du 9 septembre 1886, Lausanne 1986. Geller, Paul Edward, Copyright History And The Future. What’s Culture Got To Do With It?, in: Journal of the Copyright Society of the USA, 47 (2000), S. 209–264. 7

Röthlisberger, Ernst, Die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst und die Zusatzabkommen. Geschichtlich und rechtlich beleuchtet und kommentiert von Prof. Ernst Röthlisberger, Bern 1906, S. 20.

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Püschel, Heinz, 100 Jahre Berner Union. Gedanken, Dokumente, Erinnerungen, Leipzig 1986. Röthlisberger, Ernst, Die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst und die Zusatzabkommen. Geschichtlich und rechtlich beleuchtet und kommentiert von Prof. Ernst Röthlisberger, Bern 1906. Siegrist, Hannes, Geschichte und aktuelle Probleme des geistigen Eigentums (1600–2000), in: Zerdick, Axel et al. (Hgg.), E-merging Media. Digitalisierung der Medienwirtschaft, Heidelberg 2003, S. 313–332. Wadle, Elmar, Entwicklungsschritte des geistigen Eigentums in Frankreich und Deutschland. Eine vergleichende Studie, in: Siegrist, Hannes; Sugarman, David (Hgg.), Eigentum im internationalen Vergleich (18.–20. Jahrhundert), Göttingen 1999, S. 243–261.

Quellen Botschaft des Schweizerischen Bundesrates / Die Berner Übereinkunft (1886) 8 Quelle 1: Botschaft des Schweizerischen Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die internationale Konvention zum Schutz der literarischen und künstlerischen Werke vom 19. November 1886 9 In unseren Zeiten begnügt man sich nicht mehr mit den literarischen und künstlerischen Werken, die im eigenen Lande produziert werden. Der Horizont hat sich ausgedehnt: der Mensch will, was unter anderem Himmel, durch andere Völker entsteht, kennen und verstehen und seinen geistigen Besitz durch das Beste, was die Menschheit in dieser Beziehung hervorbringt, bereichern. Diese Tendenz hat bewirkt, dass die Werke des Geistes gegenwärtig berufen sind, die ästhetischen Bedürfnisse der gebildeten Klassen in einem viel größeren Umfange zu befriedigen, als der ist, in welchem sie durch die nationalen Gesetze beschützt sind. Die Länder, in welchen die literarische Produktion am größten ist, haben dieser Tatsache Rechnung getragen und Konventionen geschlossen, durch welche ihren Staatsangehörigen gegenseitig ein mehr oder weniger weitgehender Schutz auch jenseits der Grenze ihres Landes zugesichert wird. Aber der so gewährte Schutz ging verschieden weit, je nach den Konventionen; gewöhnlich war er, was das Übersetzungsrecht – in bezug auf die Internationalität ein Gebiet von der größten Wichtigkeit – anbetrifft, sehr beschränkt und der Erfüllung gewisser, den Urheber belästigenden Formalitäten unterworfen. Außerdem waren verschiedene dieser Konventionen mit Handelsverträgen verbunden, mit denen sie die Unbeständigkeit teilten. Alles das erregte bei den Urhebern den Wunsch nach einer allgemeinen Konvention mit permanentem Charakter, durch welche die zu erfüllenden Bedingungen so viel als möglich vereinfacht und der zugesicherte Schutz ausgedehnter würden, als diese durch die einzelnen Konventionen geschehen konnte. […]

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Botschaft des Schweizerischen Bundesrates / Die Berner Übereinkunft (1886). Die Quellen sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Botschaft des Schweizerischen Bundesrates an die Bundesversammlung, betreffend die interna-tionale Konvention zum Schutz der literarischen und künstlerischen Werke vom 19.11.1886, zit. n. Püschel, Heinz, 100 Jahre Berner Union. Gedanken, Dokumente, Erinnerungen, Leipzig 1986, S. 131–136, hier S. 131f.

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Quelle 2: Übereinkunft, betreffend die Bildung eines internationalen Verbandes zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst vom 9. September 1886 10 [Die Staatsoberhäupter des Deutschen Reiches, Belgiens, Spaniens, Frankreichs, Großbritanniens, Haitis, Italiens, Liberias, der Schweiz und Tunesiens] gleichmäßig von dem Wunsche beseelt, in wirksamer und möglichst gleichmäßiger Weise das Urheberrecht an Werken der Literatur und Kunst zu schützen, haben den Abschluss einer Übereinkunft zu diesem Zweck beschlossen und zu ihren Bevollmächtigten ernannt, nämlich […] Artikel 1: Die vertragschliessenden Länder bilden einen Verband zum Schutze des Urheberrechts an Werken der Literatur und Kunst. Artikel 2: Die einem der Verbandsländer angehörigen Urheber oder ihre Rechtsnachfolger genießen in den übrigen Ländern für ihre Werke, und zwar sowohl für die in einem der Verbandsländer veröffentlichten, als für die überhaupt nicht veröffentlichten, diejenigen Rechte, welche die betreffenden Gesetze den inländischen Urhebern gegenwärtig einräumen oder in Zukunft einräumen werden. Der Genuss dieser Rechte ist von der Erfüllung der Bedingungen und Förmlichkeiten abhängig, welche durch die Gesetzgebung des Ursprungslandes des Werkes vorgeschrieben sind; derselbe kann in den übrigen Ländern die Dauer des in dem Ursprungslande gewährten Schutzes nicht übersteigen. Als Ursprungsland des Werkes wird dasjenige angesehen, in welchem die erste Veröffentlichung erfolgt ist, oder wenn diese Veröffentlichung gleichzeitig in mehreren Verbandsländern stattgefunden hat, dasjenige unter ihnen, dessen Gesetzgebung die kürzeste Schutzfrist gewährt. […] Artikel 4: Der Ausdruck „Werke der Literatur und Kunst“ umfasst Bücher, Broschüren und alle anderen Schriftwerke; dramatische und dramatisch-musikalische Werke, musikalische Kompositionen mit oder ohne Text; Werke der zeichnenden Kunst, der Malerei, der Bildhauerei; Stiche, Lithographien, Illustrationen, geographische Karten; geographische, topographische, architektonische oder sonstige wissenschaftliche Pläne, Skizzen und Darstellungen plastischer Art; überhaupt jedes Erzeugnis aus dem Bereich der Literatur, Wissenschaft oder Kunst, welches im Wege des Drucks oder sonstiger Vervielfältigung veröffentlicht werden kann. Artikel 5: Den einem Verbandslande angehörigen Urhebern oder ihren Rechtsnachfolgern steht in den übrigen Ländern, bis zum Ablauf von zehn Jahren, von der Veröffentlichung des Originalwerks in einem der Verbandsländer an gerechnet, das ausschließliche Recht zu, ihre Werke zu übersetzen oder die Übersetzung derselben zu gestatten. […] Artikel 6: Rechtmässige Übersetzungen werden wie Originalwerke geschützt. Sie genießen demzufolge rücksichtlich ihrer unbefugten Vervielfältigung in den Verbandsländern den in den Artikeln 2 und 3 festgelegten Schutz. Wenn es sich indessen um ein Werk handelt, betreffs dessen das Recht zur Übersetzung allgemein freisteht, so steht dem Urheber kein Einspruch gegen die Übersetzung des Werkes durch andere Schriftsteller zu.

10 Das Dokument ist mehrfach publiziert worden, so in Püschel, 100 Jahre Berner Union, S. 125–131. Die ungekürzte deutsche und französische Fassung findet sich in Röthlisberger, Ernst, Die Berner Übereinkunft zum Schutze von Werken der Literatur und Kunst und die Zusatzabkommen. Geschichtlich und rechtlich beleuchtet und kommentiert von Prof. Ernst Röthlisberger, Bern 1906, S. 322–329.

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Artikel 7: Artikel, welche in einem Verbandslande in Zeitungen oder periodischen Zeitschriften veröffentlicht sind, können im Original oder in Übersetzung in den übrigen Verbandsländern abgedruckt werden, falls nicht die Urheber oder Herausgeber den Abdruck ausdrücklich untersagt haben. Bei Zeitschriften genügt es, wenn das Verbot allgemein an der Spitze einer jeden Nummer der Zeitschrift ausgesprochen ist. Dies Verbot soll jedoch bei Artikeln politischen Inhalts oder bei dem Abdruck von Tagesneuigkeiten und „vermischten Nachrichten“ keine Anwendung finden. Artikel 8: Bezüglich der Befugnis, Auszüge oder Stücke aus Werken der Literatur und Kunst in Veröffentlichungen, welche für den Unterricht bestimmt oder wissenschaftlicher Natur sind, oder in Chrestomathien aufzunehmen, sollen die Gesetzgebungen der einzelnen Verbandsländer und die zwischen ihnen bestehenden oder in Zukunft abzuschließenden besonderen Abkommen maßgebend sein. Artikel 9: Die Bestimmungen des Artikels 2 finden auf die öffentliche Aufführung dramatischer oder dramatisch-musikalischer Werke Anwendung, gleichviel, ob diese Werke veröffentlicht sind oder nicht. […]

EUROPÄISCHER, AMERIKANISCHER ODER WELTWEITER SCHUTZ GEISTIGEN EIGENTUMS? EUROPÄISCHER URHEBERSCHUTZ UND DAS AMERIKANISCHE COPYRIGHT IN DER ERSTEN HÄLFTE DES 20. JAHRHUNDERTS 1 Isabella Löhr

Bücher haben nicht nur einen intellektuellen und kulturellen Wert, sondern sie sind auch Waren, mit denen regional, national und global Handel betrieben wird. Um Autoren ein finanzielles Auskommen zu sichern, das ihnen erlaubt, Schreiben berufsmäßig zu betreiben, ist der Schutz von Urheber-, Übersetzungs- und Verwertungsrechten nötig, der garantiert, dass jedes verkaufte Exemplar Tantiemen für den Autor und Erträge für den Verleger abwirft. Das zentrale Problem eines solchen Urheberschutzes ist seine räumliche Begrenzung. Denn Recht und Gesetze sind an Staaten und damit an ein räumlich begrenztes Territorium gebunden, über das hinausgehend sie nur geschützt werden können mit Hilfe internationaler Abkommen, die die Rechte ausländischer Autoren gegenüber inländischen Verwertern anerkennen. Sobald kulturelle Güter in größeren Mengen zwischen verschiedenen Staatsgebieten, Rechts- und Sprachräumen ausgetauscht werden, wird die Frage der geografischen Reichweite der geistigen Eigentumsrechte zu einem Politikum. Vor diesem Hintergrund soll im Folgenden dargestellt werden, wie das zentrale europäische Urheberrechtsabkommen, die so genannte Berner Übereinkunft, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch einen Zusammenschluss mit den Urheberrechtsabkommen der Panamerikanischen Union zu einem Vertrag mit globaler Reichweite ausgebaut werden sollte. Betrachtet wird das Auftreten der europäischen Akteure als eine vor allem in den 1930er-Jahren erstaunlich geschlossene Interessengruppe, die mit Hilfe des Rechts ein europäisches Verständnis von Kreativität sowie ihre damals weltweit herausragende Position als Produzenten und Exporteure von Kultur festzuschreiben versuchte. Die Gründung der Berner Übereinkunft 1886 bedeutete einen Durchbruch für die Bemühungen des 19. Jahrhunderts, das dichte Netz bilateraler Verträge, das die gegenseitige Anerkennung von Urheberrechten zwischen verschiedenen europäischen Staaten regelte, durch möglichst flächendeckende Rechtsnormen zu ersetzen. Die Berner Übereinkunft war ein multilateraler Vertrag, der einen international ausgehandelten Standard zum Schutz von Urheberrechten etablierte. Das so genannte Prinzip der Inländerbehandlung stellte ausländische und inländische 1

Essay zur Quelle: Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit: Vorbereitungen für eine Weltkonvention zum Schutz von Urheberrechten (1938). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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Autoren innerhalb der Verbandsstaaten rechtlich gleich und sicherte so Urhebern und Verwertern über nationale Grenzen hinweg verbindliche Rechte. 2 Die Berner Union war ein internationaler Verband mit einer offenen Struktur, der auf inhaltlichen Ausbau des Rechtsschutzes, Anpassung an technische Neuerungen und auf die Neuaufnahme von Mitgliedsstaaten angelegt war. Die Realität zu Beginn der 1920er-Jahre sah jedoch anders aus. Nach einer Beitrittswelle im direkten Anschluss an den Ersten Weltkrieg zählte die Union 38 Mitgliedsstaaten, die mit Ausnahme von Brasilien und den europäischen Kolonien durchweg europäisch waren. Damit war die Union als ein europäischer Zusammenschluss räumlich an ihre Grenzen gestoßen und mit zunehmender Dringlichkeit stellte sich die Frage nach ihrer künftigen Entwicklung. Eine Möglichkeit bestand in der Verbesserung der internen Rechtsstandards und deren sichere Verankerung in den nationalen Gesetzgebungen, das heißt Ausbau und Konsolidierung der Union nach innen. Dieses Anliegen verfolgte die Revisionskonferenz von 1928 in Rom. Die Konferenz wies jedoch noch einen zweiten Weg, den die Union wahlweise einschlagen konnte, um dem Problem der flächenmäßigen Begrenzung des Rechtsschutzes zu begegnen, nämlich ein Zusammenschluss der Berner Union mit den Urheberrechtsabkommen der amerikanischen Staaten. 3 Die Berner Übereinkunft war nicht das einzige multilaterale Urheberrechtsabkommen auf der Welt. Seit 1889 hatten die nord- und südamerikanischen Staaten im Rahmen der Panamerikanischen Union eine Serie multilateraler Abkommen für den Schutz von Urheberrechten verabschiedet, die für die Mehrzahl der amerikanischen Staaten einen Mindeststandard für den Schutz von Urheberrechten formulierten. 4 Auf der Abschlusssitzung der Konferenz von Rom trugen die Delegationen von Frankreich und Brasilien – die einzigen Staaten, die Mitglieder in beiden Konventionen waren – gemeinsam den Wunsch vor, die Konvention von Bern und die Panamerikanischen Konventionen in einem Abkommen zusammenschließen, das auf den rechtlichen Gemeinsamkeiten beider Konventionen aufbauen sollte. Trotz rechtssystematischer Unterschiede zwischen den europäischen und den amerikanischen Urheberrechten hob die Konferenz das gemeinsame Grundinteresse hervor, nämlich Urheber rechtlich zu schützen und die Verbreitung und Verwertung geschützter Werke international zu regeln. Gestützt auf diesen kleinsten gemeinsamen Nenner nahm die Revisionskonferenz in Rom den Vorschlag an und ermunterte alle interessierten Regierungen zur Mitarbeit an bzw. zum Beitritt zu diesem neuen Vertragswerk. 5

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Zur Vorgeschichte der Berner Übereinkunft: Ricketson, Sam, The Berne Convention for the Protection of Literary and Artistic Works: 1886–1986, London 1987. Zu den teilnehmenden Staaten und den Ergebnissen von Rom: Püschel, Heinz, 100 Jahre Berner Übereinkunft. Gedanken, Dokumente, Erinnerungen, Leipzig 1986. Zu den panamerikanischen Konventionen: Royer, Claude, La Protection internationale du droit d’auteur en Amérique et les tentatives de rapprochement des conventions panaméricaines et de la Convention de Berne, Toulouse 1942, S. 113–160. Vgl. Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit: Vorbereitungen für eine Weltkonvention zum Schutz von Urheberrechten (1938).

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Ebenso wie die Panamerikanische Union wurde die Berner Union von einem internationalen Büro koordiniert, das als ständiges Exekutivorgan die diplomatischen Konferenzen vorbereitete, Beschlüsse durchführte und die Mitglieder informierte. Beide Büros besaßen nur ein exekutives, nicht jedoch auf Eigeninitiative angelegtes Mandat. Sie waren im Gegensatz zu dem 1919 gegründeten Völkerbund weder weisungsbefugt noch konnten sie für ihre Mitglieder internationale Abkommen vorbereiten. Deswegen wandte Spanien sich im Herbst 1928 an die Generalversammlung des Völkerbundes mit der Bitte, er möge eines seiner Organe mit der Realisierung des Beschlusses von Rom beauftragen. Der Völkerbund beschloss darauf, die Rechtssysteme der Berner und der Panamerikanischen Union unter der Leitung des Völkerbundes einander anzunähern oder sie sogar miteinander zu vereinen. Mit der Realisierung beauftragte der Völkerbundsrat die Kommission für geistige Zusammenarbeit (Commission Internationale de Coopération Intellectuelle), eine 1922 vom Völkerbund ins Leben gerufene Einrichtung, die die Abrüstungs- und Friedenssicherungspolitik des Völkerbundes durch eine enge Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten im sozialen und kulturellen Bereich ergänzen sollte. Dieser Kommission, die aus renommierten Intellektuellen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens bestand, wurde 1926 das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit (Institut Internationale de Coopération Intellectuelle) in Paris zur Seite gestellt. Mit Mitteln der französischen Regierung gegründet, war es weisungsabhängig von der Kommission und realisierte die von ihr initiierten Projekte und Vorhaben. 6 So betrieb die juristische Abteilung des Pariser Instituts im Auftrag der Kommission ab 1929 die Annäherung des europäischen und amerikanischen Rechtes zum Schutz von Urheberrechten. Dabei arbeite es in enger Abstimmung mit dem Internationalen Institut für die Vereinheitlichung des Privatrechts in Rom, dem internationalen Büro der Berner Übereinkunft, dem Büro der Panamerikanischen Union, der brasilianischen Regierung und einer Interamerikanischen Kommission für Urheberrechte. Ab 1932 wurde diese Gruppe um die belgische Regierung erweitert, die die nächste Revisionskonferenz der Berner Übereinkunft in den 1930er-Jahren in Brüssel ausrichten sollte. Erklärtes Ziel aller an den Vorarbeiten Beteiligter war es, die beiden Konventionen in einer Weltkonvention zusammenzuschließen, die entweder die existierenden Texte ersetzen oder zu einer dritten, übergreifenden Konvention führen sollte, die die bestehenden Konventionen unberührt gelassen hätte. Der Plan war, die Revisionskonferenz in Brüssel mit einer Einladung an alle amerikanischen Staaten zu einer zweiten Konferenz zu verbinden, auf der die geplante Weltkonvention verabschiedet werden sollte. Die Vorbereitungen verzögerten sich, weil mehrere umfangreiche Abstimmungsprozesse nötig waren, die länger brauchten als ursprünglich geplant: Zuerst 6

Zu Gründung, Aufbau und Funktionsweise von Kommission und Institut: Secrétariat de la Société des Nations, La Société des Nations et la coopération intellectuelle, Genf 1926. Zur politischen Bedeutung der Kommission für geistige Zusammenarbeit vgl. Laqua, Daniel, Transnational Intellectual Cooperation, the League of Nations, and the Problem of Order, in: Journal of Global History 6 (2011), H. 2, S. 223–247.

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mussten die Mitgliedsstaaten der Berner Union und die Staaten der Panamerikanischen Union zu einer Meinung über das Projekt finden und dem folgte eine Diskussion zwischen den europäischen und amerikanischen Delegierten, die gemeinsam einen Entwurf für die Weltkonvention erarbeiteten. Anfang 1938 waren die Vorarbeiten weitestgehend abgeschlossen und die belgische Regierung veröffentlichte gemeinsam mit dem Pariser Institut eine Dokumentation mit Vorentwürfen, Stellungnahmen und Berichten über die anvisierte Weltkonvention zum Schutz von Urheberrechten. 7 Die Konvention kam letztlich nicht zustande, weil der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges die für September 1939 angesetzte Konferenz verhinderte. Die vorbereitenden Dokumente zeigen die unterschiedlichen Interessen, politischen Asymmetrien und die daraus resultierenden Konflikte. Sie verweisen auf die rechtlichen und politischen Hindernisse bei der Realisierung eines globalen Rechts und insbesondere auf die Verankerung der amerikanischen und europäischen Urheberrechte in spezifischen kulturellen und gesellschaftspolitischen Kontexten. Die Berner Übereinkunft war als eine Union mit universalem Anspruch gegründet worden. Der Praxis hielt dieser Anspruch jedoch nicht stand, weil die Union bis zum Zweiten Weltkrieg ein Zusammenschluss europäischer Staaten (und ihrer Kolonien) blieb. Mit dem Wunsch der Revisionskonferenz von Rom, eine Brücke zwischen der Berner Übereinkunft und ihrem amerikanischen Pendant zu schlagen, erkannte die Berner Union sich faktisch als eine europäische Union an, die in Verhandlung mit einer anderen Weltregion trat. Die Aufgabe des universalen Anspruches dokumentieren auch die federführend tätigen Akteure sowie der Verlauf der Verhandlungen. Mit der Verhandlungsleitung wurde nämlich nicht das Berner Büro oder die panamerikanische Union, sondern der Völkerbund betraut. Ihm gehörte nicht nur die Mehrzahl der betroffenen europäischen und amerikanischen Staaten an, sondern er war eine internationale Organisation mit universalem Anspruch, die die Interessen aller Staaten der Welt versammeln, vertreten und vermitteln wollte. Die Berner Union trat nicht länger als überregionaler Verband auf, sondern als eine Interessenpartei, die auf die Integrations- und Vermittlungsfähigkeit einer noch jungen internationalen Organisation vertraute, die ihrerseits ein Netzwerk aus Experten und Diplomaten schuf, das gestützt auf regionale Kommissionen, internationale Institute und interkontinental besetzte Expertenkomitees arbeitete. 8 Die Vorentwürfe für eine Weltkonvention, die zwischen 1929 und 1938 erarbeitet wurden und von denen drei offiziell Eingang in die Dokumentation fanden, förderten bald zu Tage, dass die Berner Union einem spezifisch europäischen Verständnis von Recht, Gesellschaft und Individualität verpflichtet war. Denn ein 7 8

Vgl. Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit: Vorbereitungen für eine Weltkonvention zum Schutz von Urheberrechten (1938). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Vermittlungsfunktion der Völkerbundsorgane jedoch wegen ihrer Nähe zu den europäischen Interessen eher kritisch begutachtet: Bogsch, Arpad, La convention universelle sur le droit d’auteur. Exégèse, Paris 1953, S. 39.

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genaues Studium der bereits existierenden Konventionen offenbart gravierende rechtliche Unterschiede zwischen den Urheberrechtsabkommen der Panamerikanischen Union und der Berner Übereinkunft. Das betraf vor allem den Stellenwert des Rechtsschutzes. In den interamerikanischen Konventionen wurde die Vervielfältigung und Verbreitung eines Werkes als ein staatlich gewährtes Recht aufgefasst. Entsprechend musste ein neues Werk an einer zentralen Stelle angemeldet werden und erst die formale Anmeldung verlieh das Recht, ein Werk exklusiv zu verbreiten. 9 Die Revision der Berner Übereinkunft 1928 in Rom verankerte dagegen das so genannte droit moral im internationalen Recht. Demnach besaß der Autor unabhängig von der Verwertung seines Werkes eine – naturrechtlich begründete – uneingeschränkte Werkhoheit. Das heißt, Kraft seiner kreativen Leistung besaß er ein moralisch begründetes Eigentumsrecht am Werk, das ihn unabhängig von einer staatlichen Gewährung zum Inhaber von Urheberrechten machte und ihm alleine das Recht zusprach, über Veränderungen am Werk zu entscheiden. Eine formale Anmeldung des Rechtsschutzes war nicht nötig. Rückte das europäische droit moral auf diesem Weg die individuelle Persönlichkeit des Urhebers ins Zentrum, betonten die amerikanischen Konventionen stärker den Aspekt der gesellschaftlichen Anerkennung eines individuellen Rechts. Kurz nachdem das droit moral sich also international etablieren konnte, avancierte es zu einer europäischen Besonderheit. Der zweite wesentliche Streitpunkt betraf das Übersetzungsrecht. Die europäischen Vertreter strebten ein exklusives Übersetzungsrecht der Urheber an, das für die gesamte Dauer des Urheberschutzes gültig sein sollte – laut Berner Übereinkunft seit 1928 für die Lebensdauer plus 50 Jahre nach dem Tod des Autors. Dagegen plädierten die amerikanischen Entwürfe für ein limitiertes Übersetzungsrecht, das innerhalb von zehn Jahren nach der Erstveröffentlichung eines Werkes in Anspruch genommen werden musste. Und Japan drohte sogar mit einem Boykott, sollte nicht die vollständige Übersetzungsfreiheit eingeführt werden. Die scharfen Debatten in den einzelnen Kommissionen und ein erneutes Eingreifen der Generalversammlung des Völkerbundes im Oktober 1937 in dieser Frage zeigen, dass es nicht nur um ein rechtsinternes Problem ging. Vielmehr offenbarte sich hier eine kultur- und gesellschaftspolitische Spannung zwischen den nichteuropäischen Staaten und den europäischen, insbesondere westeuropäischen Staaten, die zu diesem Zeitpunkt im großen Umfang ihre kulturellen Güter in andere Weltregionen exportierten. Hinter dem Streit um das Übersetzungsrecht stand die Diskussion um kulturelle Rückständigkeit der außereuropäischen Staaten. Diese fürchteten, dass das auf die Interessen der europäischen Kulturproduzenten zugeschnittene Übersetzungsrecht ihren Zugang zu Wissensbeständen und kulturellen Hervorbringungen verstellen und so künstlich ein kulturelles und – mit Blick auf die Wissenschaften – technologisches Gefälle zwischen Europa und den (süd-)amerikanischen Staaten

9

Zu den Formalitäten: Röthlisberger, Ernst, Der interne und internationale Schutz des Urheberrechts in den Ländern des Erdballs, Leipzig 1914.

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aufrechterhalten würde. 10 Diese auch schon innerhalb der Berner Übereinkunft geführte Diskussion durchzog die 1930er-Jahre und wird seit den 1950er-Jahren im Rahmen von Entwicklungshilfe und der Problematik des Nord-Süd-Gefälles fortgeführt. Liest man heute die Vorbemerkung, die Beschlüsse, Berichte und Vorentwürfe der vorbereitenden Dokumentation, die einvernehmlich für die politische und rechtliche Machbarkeit dieser Weltkonvention eintraten, übersieht man schnell das enorme gesellschaftspolitische Konfliktpotential, das sich hinter dem Streit um die Formulierung einzelner Paragrafen verbarg sowie die praktischen Schwierigkeiten, auf die das rechtspolitisch ambitionierte Vorhaben stieß. Entsprechend umstritten war das Projekt der Weltkonvention bei den Zeitgenossen. Die emphatischen Befürworter fanden sich im Völkerbund und in den internationalen Verbänden der Autoren und Verleger. Die Mitglieder der Berner und der Panamerikanischen Union, deren Interessen die Weltkonvention auszutarieren versuchte, äußerten sich dagegen zurückhaltender. Das Berner Büro, der ständige Sitz der Berner Union, fürchtete einen Verlust des im Vergleich zu den Panamerikanischen Verträgen hohen Schutzniveaus und reagierte mit einem Gegenvorschlag, dessen Ziel vor allem der Erhalt des europäischen Status quo war. In Person seines Direktors Fritz Ostertag veröffentlichte das Büro den Entwurf einer „Brückenkonvention“, die die bestehenden Konvention unangetastet lassen und sie nur mit Hilfe einer dritten, übergreifenden Konvention miteinander in Verbindung setzen wollte. Ähnlich reagierten die beteiligten Staaten in Europa und in Amerika, die die Vorteile der Vertragsarbeiten für ihre eigenen nationalen Interessen genau abwogen. Und schließlich hielten einige Experten die Weltkonvention für politisch unrealistisch und rechtlich unerwünscht. 11 Wie entwickelte sich das Projekt einer Weltkonvention zum Schutz von Urheberrechten nach 1938? Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges unterbrach die Vorarbeiten und machte auch die Einberufung der Konferenz 1939 in Brüssel unmöglich. Nach dem Kriegsende zeigte sich jedoch bald, dass mit dem Krieg das Projekt nicht im Ganzen gescheitert war, sondern nur unterbrochen wurde. 1946 knüpfte die UNESCO als direkte Nachfolgeinstitution des Instituts für geistige Zusammenarbeit an die Vorarbeiten desselben an und erreichte schließlich 1952 den Abschluss des Welturheberrechtsabkommens. Dieses formulierte einen Mindeststandard für den Schutz von Urheberrechten im Sinne eines kleinsten gemeinsamen Nenners, der allen Staaten der Welt einen Beitritt ermöglichen sollte. In den 1930er-Jahren scheiterte der Versuch, die Interessen der europäischen Kulturproduzenten weltweit und ihren wirtschafts- sowie kulturpolitischen Ansprüchen gemäß in Form eines hohen Rechtsstandards festzuschreiben. Das von der UNESCO in der Nachkriegszeit realisierte Welturheberrechtsabkommen etablierte zwar einen globalen Rechtsschutz, allerdings auf einem viel bescheideneren 10 Mit dieser Begründung verweigerte Uruguay dem Deutschen Reich 1927 den Beitritt zur Konvention von Montevideo: Schreiben der Regierung von Uruguay an das Auswärtige Amt vom 08.02.1927, in: Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes Berlin (PolArch, R 43761). 11 Bogsch, Arpad, La convention universelle sur le droit d’auteur. Exégèse, Paris 1953.

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Niveau als es in der Zwischenkriegszeit vorgesehen war. Bemerkenswert war das geschlossene Auftreten der europäischen Akteure besonders in den 1930er-Jahren, das auch die faschistischen Regime und Militärdiktaturen einschloss. Denn zeitgleich zum Anwachsen feindlich gesinnter Nationalismen und der Vorbereitung eines militärischen Konfliktes verfolgten die in der Berner Union zusammengeschlossenen europäischen Staaten ein gemeinsames rechts- und kulturpolitisches Anliegen, das von den großen politischen Krisen dieser Zeit unberührt blieb. Das heißt, im Bereich des geistigen Eigentums kann man in Europa eine starke rechtspolitische Kontinuität beobachten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts auf europäischer Ebene institutionell so etabliert war, dass sie sich trotz der politischen Konflikte zwischen den Staaten der Berner Union in der Zwischenkriegszeit und über den Zweiten Weltkrieg hinweg bis in die Nachkriegszeit hinein als relativ krisenfest erwies. Literaturhinweise Löhr, Isabella, Die Globalisierung geistiger Eigentumsrechte. Neue Strukturen internationaler Zusammenarbeit, 1886–1952, Göttingen 2010. Ricketson, Sam, The Berne Convention for the Protection of Literary and Artistic Works: 1886–1986, London 1987. Royer, Claude, La protection internationale du droit d'auteur en Amérique et les tentatives de rapprochement des conventions panaméricaines et de la Convention de Berne, Toulouse 1942. Siegrist, Hannes, Geistiges Eigentum im Spannungsfeld von Individualisierung, Nationalisierung und Internationalisierung. Der Weg zur Berner Übereinkunft von 1886, in: Hohls, Rüdiger; Schröder, Iris; Siegrist, Hannes (Hgg.), Europa und die Europäer. Quellen und Essays zur modernen europäischen Geschichte, Wiesbaden 2005, S. 52–61. Weiss, Raymond, Vers un droit d’auteur universel, in: Journal de Droit International Privé (1931), S. 786–800.

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Quelle Internationales Institut für geistige Zusammenarbeit: Vorbereitungen für eine Weltkonvention zum Schutz von Urheberrechten (1938) 12 I Wunsch der Konferenz von Rom zur Revision der Berner Übereinkunft (auf Vorschlag der Delegationen von Frankreich und Brasilien am 2. Juni 1928 einstimmig angenommen) 13 Die Konferenz hat in Erwägung gezogen, dass die Berner Konvention, revidiert in Berlin und dann in Rom, und die von den amerikanischen Staaten im Jahre 1910 in Buenos Aires unterzeichnete und später im Februar 1928 in Havanna revidierte Konvention in den wesentlichen Grundzügen und Zielen identisch sind; sie hat ferner festgestellt, dass die Mehrzahl der Bestimmungen der beiden Konventionen übereinstimmen; sie gibt daher, den Anregungen der französischen und der brasilianischen Delegation folgend, dem Wunsche Ausdruck, dass einerseits die amerikanischen Republiken, die eine Konvention unterzeichnet haben, der nichtamerikanische Staaten nicht beitreten können, dem Beispiel Brasiliens folgend, ihren Beitritt zu der in Rom revidierten Berner Konvention erklären mögen, und dass anderseits alle interessierten Regierungen zur Vorbereitung eines allgemeinen Abkommens Fühlung nehmen mögen, das die ähnlichen Prinzipien der beiden Konventionen zur Grundlage und die Vereinheitlichung der Gesetze zum Schutze der Geistesschöpfungen auf der ganzen Welt zum Zweck haben würde.

