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German Pages [709] Year 2021
Andreas Lob-Hüdepohl / Gerhard K. Schäfer (Hg.)
Ökumenisches Kompendium Caritas und Diakonie
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Andreas Lob-Hüdepohl / Gerhard K. Schäfer (Hg.)
Ökumenisches Kompendium Caritas und Diakonie Mit 5 Abbildungen und 5 Tabellen
Vandenhoeck & Ruprecht
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022, Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Umschlagabbildung: © Adobe Stock/Annett Seidler Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-666-61633-4
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Inhalt
Ulrich Lilie
Geleitwort des Präsidenten der Diakonie Deutschland ..................................... 1 Peter Neher
Geleitwort des Präsidenten des Deutschen Caritasverbands ............................. 3 Andreas Lob-Hüdepohl / Gerhard K. Schäfer
Vorwort ............................................................................................................. 6 Grundlagen und Herausforderungen Anika Christina Albert
1
Anthropologie prosozialen Verhaltens .................................................. 11
2
Alttestamentliche Grundzüge diakonischen Handelns .......................... 23
3
Ulrike Bechmann
Jens-Christian Maschmeier
Neutestamentliche Grundzüge diakonischen Handelns ........................ 35 Gerhard K. Schäfer
4
Diakonische Praxis der Kirchen – geschichtliche Entwicklungen............................................................... 46
5
Caritas und Diakonie unter dem Veränderungsdruck staatlicher Gewährleistungsverantwortung ........................................... 79
6
Matthias Möhring-Hesse
Andreas Lob-Hüdepohl
Diakonie in der Transformationsgesellschaft: Inklusion – Digitalisierung – Sozialökologie ........................................ 93
Konzeptionen und Dialogbewegungen 7
Andreas Lob-Hüdepohl / Gerhard K. Schäfer
Theologie der Diakonie – Konzeptionen und Profile.......................... 111
VI
Inhalt Esther Weitzel-Polzer
8
Jüdische Wohlfahrtspflege .................................................................. 129
9
Islamische Wohlfahrt .......................................................................... 140
10
Menschenrechtsbasierte säkulare Wohlfahrt....................................... 150
11
Zwischen Ohnmacht und Widerstand – zum Grundprofil einer diakonischen Ethik ..................................................................... 159
12
Barmherzigkeit – Gerechtigkeit – Gemeinschaft: Wohlfahrtsstaatliche Paradigmen in der theologischen Reflexion ............................................................................................. 175
13
Religionssensible Diakonie in säkularen Handlungskontexten .......... 191
Naime Çakir-Mattner Heiner Bielefeldt
Andreas Lob-Hüdepohl
Wolfgang Maaser
Kathrin Hahn / Matthias Nauerth / Michael Tüllmann
Personen und Konfessionen Michael N. Ebertz
14
Diakonie in der Perspektive religionssoziologischer Forschung ............................................................................................ 203
15
Ehrenamtlich-freiwillige Mitarbeiter:innen ........................................ 216
16
Hauptamtliche Mitarbeiter:innen / Personalentwicklung .................... 226
17
Religiöse Bindungen und konfessionelle Prägungen .......................... 236
18
Evangelische Diakonissen und Diakone ............................................. 246
19
Sozial-karitative Orden ....................................................................... 251
Reinhard Liebig
Irme Stetter-Karp Dierk Starnitzke
Cornelia Coenen-Marx Michael Fischer
Diakonie, Verkündigung und Bildung 20
Cornelia Coenen-Marx / Beate Hofmann
Spiritualität und Sorge ........................................................................ 259
VII
Inhalt Klaus Baumann
21
Verkündigung und diakonische Beratung ........................................... 271
22
Diakonische Bildung und Solidarität .................................................. 284
23
Lebensbegleitendes Lernen – Aus-, Fort- und Weiterbildung in Diakonie und Caritas............................................... 297
24
Diakoniewissenschaft, Forschung und Transfer ................................. 315
Katja Baur
Annett Herrmann
Christoph Sigrist
Ressourcen und Kooperationen Leo Penta / Tobias Meier
25
Partizipation ........................................................................................ 329
26
Gemeinwesen – Sozialraum ............................................................... 339
27
Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen ......................................... 353
28
Digitale Transformation in Diakonie und Caritas ............................... 364
Ralf Hoburg
Monika Treber
Johannes Landstorfer / Roland Schöttler
Kollektive Akteur:innen und Organisationsformen Nina Behrendt-Raith / Gerhard K. Schäfer
29
Diakonie in der Ortsgemeinde ............................................................ 375
30
Initiativgruppen und karitative Gemeinschaften ................................. 395
31
Caritas / Diakonie als Unternehmen ................................................... 410
32
Spitzenverbände als politische Akteure: Grundlagen und Herausforderungen der politischen Arbeit der (konfessionellen) Wohlfahrtsverbände ......................................... 420
Christian Spieß
Johannes Eurich
Eva Welskop-Deffaa
VIII
Inhalt
Leiten und Gestalten 33 34
Petra Mund
Führung und Organisationsentwicklung ............................................. 435 Jacob Joussen
Kirchliches Arbeitsrecht ..................................................................... 444 Christian Bernzen
35
Finanzen und Finanzierung ................................................................. 455
36
Ethische Beratung und Supervision .................................................... 464
37
Wirkungsbemessung und Qualitätsentwicklung ................................. 475
38
Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit................................................. 483
39
Soziale Innovation in Diakonie und Caritas........................................ 492
Norbert Steinkamp Johannes Eurich Paul Dalby
Roland Schöttler
Adressat:innen und Aufgabenfelder Andreas Kruse
40
Alter .................................................................................................... 503
41
Hilfen für arbeitslose Menschen ......................................................... 511
42
Hospizbewegung und Palliativversorgung: Ansätze zur Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen und zur Trauerbegleitung ................................. 520
43
Armutsbedrohte und Verarmte............................................................ 530
44
Ehe, Partnerschaft und Familien ......................................................... 541
45
Christliche Soziale Arbeit mit Geflüchteten ....................................... 553
Traugott Jähnichen Maria Wasner
Jan Bertram / Ernst-Ulrich Huster Bettina Zenner
Annette Müller
IX
Inhalt Sabine Schäper
46
Menschen mit Behinderungserfahrungen ........................................... 566
47
Psychiatrie-Erfahrene .......................................................................... 575
48
TelefonSeelsorge ................................................................................. 585
49
Kranke Menschen in ambulanter und stationärer Versorgung ........................................................................ 593
50
Pflege und Pflegebedürftigkeit ........................................................... 601
51
Sucht: Hilfeangebote – Auftrag von Kirche und Seelsorge ...................................................... 616
52
Diakonisches Handeln in JVA und Straffälligenhilfe ......................... 626
53
Schwangere und ihre Familien beraten und begleiten ........................ 635
54
Kinder und Jugendliche ...................................................................... 646
55
Obdach- und Wohnungslosenhilfe ...................................................... 657
Sigrid Graumann Bernd Blömeke
Barbara Städtler-Mach
Hartmut Remmers Daniela Ruf
Michelle Becka
Regine Hölscher-Mulzer Dirk Nüsken
Ernst Alexander Biedermann
Diakonie in internationaler Verantwortung Anne Wagenführ-Leroyer / Katharina Wegner
56
Caritas und Diakonie in Europa .......................................................... 667
57
Voneinander lernen: Entwicklungszusammenarbeit und weltweite Diakonie ...................................................................... 678
Gertrud Casel
Verzeichnis der Autor:innen ......................................................................... 690
Geleitwort des Präsidenten der Diakonie Deutschland
Es ist eine Immer-wieder-Aufgabe von Diakonie und Caritas, ihr Handeln und ihre Organisationsformen kontinuierlich zu reflektieren und ihre Angebote in den unterschiedlichen Handlungsfeldern in Theorie und Praxis weiterzuentwickeln. Angesichts der großen gesellschaftlichen Transformationsprozesse, die unsere digitaler, diverser, religiös vielfältiger, älter und sozial ungleicher werdende Gesellschaft momentan durchläuft, ist es sehr zu begrüßen, dass nun in einer Neuausgabe des von Günter Ruddat und Gerhard K. Schäfer 2005 herausgegebenen Kompendiums diakonisch-caritatives Handeln vor dem Hintergrund sich ändernder Rahmenbedingungen und Herausforderungen beschrieben wird. Die Bedingungen, unter denen Einrichtungen von Diakonie und Caritas und ihre Mitarbeitenden arbeiten, sind fluider geworden. Die Megathemen und -trends übersetzen sich in die immer ebenfalls stark differierenden Gemeinwesen, in denen wir vor Ort diakonisch tätig sind, in denen wir „dienen und dazwischen gehen“ – wie es in dem griechischen Wort „diakonein“ anklingt. Auch die Erwartungen an die Arbeit von Diakonie und Caritas haben sich verändert und verändern sich. Die Individualisierungs- und Singularisierungsprozesse etwa, die die spätmoderne Kultur der Industrienationen seit den Siebzigerjahren neu justieren, bringen auch andere Erwartungshaltungen an und neue Herausforderungen für unsere Angebote mit sich. Die deutsche Gesellschaft ist vielfältiger geworden. Die Vorstellungen davon, was ein gutes Leben ausmacht, unterscheiden sich immer mehr. Wir alle sind inzwischen gewohnt und erwarten, dass wir in unserer Individualität passgenau wahrgenommen werden. Dazu gehört auch der Wunsch nach veränderten Angeboten und Dienstleistungen. Auch diese Vielfalt der Erwartungen an Diakonie und Caritas ist neu zu reflektieren. Zur Vergewisserung und Weiterentwicklung haben sich Verständigungsformate bewährt, die mehrdimensionale und multiprofessionelle Perspektiven aufnehmen und ins Gespräch bringen. In diesem Sinne bietet das nun vorliegende Handbuch wertvolle Zugänge und Orientierungen zu Traditionen, Herausforderungen und Praxen diakonischer Arbeit – nun dankenswerter Weise auch in einem ökumenischen Horizont.
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U. Lilie
Ich wünsche dem Ökumenischen Kompendium eine breite positive Aufnahme in Diakonie und Caritas, in den Kirchen, in der Wissenschaft und in der weiteren Öffentlichkeit. Herzlich danke ich den Expertinnen und Experten, die zu der umfassenden Sammlung beigetragen haben. Mein besonderer Dank gilt beiden Herausgebern, die mit diesem Handbuch die diakonie- bzw. caritaswissenschaftliche Diskussion bereichern. Ulrich Lilie
Präsident Diakonie Deutschland
Geleitwort des Präsidenten des Deutschen Caritasverbands
„Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und ihr habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen.“ (Mt 25, 35f.) Von Anfang an stand das Gleichnis des Weltengerichts im Christentum wie kein anderes für die tätige Nächstenliebe. Dabei gibt der kurze Bibeltext einen guten Eindruck, wie die jungen Gemeinden versuchten, dies zu leben und sich für Menschen in Not einzusetzen. Die kleinen Gemeinschaften, die in vielen Städten des Römischen Reichs entstanden waren, bekamen schnell Zulauf. Denn die Verbindung von gelebter Solidarität und religiösem Glauben machte die Glaubensgemeinschaft für viele attraktiv. Das soziale Engagement wurde zur Triebfeder des Christentums. Was wie eine erfolgreiche Werbeaktion wirkt, ist ein Kernelement des christlichen Glaubens: Gottes- und Nächstenliebe bedingen sich. Weltverantwortung und Spiritualität sind zwei Ausdrucksformen des gleichen Glaubens. Einem Christentum ohne Engagement für Menschen in Not würde etwas Wesentliches fehlen. Auf diese Bedeutung der Caritas für die Kirche hat etwa Papst Benedikt XVI. in seiner Enzyklika Deus caritas est (2006) hingewiesen: „Die Kirche kann den Liebesdienst so wenig ausfallen lassen wie Sakrament und Wort“ (S. 22). Bereits in der Sorge um den notleidenden Menschen wird Kirche und ihr Auftrag, die Liebe Gottes erfahrbar zu machen, sicht- und erlebbar. Diese zuvorkommende Liebe Gottes, die allen Menschen gilt, ist Zusage und Aufruf zugleich, sich denjenigen zuzuwenden, die Hilfe bedürfen. In diesem Sinne haben caritative Orte nicht nur Anteil an der kirchlichen Sendung, sondern sind selbst Orte gelebten Glaubens und damit Kirche. Die Wege, diese Nächstenliebe zu leben, waren im Laufe der Geschichte höchst unterschiedlich und hingen immer wieder davon ab, was notwendig war und wer zum Nächsten dessen wurde, der Hilfe nötig hatte (vgl. Lk 10,36). Wären es heute noch die gleichen Aktivitäten oder müssten wir sie ergänzen? Das Gebot der Nächstenliebe, der Auftrag, Not wahrzunehmen und zu handeln, ist jedoch bis heute aktuell geblieben: Menschen sind aufeinander und ihre gegenseitige Solidarität angewiesen. Das gilt in besonderem Maße für unsere ausdifferenzierte, plurale Gesellschaft. Wer Nächstenliebe lebt, handelt so-
4
P. Neher
lidarisch und verändert unser gesellschaftliches Zusammenleben. Dieser Impuls führte im Laufe des 19. Jahrhunderts angesichts der sozialen Probleme zur Entstehung unzähliger caritativer Orden, Vereine und Initiativen und schließlich zur Gründung der kirchlichen Sozialverbände der beiden christlichen Kirchen in Deutschland. „Unter allen sozialen Heilmitteln ist und bleibt die Liebe das kräftigste und nachhaltigste“, so der Gründer des Deutschen Caritasverbandes Lorenz Werthmann (Aus seinen Reden und Schriften, Freiburg i.Br. 1958, S. 18). Wer Zusammenleben nachhaltig im Sinne der Solidarität verändern will, darf es aber nicht bei konkreter Hilfe und politischem Engagement belassen. Genauso entscheidend ist die Bereitschaft, die eigene Arbeit immer wieder zu reflektieren. Nicht umsonst prägte Werthmann die drei Begriffe Studieren, Publizieren und Organisieren, wenn er die Arbeit des 1897 gegründeten Deutschen Caritasverbandes beschrieb. Unter den Bedingungen moderner, hochspezialisierter Gesellschaften kann etwa Pflege und medizinische Hilfe nicht anders als professionell organisiert werden. Eine Kirche, die hier Hilfe leisten will, muss sich nach den Standards richten, die gesetzlich geregelt sind. „Was nun den Dienst der Menschen an den Leidenden betrifft, so ist zunächst berufliche Kompetenz nötig: Die Helfer müssen so ausgebildet sein, dass sie das Rechte auf rechte Weise tun und dann für die weitere Betreuung Sorge tragen können“ (Deus caritas est, S. 31). Gleichzeitig sind die Einrichtungen und Dienste kirchliche Orte, die etwas von der Liebe Gottes erfahrbar machen wollen. Insofern gilt es die eigene caritative Arbeit, sowohl fachlich als auch theologisch und ethisch zu reflektieren, um so eine Weiterentwicklung von kirchlicher Diakonie und Caritas zu ermöglichen. Wie vielfältig diese Reflexionsarbeit ist, zeigt das vorliegende Kompendium eindrücklich. Es unterstreicht aber auch das verbindende und ökumenische Element von Caritas und Diakonie. Denn der Gradmesser des diakonischen bzw. caritativen Engagements ist ausschließlich die Not des anderen. Caritas und Diakonie richten sich aus ihrem theologischen Selbstverständnis heraus über den christlichen Binnenraum hinaus an alle Menschen. Der Maßstab dieser biblischen Botschaft beinhaltet darüber hinaus eine interreligiöse Offenheit. Denn caritative bzw. diakonische Arbeit weiß sich immer der biblischen Botschaft Jesu verbunden und hat deshalb den Menschen im Blick zu haben. Vernetztes Engagement, gemeinsame konzeptionelle Arbeit und gemeinschaftliche Projekte sind dabei nicht nur ein Mittel zum Zweck. Sie eröffnen Verbindungslinien und Austausch, der deutlich macht, wie die gemeinsame biblische Botschaft heute gelebt werden kann. Die Vielfalt der wissenschaftlichen und praxisbezogenen Zugänge des vorliegenden Kompendiums zu diesen Themen ist nicht nur beeindruckend, sondern auch eine Hilfe für all diejenigen, die sich dem Reflexions- und Erfahrungs-
Geleitwort Deutscher Caritasverband
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wissen diakonisch-caritativen Tuns nähern möchten. Den Leserinnen und Lesern wünsche ich nicht nur eine anregende Lektüre, sondern auch Impulse für die weitere Reflexion und die eigene Arbeit. Prälat Dr. Peter Neher
Präsident des Deutschen Caritasverbandes
Vorwort
Die diakonische Praxis der christlichen Kirchen in Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten immer weiter ausdifferenziert, in manchen Bereichen sogar deutlich ausgeweitet. Fast folgt ihre Entwicklung einer antizyklischen Bewegung: Während die Zahl der Kirchenmitglieder stetig sinkt und die Bedeutung beider großer christlichen Kirchen in weiten Teilen des privaten wie öffentlichen Lebens zunehmend verblasst, bleiben besonders die großen Träger kirchlicher Wohlfahrt, die unter den Dächern des Deutschen Caritasverbandes und der Diakonie Deutschland versammelt sind, wichtige Repräsentanten kirchlichen Lebens. Ihre fachliche Reputation ist weit über die Grenzen der Kirchen hinaus hoch anerkannt und sehr willkommen. Die Ausdifferenzierungen und Ausweitungen resultieren aus dem komplexen Zusammenspiel vieler interner wie externer Faktoren: Zum einen sind beide Kirchen in Gestalt ihrer Kirchengemeinden, Gemeinschaften und Verbände sozialen, organisatorischen und nicht zuletzt auch konzeptionell-theologischen Wandlungen unterworfen, die auf die diakonische Praxis erhebliche Auswirkungen haben – erinnert sei hier nur an das Wechselverhältnis zwischen verbandlich-professioneller und ehrenamtlich-gemeindlicher Caritas und Diakonie. Zum anderen sind gerade die verbandlich-professionelle Diakonie und Caritas durch ihre spezifische Einbindung in die staatlich organisierte, finanzierte und verantwortete Daseinsvorsorge unmittelbar von den Änderungen und Entwicklungen staatlicher Wohlfahrtspolitik betroffen und müssen möglichst rasch auf die sozialen Herausforderungen moderner Gesellschaften mit ihren neuen Problemlagen reagieren – erinnert sei hier nur an die neuen Lagen im Bereich der Gesundheitsversorgung im Alter oder im Bereich der Kinderund Jugendarbeit, die schon durch die Veränderung familiären Lebens oder die steigende Sensibilität für die menschenrechtsbasierte Belange von Kindern und Jugendlichen bedeutsame Akzentverschiebungen verzeichnet. Mit diesen Veränderungen wächst der Bedarf an Übersicht und kritischer Reflexion der facettenreichen diakonischen Praxis der Kirchen. Erfreulicherweise trägt mittlerweile ein beachtliches Engagement im Bereich von diakonischer Forschung und Entwicklung diesem gestiegenen Bedarf Rechnung. In diese vielfältigen Bemühungen reiht sich das Ökumenische Kompendium Caritas und Diakonie (ÖKCD) ein. Dabei sichert das ÖKCD den Anschluss und schlägt Brücken: Es sichert den Anschluss an das breit rezipierte Diakonische
Vorwort
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Kompendium, mit dem die Herausgeber Günter Ruddat und Gerhard K. Schäfer 2005 erstmals eine thematisch breitangelegte Übersicht über wichtige Grundlagen, Handlungsfelder und Entwicklungslinien diakonischer Praxis innerhalb der Kirchen der Reformation verantwortet haben. Dessen Überarbeitung stand nun an – erforderlich nicht zuletzt wegen der erwähnten Ausdifferenzierungen und Wandlungsprozesse der Kirchen und ihrer Diakonie. Dabei baut das ÖKCD bewusst eine ökumenische Brücke zwischen den Traditionslinien diakonaler Praxis, die mit den beiden großen christlichen Konfessionen mindestens historisch und – bei allen Unterschieden – grundlegend auch konzeptionell-theologisch verknüpft sind. So wird das ÖKCD nicht nur ökumenisch von einem evangelischen und einem katholischen Herausgeber verantwortet. Sondern es versammelt die Beiträge eines breiten Spektrums von Autor:innen, deren unterschiedliche Akzentuierungen und Einfärbungen den Reichtum ökumenischer Vielfalt erahnen lassen. Es ist Ausdruck ökumenischer Verbundenheit, diese Pluralität zu Wort kommen zu lassen und eben nicht einzuebnen. Die Vielfalt erstreckt sich keinesfalls nur auf etwaige konfessionelle Färbungen, sondern umfasst gerade auch die unterschiedlichen Herangehensweisen der Autor:innen, die damit ihrer je unterschiedlichen professionellen Expertise wie fachwissenschaftlichen Perspektive Geltung verschaffen. Zentrales Anliegen des ÖKCD ist es, Studierenden vor allem der Diakonie / Caritas und der Sozialen Arbeit, den Mitarbeiter:innen in Caritas, Diakonie und weiteren Wohlfahrtsverbänden und nicht zuletzt Verantwortlichen in Caritas und Diakonie sowie den Leitungen der Kirchen wissenschaftlich fundierte Zugänge und Orientierungen im Blick auf Traditionen, gegenwärtige Herausforderungen und Praxen von Diakonie und Caritas, aber auch von Hilfeformen, die jüdische oder islamische Wurzeln haben oder menschenrechtlich begründet sind, zu ermöglichen. Für die einzelnen Artikel konnten namhafte Beiträger:innen nicht nur aus der Wissenschaft, sondern auch aus der (verbandlich organisierten) caritativ-diakonischen Praxis gewonnen werden. Damit ist es gelungen, das gerade auch in der verbandlich organisierten diakonischen Praxis akkumulierte breite Erfahrungs- und Reflexionswissen für das Kompendium fruchtbar zu machen. Die Herausgabe eines solch umfangreichen Kompendiums ist immer das Ergebnis eines großen Gemeinschaftswerkes. An erster Stelle sind es die Beiträger:innen, die ihre jeweilige Fachkompetenz für dieses Gemeinschaftswerk zur Verfügung gestellt haben. Der Ertrag ihrer Forschungen und Reflexionen ist den Leser:innen unmittelbar ersichtlich. Nur mittelbar sichtbar werden aber jene, die im Hintergrund das Gelingen erst ermöglicht haben. Namentlich möchten wir Frau Ines Erwied und Herrn Dr. Tim Reiß vom Berliner Institut für christliche Ethik und Politik für die redaktionelle Begleitung des Projekts und Frau Franziska Witzmann, Evangelische Hochschule RWL, Bochum, für die Erstellung des druckfertigen Manuskripts danken. Frau Jana Harle vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht gilt unser Dank für die gewohnt vorzügliche Zusammenarbeit.
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A. Lob-Hüdepohl / G. K. Schäfer
Für die enorme institutionelle und nicht zuletzt materielle Unterstützung, ohne die das Kompendium gar nicht erst in den Druck hätte gehen können, bedanken sich die Herausgeber bei der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Bochum, und der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin. Die Drucklegung des Bandes ist ökumenisch breit gefördert worden. Wir bedanken uns bei den (Erz-)Bistümern Bamberg, Berlin, Essen, Freiburg, Hamburg, München-Freising, Münster und Paderborn sowie bei der Evangelischen Kirche im Rheinland, der Evangelische Kirche von Westfalen, der Diakonie Bayern und der Diakonie Rheinland-Westfalen-Lippe für die finanzielle Unterstützung. Ein ausdrücklicher Dank gebührt der Diakonie Deutschland und dem Deutschen Caritasverband, die sich nicht nur mit einem großzügigen Druckkostenzuschuss erkenntlich zeigten, sondern deren Präsidenten dem Kompendium durch ihre Geleitworte eine besondere Ehre erweisen. Berlin/Bochum, im September 2021 Andreas Lob-Hüdepohl und Gerhard K. Schäfer
Grundlagen und Herausforderungen
1 Anthropologie prosozialen Verhaltens Anika Christina Albert
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Einleitung
Anthropologie beschäftigt sich aus theologischer, philosophischer oder humanwissenschaftlicher Perspektive mit der Frage nach dem Wesen des Menschen und seinem Verhältnis zur Welt. Dabei weist Anthropologie insofern einen reflexiven Charakter auf, als der Mensch sich selbst thematisiert, definiert und über seine sozialen Bezüge nachdenkt (Pleger 2013, S. 12). Im Laufe der Zeit haben sich unterschiedliche Denkmodelle ausdifferenziert, die sich beispielsweise in ihrem Gottesbezug, monistischen oder dualistischen Denkweisen sowie der Bestimmung des Menschen als kulturelles bzw. geschichtliches Wesen unterscheiden. Verschiedene Stufen- und Entwicklungsmodelle werden hier ebenso diskutiert wie unterschiedliche Konzepte des Individuums und der Person sowie divergierende Vorstellungen von Freiheit und Determiniertheit (Pleger 2013, S. 13 f.). Insbesondere in der philosophischen Anthropologie des 20. Jahrhunderts spielt der Aspekt der Weltoffenheit des Menschen eine zentrale Rolle. Dieser verbindet sich bei Max Scheler mit der Betonung der des Menschen an der Spitze der Stufenleiter des Lebendigen (Scheler 1928), bei Helmuth Plessner mit der Annahme der exzentrischen Positionalität des Menschen und seines Dranges nach Erfahrung (Plessner 1928) sowie bei Arnold Gehlen mit der Vorstellung vom Menschen als Mängelwesen, das sich durch Kultur und Technik an die Welt anpassen muss und kann (Gehlen 1940). Ausgehend von diesen Vorstellungen ist es notwendig, dass der Mensch die Welt entsprechend seinen Bedürfnissen gestaltet, Verantwortung übernimmt und das eigene Überleben durch das Schaffen von Kultur und Institutionen sichert. In diesem Kontext erweist sich prosoziales Verhalten als ein spezifisches anthropologisches Thema, das im Folgenden in seiner historischen Entwicklung und aktuellen Ausprägungen vor allem aus theologischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive mit einem besonderen Fokus auf evolutionsbiologischen Aspekten beleuchtet wird.
12
A. C. Albert
Geben, Schenken und Helfen sind Phänomene, die sowohl vormoderne als auch moderne Gesellschaften geprägt haben und prägen – unabhängig von ihrer allgemeinen Verfasstheit, dem Wohlstand ihrer Mitglieder oder der Verbindlichkeit normativer Konzepte. Somit eignet diesen allgemein menschlichen Phänomenen sowohl eine individuelle als auch eine politische Dimension (Strachwitz 2010, S. 3). Dies betrifft nicht nur die Frage, ob und inwiefern mit der Gabe auch ein Eigeninteresse verbunden ist und eine explizite oder implizite Gegenleistung erwartet wird, sondern auch die Frage, welche Handlungslogiken für Zusammenhalt und somit letztlich für das Funktionieren von Gemeinschaften sorgen (grundlegend hierzu Mauss 1990). Insbesondere für die gesellschaftliche Verortung von wohltätigen Organisationen wie Diakonie und Caritas, ihre haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen und ihre Klient:innen dürfte dies von besonderem Interesse sein: Aus welchen (altruistischen oder egoistischen) Motiven und Gründen wird hier gegeben oder geholfen? Welche (positiven oder negativen) Wirkungen ergeben sich daraus? Welche Gestaltungs- und Entfaltungsmöglichkeiten lassen sich ableiten? 2 Definition: Was ist prosoziales Verhalten? Der Begriff des prosozialen Verhaltens stammt aus den Sozialwissenschaften und wurde als Gegenbegriff zu antisozialem Verhalten entwickelt. Unter prosozialem Verhalten wird eine Vielzahl von Tätigkeiten verstanden, die darauf ausgerichtet sind, nicht der handelnden Person selbst, sondern dem Wohl anderer Menschen zu dienen. Zentrale Aspekte können hierbei Helfen, Unterstützen, Teilen und Kooperieren sein (Batson/Powell 2003, S. 463). In den vergangenen Jahrzehnten erfolgten in vielen unterschiedlichen Disziplinen Forschungen im Bereich prosozialen Verhaltens, so z.B. in der Anthropologie, Biologie, Soziologie, Evolutions- und Sozialpsychologie, Neurologie und Hirnforschung, Theologie und Ökonomie, hier insbesondere im Bereich des Spendenwesens und Marketings.1 Je nach Fachdisziplin ergibt sich dabei eine Bandbreite von spezifischeren Definitionen prosozialen Verhaltens, wobei ein gemeinsamer Nenner darin besteht, dass „sie sich auf intentionales und willentliches Handeln beziehen, das potenziell oder tatsächlich zum Wohlergehen einer Empfängerperson beiträgt“ (Bierhoff 2010, S. 13). Setzt man voraus, dass bei prosozialem Verhalten kein unmittelbarer Eigennutz angestrebt wird, so lässt sich prosoziales Verhalten von anderen Konzeptionen abgrenzen, bei denen beispielsweise ein finanzieller oder materieller Güteraustausch erfolgt oder eine kompensierende Gegenleistung bzw. erwartete Reziprozität zugrunde liegt. Ersteres erfolgt z.B. im Fall des Konsums prosozialer oder anderer Produkte, Letzteres beim Prinzip des (reziproken) Schenkens. Prosoziales Verhalten vollzieht sich daher im Wesentlichen durch unei1 Ein aktueller Überblick über die Forschungslage seit 1970 findet sich bei Mesnaric 2020, S. 13–94 und dient im Folgenden als Grundlage.
Anthropologie prosozialen Verhaltens
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gennütziges Geben von Geld oder materiellen Gütern, Zeit, persönlicher Kompetenz oder auch medizinisch lebensnotwendiger Dinge wie Blut oder Organe. Die Gaben können dabei für Familienmitglieder, bekannte Personen aus dem näheren oder weiteren sozialen Umfeld oder auch fremde Menschen bestimmt sein und entweder direkt oder vermittelt über individuelle Kontaktpersonen oder wohltätige Organisationen vermittelt werden (Mesnaric 2020, S. 16–18; hierzu grundlegend Mauss 1990; Andrews/Dalby/Kreutzer 2005; Adloff/Priller/Strachwitz 2010). 3
Historische Entwicklungslinien
Die Religionswissenschaftlerin Karen Armstrong datiert eine strukturelle Ausweitung prosozialen Verhaltens zwischen dem sechsten und vierten Jahrhundert vor Christus, wo sich eine „Große Transformation“ und ein Kulturgrenzen überschreitender Paradigmenwechsel von weltgeschichtlichem Ausmaß vollzogen hätten. Im Zuge dessen sei vermehrt prosoziales Verhalten Einzelner nicht nur im Bereich der eigenen familiären Bindungen, sondern auch zugunsten Fremder nachweisbar. Theoretische Begründungslinien hierfür finden sich unabhängig voneinander exemplarisch bei Sokrates, Jeremia, Buddha oder Konfuzius (Strachwitz, S. 1 in Anknüpfung an Armstrong 2006). So lassen sich sowohl im politischen als auch im religiösen Bereich ethische Vorgaben für Spenden ausmachen, beispielsweise das Gebot des Zakat in der dritten der fünf Säulen des Islam oder die Aufforderung zum Abgabe des Zehnten in der Hebräischen Bibel (Lev 27,30–32; Num 18,26; Dtn 12,6; 14,22–29; 26,12–15 u.a.) sowie das Almosengeben im Neuen Testament (z.B. Lk 18,18–27; Mt 19,19–26; Mk 10,17–27). Dabei finden in unterschiedlicher Weise Vermischungen von allgemein menschlichen und spezifisch religiösen Motiven statt. Die Frage, ob das Spendengeben und Hilfehandeln öffentlich sichtbar sein soll oder eben gerade nicht, wird dabei sehr unterschiedlich beantwortet (Strachwitz 2010, S. 1). 4
Motive, Effekte und Einflussfaktoren prosozialen Verhaltens
Viele Studien bemühten sich in den letzten Jahrzehnten darum, die Motive und Effekte prosozialen Verhaltens zu erforschen (Überblick bei Mesnaric 2020, S. 20 f.; hierzu auch Bierhoff/Frey 2016). Im Fokus standen dabei personenund umweltbezogene Kontextfaktoren sowie inter- und intrapersonale Faktoren. 4.1
Personen- und umweltbezogene Faktoren
Die personen- und umweltbezogenen Faktoren (Mesnaric 2020, S. 25–39: hier Überblick über zentrale Studien, S. 27–31) umfassen demografische Aspekte wie Alter, Geschlecht und Familienstand, sozioökonomische Aspekte wie Bildung, Beruf, Einkommen und soziale Schicht sowie gesellschaftliche Indikato-
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A. C. Albert
ren wie soziale Normen, Individualität/Kollektivität, Machtdistanz und Religiosität. Als zentraler Einflussfaktor lässt sich im Bereich der personen- und umweltbezogenen Faktoren die Gruppenzugehörigkeit ausmachen. So ist die Bereitschaft, Menschen aus der eigenen Gruppe zu helfen, grundsätzlich höher als gegenüber fremden Menschen. Mögliche Einflüsse durch Faktoren wie Alter, Geschlecht und Bildung sind nicht eindeutig nachzuweisen, lassen sich aber möglicherweise auch auf unterschiedliche Selbst-, Fremd- und Gesellschaftsbilder zurückführen. Hinsichtlich der genderspezifischen Aspekte lässt sich vermuten, dass sie zwar nicht das Ausmaß, ggf. aber die Art prosozialen Verhaltens bestimmen. So scheinen sich Frauen stärker in den Bereichen Beziehung und Gemeinschaft prosozial zu engagieren, während der Fokus der Männer auf Tatkraft und Ausdauer liegt. In emotionaler Hinsicht gibt es Hinweise, dass prosoziales Verhalten durch Mitgefühl gefördert wird; persönliche Betroffenheit wirkt sich hingegen neutral oder sogar negativ aus. Prosoziales Verhalten wird verstärkt ausgeübt, wenn es besondere positive Anreize wie Steigerung der sozialen Reputation oder auch Androhungen bzw. Ausführungen von Sanktionierungen oder Strafen gibt. Es gibt keine eindeutigen Forschungsergebnisse, inwiefern prosoziales Verhalten aus religiöser Motivation erfolgt bzw. durch eine solche verstärkt wird. Einige Forscher gehen davon aus, dass vermeintlich religiöse Einflüsse auch und vor allem durch psychologische Mechanismen ohne spezifisch religiöse Rückbezüge erklärt werden können. Insgesamt ist festzuhalten, dass sozioökonomische Faktoren prosoziales Verhalten stärker beeinflussen als demografische Aspekte, diese aber stets im Kontext weiterer zwischenmenschlicher und individueller Einflussfaktoren betrachtet werden müssen. 4.2
Interpersonale Faktoren
Interpersonale Faktoren (Mesnaric 2020, S. 39–49; hier Überblick über zentrale Studien: S. 41–43) fragen danach, inwiefern zwischenmenschliche Aspekte wie Dankbarkeit, persönliche Nähe, Gruppenzugehörigkeit und soziale Ausgrenzung prosoziales Verhalten beeinflussen. Ihnen ist dabei in Ergänzung zu den personen- und umweltbezogenen Faktoren eine hohe Bedeutung beizumessen. Empirische Studien belegen, dass Dankbarkeit einerseits die Hilfsbereitschaft gegenüber konkreten Wohltäter:innen erhöht, zugleich aber auch einen direkten positiven Einfluss auf prosoziales Verhalten insgesamt hat. Ebenso führt persönliche Nähe, die sich auf kognitiver, emotionaler oder Verhaltensebene manifestieren kann, zu verstärkter Kooperation und Hilfsbereitschaft, was auf eine erhöhte Empathie und eine Perspektivenübernahme zurückzuführen sein dürfte. Dieser Effekt lässt sich auch beobachten, wenn Menschen, die zuvor als anonym oder fremd wahrgenommen wurden, durch eine soziale Rekategorisierung als Mitglieder einer gemeinsamen sozialen Gruppe anerkannt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Selbstkonzept stärker auf Interdependenz als auf Independenz geprägt ist, also man sich stärker über Beziehungen als über Individualität und Autonomie definiert. Gemeinsame Gruppenzugehörigkeit ist dabei wesentlich geprägt durch das Gefühl der zwi-
Anthropologie prosozialen Verhaltens
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schenmenschlichen Ähnlichkeit, die sich in persönlichen Einstellungen, charakteristischen Merkmalen, aber auch Eigenschaften wie Alter, Geschlecht oder kulturelle Herkunft ausdrücken kann. Demgegenüber hat eine persönlich empfundene oder objektiv nachweisbare soziale Ausgrenzung negative Auswirkungen auf prosoziales Verhalten gegenüber anderen Menschen. 4.3
Intrapersonale Faktoren
Intrapersonale Faktoren (Mesnaric 2020, S. 49–75: hier Überblick über zentrale Studien, S. 50–60) betreffen genetische Aspekte, Persönlichkeitsmerkmale, individuelle Werte und Normen sowie Emotionen. Einen zentralen Forschungsstrang bilden evolutionstheoretische Modelle. Diese gehen davon aus, dass prosoziales Verhalten vor allem darauf abzielt, den Fortbestand des eigenen Erbgutes und somit das Weiterleben über Generationen hinweg zu sichern (Barrett/Dunbar/Lycett 2002). Prosoziales Verhalten trägt andererseits auch zur Entstehung und zur Aufrechterhaltung sozialer Systeme bei. Zwar entsteht für die Hilfe leistende Person aufgrund der zu investierenden Kosten kein direkter evolutionstheoretischer Vorteil, jedoch begünstigt Kooperationsverhalten den evolutionären Erfolg, da es dem durch die natürliche Selektion bedingten Wettbewerb entgegenwirkt (Nowak 2006). Hierfür lassen sich drei zentrale Mechanismen ausmachen (Penner u.a. 2005): – Verwandtenselektion: Im Hintergrund steht die Idee, dass natürliche Selektion prosoziales Verhalten fördern kann, wenn Spender und Empfänger genetisch verwandt sind, und zwar je näher, desto mehr. Zielperspektive ist hier, das Weiterbestehen der eigenen Art zu sichern. Aktuelle empirische Studien belegen, dass Personen für verwandte Personen bereit sind, höhere Kosten für prosoziales Verhalten in Kauf zu nehmen als für nicht verwandte (Stewart-Williams 2007). Dabei scheint der genetische Einfluss auf die Bereitschaft zu prosozialem Verhalten und dessen Ausmaß bzw. Intensität auch durch zwischenmenschliche Nähe vermittelt zu werden (Korchmaros/ Kenny 2001). – Gruppenselektion: Die im Zusammenhang mit der Verwandtenselektion in Bezug auf Individuen dargestellten Forschungsergebnisse lassen sich auch auf soziale Gruppen übertragen. So geht das Konzept der Gruppenselektion davon aus, dass diejenige Gruppe im Wettbewerb erfolgreicher ist, in der sich die größere Anzahl der Gruppenmitglieder prosozial verhält. Allerdings fällt hier die empirische Forschungsbasis deutlich geringer aus (Wilson 1975; Penner u.a. 2005). – Reziproker Altruismus: Das Modell des genetisch veranlagten reziproken Altruismus versucht prosoziales Verhalten gegenüber nicht verwandten Individuen zu erklären. Es geht davon aus, dass jede Hilfeleistung gegenüber einer nicht verwandten Person implizit mit der Erwartung einer anschließenden Gegenleistung verbunden ist. Mit dieser werden die zunächst entstehenden Kosten der Hilfeleistung relativiert und das prosoziale Verhalten ausgelöst. Bereits frühe empirische Forschungsarbeiten belegen, dass denen, die helfen, selbst eher geholfen wird als denjenigen, die keine Hilfe leisten
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(Regan 1971; Trivers 1971). Dabei kann ein positiver Nebeneffekt sein, dass durch das Hilfehandeln die prosoziale Reputation im eigenen sozialen Umfeld zunimmt, womit Vertrauen gestärkt und Kooperationsbereitschaft erhöht werden können. Kontrovers diskutiert wird die Frage, ob prosoziale Verhaltenstendenzen genetisch an die nächste Generation weitergegeben werden und somit von einer genetischen Veranlagung zu prosozialem Verhalten ausgegangen werden kann (Rachlin 2002). Unter anderem lässt sich aus Zwillingsstudien ableiten, dass genetische Faktoren einen signifikanten Einfluss auf prosoziales Verhalten haben können, wobei der Anteil zwischen Veranlagung und Umwelteinflüssen bislang nicht eindeutig bestimmt werden konnte (Knafo/Plomin 2006). Ohnehin ist davon auszugehen, dass prosoziales Verhalten nicht unmittelbar genetisch beeinflusst wird, sondern sich genetische Faktoren vor allem auf psychologische Strukturen wie Persönlichkeitsmerkmale und persönliche Werte auswirken, die wiederum zentrale Einflussfaktoren auf prosoziales Verhalten darstellen (Penner u.a. 2005). Die Existenz einer prosozialen Persönlichkeit ist empirisch nicht nachweisbar. Allerdings können bestimmte Persönlichkeitsfaktoren wie Verträglichkeit – oft assoziiert mit den Attributen wohlwollend, großzügig, hilfsbereit – oder Empathie – die vor allem die Fähigkeit und Bereitschaft zur Perspektivenübernahme beinhaltet – prosoziale Verhaltenstendenzen fördern. Auch die moralische Identität sowie persönliche Werte und Normen wie Reziprozität scheinen durch ein unterschiedlich ausgeprägtes Verantwortungsgefühl prosoziales Verhalten positiv bzw. negativ zu beeinflussen. Außerdem wirken sich bewusst oder unbewusst hervorgerufene Emotionen auf das konkrete Hilfe- bzw. Spendenverhalten aus, wie z.B. Werbekampagnen von wohltätigen Organisationen mit gezielt eingesetzten Bildern und anderen Kommunikationsinstrumenten belegen. So ist ein höheres Maß an Hilfs- und Spendenbereitschaft zu verzeichnen, wenn hilfebedürftige Personen bzw. Opfer durch Bilder oder persönliche Schilderungen mit Gesicht und/oder Stimme wahrnehmbar sind. Auch hier scheinen Empathie und Mitgefühl als emotionale Reaktionen prosoziales Verhalten zu begünstigen. Persönliche Betroffenheit wirkt sich hingegen nur dann neutral oder leicht positiv auf prosoziales Verhalten aus, wenn keine andere Möglichkeit besteht, sich der Situation zu entziehen. Andernfalls wird die Fluchtmöglichkeit bevorzugt, und es ist ein negativer Einfluss auf prosoziales Verhalten auszumachen. Somit ist davon auszugehen, dass positive Emotionen, vor allem aber das Empfinden eines umfassenden persönlichen Glücksgefühls, sich in doppelter Weise auf prosoziales Verhalten auswirken: Einerseits führen positive Lebensgefühle zu verstärktem Hilfe- und Spendenverhalten, andererseits verstärkt prosoziales Verhalten die eigenen positiven Emotionen. Insgesamt ist jedoch davon auszugehen, dass persönliche Merkmale deutlich weniger Einfluss auf prosoziales Verhalten haben als die personen- und umweltbezogenen sowie die interpersonellen Faktoren.
Anthropologie prosozialen Verhaltens
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Theologische Positionierungen
Aus biblischer und systematisch-theologischer Perspektive lässt sich prosoziales Verhalten mit dem Liebesgebot in seinen Ausdifferenzierungen als Gottes-, Nächsten-, Selbst- und Feindesliebe begründen (Starnitzke 2007). Im praktisch-theologischen Sinne ist Hilfehandeln eine Grunddimension von Kirche, sowohl was ihr Selbstverständnis als auch was die Erwartungen ihrer Mitglieder betrifft: Von Christ:innen und von der Institution Kirche wird helfendes Handeln erwartet (EKD 2014, S. 93–95). Dabei lassen sich Diakonie und Caritas einerseits als Kernfunktionen von Kirche und andererseits als institutionelle Ausgestaltungen helfenden Handelns und somit auch als Brückenglieder zwischen Kirche und Gesellschaft verstehen. In diesem Spannungsfeld wurde und wird aktuell neben einer grundlegenden Wertschätzung auch vielfältige Kritik an helfendem Handeln geäußert. Nicht selten liegen dabei unterschiedliche Gabeverständnisse zugrunde, die von Mildtätigkeit und Barmherzigkeit gegenüber Bedürftigen über eigene religiöse Verdienste gegenüber Gott bis hin zu rein altruistischen Motiven reichen. So gab es im ausgehenden Mittelalter und vor allem in der Reformationszeit Kritik an einer ausgeprägten Almosenpraxis, die jedoch vor allem den Gläubigen selbst religiöse Vorteile verschaffen sollte. Im 20. Jahrhundert rückten im Zuge der Professionalisierung Sozialer Arbeit psychologische und soziologische Problematisierungen in den Vordergrund, wie beispielsweise Diskussionen um das Helfer- und Burnoutsyndrom oder asymmetrische Hilfebeziehungen zeigen. 5.1
Kritik des Helfens und konfessionelle Differenzen
Bereits im 19. Jahrhundert konstatierte beispielsweise Gerhard Uhlhorn (1959; dazu Albert 2010, S. 50–55) – unter Kritik an griechischen, römischen, germanischen, jüdischen und mittelalterlichen oder zeitgenössischen katholischen und evangelischen christlichen Praktiken – vier Fehlformen christlicher Liebestätigkeit. So sei christliches Handeln dann zu kritisieren, wenn das Streben nach eigener Ehre und Ansehen, die Inanspruchnahme materieller Vorteile, das Abzielen auf religiöse Verdienste sowie die Funktionalisierung des Hilfehandelns zur eigenen Therapie im Vordergrund stünden. Demgegenüber stellte Uhlhorn als einzig akzeptable christliche Alternative das Helfen aus Dankbarkeit gegenüber Gott dar, das er folgendermaßen theologisch begründet: „Der Mensch thut gute Werke nicht, um selig zu werden, sondern weil er selig ist, die guten Werke erwachsen aus dem Glauben als seine Früchte“ (Uhlhorn 1959, S. 522). In dem Modell Uhlhorns scheinen u.a. konfessionelle Differenzen im Hilfeverständnis auf, die auch im 21. Jahrhundert noch nicht vollständig ausgeräumt sind. So unterscheidet beispielsweise Johannes Degen (2003, S. 46–63: bes. S. 49–57, dazu Albert 2010, S. 56–59) zwischen einem katholischen und einem evangelischen Modell der Hilfsmotivationen, ohne jedoch beide gegenei-
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nander ausspielen zu wollen. Im Zentrum des katholischen Modells steht für ihn die Selbstverwirklichung des religiösen Menschen, der die Zuwendung zum Nächsten als gute Tat versteht, die auch einen Beitrag zum eigenen Erlösungsgeschehen leisten kann. Darin liegt ein möglicher Kritikpunkt, zugleich aber auch die Stärke des Ansatzes: Hilfe darf sowohl um der Hilfebedürftigen, aber auch um der Helfenden willen geschehen. Sie müssen sich – wie das Beispiel des Barmherzigen Samariters zeigt – nicht selbstlos aufopfern, sondern der konkreten Situationen und Personen entsprechend handeln: Die Überzeugung: „Ich habe zu helfen, wer denn sonst – jetzt und konkret!“ (Degen 2003, S. 51) scheint daher sowohl im volkskirchlichen katholischen Milieu als auch in der theologischen Begründung fest verankert zu sein. Demgegenüber sieht Degen das protestantische Modell weniger praktisch-individualistisch ausgerichtet, sondern stärker geprägt von sozialen, politischen und gesellschaftsverändernden Motiven, wie sie auch exemplarisch im Wirken Johann Hinrich Wicherns ihren Ausdruck finden. Vor diesem Hintergrund konstatiert Degen im volkskirchlichen Protestantismus eine größere Distanz zum unmittelbaren helfenden Handeln und eine „Zurückhaltung bezüglich der Mensch-zu-Mensch-Aktion: „Warum ich – es gibt doch Strukturen und Institutionen in Staat und Gesellschaft, die verpflichtet sind, Hilfe zu leisten“ (Degen 2020, S. 53). Positiv gewendet, kann insbesondere in der Förderung und Etablierung der genannten Strukturen eine Stärke des protestantischen Ansatzes gesehen werden. In beiden Modellen besteht nach Degen die Gefahr, dass die hilfebedürftigen Personen in den Hintergrund treten, ggf. sogar verdinglicht oder objektiviert werden – zugunsten der hilfegebenden Personen bzw. der gesellschaftlichen Strukturen (Degen 2003, S. 53). Diesen möglichen Schwächen gilt es in der theologischen Theorie und im praktischen Vollzug kritisch zu begegnen und dabei zu ermitteln, ob Hilfehandeln in einer säkularen Gesellschaft überhaupt noch eine religiöse Bedeutung haben kann oder ob auf diese bewusst verzichtet werden sollte (Degen 2003, S. 56 f.; hierzu auch Rüegger/Sigrist 2011). Ausgehend von theologischen Überlegungen zum Gleichnis vom Barmherzigen Samariter (Lk 10) äußert auch Gerd Theißen interdisziplinäre Kritik am Hilfehandeln und konstatiert sogar eine „Legitimitätskrise des Helfens“ (Theißen 1998, dazu Albert 2010, S. 49 f.). So lasse sich aus psychologischer Perspektive Helfen als „psychische Selbstausbeutung“ (Theißen 1998, S. 377), aus soziologischer Sicht als „kaschierte Herrschaft“ (Theißen 1998, S. 378) und in einer biologisch-evolutionstheoretischen Argumentation als „dysfunktionale Gegenselektion“ (Theißen 1998, S. 379) verstehen. Damit spielt er erstens auf unter Helferpersonen weit verbreitete Helfer- und Burnoutsyndrome, zweitens auf asymmetrische Machtverhältnisse zwischen hilfegebenden und hilfeempfangenden Personen sowie drittens auf als Altruismus deklarierten „kaschierte[n] genetische[n] Egoismus“ (Theißen 1998, S. 380) an.
Anthropologie prosozialen Verhaltens
5.2
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Lösungsansatz: Helfen als Gabe und Gegenseitigkeit
Unter Aufnahme der skizzierten Ansatz- und Kritikpunkte schlägt die Verfasserin aus evangelisch-theologischer Perspektive ein Verständnis christlichen Hilfehandelns als „Gabe und Gegenseitigkeit“ und eine entsprechende Begründung auf der Basis der Rechtfertigungslehre vor (Albert 2010). „Rechtfertigung wird in diesem Zusammenhang als Beziehungsgeschehen zwischen Gott und den Menschen, aber auch zwischen den Menschen untereinander und im Verhältnis zu ihrer Umwelt verstanden, das von den Kategorien der Gabe und Gegenseitigkeit konstitutiv geprägt ist“ (Albert 2010, S. 244). Christliches Hilfehandeln wird hier als menschliche Antwort auf die allem vorausgehende Gabe Gottes verstanden, was zu einer Überwindung der weit verbreiteten Defizitperspektive beiträgt und Raum sowohl für menschliche Grenzen und Schwächen als auch für die Überfülle Gottes lässt (Albert 2010, S. 253–257). Denn die versöhnende Rechtfertigungsbotschaft „macht den Menschen durch Emanzipation, Realitätsgewinn, Entlastung und Vermittlung von Authentizität handlungsfähig“ (Barth 2008, 550). Auf dieser theologischen Basis ergeben sich schließlich entlastende und herausfordernde Konsequenzen für das Verständnis und die gesellschaftliche Positionierung von Diakonie und Caritas: Caritative und „[d]iakonische Praxis verwirklicht nicht das Reich Gottes oder den Himmel auf Erden. Sie soll nur die Alltagswelt für die Versöhnung und Menschenfreundlichkeit Gottes transparent machen“ (Schmidt 2004, S. 18 f.). 6
Aktuelle Herausforderungen
Spenden von Geld, Zeit, Empathie, persönlichen Ideen und Kompetenzen hat, wie aktuelle Entwicklungen des bürgerschaftlichen Engagements nahelegen, Hochkonjunktur. Zugleich ist der Umgang mit Spenden von besonderer Sensibilität, insbesondere für gemeinnützige Organisationen (Adloff u.a. 2010; BMFSFJ 2016). Medienwirksam aufgedeckte Spendenskandale sorgen hier für enorme Vertrauensverluste, wie Beispiele verschiedener Hilfsorganisationen, aber auch die sich nur langsam erholende Bereitschaft zur Organspende zeigen. Großen Raum nimmt das Thema prosoziales Verhalten darüber hinaus in der Entwicklungspsychologie und der frühkindlichen Pädagogik ein. Aktuelle Studienergebnisse legen nahe, dass prosoziales Verhalten bei Kindern aus Familien mit geringem Einkommen und niedrigem Bildungsstand deutlich weniger ausgeprägt ist als bei Kindern aus Familien mit höherem sozialem Status. Allerdings lassen sich diese Ungleichheiten durch gezielte Förderungen überwinden, wie beispielsweise eine aktuelle Studie des Forschungsinstituts zur Zukunft der Arbeit (IZA) nachweist (Kosse u.a. 2016).
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Aktuell und zukünftig findet prosoziales Verhalten verstärkt auch in digitalen Formaten statt, wie u.a. die Nutzung von social media oder die Etablierung digitaler Plattformen deutlich machen. Damit wandelt sich vor allem das zivilgesellschaftliche Engagement junger Menschen, beispielsweise in Vereinen, Verbänden oder anderen Organisationen. Zu beobachten sind hier nicht nur Veränderungen und Erweiterungen der Formen, sondern auch der Inhalte des Engagements, wobei sich als ein zentrales Thema die Verbesserung des Zusammenlebens in einer lokal und global digitalisierten Welt herauskristallisiert. Insgesamt zeichnet sich hier die Entwicklung einer digitalisierten Zivilgesellschaft ab, in der beispielsweise Open-Source- und Civic-Tech-Gemeinschaften auch neue Formen prosozialen Verhaltens etablieren und Beteiligungsmöglichkeiten fördern (BMFSFJ 2020, S. 8 f.; S. 17–19). Nicht zuletzt setzen sich neueste Forschungen mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das prosoziale Verhalten von Individuen auseinander (Diekmann 2020; Sontheimer 2021); hier bleibt abzuwarten, welche kurz- oder längerfristigen Veränderungen sich daraus ableiten lassen. Literatur Adloff, F./Priller, E./Strachwitz, R. (Hg.) (2010): Prosoziales Verhalten. Spenden in interdisziplinärer Perspektive (Maecenata Schriften 8). Stuttgart. Andrews, C./Dalby, P./Kreuzer, T. (Hg.) (2005): Geben, Schenken, Stiften – theologische und philosophische Perspektiven (Fundraising Studien 1). Münster. Albert, A. C. (2010): Helfen als Gabe und Gegenseitigkeit. Perspektiven einer Theologie des Helfens im interdisziplinären Diskurs (VDWI 42). Heidelberg. Armstrong, K. (2006): The Great Transformation. The World in the Time of Buddha, Socrates, Confucius and Jeremiah. New York. Barrett, L./Dunbar, R./Lycett, J. (2002): Human Evolutionary Psychology. Princeton, NJ. Barth, H.-M. (2008): Dogmatik. Evangelischer Glaube im Kontext der Weltreligionen. Ein Lehrbuch (3. Aufl.). Gütersloh. Batson, C. D./Powell, A. A. (2003): Altruism and Prosocial Behavior. In: Millon, T./Lerner, M. J./Weiner, I. B. (Hg.): Handbook of Psychology. Personality and Social Psychology, Volume 5 (S. 463–484). Hoboken. Bierhoff, H.-W. (2010): Psychologie prosozialen Verhaltens. Warum wir anderen helfen (2. vollständig überarbeitete Aufl.). Stuttgart. Bierhoff, H.-W./Frey, D. (Hg.) (2016): Soziale Motive und soziale Einstellungen (Enzyklopädie der Psychologie: Sozialpsychologie 2). Göttingen. Bundesminsterium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (Hg.) (2016): Zweiter Engagementbericht 2016. Demografischer Wandel und bür-
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2 Alttestamentliche Grundzüge diakonischen Handelns Ulrike Bechmann
In früheren Werken zur Geschichte von Caritas und Diakonie konnte man die These antreffen, dass Nächstenliebe als Grundlage der Diakonie mit dem Neuen Testament beginnt, weshalb das Alte Testament höchstens marginal behandelt wurde. Inzwischen finden sich jedoch eine Reihe von Beiträgen, die explizit die alttestamentliche Grundlage für caritatives Handeln formulieren (z.B. Eurich 2018; Crüsemann 2006; Kessler 2004; Oeming 2016). In vielfältiger Weise bearbeitet das Alte Testament die Anfragen an Gott wie an die Menschen, die sich durch Not, Benachteiligung, Ausbeutung, Krieg und fehlende Gewährung von Recht stellen. Dies wäre im Kontext des ganzen Alten Orients und dessen Weisheits- und Rechtstraditionen zu bedenken, was hier aber zurückgestellt werden muss. Alttestamentliche Grundzüge von diakonischem Handeln aufzusuchen, beinhaltet eine Bewegung in die Vergangenheit, die durch die normative Verbindlichkeit der biblischen Texte gleichzeitig gegenwärtig relevant ist. Die gesellschaftlichen Kontexte zu biblischen wie heutigen Zeiten unterscheiden sich zwar sehr, aber es gibt tieferliegende Grundfragen, die biblische Quellen für das gegenwärtige Handeln in Caritas und Diakonie fruchtbar machen. Denn Armut, Not, Ungerechtigkeit, Krieg und/oder Schicksalsschläge erleiden Menschen zu allen Zeiten. Ihnen ohne Ansehen der Person aufzuhelfen, sie nicht zu instrumentalisieren, aber dafür zu arbeiten, dass Menschen gar nicht erst in Notlagen kommen, sind heutige Ziele! Drei inhaltliche Grundfragen ergeben sich daraus. 1. Die erste Grundfrage betrifft die soziale und politische Situation. Wer sind die Armen? Was sind religionsgeschichtliche und politische Hintergründe dieser Notlagen und wie verändern sich die Kontexte? Wer leistet Hilfe in
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welcher Weise? Wer nimmt sie mit welcher Perspektive und Mentalität wahr? 2. Die zweite Grundfrage ist die nach dem Rechtssystem: Inwieweit ermöglicht es Hilfe bzw. verhindert Not und Unrecht, so dass es gar nicht erst aufkommt? Doch stößt nahezu jedes Rechtssystem an seine Grenzen, denn Armut hat viele Ursachen und Gesichter und ist ein ubiquitäres Phänomen. Nicht alle Ursachen und Folgen lassen sich rechtlich einfangen. 3. Die dritte Grundfrage ist die Frage nach der Motivation von Menschen, Gemeinschaften und Kirchen, die sich individuell wie strukturell für Caritas und Diakonie engagieren. Wo liegen die Quellen der Kraft, um Menschen zu helfen, wo lassen sich alttestamentlich die Grundzüge eines Gottes- und Menschenbildes finden, das zu Hilfe und Nächstenliebe befähigt? 1
Menschen in Not im Alten Testament
Das Alte Testament ist voll von Texten, die sich mit den Armen und Bedrängten, ihrer Lage und deren Verbesserung, der Verurteilung von Ausbeutung oder Unterdrückung befassen. „Es gilt: Die Armut ist im Wesentlichen ein Mangelzustand, der der Heilsgabe des gelobten Landes zutiefst widerspricht“ (Berges/Hoppe 2009, S. 11). Die Armen werden mit verschiedenen Begriffen bezeichnet. Es geht um materielle Armut, oft auf dem Hintergrund des landwirtschaftlichen Kontextes; es geht um Menschen, die den Wechselfällen der Geschichte oder ausbeuterischen Praktiken ausgesetzt sind, bis hin zu den vor allem nachexilisch theologisch Frommen, die sich als Arme an Gott wenden und Gottes Hilfe erbitten. 1.1
Der politische Kontext: Gründe und Formen der Armut
Das Leben war weitgehend landwirtschaftlich geprägt und die Familie (im weiten Sinn) war der zentrale Sozialraum, ohne den man nicht existieren konnte. In patriarchal strukturierter Gesellschaft, ob bäuerlich oder nomadisch geprägt, hing die soziale, politische wie rechtliche Absicherung an den Männern, in deren Familien Frauen mit der Heirat überwechselten. Auf deren Armut oder Wohlstand in Form von Vieh und/oder Land beruhte die wirtschaftliche Lage, die Absicherung wie das Ansehen. Gefährdet war das Leben immer: durch kriegerische Ereignisse oder politische Umbrüche, durch Wetterphänomene wie Hagel, Dürre, oder auch Heuschrecken, durch Krankheit oder andere Ereignisse, die Ernteausfälle und Hunger bewirkten. Im Übergang von der Bronze- zur Eisenzeit (etwa 1200–900 v.Chr.) war Palästina durch eine Dorfkultur geprägt. Erst etwa ab dem 9. Jh. entstehen auch größere Ortslagen mit städtischem Charakter und entsprechender Struktur, die in Königtümer münden. Der größte Teil der Bevölkerung lebte aber weiterhin auf dem Land. Zunächst bildete sich im Norden eine dünne, verhältnismäßig reiche Schicht von König und Beamtenfamilien aus. Land diente jetzt nicht
Alttestamentliche Grundzüge diakonischen Handelns
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nur mehr der Subsistenzwirtschaft, sondern musste für die zu begleichenden Steuern darüber hinaus Gewinn abwerfen. Gerieten bäuerliche Familien in finanzielle Schwierigkeiten, mussten sie das Land abgeben und nur noch als Pächter darauf arbeiten, was ein großer Armutsfaktor im königszeitlichen Israel war. Bei weiterer Verschuldung musste man Kinder zur Arbeit weggeben oder die ganze Familie geriet in Schuldknechtschaft. Aus dieser Armutsspirale konnte man kaum wieder entkommen. Prophetische Schriften etwa von Jesaja, Amos oder Micha begründen ihre Unheilsansagen mit drastischen Worten wegen solcher Entwicklungen. Ihre Vorwürfe: Reiche beuten sogar Witwen und Waisen aus (Jes 10,2), Gier führt zum Fälschen von Waagen und Gewichten. Der Reichtum weniger ist unrechtmäßig auf Kosten der Menschen angehäuft, die dem hilflos ausgeliefert sind, weil ihnen niemand Recht verschafft. In dieser Zeit entstehen möglicherweise die ersten Sozialgesetze. Ende des 8. Jhs. v.Chr. fiel das ganze Nordreich Israel sowie Teile des Südreichs Juda der Eroberung durch die Assyrer zum Opfer. Krieg, Eroberungen und Zerstörungen des Landes verschärften die soziale Situation. Von Deportationen, Kriegstoten, Verletzten und Vertriebenen getroffene Landstriche wurden teilweise verlassen, waren nur noch dünn besiedelt, und die Versorgung dürfte für die Verbliebenen sehr schlecht gewesen sein (vgl. Gaß 2017). Jerusalem wuchs erst jetzt durch viele Flüchtlinge aus dem Norden zu einer großen Stadt (vgl. Bieberstein 2017) und damit auch die Bedeutung des Tempels. Das Südreich Juda war Vasall Assyriens und musste hohen Tribut entrichten. Mit der babylonischen Eroberung Judas und Jerusalems 597 v.Chr., dem Exil und schließlich der Zerstörung Jerusalems 586 v.Chr., wurde das ganze Land eine Provinz Babylons, ab 536 v.Chr. dann Teil des persischen Reichs bis zu der Eroberung durch die Griechen im 4. Jh. Nachexilisch entstandene Texte nennen explizit Hungersnot und Elend (z.B. Neh 5; Hiob 24; Ez 33 u.ö.), weshalb Kessler (2004) auch nicht mehr nur von Armut, sondern von der Verelendung von Teilen der Bevölkerung spricht. Litt ein Gebiet direkt unter den Kriegsfolgen, hatten diese oft verheerende Auswirkungen auf Aussaat und Ernte. Menschen gerieten schnell in Hungersnot. Als eine Randprovinz der großen Reiche, zunächst Persiens, dann der Griechen und Römer, musste man hohe Steuern zahlen, was oft die Lage verschlimmerte. Ein großer Umbruch für die wirtschaftliche Existenz war die Einführung von Geld etwa ab dem 6./5. Jh. Beruht die Wirtschaft weitgehend auf Tauschmitteln, braucht es einen sozialen Konsens über Wert der Tauschmittel wie Getreide, Tiere, Metalle und Waren aller Art. Vor der Einführung von Geld waren Wertmetalle, vor allem Silber, insbesondere für den Fernhandel und für Steuern ferner Provinzen, als Zahlungsmittel üblich. Münzprägungen begannen in Lydien im 7. Jh. v.Chr. und setzten sich nach und nach in Phönizien und im griechischen Raum durch. Dies erfasste auch den syrisch-palästinischen Raum, der wirtschaftlich jeweils Teil des Geld- und Wirtschaftssystems war. Steuern und Abgaben mussten mit Geld bezahlt werden, das man nur durch
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U. Bechmann
Verkauf von Gütern erwerben konnte. Dies verschärfte die Gefahr der Überschuldung und damit auch familiäre Verelendung, wenn die Familie – oder eine Klientelfamilie – nicht zahlen konnte. 1.2
Diverse Personengruppen der Armen
Für die persische Zeit beschreibt etwa Neh 5 drei Gruppen von verarmten ländlichen Familien: a) die ihre Kinder verpfänden müssen, b) die ihren Landbesitz wie Häuser, Grundstücke oder Weinberge verpfänden müssen und c) die Silber für die Königssteuer leihen müssen (vgl. Bremer, 2016, 164). Gleichzeitig entwickelte sich dadurch eine kleine begüterte Schicht, die von dieser Struktur profitieren und Landbesitz anhäufen konnte. Armut bedeutete aber mehr als materielle Armut. Sie umfasste auch soziale Ausgrenzung, Krankheit, rechtliche Benachteiligung oder Übervorteilung. Insgesamt galten Menschen als arm, die sozial niedergedrückt sind, die Elenden, die Gebückten und Schwachen. Mit der zunehmenden Stadtentwicklung in griechischer und römischer Zeit entsteht das Phänomen der Tagelöhner. Menschen ohne eigenes Land müssen sich verdingen, um sich und die Familie zu ernähren. Ebenso gibt es zunehmend Menschen, die betteln, wenn Krankheiten sie hindern zu arbeiten. Kurz: Es entsteht Armut in Städten, die ein eigenes Gepräge hat. Die auch gegenwärtige Erfahrung, dass Frauen stärker und anders von Armut betroffen sind als Männer, zeigt sich schon biblisch. Witwen und Waisen firmieren im Alten Testament wie auch im Alten Orient als ein Wortpaar in Verbindung mit Armut. Ihre Unterdrückung wurde geächtet. Denn in einer patriarchalen Struktur waren Frauen und Kinder oft genug schutzlos, sowohl übergeordneten Personen gegenüber, aber auch gegenüber den eigenen Familien. Frauen konnten sich rechtlich nicht vertreten, Waisen konnte man ihr Erbe vorenthalten. Da viele Familien von dem lebten, was ihr Land hergab, gerieten verwitwete Frauen fast immer in Abhängigkeit. Ihre Armut konnte dazu führen, dass sie sich und die Kinder als Sklaven verkaufen mussten. Kam zur Armut noch eine weitere Krise wie Krieg oder Dürre hinzu, blieben oft wenige Überlebenschancen. Zahlreiche Geschichten erzählen von armen Frauen, die um ihr Überleben kämpfen und von Gott gerettet werden (müssen). Sozialgesetze verbieten zwar ihre Ausbeutung, was auf faktische Ausbeutung hinweist. Eine weitere Gruppe Armer sind die „Fremden“, die teilweise mit den Witwen und Waisen als geprägte Dreiergruppe genannt werden. Diese Bezeichnung meint Menschen, die etwa wegen Hunger, Krieg und/oder Flucht vor Sklaverei ins Land kamen, aber auch (Kriegs-)Sklav:innen (vgl. Dtn 21,10–14). Sie bleiben auf Dauer da, sind aber nicht rechtsfähig (vgl. Zehnder 2005) und daher ein leichtes Opfer für Ausbeutung (vgl. Ex 22,20–26).