II Einleitung in die Vorarbeiten für den Abschluss einer Weltkonvention zum Schutz von Urheberrechten, 1938 Mit einem Zirkular vom 6. Juni 1936 hat die königlich belgische Regierung ihre diplomatischen Vertreter beauftragt, den Regierungen der Mitgliedsländer und der NichtMitgliedsländer der internationalen Union für den Schutz literarischer und künstlerischer Werke die Vertagung der Revisionskonferenz der Berner Übereinkunft mitzuteilen, die für den 6. September 1936 einberufen war. Zugleich hat die belgische Regierung ihnen ihre Absicht mitgeteilt, zum Anlass dieser Revisionskonferenz eine zweite Konferenz

12 Auszüge aus: Conférence diplomatique pour la préparation d’une convention universelle sur le droit d’auteur. Fascicule 1: Documents préliminaires publiés par l’administration belge et l’Institut International de Coopération Intellectuelle, Bruxelles, Ministère de l’Instruction Publique du Royaume de Belgique 1938. Übersetzung, soweit nicht anders vermerkt, von Isabella Löhr. Die Quelle sowie das französische Original sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . 13 Übersetzung zitiert nach Raymond Weiss, Vereinheitlichung des Urheberrechts durch eine Annäherung der Konventionen von Bern und Havanna, in: GRUR (1930) H. 3, S. 289.

Europäischer Urheberschutz

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einzuberufen mit dem Auftrag, eine Weltkonvention zum Schutz von Urheberrechten zu erarbeiten. Mit dieser Initiative hat die belgische Regierung auf der einen Seite den Vorschlägen der brasilianischen Regierung Rechnung getragen und auf der anderen Seite den Empfehlungen eines internationalen Expertenkomitees, das sich im April 1936 in Paris auf Einladung des Internationalen Instituts für geistige Zusammenarbeit und dem Internationalen Institut für die Vereinheitlichung des Privatrechts in Rom versammelte. Ein bedeutendes Vorhaben obliegt der zweiten geplanten Konferenz, die sich von der Revision der Berner Übereinkunft, die Kraft des Art. 24 der Berner Konvention einberufen wird, unterscheidet. Die geplante Konferenz ist eine Reaktion auf die übereinstimmenden Beschlüssen der IX. Generalversammlung des Völkerbundes und der VII. Internationalen Konferenz der Amerikanischen Staaten, ein weltweites Abkommen zu schließen, das schon die Konferenz von Rom zur Revision der Berner Übereinkunft wünschte. Seit dieser letzten Konferenz werden Anstrengungen auf beiden Kontinenten angestellt mit dem Ziel, entweder den Zusammenschluss oder die Annäherung der beiden aktuellen Systeme zum Schutz von Urheberrechten zu erreichen: auf der einen Seite die Berner Übereinkunft, auf der anderen Seite die Panamerikanischen Konventionen, von denen die letzte im Februar 1928 in Havanna unterzeichnet wurde. Diese Bemühungen sind eine Antwort auf das viele Male formulierte Bestreben der Berufsverbände, die sich der Verteidigung des Urheberrechts verschrieben haben. In technischer Hinsicht haben die seit acht Jahren verfolgten Studien des Internationalen Instituts für geistige Zusammenarbeit in Kooperation mit dem Internationalen Institut für die Vereinheitlichung des Privatrechts in Rom bereits gezeigt, dass alle ernstzunehmenden Divergenzen, die in Bezug auf bestimmte Aspekte zwischen den beiden kontinentalen Systemen existieren, keine unüberwindlichen Hindernisse für ein weltweites Bündnis darstellen sollten. Die gleiche Schlussfolgerung arbeitete das Amerikanische Institut für Internationales Recht in einem Bericht heraus, den es der VII. Internationalen Konferenz der Amerikanischen Staaten vorlegte. Zwei Konventionsentwürfe, die auf unterschiedlichen Grundlagen entwickelt wurden, stehen ab sofort für die Regierungen zur Beratung zur Verfügung. Der erste wurde ausgearbeitet von der Interamerikanische Kommission von Montevideo, der andere von einem Expertenkomitee, das in Paris auf Einladung der Internationalen Institute von Paris und Rom tagte und an dem neben anderen amerikanischen Persönlichkeiten auch der Präsident der genannten Kommission teilnahm. Der Moment ist gekommen, den Regierungen mit der vorliegenden Sammlung die ersten Bestandteile der Dokumentation zu übermitteln, die im Hinblick auf die Weltkonferenz bereits erstellt wurden.

ABSTRAKTE KUNST ALS INSTRUMENT DES KALTEN KRIEGES DER KULTUREN. DER WETTBEWERB FÜR DAS DENKMAL DES UNBEKANNTEN POLITISCHEN GEFANGENEN 1952/53 1 Eckhart Gillen

Nicht nur im sowjetischen Machtbereich in Mittel- und Osteuropa, sondern auch in der westlichen Hemisphäre wurde Anfang der 1950er-Jahre mit Denkmälern Propaganda gemacht für die eigene Weltanschauung. Der Westen setzte den Begriff der Freiheit als Waffe im Kalten Krieg der Kulturen gegen das östliche Schlagwort der Gleichheit ein. Unter der Parole „Freiheit im Angriff“ 2 versammelte der Kongreß für kulturelle Freiheit, der erstmals 1950 in Westberlin abgehalten wurde, 180 Intellektuelle aus 21 Ländern. Der Kongress verstand sich als eine „kulturelle Luftbrücke“ und verfolgte das Ziel, das Propagandamonopol der ‚Friedenspartisanen‘ und ähnlicher Tarnorganisationen der sowjetisch gesteuerten Friedenskongresse in der Kulturwelt zu brechen. In diesem Klima wird im Januar 1952 der Wettbewerb um ein Denkmal für den „Unbekannten politischen Gefangenen“ vom Institute of Contemporary Art (ICA) in London ausgeschrieben. Er soll an alle unbekannten Männer und Frauen erinnern „who in our time have given their lives or their liberty to the cause of human freedom“. 3 Es bleibt also, typisch für den Kalten Krieg, bewusst offen, ob die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten oder die Unterdrückung der freien Meinung durch die Sowjetunion in Mittel- und Osteuropa gemeint ist. Den teilnehmenden Künstlern stellt man frei, ob sie das Thema gegenständlich oder nichtgegenständlich behandeln wollen. Die Zusammensetzung der Jury macht aber deutlich, dass die Sprache der Abstraktion erwünscht ist. Künstler aus allen Ländern, also auch aus den kommunistisch beherrschten Staaten, werden eingeladen. Ein in sieben Sprachen (darunter auch Russisch) verfasster Prospekt ruft zur Teilnahme auf und erklärt die Modalitäten des Wettbewerbs. Die unter sowjetischem Einfluss stehenden osteuropäischen Länder boykottieren allerdings den Wettbewerb, da sie die beabsichtigte Tendenz zu erkennen glauben. In der Öffentlichkeit tritt Anthony Kloman, von Juni 1951 bis Oktober 1953 Programmdirektor des 1946 von Herbert Read und Roland Penrose gegründeten ICA, als 1

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Essay zur Quelle: Reg Butler: Working Model for „The Unknown Political Prisoner“ (1955–56). Essay und Quellen sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Schlagzeile des Berichts von Rudolf Pechel über den Westberliner Kongress in der Deutschen Rundschau 73, 1950. Ausschreibungsunterlagen, ICA, London, „International Sculpture Competition“, 1952, zitiert nach Marter, Joan, The Ascendancy of Abstraction for Public Art: the Monument to the Unknown Political Prisoner Competition, in: Art Journal 53 (1994), H. 4, S. 28–36.

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Initiator des Wettbewerbs auf. Er war zuvor im amerikanischen Geheimdienst tätig und agiert offensichtlich als Kontaktmann zu einer Reihe von amerikanischen Persönlichkeiten im State Department und dem CIA. Offiziell wird zwar das ICA in allen Publikationen als Sponsor des Wettbewerbs genannt. Das Geld kommt aber von Klomans amerikanischen Hintermännern. Ein Organisationskomitee wird eingerichtet, in dem neben Kloman und Read als Vorsitzenden, der Direktor der Tate Gallery, Sir John Rothenstein und der Bildhauer Henry Moore sitzen. 4 Die Finanzen für den Wettbewerb, für den etwa 90.000 Dollar bereitstehen, kommen aus anonymen Quellen. 5 Es soll der Anschein erweckt werden, dass der Wettbewerb auf rein idealistischen Motiven beruhe. Bis zum Einsendeschluss am 1. Juni 1952 folgen 3.500 Bildhauer aus 57 Ländern 6 dem Aufruf. Das ICA organisiert Vorjurys und Ausstellungen in Deutschland, England, Frankreich, Italien, Österreich, Norwegen und den Vereinigten Staaten. Die stärkste Beteiligung am Wettbewerb stellt die junge Bundesrepublik Deutschland mit 262 Einsendungen. Zusammen mit 46 Beiträgen aus der Schweiz werden sie zum Jahreswechsel 1952/53 im Haus am Waldsee in BerlinZehlendorf ausgestellt. Dort findet vom 8. bis 10. Dezember 1952 die Regionaljury statt, der von westdeutscher Seite Will Grohmann, der Kunsthistoriker Hans Hildebrandt, Carl Linfert, Herbert Pée, und Hans Scharoun, aus der Schweiz Carola Giedion-Welcker und der Direktor der Kunsthalle Bern und spätere Förderer der Abstrakten Expressionisten, Arnold Rüdlinger, angehören. Hinzugezogen werden noch Karl Ludwig Skutsch als Leiter des Hauses am Waldsee und Adolf Jannasch als damaliger Leiter des Berliner Hauptamtes für Kunst. Den Preis der Bundesregierung mit 2.000 DM und den Anerkennungspreis des ICA bekommt Bernhard Heiliger. Der Preis des Berliner Senats mit ebenfalls 2.000 DM wird Egon Altdorf zugesprochen. Hans Uhlmann erhält den Preis des Kulturkreises im Bundesverband der Deutschen Industrie mit 2.500 DM. 7 Während ältere Bildhauer wie Gerhard Marcks, Ewald Mataré, Richard Scheibe fehlen, sieht die junge westdeutsche Künstlergeneration im Wettbewerb ihre große Chance, sich einem internationalen Publikum bekannt zu machen. Bernhard Heiliger erinnert sich Jahre später folgendermaßen daran: „[D]ieser Wettbewerb war eine große Geschichte für viele, vor allem für die deutschen Bildhauer, denn die meisten wurden dadurch erstmals im Ausland wahrgenommen.“ 8

Das Thema des Wetteberwebs passt zu der damals nicht nur in Westdeutschland vorherrschenden Tendenz, die eigene Schuld am Völkermord an den europäischen 4 5 6 7

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Vgl. Lapp, Axel, The International Sculpture Competition on the Theme of the Unknown Political Prisoner, London 1951–1953, Diss. Manchester 1998, S. 107ff. Lapp, S. 113f. Laszlo Glozer in Ausst.-Kat. Westkunst. Zeitgenössische Kunst seit 1939, Köln 1981, S. 184. Vgl. International Sculpture Competition. Ausstellung der deutschen und schweizerischen Modelle für den Londoner Wettbewerb zum ‚Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen‘, Berlin 1953. Bernhard Heiliger, Interviewmontage, in: Ausst.-Kat. Grauzonen-Farbwelten. Kunst und Zeitbilder 1945–1955, Berlin 1983, S. 297f.

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Juden und in den besetzten osteuropäischen Ländern durch ein allgemeines Gedenken an die ‚Opfer totalitärer Regime‘ zu verdrängen. Der im Juni 1950 ausgebrochene Koreakrieg und der ostdeutsche Aufstand vom 17. Juni 1953 überlagern die Verbrechen der Vergangenheit und suggerieren eine ständige ‚Bedrohung aus dem Osten‘. Die deutschen Modelle für den Wettbewerb variieren immer wieder die abstrahierte Figur eines Gefangenen, der von gitterartigen Konstruktionen umfangen wird (Karl Hartung, Bernhard Heiliger). Fritz König platziert die Skulptur in eine kreisrunde Vertiefung, vergleichbar einem Raubtierzwinger (1952). Hans Uhlmann lässt sich mit seinem am weitesten in die Abstraktion getriebenen Stahlmodell von den eigenen Vogelskulpturen dieser Jahre inspirieren. Das Flattern von Flügeln, die einer fallenartigen Eisenkonstruktion zu entkommen versuchen, erinnert an den Vogel als Freiheitssymbol. Bernhard Heiliger formt eine kniende, nackte Figur ohne Kopf und Arme, die von senkrechten und waagrechten Gitterstäben mit nach innen gerichteten Dornen eingeschlossen wird. 9 Konsequent setzt Heiliger auf den Kontrast zwischen den glatten organischen Formen der Figur und den starren und bedrohlichen Zacken der käfigartigen Umhausung, denen sie sich zu entwinden sucht. Dem Bronzeguss fehlt im Gegensatz zur im Haus am Waldsee ausgestellten Maquette die den Käfig abschließende Querstange. 10 Das Publikum tut sich in Westberlin, aber auch in London sichtlich schwer, diesen Denkmalsentwürfen einen Sinn abzugewinnen. Besonders die Berliner Morgenpost gibt der Stimme des Volkes in ihren Leserbriefspalten breiten Raum. Am 18. Januar 1953 erscheint eine Karikatur, die einen kopfstehenden Besucher vor der abstrakten Skulptur von Uhlmann zeigt. Besonders in den preisgekrönten Modellen von Heiliger und Uhlmann sieht man „geradezu eine Verhöhnung unserer Gefangenen“. 11 Unbeeindruckt von Volkes Stimme bewirbt sich der Regierende Bürgermeister, Ernst Reuter, noch vor der zentralen Jurysitzung in London im Frühjahr in einem Brief an Anthony Kloman vom 21. Februar 1953 für Berlin als zukünftigen Standort des Siegerentwurfs mit der Frontstadt-Argumentation jener Jahre: „Berlin ist seit Jahr und Tag ein Vorposten der demokratischen Welt, umgeben von sowjetisch beherrschtem Gebiet, ein Zentralpunkt des Kampfes der Freiheit gegen die Unterdrückung und Tyrannei.“ 12

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Vgl. Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen 1952, Bronzeguss, in: HeiligerRetrospektive, Presse, Ausstellungshighlights, URL: (12.06.2017). 10 Vgl. Bernhard Heiliger 1915-1995. Monographie und Werkverzeichnis, Ausst.Kat., Köln 2005, S. 126ff. 11 Zitiert aus der Berliner Morgenpost, in: Fischer-Defoy, Christine, Opfer Hitlers – Opfer Stalins? Der internationale Wettbewerb für ein Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen und das Engagement der Akademie der Künste, in: ‚Die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen‘, Ausst.Kat. Akademie der Künste, Berlin 1996, S. 650. 12 Reuter, Ernst, Brief an Anthony Kloman, Landesarchiv Berlin (LAB), Rep. 14/311, zitiert nach Fischer-Defoy, S. 651.

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Als Ergebnis der nationalen Vorauswahlen werden schließlich 140 Werke in einer Ausstellung der Londoner Tate Gallery (12. März – 3. Mai 1953) dem Publikum präsentiert, zu der immerhin 30.000 Besucher kommen. Vor der Ausstellungseröffnung tagt vom 9. bis 11. März 1953 eine internationale Jury 13 unter dem Vorsitz des Direktors der Londoner National Gallery, Sir Philip Hendy, der unter anderem Herbert Read, zugleich Präsident des ICA, Will Grohmann, Giulio Carlo Argan, Alfred H. Barr vom MoMA und zeitweise der amerikanische Kunstkritiker James Johnson Sweeney angehören. Sie zeichnet den Entwurf von Reg Butler mit dem ersten Preis über 4.500 Pfund aus. Mirko Basaldella, Naum Gabo, Barbara Hepworth und Antoine Pevsner erhalten je 750 Pfund. Lynn Chadwick, Alexander Calder, Richard Lippold, Henri-Georges Adam, Luciano Minguzzi, Max Bill und Margel Hinder werden je 250 Pfund zugesprochen. Naum Gabo als amerikanischer Staatsbürger (seit 1952) und sein Bruder Antoine Pevsner als Vertreter Frankreichs sind als Protagonisten des russischen Konstruktivismus und Emigranten der zwanziger Jahre willkommene Zeugen gegen die Unfreiheit der Kunst in der Sowjetunion. Reg Butlers Modell besteht aus drei Elementen: einem Felsen als Sockel, auf dem drei Frauenfiguren aus Bronze als Zeuginnen und Beobachterinnen stehen, und eine riesige in den Himmel ragende Eisenkonstruktion auf drei Beinen, die an einen Wachturm erinnern soll (Abb. 5, S. 262).14 In der geplanten Ausführung sollten die Frauenfiguren mit drei Metern Höhe übermenschengroß werden. Der Turm war auf 30 bis 40 Meter Höhe geplant, da Reg Butler ihn ursprünglich an der zerklüfteten Küste von Cornwall errichten wollte. Der Felsen war also von Anfang an Teil der Komposition. In einem Text zu seinem Entwurf erläutert er, dass er anfangs „eine Figur in Beziehung zu einer unheilvollen und einem Foltergerät ähnlichen Metallkonstruktion“ vor sich sah, dann aber nach langen Überlegungen schließlich auf die zentrale Figur des Gefangenen verzichtete, da das Verhältnis zwischen Figur und Turm immer falsch gewesen sei. Die Figur würde womöglich wie ein Mechaniker wirken, der einen Radarturm repariert. 15 Der Turm kann in den Augen des Künstlers Galgen, Guillotine, Kreuz und Kreuzigung sein. Damit greift der Künstler auf die christliche Ikonografie zurück. In den Frauenfiguren vor dem leeren Käfig kann man die drei Marien am leeren Grab des auferstandenen Christus sehen. Der politische Gefangene wird in Beziehung zu seinem Vorbild Christus nobilitiert und erlöst. 16 Kurz nach der Eröffnung der Londoner Ausstellung der internationalen Entwürfe, zerstört am 15.März 1953 der 28-jährige ungarische Flüchtling László 13 Vergeblich hat man versucht, Juroren aus dem sowjetischen Machtbereich zu gewinnen. Der in London lebende Kunstwissenschaftler Vladimir (Viczor) Kemenow, der Interesse signalisiert hatte, zog sich auf Geheiß der sowjetischen Botschaft zurück und wurde durch den Norweger Per Rom ersetzt. (Lapp, S. 122ff.) 14 Vgl. auch The Tate Gallery 1978–80: Illustrated Catalogue of Acquisitions, zu Reg Butler Working Model for ‚The Unknown Political Prisoner‘ 1955–56, London 1980. 15 Reg Butler, Zum Entwurf für das Denkmal des Unbekannten Politischen Gefangenen, in: das kunstwerk, 11 (1957/58), H. 2, S. 34f. 16 Vgl. Marter, Joan, The Ascendancy of Abstraction for Public Art, S. 28–36.

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Szilvassy, der offenbar selbst ein politischer Gefangener gewesen ist, das Modell Butlers. In einer schriftlichen Erklärung, die er dem Wachpersonal aushändigt, wird das Dilemma des ganzen Wettbewerbs, der sich auch in den negativen Pressereaktionen niederschlägt, deutlich: „Diese unbekannten Gefangenen waren und sind menschliche Wesen. Die Erinnerung an die Toten und die Leidenden auf Schrottmetall zu reduzieren, ist genauso ein Verbrechen, als würde man sie einäschern oder entsorgen. Es ist Ausdruck des völligen Mangels an Humanität.“ 17

Da das Publikum offensichtlich kein Mitgefühl für Drahtplastiken oder kopf- und armlose Rumpfgebilde entwickeln kann, droht der von den amerikanischen ‚Hintermännern‘ beabsichtigte politische Appell ins Leere zu laufen. Auch die Kritik moniert die mangelhafte künstlerische Qualität und wundert sich über die fehlende Beteiligung von weltweit bekannten Bildhauern wie Arp, Brancusi, Epstein, Giacometti, Lipschitz, Marini, Moore, Germaine Richier, Zadkine. Sicher hielten sich viele bekannte Künstler zurück, weil sie ahnten, dass ein öffentliches Denkmal von seinem politischen Zweck und den daraus entstehenden Kontroversen in der Öffentlichkeit weitgehend bestimmt wird und der Auftrag infolgedessen eine Eigendynamik entwickelt, die vom Künstler nicht mehr beherrscht werden kann. Der Kritiker John Berger bezeichnet den Wettbewerb 1953 im New Statesman and Nation als ein vollkommenes Fiasko. Er habe statt das Publikum für moderne Skulptur zu begeistern, dieses der modernen Kunst entfremdet. Außerdem habe der Wettbewerb kein einziges bedeutendes Kunstwerk hervorgebracht. 18 Reg Butler träumt davon, das Denkmal in der Größe der Nelson-Säule auf einem öffentlichen Platz in London oder an der Steilküste von Dover verwirklicht zu sehen. Ursprünglich ist ein Standort des Denkmals am Lake Success auf Long Island an der Grenze zum New Yorker Stadtteil Queens geplant, wo von 1946 bis 1951 das Hauptquartier der Vereinten Nationen angesiedelt war. Die Organisatoren verfolgen die Idee, eine ganze Reihe von Denkmälern an verschiedenen prominenten Orten der Welt zu errichten. Neben Amsterdam ist schließlich Berlin der einzige Ort, der sich ernsthaft für das Denkmal von Butler interessiert. Die von den Vereinigten Staaten besonders geförderte Frontstadt des Kalten Krieges scheint dafür der richtige Ort zu sein. Die Realisierung von Butlers Entwurf wird vor allem durch den Berliner Senat, die Akademie der Künste, Will Grohman und Anthony Kloman vorangetrieben. Grohmann schreibt darüber in der Neuen Zeitung und hält einen werbenden 17 „Those unknown political prisoners have been and still are human beings. To reduce them – the memory of the dead and the suffering of the living – into scrap metal is just as much a crime as it was to reduce them into ashes or scrap. It is an absolute lack of humanism.“ Publiziert am 24. März 1953 in The Times, London, zitiert nach Joan Marter. Butler fertigte zwei Kopien, eine wurde wieder in der Tate Gallery aufgestellt, die andere wurde vom MoMA angekauft. Ein vergrößertes Arbeitsmodel ging später nach Westberlin. 18 Berger, John, The Unknown Political Prisoner, in: New Statesman and Nation 45 (1953), 21. März, S. 337– 338.

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Vortrag im Amerikahaus. Die Akademie der Künste lädt Kloman im März 1956 ein, und ihr Präsident, der Architekt Hans Scharoun, beauftragt den Direktor der Abteilung Dichtung, Hans Egon Holthusen (ein ehemaliges Mitglied der SS! 19), mit einem Gutachten, das als erstes Heft der Reihe Anmerkungen zur Zeit im Mai 1956 erscheint. Nonchalant verbindet Holthusen hier das Motiv von Berlin als Insel der Freiheit mit der Entsühnung aller Untaten der Vergangenheit: „Wenn der Butlersche Turm hier seinen Platz finden könnte, so würde sich damit seine geistige, moralische und politische Bestimmung in mehr als nur einem Sinne erfüllen. Er würde dann verstanden werden müssen nicht nur als ein Mahnmal im gegenwärtigen Kampf zwischen Freiheit und Tyrannei und als Sinnbild des politisch-moralischen Selbstbewusstseins dieser Stadt als einer Insel der Freiheit, sondern auch als ein Zeichen der Erinnerung an alles, was einst, von Berlin aus befohlen, an politischen Verbrechen in Deutschland getan und erlitten wurde. Ein Motiv der Entsühnung und der Elan einer kämpferischen Geistesgegenwart würden sich verbinden.“ 20

Standorte auf dem Teufelsberg (ein Trümmerberg, auf dem dann eine Radaranlage entstand) im Grunewald, am Tiergarten, in der Nähe des Bahnhofs Zoo, auf dem Campus der Freien Universität in Dahlem und schließlich auf einem Flakbunker im Humboldthain, Bezirk Wedding, direkt an der Sektorengrenze zu Ostberlin, stehen zur Debatte. Die Ingenieure schätzen die Kosten auf über 100.000 Dollar. Das Denkmal soll zum internationalen Architektenkongress im Sommer 1957 fertig gestellt sein. Der Berliner Senat entscheidet sich im April 1957 für den Luftschutzbunker im Humboldthain, der nach einem Sprengversuch der Franzosen 1945 zum Trümmerberg aufgeschüttet und begrünt worden war. Butler wird im Juni 1957 nach Berlin eingeladen und macht eine Fotomontage von diesem neuen Standort. 21

19 Er trat 1933 in die SS-Standarte „Julius Scheck“ ein, der er nachweislich noch 1943 angehört hat. Er schrieb darüber unter dem Titel Freiwillig zur SS, in: Merkur 20 (1966), S. 921, S. 1037. Vgl. den Fall der Schriftstellerin Mascha Kaléko, die 1959 den Fontane-Preis der AdK ablehnt, weil Holthusen in der Preisjury saß. Vgl. „... und die Vergangenheit sitzt immer mit am Tisch“. Dokumente zur Geschichte der Akademie der Künste (West) 1945/1954–1993, hrsg. von der Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Ausgewählt und kommentiert von Christine Fischer-Defoy. Mit einem Vorwort von Walter Jens, Berlin 1997, S. 229–232. 20 Holthusen, Hans Egon, Gutachten der Akademie der Künste zum Entwurf eines Denkmals des unbekannten politischen Gefangenen, in: Anmerkungen zur Zeit 1 (1956), o.S. 21 Vgl. Burstow, R., Butler’s Competition Project for Monument to ‚The Unknown Political Prisoner‘: Abstraction and Cold War Politics, in: Art History 12 (1989), H. 4, S, 472–496.

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Abb. 6: Fotomontage von Reg Butler 22

Hier soll das 30 Meter hohe Monument weit in den Ostsektor Berlins hinein sichtbar sein und bekommt so als Gegendenkmal zum Sowjetischen Ehrenmal im Treptower Park einen klaren Propagandaauftrag. Das ebenfalls 30 Meter hohe Standbild eines Sowjetsoldaten mit Kind und gesenktem Schwert auf einem zerstörten Hakenkreuz steht auf einem als Mausoleum genutzten Sockel. Es bildet das Zentrum eines riesigen Begräbnisplatzes für mehr als 7.000 bei der Eroberung Berlins gefallene Sowjetsoldaten und sechs Generäle. Die Bronzefigur des Befreiers von J. Wutschetitsch nach dem Modell des sowjetischen Kriegsveteranen und Arbeiters I.S. Odartschenko entstand 1947–1949 (Abb. 7, S. 263). 23 Hier also hätte das Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen als optischer Appell an den noch unbefreiten anderen Teil Deutschlands im Ostsektor Berlins wirken können. Die Finanzierung des Butler-Denkmals erweist sich allerdings als unlösbare Aufgabe. Die politisch interessierten Kreise um die CIA, die seinerzeit zu den Initiatoren zählten, verlieren bald das Interesse an dem Berliner Projekt. Am 14. Juni 1964 werden vom Berliner Senat die Akten zum Denkmal geschlossen. Grohmann schreibt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 10. September 1965 noch eine „Elegie auf ein Monument“: An der Brüsseler Weltausstellung von 1958 habe das Modell für das Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen noch neben einer Kolossalstatue von Lenin und dem originalgroßen Modell des Sputnik II im Atomium gestanden. Seitdem habe sich das Interesse an der pointierten Inszenierung der Systemkonfrontation verloren. Nach dem Mauerbau 22 In: „... und die Vergangenheit sitzt immer mit am Tisch“. Dokumente zur Geschichte der Akademie der Künste (West) 1945/1954–1993, hrsg. von der Stiftung Archiv der Akademie der Künste. Ausgewählt und kommentiert von Christine Fischer-Defoy. Mit einem Vorwort von Walter Jens, Berlin 1997, S. 649ff. 23 Kioscha, Michael, Der Geist von Treptow, in: Absage – Ansage, Schriftenreihe DDR-Kultur 2 (1982), S. 6–16, hier S. 16.

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1961 und der Erprobung des Ernstfalls in der Kuba-Krise im Oktober 1962, zeichnet sich zuerst im Auge des Hurrikans, auf der Insel Westberlin, ein Paradigmenwechsel ab: Egon Bahr, engster Mitarbeiter von Willy Brandt, entwickelt dort ab 1963 das Konzept eines „Wandels durch Annäherung“. Die Zeit der Denkmäler für oder gegen die jeweiligen Weltbilder eines politisch, ideologisch und ökonomisch geteilten Europa ist damit eigentlich abgelaufen. Künstler wie Jochen Gerz, Hans Haacke, Allan Kaprow, A.R. Penck oder Wolf Vostell entwickeln fortan eine innere Distanz zu den ideologischen Kämpfen der 1950er-Jahre um Freiheit und Gleichheit und setzen eine grundsätzliche Ideologiekritik mit künstlerischen Mitteln, die auf eine Bewusstseinserweiterung ihres Publikums zielt, dagegen. Literaturhinweise Fischer-Defoy, Christine, Opfer Hitlers – Opfer Stalins? Der internationale Wettbewerb für ein Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen und das Engagement der Akademie der Künste, in: ‚Die Kunst hat nie ein Mensch allein besessen‘, Ausst.-Kat. Akademie der Künste, Berlin 1996. Gillen, Eckhart, Feindliche Brüder. Der Kalte Krieg und die deutsche Kunst 1945–1990, Berlin 2009. International Sculpture Competition. Ausstellung der deutschen und schweizerischen Modelle für den Londoner Wettbewerb zum ‚Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen‘, Berlin 1953. Lapp, Axel, The International Sculpture Competition on the Theme of the Unknown Political Prisoner, London 1951–1953, Diss. Manchester 1998.

POLNISCHE PLAKATKUNST ALS MEDIUM TRANSNATIONALER KUNSTKONTAKTE UND KULTURPOLITIK IM OST-WEST-KONFLIKT 1 Jeannine Harder

Die Polnische Schule der Plakatkunst hatte in den 1950er- und 1960er-Jahren in der internationalen Szene der angewandten Grafik einen ausgezeichneten Ruf. Weitaus stärker als Werke der zeitgenössischen polnischen Malerei oder Plastik erlangten die Plakate weltweit auch in nicht-sozialistischen Staaten Europas Anerkennung. Westliche Gebrauchsgrafiker lobten die Gestaltungsvielfalt und den Ideenreichtum der Polnischen Schule der Plakatkunst. Polnische Plakatkünstler genössen insbesondere in der Film- und Theaterwerbung ein außerordentliches Maß an gestalterischer Freiheit. Im Unterschied zur Plakatgestaltung in marktwirtschaftlich bestimmten Ländern sei die polnische Plakatkunst nicht an die beengenden wirtschaftlichen, motivischen, konzeptionellen und stilistischen Vorgaben der Werbeagenturen gebunden. Die in den 1950er-Jahren in Fachzeitschriften geführten Debatten über die Gestaltung von Filmplakaten zeigen, dass künstlerisch ambitionierte Gebrauchsgrafiker, die gegen die „Diktatur des schlechten Geschmacks“ 2 der schematischen, kitschigen Hollywood-Plakate aufbegehrten, häufig polnische Plakate als gelungene Alternativen anführten. Damals etablierte sich die polnische Plakatkunst in Europa als Muster für kulturelle Vielfalt und freie künstlerische Gestaltung. Nachdem polnische Plakate auf der Internationalen Plakatausstellung in Wien 1948 mehrfach ausgezeichnet und danach in internationalen Fachzeitschriften wie Graphis, Art and Industry und Modern Publicity gelobt worden waren, wurden für 1950 und 1951 Wanderausstellungen polnischer Plakate organisiert. Diese stießen in vielen europäischen Metropolen und größeren Städten auf großes Interesse. Sie machten Station in Belgien, der Schweiz, beiden deutschen Staaten, Ungarn, Rumänien, Norwegen, Schweden und Österreich. Polnische Plakate fanden trotz des sich stetig verschärfenden Ost-West-Konflikts großes Interesse. Die polnische Kulturpolitik propagierte nach den Kulturkonferenzen der Jahre 1948/49 die Leitlinien zum Sozialistischen Realismus nach dem Muster der Sowjetunion und wirkte so an der kulturellen Spaltung Europas mit. Doch in der internationalen Ausstellungspraxis verfolgte sie eine Strategie der Differenzierung. So 1

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Essay den Quellen: Abbildungen Polnischer Plakate (1949). Essay und Quellen sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Hölscher, Eberhard, Europäische Filmplakate, in: Gebrauchsgraphik 12 (1952), S. 6.