Alttestamentliche Grundzüge diakonischen Handelns
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In der hellenistischen Zeit verändert sich der Armenbegriff, was sich in vielen Psalmen und nachexilischen Schriften niederschlägt. Hier geht es weniger um materiell Arme oder soziale Verelendung, sondern um die theologische Position derjenigen, die sich als die wahren Frommen sahen. die theologisch und politisch nur JHWH als alleinigen Gott anerkannten und JHWH und seinen Geboten treu waren. Sie richteten sich gegen die Oberschicht am Tempel, die sich mit der Fremdherrschaft und ihrer Lebensweise arrangierten und davon profitierten. Hier wird die Zuwendung Gottes zu den materiell Armen auf diese Frommen als Arme übertragen (vgl. Un-Sok Ro 2002), in den Psalmen und anderen späten Schriften wurde diese Zuwendung zur zentralen Eigenschaft Gottes (vgl. Bremer 2016). Die eschatologische Hoffnung auf den Messias und auf das Gericht Gottes brach sich in den späten nachexilischen Texten etwa ab dem 2. Jh. v.Chr. Bahn. Zeiten apokalyptischer Hoffnung auf den Messias oder Menschensohn als Retter und auf die End- und Heilszeit prägen diese Literatur. Dir Rettung durch das nahende Gericht erflehen die Texte in Bildern des Umsturzes der ungerechten Verhältnisse (z.B. im Buch Daniel). 1.3
Die Stimme der Armen hörbar machen
Im diakonischen Handeln geht es nicht nur um Fürsorge, sondern auch darum, Menschen in schwachen Positionen zu stärken und ihnen eine Stimme zu geben. Betroffene formulieren oft sehr klar, was buchstäblich nottut, was am wichtigsten ist. So viel im Alten Testament über Arme, Schwache, Witwen, Fremde usw. gesprochen wird: Deren Stimme selbst ist ebenfalls in den erzählenden wie den poetischen Texten vielfach zu hören. So formuliert die Witwe aus Sarepta gegenüber Elia, dass sie nichts außer einer Handvoll Mehl im Topf und ein wenig Öl im Krug hat und nach der letzten Mahlzeit mit ihrem Sohn sterben wird (1 Kön 17,12). Hagar benennt selbst, dass sie eine Sklavin auf der Flucht ist (Gen 16,8) oder später, dass sie nicht mit ansehen kann, wie ihr Kind stirbt (Gen 21,16). Die Klage ist der erste Schritt; sie beschreibt die Situation, schafft damit eine erste Distanz und ermöglicht es, einen Weg aus dem Elend zu finden. Die Klagelieder, Hiob und insbesondere die Psalmen geben denjenigen eine Stimme, die selbst keine Worte mehr finden. Fast vierzig Prozent der Psalmen sind Klagepsalmen. Deren „Ich“ als Klagestimme und die Metaphern des Elend-Seins und der Todesnähe ermöglichen Menschen in unterschiedlichsten Kontexten, sich zu identifizieren. Klagen ist nicht unnötiges Jammern, sondern notwendiger und nicht zu überspringender Beginn eines Prozesses, sich selbst klar zu werden, ein Ohr zu finden, das hört und dadurch Kraft zu gewinnen (vgl. Fuchs 1982). Die Psalmen machen aber auch deutlich, dass dieser Prozess nicht immer gelingt. Umso wichtiger ist es, dass in der caritativen Arbeit wie in der Politik Betroffene Raum haben und ihnen Mitund Selbstbestimmung gewährt wird.
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2 2.1
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Rechtliche Grundlagen zur Armutsbekämpfung Rechtliche Quellen
Große Teile des Pentateuchs bestehen aus gesetzlichen Regeln. Exodus bis Numeri bilden einen Textzusammenhang, das Deuteronomium wiederholt, variiert und erweitert Rechtssatzungen. Diese Gesetze sind eine Sammlung von Korpora von Teilgesetzen, Einzelgesetzen und Überarbeitungen, die im Laufe der Zeit gesammelt wurden, sich doppeln, ergänzen, sich z.T. aber auch widersprechen (vgl. Lochbühler 1999). Es kommen viele unterschiedliche Bereiche des Rechts zur Sprache: Rechtssätze. die sich auf religiöse Handlungen am Tempel, bei Ritualen wie Opfern oder Festen beziehen. Verwandtschaftsbeziehungen, Ehe- und Erbrecht, Sozialgesetzgebung, Strafrecht, Sklavenrecht, Speisegesetze und Besitzrechte sind Teil dieser Rechtskorpora. Darin finden sich auch Regeln, die Ausbeutung, Unterdrückung, Benachteiligung und Missbrauch unterbinden sollen. Grundlage ist dort der Bund, den Gott mit dem Volk Israel am Sinai geschlossen hat, er wird explizit bei den beiden Dekalogen (Ex 20; Dtn 5) genannt. Die Erfahrung der Rettung im Exodus befähigt Israel, nach Gottes Geboten gerecht und barmherzig zugleich zu handeln. Im Heiligkeitsgesetz (Lev 17–26) ist die Heiligkeit Gottes die Grundlage der Relation zwischen Gott und Israel. Das Gebot der Nächstenliebe und das Racheverbot (Lev 19,18) schließen eine dem Dekalog ähnliche Reihe von Geboten ab, die in dem Liebesgebot gipfelt. In der Endgestalt der Tora steht dieses Gebot an zentraler Stelle. „Weiter machen die Aussagen zur Nächsten- und Fremdenliebe (Lev 19,13.33 f.) und die Ansätze zur Überwindung der Sklaverei (Lev 25,39–43) das Heiligkeitsgesetz zu einem Markstein in der israelitischen Rechtsgeschichte“ (Seidl 2009). Das Deuteronomium rekurriert darauf, dass Menschen anderen aus der Not helfen und Armen und Verschuldeten ohne Berechnung freigiebig geben. „Schließlich wird die Armut nicht aus der Mitte des Landes verschwinden. Darum gebiete ich dir: Öffne deine Hand weit für deine Geschwister, für die Armen und Besitzlosen bei dir in deinem Land“ (Dtn 15,11). Caritas wie Diakonie wirken heute jedoch nicht nur durch „Liebeswerke“. Sie lindern nicht nur individuelle Not, sondern decken ungerechte Strukturen auf, die Menschen in Not bringen und versuchen Abhilfe zu schaffen. Das Alte Testament versucht strukturelle Verbesserungen durch Sabbatgebot, Zinsverbot, Erlassjahr zur Entschuldung nach sieben Jahren und schließlich das (wohl idealisierte) Jobeljahr nach 50 Jahren (Lev 25,10), wo jeder Besitz zurückgegeben und die ursprüngliche Gabe des Landes an alle wieder erfahrbar werden kann. Diese Gesetze bilden die Grundlage für die Weiterführungen der Zuwendung zu den Armen in Mischna und Talmud sowie im Neuen Testament. Das Jobeljahr griffen Kirchen und Initiativen in einer Kampagne auf www.erlassjahr.de, um für Entwicklungsländer einen Schuldenerlass zu fordern.
Alttestamentliche Grundzüge diakonischen Handelns
2.2
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Entwicklungen des Rechts
Die Menschen waren im Alten Orient nicht völlig rechtlos. Allerdings war es offenbar schwierig, eigene Rechte durchzusetzen. Es gehörte im ganzen Alten Orient zur Königsideologie, den göttlichen Schutz der Schwachen im Auftrag der göttlichen Gerechtigkeit durchzusetzen, ähnliches gilt für Israel (Ps 72). Schon im ältesten überlieferten Gesetzeswerk, im Codex des akkadischen Königs Hammurapi (ca. 1800 v.Chr.), kommt explizit der Schutz von Witwen und Waisen vor. Die Regelungen, wonach der König stellvertretend für Gott das Recht setzt und durchsetzt (im Sinne der ausgleichenden Gerechtigkeit), gerät dann ins Schwanken, wenn er diese Aufgabe nicht ausfüllt und Rechtsbeugung zu Armut und Elend führen. Vermutlich versuchten im Kontext der israelitischen Königszeit (ca. ab Ende des 8. Jhs.) erste Sozialgesetze einige Härten abzuwenden. Sie lassen die Problematik der Verschuldung erkennen. Die prophetische Kritik, insbesondere im Jesajabuch, thematisiert dies (vgl. Berges 1999). Dazu gehört die erlaubte Nachlese auf den Feldern, die Ernte im Brachjahr, die Begrenzung von Schuldsklaverei, Sklavengesetze, das Familienrecht, das die Versorgung (auch der Eltern) garantieren soll, bis hin zu einer Armensteuer (vgl. Dtn 14,28 f.; 26,12). „Unabhängig wie viel davon in der sozialen Wirklichkeit Israels umgesetzt wird, kann man in diesen Gesetzen von einer Verstaatlichung der sozialen Sicherung sprechen“ (Kessler 2004, S. 93). Nachexilisch hatte sich die Armut verschlimmert, man unterlag jeweils den Rechtssystemen der Großreiche Babylon, Persien und später der Griechen und der Römer. Große Teile der Tora kodifizierte man erst nachexilisch. Ein eigener König, der JHWHs Recht durchsetzen sollte, existierte nicht mehr. Deshalb richten sich die Gebote an alle, nicht an eine Autorität des Staates. Das Gesetz liegt in der Verantwortung der einzelnen bzw. des ganzen Volkes. Da die Überschuldung eines der Hauptprobleme für Verarmung war, entsteht das Zinsverbot (z.B. Dtn 23,20; Lev 25,37), das sich auf Güter wie später auch auf Geld bezieht. Zins zu nehmen, wird immer kritisch gesehen (vgl. Oeming 2016). Ein Verbot ist immer ein Indiz für ein Problem, weniger für dessen Lösung. Inwieweit dieses Zinsverbot durchgesetzt werden konnte, bleibt umstritten. Das gilt auch für die Entschuldung nach sieben oder gar fünfzig Jahren, dem Jobeljahr. Jedenfalls findet sich in der Verpflichtung, den Zehnten abzugeben, ein erster Ansatz einer institutionellen Armenfürsorge. Im Recht wurden zur Milderung oder gar Abschaffung von Armut unterschiedliche Regeln geschaffen. Inwieweit diese umgesetzt wurden, muss offenbleiben. Als ideale Norm blieben sie aber erhalten. Letztlich aber blieb oft aber nur die Hoffnung auf die Hilfe Gottes, auf JHWH als Beschützer der Armen, der Witwen, Waisen und Fremden. „Denn der Herr, euer Gott, ist der Gott der Götter und der Herr der Herren, der große, mächtige
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und furchtbare Gott, der keine Person ansieht und kein Geschenk annimmt; der Recht schafft der Waise und Witwe“ (Dtn 10,17–18). 3
Ein gutes Leben für alle: Das Ethos der Weisheitstheologie
Neben dem Recht spielt ein weiterer theologischer Strang eine wichtige Rolle: die Weisheit. Die gemeinsame altorientalische Tradition befasst sich auch mit Armut und ihrer Beseitigung bzw. dem Umgang damit. Die Lehren der Weisheit fordern schon in Ägypten die Sorge für die Armen. Im Ägyptischen Totenbuch und in vielen Grabinschriften beteuern die Verstorbenen: „Brot gab ich den Hungrigen, Wasser den Durstigen, Kleidung den Nackten.“ Ähnliches gilt auch für die Weisheit in Israel: Das Recht der Armen, die Gerechtigkeit, bleibt der Maßstab für die Gesellschaft. Der weisheitliche Tun-ErgehenZusammenhang baute auf der Überzeugung auf, dass gute wie böse Taten entsprechende Folgen haben. Mit dem Begriff von Gerechtigkeit und Recht (ṣedāqāh) ist „ein gegenseitig verbindendes Verhalten bezeichnet, welches das fragile Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen ebenso wie der Beziehungen Gottes zu den Menschen oder der Menschen zu Gott pflegt“ (Bieberstein/Bormann 2009, S. 198). Es geht darum zu retten, zu schlichten, zur Rechenschaft zu ziehen, Übervorteilung und Korruption zu verhindern. Damit umfasst der Begriff weniger bloße Gesetzestreue als vielmehr Fairness, Verbindlichkeit oder Gemeinschaftstreue. Gerecht ist, wer loyal, fair, sozial und/oder verbunden agiert. Neben der Gerechtigkeit steht der Begriff der Tora als Weisung, welche als Ganze gerecht ist und „der Verwirklichung einer konsequent relational gedachten ‚Gerechtigkeit‘“ (Bieberstein/Bormann 2009, S. 198) dient. Almosen nennt das Alte Testament ṣedāqāh, Gerechtigkeit, denn Menschen bekommen das zum Leben Notwendige und damit einen Platz in der Gemeinschaft. Denn jedes Herausfallen aus der Gemeinschaft wäre der soziale Tod, dem realen Tod sehr nahe. In Krisenzeiten kam diese Überzeugung einer funktionierenden Gegenseitigkeit von Gut und Böse an ihre Grenzen. Die unverschuldete Armut, die Unterdrückung durch andere, die Verweigerung des Rechts durch Reichere oder Mächtigere unterbrach die Folgelogik des weisheitlichen Denkens, was zur Krise der Weisheit führte (z.B. Hiob). Wenngleich das Ethos aufrechterhalten wurde, so gewann der Bezug zu Gott als dem einzigen Garanten von Recht und Gerechtigkeit an Stärke, Gott als Retter der Armen und dem Garanten von Gerechtigkeit gewann an Einfluss (vgl. Ps 82). Kessler (2016) nennt es den Weg vom schwachen zum starken Gottesbezug, ausgeprägt in den Psalmen. 4
Theologische Begründungen für die Zuwendung zu den Armen
Die verschiedenen theologischen Strömungen, die in die Entstehung des Alten Testaments einfließen, begründen unterschiedlich, im Ziel aber einig, warum
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von ihren Gotteserfahrungen her Armen, Unterdrückten und Benachteiligten Gerechtigkeit widerfahren soll. a) Gott hat die Welt erschaffen: In einem schöpfungstheologischen Ansatz stattete Gott als Eigentümer des Landes dieses mit allem Notwendigen aus, auf dem der Segen Gottes liegt und genug für alle bereithält. Es kann eigentlich keine Armut geben, wenn alle gemäß der Schöpfung leben. Die Lehren und das Ethos der Weisheit geben hier Weisung, aber auch die Anerkennung Gottes als Schöpfer und Erhalter der Welt. „Wer die Armen unterdrückt, verspottet ihren Schöpfer; es ehrt ihre Schöpferin, wer sich um die Schutzbedürftigen kümmert“ (Spr 14,31). Insbesondere die Gabe des Landes an Israel galt als ein Geschenk, das nicht der willkürlichen Verfügung anheimgegeben, sondern einen ebenso freigiebigen Umgang damit erforderte. Nach dem Exil reflektierte man, dass diese Gabe verloren ging, weil man dem Bund mit Gott nicht gerecht wurde. Die Alternativen im Handeln und deren Konsequenzen projizierte man in die Vorzeit der Landnahme zurück: die Wahl zwischen Recht und Unrecht, zwischen Segen und Fluch, zwischen Leben und Tod (vgl. Dtn 27–31 u.ö.). b) Gottes Handeln ist barmherzig und gerecht: Dabei setzt die Barmherzigkeit Gottes die Gerechtigkeit nicht außer Kraft, die auf Wiederherstellung der Gemeinschaft und Rettung der Armen zielt. Gottes gnädiges Zuwenden zu den Armen impliziert Gerechtigkeit. Es lässt sehen, wo Gerechtigkeit nötig ist. Insofern gilt die Verkündigung allen, allerdings mit unterschiedlichen Konsequenzen und mit unterschiedlicher Botschaft. Reiche, Gewalttätige und ausbeuterisch Handelnde können nicht für sich beanspruchen, zu den Armen zu gehören, denen sich Gott barmherzig zuwenden soll. Ihnen gilt ein richtendes Handeln, das die Gerechtigkeit wiederherstellt. Zur biblischen Botschaft gehört hermeneutisch, sich und den eigenen Kontext richtig zu situieren, aus dem heraus man liest. Entsprechendes gilt auch für biblische Begründungen für diakonales Handeln heute. c) Gott hat gerettet: Eine Befreiungstat der Barmherzigkeit und Gerechtigkeit, nämlich die Rettung aus Ägypten, wird am Anfang des Dekalogs erinnert (vgl. Ex 20; Dtn 5). Sie bietet die Grundlage für den Bund mit Gott. Erst dieses vorauslaufende gnädige Entgegenkommen Gottes ermöglicht Israel, die Gebote am Sinai zu halten. Barmherzig zu sein ohne diese vorgängige Erfahrung, allein als Leistung der Menschen, ist nicht möglich, selbst nicht als reine Gehorsamsleistung. Erst die erfahrene Barmherzigkeit gibt die Kraft, selbst barmherzig und gerecht an den Nächsten wie Feinden (Lev 19,18) zu handeln und dies als Zentrum der eigenen Spiritualität zu entdecken. Erst dadurch gelingt es, in der imitatio dei, der Nachahmung Gottes, ebenso gegenüber den Mitmenschen zu handeln und ihren Teil dazu beizutragen, dass Gottes Gerechtigkeit, Gottes Heil und Gottes Segen für alle Menschen erfahrbar wird. d) Gott setzt das Recht im Bund mit Israel: Zwar wurde nie die solidarische Verpflichtung den Nächsten zu helfen aufgegeben. Doch die Rechtssätze der Tora, verstanden als Grundlage des Bundes mit Gott am Sinai, schufen ein religiöses Recht, das in den Sozialgesetzen eine strukturelle Grundlage
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legte, um Menschen in Not zu helfen und ihnen ihr von der Schöpfung her zugesprochenes Recht zu verschaffen. Die konkreten Bestimmungen sind im Kontext der damaligen Zeit zu sehen. e) Gott wird in die Geschichte eingreifen: Mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Gesellschaft in eine große arme und eine kleine reiche Schicht in griechischer und römischer Zeit, mit dem Ausbau städtischer Strukturen, die eine städtische Schicht von armen Menschen generierte, schwand die Hoffnung auf irdische Gerechtigkeit. Man hoffte: Der Messias greift in die Geschichte ein, fällt den Mächtigen, den Tötenden, den plündernden Heeren in die Arme, befreit die Armen und sättigt die Hungrigen. Unrecht und Ungerechtigkeit bleiben nicht ungestraft, Gott wird endgültig Gerechtigkeit herstellen. Die Rede von der Auferweckung der Toten und vom Gericht kam im 2. Jh. v.Chr. zum Durchbruch und zog diese Hoffnung über den Tod hinaus aus: Dass nicht mit dem Tod auch alle Ungerechtigkeit besiegelt ist, dass Gott rettet und richtet, und zwar spätestens im Gericht nach dem Tod. 5
Fazit
Wer arm ist, steht am Rande der Gesellschaft. Die biblischen Geschichten sprechen aus der Perspektive der Armen, der Machtlosen, der Fremden und Ausgebeuteten, und sehen dort Gott am Werk. Und wo Gott wirkt, dort ist die Mitte, das Zentrum des Geschehens. Die Geschichten holen die Menschen vom sogenannten „Rand“ in die Mitte. Sie zeigen: Die Entwicklungen am vermeintlichen „Rand“ haben Folgen für das Zentrum, das sich nur scheinbar abkoppeln kann, wenn am „Rand“ die Menschen hungern und sterben. Es ist lebensrettend, wenn das Zentrum wie Gott selbst auf die Randständigen hört. Man könnte hier an Walter Benjamins Einsicht denken, dass erst im Extrem die Wahrheit des Ganzen offenbar wird (Benjamin 1972, S. 16–31; Benjamin 1977, S. 251–263). Die lateinamerikanische Theologie der Befreiung brachte dies in den 1980er Jahren (Boff/Pixley 1987) neu ins Bewusstsein: Gottes Botschaft für und sein Handeln an den Armen (und später auch den Anderen) unterscheidet sich von der Botschaft für und dem Handeln an den reichen und gewaltvollen Menschen. Insbesondere die alttestamentlichen prophetischen Schriften trugen zu der neuen Perspektive bei. Theologisch wie praktisch reicht die Vertröstung der Menschen auf das Jenseits nicht. Gottes Zuwendung wird erfahrbar heute, in der Rettung und Befreiung, kurz: in der Fülle des Lebens. Dies hat politische und strukturelle Konsequenzen. Diese Zuwendung Gottes zu den Armen und die Besinnung auf die schon erfahrene Güte Gottes weist spirituell den Weg, um Kraft für die Zuwendung zu Menschen zu gewinnen. Alttestamentlich lassen sich viele Ansätze finden, um theologische Linien zu diakonischem Handeln zu ziehen. Zu den Voraussetzungen gehört die Sozial-
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analyse der Kontexte von Armut, um damals wie heute die theologischen Botschaften und daraus die Handlungsoptionen zu gewinnen (vgl. Segbers 1999). Die Bedeutsamkeit, Klage zuzulassen und die Stimme der Betroffenen zu hören, ist zentral. Individuelle Hilfe wie politische Arbeit am Rechtssystem und an den gesellschaftlichen Strukturen gehören zusammen und sind keine Alternativen. Für die Motivierung derer, die sich engagieren und die Arbeit unterstützen, könnte die Erinnerung an selbst erfahrene Barmherzigkeit und Dankbarkeit ein Ermöglichungsgrund sein. Der breite Strom theologischer Reflexion und praktischer Bemühungen zugunsten von Armen bildet den Grund neutestamentlicher Theologie. Jesus nennt als Zentrum der Tora das Bekenntnis zu Gott und die Zuwendung zu den Nächsten (z.B. Mk 12,28–34). In seiner Verkündigung des punktuell schon angekommen Reich Gottes (Lk 11,20), in den Seligpreisungen (vgl. Mt 5; Lk 6), im Weltgericht (Mt 25) und auch in der Reflexion der ersten Gemeinden gehen diese Ansätze weiter. Auch die jüdische Armenfürsorge der Synagogen, baute diese Traditionen zum Umgang mit Armen weiter aus. Beides, das sich später ausdifferenzierende jüdische wie christliche diakonische Handeln haben ihren Ausgangspunkt im Alten Testament. Ohne dieses wären diese Entwicklungen nicht denkbar. Literatur Berges, U. (1999): Die Armen im Buch Jesaja. Ein Beitrag zur Literaturgeschichte des AT. Bib. 80, 153–177. Berges, U./Hoppe, R. (2009): Arm und reich (NEB.T 10). Würzburg. Bieberstein, K. (2017): A Brief History of Jerusalem. From the Earliest Settlement to the Destruction of the City in AD 70 (ADPV 47). Wiesbaden. Bieberstein, K./Bormann, L. (2009): Art. Gerechtigkeit/Recht. In: F. Crüsemann/K. Hungar/C. Janssen/R. Kessler/L. Schottroff (Hg.): Sozialgeschichtliches Wörterbuch zur Bibel (S. 197–203). Gütersloh. Benjamin, W. (1972): Ursprung des deutschen Trauerspiels. Frankfurt a.M. Benjamin, W. (1977): Über den Begriff der Geschichte. In: W. Benjamin: Illuminationen. Ausgewählte Schriften. Frankfurt a.M. Boff, C./Pixley, J. (1987): Die Option für die Armen. Gotteserfahrung und Gerechtigkeit. Düsseldorf. Bremer, J. (2016): Wo Gott sich auf die Armen einlässt. Der sozio-ökonomische Hintergrund der achämenidischen Provinz Yǝhūd und seine Implikationen für die Armentheologie des Psalters (BBB 174). Bonn. Crüsemann, F. (2006): Das Alte Testament als Grundlage der Diakonie. In: V. Herrmann/M. Horstmann (Hg.), Studienbuch Diakonik. 1. Biblische, historische und theologische Zugänge zur Diakonie (S. 58–87). NeukirchenVluyn. Eurich, J. (2018): Das AT als Basis der Liebestätigkeit der Kirche. Schwierigkeiten und Zugänge zu heutigem diakonischem Engagement. In: M. Oe-
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3 Neutestamentliche Grundzüge diakonischen Handelns Jens-Christian Maschmeier
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Einleitung
Von Beginn an sind Armenfürsorge und Liebestätigkeit Kennzeichen der christlichen Gemeinden. Sie erwidern Gottes Zuwendung zum Menschen, indem sie Menschen in Not Barmherzigkeit erweisen und konkrete Hilfe leisten. Struktur, Organisation, Motivation und Umsetzung des jeweiligen Hilfehandelns variieren je nach historischem Kontext, ebenso die Auffassungen darüber, wer hilfebedürftig und hilfeberechtigt ist. In der Gegenwart stehen Diakonie und Caritas für die organisierte Liebestätigkeit der evangelischen und katholischen Kirche in Deutschland. Als konfessionelle Wohlfahrtsverbände prägen sie die Sozialarbeit der Kirchen bis heute. Ihrem jeweiligen Selbstverständnis nach ist Hilfehandeln unaufgebbarer Bestandteil von Kirche. Die Armenfürsorge spielt für das Selbstverständnis des Christentums von Anfang an eine herausragende Rolle: Der vom Alten und Neuen Testament bezeugte Gott Israels und Vater Jesu Christi ist ein der Sache nach durch und durch diakonisch handelnder Gott (vgl. den Beitrag von U. Bechmann in diesem Band). Sein Eintreten für die Bedürftigen und Rechtsunfähigen, die sprichwörtlich gewordenen Witwen, Waisen, Armen und Fremden, ist wesentliches Merkmal seines Handelns an den Menschen (vgl. z.B. Jes 58,6–12 und Ps 82), die Überwindung von Armut Kennzeichen des von Jesus verkündigten und in seinem und dem Handeln seiner Nachfolger:innen antizipierten Reiches Gottes (Lk 6,20). In der Nachahmung Gottes sollen auch die Menschen untereinander solidarisch handeln: An der Zuwendung zum bedürftigen Nächsten entscheidet sich nach gesamtbiblischem Verständnis nicht nur die Humanität der Gesellschaft, sondern gleichzeitig und vor allem ihre Treue gegenüber Gott. Das griechische Wortfeld diakonia bezeichnet im Neuen Testament nur gelegentlich karitatives Hilfehandeln, in der griechischen Übersetzung der Hebräi-
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schen Bibel, der Septuaginta, ist der Begriff nur marginal vertreten. Individuelle und institutionelle Armenfürsorge ist im Alten und Neuen Testament vor allem mit den Begriffen Recht (mishpaṭ), Gerechtigkeit (tsedaḳah/dikaiosynē) und Barmherzigkeit (ḥesed/eleēmosynē/eleos) verbunden. Dieser Vielfalt trägt die folgende Darstellung der Grundzüge diakonischen bzw. karitativen Handelns im Neuen Testament Rechnung. Vorab werden einleitend wichtige Entwicklungen der Forschung hinsichtlich des Wortfelds diakonia skizziert. 2 Das Wortfeld diakonia: Zwischen selbstloser Hingabe und Ausführung eines Mandats Die in der ARD ausgestrahlte erste Staffel der deutschen Fernsehserie „Charité“ (Erstausstrahlung 2017) beginnt in ihrer ersten Folge mit einer kleinen Rede einer Oberin der Kaiserwerther Diakonie an ihre Mitschwestern und (Hilfs-) Wärterinnen, die das Selbstverständnis weiblicher Diakonie zum Ende des 19. Jahrhunderts gut auf den Punkt bringt. Die Rede schließt mit folgenden Worten: „Die selbstlose Tätigkeit der Krankenpflege darf keine Ruhe kennen, keinen Verdruss und keinen Ekel. Ob Sie die Kranken waschen, ihre Ausscheidungen beseitigen, des Nachts bei ihnen wachen oder den Fußboden scheuern. Keine Arbeit ist zu gering. Denn auch unser Erlöser hat in Demut sein Kreuz getragen. Und vergessen Sie nie, was das Wort Charité bedeutet.“ Die (Hilfs-) wärterinnen und Mitschwestern antworten der Oberin im Chor: „Barmherzigkeit“. Barmherzigkeit wird in diesen Sätzen inhaltlich verstanden als Selbstlosigkeit, die sich in verschiedenen niederen Diensten konkretisiert und in der Ausübung dieser Dienste Christus nachahmt. So wie ihr Erlöser sein Kreuz getragen hat, sollen auch die Schwestern in der Pflege der Kranken ihr Kreuz tragen: „Keine Arbeit ist zu gering“. Der Zusammenhang eines solchen diakonischen Selbstverständnisses mit dem Wortfeld diakonia ist in jüngerer Zeit aus exegetischer Perspektive hinterfragt worden. Mit unterschiedlichen Akzentuierungen haben vor allem John C. Collins (1990) und Anni Hentschel (2013) zu zeigen versucht, dass der Begriff diakonia im Neuen Testament wie im Profangriechischen im Kern ein Beauftragungsverhältnis bezeichnet, das weder auf einen bestimmten Auftrag wie das Hilfehandeln an Bedürftigen festgelegt ist, noch den jeweiligen Auftrag als niederen, selbstaufopfernden Dienst qualifiziert. In der Folge wurde die Frage aufgeworfen, ob das Wortfeld diakonia überhaupt einen Weg zum karitativen Handeln im Neuen Testament weisen kann. Auch wenn Diakonie und diakonia nicht deckungsgleich sind, gehe ich davon aus, dass das der Fall ist: Das Wortfeld diakonia bezeichnet an einigen Stellen des Neuen Testaments in unterschiedlicher Konturierung Armenfürsorge und schließt durchaus auch die Dimension der Hingabe mit ein. Der Sache nach aber ist diakonisches Handeln im Sinne religiös motivierten Hilfehandelns auch unabhängig vom Wortfeld diakonia ein zentrales Thema neutestamentlicher Ethik.