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sind in den Katalogen für die ungarische und rumänische Ausstellung fast keine der international gelobten Filmplakate von Eryk /LSLĔVNLXQG+HQU\N7RPDV]HZVNL]X finden, insbesondere keine zu französischen, englischen oder amerikanischen Filmen. Umgekehrt waren diese beiden Grafiker in den Ausstellungen in Brüssel, Oslo und Stockholm mit dreizehn bzw. vierzehn Arbeiten vertreten. Das heißt, die Ausstellungen in staatssozialistischen Ländern richteten sich stärker nach der künstlerischen Einheitsdoktrin des eigenen Landes im Rahmen des kommunistischen Blocks aus, während die Ausstellungen in nicht-sozialistischen Ländern sowohl thematisch als auch stilistisch vielseitiger waren. Die Bedeutung außenpolitischer Überlegungen für die Kulturkontakte geht aus der folgenden Analyse der Ausstellungen in den beiden deutschen Staaten hervor. Die Wanderausstellung Polnische Plakate war in der DDR ab Januar 1950 in Berlin (Ost), Leipzig, Halle und Magdeburg und von April 1950 bis Dezember 1951 in der Bundesrepublik in Baden-Baden, Konstanz, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Hamburg, Nürnberg, München, Stuttgart, Mannheim und Wiesbaden unterwegs. Organisator auf deutscher Seite war die Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft, zu dieser Zeit für Deutschland die einzige Institution, die sich um einen Brückenschlag zwischen Polen und Deutschland bemühte. Die Gerlach-Gesellschaft unterhielt nach der deutschen Teilung 1949 eine ostdeutsche Vertretung mit Hauptsitz in Berlin (Ost) und ab 1950 eine westdeutsche mit Hauptsitz in Düsseldorf und präsentierte sich öffentlich vorwiegend mit Kulturveranstaltungen. Mit ihren kultur- und friedenspolitischen Ausstellungen versuchte sie, die Interessen von drei Gruppen unter einen Hut zu bringen. Sie vertrat erstens Anliegen der SED und der Staatsführung der DDR, zweitens Anliegen der polnischen Außenpolitik (vor allem repräsentiert durch die Polnische Militärmission in Berlin) und drittens Anliegen einer heterogenen Gruppe von Polen-Interessierten, darunter Journalisten, Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen und Künstler. Während die SED und die polnische Seite vor allem die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze und damit ihrer Außenpolitik anstrebten, ging es der dritten Gruppe insbesondere um den kulturellen Austausch zwischen Deutschen und Polen. In den ersten Jahren bestimmte die SED-Führung, die als Gründungsinitiator aufgetreten war, sowohl inhaltlich als auch finanziell den Kurs der beiden Gesellschaften. 3 Die Ausstellungsreihe von polnischen Plakaten, die 1950 und 1951 in beiden deutschen Staaten stattfand, illustriert dabei, wie die SED bei der deutschpolnischen Annäherung aktiv wurde. Das Plakat von Józef Mroszczak 4 drückt in seiner Motivik die Ausstellungsidee aus (Abb. 8, S. 264): Vor nachtblauem Hintergrund ist ein monumentalisierter Pinsel dargestellt, der ein mit Reißnägeln an3

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Vgl. Lotz, Christian, Zwischen verordneter und ernsthafter Freundschaft. Die Bemühungen der Helmut-von-Gerlach-Gesellschaft um eine deutsch-polnische Annäherung in der DDR und in der Bundesrepublik (1948–1972), in: Hahn, Hans Henning; Hein-Kircher, Heidi; Kochanowska-Nieborak, Anna (Hgg.), Erinnerungskultur und Versöhnungskitsch, Marburg 2008, S. 201–219. Vgl. die zu diesem Essay mit veröffentlichte Abbildung 8, Mroszczak, Józef, Polnische Plakate, Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, PL 50/64a, 1949.

Polnische Plakatkunst

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geschlagenes Plakat vollendet, das das polnische Adlerwappen zeigt. Der Name der Schau „Polnische Plakate“ findet sich am oberen Rand in Sans Serif– Buchstaben in den polnischen Nationalfarben. Die Bezeichnung „Ausstellung“ im unteren Bildteil ist gekippt geschrieben und vermittelt so in den Bildraum. Konzeptionell vereinen sich in der Abbildung das Wappen als Symbol für den polnischen Staat und der Pinsel als Attribut des Malers. Der Plakatmaler wird in dieser Darstellung als Akteur dargestellt, der sich für die Gestaltung des neuen polnischen Staates und des Bildes von Polen engagiert. Mit der Plakatauswahl sollte dem Publikum ein bestimmtes Polenbild vermittelt werden. Für die Präsentation in der Fränkischen Galerie Nürnberg im August 1950 wurde dagegen nicht das von Mroszczak eigens für die Wanderausstellung entworfene Plakat genutzt, sonGHUQ HV ZXUGH DXI HLQ lOWHUHV IU HLQH 3UDJHU $XVVWHOOXQJ  YRQ 6WDQLVáDZ Zamecznik uQG(U\N/LSLĔVNLSURMHNWLHUWHV3ODNDW 5 zurückgegriffen (vgl. Abb. 9, S. 265). Inhaltlich und motivisch weisen beide Plakate offensichtliche Parallelen auf. Auf dem älteren von 1949 sind zur Werbung für die Ausstellung die Malerutensilien Palette und Pinsel abgebildet. Inhaltlich stellt es damit ebenso wie das von Mroszczak einen bildlichen Kommentar und eine künstlerische Positionierung zur 3ODNDWNXQVWGDU6RZRKOGDV$XVVWHOOXQJVSODNDWYRQ=DPHF]QLNXQG/LSLĔVNLDXV dem Jahr 1949 als auch das Werk von Mroszczak aus dem Jahr 1950 vermitteln die Auffassung, dass es sich beim Plakat um ein gemaltes Kunstwerk handelt. Trotz dieser Parallelen unterscheiden sich die beiden Plakate in ihrer Formensprache. Während Mroszczaks gestalterische Lösung in der Formgestaltung der einzelnen Bildkomponenten eher realistisch abbildend ist, ist die Bildsprache im PlaNDWYRQ=DPHF]QLNXQG/LSLĔVNLVWlUNHUDEVWUDKLHUHQG'LHDEJHELOGHWH)DUESDOHtte hebt sich einzig durch einen geringen Farbkontrast mit ihrem Weiß vom beigen Untergrund wie eine moderne Skulptur in fließender, amorpher Form ab. Die einheitlich oval geformten Farbflächen in Magenta, Cyan, Schwarz, Gelb und Blau sind als blickfangende Punkte verteilt, von unten schiebt sich der vordere Teil eines Pinsels in das Bildfeld, der die Handwerkzeuge des Plakatmalers komplettiert. Inhaltlich unterscheiden sich die beiden Plakate in ihrem bildlichen Kommentar zur Bedeutung des künstlerischen Anteils in der Plakatgestaltung. Während bei Mroszczak die Plakatmalerei – mit dem Symbol des monumentalen, von einer nicht sichtbaren, höherstehenden Macht geführten Pinsels – ihren Anteil an GHU(UVFKDIIXQJGHVSROQLVFKHQ6WDDWVEHLVWHXHUWLVWEHL=DPHF]QLNXQG/LSLĔVNL kein konkreter praktischer Zweck der Plakatmalerei zu erkennen. Die Abbildung von Palette und Pinsel ohne Bezug zum gebrauchsgrafischen Produkt zeigt eine autonome Kunst, für die vor allem die ästhetische Gestaltung von Bedeutung ist. Dieses Plakat vermittelte deshalb nach Auffassung der Organisatoren der westdeutschen Ausstellung den künstlerischen Schwerpunkt der Veranstaltung besser. In den deutschen Ausstellungen überwogen Plakate für Filme und Theaterstücke, daneben waren zahlreiche weitere für Messen, Sport, Kongresse, Kunstaus5

Vgl. die zu diesem Essay mit veröffentlichte Abbildung 9, =DPHF]QLN 6WDQLVáDZ /LSLĔVNL Eryk, Ausstellung Polnische Plakate, Stadtarchiv Nürnberg, A 28 Nr. 1950/60, 1949.

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stellungen und für Waren oder Dienstleistungen zu sehen. Politische Plakate waren – im Unterschied zu den Ausstellungen in Ungarn und Rumänien – in der Minderheit und nur bei einigen der ausgestellten Künstler überhaupt in ihrer Werksliste vertreten. Nur wenige Plakate entsprachen einem gängigen Bildkonzept nach sowjetischem Vorbild mit Arbeiterhelden in monumentaler Pose. Etliche Ausstellungsplakate kamen ganz ohne Darstellungen von Menschen aus und vermittelten über dingliche Symbole ihre Botschaft; so die Arbeiten von Tadeusz Gronowski und Tadeusz Trepkowski, die damit konzeptionell an französische Vorläufer wie A. M. Cassandre anschlossen. Die Hälfte der ausgestellten Plakate stammte von sechs Künstlern, die mit mehreren Arbeiten vertreten waren: von 7DGHXV]*URQRZVNL (U\N /LSLĔVNL+HQUyk Tomaszewski, Tadeusz Trepkowski, :áRG]LPLHU] =DNU]HZVNL XQG :RMFLHFK =DPHF]QLN 'LHVH UHSUlVHQWLHUWHQ GLH wichtigsten Entwicklungslinien der polnischen Plakatkunst aus unterschiedlichen Generationen und mit verschiedenem künstlerischen Werdegang. Der damals 56jährige Gronowski vertrat die polnische Plakat-tradition der Zwischenkriegszeit. Die zweite Gruppe bildeten jene jüngeren Grafiker, die in den zwei vorangegangenen Jahren bereits international über Zeitschriftenpublikationen Anerkennung gefunden hDWWHQ QlPOLFK 7DGHXV] 7UHSNRZVNL (U\N /LSLĔVNL +HQU\N 7RPDs]HZVNLXQG:RMFLHFK=DPHF]QLN:áRG]LPLHU]=DNU]HZVNLGHUYRUDOOHP$JLWationsplakate entwarf, war der bedeutendste Vertreter der ehemaligen kommunistischen Frontplakatwerkstatt. In der Liste der ausgestellten Arbeiten finden sich viele der in Wien 1948 auf der Internationalen Plakatausstellung prämierten Filmplakate, die in der englischen Zeitschrift Art and Industry als positive Beispiele einer gebrauchsgrafischen Hinwendung zum Abstraktionismus vorgestellt worden waren. 6 Die moderate Umsetzung von sowjetischen Leitlinien zum Sozialistischen Realismus bei der Mehrzahl der Exponate erklärt sich aus der Randstellung der Plakatgestaltung in der Kunstwelt. Plakaten für Film und Kultur wurde eine geringe gesellschaftspolitische Wirksamkeit zugeschrieben, sodass sie nicht zum Gegenstand des sozialistisch-realistischen Kunstdiskurses wurden. Während andere Kunstgattungen schon ab 1949 in Polen einer verschärften inhaltlichen und formalen Kontrolle unterzogen wurden, entwickelte sich eine sowjetisch initiierte Debatte zur Plakatkunst erst ab Ende 1951, in deren Fokus dann jedoch politische Plakate standen. Obwohl also 1950/1951 auch in Polen das Muster des von der Sowjetunion bestimmten Sozialistischen Realismus in der offiziellen Kulturproduktion zu dominieren begann und Abstraktion zunehmend dem Vorwurf des „Formalismus“ ausgesetzt war, war es möglich, dass sich die Plakatkunst im nicht-sozialistischen Ausland in einer gewissen Formenvielfalt präsentierte. Die Differenzierung des kulturellen Veranstaltungsprogramms für sozialistische und nicht-sozialistische Staaten war dabei eine durch das Ministerstwo Kultury i Sztuki (Ministerium für Kultur und Kunst) gängige Praxis. Um in nicht-sozialistischen Staaten um Akzeptanz zu werben, wurden in der Außenkulturpolitik ideologische Kompro6

Rosner, Charles, Posters for Art Exhibitions and Films. A Lesson from Poland, in: Art and Industry 47 (1948), S. 52.

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misse gemacht. Der Rechenschaftsbericht des &HQWUDOQ\ =DU]ąG 6]WXN 3ODVWycznych i Wystaw (Zentralverwaltung der Bildenden Künste und Ausstellungen) unter Lucjan Motyka zu Ausstellungsaktivitäten im Ausland 1951/52 hielt dazu fest: „Das wichtigste Element unserer Propaganda im Ausland, besonders in den kapitalistischen Ländern, sind gelungene Auftritte mit wirtschaftlichem Charakter [...] sowie künstlerischkulturelle Veranstaltungen, die sich im Westen leichter ausstellen lassen als politische Ausstellungen.“ 7

In seinem Katalogtext hob der polnische Kunsthistoriker und damalige MitarbeiWHUGHV:DUVFKDXHU1DWLRQDOPXVHXPV-DQ%LDáRVWRFNLGDVIUHLHSOXUDOLVWLVFKH(rVFKHLQXQJVELOGGHU$XVVWHOOXQJKHUYRU%LDáRVWRFNLEHVFKULHEGLH]HLWJHQ|VVLVFKH Plakatkunst der Nachkriegszeit als vielfältig – sie sei geprägt durch Kontinuitäten zum polnischen Vorkriegsplakat, indem sie dekorative Elemente, „die stilistische Eingebung aus der Volkskunst“ und die bildsprachliche Eigenheit des „Synthetische[n] und Lapidare[n]“ übernehme, diese aber reduziere: „Größere Einfachheit, weniger komplizierte intellektuelle Konzeptionen, weniger barocke Schnörkel im ornamentalen Stil […] – das sind weitere Vorzüge der zeitgenössischen polnischen Plakatkunst.“ 8

$XVOlQGLVFKH (LQIOVVH EHQDQQWH %LDáRVWRFNL DQ NHLQHU 6WHOOH 'LH $XVZDKO GHU Exponate und der begleitende Katalogtext beruhten auf der These, dass die polnische Plakatkunst genauso eigenständig sei wie der Staat. Das unterstrichen auch die Artikel über die Ausstellung, welche in den Zeitschriften der GerlachGesellschaft Blick nach Polen (Berlin) und Jenseits der Oder (Düsseldorf) veröffentlicht wurden. Die Verfasser der Artikel über die ost- bzw. westdeutschen Varianten der Ausstellung hielten sich sehr stark an den Katalogtext. Bezeichnungen wie „sozialistisch“ und „Sozialistischer Realismus“ wurden vermieden. Stattdessen wählten sie Floskeln wie „fortschrittliche Politik“ oder „eine dem Inhalt gerechte realistische Kunstform“. 9 Der Verzicht auf eine offene politische Parteinahme und die Konzentration auf künstlerische Gestaltungsaspekte zielten darauf ab, möglichst breite Bevölkerungsschichten zu erreichen. Die ostdeutsche und die polnische Staatsführung vermieden eine offene Ideologisierung, da sie in der Frage der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, die im Görlitzer Abkommen vom 6. Juli 1950 als Grenzverlauf zwischen der DDR und Polen festgeschrieben worden war, auf die Unterstützung oder Duldung von Nichtkommunisten oder „bürgerlichen“ Kräften angewiesen waren. 10 In weiteren westdeutschen Veröffentlichungen, die nicht mit der GerlachGesellschaft verbunden waren, wurde die Ausstellung größtenteils als ein gutes $$1 0LQLVWHUVWZR .XOWXU\ L 6]WXNL &HQWUDOQ\ =DU]ąG 6]WXN 3ODVW\F]Q\FK L :\VWDZ 0DWHULDá\QDSRVLHG]HQLD  8 Ausstellungskatalog Polnische Plakate, unpaginiert. 9 Weiß, C., Kunst und Plakate. Westdeutsche Stimmen zur Ausstellung „Polnische Plakate“, in: Jenseits der Oder 1 (1950), S. 23 und Piehler, Horst, Polnische Plakate, in: Blick nach Polen 1 (1950), S. 18–21. 10 Lotz, Zwischen verordneter und ernsthafter Freundschaft, S. 203f. 7

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Zeichen im zwischenstaatlichen Verhältnis beurteilt. Das Gros der Artikel ließ politische Diskussionen außen vor und lobte die gestalterische Vielfalt der ausgestellten Plakate. Die polnischen Plakate wurden in der Tagespresse meist weniger national denn international interpretiert und in das zeitgenössische europäische Kunstgeschehen eingeordnet. Der Autor des Artikels im Hamburger Abendblatt etwa war beeindruckt von der gestalterischen Synthese eines „östlichen Empfindens für Fläche und Farbe“ und westlicher, besonders französischer Einflüsse – „trotz der hermetischen Abriegelung des Landes“. 11 Auch in der politischen Bewertung ließen die westdeutschen Kommentatoren Vorsicht walten. Kritische Anmerkungen zum deutsch-polnischen Verhältnis wurden vermieden. Auch das Reizthema der polnischen Westgebiete wurde nicht angeschnitten, trotz oder gerade wegen seiner Aktualität, nachdem wenige Monate zuvor zwischen der DDR und Polen das Görlitzer Abkommen vereinbart worden war. Zusammenfassend lässt sich für die besprochene Ausstellungsreihe sagen, dass die internationale Präsenz und Anerkennung polnischer Plakate auf dem länder- und blocküberschreitenden Konsens über autonome künstlerische Anliegen beruhte sowie auf den politischen Ambitionen der polnischen Außenkulturpolitik. Gebrauchsgrafiker in marktwirtschaftlich geprägten Ländern suchten im Sinne einer ästhetisch bildenden Plakatkunst nach Alternativen zu den von Werbeagenturen geforderten schematischen Konzeptionen. Die polnische Plakatkunst war dabei ein gestalterischer Lichtblick, besonders wegen ihrer Film- und Theaterplakate, die sich nicht stereotyp in die sowjetische Doktrin des Sozialistischen Realismus einfügen ließen. Von dieser gestalterisch motivierten Seite sind die politischen Motive zu unterscheiden, welche die Durchführung und Konzeption von Ausstellungen polnischer Plakate im europäischen Ausland bestimmten. Die Ausstellungsreihe zu polnischen Plakaten 1950/51 zeigt den pragmatischen Einsatz von Kunst in der polnischen Außenkultur- und Außenpolitik. Die strategische Notwendigkeit, die Außenpolitik im deutsch-polnischen und deutsch-deutschen Spannungsfeld zu legitimieren, begründete Anfang der 1950er-Jahre die Rolle des polnischen Plakats als Botschafter der sozialistischen Kultur im Ausland. Vor diesem Hintergrund verstehen wir die – auf den ersten Blick erstaunlichen – gestalterischen Freiräume für Plakatkünstler in der staatlich kontrollierten Kunstproduktion der Volksrepublik Polen besser: diese waren durch außenpolitische Ziele motiviert. Die internationalen Kontakte Anfang der 1950er-Jahre sind Ausdruck des Wunsches von Warschau nach außenpolitischer Anbindung und eigener Positionierung im neuen europäischen Mächtegefüge. Mit Blick auf das wenige Jahre später einsetzende politische „Tauwetter“ nach Stalins Tod waren sie Vorboten eines vermehrten internationalen Kultur- und Wissenschaftsaustausches der Volksrepublik Polen, besonders mit Ländern, zu denen starke historische Beziehungen bestanden

11 O. A., Polnische Plakatkunst, in: Hamburger Abendblatt, 09.11.1950, S. 10.

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wie Frankreich, Deutschland, Österreich und den USA. 12 In Polen selbst gipfelte die kulturpolitische Öffnung im März 1956 in der offiziellen Abkehr vom Sozialistischen Realismus. Die länder- und systemübergreifenden Kontakte, Auseinandersetzungen und Kooperationen waren nicht durchgängig durch den Ost-West-Konflikt oder durch abstrakte versus realistische Kunst bestimmt. Dass ein solch vereinheitlichendes Narrativ die in Wirklichkeit vorhandenen Varietäten in der Kunstentwicklung, den künstlerischen Praktiken und den Strategien in der Kulturpolitik in verschiedenen Staaten nicht gerecht werden kann, hat Mathilde Arnoux jüngst in einem Aufsatz zu einem aktuellen Forschungsprojekt über Kunstkontakte im Kalten Krieg gezeigt. 13 Wie wichtig eine differenzierte Betrachtung von Kunstkontakten zwischen „Ost“ und „West“ ist, zeigt schon die Diversität in den beteiligten Kunstgattungen, institutionellen Ebenen und Zeiträumen ihres Zustandekommens. Polen, die Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien entsandten bereits seit Anfang der 1950er-Jahre Beiträge auf die internationale Kunstausstellung Biennale von Venedig. In der Bundesrepublik Deutschland waren polnische Künstler 1959 die einzigen Vertreter aus einem sozialistischen Staat auf der Kasseler documenta II. Als weitere Beispiele staatlich geförderter „Kunstexporte“ aus sozialistischen Staaten, die auf Resonanz bei Galerien und Sammlern in nicht-sozialistischen Ländern stießen, sind die Malerei der DDR seit den 1970er-Jahren, besonders unter dem Stichwort der Leipziger Schule, sowie seit den 1950er-Jahren die Glaskunst aus der Tschechoslowakei zu erwähnen. Polnische Filme waren seit Mitte der 1950er-Jahre auf mehreren Filmfestivals in Cannes, Venedig und Oberhausen präsent, seit den 1960er-Jahren kamen immer mehr Filme aus tschechoslowakischer Produktion hinzu. Ein Spezifikum polnischer Plakatkunst auf dem Feld der transnationalen Kulturkontakte zwischen einem sozialistischen Staat und nicht-sozialistischen Ländern bleibt der frühe Zeitpunkt und die Dauerhaftigkeit der Kontakte selbst zu Zeiten ideologischer Zuspitzungen in beiden Blöcken. Diese Tatsache ist vor allem auf das stete Engagement von polnischen und internationalen Gebrauchsgrafikern zurückzuführen, die der polnischen Plakatkunst über Staats- und Systemgrenzen hinweg Vorbildcharakter für die Entwicklung einer künstlerisch anspruchsvollen Plakatgrafik zusprachen. Literaturhinweise Arnoux, Mathilde, To Each His Own Reality. How the Analysis of Artistic Exchanges in Cold War Europe Challenges Categories, in: Artl@s Bulletin 1 (2014), S. 30–40. Aulich, James; Sylvestrová, Marta, Signs of the Times. Political Posters in Central and Eastern Europe 1945–1995, Manchester u.a. 1999.

12 -DU]ąEHN:DQGD'HU(LQIOXVVGHU(UHLJQLVVHYRQDXIGLH$X‰HQSROLWLNGHU953ROHQ in: Szymoniczek, Joanna; Król, Eugeniusz Cezary (Hgg.), Das Jahr 1956 in Polen und seine Resonanz in Europa, Warschau 2010, S. 222–242. 13 Arnoux, Mathilde, To Each His Own Reality. How the Analysis of Artistic Exchanges in Cold War Europe Challenges Categories, in: Artl@s Bulletin 1 (2014), S. 30–40.

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Crowley, David, „An Art of Independence and Wit“. The Reception of the Polish Poster School in Western Europe, in: Dydo, Krzysztof (Hg.), 100th Anniversary of Polish Poster Art, Krakau 1993, S. 25–29. *LĪND6\OZLD3ROVND6]NRáD3ODNDWXR2, URL: (12.06.2017). Lersch, Gregor H., Ausstellungen und Rezeption polnischer Kunst in Deutschland von 1949–1989, in: Inter Finitimos (2012), S. 227–231.

DIE DEBATTE UM DIE LEHRBARKEIT DES SCHRIFTSTELLERBERUFS IN DER DDR. ALFRED KURELLAS REDE ZUR ERÖFFNUNG DES INSTITUTS FÜR LITERATUR IN 1 LEIPZIG AM 30. JULI 1955 Anne-Marie Pailhès

Als erster Direktor des Leipziger Literaturinstituts hielt Alfred Kurella am 30. Juli 1955 die Rede zur Eröffnung dieser neuen Bildungsstätte – einer Institution, die im Laufe von mehreren Jahrzehnten das literarische Leben in der DDR nachhaltig geprägt hat. Um einen Eindruck von ihrer Bedeutung zu vermitteln, braucht man nur Namen wie Sarah Kirsch, Volker Braun, Werner Bräunig, Heinz Czechowski, Erich Loest oder Ulrich Plenzdorf zu nennen, die alle einmal Studenten und Studentinnen dieses Instituts waren. Zurückzuführen ist diese Neugründung auf die Auseinandersetzungen über die Rolle des Schriftstellers im Nachkriegsdeutschland und im Deutschland des Kalten Krieges. Wie in anderen europäischen Ländern wurde nach den schrecklichen Kriegserfahrungen nach dem Sinn und Zweck literarischer Schöpfung gefragt. In Westeuropa stellte das absurde Theater ein Ergebnis dieser Debatte dar. Gleichzeitig wurde daran gezweifelt, ob man nach Auschwitz überhaupt noch Gedichte schreiben könne. Die DDR-Kulturpolitiker beriefen sich hingegen auf das literarische Erbe, um den sozialen Umbruch auf literarischem Gebiet zu begleiten, und es den neu aufkommenden Schichten zu ermöglichen, ihre klassenspezifische Erfahrung auf dem Gebiet der Kunst durchzusetzen. Das Institut für Literatur in Leipzig spielte dabei eine wichtige Rolle. Es war geplant als Schmiede der neuen sozialistischen Schriftsteller, die möglichst aus der Arbeiterklasse stammen sollten. Nach der Zersplitterung des künstlerischen und kritischen Potentials der deutschen Literatur – die zum großen Teil im Exil, in Form der „inneren Emigration“ oder in verschiedenen Stufen der Zusammenarbeit mit dem NS-Regime überlebte – wollte die junge Schriftstellergeneration in der Bundesrepublik eher „tabula rasa“ machen, z.B. in der Gruppe 47. Sie ging von der Annahme aus, dass man nach Auschwitz keine Gedichte mehr schreiben könne. Was die neugegründete DDR anging, so berief sie sich offiziell auf das humanistisch-klassische Erbe der deutschsprachigen Literatur, wovon die Veranstaltungen im Goethe-Jahr 1949 und im Schiller-Jahr 1955 Zeugnis ablegten. Das angestrebte Ideal des „neuen Menschen“ sollte gleichzeitig in einen Schriftsteller neuen Typus, des von Stalin 1

Essay zur Quelle: Alfred Kurella: Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft (1955). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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gewünschten „Ingenieurs der menschlichen Seele“, münden. Die Sowjetunion lieferte das Vorbild in Gestalt des Gorki-Instituts, das 1933, drei Jahre vor dem Tod des gleichnamigen Schriftstellers, gegründet worden war. Der Gedanke einer Schule der Dichter wird in der DDR Anfang der 1950er-Jahre wiederbelebt und knüpft an Überlegungen in der Weimarer Republik an. Im Jahre 1929 hatte nämlich an der Preußischen Akademie der Künste – einer ehrwürdigen Institution, der 1926 erstmals eine „Sektion für Dichtkunst“ angeschlossen worden war – eine Diskussion stattgefunden, bei der die Geister sich an der Frage der Erlernbarkeit 3 des „Dichterberufs“ schieden : Während progressive Schriftsteller wie Alfred Döblin den Namen der „Sektion für Dichtkunst“ ändern wollten, um den Begriff „Literatur“ einzuführen, hingen andere wie Ricarda Huch und konservative 4 Schriftsteller noch an dem Modell eines „visionären Dichters“. „Döblin wendet sich vor allem gegen die ‚romantische Auffassung‘ der Figur des Dichters. Der Ausdruck ‚Dichtkunst‘ sei nicht nur als Wort peinlich, sondern auch als Begriffsbestimmung. Es handle sich darum, die Einheit der modernen 5 Geistigkeit grundsätzlich anzuerkennen.“ Die Stellungnahme von Ricarda Huch im Januar 1930 bringt eine ganz andere Auffassung zum Ausdruck: „Daß mir der Name Dichter-Akademie leider lächerlich vorkommt, ist zunächst ein unmittelbares Gefühl. Es wird sich zurückführen lassen auf die Tatsache, daß das eigentliche Dichterische in einem Kunstwerk sich weder erlernen noch mit Bestimmtheit nachweisen läßt, daß der Platz des Dichters, dessen ‚Auge in holdem Wahnsinn rollt‘, nicht in Akademien ist, 6 wenn auch zufällig einer hineingeraten mag.“

Die Debatte ging auf eine Äußerung von Thomas Mann aus dem Jahre 1926 zurück: Er war der Ansicht, dass man „den Namen ‚Sektion für Dichtkunst‘ über kurz oder lang als allzu meistersingerlich wird fallen lassen und ihn in ‚Sektion für Literatur‘ wird ändern müssen. Dies nämlich würde die Möglichkeit gewähren, sich nicht dauernd auf das rein Poetische zu beschränken, sondern das kritisch-essayistische, historisch-kulturphilosophische Element mit einzubeziehen, was [er] 7 für eine geistige Notwendigkeit halte.“

Das spätere Unterfangen in der DDR fußte auf den Erfahrungen jener Jahre und reaktivierte dieselbe Auseinandersetzung. In der Bundesrepublik der Nachkriegs8 zeit wurde die Gründung einer ähnlichen Bildungsanstalt erwogen , aber schließlich nicht umgesetzt.

2

3 4 5 6 7 8

Diesen bekannten Ausdruck verwendet Kurella zu Beginn seiner Rede sogar ohne Anführungszeichen: Die Gesellschaft habe „nicht einmal den Versuch unternommen, ‚Technische Hochschulen‘ für diese Ingenieure der menschlichen Seele einzurichten.“ (S.18). Herden, Werner, Die ‚preußische Dichterakademie‘ 1926–1933, in: Wruck, Peter (Hg.), Literarisches Leben in Berlin 1871–1933, Berlin 1987, S. 151–193. Jens, Inge, Dichter zwischen rechts und links: Die Geschichte der Sektion für Dichtkunst der Preußischen Akademie der Künste, dargestellt nach den Dokumenten, München 1971, S. 110. Ebd., S. 111. Ebd., S. 115. Ebd., S. 103. Seeliger, Rolf, Dichterschule – Ja oder nein? in: Publikation (1960), H. 4.

Die Debatte um die Lehrbarkeit des Schriftstellerberufs

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Wie schon in der Weimarer Republik stieß dieses Projekt auch innerhalb der DDR nicht auf ungeteilte Begeisterung. Ein Beispiel dafür ist Johannes R. Becher, dessen Namen das Institut nach seinem Tod 1958 erhielt. Der spätere Kulturminister der DDR, der 1955 in Kurellas Anwesenheit das Institut einweihen sollte (und der die Zeit der ‚preußischen Dichterakademie‘ erlebt hatte), schrieb am 7. Januar 1950 in sein Tagebuch: „Ein tolles Stück. Der noch zu gründenden Akademie der Künste wird ein Entwurf zur Bildung eines Literatur-Erziehungs-Instituts (Internats) eingereicht als Mittel, realistische Kunst 9 zu erzielen.“

Die Befürworter der Lehrbarkeit des Schreibens – und der notwendigen ideologischen Kontrolle der Intellektuellen – waren aber schon in der sowjetischen Besatzungszone am Werk, als 1947 die ersten „Arbeitskreise junger Autoren“ ins Leben gerufen wurden. Franz Hammer wurde vom Schriftstellerverband beauftragt, den Thüringer Arbeitskreis zu gründen, und betrachtete sich später als Pionier auf 10 diesem Gebiet. Kein anderer als Alfred Kurella gehörte schon damals zur Kommission des Schriftstellerverbandes, die die Mitglieder dieses Arbeitskreises aussuchen sollte. Mehrere „junge Autoren“ aus diesen Zirkeln zählten dann zu den ersten Studenten des Literaturinstituts, so dass die Arbeitskreise eine Basis für das spätere Institut bildeten. Die Auseinandersetzung um die Gründung eines solchen Instituts beschränkte sich nicht auf eine innerdeutsche Debatte; sie fand im Kontext der kulturpoliti11 schen Veränderungen nach der Formalismus-Debatte Anfang der 1950er-Jahre und dem Aufstand vom 17. Juni 1953 statt, nach dem den Intellektuellen mehr 12 Spielraum zugestanden wurde. 1953 besuchte eine Delegation von DDR-Schriftstellern das Moskauer GorkiInstitut anlässlich seines 20. Jahrestages. Dieser Besuch spielte eine wichtige Rol13 le bei der Gründung des deutschen Instituts , das dann jahrzehntelang kontinuierliche Beziehungen zum Gorki-Institut pflegte. Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 war die SED-Führung bestrebt, die Intellektuellen auf lange Sicht an das Regime zu binden. 1954 wurde ein Kulturministerium geschaffen. Am Institut für Literatur sollten die Stipendien höher als an der Universität sein; während sich ein Student dort mit 180 Mark begnügen muss9 10

11 12 13

Becher, Johannes R., Auf andere Art so große Hoffnung, Tagebuch 1950 – Eintragungen 1951, in: Gesammelte Werke, Band 12, Berlin u.a. 1969, S. 25. Hammer, Franz, Zeit der Bewährung: Ein Lebensbericht, Berlin 1984. Vgl. auch von Prittwitz, Gesine, Abkehr von der Trümmergeneration. Franz Hammers Arbeitskreis junger Autoren Thüringens 1947–1950, in: Scherpe, Klaus; Winkler, Lutz (Hgg.), Frühe DDR-Literatur, Berlin u.a. 1988, S. 101–119. Vgl. Jäger, Manfred, Kultur und Politik in der DDR, 1945–1990, Köln 1994, S. 34–37. Ebd., S. 72, „Nach dem Aufstand: Mehr Spielraum für die Intellektuellen.“ Vgl. Zimmering, Max, Vorwort, in: Ruf in den Tag – Jahrbuch 1960 des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“, Leipzig 1960, insb. S. 11–12; Clarke, David, Parteischule oder Dichterschmiede ? The Institut für Literatur “Johannes R. Becher“ from its founding to its Abwicklung, in: German Studies Review, 19 (2006), H. 1, S. 88. Dieser Artikel weist eine ausführliche Quellenarbeit auf.