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Bevor im Folgenden ausgewählten diakonischen Texten des Neuen Testaments nachgegangen wird, ist auf eine Tradition des griechisch sprechenden Judentums einzugehen, die Klaus Berger (1998) als Verstehenshintergrund für das neutestamentliche Verständnis des Wortfeldes diakonia ausgemacht hat. 3
Das Verständnis von diakonia im Testament von Hiob
Für das neutestamentliche Verständnis von diakonia im Sinne von Armenfürsorge bzw. Wohltätigkeit ist das Testament des Hiob von hervorgehobener Bedeutung. Diese zwischen 100 vor und 150 n. u. Z. entstandene hellenistisch-jüdische Schrift, die Hiob als wohltätigen, zum Judentum konvertierten Nichtjuden stilisiert, bezeichnet konkrete Akte sozialer Fürsorge ihres Hiobs als diakonia. Das wohltätige Handeln umfasst dabei, in Aktualisierung und Fortschreibung des biblischen Hiobbuches (Hiob 31,16–21.31f.; vgl. auch Hiob 29,12– 17), neben der Armenspeisung (TestHiob 10,1–3; 14,1; 15,5) auch die Bekleidung Notleidender (TestHiob 9,3), die grundlegende Versorgung von Waisen und Witwen (9,3.5; 13,4; 14,2f.), die Aufnahme von Fremden (9,7f.) und die Gewährung von Darlehen, die mit dem Ziel erbeten werden, selbst einen Beitrag zur Versorgung der Armen leisten zu können (TestHiob 11,2–12). Anknüpfend an die Beschreibung von Maßnahmen, die die Armen- und Fremdenspeisung nicht zuletzt finanziell gewährleisten (TestHiob 10,1–7), werden die genannten Akte sozialer Fürsorge in Kapitel 11 auf den Begriff diakonia gebracht: „(1) Es gab aber auch einige Fremdlinge, die sahen meine Gebefreudigkeit und äußerten den Wunsch, sich selbst auch am (Armen)Dienst [diakonia] zu beteiligen. (2) Und es gab bisweilen einige andere, die selbst mittellos waren und daher nichts aufwenden konnten. Sie kamen aber dennoch und sagten: ‚Wir bitten dich, können nicht auch wir diesen Dienst [diakonia] übernehmen? Wir besitzen (allerdings) nichts. (3) Hab Mitleid mit uns und leihe uns Geld, damit wir in die großen Städte gehen (können) und dort Handel treiben und (dann auch) in der Lage sind, den Dienst [diakonia] für die Armen zu verrichten‘“ (Übersetzung Schaller, 1979, S. 334).
Wie Klaus Müller (1999, S. 409–413) im Anschluss und in Weiterführung von Klaus Berger (1998) überzeugend nachgewiesen hat, zeigt sich in diesen Versen eine Innovation des griechisch sprechenden Judentums, das die mit den Begriffen Recht (mishpaṭ), Gerechtigkeit (tsedaḳah/dikaiosynē) und Barmherzigkeit (ḥesed/eleēmosynē/eleos) verbundenen sozialethischen Traditionen im Begriff diakonia zusammenfasst und auf den Punkt bringt. Dieser Sprachgebrauch war weder von der Septuaginta noch vom Profangriechischen her vorgegeben. Das Neue Testament partizipiert an dieser Tradition. Besonders augenfällig wird das in der Apostelgeschichte (s. u.), in der die diakonia (Apg 6,1) als „Tischdienst“ (Apg 6,2) konturiert wird. Die Bereitstellung von Tischen zur Armenspeisung spielt im TestHiob eine herausgehobene Rolle (TestHiob 10,1–7), ebenso der Dienst an den Tischen (TestHiob 15). Auch wenn im nach-
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biblischen Judentum und im entstehenden Christentum der konkrete semantische Gehalt des Wortfeldes diakonia je nach Kontext variieren kann, so ist seine Verwendung im Kontext der Armenfürsorge nicht einfach eine Anwendungsmöglichkeit unter anderen: Der Begriff bezeichnet in besonderer Weise sozialethisches Hilfehandeln, das zugleich Ausdruck der eigenen Frömmigkeit ist. Für Berger (1998, 98) legt sich deshalb die Vermutung nahe, dass diakonia im hellenistischen Judentum als terminus technicus für die solidarische Armenpflege fungiert. All dies zeigt: Ohne die Bedeutung der Armenfürsorge für jüdisches Selbstverständnis wäre nicht verständlich, dass die Zuwendung zum bedürftigen Nächsten zur Signatur des entstehenden Christentums wird. 4
Neutestamentliche Grundzüge solidarischer Armenfürsorge
Im Folgenden wird exemplarisch einzelnen diakonischen Texten des Neuen Testaments anhand der Wortfelder diakonia, eleēmosynē und eleos nachgegangen. Vorgestellt werden Texte zur zwischenmenschlichen und zwischengemeindlichökumenischen Armenfürsorge sowie ein grundlegender Text zur diakonalen Grundstruktur der ersten christlichen Gemeinden. Jeder dieser Texte ist Ausdruck einer spezifischen Konturierung karitativen Handelns in einer konkreten geschichtlichen Situation. 4.1
Zwischenmenschliches diakonisches Handeln: Die Werke der Barmherzigkeit (Mt 25,31–46)
Ein neutestamentlicher Grundtext diakonischen Handelns ist das matthäische Gleichnis vom Weltgericht (Mt 25,31–46). Es erzählt davon, wie der mit dem auferstandenen Christus zu identifizierende Menschensohn alle Menschen richtet. Maßstab des Gerichts ist das Verhalten gegenüber den Bedürftigen. Der Clou des Gleichnisses besteht darin, dass diejenigen, die sich ihren in Not befindlichen Mitmenschen zugewandt haben, dem Menschsohn selbst „gedient“ haben. Auf die verwunderte Frage der Gerechten: „(37) Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und haben dir zu essen gegeben? Oder durstig und haben dir zu trinken gegeben? (38) Wann haben wir dich als Fremden gesehen und haben dich aufgenommen? Oder nackt und haben dich gekleidet? (39) Wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?“ 1 gibt der Menschensohn die überraschende Antwort: „Wahrlich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan“ (V. 40). Im Anschluss an Gerd Theißen (1999) und Matthias Konradt (2015, S. 390– 395) verstehe ich unter den „geringsten Brüdern“ (V. 40) die in Not geratenen Mitmenschen. Für diese Interpretation spricht das in 5,22–24 und 7,3–5 vorDie Bibelzitate in diesem Beitrag stammen aus der Revidierten Fassung der Lutherbibel von 2017.
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liegende universale Verständnis des Bruderbegriffs ebenso wie das (Feindes-) Liebegebot (5,43–48; 22,34–40) und die Goldene Regel (7,12). Liebe, d. h. die Anerkennung des Gegenübers als Mitmensch, und Fürsorge sind nicht auf den Raum der Gemeinde beschränkt, sondern gelten allen Menschen. Das Verb diakoneō (V. 44), das alle genannten Hilfehandlungen umfasst, bezeichnet hier die zwischenmenschliche Fürsorge für Bedürftige. Die Fürsorge umfasst dabei nicht nur Nahrung und Kleidung, sondern auch Schutz und Beistand. Der Mensch wird in seiner physich-psychischen Verfasstheit wahrgenommen. Dabei ist Sozialität, die wechselseitige Angewiesenheit auf- und Verantwortung füreinander, eine wesentliche Dimension der Identität des Menschen als Geschöpf. Die Zuwendung zum Notleidenden impliziert das Wissen um die eigene Angewiesenheit auf zwischenmenschliche Solidarität, was ein hierarchisches Gefälle ausschließt: Der Mit-Mensch wird als „Schwester“ bzw. „Bruder“ wahrgenommen. In Mt 25,31–46 wird die Zuwendung zu den Geschwistern in Not zum entscheidenden Kriterium eines gelungenen Lebens. Auffällig an Mt 25,31–46 ist die Identifikation Christi mit den Bedürftigen und die damit einhergehende Verschränkung der zwischenmenschlichen Zuwendung mit der Beziehung zum endzeitlichen Richter. Diakonisches Handeln ist Gottesdienst. Dies zeigt sich auch an anderen Stellen des Evangeliums, an denen sein Verfasser allerdings nicht das Wortfeld diakonia, sondern die mit den Termini eleēmosynē und eleos verbundenen sozialethischen Traditionen der Armenfürsorge aktiviert, die sich insbesondere in den Spätschriften der Septuaginta finden und ihrerseits als Fortschreibung sozialethischer Bestimmungen der Tora verstanden werden können. So stellt der Evangelist die Almosengabe (eleēmosynē) in Mt 6,1–18 an die Spitze von drei Frömmigkeitspraktiken, die die Beziehung zu Gott im Blick haben: Almosengeben, Beten, Fasten. Neben Beten und Fasten gilt auch die Zuwendung zum bedürftigen Nächsten als eine im engeren Sinne gottesdienstliche Handlung. Diese Auffassung teilt das Matthäusevangelium mit dem um 200 v. u. Z. entstandenen Tobitbuch, das von der Vorstellung durchzogen wird, dass die Armenfürsorge (eleēmosynē) letztendlich Gott selbst gilt (vgl. Tob 4,7–11; Sir 35,2). Dabei umfasst eleēmosynē neben dem Almosen auch andere Formen des Hilfehandelns wie die Versorgung Hungernder (Tob 4,16), das Kleiden Nackter (Tob 4,16) und das Bestatten der Toten (Tob 1,17–19; 2,7f.; 12,13; vgl. Sir 7,33). Die Parallelen zum Matthäusevangelium sind unübersehbar. Auch wenn in Mt 25,31–46 der Begriff eleēmosynē nicht fällt, werden die hier aufgeführten Liebeswerke traditionell zu Recht als „Werke der Barmherzigkeit“ bezeichnet. Die Verwurzelung des Matthäusevangeliums im Judentum und insbesondere seine Nähe zum rabbinischen Judentum zeigt sich auch an der Rolle, die die Aussage aus Hos 6,6 „Barmherzigkeit (eleos) will ich und keine Opfer“ für den Evangelisten spielt (Mt 9,13; 12,7). Matthäus priorisiert mit diesem Vers die Zuwendung zum Nächsten gegenüber dem kultischen Gottesdienst, was voraussetzt, dass Barmherzigkeit in gottesdienstlichen Rang erhoben wird: Die
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Zuwendung zum Nächsten gilt wie die im Jerusalemer Tempel dargebrachten Opfer Gott selbst. Damit versteht der Evangelist Hos 6,6 in ähnlicher Weise wie sein Zeitgenosse Rabbi Jochanan ben Zakkai. Dieser tröstet seinen Schüler Josua angesichts der Zerstörung des Tempels unter Verweis auf Hos 6,6 damit, dass die Werke der Barmherzigkeit/Liebeswerke (gemilut chassadim) an die Stelle des nicht mehr möglichen Opfergottesdienstes treten [ARN 4 (A)]. Zu den Werken der Barmherzigkeit gehören in der rabbinischen Tradition vor allem auch die in Mt 25,31–46 genannten Werke (vgl. Müller 1999, S. 81–181). Es wird deutlich: Der Verfasser des Matthäusevangeliums steht mit seinem Verständnis sozialethischer Fürsorge auf dem Boden seiner jüdischen Tradition. Im Blick auf die Relevanz der Armenfürsorge im Matthäusevangelium ist zu beachten, dass diese konkretes Hilfehandeln bezeichnet. Das Tun von Barmherzigkeit hängt nicht in erster Linie von zwischenmenschlicher Empathie ab, sondern stellt eine religiöse Pflicht dar. Als gottesdienstliche Handlung (Mt 6,2–4) begründet sie kein Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Geber und dem Empfänger der Hilfeleistung. Dass der Evangelist Armenfürsorge als religiöse Pflicht konzeptualisiert, impliziert von den Bedürftigen her gedacht auch, dass diese ein „Recht“ auf Solidarität haben. Wie in den anderen Evangelien handelt auch der matthäische Jesus durch und durch diakonisch. Auf die Frage Johannes des Täufers nach Jesu Identität, antwortet dieser unter Anspielung auf alttestamentliche Heilsverheißungen (vgl. nur Jes 35,5f.; 61,1) mit dem Verweis auf seine Werke: „Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf und Armen wird das Evangelium gepredigt“ (11,4–5; vgl. Lk 7,22). Anders als im Gleichnis vom Weltgericht heben diese Verse auf Jesu Heilungen Jesu ab (Mt 8–9), die zentrales Element seiner das Reich Gottes antizipierenden diakonischen Praxis sind. Gleiches gilt für die Verkündigung des Evangeliums unter den Armen (vgl. 5,3). Jesu Handeln zielt in den Evangelien auf die Überwindung von Lebenslagen, welche die Menschen aufgrund von Armut, Krankheit, Unfreiheit und sozialer Isolation an der Entfaltung ihres Mensch-Seins hindern. Wir können festhalten: Im Matthäusevangelium wird die Zuwendung zu den Bedürftigen in gottesdienstlichen Rang erhoben und zum entscheidenden Kriterium gelingenden Lebens. Diese Vorstellungen kann der Evangelist sowohl mit dem Wortfeld diakonia (so in Mt 25,31–46) als auch mit den Termini eleēmosynē und eleos zum Ausdruck bringen (so in Mt 6,2–4; 9,13; 12,7). In beiden Fällen aktiviert der Verfasser des Matthäusevangeliums jüdische Traditionen und schreibt sie in seiner eigenen Gegenwart fort.
Neutestamentliche Grundzüge diakonischen Handelns
4.2
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Ökumenisches Hilfehandeln: Die Kollekte als diakonisches Unterfangen (2 Kor 8–9)
Bei 2 Kor 8–9 handelt es sich um die so genannten Kollektenkapitel. In ihnen versucht Paulus, die Gemeinde in Korinth für die finanzielle Unterstützung der Jerusalemer Urgemeinde zu gewinnen, zu der er sich auf dem Apostelkonvent verpflichtet hatte. In Gal 2,1–10 berichtet er davon, dass ihm von Seiten der Urgemeinde keine Auflagen für seine Verkündigung des Evangeliums unter nichtjüdischen Menschen gemacht worden seien, „allein dass wir der Armen gedächten“ (Gal 2,10). Die „Armen“, die hier im Blick sind, sind die Mitglieder der Jerusalemer Urgemeinde. Die Fürsorge der für das Evangelium gewonnenen Gemeinden für die Urgemeinde ist für Paulus von höchster theologischer Relevanz: Mit ihr steht und fällt seine Völkerweltmission. Paulus fährt eine Missionsstrategie, in der er die Konversion christusgläubiger Nichtjuden zum Judentum strikt ablehnt, in der er aber gleichzeitig ein wesentliches Charakteristikum jüdischer Sozialethik, die Armenfürsorge, zum zentralen Element der ökumenischen Einheit christusgläubiger Juden und Nichtjuden macht. Am karitativen Handeln zeigt sich die Zugehörigkeit der nichtjüdischen Christusgläubigen zur Gemeinde Jesu Christi. Wesentlich für das Verständnis der als diakonia bezeichneten Kollekte ist, dass sie Gott selbst gilt. So hält Paulus seinen Adressaten in Korinth vor Augen, dass die makedonischen Gemeinden mit ihrer großzügigen Spende sich zuerst dem Herrn hingegeben hätten (8,5). Die Partizipation an der Kollekte ist Gottesdienst. In diese Richtung weist auch die Qualifikation der diakonia als liturgisch-priesterlicher Akt (2 Kor 9,12): Die nichtjüdischen Gemeinden der Mittelmeerwelt bringen dem Gott Israels mit der Geldsammlung für die Jerusalemer Urgemeinde ein Opfer dar. Wie in der jüdischen Weisheitsliteratur und im Matthäusevangelium wird der hohe Stellenwert der Armenfürsorge auch in 2 Kor 8–9 daran deutlich, dass zwischenmenschliche Solidarität, in diesem Fall ökumenische Solidarität zwischen christusgläubigen Gemeinden, in gottesdienstlichen Rang erhoben wird. Als Hin-Gabe an Gott und konkrete monetäre Gabe an die Urgemeinde ist diakonia darüber hinaus Ausdruck eines Beziehungsgeschehens, das im Einklang mit antikem Gabedenken durch wechselseitiges Geben, Nehmen und Erwidern bestimmt wird (vgl. Maus 2002). Die durch Wechselseitigkeit gestaltete ökumenische Gemeinschaft zeigt sich deutlicher als in 2 Kor 8–9 in Röm 15,25– 31. In diesen Versen spricht Paulus von den Gemeinden Makedoniens und Achaias als Schuldnern der Urgemeinde: Die Anteilhabe der nichtjüdischen Christusgläubigen an den geistlichen Gütern der Urgemeinde (z.B. am Evangelium) verpflichtet sie zur Anteilgabe an ihren materiellen Gütern, mit denen sie den Jerusalemern dienen und deren Mangel abhelfen sollen. Wechselseitiges Geben und Nehmen gestalten eine Beziehung, in der Liebe zueinander und Verantwortung füreinander nicht voneinander zu trennen sind. Wichtig scheint mir in diesem Zusammenhang, dass die gemeinschaftsstiftende Wechselseitig-
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keit des Gebens und Empfangens eine Symmetrie zwischen Gebern und Empfängern herstellt. Als Geber und Empfänger sind die Gemeinden aufeinander angewiesen; gegeben und empfangen wird jeweils das, woran auf der einen Seite Überfluss bzw. auf der anderen Seite Mangel herrscht. 2 Kor 8–9 machen auch deutlich, dass die von den Korinthern geforderte Großzügigkeit nicht nur aus dem schöpft, was selbst reichlich empfangen worden ist und von Gott auch weiterhin gegeben werden wird (9,8–11; vgl. 8,7), sie darf und soll auch nicht grundsätzlich an die eigene Substanz gehen (8,12– 15). Diesbezügliche Bedenken der korinthischen Gemeinde versucht Paulus durch den Hinweis zu begegnen, dass das Ziel der Spende keine Umkehrung der Verhältnisse, sondern ein Ausgleich (8,13) zwischen den Gemeinden ist. Mit einer durch die Spende verursachten finanziellen bzw. materiellen Notlage der Korinther wäre nichts gewonnen. Die Ermahnung zur Großzügigkeit (8,7– 8), die Paulus mit dem Verweis darauf unterstreicht, dass die makedonischen Gemeinden über ihre Kräfte hinausgegeben haben (8,3), stehen in einer gewissen Spannung zu den Aussagen, die ein maßvolles Geben nahelegen, das die eigene Existenz nicht gefährdet (8,11–15). Ich gehe davon aus, dass Paulus der Gemeinde hier bewusst einen Freiraum lässt, die Grenze zwischen einer großzügigen Gabe, die aus den göttlichen Gaben schöpft, und einer großzügigen Gabe, die an die Substanz geht, auszuloten. Prosozialität darf nicht auf Kosten der eigenen Existenzsicherung gehen. Aufs Ganze gesehen ist der Begriff diakonia bei Paulus nicht auf Armenpflege beschränkt. Er erfährt seine spezifische Profilierung in 1 Kor 12,4–6 darin, dass die vom Heiligen Geist gegebenen Begabungen (charismata) zugleich als Beauftragungen (diakoniai) verstanden werden, die dem Gemeindeaufbau dienen sollen. Die Gaben und Dienste sind vielfältig, sie umfassen außer dem karitativen Hilfehandeln (12,9) auch andere Beauftragungen wie etwa Erkenntnisvermittlung (12,8) oder prophetische Rede (12,10). Auftraggeber der Dienste ist der eine Herr Jesus Christus (12,5). Ebenso wenig wie in den Pastoralbriefen bezeichnet diakonia in 1 Kor 12 ein auf die Armenpflege konzentriertes Amt. 4.3
Die diakonale Grundstruktur urchristlicher Gemeinden am Beispiel der Urgemeinde (Apg 6,1–6)
Für die Frage nach innergemeindlichen Strukturen helfenden Handelns in den frühchristlichen Gemeinden ist Apg 6,1–6 von hervorragender Bedeutung. Obwohl dieser Text von einer Beauftragung zu einer karitativen Tätigkeit spricht, handelt es sich nicht um den Gründungsmythos eines diakonischen Amtes. Vielmehr legt der Verfasser der Apostelgeschichte in diesen Versen die diakonale Grundstruktur gemeindlicher Existenz offen, in der Wortverkündigung und Armenfürsorge gleichberechtig miteinander verbunden sind und den Gemeinden dementsprechend die Verantwortlichkeit für die Organisation und Umsetzung von Caritas bzw. Diakonie ins Stammbuch geschrieben ist. Nach Apg 6,1–6 ist die innergemeindliche Armenfürsorge neben dem Verkündi-
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gungsauftrag Kennzeichen und Identitätsmerkmal der Urgemeinde und in ihr aller christlichen Gemeinden. Apg 6,1–4 lautet: „In diesen Tagen aber, als die Zahl der Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen wurden bei der täglichen Versorgung [diakonia]. (2) Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es ist nicht recht, dass wir das Wort Gottes vernachlässigen und zu Tische dienen [diakonein trapezais]. (3) Darum, liebe Brüder, seht euch um nach sieben Männern in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Geistes und Weisheit sind, die wollen wir bestellen zu diesem Dienst. (4) Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes [diakonia tou logou] bleiben.“
Die folgenden V. 4–6 berichten dann von der Auswahl der sieben Männer und von ihrer Beauftragung durch die Zwölf. Apg 6,1–4 erzählt von einem sozialen Konflikt innerhalb der Jerusalemer Urgemeinde, der durch Ungleichbehandlung verschiedener Gemeindegruppen hervorgerufen wird: Die griechisch sprechenden Gemeindeglieder fühlen sich von den Zwölf, dem Leitungsgremium der Gemeinde, benachteiligt, weil ihre Witwen bei der täglichen diakonia, konkret: bei der Witwenversorgung, übersehen werden. Auf den ersten Blick scheint es, als würde in V. 2 der „Dienst des Wortes“ gegen den „Dienst der Tische“, Verkündigung gegen Armenfürsorge, gestellt. Dieser Eindruck täuscht. Wie die folgenden Verse deutlich machen, sehen es die Zwölf als ihre Aufgabe an, die Versorgung der griechisch sprechenden Witwen zu organisieren, indem sie diese Aufgabe aufgrund eigener Überforderung delegieren. Denen, zu deren Beauftragung neben der Verkündigungstätigkeit auch die Versorgung der Bedürftigen gehört (vgl. Apg 4,32– 37; 5,1–11), wachsen ihre Aufgaben angesichts einer stetig wachsenden Zahl von Gemeindegliedern (vgl. u. a. Apg 5,14–16) über den Kopf. Sie wollen sich auf ihren Verkündigungsdienst fokussieren, ohne die Witwenversorgung zu vernachlässigen. Aus diesem Grund schlagen sie der Gemeinde die Wahl von sieben Männern vor, die die Versorgung der griechisch sprechenden Witwen übernehmen. Dieser Vorschlag wird angenommen und durch die Apostel durch die Handauflegung und die damit verbundene Beauftragung bestätigt (Apg 6,6). Apg 6,1–6 macht deutlich, dass der Dienst der Verkündigung und der Dienst der Armenfürsorge wesentlich für das Selbstverständnis der Urgemeinde und ihres Leitungsgremiums sind. Dabei wird die Beauftragung der Sieben zur Witwenversorgung rein funktional-organisatorisch begründet: Es geht um Arbeitsteilung, die sich in erster Linie an den unterschiedlichen Sprachgruppen und nicht an einer prinzipiellen Aufteilung zwischen missionarischen und karitativen Tätigkeiten orientiert. So ist vorauszusetzen, dass das Leitungsgremium der Zwölf auch weiterhin die aramäisch sprechenden Witwen versorgt hat. Umgekehrt erzählt der Verfasser der Apostelgeschichte im Fortgang von missionarisch-verkündigenden Tätigkeiten der Sieben, die mit der Versorgung der
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griechisch sprechenden Witwen beauftragt worden sind (Apg 6,8–8,40). Ein diakonisches Amt ist nicht im Blick, was sich auch daran zeigt, dass die Sieben nicht als Diakone bezeichnet werden. An der Darstellung der Apostelgeschichte fällt auf, dass die Armenfürsorge in Form der Witwenspeisung ohne weitere Erklärung eingeführt wird. Der Verfasser der Apostelgeschichte setzt also voraus, dass seine Leser:innen wissen, was gemeint ist, wenn er von der „täglichen diakonia“ (6,1) bzw. dem „Tischdienst“ (6,2) spricht. Als traditionsgeschichtliche Parallele kommt hier die jüdische Schrift Testament des Hiob in Betracht, in der diakonia als terminus technicus für verschiedene Formen der Armenfürsorge fungiert, deren Grundlage die Speisung der Witwen, Armen und Fremden ist (s. o.). Hier zeigt sich das jüdische Selbstverständnis der Urgemeinde: Sozialethische Fürsorge gehört zu den selbstverständlichen Aufgaben gemeindlichen Handelns und ist somit wie die Wortverkündigung hervorragender Ausdruck ihrer Frömmigkeit. Das verdeutlicht auch die Geste der Handauflegung durch die Zwölf (V. 6), die die besondere Stellung der Armenfürsorge unterstreicht. Wirkungsgeschichtlich ist Apg 6,6 seit der Alten Kirche im Sinne der Einsetzung in ein Diakon:innenamt verstanden worden. Ein solches „Amt“ dürfte im Neuen Testament in der Adressatenangabe in Phil 1,1 im Blick sein, wo von „Bischöfen und Diakonen“ die Rede ist, ohne dass allerdings deutlich wird, worin das spezifische Profil beider – einander kollegial zugeordneter – Ämter besteht. Dass auch Frauen Leitungsämter innehaben können, zeigen Röm 16,1 und 1 Tim 3,8–13. So empfiehlt Paulus seinen Adressaten in Rom Phoebe, die er als Diakonin der Gemeinde von Kenchreä vorstellt (Röm 16,1), und in 1 Tim 3,8-13 wird das Anforderungsprofil für Diakon:innen beschrieben, nicht aber die mit diesem Amt verbundenen Aufgaben. Im Blick aufs Neue Testament als Ganzes zeigt sich: Sich häufig erst ausbildende Gemeindestrukturen sind vielfältig und variieren. Ein spezifisches Profil findet sich an denjenigen Stellen, die von einem diakonischen „Amt“ sprechen, nicht. Eine Trennung von Wortverkündigung und karitativem Handeln und eine Zuordnung der Wortverkündigung zu den Bischöfen und des karitativen Handelns zu den Diakon:innen gibt es nicht. 5
Theologische Impulse
Ziel neutestamentlicher Exegese ist es, die Texte in ihrer ursprünglichen Kommunikationssituation zu rekonstruieren und zu würdigen. In hermeneutischer Perspektive geht es darum, den Text und die jeweilige Gegenwart seiner Leser:innen miteinander in Beziehung zu setzen, ohne sie gegeneinander auszuspielen. Die folgenden theologischen Impulse dienen der Gesprächseröffnung zwischen den besprochenen Texten und ihren Leser:innen der Gegenwart.
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– Aus neutestamentlicher Perspektive ist die Zuwendung zu Menschen in Not integraler und unaufgebbarer Bestandteil christlicher Glaubenspraxis. Ohne diakonisches und karitatives Handeln gibt es keine Kirche. – Das Neue Testament versteht den Menschen als soziales Wesen, das auf Solidarität angewiesen und zugleich zu ihr verpflichtet ist. Die wechselseitige Angewiesenheit schließt ein hierarchisches Gefälle zwischen denjenigen, die sich ihrem Nächsten zuwenden, und dem Mitmenschen in Not aus. In der Zuwendung zum bedürftigen Mitmenschen entspricht der Mensch seiner Kreatürlichkeit und ehrt darin seinen Schöpfer. – Menschen in Not haben von Gott her ein Recht auf Unterstützung. Hilfehandeln hängt also nicht in erster Linie an der eigenen Empathie. Barmherzigkeit ist vor allem ein Tun, das die Gottesbeziehung gestaltet. – Karitatives Handeln und die darin zum Ausdruck kommende Hingabe entfaltet sich in der Spannung zwischen Fürsorge und Selbstsorge. Beides darf nicht gegeneinander ausgespielt werden. Literatur Berger, K. (1998): „Diakonie“ im Frühjudentum. Die Armenfürsorge in der jüdischen Diasporagemeinde zur Zeit Jesu. In: G. K. Schäfer/Th. Strohm (Hg.): Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch (VDWI 2) (3. Aufl.; S. 94–105). Heidelberg. Charité (1. Staffel). Regie: S. Wortmann. Drehbuch: D. Schön/S. Thor-Wiedemann. Deutschland: UFA Fiction/MIA Film, 2017. Collins, J. N. (1990): Diakonia. Re-Interpreting the Ancient Sources. New York/Oxford. Hentschel, A. (2013): Gemeinde, Ämter, Dienste. Perspektiven zur neutestamentlichen Ekklesiologie. Neukirchen-Vluyn. Konradt, M. (2015): Das Evangelium nach Matthäus (NTD 1). Göttingen. Mauss, M. (2002): The Gift. The form and reason for exchange in archaic societies. London/New York. Müller, K. (1999): Diakonie im Dialog mit dem Judentum. Eine Studie zu den Grundlagen sozialer Verantwortung im jüdisch-christlichen Gespräch (VDWI 11). Heidelberg. Schaller, B. (1979): Das Testament Hiobs. In: W. G. Kümmel (Hg.): Jüdische Schriften aus hellenistisch-römischer Zeit Bd. 3 (S. 301–387). Gütersloh. Theißen, G. (1999): Universales Hilfsethos gegenüber allen Menschen? – Neutestamentliche Wurzeln der Diakonie. In: A. Götzelmann (Hg.): Einführung in die Theologie der Diakonie. Heidelberger Ringvorlesung (S. 34–54). Heidelberg.
4 Diakonische Praxis der Kirchen – geschichtliche Entwicklungen Gerhard K. Schäfer
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Einleitung
Diakonie gehört von Anfang an zum Selbstverständnis des Christentums und zur Praxis christlicher Gemeinden und Gruppen. Sie gewinnt konkrete Gestalt als Reaktion auf die Nöte der jeweiligen Zeit. Der folgende Beitrag will einen groben Überblick über die fast 2000-jährige Geschichte der Diakonie bieten. Orientiert an geschichtlichen Epochen, sollen grundlegende Entwicklungen der Diakonie knapp skizziert und programmatische Ansätze, Initiativen und Modelle exemplarisch dargestellt werden. 1 Im Vordergrund stehen dabei Weichenstellungen und Wegmarken, die für die Diakonie und Caritas im Westen Europas sowie in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum bedeutsam sind. 2 2.1
Alte Kirche (ca. 100–500 n. Chr.) Diakonie – Kennzeichen der Gemeinde
Die diakonische Praxis der christlichen Gemeinden war ein wesentlicher Grund dafür, dass sich das Christentum im Römischen Reich rasch ausbreitete. Aristides von Athen beschreibt um 140 n. Chr. in einem Brief an den Kaiser Antonius Pius die soziale Praxis der Christen: „Sie lieben einander. Die Witwen missachten sie nicht; die Waisen befreien sie von dem, der sie misshandelt. Wer hat, gibt neidlos dem, der nicht hat. Wenn sie einen Fremdling erblicken, führen sie ihn unter ein Dach und freuen sich über ihn wie über einen leiblichen Bruder. Denn sie nennen sich nicht Brüder dem Leibe nach, sondern 1
Der Beitrag basiert in weiten Teilen auf: Schäfer/Herrmann 2005.
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Brüder im Geiste und in Gott. Wenn aber einer von ihren Armen aus der Welt scheidet und ihn irgendeiner von ihnen sieht, so sorgt er nach Vermögen für sein Begräbnis. Und hören sie, dass einer von ihnen wegen des Namens ihres Christus gefangen oder bedrängt ist, so sorgen sie für seinen Bedarf und befreien ihn, wo möglich. Und ist unter ihnen irgendein Armer oder Dürftiger, und sie haben keinen überflüssigen Bedarf, so fasten sie zwei bis drei Tage, damit sie den Dürftigen ihren Bedarf an Nahrung decken“ (zit. n. Schäfer/Maaser 2020, S. 92.)
Rund 200 Jahre nach Aristidesʼ Brief unternahm der heidnische Kaiser Julian Apostata (361–363) den − vergeblichen − Versuch, die christliche Diakonie nachzuahmen und zu übertrumpfen, um so den Einfluss des Christentums zu brechen. Er kennzeichnet das Originäre christlicher Praxis, das aus der Verknüpfung von Religion und Ethos, von Kult und Diakonie entspringt, die dem vorchristlichen Staatskult fremd war. Die „Gottlosigkeit“ konnte nach Julians Auffassung nur deshalb so stark an Boden gewinnen, weil sie sich liebevoll um Fremde gekümmert und für die Bestattung der Toten gesorgt hat und mit einer strengen Lebensführung verbunden war. Es sei eine „Schmach“ zu sehen, dass „die gottlosen Galiläer neben den Ihren auch noch die Unsrigen ernähren“ (zit. n. Schäfer/Maaser 2020, S. 146 f.). An das von Aristides gezeichnete Bild anknüpfend, lässt sich die Diakonie im 2. Jh. als korporative Praxis der Gemeinde charakterisieren. Im Sinne innergemeindlicher Solidarität erstreckte sie sich in erster Linie auf die hilfsbedürftigen Gemeindeglieder. Diese Konzentration wurzelt theologisch in der Verbundenheit im Volk Gottes; sie war zugleich durch soziologische Faktoren – Situation der Minderheit, Rechtsunsicherheit und Bedrängnis, Begrenztheit der Mittel – mit bedingt. Im Zentrum der gottesdienstlichen Versammlung, der Mahlfeier, verankert, gewann diakonisches Handeln als Miteinander-Teilen Tiefe und verpflichtenden Charakter. Diakonische Verantwortung konkretisierte sich insbesondere in folgenden Handlungsfeldern: − In den Quellen steht der Beistand für „Witwen und Waisen“, die im gesamten Altertum als Symbol sozialer Deklassierung und Hilfsbedürftigkeit galten, an erster Stelle. Die Unterstützung für die als „Altar Gottes“ angesehenen Witwen erfolgte durch Nahrungsmittel, später auch durch Geldleistungen. Bezeichnend ist, dass Witwen nicht lediglich Empfängerinnen gemeindlicher Zuwendung waren, sondern selbst ein seelsorglich-diakonisches „Amt“ an weiblichen Gemeindegliedern übernahmen (vgl. 1Tim 3,11). Die Fürsorge für Waisen war insbesondere dann geboten, wenn Kinder ihre Eltern in der Verfolgung verloren hatten. − Die Sorge für die Kranken umschloss gottesdienstliche Fürbitten, das Überbringen der Eucharistie, Besuche und Pflege in den Häusern. − Bei der gastfreundlichen Aufnahme von Fremden handelte es sich insbesondere um Besucher aus anderen Gemeinden, durchreisende Christinnen sowie um Christen, die vor Verfolgung geflohen waren. − Die Aufgabe der Arbeitsvermittlung bezog sich einerseits auf Zugereiste, andererseits auf Personen, die aufgrund der Annahme des christlichen Glau-
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bens ihren mit der Gemeindezugehörigkeit nicht zu vereinbarenden Beruf – z.B. als Gladiator oder Schauspieler – aufgeben mussten. In der Bedrängnis durch Verfolgung galt es, das Schicksal der Gefangenen und Verbannten zu erleichtern. Die Gemeinden versuchten, die Verbindung zu ihnen aufrecht zu erhalten und Hafterleichterungen – u. a. durch Bestechung der Wärter − oder gar die Freilassung zu erreichen. Sowohl aus Gemeindemitteln als auch in privater Verantwortung wurde das Begräbnis armer Gemeindeglieder bestritten. Gemeinden übernahmen auch die Bestattung von Leichen, die angeschwemmt wurden oder um die sich sonst niemand kümmerte. Laktanz hat diese Praxis so begründet: „Wir werden es nicht dulden, dass das Bild und Geschöpf Gottes den wilden Tieren und Vögeln als Beute hingeworfen wird, sondern werden es der Erde zurückgeben, von der es genommen ist, und auch an einem unbekannten Menschen das Amt seiner Verwandten erfüllen, an deren Stelle, wenn sie fehlen, die Humanität tritt“ (zit. n. Harnack 1924, S. 191). Über die sechs Werke der Barmherzigkeit nach Mt 25,31 ff. hinaus ist durch Latanz die Bestattung der Toten als siebtes in die christliche Tradition eingegangen. In Ausnahmefällen konnten Sklaven mit Gemeindemitteln freigekauft werden – wenn es ihnen nicht möglich war, bei ihrer heidnischen Herrschaft christlich zu leben. In der Gemeinde waren die Unterschiede zwischen Sklaven und Freien aufgehoben. Die frühe Christenheit hat indes kein Programm zur Aufhebung der Sklaverei entwickelt. Am Beispiel des Johannes Chrysostomos (349–407 n. Chr.) zeigt sich jedoch, dass das, was innergemeindlich galt, die gesellschaftlichen Verhältnisse nicht unberührt lassen konnte. Chrysostomos hat die „Herrschaft des Menschen über Menschen“ und insbesondere die Sklaverei als Sünde angeprangert. Die Mittel für die Hilfeleistungen entstammten wesentlich den gottesdienstlichen Kollekten bzw. Opfergaben (Naturalien, später Geld); Spenden kamen hinzu. Seit etwa 200 n. Chr. sind Gemeindekassen belegt, in die nach dem Prinzip freiwilliger Selbstbesteuerung Beiträge der Gemeindeglieder flossen. Für die Verwendung der Mittel galt der Grundsatz: Kirchengut ist Armengut.
Von entscheidender Bedeutung für die Ausformung und Dynamik der Diakonie wurde deren Einbindung in die dreigliedrige Ämterstruktur (Episkopos = Bischof/Gemeindeleiter; Presbyter = Priester; Diakon), die sich in Briefen des Ignatius von Antiochien (110–115) zum ersten Mal dokumentiert. Für Ignatius sind die Diakone „mit der Diakonie Jesu Christi betraut“ (Magn 6,1); sie verkörpern die Liebe Christi. Das Diakonenamt war dem Amt des Bischofs unterund unmittelbar zugeordnet. Als „Auge der Kirche“ fiel dem Diakon grundsätzlich die Aufgabe zu, den provozierend anderen Lebensstil der Christen und das Projekt einer Gemeinschaft der nach Herkunft, Geschlecht und Stand Verschiedenen im Kontext der heidnischen Städte zu stärken und aufrecht zu erhalten. Diakone hatten die Brücke zu schlagen zwischen dem christlichen Glauben, der Gemeindepraxis und dem schwierigen Alltag in einem heidnischen Umfeld. Dem geweihten Amt kam die soziale Funktion zu, die Gemein-
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de diakonisch zu sensibilisieren, Hilfe zu organisieren, die Gemeindemittel gerecht zu verteilen und Botendienste im Auftrag des Bischofs zu leisten. Die Verklammerung von Gottes- und Nächstendienst manifestierte sich in den liturgischen Aufgaben: Im Gottesdienst hatten die Diakone die mitgebrachten Nahrungsmittel zu sammeln, die für die eigentliche Mahlfeier benötigten Gaben auszuwählen, die übriggebliebenen an die Bedürftigen zu verteilen und den Kranken sowohl das Abendmahl als auch materielle Unterstützung zu überbringen – „in Fortsetzung und als konkretes Zeichen für die bei der eigentlichen Feier vorgenommene Güterteilung“ (Hamman 2003, S. 41). 2.2
Ausdifferenzierungen im 3. Jahrhundert
Seit dem 3. Jh. wird das Bild vielschichtiger und facettenreicher; Akzente verschieben sich. Beeindruckend sind die Zeugnisse zwischengemeindlicher Hilfe. Nach dem Vorbild der paulinischen Kollekte (2Kor 8; 9) materialisierte sich die Einheit des Glaubens im Volk Gottes in solidarischer Finanzhilfe. Kirchengemeinschaft gewann Gestalt in der finanziellen Unterstützung bedrängter und notleidender Gemeinden. Ein eindrucksvolles Beispiel zwischengemeindlicher Diakonie bietet der Brief Cyprians, des Bischofs von Karthago, an numidische Bischöfe aus dem Jahr 253 (Schäfer/Maaser 2020, S. 128–130). Räuberhorden hatten numidische Christen als Gefangene verschleppt. Daraufhin sammelte die Gemeinde in Karthago 100.000 Sesterzien für den Loskauf der Gefangenen. Die von Cyprian für diese Unterstützungsaktion genannten Motive bündeln Grundlagen altkirchlicher Diakonie: Er verweist auf die dem gemeinsamen Glauben entspringende Liebe, auf die Verbundenheit im Leib Christi, die sich in Mitleiden und Mitfreude äußert, sowie auf die diakonische „Magna Charta“ Mt 25,31−46, die das Los der Gefangenen als den „Herrn“ selbst betreffend schildert. Cyprian hat darüber hinaus den Verdienstgedanken des Almosens stark betont. Die Quellen belegen zugleich Phänomene von Diakonie, die kirchliche Grenzen überschritt. In extremen Notsituationen, insbesondere bei Pestepidemien (z.B. Alexandrien um 259), schloss das helfende Handeln Nichtchristen dezidiert ein. Ansatzweise und sporadisch begann die Kirche, öffentliche Verantwortung zu übernehmen – im Kontext der Verarmung des Römischen Reiches und in Widerspiegelung veränderter Bedingungen zumindest einiger Gemeinden, die nun über Einnahmen aus Grundbesitz und Rechtsgeschäften verfügten. Spannungsvoll erscheinen die Entwicklungen des amtlichen Diakonats. Einerseits konnte die im Diakonenamt fokussierte Verantwortung dazu führen, dass die Diakonie als Aufgabe der ganzen Gemeinde in den Hintergrund trat. Andererseits büßte das Diakonenamt selbst zunehmend seine Konturen ein. Im Zuge verstärkter Hierarchisierung der Kirche geriet das Amt des Diakons in völlige Abhängigkeit vom Bischof und wurde in der Rangskala hinter die Presbyter verwiesen. Der Diakon wurde in der Gemeindearbeit zur „Allzweckwaffe“ des
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Bischofs. Diffusität in der Aufgabenwahrnehmung war die Folge. Es zeichnete sich eine Entwicklung ab, die im Abendland aus dem Amt des Diakons allmählich eine Vorstufe des Priesteramts werden ließ. Damit verlor das Diakonenamt seine soziale Bestimmung. Seit dem 3. Jh. trat im Osten, in dem die Geschlechtertrennung besonders scharf ausgeprägt war, neben das Amt des Diakons das der Diakonin. Die Diakoninnen hatten keinen Anteil an spezifisch priesterlichen Funktionen, waren aber durch die Weihe in den Klerus eingeordnet. Im Amt der Diakonin fand das Viduat (Witwenamt) seine Weiterführung. Das Diakoninnenamt stellte sich als Amt von Frauen an Frauen dar (z.B. Syrische Didaskalia, um 230). Es umfasste vor allem liturgische Aufgaben (Assistenz bei der Taufe, Krankenkommunion, Krankensalbung), katechetische Tätigkeiten und diakonische Funktionen (Pflege kranker Frauen, Unterstützung armer Kinder). Hatten nicht zuletzt gesellschaftliche Umstände zur Ausformung des weiblichen Amtes geführt, waren es wiederum kulturelle Muster in Verbindung mit kirchlichen Veränderungen, die zu dessen Bedeutungsschwund führten: Als sich die Kirche zu einer öffentlichen Institution ausformte, schlug die kulturell eingespielte Geschlechterdifferenz, nach der die männlichen Tugenden die Öffentlichkeit dominierten und die der Frau auf die Sphäre des Privaten begrenzt wurden, voll auf den kirchlichen Raum durch. Zugleich verlangte das Wiederaufkommen alttestamentlicher Opfervorstellungen von Amtsträgern kultische Reinheit. Schließlich trat im Zuge der reichskirchlichen Entwicklung die Kindertaufe an die Stelle der Erwachsenentaufe. Damit entfiel die Aufgabe der Taufassistenz. Das Amt der Diakonin wurde in der Folgezeit nicht kirchenamtlich aufgehoben. Vielmehr „versandete“ es, um schließlich hinter den Klostermauern zu verschwinden (vgl. Reininger 1999). Intensive Debatten kreisten um das Verhältnis von Arm und Reich. Dabei stand einer radikalen Kritik des Reichtums eine Position gegenüber, die in der Einstellung gegenüber dem Reichtum und im Umgang weltlichen Gütern das theologische Grundproblem sah. Um 200 propagierte Tertullian die Verachtung des Geldes und den Abscheu vor dem Reichtum. Christus – so der nordafrikanische Theologe – erkläre die Armen für gerecht und verdamme die Reichen von vornherein. Diese rigorose Auffassung wurde von Klemens von Alexandrien abgelehnt bzw. abgemildert. Nicht der Reichtum an sich, sondern die Haltung gegenüber dem Reichtum sei entscheidend für die christliche Lebensführung und die Frage, ob auch Reiche gerettet werden können: „Denn wer Vermögen und Gold und Silber und Häuser aber als Gottes Gaben besitzt und Gott, der es gegeben hat, damit zum Wohl der Menschen dient und sich dessen bewusst ist, dass er all dies mehr seiner Brüder als seiner selbst wegen besitzt, und Herr seines Vermögens, nicht ein Sklave seines Besitzes ist und ihn nicht in seinem Herzen trägt und ihn nicht zum Ziel und Inhalt seines Lebens macht, sondern immer
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auch ein edles und göttliches Werk zu vollbringen sucht und fähig ist, wenn er einmal seiner Güter beraubt werden sollte, auch ihren Verlust mit Gemütsruhe zu ertragen ebenso wie den Überfluss an ihnen – wer alle diese Eigenschaften hat, der wird von dem Herrn selig gepriesen und arm im Geiste genannt, würdig ein Erbe des Himmelreiches zu werden“ (zit. n. Schäfer/Maaser 2020, S. 107).
In einer Zeit zunehmender Öffnung und Attraktivität des Christentums für Begüterte leitete Klemens von Alexandrien eine Neuorientierung im theologischen Diskurs um den Reichtum ein. 2.3
Im Kontext der Reichskirche
Die sog. konstantinische Wende (seit 312) markiert in der Geschichte der Diakonie zwar keine einschneidende Zäsur, hatte aber zur Folge, dass die materielle Basis der Diakonie ausgebaut werden konnte. Seit 321 war es der Kirche gestattet, private Vermächtnisse anzunehmen; Steuerfreiheiten kamen hinzu. Konstantin unterstützte die Kirchen durch Getreidelieferungen für Bedürftige. Mit der Erhebung des Christentums zur Staatsreligion (380) sah sich die Kirche einbezogen in die staatlichen Bemühungen, den sozialen Frieden im Reich zu sichern. Damit begann sich der Bezugsrahmen kirchlicher Diakonie tiefgreifend zu verändern. Hatte die Diakonie bisher ihren Ort im Lebensgefüge der christlichen Bekenntnisgemeinden, so wurde ihr Bezugspunkt nun die massenhafte Armut der sich anbahnenden christlichen Gesellschaft. Die kirchliche Diakonie löste die staatliche Getreidefürsorge ab. Große Wohlfahrtseinrichtungen, sog. Diakonien, wurden für die Getreidelagerung an Bischofssitze angegliedert. Der Bischof übernahm an vielen Orten die Rolle des Patrons. Die starke Stellung der Bischöfe verband sich mit der Pflicht, für Arme und Schutzlose ein zu treten. Daraus entwickelte sich die kirchliche Asylpraxis, die 419 die Anerkennung durch den Staat fand. Mittel und Möglichkeiten diakonischen Handelns erweiterten sich mithin; der veränderte Referenzrahmen und die gestiegenen karitativen Bedürfnisse führten gleichwohl zu einer Überforderung kirchlicher Diakonie. Ein neuer vitaler Träger trat im Osten mit dem Mönchtum in Erscheinung. Angesichts der Gefahr der Verweltlichung der Reichskirche suchte das Mönchtum ein vollkommenes christliches Leben zu verwirklichen. Basilius der Große (ca. 330–379), seit 370 Bischof von Caesarea in Kappadokien, verklammerte gemeinschaftliches mönchisches Leben und Diakonie miteinander. Basilius schuf vor den Toren Caesareas (heute: Kayseri, Türkei) eine Diakoniestadt, die nach ihrem Gründer „Basilias“ genannt wurde. Gregor von Nazianz hat sie als Ort der Barmherzigkeit gerühmt, der weitaus schöner und bedeutender sei als die klassischen Weltwunder (Schäfer/Maaser 2020, S. 180). Sie umfasste Einrichtungen für Kranke, Aussätzige, Arme und Fremde. Basilius knüpfte mit seiner Stadtgründung möglicherweise an klösterliche Anlagen in Ägypten an und transferierte sie in die „Welt“. Angesichts der sozialen Ein-
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richtungen sollten die Gemeinden nicht in Passivität versinken. Basilius schärfte vielmehr die diakonische Verpflichtung jedes Christen ein. Er bezog Diakonie und Sozialethik eng aufeinander. Während der Hungersnot in Kappadokien 368 organisierte er die Versorgung der Hungernden. Zugleich kritisierte er die Habgier der Reichen und geißelte die Spekulationspraxis, die die Hungersnot verschärfte. Basilius stellte grundsätzlich das Recht auf Privateigentum in Frage. Das Prinzip der Haushalterschaft bringt die Sozialbindung von Besitz und Vermögen zur Geltung. Er forderte schließlich ein Erbrecht mit sozialer Note, das darauf zielte, jeder Erblasser solle 50 % seines Vermögens („Seelteil“) den Armen hinterlassen. 3 3.1
Mittelalter Sorge für die Ortsarmen in den Landpfarreien
Mit dem Ende des Römischen Reiches im Westen (476) und auf Grund der agrarischen Lebensweise der Germanen verfiel die antike Stadtkultur und mit ihr die städtisch angelegte, unter der Leitung des Bischofs stehende Diakonie. Auf diesem Hintergrund wurde der Grundsatz leitend, jede ländliche Pfarrgemeinde solle selbständig für ihre Ortsarmen Sorge tragen (Zweite Synode von Tours, 567). Die Einführung des Zehnten (585) zielte nicht zuletzt darauf, die finanzielle Basis für die lokale Armenfürsorge sicher zu stellen – verwickelte die Kirche aber zugleich in fortwährende Machtkämpfe um das Geld. Der Grundsatz der pfarrgemeindlichen Sorge für die Armen ließ sich freilich – angesichts der Wirren der Völkerwanderung, der häufigen kriegerischen Auseinandersetzungen, der immer wiederkehrenden Hungersnöte und Seuchen sowie der katastrophalen Infrastruktur – kaum verwirklichen. Den Nöten der Zeit gegenüber war die rudimentäre frühmittelalterliche Diakonie weitgehend hilflos. Dementsprechend wurde Diakonie vor allem mit einzelnen Ausnahmeerscheinungen in Verbindung gebracht, deren Handeln nach dem Vorbild des Martin von Tours mit der Aura der Heiligkeit versehen wurde. Im Blick auf das Massenelend und im Rückgriff auf Mt 25,31–46 verstand Karl der Große sein König- und Kaisertum (768/771 bzw. 800–814) im Sinne sozialer Verantwortung und rief zu allgemeiner Nächstenliebe auf. Die zunächst von gallischen Synoden eingeführte Zehntabgabe wurde von Karl und seinen Nachfolgern reichsgesetzlich vorgeschrieben. Den Parochien, die in der Karolingerzeit als grundlegende kirchliche Verwaltungseinheit und Sozialform Stabilität gewannen, wurde unter der Verantwortung des adligen Grundherrn die Armenfürsorge übertragen. Tragfähige diakonale Ordnungen bildeten sich jedoch nicht. Die Grundherren kamen ihrer diakonisch-sozialen Verpflichtung kaum nach.
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Liturgisch geformte Diakonie im Mönchtum
Als wichtigster Träger der Diakonie erwies sich das Mönchtum. Hatte Basilius im Osten die Verklammerung von Mönchtum und Diakonie begründet, so zeichnete Benedikt von Nursia (480/490–550/560) im Westen die diakonische Verantwortung unauslöschlich in die Mönchsregel ein (Kap. 4; 36; 53). Der Mönch, der freiwillig zum pauper Christi (zum Armen Christi) wurde, war dazu verpflichtet, sich den unfreiwillig Armen zuzuwenden. Die Werke der Barmherzigkeit nach Mt 25 bildeten einen integralen Bestandteil klösterlicher Praxis. Im Zuge der cluniazensischen Reform (10. Jh.) wurde die von Benedikt begründete Integration der Diakonie in die mönchische Lebensform in intensiver Weise zur Geltung gebracht. Die Klöster waren Zufluchtsstätten in einer durch Gewalt gekennzeichneten Gesellschaft, Orte, an denen Heil und Heilung zugleich erfahren werden sollten. Die karitative Praxis ließ sich an Einrichtungen ablesen; die liturgisch geformte Diakonie gewann Ausdruck in spezifischen Ritualen: − An der Klosterpforte erhielt jeder, der kam, Almosen als Unterstützung und Wegzehrung (Lebensmittel, Kleider, Decken, Brennholz). An kirchlichen Festtagen oder an Gedenktagen für verstorbene Mönche fiel das Almosen besonders reichlich aus. − In der Herberge der Pilger und Armen (hospitale pauperum) wurden Pilger, Arme und Kranke aufgenommen, „als sei Christus selber“ angekommen. Die Beherbergung und Versorgung waren normalerweise vorübergehend. Einige Arme und Kranke wurden jedoch auf Dauer beherbergt. − Im Gästehaus fanden diejenigen Aufnahme, die „zu Pferde kamen“. − Das klosterinterne Krankenhaus (infirmarium) war kranken und gebrechlichen Mönchen vorbehalten. − Die Grundhaltung, auf der die karitative Praxis basierte, zeigte sich in besonderen liturgischen Formen: Den Ankommenden wurden die Füße gewaschen. Am Gründonnerstag beging man die Fußwaschung an den Armen in feierlicher Form: In einer Prozession wurden ausgewählte Arme in den Gottesdienstraum geleitet. Eine gleich große Zahl von Mönchen zog ein und stellte sich vor den Armen auf. Die Mönche verneigten sich, beugten das Knie und beteten Christus in den Armen an. Dann wuschen sie den Armen die Füße, trockneten sie ab, küssten und segneten sie, um sie schließlich mit Geschenken zu verabschieden. Seit dem 13. Jh. begannen die Ausgaben der Klöster für die Armenfürsorge zwar allmählich zu sinken. Die liturgisch geprägte Zuwendung zu den Armen konnte in rituellen Formen erstarren. Abgelegene die Klöster hatten keinen Zugang zu den Städten, in denen sich eine neue Form der Armut ausbildete. Gleichwohl sind zumindest einzelne Klöster Anlaufstellen für Menschen geblieben, die Unterstützung suchten.
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3.3
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Entwicklungen seit dem 12. Jahrhundert
Im 12. und 13. Jh. vollzogen sich tiefgreifende Umwälzungen. Die europäische Bevölkerung verdoppelte sich zwischen 1100 und 1300 von 25 auf 50 Mio. Die Stadtkultur blühte wieder auf. Die Geldwirtschaft verdrängte die Naturalwirtschaft. Wirtschaft und Handel weiteten sich aus. Neue städtische Eliten entstanden. Einerseits stieg der Wohlstand in den Städten; andererseits verbreitete sich eine neue Form spezifisch städtischer Armut – die der Lohnarbeiter. Neue Bewegungen vermittelten eine besondere Sichtweise der Armut. Zugleich erlebte die Wohltätigkeit von Laien ihre Blütezeit. Seit dem 12. Jh. traten Armutsbewegungen auf den Plan, die einen raschen Aufschwung erlebten (Katharer, Waldenser). Mit Dominikus (1170–1221) und vor allem Franziskus von Assisi (1181–1226) entstanden Bettelorden, die das arme Leben Jesu betonten, sich der „Herrin Armut“ und der „Herrin Liebe“ verpflichteten und neu die Augen öffneten für die Armen, Kranken, Aussätzigen und die am Wege Bettelnden. Das Originäre der Bewegung um Franziskus ist in der Bereitschaft zu sehen, in Demut das Leben der Armen zu teilen, wie die Armen und mit den Armen zu leben. Ihren Lebensunterhalt sollten die Brüder durch einfache Arbeit oder durch Bettel (keine Annahme von Geld!) decken. − Signifikant erscheint die konkrete Wahrnehmung der Armen. Der Arme gilt nicht als Instrument zur Sicherung des Seelenheils des Reichen, sondern wird in seiner Individualität gesehen. Anschaulich wird dies vor allem in der Begegnung des Franziskus mit Aussätzigen. Seine Gefährten erzählen z.B., wie der berittene Franziskus einem Leprosen begegnet, vom Pferd steigt und ihm ein Geldstück schenkt. Dabei küsst er ihm die Hand und empfängt von dem Aussätzigen den Friedenskuss. − Kennzeichnend für die Bettelorden ist der konkrete Protest gegen die Willkür der Grundherren, die Ungerechtigkeit der Richter, die unnachsichtige Härte der Kaufleute und Spekulanten. − Die „Minder-Brüder“ suchten die Armen in den Städten auf und leisteten seelsorgerliche und – in begrenztem Maße – materielle Hilfe. Sie übten zugleich Gewissenserziehung durch religiöse Unterweisung in volkstümlicher Sprache. − Die Inspiration von Laien durch die Bettelorden wird am Beispiel der Elisabeth von Thüringen (1207–1231) deutlich. Personale Zuwendung zu Armen und Kranken verbindet sich bei ihr mit Protest gegen das prunkvolle höfische Leben und gegen unrechtmäßiges Eigentum. Die individuelle Wohltätigkeit erreichte eine bislang nicht gekannte Intensität. Zahllose soziale Stiftungen wurden von Bürgern in den Städten ins Leben gerufen. Testamentarische Verfügungen zugunsten von Armen nahmen zu. Das Almosengeben wurde zu einem Massenphänomen. Der Begriff Almosen fasst im mittelalterlichen Verständnis die von Gott gebotenen und daher für jeden Christen verpflichtenden Werke der Barmherzigkeit gegenüber Notleidenden
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zusammen. Almosen bezeichnet grundsätzlich eine menschliche Beziehung, die in einer Gabe ihren Ausdruck findet. In der Almosenpraxis überlagerten sich unterschiedliche Motive: Zum einen war die Hinwendung zu den Armen darin begründet, dass nach Mt 25,40 Christus in den „Geringsten“ verborgen gegenwärtig ist. Zum anderen tilgen Almosen nach einer alten Überlieferung Sünden und ermöglichen dem Spender, einen unvergänglichen Schatz im Himmel zu erwerben. Diese Vorstellung geht ganz wesentlich auf das apokryphe Buch Jesus Sirach zurück. In Sir 3,33 (30) heißt es: „Wie Wasser ein brennendes Feuer löscht, so tilgt das Almosen die Sünden.“ Der Kirchenvater Cyprian hat den Verdienstgedanken des Almosens systematisch entfaltet. Mit dem Almosen verband sich auch die Vorstellung, dass sich im Geben und Empfangen von Almosen eine Art Tausch vollzieht: Der Reiche ist verpflichtet, seine irdischen Güter mit den Armen zu teilen. Der Arme hat einen Anspruch darauf, dass ihm gegenüber eine Pflicht erfüllt wird. Als Gegenleistung hat er für das Seelenheil der Wohltäter zu beten. Einerseits implizierte diese Praxis die gesellschaftliche Integration der Armen. Andererseits wurden die Standesunterschiede in der Wohltätigkeit anschaulich und durch das Almosengeben zementiert. Einen wichtigen Schlüssel für die Verbindung von Seelenheil und Almosen stellt schließlich das mittelalterliche Totengedenken, die Memoria, dar. Das liturgische Gedenken der Toten vereinigt drei Gruppen von Personen in einem sozialen Geschehen: die Lebenden, die Toten und die Armen. Beim regelmäßig wiederkehrenden Gedenken sorgen die Lebenden für die Vergegenwärtigung des Verstorbenen. Nach Anordnung des Verstorbenen werden Gaben verteilt. Die Empfänger des Almosens, die Armen, sind verpflichtet, für das Seelenheil des Verstorbenen zu beten. Das Almosen war Gegenstand intensiver theologischer Erörterungen (vgl. Schneider 2017, S. 155 ff.). Die Zuwendung zu den Armen konnte als Ausdruck bedingungsloser Liebe gedeutet und als Forderung der Gerechtigkeit interpretiert werden. Petrus Abaelard (1079–1142) betont, es sei ein Akt der Gerechtigkeit, den Armen zurückzugeben, „was ihnen gehört“ (zit. n. Schäfer/Maaser 2020, S. 376). Dahinter steht die Idee, dass die Erde allen Menschen gemeinsam ist. Thomas von Aquin (1224–1274) stellt die Intention des Almosens heraus, dem Notleiden zu helfen und – soweit es möglich ist – seiner Bedürftigkeit abzuhelfen. Gleichwohl bleibt in den Almosenlehren die Perspektive des Gebers dominant. Die kollektive Wohltätigkeit von Laien wurde verstärkt durch Gemeinschaften bzw. Bruderschaften wahrgenommen. Karitative Bruderschaften entwickelten sich aus Gebetsbruderschaften einerseits und Genossenschaften andererseits, die zur gegenseitigen Absicherung der Mitglieder gegründet worden waren (Handwerker).