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te, bekam ein Student des neugegründeten Instituts 500 bis 600 Mark. In der Periode 14 zwischen 1953 und der Verkündung des Bitterfelder Weges 1958 war die Schaffung des Instituts ein Markstein der DDR-Kulturpolitik. Offiziell wurde diese Gründung von Walter Ulbricht selbst beim IV. Parteitag der SED im April 1954 15 vorgeschlagen. Dabei sollte vom sowjetischen Vorbild nicht abgewichen werden. Kurella eignete sich durch seine Persönlichkeit und seine Biografie bestens als Institutsleiter: 1895 geboren und als Jugendlicher in der Wandervogelbewegung aktiv, war er „ein Spross des alten Bürgertums, früh zur marxistischen Bewegung in Deutschland gestoßen, und bald nach dem ersten Weltkrieg von Lenin, später von Stalin mit internationalen und konspirativen Aufgaben betraut worden. Während des zweiten Weltkrieges hatte er im ‚Natio16 nalkomitee Freies Deutschland‘ eine wichtige Rolle gespielt.“

Von Zeitzeugen wird er als gespaltene Persönlichkeit beschrieben – auch vor dem Hintergrund der Hinrichtung seines jüngeren Bruders Heinrich, der 1933 gleichfalls in die Sowjetunion emigriert und als „britischer Agent“ denunziert worden war. Am besten hat ihn Heinz Czechowski porträtiert: „Kurella war durch und durch Bürger, total gespalten, ein Bildungsbürger und ein linker Radikalinski […] Kurella stand mit einem Fuß in der bürgerlichen Kunst, bewunderte die großen bürgerlichen Autoren und beschimpfte sie gleichzeitig. Er hatte, soviel ich weiß, seine Picassographiksammlung im Keller versteckt und schimpfte öffentlich auf Picasso als dekadente Ruine, und förderte irgendwelchen obskuren Maler in Leipzig, von dem man heute nicht mehr spricht. Der Mann ist nicht auf einen Nenner zu bringen: er schwankte zwischen 17 Proletkult und Thomas Mann“ .

Im vorliegenden Dokument skizziert er auf beinahe autobiografische Weise den idealtypischen Schriftsteller, der sich in zwei entgegengesetzten Welten zu bewegen vermag: „Denn solche Umbruchs- oder Übergangszeiten erfordern vom Künstler eigentlich, dass er in zwei Welten wirklich zu Hause ist, oder wenigstens, dass er sich in der anderen, mit der er nicht durch Herkunft, Kindheitseindrücke, spontane Urteile und Gefühle verbunden ist, so weit auskennt, dass er sie wie eine eigene erleben kann.“ 18

14 Damit wurden Künstler und Schriftsteller aufgerufen, „in die Betriebe zu kommen, auf die Bauplätze des Sozialismus zu gehen und in Romanen, Erzählungen, Bühnenwerken und Gedichten das Heldentum der Arbeit zu feiern.“ Vgl. Jäger, Manfred, Kultur und Politik, S. 87ff. 15 Vgl. Abusch, Alexander, Sinn und Zweck eines Instituts für Literatur. Rede zur Eröffnung des Instituts für Literatur am 30.09.1955 in Leipzig, in: Zwischenbericht, Notate und Bibliographie zum Institut für Literatur „Johannes R. Becher“, Leipzig 1980, S. 11. Vgl. auch Giordano, Ralph, Die Partei hat immer recht, Köln 1961, S. 150. R. Giordano war Mitglied der KPD in der Bundesrepublik und wurde 1956 von seiner Partei zum Studium an das Literaturinstitut delegiert. 16 Giordano, Ralph, Die Partei, S. 86. 17 Gespräch mit A.M. Pailhès vom 27. Mai 1988, Leipzig, Privatarchiv. Zu Kurella siehe auch: Loest, Erich, Durch die Erde ein Riss: Ein Lebenslauf, Hamburg, 1981, S. 256 und Mayer, Hans, Ein Deutscher auf Widerruf, Frankfurt am Main 1988, S. 130. 18 Vgl. Auszüge dieser Rede als beigefügte Quelle: Kurella, Alfred, Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft. Vortrag zur Eröffnung des Instituts für Literatur in Leipzig,

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Obwohl die Rede in ihrer Gesamtheit eher philosophisch und realitätsfern klingen mag und oft schwer als direkte politische Parteinahme zu verstehen ist, fehlt es nicht an Floskeln, die politisch eindeutig sind: anvisiert wird ein neuer „Typus von Künstler, der sich unterscheidet von dem, den die dekadente Kunsttheorie vertritt.“ So wird die These von der angeblichen „Dekadenz“ des Abendlandes vorgebracht und etwas weiter im Text mit dem Beispiel Gottfried Benns illustriert. Auch die Bemerkung fehlt nicht, dass „unsere sozialistische Revolution eine wahrhaft epochale ist.“ Verkündet wird der Glauben an den Fortschritt; für Kurella besteht kein Zweifel daran, dass „in der Epoche des großen geschichtlichen Umbruchs […] die sozialistische Gesellschaft an die Stelle der kapitalistischen tritt.“ Es gibt auch einen Verweis auf Johannes R. Becher, der 1954 zum ersten Kulturminister der DDR ernannt wurde und bei der Eröffnung anwesend war: „Johannes R. Becher weist mit Recht immer wieder auf das Fehlen einer solchen freien Bewegungsmöglichkeit im Stoff als auf eine der Hauptschwierigkeiten unserer künstlerischen Situation hin.“ Sehr geschickt beruft sich Kurella auf ihn, um das Projekt des Literaturinstituts mit Aussagen des Ministers zu untermauern, obwohl sich letzterer einige Jahre zuvor gegen eine solche Gründung ausgesprochen hatte. Im zweiten Teil der hier angeführten Auszüge aus Kurellas Rede betont der Kulturpolitiker mehrmals die Besonderheit der deutschen Situation der 1950er-Jahre. Er erwähnt „diese unsere deutsche Wirklichkeit“, ohne näher zu erörtern, was mit „unsere“ gemeint ist; im letzten Absatz ist von „Deutschland“ die Rede. Der Begriff „Deutsche Demokratische Republik“ wird weder als Abkürzung noch im Ganzen verwendet; deutsche Kultur wird zu dieser Zeit als grenzübergreifend verstanden. Nach fünf Jahren DDR begreift sich der 1895 geborene Kurella vor allem noch als Mensch der Vorkriegszeit, als Revolutionär („wie wir sozialistischen Schriftsteller der älteren Generation“), der „die Revolution sozusagen zur Pflegemutter gehabt“ hat und „die Theorie der Revolution als Muttermilch trinken“ konnte – obwohl dies vom biografischen Standpunkt her falsch ist, da er erst in den 1920er-Jahren zum Marxismus bekehrt wurde. Welche Schriftsteller führt er der jüngeren Generation als Beispiele vor? Er vermeidet sorgfältig jede Anspielung auf neuere westeuropäische, westdeutsche und amerikanische Autoren; die erwähnten Schriftsteller sind Klassiker (Hebbel, Goethe, Schiller, Lessing, Balzac). Die einzige Ausnahme bildet Thomas Mann, der damit gleichfalls den Rang eines Klassikers erlangt. Ansonsten nennt er einige Schriftsteller der jungen DDR (Erwin Strittmatter, Anna Seghers). Als abschreckendes Beispiel dient Gottfried Benn – in Erinnerung daran, dass er 1933 die Sektion für Dichtung der preußischen Akademie der Künste gleichgeschaltet hatte. Eingang in die Rede finden natürlich auch einige Namen sowjetischer Autoren wie Ehrenburg, Gorki oder Fedin. Wenn sich „literarische Meisterschaft“ lehren lässt, kann dies in Kurellas Augen nur in einem engen nationalen und ideologischen Rahmen geschehen; richin: Ruf in den Tag. Jahrbuch des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“, Leipzig 1960, S. 17–36.

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tungweisend sind für ihn „revolutionäre“, vorzugsweise in der DDR schaffende Dichter, die als einzige in der Lage seien, den „Kern“ der Gesellschaft zu erforschen und zu reflektieren. Im Laufe der Zeit öffnete sich das Institut jedoch immer mehr nach außen und wurde zu einer Nische des Dialogs mit anderen Kulturen. In seiner Bibliothek hatte man Zugang zu sonst verbotenen Büchern. Die sogenannte „rein pathogene Erklärung des Talents“, die von Kurella angeprangert wurde, konnte nicht über Nacht und per Verordnung aus der DDR verschwinden; 1960 beschwerte sich der zweite Direktor des Instituts, Max Zimmering, über die Ideen der Studenten: „Sie hatten bohemienhafte Vorstellungen mitgebracht und fürchteten ‚geistige und künstlerische Bevormundung‘“; es herrschten „Unbehagen, Unbefriedigtsein, Zu19 rückhaltung, Gleichgültigkeit und Skepsis.“ Später sollten die Wellen der staatlichen Kulturpolitik das Institut wieder erreichen: 1965 wurden nach dem XI. Plenum acht von 29 Studenten und Studentinnen exmatrikuliert, darunter Dieter Mucke, Rainer und Sarah Kirsch oder Helga M. Novak. 1968 kam es erneut zu Exmatrikulationen. Ab den 1970er-Jahren schienen nach unruhigen Zeiten aber größtenteils Eintracht und Akzeptanz am Institut zu herrschen, sodass die Einrichtung nach der Wiedervereinigung zunächst als „staatsnah“ abgewickelt werden sollte. Die Möglichkeit der „Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft“ wurde damals erneut zum Gegenstand der Diskussion; eine Mehrheit sprach sich schließlich dafür aus, die Ausbildungsstätte für ganz Deutschland zu erhalten. Im deutschsprachigen Raum blieb das Leipziger Institut für Literatur lange ein einzigartiges Experiment. In englischsprachigen Ländern wurde (wenngleich erst Jahre später) ebenfalls die Möglichkeit erwogen, das literarische Schreiben im Rahmen einer Gruppe mit einem Mentor zu erlernen und zu trainieren. Dies war das Ziel eines 1970 von Malcolm Bradbury und Angus Wilson an der University of East Anglia ins Leben gerufenen Master-of-Arts-Studienganges. Inzwischen florieren Seminare und sogar Diplome für „creative writing“, wie zum Beispiel an der Sheffield Hallam University. Dieser Trend hat sich in den Jahren nach 2000 auch im deutschsprachigen Raum mit ähnlichen Neugründungen von Schreibschulen in Bielefeld (Diplom seit 1999), Wien (Diplom seit 2009, „Schule für Dichtung“ schon ab 1991) oder Biel (Diplom seit 2006) verstärkt. Ziel dieser Ausbildung ist aber vor allem eine auf technische Aspekte fokussierte professionelle Begleitung des Schreibens. Das ist weit entfernt von jenem direkten politischen Einfluss, wie er am Literaturinstitut in Leipzig ausgeübt wurde. Literaturhinweise Clarke, David, Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ und die Autorenausbildung in der DDR, in: Bender, Peter, Ohse, Marc-Dietrich; Tate, Dennis (Hgg.), Views from Abroad: Die DDR aus britischer Perspektive, Bielefeld 2007, S. 175–185.

19 Zimmering, Max, Vorwort, in: Ruf in den Tag.

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Giessler, Günter, Das Literaturinstitut J. R. Becher und das kreative Schreiben, in: Gössmann, Wilhelm; Hollender, Christoph (Hgg.), Schreiben und Übersetzen, Tübingen 1994, S. 131–144. Haslinger, Josef, „Greif zur Feder, Kumpel!“. Das Institut für Literatur „Johannes R. Becher“ (1955–1990) in: Zeitschrift für Germanistik, 20 (2010), H. 3, S. 583–598. Pailhès, Anne-Marie, Formation ou mise au pas des élites en RDA? L’exemple de l’Institut de Littérature de Leipzig, in: Allemagne d’Aujourd’hui (2006), H. 177, S. 6–17.

Quelle Alfred Kurella: Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft (1955) 20 Auszüge des Vortrags zur Eröffnung des Instituts für Literatur in Leipzig am 30. Juli 1955 Auch hier nehmen wir Kurs auf einen Typus von Künstler, der sich unterscheidet von dem, den die dekadente Kunsttheorie vertritt. Was wir fördern, ist der künstlerisch schaffende Mensch, der sich bewußt mit der Kunst der Vergangenheit und ihren Ausdrucksmitteln auseinandersetzt, um aus ihr ein Maximum von künstlerischen Wirkungsmitteln zu gewinnen; ein Künstler, dem es vor allem daran liegt, den künstlerischen Ausdruck in den Dienst der großen fortschrittlichen Ideen seiner Zeit zu stellen, zu denen er sich selbst emporgearbeitet hat. In diesem Sinne ein großer Künstler, ein großer Dichter und Schriftsteller zu sein ist zu allen Zeiten schwer gewesen. Denn vom Schriftsteller, dessen Ausdrucksmittel, das Wort, so untrennbar mit dem Denken verbunden ist, mußte und muß mehr als von irgendeinem anderen Künstler verlangt werden, daß er in jeder Beziehung auf der Höhe der Kultur seiner Zeit steht. Denn nur im Lichte des von seiner Zeit, von der zeitgenössischen Gesellschaft in ihren fortgeschrittensten Teilen hervorgebrachten Denkens läßt sich – das zeigt die Erfahrung aller großen Schriftsteller – die jeweilige Wirklichkeit in all ihrer Fülle denkend begreifen und bildhaft erfassen. Doppelt schwer ist es für einen Schriftsteller, sich zu einer überlegenen Verbundenheit mit seiner Zeit aufzuschwingen heute, in der Epoche des großen geschichtlichen Umbruchs, wo die sozialistische Gesellschaft an die Stelle der untergehenden kapitalistischen tritt. Denn solche Umbruchs- oder Übergangszeiten erfordern vom Künstler eigentlich, daß er in zwei Welten wirklich zu Hause ist, oder wenigstens, daß er sich in der anderen, mit der er nicht durch Herkunft, Kindheitseindrücke, spontane Urteile und Gefühle verbunden ist, so weit auskennt, daß er sie wie eine eigene erleben kann. Das ist aber außerordentlich schwer. „Normale Zeiten“, wie sie einem manchmal in Gedanken, im Gegensatz zu dem, was wir selber erleben, vorschweben, hat es wohl nie gegeben. Jede Zeit ist auf ihre Weise Umbruch und Übergangszeit, und jeder Künstler macht wie jeder Mensch die Erfahrung, wie seine eigenen Vorstellungen und Urteile und deren Beziehungen zu den sich wandelnden Dingen der Umwelt sich verschieben und verändern. Aber ganz abgesehen davon, daß unsere sozialistische Revolution eine wahrhaft epochale ist, gingen zu anderen Zeiten diese Wandlungen 20

Kurella, Alfred, Von der Lehrbarkeit der literarischen Meisterschaft. Vortrag zur Eröffnung des Instituts für Literatur in Leipzig, in: Ruf in den Tag. Jahrbuch des Instituts für Literatur „Johannes R. Becher“, Leipzig 1960, S. 30–36. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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in der Innen- und Außenwelt des Künstlers doch wohl langsamer vor sich, und das gab dem Künstler in hohem Maße Gelegenheit, „sich frei im Stoff zu bewegen“. Johannes R. Becher weist mit Recht immer wieder auf das Fehlen einer solchen freien Bewegungsmöglichkeit im Stoff als auf eine der Hauptschwierigkeiten unserer künstlerischen Situation hin. Ilja Ehrenburg hat dasselbe Problem von einer anderen Seite her angerührt, wenn er auf die ungewöhnlich schnelle Veränderlichkeit des materiellen und psychischen Wirklichkeitsmaterials hinwies, das der moderne Künstler im Schaffensprozeß zu Kunstwerken umschmelzen muß. Es sind aber gerade alle diese besonderen Schwierigkeiten, die uns veranlassen, nach Wegen zu suchen, um den modernen Schriftstellern bei ihrer systematischen, überlegten Bewältigung behilflich zu sein. Dreifach schwer aber hat es der Künstler und insbesondere der Schriftsteller im heutigen Deutschland, wobei sich das ,,schwer“ auf die Größe und Kompliziertheit der zu lösenden künstlerischen Aufgaben bezieht. Denn der große geschichtliche Umbruch, von dem ich eben sprach, spielt sich hier bei uns in ganz besonderen, man muß wohl sagen, einmaligen Formen ab. Das eigentliche Geschehen ist überlagert von äußeren Vorgängen und von Gedanken und Gefühlen der an diesen beteiligten Menschen, die oft in buchstäblich schreiendem Gegensatz zu dem Wesen der Sache stehen. Geschichtlich und menschlich Großartiges ist aufs engste verquickt mit Niedrigem und Gemeinem, und es gehört ein tiefer Einblick in das wirkliche Geschehen, es gehört eine umfassende Kenntnis des Zusammenhangs und der wechselseitigen Verbindung zwischen den Vorgängen dazu, wenn man verstehen und erleben will, was eigentlich geschieht. Vor allem muß man aber ein unerschütterliches, auf Wissen und Kenntnis begründetes Vertrauen in den geschichtlichen Fortschritt haben, muß aus Studium und Erfahrung die verschlungenen, widerspruchsvollen Wege kennen, auf denen sich im großen wie im kleinen die Geburt des Neuen immer wieder vollzieht, um sich in dieser unserer deutschen Wirklichkeit richtig zurechtfinden zu können. […] Denn die künstlerische Meisterschaft – und damit schließt sich der Ring unserer Überlegungen – ist nicht etwas Besonderes, das unabhängig von der Weltanschauung, dem Wissen und dem Wollen des Künstlers entsteht und zu ihnen wie von außen hinzukommt. Die Entscheidung darüber, ob ein Kunstwerk meisterhaft wird, beginnt bereits beim ersten Einfall, beginnt damit, wie die Gestalt, der Charakter, der Konflikt noch in ungewissen Konturen vor dem inneren Auge des Künstlers auftauchen. Auf die Beschaffenheit dieser Keime des Kunstwerks kommt es an, auf die von Anfang an menschlich und künstlerisch bedeutsame Qualität der ersten Impulse, Einfälle und Bilder, der Situationen, ja gewisse Planvorstellungen, mit denen ein Kunstwerk konzipiert wird. […] Wer, wie wir sozialistischen Schriftsteller der älteren Generation, unsere „Epoche der Kriege und Revolutionen“ von den Tagen der Kindheit an selbst miterlebt, wer die Revolution sozusagen zur Pflegemutter gehabt hat und die Theorie der Revolution als Muttermilch trinken konnte, dem ist es ein lebendiges Bedürfnis, das in diesem Erleben gewonnene Huttensche Gefühl für die Herrlichkeit der Zeit, in der wir leben und für ihren Reichtum an künstlerischen Möglichkeiten der jüngeren Generation weiterzugeben, die sich in ihrer geistigen Entwicklung gerade in Deutschland durch sehr schwierige Verhältnisse hindurchringen mußte. Dieses neue, lebensbejahende, auf Erfahrung und exakte Erkenntnis gegründete Weltgefühl ist und bleibt der lebendige Kern dessen, was an der literarischen Meisterschaft lehrbar ist.

3. KUNST, ARCHITEKTUR UND STADTENTWICKLUNG

STADT/BILD: GUSTAVE CAILLEBOTTE, BARON HAUSSMANN UND EINE VERKEHRSINSEL 1 Martin Schieder

Bürgersteige und Straßen sind wie leergefegt. Nur drei Männer in Gehrock und mit Zylinder begleiten ihre eigenen Schatten über eine Verkehrsinsel, während zwei Kutschen durch das Bild schleichen. Auf dem Pflaster lassen sich noch die vagen Umrisse von zwei Frauen mit Sonnenschirm erahnen, die im gleißenden Mittagslicht dahinzuschmelzen scheinen. Wohl kaum ein Maler des französischen Impressionismus hat die gewaltige städtebauliche Umgestaltung und die mit ihr einhergehenden sozialen Umwälzungen, die Paris unter Napoléon III. erfuhr, so zu seinem Motiv gemacht, wie Gustave Caillebotte. Es sei nur sein ikonisches Gemälde Rue de Paris, temps de pluie (1877) genannt, in dem die mondäne Pariser Bourgeoisie mit ihren Regenschirmen über die Boulevards und Trottoirs promeniert. Ein kleineres Werk, das den nüchternen Titel Un Refuge, Boulevard Haussmann trägt (1880, Abb. 10, S. 266) und eine nahezu menschenleere Verkehrsinsel auf der Rückseite der Opéra Garnier zeigt, ist bisher allerdings kaum in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt, obgleich es als ein Sinnbild für die einschneidende urbane Umgestaltung im Second Empire gelesen werden kann, im Zuge derer Paris innerhalb von nur zwei Jahrzehnten zu einer Metropole wurde, die als Leitbild europa-, ja weltweit ausstrahlte. Anhand von Caillebottes Refuge läßt sich exemplarisch nachzeichnen, wie Architekten, Maler, Photographen und Literaten im 19. Jahrhundert die räumliche und soziale Erfahrung der modernen Großstadt ästhetisch und wahrnehmungsphysiologisch reflektierten.

Der Blick des Architekten Unter der Verantwortung des gleichermaßen visionären, pragmatischen wie skrupellosen Präfekten des Département de la Seine, Georges-Eugène Haussmann, wurde zwischen 1853 und 1870 aus der noch mittelalterlich und barock geprägten Stadt eine Metropole. Die schmalen, verwinkelten und nicht selten unpassierbaren Gassen wurden durch ein effizientes Straßennetz ersetzt. Dessen lange, breite und schnurgerade Achsen schlitzten die alte Stadtstruktur in alle Himmelsrichtungen auf und liefen in strategischen Perspektiven auf Blickpunkte wie den Arc de Tri-

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Essay zur Quelle: Gustave Caillebotte: Un Refuge, Boulevard Haussmann (1880). Der Essay und die Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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omphe und wie der Place de la Nation zu. 2 Mehr als 200 Kilometer Boulevard wurden neu gepflastert und mit asphaltierten Trottoirs, Bäumen, Gaslaternen, Bänken, Kiosken und Pissoirs ausgestattet sowie von prächtigen Wohn- und Warenhäusern und repräsentativen öffentlichen Gebäuden gesäumt. Haussmanns konsequente Stadtplanung, die von der Ästhetik des französischen Klassizismus geleitet wurde und die der strengen und uniformen Fassadengestaltung sowie standardisierten Firsthöhe unterlag, verlieh Paris sein bis heute charakteristisches Stadtbild mit den fünfgeschossigen Häusern aus Kalksandstein, durchlaufendem Balkon in der zweiten Etage und Mansardendach. Hinter den homogenen Fassaden verbargen sich luxuriöse Appartements, in denen sich Salon, Speise- und Wohnzimmer aneinanderreihten, während zum Hinterhof die Küche und andere Funktionsräume lagen. Solche städtebauliche Maßnahmen, in deren Verlauf über 25.000 Häuser abgerissen wurden und 40.000 neue entstanden, ließen sich nur mit großer sozialer Härte durchführen. Sie bedingten einen Prozeß der Segregation, der das Pariser Kleinbürgertum und Arbeiterschaft in die Banlieue vertrieb, während gleichzeitig neue Viertel entstanden, die der vermögenden Bourgeoisie großzügigen und repräsentativen Wohnraum boten. Tatsächlich vollzog sich der Abriß der alten Quartiers und die Vertreibung der kleinbürgerlichen Bevölkerung nicht nur aus ökonomischen Interessen. Mit der Neugestaltung der kaiserlichen Kapitale verbanden sich auch sozialreformatorische, hygiene-, und nicht zuletzt ordnungspolitische Überlegungen im Kampf gegen die revolutionäre Arbeiterschaft; Barrikadenkämpfe wie in der Julirevolution 1830 sollten durch breite Boulevards und Kasernen in der Stadt unmöglich gemacht werden. Größte politische Priorität hatte für Haussmann die Einführung eines modernen Verkehrs- und Transportsystems. Während man von der Gare du Nord und von den anderen Bahnhöfen aus in die Provinz und europäischen Nachbarländer reisen konnte, wuchsen in der Stadt die jährlichen Passagierzahlen der von Pferden gezogenen Omnibusse der Compagnie Générale des Omnibus zwischen 1855 und 1873 von 40 Millionen auf 116 Millionen! Allerdings wurde Paris aufgrund der öffentlichen Großbauvorhaben (grands travaux) zu einer permanenten und ubiquitären Baustelle, worunter viele Bewohner zu leiden hatten: „Die Straßen von Paris sind wie ihre Bewohner ständig in Bewegung. [...] Von allen Seiten nähern sich im Sturmschritt die Avenuen, umwälzend, sich über jedes Hindernis hinwegsetzend, alles auf ihrem Weg einebnend; die Boulevards machen ihre gigantischen Razzien, verschlingen wie diese monströsen Wale zu Hunderten die Straßen“,

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Siehe Jordan, David P., Transforming Paris. The Life and Labors of Baron Haussmann, New York u.a. 1995; Mathieu, Caroline, Eugène Haussmann und das Neue Paris, in: Die Eroberung der Straße. Von Monet bis Grosz (Ausstellungskatalog, Schirn Kunsthalle Frankfurt), hrsg. von Karin Sagner u.a., München 2006, S. 82–89; Lampugnani Magnago, Vittorio, Das großmaßstäbliche Muster der bürgerlichen Stadt. Haussmann und Paris, in: Metropolen 1850–1950. Mythen – Bilder – Entwürfe / mythes – images – projets, hrsg. von Jean-Louis Cohen und Hartmut Frank, Berlin 2011, S. 3 ff.

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beklagte etwa Victor Fournel in seinem Buch Paris nouveau et Paris en futur.3 Vor allem bedeutete die Umgestaltung von Paris in eine neuzeitliche Kapitale die Zerstörung historischer Strukturen und den fast vollständigen Abriß des mittelalterlichen Zentrums, so daß nicht nur Charles Baudelaire in seinen Fleurs du mal nostalgisch die Zerstörung des Patrimoine beklagte: „Das alte Paris ist nicht mehr (die Form einer Stadt ändert sich schneller, ach, als das Herz eines Sterblichen)“. 4 Und so löste Haussmanns gleichermaßen umstrittene wie weitsichtige Zerstörung des vieux Paris heftige Kontroversen aus. In ungezählten Presseberichten, in Illustrierten und nicht zuletzt in der Literatur wurden die sozialen Umwälzungen der sogenannten „Haussmannisierung“ thematisiert.

Der Blick des Betrachters Denn mit dem Stadtbild veränderten sich auch das Selbstverständnis und die gesellschaftlichen Verhaltensweisen der Pariser auf elementare Weise. Der urbane Raum wurde zur Bühne des modernen Lebens, des Kommerzes, öffentlicher Festakte und militärischer Paraden. Diese fundamentale Transformation machte die Stadt auch für ihre Künstler als neues Motiv interessant: „Früher von den Malern ignoriert, hat das Pariser Leben jetzt seine Chronisten unserer Sitten und unserer steinernen Landschaft gefunden; sie komponieren tableaux vivants, die von der Nachwelt sorgsam gesammelt werden“. 5 Insbesondere Maler und Photographen des Impressionismus begriffen Paris als einen Ort moderner Erfahrung und verbanden das gleichermaßen individuelle wie kollektive Erlebnis mit ihrem eigenen ästhetischen Konzept der Modernität. Degas etwa notierte in sein Notizbuch: „On n’a jamais fait encore les monuments ou les maisons d’en bas, en dessous, de près, comme on les voit en passant dans les rues“. 6 Es war Degas’ Kollege und Förderer Caillebotte, der diese Idee in eine bis dato nicht gekannte Bildsprache umsetzte. So blicken wir in Caillebottes Refuge (Abb. 10) von oben auf ein Fußgängerrondell im 9. Arrondissement hinter der 3

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Fournel, Victor, Paris nouveau et Paris en futur, Paris 1867, S. 22 f.: „Les rues de Paris sont en déménagement perpétuel comme ses habitants. […] Des toutes parts les avenues s’avancent au pas de charge, bouleversant, culbutant, nivelant tout sur leur passage; les boulevards font leurs razzias gigantesques, engloutissant les rues par centaines comme ces monstrueux cétacés“. Baudelaire, Charles, Le Cygne (À Victor Hugo), in: Les Fleurs du mal, Paris 1861, S. 202–205: „Le vieux Paris n’est plus (la forme d’une ville change plus vite, hélas! que le cœur d’un mortel)“. Chesneau, Ernest, L’Éducation de l’artiste, Paris 1880, S. 341: „Naguère méconnue par les peintres, la vie parisienne a trouvé désormais ses chroniqueurs de nos mœurs et de notre paysage de pierre; ils composent de vivants tableaux qui seront précieusement recueillis par la postérité“. Zitiert nach Reff, Theodore, The Notebooks of Edgar Degas. A Catalogue of the Thirty Eight Notebooks in the Bibliothèque Nationale and other Collections, 2 Bde., Oxford 1976, Bd. I, S. 134 f. (Notizbuch 30, S. 196).