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− Spezifische Konturen weist die Laienbruderschaft des Johanniterordens auf, die im Zusammenhang des ersten Kreuzzugs in Jerusalem gegründet wurde (1099). Kreuzritter schlossen sich zu einer Bruderschaft zusammen, die sich der „Bezeugung des Glaubens“ und der „Hilfe für die Bedürftigen“ widmete. Dabei standen die Krankenpflege und die Versorgung von Pilgern im Vordergrund. Im Jerusalemer Hospital der Johanniter konnten bis zu 2000 Kranke betreut werden. Für das Hospital entwickelten die Johanniter, beeinflusst von der arabischen Heilkunst und Krankenversorgung, die erste abendländische Krankenhausordnung (1182). − Die Gesellschaft Or San Michele (gegr. 1221) in Florenz ist das berühmteste Beispiel einer hoch organisierten karitativen Laienbruderschaft. Sie unterhielt Armenhäuser, Hospize und Hospitäler. 1347 sollen 6000–7000 Arme drei- oder viermal pro Woche Unterstützung erhalten haben. Im Vergleich dazu nahmen sich deutsche karitative Bruderschaften zwar bescheidener aus. Sie spielten in deutschen Städten wie Köln gleichwohl eine wichtige Rolle bei der Gründung und Unterhaltung von Hospitälern, kleinen Armenhäusern, Pilgerhospizen und Leprosorien. In Straßburg z.B. gründeten fromme Frauen und Männer 1400 eine Bruderschaft, um einen freiwilligen Hilfsdienst an den Kranken des Großen Spitals zu organisieren. Im Ganzen gab es gegen Ende des 15. Jh. in Deutschland freilich relativ wenige Bruderschaften, die überwiegend oder ausschließlich karitative Zwecke verfolgten. − Das bekannteste Beispiel organisierter Wohltätigkeit von Frauen sind die Beginenkonvente, die sich zunächst im heutigen Belgien und in den Niederlanden bildeten. Unverheiratete und verwitwete Frauen schlossen sich zusammen und lebten kommunitär in Städten (Beginenhöfe). Dabei verbanden sie Kontemplation und Arbeit, Fürsorge und Seelsorge. Karitativ waren die Beginen vor allem in der Erziehung von Kindern aus armen Familien, in der Pflege Kranker sowie der Sorge für die Toten tätig. Die institutionelle Armenfürsorge gewann im Spitalwesen Gestalt. Waren zunächst Orden wie die Johanniter und Antoniter die wichtigsten Treiber für das abendländische Spitalwesen, so ging mit dem Aufblühen der Städte eine neue Welle von Spitalgründungen durch wohlhabende Bürger einher. Die Spitäler waren zumeist multifunktionale Zentren, in denen neben materiell Bedürftigen insbesondere Gebärende, Findelkinder, Schwache, Lahme, Sieche und reisende Pilger Versorgung fanden. Im Laufe der Zeit kamen Differenzierungen zum Tragen: Neben den sog. Leprosorien entstanden z.B. Waisenhäuser, Blatternund Warzenhäuser für Syphilitiker und Einrichtungen für „Irre“. Die Unterscheidung zwischen Einheimischen und Fremden fand ihren Niederschlag in der Gründung von Bürgerspitälern, in denen nur Bürgerinnen und Bürger der jeweiligen Stadt Aufnahme fanden, und den Einrichtungen für fremde Bedürftige, den sog. Seelhäusern.
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Kommunalisierung der Armenpflege im 14. und 15. Jahrhundert
Mit der Ausbildung einer bürgerschaftlichen Obrigkeit in den Städten bahnte sich eine neue Periode der Armenfürsorge an. Die sich herauskristallisierende Obrigkeit machte sich die Ordnung des städtischen Lebens insgesamt zur Aufgabe. Soziale Verantwortung wurde Teil des obrigkeitlichen Pflichtenkanons. Die Räte und Magistrate übernahmen – auf christlicher Grundlage − die Armenpflege. Städtische Bettel- bzw. Armenordnungen entstanden, die die Armenhilfe durch Verordnungen regelten. Die Armenfürsorge sollte systematisiert, der Bettel eingeschränkt und die Almosenabgabe kanalisiert und effizient gestaltet werden. Unterschiedliche Faktoren markieren den Hintergrund für die Kommunalisierung der Armenfürsorge: Das Anwachsen der Massenarmut führte zu einer Infragestellung bisheriger karitativer Bemühungen. Wirtschaftliche Krisen verstärkten einerseits die Armut und ließen andererseits wohltätige Einrichtungen in finanzielle Schwierigkeiten geraten. Zunehmend wurden die ineffektive Leitung und missbräuchliche Nutzung von Hospizen und Hospitälern beklagt. Die Einstellungen zur Armut und deren Wahrnehmung veränderten sich. Der lange, erbitterte Streit um das franziskanische Armutsideal hatte Zweifel am religiösen Wert der Armut geweckt. Die Kritik an den Bettelorden war zugleich bedingt durch eine Aufwertung der Arbeit und die Betonung des Gemeinwohls. Humanistisches Gedankengut mit seinem Lobpreis von Erfolg, Wohlergehen und Rationalität förderte auf der einen Seite die Ausbildung städtischer Sozialreformen, trug auf der anderen Seite aber auch dazu bei, die Würde der Armen zu untergraben. Der quasi beruflich ausgeübte Bettel führte mit dazu, dass Armut immer stärker als Dimension des Bösen und Bedrohung empfunden wurde. Die Unterscheidung zwischen den „wahren“ Armen und den als parasitär und asozial geltenden Vagabunden, Arbeitsunwilligen und Bettlern setzte sich immer mehr durch. 4
Diakonie im Zeitalter der Reformation
Die diakonischen Aufbrüche und sozialen Initiativen der Reformationszeit waren vielschichtig und knüpften in unterschiedlicher Weise an die spätmittelalterlichen Entwicklungen der Armenfürsorge an. Diakonie in der Reformationszeit – damit wird der Bogen geschlagen von Luthers Impulsen und lutherischen Ansätzen der Armenfürsorge über reformierte Konzeptionen und diakonische Spuren beim radikalen Flügel der Reformation bis hin zu katholischen Reformbestrebungen (Schäfer 2021). 4.1
Martin Luther: Obrigkeitliche Verantwortung und Diakonie der Gemeinde
Die Reformation knüpfte einerseits an die Bestrebungen der Neuordnung der Armenpflege an: Prozesse der Kommunalisierung und Rationalisierung wur-
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den intensiviert und beschleunigt. Andererseits durchkreuzte die Reformation wesentliche Grundlagen der mittelalterlichen Almosenpraxis. Die Koppelung von guten Werken und Seelenheil wurde von den Reformatoren ebenso abgelehnt wie die enge Verbindung von liturgischem Gedenken und Almosen. Bruderschaften und Klöster wurden aufgelöst. Dies bedeutete einen tiefgreifenden Bruch mit Eckpfeilern der traditionellen Hilfekultur. Luthers Lehre von der Rechtfertigung geht einher mit einem Perspektivenwechsel: Der Blick verlagert sich vom Almosengeber auf den Nächsten. Nächstenliebe gewinnt Gestalt als Ausdruck der Dankbarkeit für das von Gott geschenkte Heil. Die in Gottes barmherziger Zuwendung gründende „Freiheit eines Christenmenschen“ äußert sich darin, dem anderen gleichsam zum Christus zu werden und dem Nächsten aus „freien Stücken“ zu dienen. Martin Luther (1483–1546) beschreibt die christliche Gemeinde theologisch so, dass deren diakonische Dimension deutlich wird. Vor allem seine Abendmahlschriften von 1519 kennzeichnen die Gemeinde im Sinne des Leibes Christi als Teilhabe- und Teilgabegemeinschaft. Gemeinde erscheint als „ganzheitliche“ Praxis, in der Menschen einander annehmen und tragen, in ihrer Angewiesenheit auf Barmherzigkeit miteinander solidarisch sind und einander geistlichen und leiblichen Beistand erweisen. Die Taufe bringt die Würde des Menschen – auch und gerade der Schwächsten – zum Ausdruck. Sie begründet das allgemeine Priestertum – und somit das Einander-PriesterSein als Prinzip kirchlicher Sozialgestalt. Zugleich stellte Luther der Obrigkeit ihre soziale Verantwortung nachdrücklich vor Augen und formulierte Grundzüge der öffentlichen Armenfürsorge. Die Probleme der massenhaften Armut und des grassierenden Bettels können – so Luther – nur gelöst werden durch eine Instanz, die über einschlägige Kompetenzen und Rechte sowie über ausreichende Ressourcen verfügt. Entsprechend appellierte Luther an die städtischen Räte und Landesfürsten, ihre christliche Fürsorgepflicht gegenüber den Armen in geordneter Weise wahrzunehmen. 1519/20 forderte Luther programmatisch die Fürsorge jeder Stadt für ihre Armen, das Verbot des Bettelns und die Pflicht zu arbeiten. Dass Menschen aus Not betteln müssen, fällt als Schande auf die Christenheit zurück. Damit niemand betteln muss, wenn er in Not ist, bedarf es einer geordneten Armenfürsorge. Die Unterstützung gilt dabei den „rechten“ Armen. Ihnen muss geholfen werden, damit sie nicht zugrunde gehen und in Bettelarmut abstürzen. Von den „rechten“ Armen werden die unwürdigen Armen unterschieden. Darin spiegelt sich vor allem die Hochschätzung der Arbeit wider. Sie führt in der reformatorischen Bewegung – aber auch im Reformkatholizismus – dazu, den Bettel als soziales Schmarotzertum zu brandmarken. Luthers programmatische Thesen wirkten im Blick auf die offene Armenfürsorge als Ferment in einem Prozess der Gärung. Beginnend mit Wittenberg (1521) entstanden in rascher Folge in westeuropäischen Städten Ordnungen, die die offene Armenfürsorge neu regelten. Kennzeichnend für lutherische Städte und Gebiete wurden die sog. Kastenordnungen.
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− Der Gemeine Kasten ist ein zentraler Armenfonds in der Verantwortung der weltlichen Obrigkeit. In ihn fließen alle gottesdienstlichen Kollekten, Spenden, testamentarische Verfügungen sowie Erträge aus kirchlichem Besitz bzw. Erträge aus der Auflösung von Klöstern. − Die öffentliche Unterstützung aus Mitteln des Gemeinen Kastens hat strikt subsidiären Charakter. Sie tritt im Sinne der Existenzsicherung nur dann ein, wenn die eigenen Ressourcen nicht ausreichen und wenn Menschen nicht oder nicht genügend auf Ressourcen sozialer Netzwerke (Familie, Nachbarschaft) zurückgreifen können. − Es erfolgt eine Rationalisierung der Armenfürsorge. Bedürftigkeit wird definiert. Die Unterstützung richtet sich an objektiven Kriterien aus: Arbeitsfähigkeit, Arbeitsertrag, Familiensituation. − Besondere Beachtung sollen die verschämten Armen finden sowie die Kinder und Jugendlichen aus armen Familien. Vorgesehen sind Zuschüsse für Handwerker, die einen Betrieb gründen wollen, aber kein ausreichendes Startkapital haben. Handwerker, die von plötzlicher Not getroffen werden, sollen zur Überbrückung Darlehen erhalten. − Eine Sozialadministration bildet sich heraus: Der städtische Rat bestellt aus seiner Mitte ehrenamtliche Armenpfleger, die für die Umsetzung der Armenordnung zuständig sind. Ihnen zur Seite stehen bezahlte Kräfte, Helfer, Knechte oder Diakone genannt, deren Aufgaben darin bestehen, Bedürftigkeit durch Hausbesuche festzustellen und die Verteilung der Mittel durchzuführen. − In dem Maße, wie Bedürftigkeit definiert wird und es Instanzen der Überprüfung gibt, entsteht erst die gesellschaftlich abgegrenzte Gruppe der Bedürftigen. Ausdruck dessen ist, dass die Empfänger:innen von Unterstützung zumeist entsprechende Zeichen tragen. − Mit der Armenfürsorge sind pädagogische und disziplinierende Zielsetzungen verbunden. Unterstützt wird in der Regel nur, wer ein Leben in Fleiß, Ehrbarkeit und Frömmigkeit führt. Im Sinne Luthers sind die Regelungen der Kastenordnungen eingebunden in das Bestreben, das Motiv des Leibes Christi auf das bürgerliche Gemeinwesen zu übertragen. Dies kommt z.B. in der Leisniger Kastenordnung (1523) zum Tragen. Soziale Aufgaben sollen hier in bruderschaftlicher, ständeübergreifender Verantwortung kontinuierlich wahrgenommen werden. Im Zusammenhang der Neuordnung der Armenpflege in Hessen hat Johannes Ferrarius (1486– 1558) das Motiv des Leibes Christi zur Grundlage für eine Theorie des Sozialwesens und der öffentlichen Armenfürsorge gemacht. Das weltliche Gemeinwesen – ein Dorf, eine Stadt, ein Territorium – hat in christlicher Perspektive laut Ferrarius ein wesentliches Kriterium darin, dass es die Armen achtet – als Brüder des gemeinsamen Vaters und Glieder im vielgegliederten Leib. Luthers Ansatz von unten, sein genossenschaftliches Gemeindemodell, büßte nach der Katastrophe des Bauernkriegs (1525) an Dynamik ein. Zur Ausformung einer eigenständigen kirchlichen Diakonie und gemeindlicher Verbind-
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lichkeiten gegenüber sozial Schwachen kam es nicht. Die Armenordnungen wiederum – in Regie der städtischen Räte – bedeuteten zwar einen produktiven Neuansatz. Die Logik der Stadt, die einheimischen Armen zu versorgen, ließ aber zugleich die Auswärtigen und Heimatlosen außer Acht. Administrative Gesichtspunkte sowie das Zurücktreten präventiver zugunsten repressiver Maßnahmen kennzeichneten die weitere Entwicklung. Nachdem es nicht zur Ausformung einer genuin kirchlichen Diakonie gekommen war, trat an die Stelle der von Luther verfolgten Doppelstrategie eine bipolare Verantwortungsstruktur in der einen Christenheit: Der weltlichen Obrigkeit oblag die Armenfürsorge; den kirchlichen Predigern kam die Aufgabe zu, Glauben und Nächstenliebe zu wecken. Dem „Volk“ blieb weitgehend nur der Status von Untertanen- und Hörerschaft. 4.2
Huldrych Zwingli – Johannes Calvin – Täufer
Huldrych Zwingli (1484–1531) nimmt unter den führenden Reformatoren eine ganz eigenständige Position in Bezug auf die Wahrnehmung sozialer Aufgaben ein. Im Horizont volkskirchlichen Denkens bzw. in der Perspektive der christlichen Gesellschaft übertrug er der weltlichen Obrigkeit die Sozialfürsorge für die gesamte Gesellschaft, die sie in Verantwortung vor Gott ausüben sollte. Entsprechend vollzogen sich die Züricher Sozialreformen mit der Autorität des Magistrats. Im Gegensatz zu Zwingli lag der Fokus bei dem Genfer Reformator Johannes Calvin (1509–1564) darauf, Diakonie in den kirchlichen Strukturen fest zu verankern. Was bei Luther steckengeblieben und versandet war, sollte Gestalt und Struktur gewinnen. Calvin war vor allem daran gelegen, das Amt des Diakons wieder einzuführen, das in der mittelalterlichen Kirche zu einer Vorstufe des Priesteramts geworden war. Calvin konturierte das Diakonenamt als ein für die Kirche unentbehrliches soziales Amt. Innerhalb des amtlichen Diakonats unterschied Calvin zwei Aufgabenbereiche und Stufen. Dabei vermittelte er neutestamentliche Aussagen (Röm 12,8; Apg 6; Röm 16,1) mit Elementen der in Genf bestehenden Praxis der öffentlichen Armenfürsorge und geschlechtsspezifischen Anschauungen seiner Zeit. Er nahm eine Differenzierung vor zwischen einem männlichen, ordinierten Amt mit Leitungs- und Verwaltungsaufgaben und einem insbesondere von Frauen wahrzunehmenden, nicht geweihten Amt, dem die Fürsorge für die Armen und Kranken obliegen sollte. Die Verwirklichung des Diakonatskonzepts erfolgte aber nur unvollständig. Ein diakonisches Amt für Frauen ließ sich nicht durchsetzen. Ein spezifisches Modell von Diakonie kristallisierte sich bei den Täufern heraus. Menno Simons (1495/96–1561) trug wesentlich dazu bei, dass sich das Täufertum nach der Katastrophe von Münster neu erfinden konnte, indem er ihm einen Weg jenseits von Militanz und Apokalyptik wies. Menno Simons entwarf das Modell einer Diakoniegemeinde, die Züge einer Gegengesellschaft trug: Der „Welt“ und ihren Kennzeichen von Gier, Geld und Macht sollte eine
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konsequent gestaltete Praxis der Liebe entgegengesetzt werden. Darin spiegelte sich die Situation einer religiösen Minderheit wider und einer Gruppe, die immer wieder der Verfolgung ausgesetzt war. Ein Zusammenwirken mit einem städtischen oder territorialen Fürsorgesystem war keine reale Option. Theologisch prägend war die Vorstellung einer heiligen Gemeinde in der Nachfolge Jesu, bei der sich innergemeindliche Solidarität mit strenger Gemeindezucht verband. 4.3
Katholische Reformen und Debatten
Die Entwicklung in katholischen Gebieten war durch eine spannungsvolle Vielfalt von Fürsorgeformen geprägt. Formen der individuellen Almosenpraxis, der genossenschaftlichen und kirchlichen Caritas und der staatlichen Armenfürsorge existierten nebeneinander und miteinander. Wie in protestantischen Städten und Ländern entstanden Ordnungen öffentlicher Armenfürsorge mit vergleichbaren Elementen und Maßnahmen. Allerdings wurde anders als in lutherischen Gebieten das Kirchengut nicht in die zentralen Armenfonds einbezogen. Das Bettelverbot wurde weniger strikt gehandhabt; insbesondere die Bettelorden waren davon ausgenommen. Stark sollte darauf geachtet werden, dass die städtische oder territoriale Armenfürsorge der elementaren Almosendiakonie nicht den Boden entzieht. Auf die bestehenden Strukturen der Hilfe wurde in katholischen Gebieten in hohem Maße Rücksicht genommen: Bruderschaften blieben bestehen und entwickelten verstärkt karitative Aktivitäten. Hospitalstiftungen und Klöster konnten zwar keine flächendeckende Fürsorge betreiben, waren aber für das unmittelbare Umfeld von Bedeutung. Der katholische Humanist Juan Luis Vives (1492–1540) entwickelte in seiner programmatischen Abhandlung De subventione pauperum (Über die Unterstützung der Armen, 1526) eine Theorie sozialpolitischen Handelns, das christlichen Prinzipien verpflichtet ist. Er hat dabei die Aufgaben staatlicher Armenfürsorge dargestellt, die in einer Kultur des Gebens und Helfens gründen sollte und ihren Ausgangspunkt in der Arbeitspflicht hat. Während es Vives unternahm, die Ansätze der „modernen“ Armenfürsorge systematisch zu begründen, stießen diese auch auf Ablehnung. Der spanische Theologe Domingo de Soto (1494–1560) kritisierte die Kontrollwut, die in das neue System der Armenfürsorge eingelassen sei. Er erhob den Vorwurf, materielle Hilfe werde zur Disziplinierung der Armen missbraucht. Das Trienter Konzil (1546–1563) stärkte schließlich die Verantwortung des Bischofs für die kirchliche Caritas. Kardinal Borromäus (1538–1584) ist das bekannteste Beispiel für einen Bischof, der in Mailand im Sinne des Konzils als „Vater der Armen“ wirkte. In Folge des Konzils entwickelten sich neue Genossenschaften oder Orden, z.B. die Gemeinschaft der Ursulinen, die in der Erziehung und Bildung von Mädchen wirkte, und die Kamillianer, die sich der Krankenpflege widmeten. Neue „große Spitäler“ entstanden. Besondere Strahlkraft gewann das von Julius Echter von Mespelbrunn 1579 ins Leben gerufene Würzburger Juliusspital. In Verbindung mit Pfarrgemeinden entstanden Hilfevereine, sog. Armenbretter.
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Sie sammelten Almosen und Kollekten, die an würdige Arme der Gemeinde verteilt wurden. Daneben existierte weiterhin das Feld privater Mildtätigkeit. Auch nach dem Konzil von Trient blieb dabei das Motiv ausgeprägt, das Seelenheil des Gebers zu sichern. Über die verschiedenen Entwicklungen wölbte sich im Zeichen der Gegenreformation die Strategie, Seelen zu erobern, die sich auch in der Armenfürsorge auswirkte. Die Armen wurden „nicht nur Gegenstand, sondern auch Werkzeug einer kirchlichen und moralischen Reform im großen Maßstab“ (Jütte 2000, S. 184). 5 5.1
Ansätze im 17. und 18. Jahrhundert Barmherzige Schwestern
Epochale Bedeutung für die Caritas und Diakonie gewann das Wirken von Vinzenz von Paul 1582–1660) und Louise de Marillac (1591–1660) in Frankreich. Vinzenz von Paul gründete seit 1617 zahlreiche regionale Caritasvereine, die Armen und Kranken beistanden. Aus der Zusammenarbeit mit Louis de Marillac erwuchs 1633/34 die Gemeinschaft der Barmherzigen Schwestern. Mit ihr entstand die organisierte weibliche Krankenpflege im Abendland. Frauen, die die Pflege Kranker als Beruf ausübten, bildeten eine Gemeinschaft, die nicht der Klausur unterlag. Die Barmherzigen Schwestern konnten Kranke zuhause und in Hospitälern frei aufsuchen und pflegen. Die Schwestern kleideten sich einheitlich in der schlichten Tracht der Landfrauen, die aus einem grauen Kleid mit Haube bestand. In Paris entstand ein Mutterhaus, dessen Leitung Louise de Marillac übernahm. Der Dienst an armen Kranken sowie eine Spiritualität der Nachfolge Christi und der Selbstverleugnung sollte das Wirken der Schwestern prägen. Aus der Gemeinschaft, die 1635 gerade mal zwölf Mitglieder zählte, erwuchs die größte Frauengemeinschaft der katholischen Kirche, die heute den Namen Association Internationale de Charité (Internationale Verbindung der Barmherzigkeit) trägt. Daneben gibt es zahlreiche Frauengemeinschaften auf der ganzen Welt, die sich als „Vinzentinerinnen“ oder „Barmherzige Schwestern vom hl. Vinzenz von Paul“ bezeichnen. 5.2
Pietismus
In Deutschland brachte der Dreißigjährige Krieg (1618–1648) die obrigkeitliche Armenfürsorge fast vollständig zum Erliegen. Die nach dem Friedensschluss in den deutschen Territorien installierten Ordnungen knüpften dann erneut an die Prinzipien der Armenfürsorge des 16. Jh. an: Jede Stadt und Gemeinde hatte ihre Armen selbst zu versorgen. Der Bettel, der durch den Krieg eine neue Dimension angenommen hatte, sollte beseitigt und die Versorgung der wirklichen Armen sichergestellt werden. Im Zeichen des Absolutismus wurden Städte und Gemeinden nun aber in den staatlichen Verwaltungsapparat
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einbezogen und von den landesherrlichen Direktiven abhängig. Zugleich formten sich neue diakonisch-soziale Initiativen aus, die im Pietismus einerseits und in der Aufklärung andererseits wurzelten. Der Pietismus stellt sich als eine Erneuerungsbewegung dar, der reformatorischen Grundanliegen neu Geltung zu verschaffen suchte. Philipp Jakob Spener (1635–1705) entwickelte die Leitkategorien der Bewegung, die erhebliche geistes- und sozialgeschichtliche Wirkungen zeitigte. Wiedergeburt und Heiligung bezeichnen die Grundelemente einer Herzensfrömmigkeit, die die Erstarrung des kirchlichen Lebens überwinden wollte und eine Alternative bot zu den neuen Weltentwürfen mit ihrer Betonung der Vernunft. Mit der Aufklärung und dem „Projekt Moderne“ war der Pietismus zugleich durch die Leitvorstellungen der Individualität und der „Hoffnung zukünftig besserer Zeiten“ verbunden. Die Wiederentdeckung lebendiger Gemeinschaft sowie die Reformulierung des allgemeinen Priestertums zielten auf eine Stärkung der „Laien“ und setzten eine bemerkenswerte Handlungsdynamik frei. Mehr noch als durch Spener gewann der Pietismus durch August Hermann Francke (1633– 1727) Ausstrahlungskraft. Mit dem Waisenhaus in Halle/Saale erhielt der Pietismus ein prägendes Zentrum. Die Gründung des Waisenhauses markiert zugleich einen Einschnitt in der Geschichte der Diakonie in Deutschland. Ein neuer Typus von Diakonie entstand: die durch Privatinitiative begründete, von Gleichgesinnten unterstützte Anstalt. Aus unscheinbaren Anfängen entwickelte sich seit 1695 ein Organismus von Erziehungsanstalten, eine einzigartige Schulstadt. 1727, im Todesjahr Franckes, unterrichteten 98 Lehrer 1725 Schüler in der „Deutschen Schule“, 32 Lehrer und drei Inspektoren ca. 400 Schüler in der „Lateinischen Schule“, 27 Lehrer und ein Inspektor 82 Schüler im „Paedagogium Regium“. Im Waisenhaus befanden sich 100 Jungen und 34 Mädchen unter der Aufsicht von zehn Erziehern. Das Besondere des Waisenhauses lag darin, dass Waisen und verwahrloste Kinder einen auf sie zugeschnittenen förderlichen Lebensraum fanden. Franckes Pädagogik folgte einer doppelten Zielbestimmung: Sie sollte zur „wahren Gottseligkeit“ führen, d.h. zur Einfügung des menschlichen Willens in den Willen Gottes, und zur „christlichen Klugheit“ erziehen, d.h. die von Gott geschenkte Begabung des Einzelnen zur Entfaltung bringen. In der Finanzierung beschritt Francke neue Wege. Zunächst ganz und gar auf Spenden angewiesen, gliederte er der diakonisch-pädagogischen Anstalt nach und nach Betriebe an (Buchdruckerei, Verlag, Apotheke, Landwirtschaft, Steinbruch), die der wirtschaftlichen Absicherung des Sozialunternehmens dienten. Die Konzeption des Waisenhauses wird deutlich auf dem Hintergrund der Arbeits- und Zuchthäuser, die sich in der zweiten Hälfte des 17. Jh. verbreiteten. Sie wurden als sozialpolitische „Allzweckwaffe“ zur Lösung ganz unterschiedlicher Probleme angesehen. Kranke und Irre, Arme, Arbeitslose und aufsässiges Gesinde, Waisen und missratene Kinder wurden – kaum voneinander getrennt – in den Häusern untergebracht. Notdürftige Versorgung, Strafe,
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Disziplinierung und Arbeitszwang – diese Mischung unterschiedlicher Funktionen und Ziele prägte die Einrichtungen. Das Hallesche Waisenhaus repräsentiert das Modell einer Anstalt, das epochemachend gewirkt hat. Demgegenüber entstand in Herrnhut ein Gemeindeprojekt, das in der protestantischen Frömmigkeitsgeschichte einzigartig ist. Unter Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) entwickelte sich eine Freiwilligkeitsgemeinde, in der der Diakonie fundamentale Bedeutung zukam. Neue diakonale Ämter bildeten sich aus: Armenpfleger, Helfer, Krankenwärter. Auf den Gebieten der Erziehung, der Armen- und Krankenpflege und des nach sozialen Kriterien gestalteten Wirtschaftslebens gewann die Herrnhuter Gemeindediakonie Profil. Dem Herrnhuter Experiment eignet der Charakter einer „Kontrastgesellschaft“, die sich mit ihrem egalitären Grundzug abhob von der Ständegesellschaft der spätbarocken Zeit. Das Leben der Gemeine war zugleich ausgerichtet auf die Sache Christi in der Welt und in einen weiten ökumenischen Zusammenhang eingebettet. 5.3
Humanität aus christlicher Verantwortung
Als sich die dem radikalen Pietismus zuzurechnende Herrnhuter Brüdergemeine ausbildete, war die Strahlkraft des Pietismus bereits im Schwinden begriffen. Seit den 1730er Jahren gewannen aufklärerische Tendenzen an Einfluss. Die Variante der Aufklärung, in der sich Vernunft, christliche Frömmigkeit und soziale Empfindsamkeit verbanden, begründete einen Humanismus, in dem die Religion Christi ihren authentischen Ausdruck finden sollte. Mit Bezug auf Mt 25,31 ff. konnte etwa Johann Gottfried Herder (1744–1803) von Christus bekennen: „Er war es selbst einst, der Menschlichkeit/ Die Menschen lehrte, der Erbarmen, Sanftmut/ Und Milde zur Religion uns gab“ (Herder 1991, S. 753). Von solchem Geist getragen, entstanden literarische Zirkel und Zeitschriften, in denen Fragen der Armenpflege lebhaft verhandelt und die „edlen Menschenfreunde“ und „wohlgesinnten Bürger“ zur Hilfe aufgerufen wurden. Evangelische, aber auch katholische Dorfpfarrer verstanden sich als Volksaufklärer. Die Praxis der Pfarrer-Sozialarbeiter schloss facettenreiche Bildungsimpulse zur Bewältigung des Alltags und zur Verbesserung der Lebensbedingungen ein. Die Skala der Themen reichte dabei vom Arbeitsethos über Hygiene und Nahrungsmittelproduktion bis zur differenzierten Unterstützung Bedürftiger (Kuhn 2019). Der katholische Theologe Franz Stephan Rautenstrauch (1734–1785) entwickelte entsprechend eine Theorie pastoraler Seelsorge, die auch und gerade die materielle Unterstützung der Armen und die dauerhafte Behebung der Armut zum Gegenstand hatte (Rautenstrauch 1777). Besondere Betonung fand der Gedanke der Erziehung. Das Interesse galt dabei insbesondere armen und verwahrlosten Kindern. Johann Heinrich Pestalozzi (1746–1827) entwickelte bahnbrechende Ideen, die auf „die Errettung der im niedersten Stand der untersten Menschheit vergessenen Kinder“ (Pestalozzi 1977, S. 20) zielten. Patriotische Gesellschaften riefen gemeinnützige Anstal-
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ten ins Leben, die Not mildern sollten – z.B. Sparkassen, Witwen- und Waisenkassen. Die Patriotische Gesellschaft in Hamburg initiierte schließlich 1788 eine Armenanstalt, die Modellcharakter gewann. Christliches Ethos, Ehrenamtlichkeit im Sinne bürgerlicher Verantwortung, Arbeitszwang sowie ergänzende Almosen und kommunale Arbeitsbeschaffung waren die Aspekte, die hier zum Tragen kamen. Pietismus und Aufklärung waren im Blick auf die Frage der Sündhaftigkeit des Menschen und seine Erlösungsbedürftigkeit zutiefst geschieden. Dass sie gleichwohl miteinander verwoben werden konnten, zeigt sich bei Pestalozzi ebenso wie bei Johann Friedrich Oberlin (1740–1826). Im Denken Pestalozzis kommen aufklärerisch-philanthrophische und pietistische Einflüsse zur Geltung. Bei Oberlin verschränken sich aufklärerische Ideen und Herrnhuter Gedankengut. Oberlin, Pfarrer im strukturschwachen elsässischen Steintal, durchformte das Gemeinwesen diakonisch. In exzeptioneller Weise trug er zur Entwicklung von Befähigungsprozessen bei, die auf die Lebenspraxis und den Broterwerb zugeschnitten waren, sowie zur Gestaltung gemeindlicher Diakonie und lebensfördernder regionaler Strukturen. Zusammen mit Sara Banzet gründete Oberlin Strickschulen und Kleinkinderschulen. Mit der Einrichtung eines gemeindlichen Diakonissenamts wurde er zum Wegbereiter der Wiederentdeckung des Diakonats im Protestantismus. Der Verbesserung des ärmlichen dörflichen Lebens dienten vor allem Maßnahmen zur Anlegung von Straßen und Brücken sowie die Einführung moderner Saat- und Anbaumethoden. In den Bewegungen des Pietismus und der Aufklärung spiegelt sich der Prozess gesellschaftlicher Differenzierung. Seit 1700 setzte eine Entwicklung ein, in der sich Staat und Gesellschaft, der Bereich des Politischen und die Sphäre des Sozialen, verfasstes Kirchentum und öffentliches und privates Christentum allmählich ausdifferenzierten. In diesen Prozess waren auch die diakonischen Initiativen des 19. Jh. eingebettet. 6
Diakonische Erneuerungsbewegungen im 19. Jh.