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Opéra Garnier, das im Herbst 1860 im Zuge der Haussmannschen Baumaßnahmen eröffnet worden war. Auf der Verkehrsinsel, die heute nicht mehr in ihrer ursprünglichen Form existiert und 1965 in Place Diaghilev umbenannt wurde, laufen von links oben die Rue Scribe und von links unten die Rue Gluck in den diagonal querenden Boulevard Haussmann ein. Wir schauen vom Balkon des Eckhauses im Boulevard Haussmann Nr. 31 herunter, wo Caillebotte 1879 ein Appartement bezogen hatte und wo er von seinem Fenster aus mehrere Verkehrsinseln auf dem Boulevard Haussmann malte, wie Degas seinem Freund Pissarro berichtet. 7 Dem Rondell verleihen fünf dreiarmige Straßenlaternen eine symmetrische Struktur, während im oberen linken Viertel neben einem Schutthaufen eine kleine Baugrube auszumachen ist. Üblicherweise dient eine Verkehrsinsel dazu, Fußgänger eine verkehrsreiche Straßenkreuzung sicher überqueren zu lassen und den Verkehr zu leiten. Beispielsweise rollten zu den Aufführungen in der Opéra Garnier aus allen Himmelsrichtungen stets so viele private und öffentliche Kutschen an, daß es für die Besucher genaue Anweisungen gab, wie sie den Ort ansteuern sollten. Doch Caillebottes Refuge – der städtebauliche Terminus, der übersetzt so viel wie „Zuflucht“ heißt, wurde erst um 1875 in die französische Sprache eingeführt – ist fast völlig verwaist. In der heißen Mittagssonne scheint alles urbane Leben zum Erliegen gekommen zu sein. Nur drei Herren in Schwarz sind im Begriff, die Kreuzung zu überqueren. Der obere von ihnen, der den geometrischen Mittelpunkt des gesamten Gemäldes markiert, wendet dem Betrachter den Rücken zu, um den zwei Damen mit Sonnenschirmen nachzuschauen, die vor ihm auf die andere Seite der Rue Scribe hinüberwechseln und deren Silhouetten im Licht zerfließen. Gleichsam durch die Achse der drei vertikalen Straßenlaternen gespiegelt, ist ein zweiter Passant im Begriff, von der Verkehrsinsel auf die Rue Gluck zu treten. Vom dritten Mann am unteren Bildrand sind nur noch Kopf und Oberkörper zu erkennen, da er just in diesem Augenblick aus dem Gemälde und damit aus unserem Blickfeld verschwindet. Er bringt dadurch ein zeitliches Moment ins Bild, man könnte sich sogar vorstellen, mittels der drei Google Street ViewMännchen überquere man selbst die Kreuzung, da man in Wirklichkeit nicht drei verschiedene Figuren sieht, sondern ein- und dieselbe in den verschiedenen Phasen ihres Durch-das-Bild-Laufens. Die Zeit wird zudem zeichenhaft angezeigt, liegt die Verkehrsinsel doch wie ein überdimensionales Zifferblatt vor uns, dessen Indikation durch die fünf Straßenlaternen angedeutet wird. Liest man die beiden männlichen Figuren als Stunden- und Minutenzeiger, dann „stehen“ sie circa auf 12.35 Uhr – es ist also die Uhrzeit, die in Refuge die kurzen, fast senkrechten Schatten angeben. Die Leere des Platzes – und damit die des Gemäldes – wird zusätzlich durch die fast monochrome Palette betont. Bis auf einige wenige Farbflecke und die Männer im schwarzen Gehrock dominieren warme Pastelltöne zwischen Beige und Ocker, die dem Werk einen nahezu abstrakten Charakter verleihen. Diese Abstraktion findet sich im Detail wieder: Die Baustelle und Schatten der Bäume 7

Edgar Degas an Camille Pissarro, ohne Datum (um 1880); zitiert nach Brodskaya, Nathalia, Edgar Degas, New York 2012, S. 71.

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sind nicht mehr als ein paar Kleckse und Pinselstriche. Die gleißende Mittagssonne läßt Passanten und Objekte violette Schatten werfen, Figuren und Kutschen lösen sich in ihren Konturen gleichsam auf. Caillebotte steigert diesen Eindruck durch einen pastosen Pinselduktus, der dem Bild eine uneinheitliche Tiefenwirkung, ja eine photographische Unschärfe verleiht, so daß der Betrachter versucht ist, die Augen zusammenzukneifen, um die Szene besser fokussieren zu können. Wie für den Passanten im Gemälde bedingt sich für ihn die urbane Raumerfahrung durch das atmosphärische Zusammenspiel aus Licht, Form und Farbe. Der minimalistischen Auswahl von Personal und Objekten entspricht eine extreme Ausschnitthaftigkeit des Bildes, in dem es weder einen Horizont noch eine räumliche Begrenzung oder gar einen konkreten Hinweis auf den Ort gibt. Zusammen mit dem sparsamen Straßenmobiliar gliedern geometrische Flächen und starke Fluchten das Gemälde. Indem der Fluchtpunkt des Werks knapp unterhalb des oberen Bildrands liegt, erfährt die leicht oval verzerrte Verkehrsinsel ihr dynamisches Moment. Im rechten vertikalen Goldenen Schnitt kreuzen sich gleich drei Kompositionslinien: die Verlängerung der Bordsteinkante oben links, die Diagonale des Boulevard Haussmann, auf der die Kutsche nach unten aus Refuge herausfährt, sowie die Achse, welche die beiden Männer auf der Verkehrsinsel bilden. Doch obwohl sich der Bildraum geometrisch präzise berechnen läßt, meint der Betrachter aufgrund der spektakulären Perspektive, den Boden unter den Füßen zu verlieren. Magnetisch wird sein Blick nach unten gesogen, so daß es ihm unmöglich ist, die tatsächliche Distanz zur Straße abzuschätzen. Das Bemühen, im zweidimensionalen Medium der Malerei Höhe beziehungsweise Tiefe in einer derart extremen Sturzperspektive darzustellen, daß dem Betrachter regelrecht schwindelig wird, wandte Caillebotte noch in anderen Werken an. Sein 1882 auf der 7. Impressionisten-Ausstellung bei Durand-Ruel gezeigtes Gemälde Le boulevard vu d’en haut (1880, Privatbesitz) veranlaßte einen Kritiker dazu, den Künstler als „Freund der seltsamen Perspektiven“ zu titulieren. 8 Caillebotte hatte einen weiteren Ausblick von seinem Appartement im Boulevard Haussmann in einem Gemälde festgehalten, bei dem er nahezu exakt denselben Standpunkt wie in Refuge einnahm, jedoch eine völlig andere Ansicht wählte. Sind wir in Refuge selbst der auf den Balkon getretene Betrachter der städtischen Szenerie, nimmt in Homme au balcon, Boulevard Haussmann (Abb. 11, S. 267) gleichsam einer der Passanten in Gehrock und Zylinder unsere Position ein. Dadurch richtet sich unser Blick nicht mehr steil nach unten – der Rücken der Repoussoirfigur, das Balkongitter sowie ein Blumenkasten versperren die Aussicht –, sondern uns öffnet sich ein Panorama über den grünen Boulevard Haussmann mit seinen Fassaden und Mansardendächern, während sich von links das Eckhaus ins Bild schiebt, von dem in der Refuge nur die Sockelzone zu sehen ist. In Homme au balcon, Boulevard Haussmann scheint die Perspektive von Refuge gleichsam

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Chesneau, Ernest, „ami des perspectives curieuses“; zitiert nach Darragon, Éric, Caillebotte Gustave (1848–1894), in: Encyclopædia Universalis; URL: (12.06.2017).

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um 90° aus der Vertikalen in die Horizontale gekippt. 9 Das Gemälde Jeune homme à sa fenêtre (1875, Privatbesitz) zeigt schließlich einen Mann, es handelt sich um Caillebottes Bruder René, wie er aus dem offenen Fenster eine Frau beobachtet, die sich anschickt, den Boulevard Malesherbes zu überqueren. Caillebotte übersetzt hier zwei klassische Motive der Kunstgeschichte – Fensterblick und Rückenfigur – in ein neues, zeitgemäßes Sujet. Durch den Blick aus dem Fenster der eigenen Wohnung, in die sich der Städter zurückzieht, ergeben sich ständig neue Konstellationen des städtischen Lebens. Damit folgt Caillebotte programmatisch der ästhetischen Strategie Edmond Durantys, der 1876 anläßlich der 2. Impressionisten-Ausstellung bei Durand-Ruel in seiner Schrift über La Nouvelle Peinture gefordert hatte, der Maler des modernen Lebens müsse durch ungewöhnliche Ausblicke und -schnitte die alltägliche Durchdringung von Innen von Außen, von privat und öffentlich, von Straße und Zuhause visualisieren. 10

Der Blick des Flaneurs Insofern lesen sich Caillebottes Vermessungen der französischen Hauptstadt weniger als Veduten der Gegenwart, denn als ästhetische Transformation von wahrnehmungs-physiologischen und soziologischen Erfahrungen des urbanen Raumes. Haussmanns Eingriffe ins Pariser Stadtbild, die expandierende Bevölkerung, das zunehmende Verkehrsaufkommen sowie das beschleunigte Alltags- und Arbeitsleben ließen Bewohner und Besucher die Metropole auf eine Weise erfahren, bei der die gewohnten Parameter von Raum und Zeit ihre Gültigkeit verloren hatten. Der moderne Mensch erlebte die Großstadt nicht mehr ganzheitlich, sondern nur noch ausschnitthaft und selektiv. Denn obgleich wir von oben auf die Refuge schauen, haben wir nur einen eingeschränkten Blick auf die Stadt. Dieser entspricht der fragmentierten Wahrnehmung, die die Passanten unten von ihrer Umgebung haben. Gleichwohl sie das Quartier der Opéra Garnier durch- und vermessen, läßt sich ihr Ziel aufgrund der extremen Ausschnitthaftigkeit und Perspektive der Gemälde nicht ausmachen. Caillebotte übernimmt also gewissermaßen die Haltung des flaneur, der in Baudelaires Peintre de la vie moderne durch Paris streift, um die Dynamik und Atmosphäre der Stadt aufzusaugen und in neue Bilder umzusetzen: „Für den perfekten Flaneur, für den passionierten Beobachter ist es ein ungeheurer Genuß, den Wohnsitz in der Masse, im Wogenden, in der Be-

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Eine weitere, ähnliche Ansicht zeigt das Gemälde Boulevard Haussmann, effet de neige, um 1879/81, Privatsammlung. 10 Duranty, Edmond, La Nouvelle peinture: à propos du groupe d’artistes pui expose dans les galeries Durand-Ruel, Paris 1876, S. 28 f.: „La fenêtre est encore un cadre qui nous accompagne sans cesse, durant le temps que nous passons au logis, et ce temps est considérable. Le cadre de la fenêtre, selon que nous en sommes loin ou près, que nous nous tenons assis ou debout, découpe le spectacle extérieur de la manière la plus inattendue, la plus changeante, nous procurant l’éternelle variété, l’impromptu qui est une des grandes saveurs de la réalité“.

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wegung, im Flüchtigen und Unendlichen zu wählen“. 11 Dabei träumt Baudelaire von einer Bildgattung, die die moderne Malerei erst erfinden müsse, „eine Bildgattung, die ich gerne als Landschaft der großen Städte nenne, das heißt, die Sammlung der Erhabenheit und Schönheit, die aus einer mächtigen Agglomeration von Menschen und Gebäuden resultiert“. 12 Indem Caillebotte uns in Refuge den flaneur jedoch in seiner Vereinzelung und Anonymisierung zeigt, vermittelt er uns auch die psychologischen Belastungen der Metropole, die in Dislokation, Entfremdung oder gar neurasthenischen Überanstrengung enden konnten. 13 Walter Benjamin beschreibt in seinem Passagen-Werk den „anamnestische[n] Rausch, in dem der Flaneur durch die Stadt zieht“, bis er „in tiefer Erschöpfung auf seinem Zimmer, das ihn befremdet, kalt zu sich einläßt, zusammensinkt“. 14

Der Blick des Photographen Caillebottes Beobachtungen des modernen Lebens, seine raffinierten Blicke in die Tiefe und gewagten Bildausschnitte zeichnen eine geradezu photographische Qualität aus. Tatsächlich wurde auch er von diesem Medium, das seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bei Künstlern und Literaten wachsendes Interesse erfuhr, nachhaltig inspiriert. 15 Neben den zahlreichen Aufnahmen von Charles Marville, in denen der offizielle Photograph der Stadt Paris die grands travaux von Baron Haussmann dokumentiert hat 16, sind die Panoramaaufnahmen zu nennen, mit denen unter anderem die Gebrüder Bisson die französische Metropole aus der Höhe zeigten. Zudem wird der Künstler von der Erfindung und Popularisierung des neuen photographischen Verfahrens der Stereoskopie angeregt worden sein, mittels derer Charles Soulier und andere Photographen die Illusion von Bewegung 11 Baudelaire, Charles, Le peintre de la vie moderne (1863), in: ders., Curiosités esthétiques. L’Art romantique et autres Œuvres critiques, Paris 1990, S. 463: „Pour le parfait flâneur, pour l’observateur passionné, c’est une immense jouissance que d’élire domicile dans le nombre, dans l’ondoyant, dans le mouvement, dans le fugitif et l’infini“. Siehe Forgione, Nancy, Everyday Life in Motion: The Art of Walking in Late-Nineteenth-Century Paris, in: The Art Bulletin 87 (2005), H. 4, S. 664–687. 12 Baudelaire, Charles, Le Salon de 1859, in: ebd., S. 378: „un genre que j’appellerais volontiers le paysage des grandes villes, c’est-à-dire la collection des grandeurs et des beautés qui résultent d’une puissante agglomération d’hommes et de monuments“. 13 In den 1880er-Jahren erfuhr die Neurasthenie-Forschung große Konjunktur, in der die Belastungen des großstädtischen Lebens als Ursache für die steigenden psychischen Erkrankungen ausgemacht wurden. 14 Benjamin, Walter, Das Passagen-Werk, in: ders., Gesammelte Werke, Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1991, Bd. V/1, S. 525. 15 Siehe Dans l’intimité des frères Caillebotte. Peintre et photographe (Ausstellungskatalog, Paris, Musée Jacquemart-André / Musée National des Beaux-Arts du Québec), hrsg. von Serge Lemoine, Paris 2011; Gustave Caillebotte. Ein Impressionist und die Fotografie (Ausstellungskatalog, Schirn Kunsthalle Frankfurt), hrsg. von Karin Sagner und Max Hollein, München 2012. 16 Siehe Marville, Charles, Photographer of Paris (Ausstellungskatalog, National Gallery of Art, Washington u.a.), hrsg. von Sarah Kennel, Chicago u.a. 2013.

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und Raum steigerten. Vor allem aber profitierte der Maler von den Recherchen, die sein Bruder Martial Caillebotte für ihn als Amateurphotograph in der Stadt betrieb und ihm photographische Vorlagen für seine Gemälde lieferte (Abb. 12). Ungeachtet dieser zeitgenössischen Quellen, entwickelt Caillebotte in einigen Werken bereits eine Bildsprache, wie sie erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Perspektiv- und Raumauffassungen der internationalen Photographie entwickeln werden. Besagtes Bild Le Boulevard vue d’en haut weist beispielsweise eine verblüffende Ähnlichkeit zu einer Aufnahme auf, die André Kertész fünfzig Jahre später im Stil des Neuen Sehens komponierte. 17

Abb. 12: Martial Caillebotte: Rond-point, vue du balcon du 9, rue Scribe, o.D. 18

Der Blick der Kollegen Wie Caillebotte suchten andere Künstler ebenfalls den Blick von oben auf das alte und neue Paris. 19 Das vibrierende Leben auf den Boulevards und Plätzen wurde zu 17 Siehe Simons, Katrin, Paris von oben. Otto Steinerts „Ein-Fuss-Gänger“ und die Perspektiven der Moderne in Malerei und Fotografie, in: Fleckner, Uwe; Schieder, Martin; Zimmermann, Michael F. (Hgg.), Jenseits der Grenzen. Französische und deutsche Kunst vom Ancien Régime bis zur Gegenwart, 3 Bde., Köln 2000, Bd. III, S. 166–179. 18 Privatbesitz, URL: (12.06.2017). 19 Siehe Frey, Andrea, Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860–1900, Berlin 1999; Palmbach, Barbara, Paris und der Impressionismus. Die Großstadt als Impuls für neue Wahrnehmungsformen und Ausdrucksmöglichkeiten in der Malerei, Weimar 2001; Sagner, Karin, Gustave Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus, München 2009.

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einem bevorzugten Sujet der Impressionisten, um ihre Studien von Licht, Atmosphäre und Bewegung umzusetzen. Ihre Stadtansichten, schon gar nicht die von Caillebotte, stellten allerdings so gut wie nie die sozialen Schattenseiten der sogenannten „Haussmannisierung“ dar, sondern konzentrierten sich auf den schönen Schein des modernen Lebens zwischen Repräsentation, Konsum und Vergnügen. Das Häßliche und die Abgründe einer auseinanderdriftenden Gesellschaft, so wie sie in der zeitgenössischen Literatur drastisch geschildert und anprangert wurden, blendeten sie völlig aus. Der Impressionismus blieb eine ästhetische Revolte, der sich gegen Stil und Themen der Akademie wandte, aber im bürgerlichen Liberalismus seine ideologische Basis besaß. Im Frühjahr 1867 stellte Claude Monet beim Generaldirektor der Museen, Comte de Nieuwerkerke, die Anfrage, in den Perraultschen Kolonnaden des Louvre seine Staffelei aufstellen zu dürfen, „um Ansichten von Paris zu malen“. 20 Nachdem ihm die Genehmigung erteilt worden war, entstanden innerhalb von wenigen Wochen drei Panoramaansichten: Le Jardin de l’Infante (Allen Memorial Art Museum, Oberlin), Le Quai du Louvre (Den Haag, Haags Gemeentemuseum) sowie das Gemälde Saint Germain-l’Auxerrois (Abb. 13, S. 268), auf dem uns die violette Schatten werfenden Bäume und silhouettenhaften Figuren von Refuge wiederbegegnen. Als Monet die drei Werke auf dem Salon einreichte, wurden sie von der Jury abgewiesen, doch Émile Zola erklärte ihn zum Maler der sujets modernes: „Er liebt die Horizonte unserer Städte, die grauen und weißen Flecken, die die Häuser auf dem klaren Himmel werfen; er mag in Straßen die Menschen, die laufen, geschäftig hin und her eilen, in Mänteln, [...], und die aristokratischen Promenaden, wo der Lärm der Kutschen rollt“. 21

Im Dezember 1897 berichtet Camille Pissarro seinem Sohn Lucien, wie er sich im Grand Hôtel du Louvre ein Zimmer gemietet habe, um von dort aus Ansichten rund um die Place du Palais Royal malen zu können, „jene Straßen von Paris, die gewöhnlich als häßlich bezeichnet werden, und die doch so silbrig, so leuchtend und so lebensvoll sind – ganz anders als die Boulevards. Modern im vollsten Sinne“. 22

Eine andere spektakuläre Lösung für die Darstellung des flaneur hatte wenige Jahre zuvor schon Degas mit seinem Gemälde Le Vicomte Lepic et ses filles tra-

20 Claude Monet an Comte de Nieuwerkerke, 27. April 1867: „pour faire des vue de Paris“; zitiert nach Wildenstein, Daniel, Monet. Catalogue des œuvres, Lausanne 1991, Brief 2687, S. 188. 21 Zola, Émile, Les actualistes, 24. Mai 1868, in: ders., Écrits sur l’art, hrsg. von Jean-Pierre LeducAdine, Paris 1996, S. 207: „Il aime les horizons de nos villes, les taches grises et blanches que font les maisons sur le ciel clair; il aime, dans les rues, les gens qui courent, affairés, en paletots, […], les promenades aristocratiques où roule le tapage des voitures“. 22 Pissarro, Camille, Briefe an seinen Sohn Lucien, hrsg. von John Rewald, Erlenbach-Zürich 1953, S. 367 (15. Dezember 1897).

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versant la place de la Concorde (Abb. 14, S. 269) gefunden. 23 Ähnlich wie Caillebotte wählte er einen Ausschnitt, der das raffiniert komponierte Bild wie einen Schnappschuß erscheinen läßt. Indem es seine Protagonisten vor der schier unendlichen Leere der Place de Concorde in den unmittelbaren Vordergrund rückt – offensichtlich befinden auch sie sich auf einer Verkehrsinsel –, ist es nicht nur ein jeder Konvention widersprechendes Portrait einer aristokratischen Familie, sondern spiegelt zugleich deren Entfremdung in der modernen Metropole wider, die sie in völlig disparate Richtungen auseinanderstreben läßt. Selbst der Windhund wirkt in der ihm unnatürlichen Umgebung desorientiert. Eine verblüffende Nähe zu Caillebottes Refuge entwickelt drei Jahrzehnte später das Werk eines deutschen Expressionisten: Wie auf einem Laufsteg präsentieren sich Ernst Ludwig Kirchners sphinxhaften Kokotten mir ihren auffälligen Federhüten auf dem Potsdamer Platz (Abb. 15, S. 270) ihren männlichen Freiern, die den sicheren Trottoir verlassen müssen, um zu ihnen auf das Rondell zu gelangen. Am Vorabend des Ersten Weltkrieges evoziert die Szene zum einen eine bedrängende Stimmung, zum anderen vermittelt sie eine großstädtische Lebenshaltung zwischen Vergnügungssucht und Entfremdung. Der Künstler selbst umschrieb in seinem Davoser Tagebuch, „das Gefühl, was über einer Stadt liegt, sich darstellt in der Art von Kraftlinien. In der Art, wie sich die Menschen im Gedränge komponieren, ja in den Bahnen, wie sie liefen“. 24

Zuletzt sei noch ein Blick auf eine Bronzeplastik gewagt, in der Alberto Giacometti seine spezifische Wahrnehmungsästhetik mit einem existentialistischen Lebensgefühl zusammengeführt hat. Durch seine rechteckige tendierenden Grundform und die kalkulierte Positionierung der Figuren entwickelt Der Platz25 (1947/48, Berlin, Nationalgalerie) eine geradezu bildhafte Komposition. Diese wird von einer dialektischen Spannung gekennzeichnet, die sich zwischen der Bewegungsdynamik der schreitenden männlichen Figuren und der Unbeweglichkeit der stehenden weiblichen Figur aufbaut, wobei eine direkte Konfrontation durch ein geradezu ostentatives Aneinandervorbeischreiten vermieden wird. Dadurch, daß der Betrachter die eigene Position zu Figuren und Raum ständig neu definieren muß, wird er selbst zum Schreitenden und doppelt somit rezeptiv das zentrale Motiv des Werks. Dennoch bieten ihm die bewegte Oberflächenstruktur und amorphe Materialität der Figuren keinen optischen Halt. Giacomettis Ästhetik folgt hier offensichtlich den Überlegungen eines Maurice Merleau-Pontys, der 1945 in seiner Phénoménologie de la perception das Problem der Wahrnehmung insbesondere der Wahrnehmung des eigenen Körpers im Verhältnis zu einem anderen Objekt aufgeworfen hatte. 23 Siehe Dombrowski, Andrè, History, Memory, and Instantaneity in Edgar Degas’s Place de la Concorde, in: The Art Bulletin, Bd. 93, Nr. 2, Juni 2011, S. 195–219. 24 Kirchner, Ernst Ludwig, Davoser Tagebuch, 1925, zit. nach Ernst Ludwig Kirchner, 1880–1938 (Ausstellungskatalog, Nationalgalerie Berlin u.a.), hrsg. von Lucius Grisebach und Annette Meyer zu Eissen, Berlin 1980, S. 29. 25 Vgl. Giacometti, Alberto, Der Platz 1948, URL: (12.06.2017).

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Tatsächlich suchte Giacometti nach einer Darstellung der Realität, in der es ihm nicht um die Abbildung eines Gegenstands an sich ging, sondern um dessen Erscheinung, besser gesagt um die Wiedergabe des Sehakts, durch den Distanz und Raum für den Betrachter erfahrbar werden. Erweitert man diesen Ansatz um die phänomenologische Ontologie, die Jean-Paul Sartre praktisch zeitgleich in L’être et le néant entwickelte, gewinnt Giacomettis Großstadtszene mit ihren sich permanent verändernden Zufallskonstellationen eine metaphysische Dimension. Nach Sartre kann „auf Grund der bloßen Tatsache, daß es eine Welt gibt, diese Welt nicht ohne einseitige Orientierung in Bezug zu mir existieren.“ 26 Eine rein objektive Welt ist demzufolge nur als eine „leere Welt“, als eine Welt „ohne die Menschen“ zu verstehen. 27 Dieser anthropologische Ansatz, der zugleich ein moralischer und humanistischer ist, läßt sich auf Der Platz anwenden. Allen Anfeindungen zum Trotz begreift sich der Existentialismus, der den metaphysisch verlassenen, einsamen Menschen in die leere Welt wirft, nämlich als eine optimistische Philosophie, die es jedem ermöglicht, ja jeden dazu auffordert, sich seiner Geworfenheit, die ihn „dazu verurteilt, frei zu sein“, bewußt zu werden. 28 Es ist ein Postulat, das im 19. Jahrhundert seine ästhetischen und philosophischen Ursprünge hat und das bis heute ein Leitmotiv der Stadtplanung darstellt. Literaturhinweise Frey, Andrea, Der Stadtraum in der französischen Malerei 1860–1900, Berlin 1999. Gustave Caillebotte. Ein Impressionist und die Fotografie (Ausstellungskatalog, Schirn Kunsthalle Frankfurt), hrsg. von Karin Sagner und Max Hollein, München 2012. Metropolen 1850–1950. Mythen – Bilder – Entwürfe / mythes – images – projets, hrsg. von JeanLouis Cohen und Hartmut Frank, Berlin 2011. Palmbach, Barbara, Paris und der Impressionismus. Die Großstadt als Impuls für neue Wahrnehmungsformen und Ausdrucksmöglichkeiten in der Malerei, Weimar 2001. Sagner, Karin, Gustave Caillebotte. Neue Perspektiven des Impressionismus, München 2009.

26 Sartre, Jean-Paul, L’être et le néant. Essai d’ontologie phénoménologique, Paris 1943, S. 369: „Ainsi, du seul fait qu’il y a un monde, ce monde ne saurait exister sans une orientation univoque par rapport à moi“; Jean-Paul Sartre: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. III, Hamburg 9 2003, S. 545. 27 Ebd. (dt.), S. 546; ebd. (frz.), S. 369: „monde désert“ und „monde sans les hommes“. 28 Sartre, Jean-Paul, Der Existentialismus ist ein Humanismus, in: ders., Der Existentialismus ist ein Humanismus und anderer philosophische Essays 1943–1948, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. IV, Hamburg 2000, S. 155; ders., L’existentialisme est un humanisme, Paris 1964, S. 145–192, S. 37: „[…] est condamné à être libre“.

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The Athens Charter was a manifesto written mostly by the Swiss architect and urban planner Le Corbusier, summarizing the Fourth Congress of the International Congress of Modern Architects (CIAM), which took place in 1932 mostly aboard a passenger boat which steamed from Marseilles, France, to Athens, Greece, and back again. It was first published in France at the height of the German occupation and the Vichy government in 1943. It was essentially a condensed version of the core ideas and principles of modern architecture and urban planning, which called for a total remaking of cities in the industrial world, to make them more efficient, rational, and hygienic. Though Corbusier and the CIAM were not the first or only people to call for such total remaking of the urban environment, the Athens Charter became widely circulated after the war, especially among European governments looking to rebuild devastated cities and house millions of homeless citizens. It subsequently also became a blueprint of sorts for American cities coping with the urban poverty caused by the winding down of the war economy and subsequent loss of jobs, especially among African Americans who had migrated to northern cities for those jobs and were now stranded in urban slums. It became a blueprint for the communist world in the 1950s, 1960s, 1970s and 1980s, especially in the USSR and its East European allies, which sought the most rational and efficient way to plan out housing. And finally, it became a blueprint for many developing countries that were seeking to industrialize after achieving independence but did not want to repeat the mistakes of European industrialization of the 19th century. In some cases, the Athens Charter served quite well as a blueprint; in others, most notably the American housing projects, its shortcomings and lack of foresight in certain matters led to serious, systemic social problems that have yet to be fully resolved. In both cases, the document had as much impact on the daily lives of the worlds’ citizens as just about any document of the 20th century, and the potential success and failures of it are contained, like embedded seeds, within the text of the document itself. This essay seeks to provide context for the Athens Charter, as well as identify eight main themes that emerge from the Charter, and that reveal the most important ways in which the Charter reflected the historical context from which it emerged, as well as impacted the history of the postwar world. These themes are: 1) the centrality of the natural environment, including air, plant life, and espe1

Essay relates to source: The Athens Charter (1943/1973). Essay and source are published online in the web portal “Themenportal Europäische Geschichte”, URL: .

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cially the sun; 2) a mystical belief in the spatial layout and symmetrical spacing of urban planning as a panacea for all social ills; 3) elitism, especially in the sense of the superiority of the architect and urban planner; 4) the importance of restoring harmony to the relationship between time and space in modern cities, especially in the case of the speed of mechanized transit within urban space; 5) an almost Manichean sense of morality in which old cities are posited as representing “evil”; 6) a nearly complete absence of any grounding of the Charter’s claims in empirical research, natural science, medicine, or social science; 7) a remarkable lack of attention towards the immense financial resources necessary to carry out the program of radical and profound urban renewal advocated in the Charter; and finally, 8) a tolerance for historical preservation only where such preservation does not interfere with the Charter’s program. Before outlining the historical context that gave rise to the CIAM and the Athens Charter, it is important to highlight briefly the potential parallels and connections that can be drawn between the Charter and the current economic crisis in the United States and the world. Aside from the obvious parallels that are now gaining popular currency between 1932 and 2008, the more profound connection to be drawn is that the current crisis is not only a real estate or financial crisis – it is at its very heart a crisis of housing, in particular, it is the collapse of a particularly (though not exclusively) American solution to living space and class inequality, the so-called “ownership society,” which was a bubble, that is, an illusion. It may be that we in the West, especially in North America, will need to revisit documents such as the Athens Charter, with an eye towards its successes as well as its failures, to find a more sustainable model for building and financing future cities, towns, and infrastructure. The origins of the Athens Charter lay one year before the onset of the First Great Depression, in 1928, when an international architectural competition was held in Geneva, Switzerland. The jury, formed of distinguished professors of architectural history and theory at Europe’s most venerable academies, was to select the best design for the proposed Palace of the League of Nations. By 1928, however, a large and influential movement of architects, designers, and urban planners had developed outside the traditional academies, associated with groups such as the Bauhaus and the Werkbund, and they felt strongly that the League of Nations ought to be housed in a building that represented the universal aspirations of the League, rather than the tradition and heritage of European culture. The jury was not inclined towards the modernist, rational designs of the Bauhaus and associated architects, including Le Corbusier and Walter Gropius, who felt strongly that they had been unfairly treated during the competition. It was in protest that Corbusier, Gropius, and others formed the CIAM and held its constituent First Congress in the home of a sympathetic local patroness, the Chatelaine of La Sarraz, Helene de Mandrot, outside Geneva. The Chatelaine’s salon provided the perfect venue for the embryonic CIAM to gather near the League of Nations, remaining in Geneva and thus in the international spotlight while constructing an alternative or “shadow” architectural movement.

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The core of this “shadow” international architectural movement was the First Congress’s founding document, the Declaration of La Sarraz. The Declaration of La Sarraz was the first incarnation of what would become the Athens Charter. It called for freeing architecture from the “sterilizing hold of the Academies” by linking architecture to the “vast resources afforded by industrial engineering” of the present “machinist age” rather than to the “anemic craftsman class” and thus effect a break with the “glory ages of the past.” Corbusier, in particular, was the driving force behind the CIAM and would later be the dominant intellectual influence of the Athens Charter – of all the modernist architects, Corbusier alone combined concern over individual buildings with a comprehensive vision of completely reconstructing cities and urban life in general, lending the La Sarraz Declaration the cast of a new philosophical movement, not simply a new set of architectural principles. In particular, the La Sarraz Declaration gave a name to the philosophy guiding the new organization: “urbanism,” very much a creation of Corbusier himself. “Urbanism,” the Declaration explained, was applicable to rural areas as well as cities, and sought to reorient architecture and planning around three main pillars: dwelling, working, and recreation – in contrast to what the “academies” considered the proper domain of the study of serious architecture, namely, important and symbolic public buildings and elite residences, leaving housing, workspaces, and recreational areas to the whims of speculators and slumlords. The Declaration also claimed that Urbanism was concerned with revamping three basic processes fundamental to how cities were built: occupying the ground; organizing traffic; and legislation. 2 The influence of Corbusier, and Urbanism, contained within the La Sarraz Declaration, and eventually the Athens Charter itself, presented a new definition of the architect as less an artist of individual works, and more a social engineer, a city planner, and the direct translator of revolutionary ideals into material, tangible, functioning reality. The importance of urbanism, and by extension the CIAM, the La Sarraz Declaration and ultimately the Athens Charter, lay in the fact that it transformed the architect into a city planner first and foremost. In general, the first CIAM Congress took place against the backdrop of several decades of what was called the “social question” – that is, the problem of severe class polarization and the concomitant problems associated with urbanization and industrialization. It also took place at a time when social democrats had managed to begin implementing their ideas across Europe, even though their hold on power was tenuous at best in places like Weimar Germany. One of the most compelling arguments made by social democrats was that they provided the most sensible solutions to the “social question” – namely, by constructing a welfare state that would proactively work to ameliorate poverty, unemployment, living conditions and other serious problems before they caused the masses to revolt, thus heading 2

Much of the background to the creation of the Charter in this essay comes from the introduction to the translated and published volume by Le Corbusier, The Athens Charter, New York 1973. The original was published by Corbusier in French as La Charte d’Athènes, Paris 1943, and the edited version of the same name in 1957.

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off either a communist revolution or a fascist counterrevolution. Most of the architects and urban planners involved with the CIAM were in fact social democrats, or heavily sympathetic to the ideas of social democracy, and so the Athens Charter should be seen at least partially within the historical context of the turbulent late 1920s and early 1930s when traditional liberal economic and political philosophies had failed to sort out the social problems within the society, and when the twin specters of communism and fascism seemed to be an even graver threat looming on the horizon. The Charter saw these problems as stemming from a lack of planning accompanying the rise of industrialization and the growth of urban populations first and foremost, locating the source of the problem in the structure of urban space itself, and clearly believed that the way to prevent the masses from becoming radicalized further was to change the physical environment in which they lived. It was not an entirely absurd notion; after all, until the Nazi seizure of power a year later, the bulk of the most serious political violence had been staged in urban spaces, especially the slum districts such as Prenzlauer Berg in Berlin, where the Spartacus Uprising was able to use the narrow alleys and streets as part of their defenses, and were easily able to round up fighters from the local neighborhood. But in a very important sense, the notion that simply rebuilding the city in a more rational and planned way would resolve the deep seated political and economic antagonisms threatening European (and to an extent American) society was indicative of the strong vein of elitist and paternalistic thinking common to social democratic intellectuals, social reformers, architects and planners such as Corbusier and his allies in the Bauhaus and Werkbund. It assumed that 1) if citydwellers were won over to political extremism, it was not the result of any real decision making on their behalf, but rather because they did not have enough sunlight or fresh air and that this impaired the moral and cognitive judgment and that 2) these architects and designers, almost all of whom were from at least somewhat comfortable backgrounds, were inherently in a better position to decide on behalf of the masses what they wanted and needed as far as what should replace the old cityscapes. These themes were reinforced as the CIAM met again in 1929, in Frankfurt, and again in 1930 in Brussels. The fourth CIAM Congress then, which took place in 1932 mostly at sea, was primarily an attempt to sum up the conclusions that the members of the previous Congresses had reached. According to Corbusier, the atmosphere aboard the vessel, the Patris II, was one of “youthfulness, trust, modesty, and professional conscience” as it sailed from France to Greece and back over the course of two weeks. The results of the Congress were initially published in the official proceedings of the Greek Chamber of Technology in 1933, but revised and annotated by Corbusier in 1941 as the Athens Charter and published in Paris in 1943. Though it is not entirely clear why Corbusier published it in 1943, more than a decade after its inception, there is speculation that Corbusier had served on a “reconstruction committee” intended to begin preparing for post-liberation France, even while the Vichy regime still held power. Though Corbusier served on a Vichy government architectural board, Vichy officials grew increasingly suspicious of his political sympathies and activities, and Corbusier apparently

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decided to publish the Charter as a compendium of the Congresses of the CIAM, and to do so anonymously, worried that if something happened to him, as the center of the CIAM, the ability to synthesize all the work of the CIAM would be lost. The first and most basic theme in the Charter is the importance of the natural environment to the “urbanist” program advocated by the Charter, which may seem somewhat counterintuitive considering the highly “artificial” character of the highly modern city proposed by Corbusier. However, for Corbusier and the CIAM, it made sense, because they were searching for an entirely new basis or orientation upon which to build a city, and because they were looking for a principle that would be universal, the sun and the natural environment appeared to be a universal factor for all cities at all times. However, beyond the functional utility of using the sun and the landscape as the ur-basis for designing new cities, the Charter reflects a deeper belief in the mystical power of the natural world as the rightful – not merely the convenient – basis of all human building. So, the Charter says in its third point, “It must never be forgotten that the sun dominates all, imposing its law upon every undertaking whose object is to safeguard the human being. Plains, hills, and mountains […] shape a sensibility and […] give rise to a mentality.”

The sun is later reiterated as fundamental to the Charter as one part of a fundamental triad of “sun, vegetation, and space,” which are described in article #12 as the “three raw materials” of urbanism. In particular, the Charter makes clear that the “evil” of the city, discussed below, is a result of lacking sunlight and fresh air, and in particular a lack of greenery in the urban slums. In article #11, the Charter claims that “the individual who loses touch with nature […] pays dearly through illness and moral decay.” Though the Charter almost never describes the specific kinds of moral decay to which it is referring (with the exception of numerous vague references to “promiscuity”), it was picking up on a recurring theme present in previous social movements to reform the physical and social “ills” associated with the growth of urban slums, in particular, the notion that reintegrating urban dwellers with green space and nature, and exposing them (especially as children) to nature and the outdoors would imbue them with better moral character. It also carries with it tones of medieval superstition and pseudo-medicine, in particular the widely accepted notion of a “miasma” (or “bad air”) as a mystical force responsible for disease and ill fortune (thus the widespread use of “posies” or pouches of pleasant smelling flowers to ward off infection during the time of the Black Death), or the commonly held belief among 18th and 19th century physicians that people – usually of the upper classes – who suffered from chronic physical or psychological conditions could be cured by moving to a better “climate” with better “air,” usually in southern Europe or in the Alps. This kind of magical thinking is carried over into the second theme present in the Charter, namely, the notion that by aligning and placing the angles, streets, buildings, windows etc., of the city with the right symmetry (a symmetry following the arc of the sun and the topography of the landscape) a kind of “cosmic portal” could be unlocked which would allow good energy to gush forth, curing all

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“evils” and preventing any more from developing. As the Charter says in article #92, “Architecture presides over the destinies of the city. It orders the structure of the dwelling, that vital cell of the urban tissue whose health, gaiety, and harmony are subject to its decisions. […] Architecture is the key to everything.”

In particular, the Charter argues that the relationship between the dwelling and the street needed to be conceived with an entirely different alignment, as article #16 says: “The house will never again be fused to the street by a sidewalk. It will rise in its own surroundings, in which it will enjoy sunshine, clear air, and silence.”

The alignment of dwellings along transit routes is especially inauspicious because it allows for only a minimum of exposure to the sun, the most important factor of all. Of course, an architect arguing that “architecture is the key to everything” ought to raise immediate alarm bells, and it is indeed a clear indicator for the often profound sense of self-importance and philosophical narcissism of Corbusier and the other architects of the CIAM, a different kind of elitism than their traditionalist enemies in the academy, but elitism nonetheless. Indeed the magical thinking and mysticism dovetails in many ways with the elitist mentality of the Charter, because one thing conspicuously absent in the Charter is any discussion of real needs, problems, or desires of ordinary city dwellers. By assuming that the problems of the city are a result of angles, spacing, vegetation, sunlight, etc., the CIAM seems to have left out the very important reasons that motivate people, from greed to fear, from lust to despair and everything in between. This is a very important point because the inability of Corbusier and others to see urbanites as individual subjectivities is very much representative of the kind of postwar social democratic solutions, such as the vast housing projects built both in the East and the West. The assumption that the right array of buildings would channel social harmony, like some kind of modernist Stonehenge or Bauhaus/Feng shui hybrid, blinded city planners to the factors that would destabilize that very harmony within these projects, such as racism, drugs, criminality, fear, isolation, etc. The individual subject is not necessarily present in the Charter, but the subject’s automobile certainly is. The fourth theme central to the Charter is the profound and categorical change wrought within cities by the advent of the automobile. For Corbusier and the CIAM, the automobile is more than just a faster means of transport than the horse or walking, because the entire spatial layout of cities derived over centuries and even millennia from the temporality of walking or riding on horseback. Automobiles altered the time necessary to traverse distances, and thus the temporality of cities, so much that the spatiality had also to be fundamentally changed, rather than altered in ad hoc ways. Thus, one of the fundamental precepts of the Charter is the separation of the street from the dwelling, so that roads are only for traveling, not for parking, picking up, cruising, etc. Not only would such a change make traffic flow more efficiently, argues the Charter, but it

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would allow people to live in verdant areas without necessarily having to leave the city, it would remove a source of pollution, or, “bad air” from the dwelling, and it would make city life much safer. The fifth major theme to highlight in the Athens Charter is the repeated use of the word “evil,” usually in reference to the problems of 19th and early 20th century urbanization and industrialization, including specifically the class disparities of certain parts of the city, the poor living conditions of the slums, and the profit motive driving and sustaining the chaotic and dangerous situation in modern cities. Again, it seems a bit counterintuitive for a modernist architect to discuss problems of the city as “evil.” To an extent, the use of such a blanket phrase can be attributed perhaps to the elitism of the Charter, such as in article #8, which argues that with the rise of the automobile “chaos has entered the cities. The evil is universal, expressed in the cities by an overcrowding that drives them into disorder.” Here, the evil is really disorder and overcrowding, which are subjective categories, and we could imagine that for someone of upper class bearing, someone who did not live or grow up in the midst of such “chaos” or “overcrowding” or “disorder,” gazing upon the bustling slums might indeed evoke a kind of blanket sense of utter chaos or panic, so terrifying that it might certainly appear as self-evidently “evil.” However, by using such superstitious or quasi-religious language to ground the rationale for change, the Charter immediately reveals its prejudices and the shortcomings of its assumptions about the nature of human society and behavior. And indeed, though the Charter is a document intended to reform a society rent by class conflict, it is clearly a document that reveals the extent of the lack of understanding between the classes as much as it provides meaningful palliatives to that socio-economic chasm. For only a group of architects who had no serious knowledge of the very slums which they sought to reform, either anthropological or sociological, either experiential or empirical, would make such sweeping assumptions about life in the slums. The sixth important theme in the Charter then is the near total lack of any meaningful data, anecdotal or scientific, to ground any of the truth claims upon which the program of the Charter rests. A good example of this is the assumption that the cramped quarters and labyrinthine courtyards and alleys of the old slums fostered “promiscuity” and criminality, a common focus of social reformers since the Victorian age. The Charter calls upon no studies showing any causal link between the narrowness of hallways, streets, stairwells, etc. and criminality, prostitution, or any other indicator of “promiscuity.” A similar dynamic can be witnessed in the housing projects of communist Eastern Europe, for example, the Berlin-Marzahn “Neubausiedlung” built in the 1970s and 1980s, perhaps the closest approximation to the kind of comprehensive urban plan called for in the Charter. There, criminality and prostitution was nearly unknown, but the wide open spaces, easy access to the buildings and their communications connections, and even the tight levels of control governing who got an apartment in the Plattenbauten made it easier than ever for the East German secret police, the Stasi, to observe citizens closely. If there was any possibility for keeping secrets from the state, it was only in the old city slums in districts of Berlin such as Pankow and Prenzlauer Berg, where a dissident or a spy could disap-

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pear easily into a dark alleyway, or hear the creaking floorboards outside an apartment if someone tried to sneak up to the door to furtively eavesdrop. The fact that it was ultimately the communist states of the USSR and its Eastern European allies like East Germany that adopted the basic program of the Athens Charter wholesale leads to the seventh theme of the Charter, also a conspicuous absence – the lack of any realistic plan for how much the implementation of this plan would cost and how it would be paid for. In many cases, such as in article #36, the Charter calls for simply razing large swaths of cities, and fundamentally rebuilding roads, industrial zones, residential zones, infrastructure, etc. In other cases, the Charter seems to indicate that new cities will have to be built upon a tabula rasa next to or near the old cities, which will presumably be abandoned in some way. Obviously, such a project would be enormously costly. Only once, in article #93, does the Charter mention the other immediate obstacle to such megalomaniacal city planning: the necessary expropriation of vast amounts of property from its rightful and legal owners. The legal impracticality aside, this points to a very difficult dilemma for the Athens Charter, namely, that this program of sweeping urban reform is meant to head off a coming revolution, either from the right or the left – but in order to expropriate such large amounts of property, a government would, for all intents and purposes, have to adopt the totalitarian, maximalist tactics of communist or fascist dictatorships. The Charter claims that rather than simply “nationalizing” or “socializing” property at gunpoint, government ought to remunerate all property owners for their loss at “fair market value.” Again, however, on the scale the Charter is describing, “fair market value” would be so astronomical a cost as to be virtually impossible for any but the most absolutely wealthy municipalities or regional governments to afford. It is not surprising then that this program was only ever realized on the scale it was intended under communist dictatorships, which had no problem with outright expropriation of property, and had near complete control over the finances and economy of the country, and thus were in a position to devote the enormous sums of money necessary to carry out projects such as Berlin-Marzahn. The issue of completely razing large parts of the city brings us to the eighth and final theme important to understanding the Charter – the loss of any historical heritage with such demolition. Here, Corbusier and the CIAM do make an exception for certain historical monuments or landmarks, but only on the condition that they do not impede the execution of the urbanist plan, and that they are not superfluous. That is, one rococo or baroque church per city is enough to serve as a reminder of what the past looked like, and planners ought to select one that is not in the way of a new thoroughfare or dwelling zone, and destroy the rest. And this is important because it demonstrates a willingness to erase any traces of the past that might serve as a spark for nostalgia and what the Charter calls, in article #67, “a narrow-minded cult of the past.” For the all the obvious flaws contained within the Athens Charter, many of which led to serious social and economic and environmental problems in the postwar world as the Charter was implemented on an ever wider scale, it is not clear that a better solution has in principle yet been found for how to erase the

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inequality built into the very urban fabric of industrial as well as post-industrial cities. It may very well be that the flaws of the Athens Charter are not so fundamental that some of its basic ideas cannot be usefully adapted to the post-2008 world. And just because much of the logic underpinning the Charter’s ideas was not grounded in real anthropological, sociological or other serious research does not necessarily make it wrong. One of the most important avenues of research stemming from the Athens Charter, then, will need to be more investigations as to the depth of connection between the Charter as a text and the projects it inspired as historically contingent projects, and in particular, whether the internal inconsistencies of the Charter as a text correspond in a causal way to the problems experienced throughout the postwar world. Bibliography Baudin, Antoine, Hélènee de Mandrot et la Maison des artistes de La Sarraz, Lausanne 1988. Le Corbusier, The Athens Charter, New York 1973. Le Corbusier, The City of To-Morrow and Its Planning, Cambridge 1971. Mumford, Eric Paul, The CIAM Discourse on Urbanism, 1928–1960, Cambridge 2000. Mumford, Eric Paul, Defining Urban Design: CIAM Architects and the Formation of a Discipline, 1937–1969, New Haven 2009. Somer, Kees, The Functional City: the CIAM and Cornelis van Eesteren, 1928–1960, Rotterdam 2007.

Source The Athens Charter (1943/1973) 3 The City and Its Region Observations 1. The City is only one element within an economic, social, and political complex which constitutes the region. The political city unit rarely coincides with its geographical unit, that is to say, with its region. The laying out of the political territory of cities has been allowed to be arbitrary, either from the outset or later on, when, because of their growth, major agglomerations have met and then swallowed up other townships. Such artificial layouts stand in the way of good management for the new aggregation. Certain suburban townships have, in fact, been allowed to take on an unexpected and unforeseeable importance, either positive or negative, by becoming the seat of luxurious residencies, or by giving place to heavy industrial centers, or by crowding the wretched working classes together. In such cases, the political boundaries that compartmentalize the urban complex become paralyzing. An urban agglomeration forms the vital nucleus of a geographical expanse whose boundary 3

Le Corbusier, The Athens Charter, New York 1973, S. 43–45, 53–54, 56, 58, 61, 63–65, 79, 83–84. The source is published online in the web portal “Themenportal Europäische Geschichte”, URL: .

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is determined only by the area of influence of another agglomeration. The conditions vital to its existence are determined by the paths of communication that secure its exchanges and closely connect with its particular area. One can consider a problem of urbanism only by continually referring to the constituent elements of the regions, and chiefly to its geography, which is destined to play a determining role in this question – the lines of watersheds and the neighboring crests that delineate natural contours and confirm paths of circulation naturally inscribed upon the earth. No undertaking may be considered if it is not in accord with the harmonious destiny of the region. The city plan is only one of the elements of this whole that constitutes the regional plan. 2. Juxtaposed with economic, social, and political values are values of a physiological and psychological origin which are bound up in the human person and which introduce concerns of both an individual and a collective order into the discussion. Life flourishes only to the extent of accord between the two contradictory principles that govern the human personality: the individual and the collective. In isolation, man feels defenseless, and so, spontaneously, he attaches himself to a group. Left to his own devices, he would construct nothing more than his hut and, in that state of insecurity, would lead a life of jeopardy and fatigue aggravated by all the anguish of solitude. Incorporated in a group, he feels the weight of the constraints imposed by inevitable social disciplines, but in return he is to some extent ensured against violence, illness, and hunger. He can think of improving his dwelling and he can also assuage his deep-seated need for social life. Once he has become a constituent element of society that sustains him, he contributes, directly or indirectly, to the innumerable undertakings that provide security for his physical life and foster his spiritual life. His efforts become more fruitful and his more adequately protected liberty stops short only at the point where it would threaten the liberty of others. If there is wisdom in the undertakings of the group, the life of the individual is enlarged and ennobled by them. But if sloth, stupidity, and selfishness preponderate, the group – anemic and given over to disorder – brings its members nothing but rivalry, hatred, and disenchantment. A plan is well conceived when it allows fruitful cooperation while making maximum provision for individual liberty, for the effulgence of the individual within the framework of civic obligation. 3. These biological and psychological constants are subject to the influence of their environment – the geographical and topographical condition, the economic circumstances, the political situation. In the first place they are influenced by the geographical and topographical condition, the constitution of the elements, land and water, nature, soil, climate … Geography and topography play a considerable role in the destiny of men. It must never be forgotten that the sun dominates all, imposing its law upon every undertaking whose object is to safeguard the human being. Plains, hills, and mountains likewise intermediate, to shape a sensibility and give rise to a mentality. While the hillsman readily descends to the plain, the plainsman rarely climbs up the valleys or struggles over mountain passes. It is the crestlines of the mountain ranges that have delimited the “gathering zones” in which, little by little, men have gathered in clans and tribes, joined together by common customs and usages. The ratio of the elements of earth and water – whether it comes into play on the surface, contrasting the lake or river regions with the expanses of the

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steppes, or whether it is expressed as comparative rainfall, resulting in lush pasturelands here and heaths or deserts elsewhere – it also fashions mental attitudes which will be registered in mens’ undertakings and which will find their expression in the house, in the village, and the city. Depending on the angle at which the sun strikes the meridional curve, the seasons collide abruptly or succeed one another with imperceptible transitions; and although, in its continuous roundness, the Earth admits of no interruption from one parcel of land to the next, countless combinations emerge, each with its particular characteristics. Finally, the races of mankind, with their varied religions and philosophies, multiply the diversity of human undertakings, each proposing its own mode of perception and its own reason for being. […] [pp. 43–45] Habitation Observations 9. The population is too dense within the historic nuclei of cities, as it is in certain belts of nineteenth-century industrial expansion – reaching as many as four hundred and even six hundred inhabitants per acre. Density – the ratio between the size of a population and the land area that it occupies can be entirely – changed by the height of buildings. But, until now, construction techniques have limited the height of buildings to about six stories. The admissible density for structures of this kind is from 100 to 200 inhabitants per acre. When this density increases, as it does in many districts, to 240, 320, or even 400 inhabitants, it then becomes a slum, which is characterized by the following symptoms: 1. An inadequacy of habitable space per person; 2. A mediocrity of openings to the outside; 3. An absence of sunlight (because of northern orientation or as the result of shadow cast across the street or into the courtyard); 4. Decay and a permanent breeding ground for deadly germs (tuberculosis); 5. An absence or inadequacy of sanitary facilities; 6. Promiscuity, arising from the interior layout of the dwelling, from the poor arrangement of the building, and from the presence of troublesome neighborhoods. Constrained by their defensive enclosures, the nuclei of the old cities were generally filled with close-set structures and deprived of open space. But, in compensation, verdant spaces were directly accessible, just outside the city gates, making air of good quality available nearby. Over the course of the centuries, successive urban rings accumulated, replacing vegetation with stone and destroying the verdant areas – the lungs of the city. Under these conditions, high population densities indicate a permanent state of disease and discomfort. 10. In these congested urban sectors the housing conditions are disastrous, for lack of adequate space allocated to the dwelling, for lack of verdant areas in its vicinity and, ultimately, for lack of building maintenance (a form of exploitation based on speculation). This state of affairs is aggravated further by the presence of a population with a very low standard of living, incapable of taking defensive measures by itself (its mortality rate reaching as high as twenty percent).

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The interior of a dwelling may constitute a slum, but its dilapidation is extended outside by the narrowness of dismal streets and the total absence of those verdant spaces, the generators of oxygen, which would be so favorable to the play of children. The cost of such a structure erected centuries ago has long since been amortized; yet its owner is still tacitly allowed to consider it a marketable commodity, in the guise of housing. Even though its habitable value may be nil, it continues with impunity, and at the expense of the species, to produce substantial income. A butcher would be condemned for the sale of rotten meat, but the building codes allow rotten dwellings to be forced on the poor. For the enrichment of a few selfish people, we tolerate appalling mortality rates and diseases of every kind, which impose crushing burdens on the entire community. […] [pp. 53–54] 13. The most densely populated districts are located in the least favored zones (on badly oriented slopes, or in sectors invaded by fogs and industrial gases and vulnerable to floods, etc. …). No legislation has yet been effected to lay down the conditions for the modern habitation, not only to ensure the protection of the human person but also to provide him with the means for continual improvement. As a result, the land within the city, the residential districts, the dwellings themselves, are allocated from day to day at the discretion of the most unexpected – and at times the basest – interests. The municipal surveyor will not hesitate to lay out a street that will deprive thousands of dwellings of sunshine. Certain city officials will see it, alas, to single out for the construction of a working-class district a zone hitherto disregarded because it is invaded by fog, because the dampness of the place is excessive, or because it swarms with mosquitoes … They will decide that some north-facing slope, which has never attracted anyone precisely because of its exposure, or that some stretch of ground reeking with soot, smoking coal slag, and the deleterious gases of some occasionally noisy industry, will always be good enough to house the uprooted, transient populations known as unskilled labor. 14. Airy and comfortable structures (homes of the well-to-do) occupy the favored areas, sheltered from hostile winds, and are assured of pleasing views of the landscape – a lake, the sea, the mountains, etc. – and of abundant sunshine. The favored areas are generally taken up by luxury residences, thus giving proof that man instinctively aspires, whenever his means allow it, to seek living conditions and a quality of well-being that are rooted in nature itself. […] [p. 56] 17. The traditional alignment of habitations on the edges of streets ensures sunlight only for a minimum number of dwellings. The traditional alignment of buildings along streets involves an inevitable arrangement of the built volume. When they intersect, parallel or oblique streets delineate square, rectangular, trapezoidal, and triangular areas of differing capacities which, once built up, form city “blocks”. The need to admit light into the centers of these blocks gives birth to the interior courtyards of varied dimensions. Unhappily, municipal regulations leave the profitseekers free to confine these courts to utterly scandalous dimensions. And so we come to the dismal result: one façade out of four, whether it faces the street or the courtyard, is oriented to the north and never knows the sun, while the other three, owing to the

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narrowness of the streets and courts they face and to the resulting shadow, are half deprived of sunlight also. Analysis reveals that the portion of city façades that get no sun varies from one-half to three-quarters of the total – and in certain cases, this ratio is even more disastrous. […] [p. 58] Requirements […] [p. 61] 25. Reasonable population densities must be imposed, according to the forms of habitation suggested by the nature of the terrain itself. The population densities of a city must be laid down by the authorities. They may vary according to the allocation of urban land to housing and may produce, depending on the total figure, a widespread or a compact city. To determine the urban densities is to perform an administrative act heavy with consequences. With the advent of the machine age, the cities expanded without control and without constraint. Negligence is the only valid explanation for that inordinate and utterly irrational growth, which is one cause of their troubles today. There are specific reasons for the birth of the cities and for their growth, and these must be carefully studied in terms of forecasts extending over a period of time: fifty years, let us say. A population figure can then be envisaged. It will be necessary to house this population, which involves anticipating which space will be used, foreseeing what “time-distance” function will be its daily lot, and determining the surface and area needed to carry out this fifty-year program. Once the population figure and the dimensions of the land are fixed, the “density” is determined. 26. A minimum number of hours of exposure to the sun must be determined for each dwelling. Science, in its studies of solar radiations, has disclosed those that are indispensable to human health and also those that, in certain cases, could be harmful to it. The sun is the master life. Medicine has shown that tuberculosis establishes itself wherever the sun fails to penetrate; it demands that the individual be returned, as much as possible, to “the conditions of nature.” The sun must penetrate every dwelling several hours a day even during the season when sunlight is most scarce. Society will no longer tolerate a situation where entire families are cut off from the sun and thus doomed to declining health. Any housing design in which even a single dwelling is exclusively oriented to the north, or is deprived of the sun because it is cast in shadow, will be harshly condemned. Builders must be required to submit a diagram showing that the sun will penetrate each dwelling for a minimum of two hours on the day of the winter solstice, failing which, the building permit will be denied. To introduce the sun is the new and most imperative duty of the architect. 27. The alignment of dwellings along transportation routes must be prohibited. The transportation routes, that is to say, the streets of our cities, have disparate purposes. They accommodate the most dissimilar traffic loads and must lend themselves to the walking pace of pedestrians as well as to the driving and intermittent stopping of rapid public transport vehicles, such as buses and tramcars, and to the even greater speeds of trucks and private automobiles. The sidewalks were created to avoid traffic accidents in

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the days of the horse, and only then after the introduction of the carriage; today they are absurdly ineffectual now that mechanized speeds have introduced a real menace of death into the streets. The present-day city opens countless front doors onto this menace and its countless windows onto the noise, dust, and noxious gases produced by the heavy mechanized traffic flow. This state of things demands radical change: the speed of the pedestrian, some three miles an hour, and the mechanized speeds of thirty to sixty miles an hour must be separated. Habitation will be removed from mechanized speeds, which will be channeled into a separate roadbed, while the pedestrian will have paths and promenades reserved for him. 28. The resources offered by modern techniques for the erection of high structures must be taken into account. Every age has used the construction technique imposed on it by its own particular resources. Until the nineteenth century, the art of building houses knew only bearing walls of stone, brick, or timber framing and floors made of wooden beams. In the nineteenth century, a transitional period made use of iron sections; and then, finally, in the twentieth century came homogeneous structures made entirely of steel or reinforced concrete. Before this completely revolutionary innovation in the history of building construction, builders were unable to erect premises exceeding six stories. The times are no longer so limited. Structures now reach sixty-five stories or more. What still must be resolved, through a serious examination of urban problems, is the most suitable building height for each particular case. As to housing, the arguments postulated in favor of a certain decision are: the choice of the most agreeable view, the search for the purest air and the most complete exposure to sunshine, and finally, the possibility of establishing communal facilities – school buildings, welfare centers, and playing fields – within the immediate proximity of the dwelling, to form its extensions. Only structures of a certain height can satisfactorily meet these legitimate requirements. 29. High buildings, set far apart from one another, must free the ground for broad verdant areas. Indeed, they will have to be situated at sufficiently great distances from one another, or else their height, far from being an improvement of the existing malaise, will actually worsen it; that is the grave error perpetrated in the cities of the two Americas. The construction of a city cannot be abandoned, without a program, to private initiative. Its population density must be great enough to justify the installation of the communal facilities that will form the extensions of the dwelling. Once this density has been determined, a presumable population figure will be adopted, permitting the calculation of the area to be reserved for the city. To determine the manner in which the ground is to be occupied, to establish the ratio of the built-up area to that left open or planted, to allocate the necessary land to private dwellings and to their various extensions, to fix an area for the city that will not be exceeded for a specified period of time – these constitute that important operation, which lies in the hands of the city authority: the promulgation of a “land ordinance.” Thus, the city will henceforth be built in complete security and, within the limits of the rules prescribed by this statute, full scope will be given to private initiative and to the imagination of the artist. […] [pp. 63–65]

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Traffic Observations 51. The present network of urban streets is a set of ramifications that grew out of the major traffic arteries. In Europe, these arteries go back in time far beyond the Middle Ages, and sometimes even beyond antiquity. Certain Cities built for purposes of defense or colonization have had the benefit, since their origin, of a concerted plan. To begin with, a regularly formed fortification wall was laid down, against which the roads came to a halt. The interior of the city was arranged with useful regularity. Other cities, greater in number, were born at the intersection of two cross-country high roads or, in some cases, at the junction of several roads radiating outward from a common center. These transportation arteries were closely linked to the topography of the region, which often forced them to follow a winding course. The first houses were established along their edges, and this was the origin of the principal thoroughfares, from which, as the city grew, an increasing number of secondary arteries branched out. The principal thoroughfares have always been the offspring of geography, and while many of them may have been straightened and rectified, they will nonetheless always retain their fundamental determinism. […] [p. 79] Requirements 59. The whole of city and regional traffic circulation must be closely analyzed on the basis of accurate statistics – an exercise that will reveal the traffic channels and their flow capacities. Traffic circulation is a vital function whose present state must be expressed by graphic methods. The determining causes and the effects of its different intensities will then become clearly apparent, and it will be easier to detect its critical points. Only a clear view of the situation will permit the accomplishment of two indispensable improvements; namely, the assignment of a specific purpose to each traffic channel – to accommodate either pedestrians or automobiles, either heavy trucks or through traffic – and then the provision of each such channel with particular dimensions and features according to the role assigned it – the type of roadway, the width of the road surface, the locations and kinds of intersections and junctions. 60. Traffic channels must be classified according to type and constructed in terms of the vehicles and speeds they are intended to accommodate. The single street, bequeathed by centuries past, once accepted both men on foot and men on horseback indiscriminately, and it was not until the end of the eighteenth century that the generalized use of carriages gave rise to the creation of sidewalks. In the twentieth century came the cataclysmic hordes of mechanical vehicles – bicycles, motorcycles, cars, trucks, and tramcars – traveling at unforeseen speeds. The overwhelming growth of certain cities, such as New York, for example, brought about an inconceivable crush of vehicles at certain specific points. It is high time that suitable measures were taken to remedy a situation that verges on disaster. The first effective measure in dealing with the

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congested arteries would be a radical separation of pedestrians from mechanized vehicles. The second would be to provide heavy trucks with a separate traffic channel. And the third would be to envisage throughways for heavy traffic that would be independent of the common roads intended only for light traffic. 61. Traffic at high-density intersections will be dispersed in an uninterrupted flow by means of changes of level. Through vehicles should not be slowed down needlessly by having to stop at every intersection. Changes of level at each crossroad are the best means to assure them of uninterrupted motion. Laid out at distances calculated to obtain optimum efficiency, junctions will branch off the major throughways connecting them to the roads intended for local traffic. 62. The pedestrian must be able to follow other paths than the automobile network. This would constitute a fundamental reform in the pattern of city traffic. None would be more judicious, and none would open a fresher or more fertile era in urbanism. This requirement regarding the pattern of traffic movement may be considered just as strict as that which, in the area of habitation, condemns the northern orientation of any dwelling. […] [pp. 83–84]

KUNST ALS MOTOR STÄDTISCHER ERNEUERUNG. BIRMINGHAM IN DEN 1980ER- UND 1990ER-JAHREN IM EUROPÄISCHEN VERGLEICH 1 Thomas Höpel

Kunst und Kultur wurden von den europäischen Großstädten seit den 1970er-Jahren als wichtige Medien für die lokale, nationale und internationale Profilierung erkannt. Neue Kulturpolitik in den bundesdeutschen Großstädten seit Beginn der 1970er-Jahre 2, die massiven Anstrengungen der französischen Großstädte im Gefolge der staatlichen Kulturpolitik der Fünften Republik 3 oder auch die europaweite Aufwertung von Museen und Festivals seit den 1980er-Jahren zeugen davon. 4 Gerade Metropolen unterhalb der nationalen Hauptstadt, sogenannte Second Cities wie Barcelona, Birmingham, Frankfurt am Main, Lyon oder Rotterdam, haben sich auf diesem Feld besonders stark engagiert. Kultur und Kunst wurden als Wirtschaftsbranche, als Standort- und Imagefaktor neu „entdeckt“. Das hing auch mit der Intensivierung der europäischen Integration und der Herausbildung der Europäischen Union seit Ende der 1980er-Jahre zusammen. Den Großstädten wurde in zunehmendem Maße bewusst, dass die mit der europäischen Einigung entstehende Situation ein Überdenken bisheriger Politikziele und eine Änderung insbesondere wirtschafts- und standortpolitischer Strategien nötig machen würde. Aufgrund des verschärften Standortwettbewerbs suchten die europäischen Großstädte nach Strategien, um ihre Ausgangsposition dabei zu verbessern. Das geschah auch durchaus im europa- und weltweiten interurbanen Austausch. Schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts gab es zwischen den europäischen Großstädten Beziehungen, die zum Studium der jeweiligen Institutionen, zum Erfahrungsaustausch und auch zu gegenseitigen Treffen und Besuchen von städtischen Beamten und Bürgermeistern führten. Nach 1945 erhöhte sich der Grad der Vernetzung durch die Schaffung von Städtepartnerschaften. In den 1980er-Jahren

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Essay zur Quelle: A Report and Strategy Proposal for Birmingham’s Arts Festival (27. März 1990). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: . Vgl. Ditt, Karl; Obergassel, Cordula (Hgg.), Vom Bildungsideal zum Standortfaktor. Städtische Kulturpolitik in der Bundesrepublik, Paderborn u.a. 2012. Taliano des Garets, Françoise, Les métropoles régionales et la culture 1945–2000, Paris 2007; Höpel, Thomas, „Die Kunst dem Volke“. Städtische Kulturpolitik in Lyon und Leipzig im Vergleich 1945–1989, Leipzig 2011. Häußermann, Hartmut; Siebel, Walter, Festivalisierung der Stadtpolitik. Stadtentwicklung durch große Projekte, Opladen 1993; Puhan-Schulz, Franziska, Museen und Stadtimagebildung. Amsterdam – Frankfurt/Main – Prag. Ein Vergleich, Bielefeld 2005.