Das 19. Jh. war durch tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen geprägt, die im Pauperismus und in der Sozialen Frage ihren spezifischen Ausdruck fanden. Da übergreifende staatliche Strukturen fehlten bzw. die vorhandenen auf die neu entstehenden Nöte nur bedingt reagierten, mussten die kleineren sozialen Gemeinschaften, etwa die Kommunen, verstärkt Verantwortung für die neuen gesellschaftlichen Aufgaben übernehmen. Zahlreiche Städte hatten sich um die Wende vom 18. zum 19. Jh. neue Armenordnungen gegeben, die jedoch angesichts der gewaltigen Veränderungen zu kurz griffen. Im Zusammenhang massenhafter Notstände und inadäquater Hilfestrukturen entstanden konfessionelle Erneuerungsbewegungen, die den Wurzelgrund moderner Diakonie und Caritas bilden. Charismatische Einzelne und christliche Assoziatio-
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nen gründeten seit den 1830er Jahren eine Vielzahl von sozialen Initiativen und Einrichtungen. Verwoben mit der bürgerlichen Vereinsbewegung gewann Diakonie weitgehend außerhalb kirchlicher Amtsstrukturen neu Gestalt. Sie formte sich aus in Werken des „freien christlichen Erbarmens“ (Wichern 1959, S. 251), die darauf zielten, die Erstarrung der Amtskirchen aufzubrechen und angesichts zunehmender Entkirchlichung sowie der Herausforderungen durch die Massenarmut und die Soziale Frage den Auftrag der Kirche und der Christen neu zu profilieren. Innovative und geschichtlich prägende Initiativen entwickelten sich vor allem in Handlungsfeldern der Kinder- und Jugendhilfe, der Krankenpflege sowie der Unterstützung von Gesellen und Wanderarbeitern. Damit verbanden sich neue Lebensformen und Berufsbilder. Angesichts der Zunahme von Straßenkindern im Zusammenhang der napoleonischen Kriege und von Kindern, die in großstädtischen Elendsquartieren aufwuchsen, kam es zur Gründung von Rettungshäusern, von denen das von dem evangelischen Theologen Johann Hinrich Wichern (1808–1881) ins Leben gerufene Rauhe Haus (1833) das bekannteste ist. Es fußte auf einer sozialpädagogischen Konzeption, die „verwahrlosten“ Jugendlichen eine Lebensperspektive im Licht des Evangeliums zu eröffnen trachtete. Das Rettungshaus stellte ein freies, vom Staat unabhängiges Werk dar. Das Familienprinzip war für die Organisation prägend. Erziehung und Bildung sollten im Zeichen der Kräfte des Reiches Gottes, der Vergebung, Liebe und Freiheit, geschehen. Bereits das Aufnahmeritual machte dies sinnenfällig: Vor dem Hintergrund seiner bisherigen Lebensgeschichte hörte ein Mädchen oder ein Junge im Rauhen Haus: „Mein Kind, dir ist alles vergeben! Sieh um dich her, in was für ein Haus du aufgenommen bist! Hier ist keine Mauer, kein Graben, kein Riegel; nur mit einer schweren Kette binden wir dich hier […] diese heißt Liebe und ihr Maß ist Geduld. − Das bieten wir dir, und was wir fordern, ist zugleich das, wozu wir dir verhelfen wollen, nämlich dass du deinen Sinn änderst und fortan dankbare Liebe übest gegen Gott und Menschen“ (Wichern 1958, S. 251).
Zur sozialen Dimension der Freiheit gehörte ein verantwortliches Leben in den grundlegenden „Lebensformen“ der Familie, der Kirche, der Schule und der Arbeit, die sich im Rauhen Haus durchdrangen. Wichern gliederte dem Rettungshaus 1843 eine Einrichtung zur Ausbildung von „Brüdern“ an und legte damit die Grundlagen für das Berufsbild des Diakons. Seit den 1830er Jahren bildeten die Kleinkinderschulen neuartige Erziehungseinrichtungen. Konzeptionell durchdrangen sich bei den konfessionellen Kinderpflegen diakonische, pädagogische und spezifisch religiöse Zielsetzungen: Kleinkinder vor allem aus armen Familien sollten Schutz vor Not und Verwahrlosung erfahren, individuell gefördert, zu sittlichem Verhalten angeleitet und zur „Hingabe an den Herrn“ erzogen werden. Der evangelische Pfarrer Theodor Fliedner (1800–1864) gründete 1836 in Kaiserswerth (Düsseldorf) eine Kleinkinderschule, die Modellcharakter im evangelischen Bereich und darüber
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hinaus gewann. Seine Initiative galt als Ausdruck christlicher Liebespflege den „armen Kindlein, die in unseren Fabrikstädten oft so verwahrlost (sind) und verkommen, und, der Pflege der durch Fabrikarbeit vielfach beschäftigten Mütter beraubt, dahinsiechen, oft elend und verschmachtend“ (Fliedner 1908, S. 285). Die Leitung der Kleinkinderschulen übernahmen in den meisten Fällen evangelische Diakonissen und katholische Ordensschwestern. Für die Entwicklung der katholischen Hilfekultur in Deutschland (vgl. Gatz 1982) bedeutsam wurde der 1817 in Koblenz von Laien gegründete Caritasverein. Nachdem der Verein zunächst angesichts einer Hungersnot Hilfe organisiert hatte, weitete er seine Aktivitäten kontinuierlich aus. Dazu gewann er „Barmherzige Schwestern“ aus Frankreich für die Armen- und Krankenpflege. In Koblenz begegnen paradigmatisch die beiden Hauptformen der Caritas: Vereine und Frauenkongregationen. Clemens Brentanos wirkmächtige Darstellung „Die Barmherzigen Schwestern in Bezug auf Armen- und Krankenpflege“ (1831) sorgte dafür, dass das Wirken der Ordensfrauen weithin als Ideal katholischer Caritas angesehen worden ist. Aufgeschreckt durch die katastrophalen Verhältnisse in den Hospitälern und zugleich angeregt durch das Modell katholischer Pflegegenossenschaften nahmen sich Fliedner, seine erste Frau Friederike Fliedner (1800–1842) und seine zweite Frau Caroline Fliedner (1811–1892) der Krankenpflege an. Das von den Fliedners 1836 in Kaiserswerth gegründete Diakonissenmutterhaus verband eine Professionalisierung der Krankenpflege mit der Lebensform der Diakonisse. Fliedners Konzeption der Diakonisse bot unverheirateten evangelischen Frauen die Möglichkeit einer gesellschaftlich anerkannten Berufsarbeit und einer geistlichen Gemeinschaft. Diakonissen kamen in Krankenhäusern zum Einsatz und in den entstehenden Gemeindepflegestationen, in denen sie Kranken- und Armenhilfe verbanden und die evangelische Gemeindediakonie bis in die 1960er Jahre hinein prägten. Von dem katholischen Priester Adolph Kolping (1813–1865) gingen maßgebliche Impulse für die Gründung von Einrichtungen aus, die wandernden Handwerksgesellen eine günstige Unterkunft boten und zugleich das Ziel hatten, sie von als negativ apostrophierten sittlichen und politischen Einflüssen fernzuhalten. Er legte damit das Fundament für die späteren Kolpinghäuser und das Kolpingwerk, die bis heute bestehen. Auf evangelischer Seite entstanden auf Initiative Wichers hin „Herbergen zur Heimat“, die ihre Weiterführung in sog. Arbeiterkolonien fanden, die Friedrich von Bodelschwingh (1831–1910) zur Unterstützung von Wanderarmen ins Leben rief. Die neu sich bildenden Projekte, Einrichtungen und Berufe richteten sich darauf, unmittelbare Nothilfe zu leisten. Sie waren aber darüber hinaus Teil der Bestrebungen, die Kirchen in diakonischer Perspektive zu erneuern und die Gesellschaft mit christlichem Geist zu durchdringen. Die Propagierung freiwilliger Armut und der Stiftungspraxis sowie Reformen der Dritten Orden im ka-
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tholischen Bereich sollten Zugänge zum Industrieproletariat schaffen. Dem entsprach Wicherns Kritik an einer gegenüber den sozialen Verwerfungen indifferenten und meilenweit von den Proletariern entfernten Kirche und seine Forderung, das allgemeine Priestertum und damit die Weltverantwortung jeder Christin und jedes Christen neu zur Geltung zu bringen und kirchliche Gehstrukturen aufzubauen. Diese Motive haben Eingang gefunden in Wicherns Konzeption der Inneren Mission und die Gründung des Central-Ausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche (CA) im Gefolge des Wittenberger Kirchentags 1848. Aus dem CA ist im 20. Jh. das Diakonische Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland bzw. die Diakonie Deutschland hervorgegangen. Mit der Etablierung des Central-Ausschusses erhielten die vielen verschiedenen evangelischen Initiativen eine theoretische Fundierung, einen organisatorischen Rahmen und eine strategische Ausrichtung. Das Programm der Inneren Mission stellt sich als Ausdruck eines spezifischen Krisenbewusstseins dar und ist von Wichern als eine Art Masterplan gesellschaftlicher Erneuerung konzipiert worden. Die Innere Mission dient der „Ausbreitung des göttlichen Reichs inmitten der verfallenden Christenheit“ (Wichern 1869, S, 14) und zielt auf die Re-Formation kultureller Einheit unter dem Vorzeichen des Christentums. Innere Mission schließt zwar nach Wichern diakonisches Handeln im Sinne der den Armen zugewandten Liebespflege ein, erstreckt sich aber darüber hinaus auf alle gesellschaftlichen Schichten und richtet sich auf die Erneuerung aller Lebensbereiche und der sie tragenden Institutionen (Familie, Kirche, Staat). Die prinzipiell auf die gesamte Gesellschaft ausgerichtete Innere Mission hat ihr Leitkriterium für Wichern darin, dass die Liebe zu den Armen alles umschließen muss. Zur charakteristischen Organisationsform des freien Werks wurde der Verein. Insbesondere vier Tendenzen kennzeichnen die weitere Entwicklung konfessioneller sozialer Arbeit bis zum Ende des Jahrhunderts bzw. bis zum Ersten Weltkrieg: Kennzeichnend ist erstens, dass das Projekt der Inneren Mission in der Zielsetzung umfassender Rechristianisierung restaurative Züge trug, sich in seinen strukturellen Differenzierungsleistungen und Kommunikationsformen aber als ausgesprochen modern erwies. Während das Programm gesellschaftlicher Re-Formation zum Scheitern verurteilt war, wurde die Innere Mission weithin zum Synonym für evangelische Liebestätigkeit. Die diakonischen Handlungsfelder differenzierten sich stetig weiter aus. Damit ging ein fortschreitender Prozess der Institutionalisierung und Organisierung einher. Stadtmissionen etablierten sich mit vielfältigen Unterstützungsangeboten für Menschen in prekären Lebenssituationen. Amalie Sieveking (1784–1859) gründete einen „Weiblichen Verein für Armen- und Krankenpflege“ in Hamburg – als Beitrag zu einer ehrenamtlich getragenen offenen Armenpflege. Darüber hinaus entwickelten sich Anstalten als prägende Orte der Barmherzigkeit: Wilhelm Löhe (1808–1872) gestaltete ab 1854 ein Diakonissen-Mutterhaus auf lu-
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therischer Grundlage in Neuendettelsau. Gustav Werner (1809–1887) versuchte in Reutlingen und Umgebung mit dem Bau von Fabriken zu demonstrieren, dass das Reich Gottes in der Industrie zu verwirklichen sei. Julius Disselhoff (1827–1896) lenkte den Blick auf die „Lage der Cretinen, Blödsinnigen und Idioten“ (1857) und regte damit die Gründung von Hephata, einer Heil- und Pflegeanstalt für „blödsinnige Kinder Rheinlands und Westfalens“ bei Mönchengladbach an (Maaser/Schäfer 2016, S. 198). Spezifische Strahlkraft entfaltete unter der Leitung Friedrich von Bodelschwinghs (1831–1910) Bethel. Die „Stadt der Barmherzigkeit“ galt in Kreisen der Inneren Mission als „christlicher Gegenentwurf zur Verstädterung in der modernen Industriegesellschaft. [...] Die ‚Stadt auf dem Berge‘ stellte beispielhaft vor Augen, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der die Kräfte der Inneren Mission Säkularisierung und Entsittlichung überwunden und Familie, Kirche und politisches Gemeinwesen mit dem Geist des christlichen Denkens durchdrungen hatten“ (Benad 1998, S. 122). Zweitens: Einerseits verfestigte sich die Innere Mission als eine Art Zweitstruktur neben den evangelischen landeskirchlichen Strukturen. Andererseits sollte die seit den 1890er Jahren forcierte Ausformung der Gemeindediakonie einen kirchlich-sozialen Aufbruch signalisieren und einen spezifischen Beitrag zur gesellschaftlichen Versöhnung leisten. Auch wenn diakonische Elemente zunehmend Eingang in die Kirchengemeinden fanden, blieb das Verhältnis zwischen Innerer Mission und verfasster Kirche weitgehend ungeklärt. Drittens: Ernst Troeltsch hat mit einigem Recht geurteilt, die Innere Mission sei dem alten Prinzip der Karität verhaftet geblieben und habe dadurch den Anschluss an moderne Entwicklungen der Sozialpolitik nicht herstellen können. Umso mehr verdient festgehalten zu werden, dass z.B. Theodor Lohmann (1831–1905), Mitgestalter der Bismarckschen Sozialgesetzgebung, eine Position vertrat, die auf die Überschreitung individueller Liebestätigkeit drang und auf strukturelle Reformen zielte. Während es auf evangelischer Seite einzelne Persönlichkeiten wie Lohmann waren, die soziale Reformen forderten, kamen im Katholizismus programmatische Vorschläge aus dem Raum der verfassten Kirche. Insbesondere der Mainzer Bischof von Ketteler (1811–1877), Mitbegründer der Zentrumspartei (1870), stellte die sog. Arbeiterfrage in den Fokus sozialethischer Überlegungen und forderte vom Staat zu gewährleistende Rahmenbedingungen: leistungsgerechte Entlohnung, Verkürzung der Arbeitszeit, Gewährung von Ruhetagen, Verbot der Fabrikarbeit für schulpflichtige Kinder. Die Realisierungschancen dieser Forderungen wurden freilich dadurch gemindert, dass sie stets mit Kritik an „antireligiösen“ Zügen des Liberalismus und Sozialismus verquickt waren. Viertens wurde – angeregt durch die Arbeit des Centralausschusses für die Innere Mission – 1897 der Charitas-Verband für das katholische Deutschland ins Leben gerufen – als „Teil der vereinsgebundenen Durchorganisation des katholischen Milieus insgesamt“ (Frie 1997, S. 25). Durch die Verbandsgrün-
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dung sollten die Werke der Nächstenliebe gefördert und – so Lorenz Werthmann (1858–1921), der erste Präsident des Verbands, – die Caritas in ihrer Aufgabe gestärkt werden, staatliche Maßnahmen zu ergänzen, „Pfadfinderin zu sein für staatliche gesetzgeberische Aufgaben“ (zit. n. Maaser/Schäfer 2016, S. 296) und in einer sozial zerklüfteten Gesellschaft versöhnend zu wirken. Der Charitas-Verband stellte sich bewusst unter die Autorität der Bischöfe. Allerdings fand der neue Verband zunächst weder beim Episkopat noch bei den Orden, Vereinen und Anstalten ungeteilte Akzeptanz. Deshalb kam die intendierte Durchstrukturierung des caritativen deutschen Katholizismus von der Pfarrgemeinde über die Diözese bis hin zur Reichsebene in der Zeit des Kaiserreichs nicht zustande. 7
Konfessionelle Wohlfahrtsverbände in der Weimarer Republik
In der Weimarer Republik gewannen sozialpolitische Aufgabenstellungen Verfassungsrang. In Fortsetzung von Trends aus der Vorkriegszeit wurde das duale System der Wohlfahrtspflege 1922/24 gesetzlich verankert. Die Durchsetzung des aus der katholischen Soziallehre stammenden Subsidiaritätsprinzips hatte zur Folge, dass die freien Wohlfahrtsverbände offiziell bei der Erfüllung von Fürsorgeaufgaben und entsprechend bei der Mittelverteilung einbezogen wurden. Die beiden konfessionellen Sozialverbände wandelten sich zu Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege. Die Konsolidierung des Caritasverbands war mit dem engen Anschluss an die Amtskirche verbunden. Gleichzeitig schlossen sich die anerkannten Verbände der freien Wohlfahrtspflege zusammen, um ihre Interessen zur Geltung zu bringen und die Kooperation mit der Reichsadministration zu regeln. Neben CA und Caritas-Verband entstanden die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (1917), die Arbeiterwohlfahrt (1919), das Deutsche Rote Kreuz (1921) und der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband (1924); mit Ausnahme der AWO schlossen sie sich 1924 zur Deutschen Liga der Freien Wohlfahrtspflege zusammen. Die Integration der Inneren Mission und der Caritas in den Wohlfahrtsstaat hatte gravierende Folgen: Erstens konnten die konfessionellen Träger ihre nun durch öffentliche Mittel abgesicherten Einrichtungen und Dienste beträchtlich ausweiten und ausdifferenzierten. Damit war – zweitens – eine weitergehende Professionalisierung sozialer Arbeit verbunden. Die Bedeutung ehrenamtlichen Engagements ging zurück. Entsprechend der eminent gestiegenen Bedeutung hauptberuflich tätigen Personals stieg die Zahl der konfessionellen Ausbildungsstätten an. Die evangelischen und katholischen Sozialen Frauenschulen und die neu gegründeten konfessionellen Wohlfahrtsschulen bildeten nicht nur für die Eigenbedarfe von Caritas und Innerer Mission aus, sondern darüber hinaus für den Gesamtbereich der Wohlfahrtspflege. Drittens war im Spannungsfeld von wohlfahrtsstaatlichen Rahmenbedingungen, Ansprüchen des Hil-
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fesuchenden, beruflichen Standards und christlichen Grundmotiven die Frage nach der Identität konfessionellen Hilfehandelns in neuer Weise aufgeworfen. Darin liegt bis heute eine eminente Herausforderung. Insbesondere in der Logik der Inneren Mission lag der Verweis auf eine religiöse Tiefendimension helfenden Handelns. Das Spezifikum christlichen Beistandshandelns konnte entsprechend darin gesehen werden, dass es „nicht nur äußerliche, sondern ewige, über alle irdischen Verhältnisse und über alle Zeit hinausreichende Gotteshilfe vermitteln will“ (Steinweg 1928, S. 175). Ein vierter Punkt betrifft das Verhältnis zum Staat: Die Innere Mission hatte sich mit dem Kaiserreich als einem protestantischen Staat identifiziert und im sozialen Bereich die führende Rolle beansprucht und weitgehend auch gespielt. Dagegen stand sie der Weimarer Republik skeptisch gegenüber. Sie nutzte die Chancen, die der neue Wohlfahrtsstaat eröffnete, ohne sich mit der Staats- und Gesellschaftsverfassung insgesamt zu identifizieren. Die politische Arena wurde dem Caritasverband mit seiner Nähe zum Zentrum überlassen. Der Deutsche Caritasverband focht im politischen Raum so erfolgreich für die freie und die konfessionelle Wohlfahrtspflege, dass die IM auf eigene Politikbeiträge weitgehend verzichten konnte (vgl. Kaiser 1996, S. 172). 8
Caritas und Innere Mission im „Dritten Reich“
Der Wohlfahrtsstaat war bis zum Beginn der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre arbeitsfähig. Nach 1933 verboten die Nationalsozialisten die Wohlfahrtsverbände oder versuchten, sie gleichzuschalten. Bei Caritas und Innerer Mission gelang dies insgesamt aufgrund ihrer Größe und des christlichen Hintergrunds der Arbeit nicht. Gleichwohl waren sie vielfältigen staatlichen Eingriffen ausgesetzt, z.B. durch das Steuerrecht oder nach 1942 durch Beschlagnahme und Schließung ganzer Einrichtungen. Zu zentralen Herausforderungen für die Innere Mission wurden die Sterilisierungspolitik und die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. In der Folge des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ (1934) wurden von 1934 bis 1939 etwa 350.000 Menschen ihrer Fortpflanzungsfähigkeit beraubt. Auch in Einrichtungen der IM wurden zahlreiche Zwangssterilisationen durchgeführt. Vom 1.1.1934 bis Ende 1935 ist eine Zahl von 8.856 Unfruchtbarmachungen belegt (vgl. Nowak 1998, S. 240). Dagegen verweigerten katholische Instanzen unter Berufung auf die kirchliche Sittenlehre jede aktive Mitwirkung bei der Zwangssterilisierung (vgl. Gatz 1982, S. 341). Auf der Grundlage eines auf den 1. September 1939, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierten, von Hitler unterschriebenen Ermächtigungsschreibens begann die nationalsozialistische „Euthanasie“, die Vernichtung „lebensunwerten Lebens“. Die Reaktionen innerhalb der Inneren Mission und Caritas wiesen eine erhebliche Bandbreite auf. Zu einer einmütigen Haltung der Ablehnung oder gar eines gemeinsamen Protests kam es nicht. Es waren mutige
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Einzelne, die gegen die „Euthanasie“ Stellung bezogen. Auf evangelischer Seite ist insbesondere Paul Gerhard Braune (1887–1954), der Leiter der Lobetaler Anstalten und Vizepräsident des Centralausschusses für die Innere Mission, zu nennen. Seine an Hitler adressierte Denkschrift (Juli 1940) stellt eine zeitgenössisch einzigartig detaillierte Dokumentation der Verbrechen dar. Die Predigten des katholischen Bischofs von Münster, August von Galen (1878–1946), veranlassten Hitler im August 1941 dazu, die Mordaktion an geistig Behinderten und psychisch Kranken offiziell zu stoppen (vgl. Lob-Hüdepohl/Eurich 2018). 9
Nothilfe und mehr – die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg
Institutionell gesehen entwickelten sich die konfessionellen Verbände nach dem Zweiten Weltkrieg unterschiedlich; die Herausforderung durch die unvorstellbare Not der Zusammenbruchgesellschaft war indes für beide gleich. In einer Proklamation der Caritas vom November 1945 heißt es: „Seht, wo Kinder und Alte hungern und frieren, Armut Not leidet, Kleider fehlen, Kranke unversorgt sind. Nehmt Euch der Versehrten liebevoll an. Öffnet den Flüchtlingen und den Obdachlosen Türen und Herzen. Teilt Eure Kartoffeln mit den Hungernden“ (zit. n. Wollasch 1978, S. 229).
Da eine übergreifende staatliche Ordnung nicht mehr existierte, übernahmen die konfessionellen Organisationen und Dienste faktisch die Funktion sozialstaatlichen Handelns. Der Deutsche Caritasverband war nach dem Ende des „Dritten Reichs“ weitgehend organisatorisch intakt und handlungsfähig. Auf evangelischer Seite trat neben die Innere Mission das im August 1945 gegründete „Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in Deutschland“. Caritasverband und Hilfswerk initiierten Maßnahmen zur Überlebenshilfe. Sie mobilisierten Selbsthilfe in Deutschland und erbaten Unterstützung von ausländischen Kirchen und Organisationen. Schätzungsweise über 200 Kirchen und zumeist christlich geprägte Hilfsorganisation in mehr als 300 Ländern ließen nach 1946 den Deutschen „Liebesgaben“ zukommen, die sich zu einem Gesamtgewicht von weit über 600 000 Tonnen im Wert von 1,2 Milliarden Mark summierten. Leitend wurde zunehmend das Prinzip, Selbsthilfe und Auslandshilfe zu kombinieren. Neben der allgemeinen Nothilfe entwickelte sich die Flüchtlings- und Vertriebenenhilfe zu einem Schwerpunkt des Caritasverbands und des Hilfswerks. Lebensmittel- und Kleiderspenden, Rechtsberatung, Vermittlung von Darlehen, Berufsausbildung Jugendlicher, Förderung von Bauvorhaben durch Siedlungsgenossenschaften sowie Bildung von Hilfskomitees der aus den Ostgebieten Geflohenen und Vertriebenen waren Maßnahmen, die auf gesellschaftliche Integration zielten.
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Über die Mobilisierung von Nothilfe hinaus entwickelten der Caritasverband wie das Hilfswerk weiterreichende Vorstellungen, die die Aufgaben und Möglichkeiten gesellschaftlicher Mitgestaltung betrafen. Die Caritas verknüpfte ihre „staatssubstituierende Sozialarbeit“ (Frie 1997, S. 36) mit ehrgeizigen gesellschaftlichen Rechristianisierungsperspektiven. Zugleich fand die verstärkte Verschränkung mit den kirchlichen Strukturen ihren Ausdruck in dem Postulat, die Pfarrgemeinden sollten „rechte Liebesgemeinden“ (zit. n. Frie, S. 37) werden. Kennzeichnend für das Hilfswerk war zum einen dessen Selbstverständnis als Werk der verfassten Kirche. Zum zweiten wurde „Diakonie“ zum Programmbegriff erhoben. Schließlich plädierte Eugen Gerstenmaier, der erste Leiter des Hilfswerks, für eine Ausweitung des Diakoniegedankens in Richtung der Gesellschafts- und Sozialpolitik: „Es ist das Vorrecht der Christen, Wunden zu verbinden, Barmherzigkeit zu üben und Trost zu spenden. Aber es ist nicht minder das Recht, ja die Pflicht der Christenheit, dem Streit zu wehren, Wunden zu verhindern, für die Gerechtigkeit in den Kampf zu gehen und verzweifelte Lebensbedingungen zu Lebensmöglichkeiten zu wandeln“ (Gerstenmaier 1948, S. 98 f.).
In dieser Perspektive hat das Hilfswerk, als die Nachricht verbreitet wurde, die Alliierten würden 1947 über die Bedingungen eines Friedens mit Deutschland verhandeln, den Caritasverband aufgefordert, gemeinsame Vorstellungen zu sozialen Fragen, zum Flüchtlingswesen und zum Wirtschaftssystem zu entwickeln und zur Geltung zu bringen (vgl. Wischnath 1986, 149 ff.). Insgesamt blieb die vom Hilfswerk intendierte „gesellschaftliche“ bzw. „politische“ Diakonie freilich äußerst umstritten. Nach der Währungsreform 1948 ging die Bedeutung der Nothilfe zurück. Das Hilfswerk verlor an Einfluss. Die Innere Mission mit ihren Schwerpunkten der halboffenen und stationären Hilfe konsolidierte sich. Es bahnte sich der Zusammenschluss der beiden evangelischen Werke an, der 1975 seinen Abschluss in der Bundesrepublik mit der Gründung des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland fand. Im Zuge der gesellschaftlichen Normalisierung Ende der 1940er Jahre wurden die mit der sozialen Nothilfe verknüpften Rechristianierungsträume der Caritas obsolet. Als Dank für die unmittelbar nach Kriegsende erhaltene Hilfe entstand 1959 im Bereich evangelischer Landes- und Freikirchen die Aktion „Brot für die Welt“. Im selben Jahr begann die erste Fastenaktion des katholischen Hilfswerks Misereor. Mit diesen Aktionen wurde die ökumenische bzw. internationale Verantwortung diakonischen Handelns institutionalisiert. 10
Diakonie und Caritas unter den Bedingungen der DDR
Im Gegensatz zu den anderen Ländern des Ostblocks wurden in der DDR und bereits zuvor in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) die diakonischen Tä-
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tigkeiten der Kirchen nicht gänzlich verboten (vgl. Kösters 2002). Doch hing der relative Freiraum von den politischen Maßgaben ab. Jugenderziehung war Aufgabe von Staat und Partei; diesen Bereich mussten konfessionelle Träger stark einschränken. Seit Anfang der 1960er Jahre gelang es, den Bestand der konfessionellen Krankenpflegeschulen zu sichern. Pionierarbeit leisteten Diakonie und Caritas in der Entwicklung von Berufsbildern und entsprechenden Ausbildungen, die im staatlichen Bereich nicht vorgesehen waren. Insbesondere mit dem Aufbau der Förderpflege und der Ausbildung in der Heimerziehungspflege setzten die Kirchen wichtige Akzente. Sie wehrten sich damit aktiv gegen die staatliche Ausgrenzung von Menschen mit geistiger Behinderung, die von jeglicher Förderung ausgeschlossen waren. Vor allem öffentlichkeitswirksame Aktivitäten standen unter besonderer Aufmerksamkeit von Staat und SED, so wurden etwa 1956 die Bahnhofsmissionen aufgelöst. Nach dem Grundsatzgespräch zwischen Vertretern des Staates und der Ev. Kirche 1978 erweiterten sich die Möglichkeiten für Diakonie und Caritas: Z.B. wurde die Möglichkeit der Seelsorge in staatlichen Heimen gewährt, und 1986 wurde die erste kirchliche Telefonseelsorge in der DDR eingerichtet. 11
Diakonie und Caritas im bundesdeutschen Sozialstaat
In der Bundesrepublik bedeutete die Verabschiedung des Bundessozialhilfegesetzes und des Jugendwohlfahrtsgesetzes im Jahr 1961 einen markanten Einschnitt im Verhältnis der institutionalisierten Diakonie und der Caritas zum Sozialstaat. In Anknüpfung an Regelungen der Weimarer Republik fand das sog. Subsidiaritätsprinzip Anwendung dergestalt, dass den freien Trägern ein bedingter Vorrang vor den öffentlichen Trägern eingeräumt wurde, bei gleichzeitiger Gewährleistungsverpflichtung der öffentlichen Träger gegenüber den individuellen Anspruchsberechtigten. Das deutsche korporatistische System bei der Fürsorge war wieder hergestellt. Die Gewährleistung persönlicher Dienstleistungen und die Wahlfreiheit des Hilfesuchenden waren für die konfessionellen Verbände auch die Schlüsselargumente, die den bedingten Vorrang der freien vor den öffentlichen Trägern rechtfertigten. 1967 bestätigte das Bundesverfassungsgericht die in den Sozialgesetzen von 1961 getroffenen Regelungen. Auf dieser Grundlage vollzog sich ein atemberaubender Expansionsprozess der institutionalisierten Diakonie und der Caritas. Die Angebote wurden ausgebaut und ausdifferenziert. Die Schwerpunkte verlagerten sich von stationären hin zu halboffenen und offenen Arbeitsformen. Bei der Gestaltung sozialer Hilfen kam es dabei zu einem pragmatischen bzw. partnerschaftlichen Zusammenwirken der Diakonie und Caritas mit ihren Einrichtungen und Diensten und dem Staat bzw. den Kommunen. Anfang der 1970er Jahre vollzogen die Kirchen die staatliche Entscheidung mit, die Höheren Fachschulen für Sozialpädagogik bzw. Sozialarbeit zu Fachhochschulen weiter zu entwickeln und damit eine Akademisierung der Ausbildung zu fördern. Etwa zur gleichen Zeit verschwand mit der Gemeindeschwester die Symbolfigur der evangelischen Gemeindediakonie; die Zahl der Ordensschwestern ging zurück.