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kam es zur Bildung von Städtenetzwerken, unter denen Eurocities eine herausragende Bedeutung zukam. 5 Birmingham war in diesen Netzwerken vertreten, besaß seit den 1950er-Jahren zahlreiche Städtepartnerschaften, unter anderem zu Lyon, Frankfurt am Main und Mailand, und kannte insbesondere die Lyoner und Frankfurter Anstrengungen auf dem Feld von Kunst- und Kulturpolitik, die das Image der beiden Großstädte im Laufe der 1970er-Jahre deutlich verbessert hatten. Birmingham, die zweitgrößte britische Metropole, erlebte seit Ende der 1960er-Jahre einen heftigen wirtschaftlichen Niedergang, der in eine tiefe Krise mündete. Die Birminghamer Stadtregierung reagierte darauf seit den späten 1970er-Jahren mit einer Strategie der Urban Regeneration, in der Kunst und Kultur eine zentrale Rolle einnahmen. Kulturpolitik wurde seit 1980 zur treibenden Kraft für den Stadtumbau, sollte eine neue Imagekampagne Birminghams und die ökonomische Gesundung vorantreiben. 6 Kunstfestivals nahmen in diesem Zusammenhang seit den 1980er-Jahren einen wichtigen Platz ein. Ende der 1980er-Jahre wurden die Anstrengungen systematisiert und der Stadtrat entwarf Grundlinien für eine städtische Kunst- und Kulturpolitik für das kommende Jahrzehnt, die insbesondere Kunstfestivals als Instrumente für die überlokale, nationale und internationale, Ausstrahlung der Stadt definierte. Die Herausstellung von Kunst und Kultur im Rahmen der Politik der Urban Regeneration resultierte aus der Erkenntnis, dass für die ökonomische Attraktivität der Stadt national und gerade auch international das kulturelle Image der Stadt verbessert werden müsse. Seit den frühen 1980er-Jahren strebte die Stadt danach, zu einer „International City“ zu werden. Später wurde dafür die Formel von „Europe’s Meeting Place“ gefunden. Ziel war es, Birmingham zu einem Zentrum für Geschäftstourismus zu machen. 7 Ausgehend von den Erfolgen mit dem National Exhibition Centre, das 1976 eingeweiht worden war und die Hälfte des britischen Messe- und Ausstellungswesens in Birmingham konzentrierte, wurde eine Prestigeprojekte-Strategie für die Innenstadt entworfen, deren wichtigstes Element die Schaffung eines Internationalen Kongress Zentrums (ICC) war. 8 Damit sollte die Stadt auch für den europäischen Geschäftstourismus attraktiv werden und ihr dessen wirtschaftliches Potential zu Gute kommen. 9

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Höpel, Thomas, Die Herausbildung kommunaler Europapolitik – das Städtenetzwerk Eurocities, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (2013), H. 1, S. 23–42. Loftmann, Patrick; Nevin, Brendan, Going for Growth: Prestige Projects in Three British Cities, in: Urban Studies 33 (1999), H. 6, S. 991–1019, hier S. 998. Ewen, Shane, Transnational Municipalism in a Europe of Second Cities. Rebuilding Birmingham with Municipal Networks, in: Saunier, Pierre-Yves; Ewen, Shane (Hgg.), Another Global City. Historical Explorations into the Transnational Municipal Moment, 1850–2000, Basingstoke 2008, S. 101–117, hier S. 103f. DiGaetano, Alan; Klemanski, John S., Power and City Governance. Comparative Perspectives on Urban Development, Minneapolis u.a. 1999, S. 130–133. Martin Steve; Pearce, Graham, The Internationalization of Local Authority Economic Development Strategies: Birmingham in the 1980s, in: Regional Studies 26 (1992), H. 5, S. 499–503, hier S. 500.

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Der Birminghamer Stadtrat knüpfte bei seiner Entwicklungsstrategie neben den Erfahrungen aus den europäischen Partnerstädten stark an Vorbilder aus USStädten an. 10 Er setzte zudem massiv auf die europäische Karte, um eigene Projekte zu realisieren, da die konservativen Regierungen in Großbritannien seit 1979 den Handlungsspielraum der Stadtregierungen massiv einschränkten. 11 Der Bau des ICC wurde so zu 35 Prozent aus Mitteln des europäischen Fonds zur Regionalentwicklung finanziert. Das ICC öffnete im Jahr 1991 und umfasste auch einen Konzertsaal für das City of Birmingham Symphony Orchestra (CBSO) für 2.000 Zuhörer. 12 Hieran wird die enge Verknüpfung von Wirtschafts- und Kulturpolitik sehr plastisch. Wichtig für diese Orientierung war auch die Berufung von Simon Rattle als Musikdirektor des CBSO. Der Leiter des städtischen Kunstdepartments, Anthony Sargent, unterstrich, dass die internationale Ausstrahlung des Orchesters den Stadtrat von den Möglichkeiten überzeugt hätte, die die Kunst für die Politik der Urban Regeneration haben könnte. 13 Die internationale Orientierung wurde von der Stadt seit Mitte der 1980er-Jahre durch eine Reihe von jährlich stattfindenden internationalen Kunstfestivals vorangetrieben. 1983 fand das erste Reader’s and Writer’s-Festival statt, zu dem zahlreiche Autoren aus vielen Ländern nach Birmingham kamen und das Leser und Schriftsteller in engeren Kontakt brachte. Das Festival wurde vom Midlands Arts Centre ins Leben gerufen und im ersten Jahrzehnt auch dort administrativ und organisatorisch betreut. Im Jahr 1984 wurden das Internationale Film und TV Festival, das zum führenden Filmfestival in Großbritannien wurde, und das Internationale Jazzfestival zum ersten Mal veranstaltet. 14 Die Stadt ermutigte zudem in London ansässige Kunstorganisationen, wie die Ballett-Gruppe Sadler’s Wells Company und die D’Oyly Carte Opera Company, zum Umzug nach Birmingham. Das half bei der Revitalisierung von Stadt und Region und trug der Stadt zudem erhebliche nationale Beachtung ein. 15 Der Stadtrat setzte bei der wirtschaftlichen Erneuerung der Stadt vor allem in Hochkulturevents und -einrichtungen große Hoffnungen. Sie sollten das städtische Image verbessern, das Leben breiter Teile der Birminghamer Bevölkerung bereichern, Investitionen anziehen und auswärtige Besucher in die Stadt bringen. Zu diesem Zweck wurde 1986 innerhalb des Leisure Services Committees ein Arts

10 Loftmann; Nevin, Going for Growth, S. 998f. 11 Hambleton, Robin, The Regeneration of U.S. and British Cities, in: Local Government Studies 17 (1991), H. 5, S. 53–65. 12 Upton, Chris, A History of Birmingham, Chichester 1993, S. 127. 13 Lister, David, The Transformation of a City: Birmingham, in: Fischer, Mark; Owen, Ursula (Hgg.), Whose Cities?, Harmondsworth 1991, S. 53–61, hier S. 54. 14 Birmingham City Council, Joint Arts, Culture and Economy Sub-Committee, A Report and Strategy Proposal for Birmingham’s Arts Festivals, 27. März 1990. 15 Bianchini, Franco, Remaking European Cities: the Role of Cultural Policies, in: Bianchini, Franco; Parkinson, Michael (Hgg.), Cultural Policy and Urban Regeneration, Manchester u.a. 1993, S. 1–19, hier S. 19; Leisure Services Committee’s Report, 4. Dezember 1990, City of Birmingham Council Minutes 1990–1991, Birmingham 1991, S. 579.

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Development Sub-Committee geschaffen, das die Kunstförderung in Birmingham generell einer Reform unterzog. Es gab aber auch heftige Kritik am aus den USA importierten Prestigeprojekte-Konzept. Wissenschaftliche Studien wiesen darauf hin, dass diese Strategie wie zuvor in US-amerikanischen Großstädten kaum zum Abbau der sozialen Probleme geführt hat, da nur wenige neue Jobs für die arbeitslose, ansässige Bevölkerung geschaffen wurden. 16 New Labour griff diese Argumentation auf und leitete in den frühen 1990er-Jahren ein Umsteuern des Stadtrats ein. Innerhalb der Gruppe der LabourStadträte konnten die Anhänger von New Labour an Einfluss gewinnen und auch die immer größere Zahl von Stadträten, die ethnischen Minderheiten entstammten, auf ihre Seite ziehen. Zudem hatten Unruhen im Stadtviertel Handsworth im September 1985, der besonders von wenig qualifizierten Gruppen, insbesondere ethnischen Minderheiten, bewohnt wurde, die städtischen Eliten für dieses Problem nachdrücklich sensibilisiert. Aus diesen Gründen wurden seit den 1990er-Jahren Kunst und Kultur nicht mehr nur vorrangig für Prestigeprojekte, sondern auch zunehmend für Integrationsinitiativen eingesetzt. 17 Theoretisches Rüstzeug dafür boten zwei Symposien aus den Jahren 1988 und 1989, die um die Fragen kreisten, wie Birmingham zu einer wirklich internationalen Metropole werden könne. Zu den Symposien waren Vordenker und Macher von Stadterneuerung und -revitalisierung eingeladen, deren Botschaft lautete, dass die Stadt nur erfolgreich zur internationalen Metropole aufsteigen könnte, wenn die Interessen der einheimischen Bevölkerung nachdrücklicher als bisher berücksichtigt würden und die Lebensqualität in der Stadt insgesamt verbessert würde. 18 Da fast ein Viertel der Birminghamer Bevölkerung Ende der 1980er-Jahre außereuropäische kulturelle Wurzeln besaß, ging die Stadt auf diese Bevölkerungsgruppen durch die Förderung spezifisch identitätsstiftender Kulturbestände, den kulturellen Austausch sowie die Orientierung auf internationale Kulturbestände von höchstem Niveau gezielt zu. Die Führer der Stadt haben seit den 1990er-Jahren kulturelle Vielfalt als wichtiges Feld erkannt, um die Internationalität und die Attraktivität der Stadt zu verstärken. Ein wichtiges Instrument dabei war die systematische Förderung der Community Arts in den verschiedenen Stadtgebieten Birminghams. Es handelte sich um lokal verankerte soziokulturelle Kunstprojekte, die breite Bevölkerungskreise in kreative Aktivitäten einzubinden trachteten. Kunst und Bevölkerung sollten zusammengeführt werden. 19 Es entstanden Kunstforen, in denen sich Vertreter von Jugendzentren, sozialen Initiativen, Schulen, Freizeitzentren und Kultureinrichtungen sowie an Kunst interessierte Bürger und Künstler des jeweiligen Bezirks

16 Loftman, Patrick, A Tale of Two Cities: Birmingham the Convention and Unequal City, Birmingham 1990. 17 DiGaetano; Klemanski, Power and City Governance, S. 94–96. 18 Ewen, Transnational Municipalism in a Europe of Second Cities, S. 112f. 19 Leisure Services Committee’s Report, 2. Juni 1987, City of Birmingham Council Minutes 1987–1988, Birmingham 1988, S. 80f.

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engagierten. Ganz zentral war dabei, jene mit Kunst und Kultur in Kontakt zu bringen, die bislang nur einen begrenzten Zugang dazu hatten. 20 Um die kulturelle Entwicklung der Stadt insgesamt noch besser koordinieren zu können, schuf der Stadtrat 1989 das Joint Arts, Culture and Economy Subcommittee. Dieser Unterkommission gehörten Mitglieder der fünf Schlüsselkomitees für Finanzen, Freizeit, Wirtschaftsentwicklung, Bildung und Planung an. Das neue Komitee sollte insbesondere eine Strategie ausarbeiten, die Kunst, Medien und Kulturentwicklung zum Wohle der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung der Stadt nutzt und die Kooperation der einzelnen städtischen Departments verbessert. Es war für die Hochkultur, Kunstfestivals und die Förderung von Kunstevents zuständig und auch für die drei wichtigsten Festivals: das Internationale Jazzfestival, das Reader’s and Writer’s Festival und das Internationale Film und Fernseh-Festival. 21 Es erarbeitete eine Arts Strategy for the City, die es im März 1990 vorlegte und die vom Birminghamer Stadtrat verabschiedet wurde. Es handelte sich um ein strategisches Papier für die 1990er-Jahre, das die Grundlinien der städtischen Kulturpolitik skizzierte. Kunst und Kultur wurden bei der Stärkung der städtischen Zivilgesellschaft, der gesellschaftlichen Integration und Identifikation sowie der Bildung von Interessengruppen in der Gesellschaft hoher Wert zugeschrieben. Die Stadt wollte hier besonders aktiv sein, weil das von privaten und marktorientierten Kunstangeboten nicht abgedeckt werden konnte, und so viele Bürger und Gruppen wie möglich mit Kunst und Kultur erreicht und eingebunden werden sollten. Dabei strebte sie ein möglichst hohes künstlerisches Niveau an und wollte das Verständnis für Hochkultur in der breiten Bevölkerung vertiefen. Insbesondere Bevölkerungsgruppen, die bislang kaum mit Kunst und Kultur Kontakt hatten, sollten erreicht werden. Das zielte auf Gruppen mit unterschiedlichstem ethnischem Hintergrund, deren künstlerische Traditionen ermutigt und unterstützt werden sollten. Die ganze Breite des Kunst- und Kulturschaffens wurde in der Arts Strategy berücksichtigt. Der Stadtrat wollte innovative Aktivitäten am Schnittpunkt von Kunst und Wirtschaft fördern und die Stadt für Künstler attraktiver machen. Zudem stellte er hochkulturelle Leuchtturminstitutionen für die internationale Ausstrahlung und das Image der Stadt als besonders wichtig heraus. Diese Zielkoordinaten wurden, wie die Quelle zum Essay zeigt, ausgehend von Berichten zu den einzelnen Kultursparten in Birmingham in konkrete Maßnahmen übersetzt. Kunstfestivals bildeten in dieser Strategie einen wichtigen Bestandteil, da sie sowohl die Bewohner der Stadt als auch Besucher von außerhalb ansprachen. Das Strategiepapier A Report and Strategy Proposal for Birmingham’s Arts Festivals betonte die Bedeutung der wichtigsten Festivals für die Imagepolitik der Stadt. Birmingham sollte nicht nur als moderne Großstadt mit einer unverwechselbaren kulturellen Identität präsentiert werden. Mithilfe der Festivals planten die Kultur20 Leisure Services Committee’s Report, 7. Juni 1988, City of Birmingham Council Minutes 1988–1989, Birmingham 1989, S. 75. 21 Leisure Services Committee’s Report, 4. Juni 1989, City of Birmingham Council Minutes 1989–1990, Birmingham 1990, S. 902f.

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politiker die Kulturinstitutionen der Stadt sichtbarer zu machen, die Kunstlandschaft weiter zu beleben und das kreative Potential der Stadt zu stärken. Die Stadt trat in der Folge zunehmend an die Stelle anderer Geldgeber der Festivals, insbesondere des Midlands Arts Centre, das Anfang der 1990er-Jahre in einer schwierigen finanziellen Situation war und zahlreiche Initiativen zurückfahren musste. In der Kunstförderungsabteilung wurde 1990 der Posten eines Arts Promotion Officers eingeführt, der eine ständige Verbindung von Stadt und Festivals realisierte und die Festivals gemäß der kulturpolitischen Strategie unterstützte. Insbesondere Werbung und Sichtbarkeit der Festivals in den nationalen und internationalen Medien wurden im Strategiepapier angesprochen und sollten verbessert werden, um mehr auswärtige Besucher und Touristen anzuziehen, das Bild der Kulturstadt Birmingham zu verbreiten und auch die internationalen Beziehungen der Stadt zu unterstützen. Die Stadt hat dann die Festivals nachdrücklicher unterstützt und ihre Durchführung längerfristiger und mit mehr Kontinuität organisiert. 1991 wurde das erste Towards the Millenium-Festival durchgeführt, das bis zur Jahrtausendwende jedes Jahr stattfinden sollte und an dem über 30 Kunstorganisationen der Stadt partizipierten. Geschaffen auf maßgebliche Anregung von Simon Rattle widmeten sich die jährlichen Festivals der Kulturentwicklung im 20. Jahrhundert, indem pro Festival ein Jahrzehnt ins Zentrum gestellt wurde. Der Stadtrat akzeptierte zudem den Vorschlag des Arts Councils, 1992 mit dem Projekt UK Cities of Culture in Birmingham zu beginnen. 1992 wurde Birmingham die erste UK City of Culture und zelebrierte dies mit einem „Jahr der Musik“. Es handelte sich um ein zwölfmonatiges Musikfestival, an dem unterschiedlichste Organisationen und Institutionen der Birminghamer Musikwelt beteiligt waren. 2.843 Musikveranstaltungen fanden insgesamt in diesem Rahmen statt und erreichten über eine Million Besucher. Mehr als die Hälfte aller Veranstaltungen war kostenfrei zugänglich. Neben Konzerten des CBSO gab es Konzerte von Klassik, über Jazz bis Rock und Pop, Musikveranstaltungen in den Museen, Bibliotheken und Schulen sowie Konzerte und Veranstaltungen, die Musik ethnischer Minderheiten der Stadt präsentierten. 22 Der Arts Council gab zu diesem Programm einen Zuschuss von 250.000 Pfund. Musik wurde gerade durch dieses Großevent für die städtische Imagepolitik wieder enorm wichtig und prägte die Außendarstellung nachhaltig. 23 Die Veranstaltung der ersten International Classical Music Awards 1993 in der neuen Symphony Hall, die von der BBC übertragen wurde, weist darauf hin, dass daran in der Folge mit weiteren Initiativen angeknüpft wurde. Die seit den 1980er-Jahren eingeleitete und zu Beginn der 1990er-Jahre systematisierte Kulturpolitik hat das Image Birminghams als einer schmutzigen, langweiligen und kulturfernen Stadt innerhalb weniger Jahre in das der kulturell dynamischsten englischen Stadt neben London verwandelt. 24 Kulturpolitik wurde 22 Leisure Services Committee’s Report, City of Birmingham Council Minutes 1993–1994, Birmingham 1994, S. 60f. 23 Upton, A History of Birmingham, S. 127. 24 Lister, The Transformation of a City: Birmingham, S. 54.

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auf eine qualitativ höhere Stufe gehoben und Repräsentationspolitik im Stadtzentrum und Integrationspolitik durch Kulturarbeit in den verschiedenen Stadtvierteln miteinander in einem strategischen Konzept verschränkt. Ende der 1990er-Jahre wurde ein neues Großprojekt begonnen: der Bau des Millenium Points. Die Mittel dazu kamen aus dem nationalen Millenium Fund, der EU sowie aus der Privatwirtschaft. 25 Es umfasste auch verschiedene Hochschul-, Bildungs- und Unterhaltungskomplexe, insbesondere ein modernes Wissenschaftsmuseum, das Discovery Centre. Das macht die breite Aufstellung der Birminghamer Kulturpolitik deutlich, die zwar bestimmte bekannte und erfolgreiche Leuchtturminstitutionen wegen ihrer Außenwirkung förderte, aber letztlich auf allen kulturellen Feldern aktiv war und gerade auch soziale Integration durch Kultur und Kunst erreichen wollte. Ausgehend vom Birminghamer Vorbild kam es in englischen und britischen Städten zur Institutionalisierung einer spezifischen Kulturverwaltung, die das ganze Feld von Hoch- und Populärkultur in den Blick nahm. Überhaupt spielten die Birminghamer Entwicklungen bei der Politik der Urban Regeneration in anderen britischen Städten eine wichtige Rolle. 26 Zwar wurde eine kohärente Kulturpolitik in britischen Städten deutlich später als in deutschen oder französischen Städten entwickelt, aber die englischen Protagonisten, allen voran Birmingham, profitierten von den Erfahrungen der kontinentaleuropäischen Großstädte, über die sie im Rahmen der Städtepartnerschaften und der zunehmenden Vernetzung informiert waren. Die neue Aufmerksamkeit für Kultur und Kunst und das städtische Engagement in diesem Feld führten auch dazu, dass sich der neue Begriff Cultural Policy seit den 1980er- und vor allem den 1990er-Jahren in Großbritannien durchsetzen konnte. Das Birminghamer Beispiel macht den interurbanen Austausch und Transfer von kulturpolitischen Konzepten in Europa deutlich, der zu einem Bedeutungsgewinn von Kunst und Kultur in den Großstädten beitrug. Versuche, mithilfe von Kunst und Kultur gesellschaftliche Integration und internationale Wettbewerbsfähigkeit in der Stadt zu verbessern, wurden von den Akteuren in einigen europäischen Großstädten über Ländergrenzen hinweg aufmerksam verfolgt, begutachtet und bei Erfolg für eigene Stadtentwicklungspläne fruchtbar gemacht. Die Nutzung von Kultur und Kunst als Motoren der städtischen Wiederbelebung und Imageverbesserung wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren ausgehend von einigen, oft miteinander vernetzten europäischen Großstädten zu einem europäischen Erfolgsmodell. Für die europaweite Verbreitung spielte die internationale Vernetzung der Second Cities eine wichtige Rolle. Erwies sich dieses Modell wie im Fall Birminghams tatsächlich als erfolgversprechend, griffen es dann auch andere, oft kleinere Städte im nationalen und regionalen Umfeld auf. Birmingham hat seine Erfahrungen zudem wieder in die europäische Diskussion eingespeist. Das geschah insbesondere im Rahmen des europäischen Städtenetzwerkes Eurocities. Schon 1989 bildeten die dort engagierten Städte eine Ar25 DiGaetano; Klemanski, Power and City Governance, S. 137–139. 26 Ewen, Transnational Municipalism in a Europe of Second Cities, S. 103f.

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beitsgruppe Kultur unter dem Vorsitz von Montpellier, in der auch Birmingham intensiv mitarbeitete. Bei mehreren Treffen im Dezember 1990 und Juli 1991 beschloss die Arbeitsgruppe, eine Erhebung der kulturellen Infrastruktur und Projekte der Mitgliedsstädte durchzuführen, um deren kulturelle Zusammenarbeit zu erleichtern. Dazu wurde von den Städten Montpellier, Birmingham und Bradford ein spezieller Newsletter erarbeitet. 27 Zudem wurde eine Reihe von konkreten Projekten auf den Weg gebracht: insbesondere ein Austausch von Orchestern und Opernsängern, die Schaffung eines Netzes der Theater der Eurocities, die Unterstützung bei Übersetzungen von Theaterstücken und die Förderung von Kunstausstellungen in den Mitgliedsstädten. 28 Hinzu traten Projekte zum interkommunalen Erfahrungsaustausch. Dieses Engagement zahlte sich übrigens für Birminghams Musikfestival schon 1992 wieder aus. In diesem Jahr wurden europäische Gelder für ein gemeinsames Projekt mit den Musikfestivals von Leipzig und Mailand im Rahmen des EU-Förderprogramms Kaleidoskop bewilligt. 29 Literaturhinweise Bianchini, Franco; Parkinson, Michael (Hgg.), Cultural Policy and Urban Regeneration, Manchester u.a. 1993. Ewen, Shane, Transnational Municipalism in a Europe of Second Cities. Rebuilding Birmingham with Municipal Networks, in: Saunier, Pierre-Yves; Ewen, Shane (Hgg.), Another Global City. Historical Explorations into the Transnational Municipal Moment, 1850–2000, Basingstoke 2008, S. 101–117. Höpel, Thomas, Die Herausbildung kommunaler Europapolitik – das Städtenetzwerk Eurocities, in: Vierteljahrsschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 100 (2013), H. 1, S. 23–42. Lister, David, The Transformation of a City: Birmingham, in: Fisher, Mark Fisher; Owen, Ursula (Hgg.), Whose Cities?, Harmondsworth 1991, S. 53–61. Loftmann, Patrick; Nevin, Brendan, Going for Growth: Prestige Projects in Three British Cities, in: Urban Studies 33 (1999), H. 6, S. 991–1019.

Quelle A Report and Strategy Proposal for Birmingham’s Arts Festivals (27. März 1990) 30 „[…]3. The City Council’s Aims in Investing in Arts Festivals 3.1 The aims towards which the City Council should direct its investment in arts festivals relate to the principles and priorities set out in the report entitled “An Arts Strategy for 27 Déclaration finale de la Réunion de la Commission de Culture des Eurocities, Montpellier, 23. Juli 1991, Archives Municipales de Lyon (AML), 1555 WP 186. 28 Document de Travail des Treffen der Kulturkommission der Eurocities, Montpellier, 7. Dezember 1990, AML 1481 WP 024; Midi-Libre, 9. Dezember 1990. 29 Protokoll der Sitzung der Eurocities-Kulturkommission, Lissabon, 4./5. Juni 1992, AML, 1526 WP 027. 30 Birmingham City Council, Joint Arts, Culture and Economy Sub-Committee, A Report and Strategy Proposal for Birmingham’s Arts Festivals, 27. März 1990. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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Birmingham” which your Sub-Committee is also considering at today’s meeting. It is proposed that these two reports together form the background for a future strategy for arts festivals in Birmingham. 3.2 Arts festivals represent a considerable and (this report will propose) an increasing investment for the City. The very nature of a major arts festival – its scale and its ability to attract public and media attention – inevitably contributes significantly to the cultural image of Birmingham in the eyes both of its citizens and of visitors to the festivals and to the City. It is therefore important that the City Council defines its aims in investing in arts festivals, so as to ensure the best and most effective use of its resources and to ensure that a positive image of the City is projected in the process. 3.3 It is important to be aware that festivals funded or sponsored by the City Council will have their own artistic policies and priorities which may not in every case be identical with the Council’s priorities, though obviously the two should not be in conflict with each other. 3.4 An overall strategy for arts festivals will identify particular festivals with specific aims and needs of the City. Areas for the development of further festivals may therefore be proposed in the reports being submitted to your Sub-Committee later in the year dealing more widely with arts provision artform by artform. 3.5 Experience shows that a festival is most likely to succeed where it provides a genuine focus for and celebration of existing interests and arts activities in the City. Local festival possibilities are often identified by a few highly motivated individuals who provide the initial commitment and enthusiasm on which festivals depend. Whilst there are some artform gaps in the City Council’s existing festival programme (dance, theatre and visual arts) your officers will not propose the creation of any new festivals that do not have behind them the driving forces of at least one committed individual, who is artistically and practically suitably experienced. 3.6 A long-term strategy for arts festivals would establish a framework of festivals which taken as a whole would demonstrate coherent City Council arts policies. A strong framework of varied and contrasting arts festivals would be a great asset to Birmingham, visibly and publicly translating the City Council’s artistic strategy into action. […] 4.1 Proposals 4.1 The following aims are proposed to your Sub-Committee to guide the City Council’s investment in arts festivals in future, related to the policy principles set out in the report “An Arts Strategy for Birmingham”: i)

The large scale of major arts festivals offers unique potential to make a strong promotional and media impact for Birmingham. High profile publicity; the prominent visibility of the festival throughout the City, and positive local and national media attention not only serve the primary function of attracting audiences, but also more generally raise the profile of Birmingham as a lively and progressive City with a strong and distinctive cultural identity. Such media attention

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plays an important role in attracting further inward cultural and business investment. ii) Arts festivals have the capacity to draw into the City large numbers of visitors, whose spending in the City, enhanced perception of Birmingham, and possible return visits are all valuable in themselves as well as contributing to the creation of a festive atmosphere within the City. The high level of promotion of arts festivals also makes it possible to draw into the arts those communities within Birmingham whom the less heavily promoted arts programmes throughout the year may not reach, and festivals supported by the City Council should actively seek to achieve that aim. iii) The large budgetary and marketing provision associated with major arts festivals makes possible the invitation to the City over a short time-period of artists of national and international stature who do not ordinarily appear in the City. The particular circumstances of festivals make possible artistic planning of a more ambitious character than can be attempted at any other time in the year. iv) The high level promotion of festivals also serves to celebrate and raise the profile of all the other related artistic activities that take place in the City throughout the year. In turn, artistic programme and audience development in Birmingham throughout the year build and sustain local audiences on whom the festivals partly depend. v) Festivals are particularly effective in promoting the City’s arts facilities and venues, attracting to them new audiences who can be encouraged to become regular attenders throughout the year. Festivals also have the ability to promote imaginative events in non-arts venues and public spaces, which significantly expands the range of access to the arts and enhances and enlivens the City environment. vi) Festivals offer particular opportunities to celebrate the cultural diversity of Birmingham. Whenever the programme of a festival is able to relate to the multicultural nature of the City, the festival gains in relevance to the City’s diversity of cultural communities and therefore in impact within the City as a whole. vii) Festivals also provide an opportunity to celebrate the work of Birminghambased artists, many of whom already enjoy a substantial reputation within their own fields. This not only gives recognition to high quality work that already exists in the City, but also serves to promote an awareness that Birmingham is a supportive and creative environment in which to pursue an artistic career. viii) Festivals are particularly well placed to provide distinctive forums and other opportunities to examine and debate contemporary cultural issues, as the Birmingham Film and Television festival has very successfully demonstrated. They also offer opportunities to examine cultural issues that are particularly relevant to Birmingham’s own environment, and the City’s cultural and social life.

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Review of 1989 Festivals – Issues Common to All Three Festivals 4.2 There have now been six annual Reader’s and Writer’s Festivals, and five Film and TV and Jazz Festivals. These festivals have established themselves firmly within the cultural life of the City, and are all identifying their own areas for future development. Whilst the festivals have continued to grow in size and reputation and to improve the quality of their programming, funding from the City Council has remained at a standstill for the last two years. The festivals financial resources have now been stretched beyond manageable limits, and substantial further investment by the Council is now needed to enable them to fulfil their potential. 4.3 Following several meetings between your officers and the festival organisers a number of common need have been identified as follows: i)

The festivals need to enjoy better and more effective marketing and promotional support. They need to be able to invite the national and international press more frequently to Birmingham in order to secure high profile media coverage, and the festivals would benefit by being projected with more energy and pride by the City Council itself.

ii) Each festivals needs to identify a City centre space to serve as a source of information and a social meeting point, in short as a focal point for the festival. Visitors to the City need improved signing to enable them to find festival venues, and in general a greater festival visibility is needed throughout the City to promote events and to generate a ‘festival atmosphere’. iii) All the festivals are concerned to attract more visitors to the City particularly from abroad. There is much undeveloped potential for the arts festivals to promote inward tourism. iv) Birmingham is a City with international links and a growing reputation for its commitment to the arts. The festivals see themselves able to play a very positive role in the development of Birmingham’s international status, and are keen to work more closely with the City Council to attract audiences and artists from abroad, and to form relationships with Birmingham’s European partners. v) The festival organisers welcomed the creation of the Arts Promotion Officer’s post to strengthen their links with your Sub-Committee and with the City Council generally. They also see the post as a valuable link for the festivals between the various departments within the City Council with which in some cases relations could be productively strengthened. vi) If they are to develop further, all the festivals need to be able to plan ahead to the extent where they urgently need a three year funding commitment from the City Council. Your officers will propose ways that this might be done without committing the City Council further than is either financially practicable or strategically desirable.”

EUROPÄISCHE KULTURHAUPTSTÄDTE. ZWISCHEN LOKALER EIGENLOGIK UND GESTEUERTER HARMONISIERUNG 1 Daniel Habit

„If we were to start all over again, we would start with culture.“ Dieses Jean Monnet zugeschriebene Zitat erfährt seit den 1980er-Jahren sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in öffentlichen Reden, Danksagungen und Grußworten im Kontext der Europäischen Union eine kontinuierliche Aufmerksamkeit. Die Popularität erklärt sich weniger aus dem (nicht vorhandenen) historischen Wahrheitsgehalt als vielmehr aus der Sehnsucht nach einem kulturellen Ursprungsgedanken, der sich stärker am Leitbild eines humanistischen Europabildes orientiert als an rationellen und ökonomischen Entscheidungen. Seine Bedeutung erlangt dieser Ausspruch vor allem auch durch sein Weiterleben in verschiedenen Argumentationszusammenhängen kultureller Programmentwürfe und Interventionen der EU. Das Flaggschiff unter den verschiedenen Kulturinitiativen bildet dem Präsidenten der EU-Kommission, Manuel Barroso, zufolge das Konzept der „Kulturhauptstadt Europas“. Es wird im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen. Dieses 1985 von der damaligen griechischen Kulturministerin Melina Mercouri und ihrem französischen Amtskollegen Jack Lang initiierte Programm nimmt in mehrerer Hinsicht einen besonderen Stellenwert unter den auf Kultur im weitesten Sinne ausgerichteten Aktivitäten der Union ein. In den Anfangsjahren zunächst unter dem Titel „Kulturstadt Europas“ firmierend und auf eine Stadt pro Jahr begrenzt, fungieren seit 2001 jeweils zwei Städte als Titelträger (bis auf 2003, 2005 und 2006); das Jahr 2000 mit insgesamt neun Städten (bedingt durch die symbolische Jahreszahl) sowie 2010, in dem neben den beiden eigentlichen Titelträgern, Essen und Pécs, Istanbul als Vertreter eines Nicht-EU-Mitglieds eingeladen worden war, bilden dabei Ausnahmen. 2012 wurde das ursprünglich 2019 auslaufende Konzept bis 2033 verlängert und wurden die jeweils turnusgemäß ausrichtenden Länder benannt, ab 2020 werden im Abstand von drei Jahren jeweils (potentielle) Kandidatenländer ebenfalls einen Titelträger stellen. Bis 2014 haben demnach insgesamt 50 Städte an dem Konzept teilgenommen, das aufgrund seiner Dauer, der direkt oder indirekt involvierten Bevölkerungszahl, seiner geografischen Ausrichtung und seines Bekanntheitsgrades als erfolgreichstes Kulturprogramm der Union angesehen wird – nicht zuletzt auch dank des finanziellen Aufwandes, den sowohl titeltragende Städte als auch potentielle Kandidaten betreiben. Die Entstehung des 1

Essay zur Quelle: EU-Kommission: Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas (2006). Essay und Quelle sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

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Konzepts ist auf einen Bewusstseinswandel bei den politischen Verantwortungsträgern zurückzuführen. Anhaltende agrarpolitische Kontroversen innerhalb der Union zu Beginn der 1980er-Jahre, ein angespanntes Verhältnis zwischen der griechischen Regierung unter Andreas Papandreou und den USA bedingt durch eine umstrittene Raketenstationierung sowie vor allem der 1983 veröffentlichte sogenannte „Fanti-Bericht“, der auf eine „Verstärkung der Gemeinschaftsaktion im Bereich Kultur“ abzielte, können als Rahmenbedingungen dieser zunächst auf die Vergewisserung eines europäischen Konsenses abzielenden Gemeinschaftsaktion gelesen werden. 2 Die anfängliche breite Zustimmung unter den Mitgliedsländern ergab sich aus der Ausrichtung bzw. aus der inneren Logik des Konzepts. Es ist ein mit relativ geringen Mitteln ausgestattetes Programm, das vor allem symbolischen Wert hat. Es bedient die diffuse Vorstellung des ideellen Einigungsgedanken, von dem der Reihe nach alle Mitgliedsländer profitieren, die ihrerseits über die inhaltliche Ausgestaltung bestimmen dürfen. In den Anfangsjahren beschränkten sich die Vorgaben der Union allein auf die organisatorischen Rahmenbedingungen, die Entscheidungsgewalt über die ausrichtenden Städte lag bei den jeweiligen Nationalstaaten. Dementsprechend finden sich bis 1999 vor allem Hauptstädte (Athen, Amsterdam, Paris, Dublin, Madrid, Lissabon, Luxemburg, Kopenhagen, Stockholm), Metropolregionen wie Berlin, Glasgow, Antwerpen oder Thessaloniki oder kulturhistorisch relevante Orte wie Florenz und Weimar. Eine entscheidende Neuerung in der strukturellen Ausrichtung der Aktion stellt der 1999 verabschiedete Beschluss 1419/1999/EG des Europäischen Parlaments und des Rates dar. 3 Damit wurde das Kulturhauptstadtprogramm in den Status einer Gemeinschaftsaktion gehoben und somit stärker institutionell verankert und symbolisch aufgewertet. Insbesondere das Auswahlverfahren erfuhr massive Veränderungen. Nicht mehr die entsprechenden Länder, sondern ein von der EU bestelltes Auswahlgremium gibt eine Empfehlung zunächst über zwei Kandidaten für die Endauswahl ab, die letztendliche Ernennung zur Kulturhauptstadt erfolgt dann auf Grundlage einer Stellungnahme der Kommission und des Parlaments durch den Europäischen Rat. Inhaltlich bezieht sich der Beschluss 1419/1999/EG vor allem auf die Aktivierung und Partizipation der so genannten kreativen Klasse und die Förderung des transnationalen Moments. Die Stichworte lauten: „Gemeinsame künstlerische Strömungen und Stile“, „dauerhafte kulturelle Zusammenarbeit“, „Förderung der Mobilität“, „Förderung des kreativen Schaffens“, „Mobilisierung und Beteiligung breiter Bevölkerungsschichten“, „Förderung des Empfangs von Bürgern aus der Union“, „Förderung des Dialogs zwischen den europäischen Kulturkreisen“, „Betonung der Öffnung gegenüber anderen“, „Herausstellen des historischen Erbes“. Zwar wird in diesem Beschluss die 2 3

EU-Kommission, Mitteilung zur Verstärkung der Gemeinschaftsaktionen im Bereich der Kultur („Fanti-Bericht“), in: Bulletin der EG, Beilage 6/82. EU-Parlament, Beschluss 1419/1999/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 über die Einrichtung einer Gemeinschaftsaktion zur Förderung der Veranstaltung „Kulturhauptstadt Europas“ für die Jahre 2005 bis 2019, in: Amtsblatt L 166 vom 01.07.1999.

Europäische Kulturhauptstädte

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„europäische Dimension“ des Projekts an verschiedener Stelle betont, allerdings fehlen genauere Angaben darüber, was konkret damit angesprochen werden soll. Die inhaltliche Ausgestaltung des Kulturhauptstadtjahres und die damit verbundene Entwicklung der europäischen Dimension bleibt den Städten überlassen. Im August 2004 erscheint mit dem von der Brüsseler Beratungsagentur Palmer/Rae Associates/International Cultural Advisors herausgegebenen Evaluationsbericht „European Cities and Capitals of Culture“ die erste grundlegende Studie über die ausrichtenden Städte zwischen 1995 und 2004. In dieser im Auftrag der Europäischen Kommission erstellten Studie wurden 21 Kulturhauptstädte hinsichtlich der administrativen Organisation, des veranstalteten Programms, der wirtschaftlichen Infrastruktur, der innerstädtischen Kommunikation, der europäischen und ökonomischen Perspektive und der sozialen Auswirkungen auf Bewohner und Besucher befragt. Als positive Auswirkungen werden in dem Bericht die Verbesserung der kulturellen Infrastruktur und Zusammenarbeit, ein verbessertes Kulturangebot, gestiegene Besucherzahlen, eine große Bevölkerungsbeteiligung sowie ein Renommeezuwachs sowohl in der Außen- als auch der Selbstwahrnehmung genannt. Dem gegenüber steht die bereits erwähnte mangelhafte inhaltliche Konkretisierung des Programms, dessen Beschreibung sich lediglich äußerst knapp formuliert im Beschluss 1419/1999/EG wiederfindet. Im Oktober 2006 mündeten die im Evaluationsbericht genannten Kritikpunkte und Empfehlungen im Beschluss 1622/2006/EG des EU-Parlaments und des Rates zur „Einrichtung einer Gemeinschaftsaktion zur Förderung der Veranstaltung ‚Kulturhauptstadt Europas‘ für die Jahre 2007 bis 2019“, mit dem der Beschluss 1499/1999/EG faktisch aufgehoben wurde. Während sich auch dieser Beschluss in erster Linie auf organisatorische Gesichtspunkte bezieht und die Position der Jury stärkt, wird mit der zeitgleichen Veröffentlichung des sogenannten „Leitfadens für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas“ den Städten von Seiten der Union erstmals eine konkrete Programmbeschreibung zur Seite gestellt, die die Erwartungshaltung der Union konkretisiert und dokumentiert. Mit diesem Leitfaden wird den sich bewerbenden Städten erstmals von der Europäischen Union eine konkrete Programmanforderung zur Seite gestellt. Er definiert die Erwartungen der Europäischen Union gegenüber den ausrichtenden Städten, gibt einen genauen Zeitplan vor und präsentiert darüber hinaus Projekte, die in den Augen der Union erfolgreiche Beispiele der vielzitierten „Europäischen Dimension“ in den Veranstaltungsthemen und der Projektumsetzung darstellen (Auszüge aus diesem Leitfaden finden sich in der zu diesem Essay gehörenden Quelle „Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas (2006)“). 4 Zwar handelt es sich bei diesem Leitfaden lediglich um eine Empfehlung ohne jeglichen Rechtsstatus seitens der EU, doch verweisen die Union bzw. die am Kulturhauptstadtprogramm beteiligten Institutionen im Sinne eines Best-practice4

Vgl. EU-Kommission, Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas, Brüssel 2006 (Auszüge), in: Maribor2012, URL: (12.06.2017), S. 11–14.

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Angebots immer wieder auf ihn. Während zu Beginn des Kulturhauptstadtprogramms den teilnehmenden Städten weitestgehend Freiheit in der inhaltlichen Programmgestaltung zugestanden wurde, wird durch den Beschluss 1622/2006/EG und dem dazugehörigen Leitfaden die Eigenverantwortung dem aus anderen Politikbereichen bekannten Harmonisierungsprinzip der Union untergeordnet. Genaue Ablaufmechanismen und Zeitpläne des Bewerbungsprocederes, Evaluationsmaßnahmen und eine Neuregelung der finanziellen Zuwendungen machen das bis dahin vage ausformulierte und organisierte Programm zu einer Technik des Regierens im Rahmen des zunehmend interventionistischen Selbstverständnisses der Union. Die sich aus dieser Wissensgenerierung ergebenden beziehungsweise durch sie geformten Legitimitäten, Handlungsnotwendigkeiten sowie politischen und sozialen Praxen auf beiden Seiten der am Kulturhauptstadtdiskurs beteiligten Akteursgruppen systematisieren und stabilisieren die dazwischenliegenden Machtbeziehungen und produzieren ein immer enger werdendes Geflecht an Abhängigkeiten und gegenseitigen Bezugnahmen zwischen der Union und den Städten Europas. Aus einer historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive kann das Programm als Selbstvergewisserungs- und Selbstlegitimierungsstrategie der Union angesehen werden, die den altbekannten Vorwürfen wie Bürgerferne, Demokratiedefizit oder Bürokratiemaschinerie entgegen gestellt wird. Verstanden als symbolische Aushandlung von Politik wird mit dem Kulturhauptstadtkonzept eine politische Ersatzwelt geschaffen, die Europa für seine Bürger jenseits von politischen und technokratischen Entscheidungen erfahrbar machen soll. Die inhaltliche Ausgestaltung der zu erreichenden „europäischen Dimension“ wird mit dem übergreifenden Motto „Einheit in Vielfalt“ ergebnisoffen auf untergeordnete Einheiten verteilt, die aber dennoch einer Evaluation unterliegen – das Konzept wird zum Instrument politischer Herrschaft. Das zutage tretende offensichtliche Fehlen eines Masterplans lässt sich mit Ulrich Beck und Edgar Grande als Europäisierung in „institutionalisierter Improvisation“ verstehen, bei der einerseits das letztendliche Ziel („Mehr Integration“) bekannt ist, allerdings der Weg dorthin nicht immer klar definiert ist. 5 Für die Europäische Union wohnt dem Kulturhauptstadtkonzept (wie vielen anderen Kulturprogrammen) ein kaum zu lösender Gegensatz inne. Dem immer wieder konstatierten Fehlen eines einenden, mehrheitsfähigen und widerspruchsfreien Narrativs, das von einer im Entstehen begriffenen europäischen Öffentlichkeit getragen wird, steht das Selbstverständnis der Union gegenüber, eben nicht als zentraler Wissensbevollmächtigter aufzutreten und dieses Narrativ für das zusammenwachsende Europa festzulegen. An diesem Punkt kann mit Wolfgang Schmale ein grundlegender Unterschied zwischen Union und Nationalstaat ausgemacht werden. Während der Nationalstaat über die historische Deutungshoheit verfügt und sein eigenes Narrativ schaf5

Vgl. Beck, Ulrich; Grande, Edgar, Das kosmopolitische Europa. Gesellschaft und Politik in der Zweiten Moderne, Frankfurt am Main 2004 sowie Habit, Daniel, Die Inszenierung Europas? Kulturhauptstädte zwischen EU-Europäisierung, Cultural Governance und lokalen Eigenlogiken, Münster 2011.

Europäische Kulturhauptstädte

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fen kann, muss die Union aufgrund ihrer Netzwerkstruktur an einem auf Kohärenzbildung abzielenden Hypertext arbeiten, der nicht nur von einer intellektuellen Elite gesteuert, sondern von einer breiten Masse mit gestaltet werden würde. 6 Neben anderen europäischen Verortungsmaßnahmen im räumlichen („Europäische Kulturstraßen“) als auch zeitlichen Sinne (Europatage, Europäische Themenjahre) fällt dem städtischen Raum eine tragende Rolle in diesem von Brüssel forcierten post-nationalen Identitätsdiskurs zu. Als eine der zentralen Dimensionen der Machtmanifestation unterliegen Räume stärker den symbolischen Umgestaltungskräften, da sie über eine gestaltbare Physiognomie verfügen und nicht so eng mit einem bestimmten historischen Gedächtnis verbunden sind wie konkrete Orte. Dementsprechend kann das Kulturhauptstadtkonzept als Verortungspraxis und Raumaneignungsstrategie der Union verstanden werden, durch die sie sich auf einer europäischen Landkarte im jährlichen Turnus einschreibt und dadurch in einem dynamischen Prozess immer wieder neu erfahrbar wird. Neben Brüssel bzw. Straßburg tritt damit eine aus ihrer ortsgebundenen Funktion herausgelöste temporäre Hauptstadt, die als Knotenpunkt im Sinne der von Manuel Castells beschriebenen Kommunikationsnetzwerke im Informationszeitalter fungiert. 7 Auf Seiten der teilnehmenden Städte wiederum funktioniert die Verortung im Sinne eines Zugewinns an Aufmerksamkeit in einer internationalen Städtekonkurrenz. Die Titelvergabe wirkt sich unmittelbar auf die urbane Symbolökonomie aus und wird von den Städten als Standortvorteil eingesetzt. Vor diesem Hintergrund lassen sich auch die verschiedenen Maßnahmen zur Responsibilisierung seitens der Union einordnen, wie sie exemplarisch im Kulturhauptstadtdiskurs zutage treten. In einem neoliberalen Kontext meint Responsibilisierung die Verantwortlichmachung von hierarchisch untergeordneten Einheiten unter dem Signum von Eigenverantwortung, Eigenständigkeit und Eigeninitiative. Hierbei zeigt sich das aus der Governance-Forschung bekannte Moment der Relativität des Machtanspruchs, der im Gegensatz zu vorherigen Konzepten des „Regierens von oben“ durch unterschiedliche Kombinationen von Steuerung und Selbstregulierung ausgehandelt und gestaltet wird. Die titeltragenden Städte werden durch die Ernennung sechs Jahre vor dem eigentlichen Event durch eine Verantwortungsübertragung zu aktiv Handelnden, die die inhaltliche Ausgestaltung des EU-Europa übertragen bekommen. Damit einhergehen Ökonomisierungen von Institutionen und Handlungslogiken, da die Städte im Kontext einer Städtekonkurrenz das Event zu einem messbaren Erfolg werden lassen müssen. Auch innerhalb der Städte greifen die Mechanismen der Einbeziehung in die Verantwortung durch ein meist direktes Ansprechen der Bürger und den Aufruf zur Beteiligung im Sinne eines „Du bist Kulturhauptstadt“. Die damit verbundene Inanspruchnahme bürgerschaftlichen Engagements wird auf einer lokalen Ebene oftmals mit finanziellen Mitteln unterstützt und auf EU-Ebene beispielsweise durch die Ausrufung eines „Jahres der Kreativität“ (2014) flankiert. Die Attraktivität dieses Kulturprogramms und sein symbolischer Mehrwert zeigen sich insbesonde6 7

Vgl. Schmale, Wolfgang, Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität, Stuttgart 2008. Castells, Manuel, The Space of Flows, Oxford 1996.

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re in der Zahl der Bewerberstädte in den einzelnen Ländern, die sich auf nationaler Ebene bereits acht Jahre vor dem eigentlichen Event mit dem Titel der „Kandidatenstadt“ schmücken bzw. diesen Titel zur Durchsetzung von oftmals umstrittenen infrastrukturellen Projekten einsetzen. Die Europäische Union nimmt dabei vergleichbar zu anderen Großereignissen wie Olympischen Spielen oder Fußballmeisterschaften ungewollt eine Sündenbockfunktion ein und fungiert immer wieder als Bezugsebene, durch die Entscheidungen legitimiert werden. Durch die Orientierung auf die im Beschluss 1622/2006/EG und vor allem im dazugehörigen Leitfaden beschriebenen Best-Practice-Beispiele generieren die teilnehmenden Städte ihrerseits aus ihrer urbanen Biografie und Textur kulturelles Erbe, das durch den Titel in einen größeren Bezugsrahmen überführt wird und durch die EU als Beleg für die Einheit in Vielfalt instrumentalisiert wird. Dieser von unten generierte Fundus an europäisch codierten materiellen und immateriellen Kulturgütern dient als Projektionsfläche im Unifikationsprozess und wird als Beleg für dessen Gelingen instrumentalisiert; ein einheitliches Konzept von Kultur wird konstruiert, politisch instrumentalisiert und den Bürgern Europas erfahrbar gemacht. Im Zuge dieser Selbstinszenierungs- und Bewerbungsmaßnahmen vollziehen die Städte einen Akt des „Writing Heritage“, durch das im Sinne einer Wissensformierung Fähigkeiten, Bedeutung, Authentizität und Historizität beispielsweise in Bewerbungsdossiers textuell rekonstruiert werden. 8 Diese Inanspruchnahme des kulturellen Erbes durch die Union verdeutlicht sich wiederum an Beiträgen wie der Publikation zum 25-jährigen Bestehen des Kulturhauptstadtkonzepts mit dem bezeichnenden Titel „The road to success“ und der dazugehörigen Festveranstaltung, an denen die Mechanismen der Erfolgsgeschichtsschreibung deutlich werden. Der mantraartigen Betonung einer inhaltsarmen „Europäischen Dimension“ steht das Verschweigen von vermeintlichen nicht erfolgreichen Kulturhauptstädten gegenüber; Porto, Rotterdam (2001) oder Patras (2006) finden so keine Aufnahme in das Selbstnarrativ der Union, belegen aber durch ihr NichtErinnert-Werden die erwähnten verschiedenartigen Auslegungs- und Ausgestaltungsmöglichkeiten des Kulturhauptstadtkonzepts. Sowohl für Bewerberstädte als auch für die eigentlichen Titelträger bietet das Kulturhauptstadtjahr die Gelegenheit, sich einerseits auf einer europäischen Bühne einer breiten Öffentlichkeit zu präsentieren und andererseits im städtischen Raum für Bewohner und Touristen neue Formationen der Selbstverortung und -inszenierung zu etablieren. Die sich daraus ergebenden Entwicklungslinien können dabei ganz unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen folgen. Zwar finden sich in allen Städten Auseinandersetzungen mit dem kulturellen Erbe Europas bzw. dem, was im jeweiligen Kontext darunter verstanden wird, und den von der EU vorgegebenen Bezugsebenen, daneben treten aber auch immer wieder spezifische Arrangements. Diese lokalen Eigenlogiken beginnen bereits bei der institutionellen 8

Vgl. Tauschek, Markus, „Writing Heritage“ – Überlegungen zum Format Bewerbungsdossier, in: Berger, Karl C.; Schindler, Margot; Schneider, Ingo (Hgg.), Erb.gut? Kulturelles Erbe in Wissenschaft und Gesellschaft, Wien 2009, S. 437–448.

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Ansiedlung des verantwortlichen Gremiums innerhalb der politisch-administrativen Strukturen, gehen über die Ästhetisierungsstrategien, die Wissensproduktionen über das Eigene, die symbolischen Ausdrucksformen sowie die Prädikatisierungsprogramme hin zur programmatischen Ausgestaltung des Titeljahres, zur Einbindung und Partizipation der lokalen Bevölkerung und reichen bis zur Rezeption und nachträglichen Evaluation. Gerade im Hinblick auf Stadtentwicklungsszenarien erweist sich das Gesamtprogramm beispielsweise immer wieder als Motor innerstädtischer Bau- und Infrastrukturprojekte, die unter dem Label des Kulturhauptstadtjahres urbane Prozesse in Gang bringen. Je nach Perspektive und Standpunkt können diese Projekte und die dazugehörigen Narrative als Erfolg oder Misserfolg gelesen werden, letztendlich können sie aber vor allem als Beleg für die Dynamik und Heterogenität des Kulturraums Europa verstanden werden, zu dessen Ausgestaltung das Kulturhauptstadtprogramm seit 1985 einen entscheidenden Beitrag geleistet hat. Literaturhinweise EU-Kommission, European Capitals of Culture. The Road To Success. From 1985 to 2010, 2009, URL: (12.06.2017). EU-Kommission, Mitteilung zur Verstärkung der Gemeinschaftsaktionen im Bereich der Kultur („Fanti-Bericht“), in: Bulletin der EG, Beilage 6/82, URL: (12.06.2017). EU-Parlament, Beschluss 1419/1999/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Mai 1999 über die Einrichtung einer Gemeinschaftsaktion zur Förderung der Veranstaltung „Kulturhauptstadt Europas“ für die Jahre 2005 bis 2019, in: Amtsblatt L 166 vom 01.07.1999, URL: (12.06.2017). EU-Parlament, Beschluss 1622/2006/EG des EU-Parlaments und des Rates zur Einrichtung einer Gemeinschaftsaktion zur Förderung der Veranstaltung „Kulturhauptstadt Europas“ für die Jahre 2007 bis 2019, in: Amtsblatt L 304/1 vom 03.11.2006, URL: (12.06.2017), Palmer/Rae Associates, European Cities and Capitals of Culture. Study Prepared for the European Commission, Brüssel 2004, URL: (12.06.2017).

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Quelle EU-Kommission: Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas (2006) 9 „[…] Die Ernennung einer Stadt zur Kulturhauptstadt erfolgt nicht allein aufgrund dessen, was sie ist oder tut. Ausschlaggebend ist in erster Linie das Programm mit seinen besonderen Kulturveranstaltungen, das die Stadt im Laufe des betreffenden Jahres durchzuführen beabsichtigt und das dem Jahr einen besonderen Charakter verleiht. In dieser Hinsicht unterscheidet sich das Konzept der Kulturhauptstadt Europas beispielsweise völlig von dem des UNESCO-Weltkulturerbes. Der Titel ist weniger ein Etikett als vielmehr die Krönung eines herausragenden Jahres im kulturellen Leben der Stadt. Daher wäre eine touristische Broschüre über die Stadt als Bewerbungsunterlage ungeeignet (11). [...] Sie muss die Gemeinsamkeiten ebenso wie die Vielfalt der europäischen Kulturen herausstreichen. Mit kultureller Vielfalt ist auch der Reichtum gemeint, zu dem Einheimische, Migranten und Neuankömmlinge aus europäischen und außereuropäischen Ländern gemeinsam beitragen. Eines der Hauptziele der Veranstaltung ist es, das gegenseitige Verständnis der Bürger Europas füreinander zu fördern und ein Gefühl der Zugehörigkeit zu ein und derselben Gemeinschaft zu entwickeln. In diesem Sinne muss die Veranstaltung von einer umfassenden ‚europäischen‘ Vision geprägt sein und das Programm auf europäischer Ebene Anziehungskraft entfalten. [...] Konkret geht es für eine Bewerberstadt darum, neben ihren Besonderheiten ihre bisherige Rolle in der europäischen Kultur, ihren Bezug zu, ihren Platz in und ihre Zugehörigkeit zu Europa ebenso darzulegen wie ihre gegenwärtige Beteiligung am Kunst- und Kulturleben Europas. Diese europäische Dimension kann eine Stadt auch im Rahmen des Dialogs und des Austausches begreifen, den sie mit anderen Kulturen und Künstlern anderer Kontinente zur Förderung des interkulturellen Dialogs unterhält (12). [...] Attraktivität, von der lokalen bis zur europäischen Ebene, ist eines der herausragenden Ziele einer Kulturhauptstadt Europas: Wie gelingt es, nicht nur die Bevölkerung vor Ort und im eigenen Land, sondern auch Touristen aus dem Ausland anzuziehen? Bei einer Stadt in einem der baltischen Länder ließe sich diese Frage beispielsweise wie folgt formulieren: Wie lässt sich das Interesse spanischer, griechischer oder schwedischer Touristen für die Veranstaltung wecken? Mit Fragen dieser Art müssen sich die Bewerberstädte auseinandersetzen. Das heißt, Veranstaltungen, die allein von lokalem Interesse sind, sollten vermieden werden. Auch die Förderung des europäischen Tourismus ist ein wichtiges Ziel der Veranstaltung (14). […]“

9

EU-Kommission, Leitfaden für Bewerbungen als Kulturhauptstadt Europas, Brüssel 2006 (Auszüge), in: Maribor2012, URL: (12.06.2017), S. 11–14. Die Quelle ist zudem online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

AUTORINNEN UND AUTOREN Tobias Becker Dr., Deutsches Historisches Institut London Rüdiger vom Bruch Prof. Dr., Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin Gabriele Clemens Prof. Dr., Historisches Institut, Universität des Saarlandes Joachim Eibach Prof. Dr., Historisches Institut, Universität Bern Eckhart Gillen Dr., Filmuniversität Potsdam „Konrad Wolf“ Falk-Thoralf Günther Dr., SPD-Stadtratsfraktion, Leipzig Daniel Habit Dr., Institut für Volkskunde/Europäische Ethnologie, Ludwig-MaximiliansUniversität München Jeannine Harder M.A., Museen für Kulturgeschichte der Landeshauptstadt Hannover Thomas Höpel Prof. Dr., Institut für Kulturwissenschaften, Universität Leipzig Axel Körner Prof. Dr., Centre for Transnational History, University College London Isabella Löhr Dr., Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO), Leipzig Sven Oliver Müller PD Dr., Seminar für Neuere Geschichte, Universität Tübingen Jürgen Osterhammel Prof. Dr., Neuere und neueste Geschichte, Universität Konstanz Anne-Marie Pailhès Dr., Centre d’études et de recherches sur l’espace germanophone (CEREG), Université Paris Nanterre

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Autorinnen und Autoren

Helmut Peitsch Prof. Dr., Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg Eli Rubin Prof. Dr., Department of History, Western Michigan University Martin Schieder Prof. Dr., Institut für Kunstgeschichte, Universität Leipzig Hannes Siegrist Univ.-Prof. em. Dr., Institut für Kulturwissenschaften, Abteilung für Vergleichende Kultur- und Gesellschaftsgeschichte des modernen Europa, Universität Leipzig Bertrand Tillier Prof. Dr., History Department, Université Paris-1 Panthéon-Sorbonne

ABBILDUNGEN

Abbildungen

261

Abbildung zum Essay: Bertrand Tillier, Die schwarzen Männer (1899–1900), eine Vase von Émile Gallé für die Sache von Dreyfus, S. 113–121.

Abb. 3: Émile Gallé: Die schwarzen Männer (1899–1900) 1

1

Collection particulière. Die Quelle und weitere Abbildungen der Vase sind online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

262

Abbildungen

Abbildungen zum Essay: Eckhart Gillen, Abstrakte Kunst als Instrument des Kalten Krieges der Kulturen. Der Wettbewerb für das Denkmal des unbekannten politischen Gefangenen 1952/53, S.183–190.

Abb. 5: Reg Butler: Working Model for „The Unknown Political Prisoner“ (1955–56) 2

2

© Tate, London [2014], URL: (12.06.2017). Die Quelle ist zudem online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

Abbildungen

263

Abb. 7: Sowjetisches Ehrenmal im Treptower Park, Berlin (2005) 3

3

Wikimedia Commons, URL: (12.06.2017) © Andreas Steinhoff. Die Quelle ist zudem online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

264

Abbildungen

Abbildungen zum Essay: Jeannine Harder, Polnische Plakatkunst als Medium transnationaler Kunstkontakte und Kulturpolitik im Ost-West-Konflikt, S. 191–198.

Abb. 8: Józef Mroszczak: Polnische Plakate (1949) 4

4

Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, PL 50/64a, 1949. © Stadtgeschichtliches Museum Leipzig, Böttchergäßchen 3, 04109 Leipzig, URL: . Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

Abbildungen

265

Abb. 96WDQLVáDZ=DPHF]QLN; (U\N/LSLĔVNL Ausstellung Polnische Plakate (1949) 5

5

Stadtarchiv Nürnberg, A 28 Nr. 1950/60, 1949. © Stadtarchiv Nürnberg, Marientorgraben 8, 90402 Nürnberg, URL: . Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

266

Abbildungen

Abbildungen zum Essay: Martin Schieder, Stadt/Bild. Gustave Caillebotte, Baron Haussmann und eine Verkehrsinsel, S. 209–219.

Abb. 10: Gustave Caillebotte: Un Refuge, Boulevard Haussmann (1880) 6

6

Öl auf Leinwand, 81×100 cm. © Privatsammlung / Bridgeman Images, Barbarossastr. 39, 10779 Berlin, URL: . Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

Abbildungen

267

Abb. 11: Gustave Caillebotte: Homme au balcon, Boulevard Haussmann (1880) 7

7

Öl auf Leinwand, 117×90 cm. © Christie’s / Bridgeman Images, Barbarossastr. 39, 10779 Berlin, URL: . Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

268

Abbildungen

Abb. 13: Claude Monet: Saint Germain-l’Auxerrois (1867) 8

8

Öl auf Leinwand, 79×98 cm, Berlin, Nationalgalerie, URL: (12.06.2017). Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

Abbildungen

269

Abb. 14: Edgar Degas: Le Vicomte Lepic et ses filles traversant la place de la Concorde (1876) 9

9

Öl auf Leinwand, 79×118 cm. © The State Hermitage Museum, 34, Dvortsovaya Embankment, St. Petersburg, 190000 Russland, URL: . Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

270

Abbildungen

Abb. 15: Ernst Ludwig Kirchner: Potsdamer Platz (1914) 10

10 Öl auf Leinwand, 200×150 cm. © Bildagentur für Kunst, Gesellschaft und Geschichte (bpk) / Nationalgalerie, SMB / Jörg P. Anders. Die Quelle ist online erschienen im Themenportal Europäische Geschichte, URL: .

Die Entwicklung der Künste war in den letzten zwei Jahrhunderten von Prozessen der Nationalisierung, Internationalisierung und Transnationalisierung und den daraus entstandenen Spannungen geprägt. Diese Wechselwirkungen von Kunst, Politik und Gesellschaft in der Moderne untersuchen die Autorinnen und Autoren in diesem Band. Anhand ausgewählter Quellen setzen sie dabei die Geschichte der Herstellung, Vermittlung, Rezeption und Nutzung künstlerischer Werke in Bezug zur Geschichte der europäischen Gesellschaften sowie der politischen und wirtschaftlichen Systeme. Ihr Fokus liegt auf grenzüberschrei-

isbn 978-3-515-11933-7

tenden Austauschprozessen und Beziehungen. Der als Studien- und Lehrbuch konzipierte Band gliedert sich in drei Teile. Teil eins befasst sich mit der Rolle der Kunst in der bürgerlichen Öffentlichkeit und mit der Entwicklung des Kunstmarktes. Teil zwei analysiert die Funktionen von Kultur, Kunst und Künstlern in verschiedenen politischen Systemen und im Spannungsfeld zwischen der Nationalisierung und Internationalisierung kultureller Beziehungen. Teil drei thematisiert das Verhältnis von Kunst, Architektur und Stadtentwicklung in Europa.

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