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An die Stelle der Gemeindekrankenpflege traten flächendeckend Diakonie- und Sozialstationen. Die Einbeziehung der konfessionellen Wohlfahrtspflege in das sozialstaatliche Leistungssystem ließ schließlich verschärft nach der christlichen bzw. kirchlichen Identität, dem Auftrag und der Funktion von Caritas und Diakonie fragen. 12
Entwicklungen seit den 1990er Jahren
Im Rahmen der deutschen Einheit kam es zu einer Vereinigung der ost- und westdeutschen Diakonie und der Caritas. Seit der politisch forcierten Einführung der Sozialwirtschaft in den 1990er Jahren veränderten sich die Bedingungen für diakonisches Handeln grundlegend. Zugleich fordert der europäische Rahmen Prozesse der Neuorientierung. Zudem liegen in der Pluralisierung von Lebensformen sowie in neuen sozialen Polarisierungen eminente Herausforderungen für konfessionelles soziales Handeln. Verbände und Einrichtungen der Caritas wie der Diakonie reagierten auf die neu entstandenen Bedingungen durch die Erarbeitung von Leitbildern und entsprechende Restrukturierungen. 1997 verabschiedeten sowohl der Deutsche Caritasverband wie die Diakonische Konferenz ihr jeweiliges Leitbild. Schließlich reagierten die Verbände der Diakonie und Caritas auf die veränderten Herausforderungen auch in ihrer Organisationsentwicklung. Die neue Satzung des Deutschen Caritasverbands (2003) ist Ausdruck der Intention, die verbandlichen Aktivitäten effektiver und effizienter zu gestalten. In der Präambel der Satzung wird das Selbstverständnis des Caritasverbands so zum Ausdruck gebracht: „All sein Handeln dient dem Ziel, Menschen in ihrer Würde zu schützen, das solidarische Zusammenleben in einer pluralen Welt zu fördern und sich weltweit für ein Leben in Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden einzusetzen. Dieser Dienst der Liebe wird erfüllt durch die Werke von einzelnen Personen, christlichen Gemeinschaften und Gemeinden sowie durch die verbandliche Caritas. Sie trägt damit auch zum Aufbau und zur Weiterentwicklung kirchlicher Strukturen und zur Verlebendigung von Gemeinden bei. Als Wohlfahrtsverband der katholischen Kirche wirkt der Deutsche Caritasverband mit an der Gestaltung des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens. Durch sein Wirken trägt er zur Glaubwürdigkeit der kirchlichen Verkündigung in der Öffentlichkeit bei“ (Maaser/Schäfer 2016, S. 604).
Durch die Fusion des Diakonischen Werks der EKD mit dem Evangelischen Entwicklungsdienst erfolgte 2012 die Gründung des Evangelischen Werks für Diakonie und Entwicklung. Der Zusammenschluss zielt vor allem darauf, die nationale diakonische Arbeit mit der internationalen Entwicklungsarbeit zu verzahnen: „Der Dienst im Evangelischen Werk für Diakonie und Entwicklung ist den Zielen verpflichtet, unterschiedslos allen Menschen beizustehen, die in leiblicher Not, seelischer Bedrängnis, Armut und ungerechten Verhältnissen leben; die Ursachen dieser Nöte
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aufzudecken und zu benennen und zu ihrer Beseitigung beizutragen; den kirchlichen Beitrag zur Überwindung der Armut, des Hungers und der Not in der Welt und ihrer Ursachen in ökumenischer Partnerschaft zu gestalten; gemeinsam mit den ihn tragenden Kirchen und diakonischen Verbänden in Politik, Gesellschaft und Wirtschaft für eine gerechte Gesellschaft und eine nachhaltige Entwicklung einzutreten; Zeugnis einer gelebten Hoffnung auf das Heil zu geben, das in Jesus Christus allen Menschen verheißen ist“ (Maaser/Schäfer 2016, S. 632).
Die statistischen Zahlen zu Einrichtungen und Diensten der Caritas und der Diakonie dokumentieren die Bandbreite diakonischen Handelns und die Bedeutung konfessionellen Engagements für die Gesellschaft und den deutschen Sozialstaat. Mit Stichtag vom 1. Januar 2018 waren in Caritas und Diakonie zusammen rund 1,3 Mio. beruflich Mitarbeitende tätig. Hinzu kommen ca. 1,5 Mio. Ehrenamtliche. In 56.500 Einrichtungen und Diensten werden rund 2,23 Mio. Plätze und Betten vorgehalten. Der größte Bereich ist die Kinder- und Jugendhilfe (1,33 Mio. Plätze). In der Altenhilfe werden 325.000 und in der Behindertenhilfe 310.00 Plätze vorgehalten. In der Gesundheits- bzw. Krankenhilfe finden 167.000 Menschen Platz, in der Familienhilfe 10.000. Hinzu kommen sonstige soziale Hilfen mit 88.000 Plätzen/Betten (vgl. Die Diakonie in Zahlen 2019; Caritas-Statistik 2020). Literatur Benad, M. (1998): Eine Stadt der Barmherzigkeit. In: U. Röper/C. Jüllig (Hg.): Die Macht der Nächstenliebe. Einhundertfünfzig Jahre Innere Mission und Diakonie 1848–1998 (S. 122–129). Berlin. Brentano, C. (1831): Die Barmherzigen Schwestern in Bezug auf Armen- und Krankenpflege. Nebst einem Bericht über das Bürgerhospital in Coblenz und erläuternden Beilagen. Zum Besten der Armenschule des Frauenvereins in Coblenz. Koblenz. Caritas. Nächstenliebe von den frühen Christen bis zur Gegenwart. Katalog zur Ausstellung im Erzbischöflichen Diözesanmuseum Paderborn. Chr. Stiegemann (Hg.) (2015). Petersberg. Caritas-Statistik (2020): https://www.caritas.de/diecaritas/wir-ueber-uns/diecaritas-in-zahlen/statistik (Zugriff am 16.04.2021). Die Diakonie in Zahlen: https://www.diakonie.de/die-diakonie-in-zahlen (Zugriff am 16.04.2021). Fliedner, G. (1908): Theodor Fliedner: Durch Gottes Gnade Erneuerer des apostolischen Diakonissenamtes in der evangelischen Kirche. Sein Leben und Wirken. Bd. 1. Kaiserswerth. Frie, E. (1997): Zwischen Katholizismus und Wohlfahrtsstatt. Skizze einer Verbandsgeschichte der deutschen Caritas. Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften, 38, S. 21–42.
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5 Caritas und Diakonie unter dem Veränderungsdruck staatlicher Gewährleistungsverantwortung Matthias Möhring-Hesse
„Caritas“ und „Diakonie“ sind mitsamt dem Flammen- und dem Kronenkreuz bekannte Namen – und stehen für viele unterschiedliche Einrichtungen mit vielfältigen Aktivitäten sowie den dort tätigen Menschen mit unterschiedlichen Berufen und Aufgaben. Doch mit „Caritas“ und „Diakonie“ sind auch viele Einrichtungen und Aktivitäten gemeint, die andere Namen tragen und eigene Logos führen. In diesem Beitrag werden deshalb „Caritas“ und „Diakonie“ nicht als Namen, sondern als Wörter mit derselben Bedeutung genutzt. Damit werden Segmente der Freien Wohlfahrtspflege bezeichnet, die – im Unterschied zu anderen Segmenten der Freien Wohlfahrtspflege – mit den christlichen Kirchen verbunden („Kirchliche Wohlfahrtspflege“), untereinander aber konfessionell getrennt sind. Die eine, die Caritas, ist mit der römischkatholischen Kirche und die andere, die Diakonie, mit der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) sowie einigen altkonfessionellen Kirchen und Freikirchen verbunden. Mit diesem Begriff von Caritas und Diakonie soll folgender Sachverhalt aufgeklärt werden: In Deutschland erbringen die christlichen Kirchen über ihre verbandlich organisierten, dabei konfessionell getrennten Einrichtungen der Kirchlichen Wohlfahrtspflege einen relevanten Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge, die vom deutschen Sozialstaat gewährleistet wird – und erbringen diesen im Rahmen der Freien Wohlfahrtspflege. Es geht damit um einen für Deutschland typischen, historisch kontingenten, aber persistenten Sachverhalt. Als Segmente der Freien Wohlfahrtspflege wirken Caritas und Diakonie an der öffentlichen Daseinsvorsorge mit, nehmen Einfluss darauf und bestimmen so auch den die Daseinsvorsorge gewährleistenden Sozialstaat. Zugleich werden Caritas und Diakonie dadurch bestimmt, dass sie auf dem Wege der Freien
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Wohlfahrtspflege an der öffentlichen Daseinsvorsorge mitwirken und deswegen unter der Gewährleistungsverantwortung des Sozialstaates wirken. 1
Freie Wohlfahrtspflege
„Caritas ist Kirche und Kirche ist Caritas“, behauptet der Caritas-Bischof Stephan Burger (2020), „Diakonie ist Kirche und Kirche ist Diakonie“, so Landesbischof Frank Otfried July und Oberkirchenrat Dieter Kaufmann (2020). Diese Identitätsbehauptungen gelten zwar nicht unmittelbar „der Caritas“ und „der Diakonie“; aber die beiden Trägerinnen kirchlicher Wohlfahrtspflege werden in der behaupteten Identität inkludiert. Dem entsprechend werden Caritas und Diakonie nicht nur von den Kirchen, sondern auch gesellschaftlich den Kirchen zugerechnet und von daher als besondere Segmente der Freien Wohlfahrtspflege identifiziert; und sie werden von außen und von innen auf die Kirchen hin wahrgenommen – und dies auch dann, wenn sie selbst ihre Verbundenheit aus strategischen Gründen verbergen und kleinreden. Zudem werden sie durch die Verbindung zu ihren Kirchen vielfach auch institutionell, personell, konzeptionell und nicht zuletzt arbeitsrechtlich bestimmt. Das, was man heutzutage als Kirchen kennt, ist das Ergebnis gesellschaftlicher Ausdifferenzierung von Religion: Religiöse Kommunikationen und Praxisformen sowie die darüber laufenden sozialen Beziehungen mitsamt der sie bestimmenden Sprache, Begriffe und Konzepte sowie anderer symbolischer Ressourcen, der Überzeugungen und Einstellungen bis hin zu „globalen Lehren“, auch Ämter und Riten, ziehen sich in einen besonderen Bereich der Gesellschaft zurück. Dadurch spielen sie in allen anderen Bereichen der Gesellschaft keine Rolle mehr oder allenfalls eine geringe – und spielen im Bereich von Religion eine umso stärkere. Dort konstituieren sie Religion – und diese „in“ der Gesellschaft, aber eben in einem besonderen Bereich der Gesellschaft. Was in Deutschland als Religion gilt, wurde über eine lange Zeit hinweg vom Christentum her bestimmt, wobei es dieses Christentum in allem, was in der Gesellschaft als Religion vorkommt, in polar sortierten konfessionellen Spielarten gab. Zudem wurden die Konfessionen unter die Obhut von Kirchen genommen: In allen Ausprägungen wird das Religiöse – in Lehren und Praxisformen, in Institutionen und Ämtern, in Gebäuden, Gottesdiensten und Musikstilen – kirchlich institutionalisiert und durch die konfessionell getrennten Kirchen geregelt und verwaltet. In dem ausdifferenzierten Bereich kirchlich organisierter Religion wurden religiöse Aktivitäten und Beziehungen spezialisiert – und davon befreit, auf die Erfordernisse anderer gesellschaftlicher Bereiche Rücksicht zu nehmen oder diese erfüllen zu müssen. Zudem können sich die Kirchen auf die eigenen Belange konzentrieren und sich bei all dem, was anderswo zu tun und zu berücksichtigen ist, soweit zurückhalten, als nicht eigene Belange berührt sind. Im Zuge der Spezialisierung christlicher Religion wurden auch die mit dem theo-
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logischen Begriff „Diakonia“ 1 assoziierten Tätigkeiten in Sorge um den „Nächsten“ und um die „Armen“ – im Nachvollzug zu diakonischer Praxis – als Grundvollzug von Kirche ausgezeichnet und programmatisch anderen Vollzügen von Kirche gleich-, seltener sogar vorangestellt. Für die Diakonia ist die Konzentration auf den ausdifferenzierten Bereich kirchlich organisierter Religion ein Problem: Fände sie nur innerhalb der Kirchen statt, dann würde sie ausschließlich den Glaubensschwestern und -brüder gelten. Dann aber würde das theologische Programm der Diakonia, die Orientierung auf den „Nächsten“ und die „Armen“ sowie die Offenheit für prinzipiell alle Menschen, und in der Folge dieser Grundvollzug von Kirche verfehlt. Zudem würde die auf den kirchlichen Binnenraum festgelegte Diakonia von den dort spezialisierten Diskursen bestimmt – und wäre dadurch in den diakonischen Tätigkeiten fachlich unzureichend. Um außerhalb der von den Kirchen repräsentierten und organisierten Religion diakonisch wirksam zu werden, übertrug man einen Teil der kirchlichen Diakonia eigenständigen, von den Kirchen zumindest formal unabhängigen Verbänden. Zugleich setzte man die dorthin übertragenden Tätigkeiten unter professionelle Ansprüche, qualifizierte die sie dort verrichtenden Menschen oder beauftragte fachlich Qualifizierte und sicherte über die verbandliche Organisation dieser Tätigkeiten, dass deren Professionalität auch gegenüber kirchlichen Ansprüchen ausschlaggebend ist. So entwickelten sich aus den Kirchen heraus – in mühsamen und keineswegs einvernehmlichen Auseinandersetzungen, bei Widerspruch kirchlicher Obrigkeiten und unter Misstrauen gerade der der Diakonia bewussten Glaubensbrüder und -schwester – die formal eigenständigen, parallel zu den Bistümern und Landeskirchen föderal gegliederten Wohlfahrtsverbände. Über diese Ausgründung der Wohlfahrtsverbände (Lehner 2006) konnten die Kirchen ihre Diakonia außerhalb ihrer selbst vollziehen und professionalisieren, entsprechende Tätigkeiten auf dem Handlungsfeld der Wohlfahrtspflege integrieren und über ihre Wohlfahrtsverbände daran mitwirken, dieses Handlungsfeld zu gestalten. Neben den kirchlich gebundenen Verbänden traten dort auch andere, ebenso nicht-staatliche und nicht-gewerbliche Verbände auf, die sich – wie Caritas und Diakonie – in Spitzenverbänden organisierten (Sachße 2011, S. 101 f.). So entstand in Folge der Ausgründungen der kirchlichen Wohlfahrtsverbände sowie der Integration der von ihnen vollzogenen Diakonia in einem mit anderen nicht-staatlichen und gemeinnützigen Verbänden gemeinsamen Handlungsfeld die Freie Wohlfahrtspflege. In Deutschland „übernahm“ diese – neben der kommunalen „socialen Fürsorge“ – einen Großteil der Sozialen Dienste, also der personenbezogenen Dienstleistungen im öffentlichen Interesse, und damit einen wesentlichen Teil der öffentlichen DaDer latinisierte Begriff „Diakonia“ bezieht sich auf Tätigkeiten der Sorge für andere Menschen und insbesondere für „Arme“, ohne dabei schon auf die kirchliche Wohlfahrtspflege zu referieren, die mit den Begriffen „Caritas“ und „Diakonie“ angesprochen wird.
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seinsvorsorge (Hartmann 2011) – und konnte ihn „übernehmen“, weil der die Daseinsvorsorge gewährleistende Sozialstaat die Freie Wohlfahrtspflege anerkannte, ihr die Sozialen Dienste zu einem großen Teil überließ, sie gegenüber privatwirtschaftlichen Anbieter:innen privilegierte und den Kreis derer, die zur Freien Wohlfahrtspflege gehörten, exklusiv hielt sowie denen, die dazu gehören, die Erbringung der Sozialen Dienste refinanzierte. Dass der deutsche Staat der Freien Wohlfahrtspflege die Sozialen Dienste zu weiten Teilen überließ, dürfte damit zu tun haben, dass er sozialpolitisch – auf nationaler Ebene – zunächst auf die soziale Absicherung insbesondere von Erwerbstätigen fokussiert war. Soweit er dafür nicht die Kommunen vorsah, konnte er die Unterstützung von notleidenden Menschen den mildtätigen Bemühungen der Freien Wohlfahrtspflege überlassen. Dass sich diese über Spitzenverbände organisierte, kam dem Staat entgegen, der sich im Recht, in den öffentlichen Haushalten und in den Leistungen auf Reichs- und Landesebene zentralisierte (Sachße 2011, S. 102). Vermutlich ging es den staatlichen Akteuren auch darum, sich mit den Kirchen und ihrem Anspruch, auch außerhalb ihrer selbst diakonisch zu wirken, zu arrangieren und einen über Jahrhunderte schwelenden, im Kulturkampf des 19. Jahrhunderts bikonfessionell angeschärften Konflikt zu befrieden (Schmid 2011, S. 135). Wegen der ihm abverlangten weltanschaulichen Neutralität konnte der Staat dies aber nur dadurch, dass er die Ausgründungen der Kirchen als eigenständige Wohlfahrtsverbände neben anderen Wohlfahrtsverbänden und alle gemeinsam als Freie Wohlfahrtspflege anerkannte. Wie die anderen Wohlfahrtsverbände sind Caritas und Diakonie in mindestens dreifacher Hinsicht hybride „Veranstaltungen“: Sie erfüllen erstens unterschiedliche Funktionen, integrieren dazu nicht nur die Unterstützung von Menschen mit unterschiedlichen Unterstützungsbedarfen und die unterschiedlichen, dafür notwendigen Tätigkeiten. Neben den Unterstützungsleistungen organisieren sie die dazu notwendigen Ressourcen und „bringen“ diese an die Menschen, die der Unterstützung bedürfen. Sie organisieren diejenigen, die diese Unterstützung leisten, stellen sicher, dass die dafür notwendigen Einrichtungen professionell geleitet werden, halten die Fachlichkeit der zu erbringenden Unterstützungsleistungen verfügbar und repräsentieren diese öffentlich. Auch bereiten sie – proaktiv – das Feld ihrer Unterstützungsleistungen vor, sorgen dafür, dass Unterstützungsbedarfe gesellschaftlich erkannt werden, dass finanzielle, sachliche und personelle Ressourcen zur Verfügung stehen und dass das Feld vonseiten des Staates angemessen reguliert wird. Diese Multifunktionalität lösen Caritas und Diakonie, wie auch die anderen Wohlfahrtsverbände, nach innen durch spezielle Einrichtungen, Abteilungen und Ausschüsse auf, um dann deren Miteinander zu koordinieren und die die Freie Wohlfahrtspflege auszeichnende Multifunktionalität bewusst „herzustellen“. Zweitens sind Caritas und Diakonie, wie auch die anderen Wohlfahrtsverbände, intermediäre Zusammenhänge. Sie bestehen „zwischen“ den gesellschaftlich ausdifferenzierten Bereichen von privater Sphäre, Religion, Wirtschaft
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und Staat. Daher können sie unterschiedliche Handlungs- und Steuerungsformen nutzen, können die Erfordernisse und Möglichkeiten unterschiedlicher gesellschaftlicher Bereiche vermitteln und sind in der Lage, die in den ausdifferenzierten Bereichen zur Verfügung stehenden Ressourcen, Solidarität, Mitleid, Professionalität oder öffentliche Gelder auf eigene Zwecke hin zu kombinieren. Drittens bestehen Caritas und Diakonie nicht nur aus den föderal aufgebauten und spitzenverbandlich repräsentierten Verbänden, sondern sind ein „Gewirr“ (Strünck 2018, S. 130) aus angeschlossenen Vereinen, Stiftungen, gewerblichen Unternehmen, Organisationen und Ausschüssen – und dies von unterschiedlicher Größe, mit unterschiedlichen Konzepten und Kulturen sowie mit unterschiedlichem Entstehungsalter sowie unterschiedlichen Traditionen. 2
Kirchliche Diakonia
Als Ausgründungen ihrer Kirchen sind Caritas und Diakonie mit einem kirchlichen Programm ausgestattet. Sie haben einen Teil der von den Kirchen für heilsnotwendig erachteten Diakonia zu erbringen und dadurch dazu beizutragen, dass ihre Kirchen werden, was sie „sind“ bzw. sein sollen. Zwar betreiben sie dessen Interpretation und Operationalisierung mit hohem Eigensinn und aus eigenem Interesse, gleichwohl sind Caritas und Diakonie an das ihnen aufgegebene kirchliche Programm gebunden. Es entspricht dem eigenen Selbstverständnis und dem Auftreten nach außen – und nicht zuletzt ihrem Auftreten gegenüber den Kirchen. Auch ihre gesellschaftliche Akzeptanz basiert – wenn auch nicht ohne Widersprüche – darauf, dass sie sich in ihren Aktivitäten den Kirchen und dass sich wiederum die Kirchen „ihre“ Wohlfahrtsverbände und deren Einrichtungen zuschreiben. Mit ihrem kirchlichen Programm wirken Caritas und Diakonie auf dem Feld der Freien Wohlfahrtspflege und nehmen an der öffentlichen Daseinsvorsorge teil. Um dort zugelassen zu sein, haben sie das für die Wohlfahrtspflege und die Daseinsvorsorge geltende Programm zu erfüllen. Da dies mit ihrem kirchlichen Programm nicht identisch ist, müssen Caritas und Diakonie beide Programme vermitteln – und dies wechselseitig: Konzeptionell müssen sie ihr kirchliches Programm so aufbereiten, dass es – nach innen wie nach außen und dort für die Kirchen wie auch für die Öffentlichkeit – dadurch erfüllt wird, dass sie an der Wohlfahrtspflege und darüber an der Daseinsvorsorge mitwirken. Zugleich müssen sie ihre Teilnahme an der Wohlfahrtspflege und der Daseinsvorsorge so ausdeuten und übersetzen, dass sie und ihre Kirchen darin die kirchliche Diakonia wiederfinden. Zum kirchlichen Programm der Wohlfahrtspflege gehört es, den Staat für die Daseinsvorsorge und insbesondere für den Bereich der Sozialen Dienste in eine Gewährleistungsverantwortung zu setzen. Mit der von katholischer Seite erfolgreich proklamierten „Subsidiarität“ konnte sowohl die Staatsbedürftigkeit der Sozialen Dienste als auch deren „Überlassung“ an „die Kirche“ und an an-
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dere nicht-staatliche Einrichtungen ausgesagt werden. So wird der Staat verpflichtet, die Freie Wohlfahrtspflege in die Lage zu versetzen, Soziale Dienste zu erbringen und auf diesem Wege diese Dienste zu gewährleisten, ohne sie selbst herzustellen. Nach der Logik der Subsidiarität sichert der Sozialstaat dabei erstrangig die Freie Wohlfahrtspflege, in deren ureigenen Verantwortung es liegt, den gesellschaftlichen Bedarf an Sozialen Diensten zu erfüllen. Dass der Staat selbst konzeptionell tätig ist, ist im subtilen Etatismus der Subsidiarität verborgen und zugleich vorgesehen: Als der „oberste Hüter des Gemeinwohls“ muss der Staat definieren, welche gesellschaftlichen Bereiche und welche Tätigkeiten in der ureigenen Verantwortung der Freien Wohlfahrtspflege liegen und wozu er sie subsidiär in die Lage versetzen muss. Was das genau bedeutet, darüber brauchte man sich in dem „prall gefüllten Vakuum“ (vgl. Backhaus-Maul 2014) der Subsidiarität nicht zu einigen. Gerade deshalb konnten sich Staat und Freie Wohlfahrtspflege über Jahrzehnte hinweg unter diesem Konzept gut arrangieren. Inzwischen hat der deutsche Sozialstaat die Subsidiarität aufgegeben und sie auch offiziell aus seinen Sozialgesetzbüchern gestrichen. Seine Gewährleistungsverantwortung für die Sozialen Dienste nimmt er nunmehr nicht subsidiär, sondern auftragsförmig wahr: Auch weiterhin erbringt er einen großen Teil der Sozialen Dienste nicht selbst – und hält dies konzeptionell auch weiterhin für sinnvoll. Jedoch beauftragt er nunmehr nach öffentlicher Ausschreibung die jeweils besten Anbieter:innen mit der Erstellung derjenigen Sozialen Dienste, die sozialstaatlich vorgesehen sind; und er nimmt die beauftragten Anbieter:innen unter seine Aufsicht. In einigen Bereichen versteckt der Staat die Beauftragung in der Nachfrage der Nutzer:innen, deren Kaufkraft er fördert, deren Nachfrage er dabei aber reglementiert; und er beaufsichtigt die Anbieter:innen dort im Sinne des Verbraucherschutzes. Über das Konzept der Mildtätigkeit, so wie dies in der Abgabeordnung bis heute für die Wohlfahrtspflege (§ 66 und 53) vorgesehen ist, konnten Caritas und Diakonie ihr kirchliches und nicht-kirchliches Programm, also Diakonia und Wohlfahrtspflege, konzeptionell gut vermitteln: Diakonisch handeln sie in der „Sorge für notleidende oder gefährdete Mitmenschen“ (§ 66 Abs. 2 AO) – und mit genau diesen „mildtätigen Zwecken“ (§ 53 AO) nehmen sie an der Pflege des „gesundheitliche[n], sittliche[n], erzieherische[n] oder wirtschaftliche[n] Wohl[s]“ (§ 66 Abs. 2 AO) teil. Mit der Ausweitung der Sozialen Dienste und – in der Folge – auch der Freien Wohlfahrtspflege konnte es bei dem fürsorglichen Programm für die Wohlfahrtspflege allerdings nicht bleiben. Seit den 1970er Jahren wurden die vormaligen Fürsorgemaßnahmen für besondere „Problemgruppen“ zu einem von mehr oder weniger allen Menschen genutzten Leistungssystem für unterschiedliche Phasen und Situationen der individuellen Lebensverläufe ausgebaut. Sozialstaatlich sollte dadurch dem zunehmenden Unterstützungsbedarf in der Bevölkerung und der gleichzeitig schrumpfenden Leistungsfähigkeit individueller Krisenbewältigung und familiärer sowie kommunitärer Netzwerke Rechnung getragen werden. Die Sozia-
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len Dienste waren nunmehr an alle adressiert. Alle sollen sich darauf verlassen können, im Bedarfsfall auf die jeweils passenden Dienste zugreifen zu können. Entsprechend mussten die Sozialen Dienste vom Ruch der Mildtätigkeit befreit und deren Inanspruchnahme „normalisiert“ werden: Sie bearbeiten alltägliche, weil für die hochentwickelten Gesellschaften notwendige, zumindest unvermeidbare Unsicherheiten und Risiken; und sie dienen als eine soziale Ressource, diese Unsicherheiten und Risiken aufzufangen und kompensieren die abnehmende Leistungsfähigkeit familiärer und kommunitärer Netze. Auf diese Ressource ist jedermann und jedefrau angewiesen, weswegen es zur sozialen Infrastruktur gehört, diese Unterstützung möglichst niederschwellig für alle bereitzustellen und im Bedarfsfall zugänglich zu machen (Hartmann 2011, S. 81 ff.). Konzeptionell werden die Sozialen Dienste auf soziale Inklusion hin orientiert, die für alle unwahrscheinlicher und zugleich für alle wichtiger geworden ist. Was auch immer deren konkrete Inhalte sind, grundlegend werden mit den Sozialen Diensten Probleme der gesellschaftlichen Exklusion bearbeitet – und dies mit dem Ziel von Inklusion bzw. von Re-Inklusion. Indem sie die Inklusion von Einzelnen und Gruppen sichern helfen, sichern sie zugleich die Integration der Gesellschaft (Hartmann 2011, S. 86 ff.). Caritas und Diakonie, die an Sozialen Diensten für jedermann und jedefrau und darüber an deren Inklusion mitwirken, müssen dieses Programm der Wohlfahrtspflege in ein kirchliches Programm der Diakonia übersetzen können. Dient man der Inklusion von möglichst allen und darüber an der Integration von Gesellschaft, soll sich darin ihre Kirchen in dem Dienst am „Nächsten“ und insbesondere an den „Armen“ vollziehen. Konzeptionell müssen dazu die Adressat:innen kirchlicher Diakonia verallgemeinert werden: Jedermann und jedefrau ist (potentiell) in „Not“, auf welche die diakonischen Kirchen „antworten“. Zugleich muss das Ziel der kirchlichen Diakonie in der Bewältigung alltäglicher Risiken und Unsicherheiten gesehen werden und gesellschaftliche Inklusion als Ziel kirchlicher Diakonia gelten. Bei dieser programmatischen Vermittlung von Wohlfahrtspflege und Diakonia geraten Caritas und Diakonie allerdings in die Gefahr, in den Kirchen an deren „Proprium“ mildtätiger Fürsorge zu scheitern. Unter Bedingungen ausdifferenzierter Religion sind die Kirchen nun einmal nicht für die Inklusionsbedarfe, geschweige denn: Integrationsprobleme anderer gesellschaftlicher Bereiche zuständig und können sich schwerlich in der Bearbeitung solch fremder Probleme selbst vollziehen. Weil Diakonia als Vollzugsform von Kirche geschätzt wird, erwartet man aus den Kirchen heraus von Caritas und Diakonie etwas Besonderes, das nicht durch das Inklusions-Programm der Wohlfahrtspflege gedeckt ist. Diese Erwartung lässt sich durch religiös gerahmtes Marketing bedienen oder dadurch, dass Marginalien in der eigenen Wohlfahrtsproduktion aufgebauscht und als „Mehrwert“ kirchlicher Wohlfahrtspflege, wohl nur selten zu Recht, hervorgehoben werden. Besonders heikel ist die programmatische Vermittlung hinsichtlich der für das kirchliche Programm vorgesehenen „Option für die Armen“. Um Caritas und
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Diakonie „besonders“ für die „Armen“ zuständig zu sehen, kann die sozialpolitisch präferierte Exklusionslogik aufgegriffen und die eigene Wohlfahrtspflege als Inklusionsarbeit geadelt werden. Man kann sich aber auch (mehr oder weniger) „staatskritisch“ geben und die kirchliche Wohlfahrtspflege auf die „Armen“ fokussieren, die bei der staatlich betriebenen Inklusionspolitik unter die Räder geraten. Schließlich lässt sich unter der „Option für die Armen“ auf die Exklusionsgefahren der eigenen Sozialen Arbeit reflektieren. Dann nehmen sich Caritas und Diakonie vor, das Inklusionsprogramm der Wohlfahrtspflege selbstkritisch zu erfüllen und eigene Zugangsbarrieren immer wieder neu abzubauen – und gerade so das Programm kirchlicher Diakonia zu erfüllen. 3
Staatliche Steuerung
Caritas und Diakonie wirken an der Daseinsvorsorge mit, für die wiederum der Staat in Gewährleistungsverantwortung gesetzt wurde. In vielen Bereichen der Daseinsvorsorge hat dieser die Herstellung und Bereitstellung der als notwendig erachteten Güter nicht selbst übernommen, sondern an private oder gemeinnützige Akteure delegiert. Bei den Sozialen Diensten bevorzugte er zunächst die Freie Wohlfahrtspflege – und dies unter der Maßgabe der Subsidiarität. Von dem Ausbau bei den Sozialen Diensten seit den 1970er Jahren konnten deshalb die Freie, dabei auch die Kirchliche Wohlfahrtspflege profitieren. Allerdings passte das Konzept der Subsidiarität nicht mehr gut zu den veränderten Gegebenheiten. Inzwischen definiert der Sozialstaat Art und Umfang der Sozialen Dienste – und kooperiert bei deren Erstellung mit den Wohlfahrtsverbänden. Deutlicher als in den Zeiten zuvor unterstützte der Sozialstaat damit nicht „kleinere Einheiten“ bei ihren eigensinnigen Aktivitäten. Stattdessen nutzte er die formal nicht-staatliche Wohlfahrtspflege für seine eigenen Zwecke. In der sozialwissenschaftlichen Beobachtung wurde dies unter dem Stichwort „Korporatismus“ analysiert. Bezogen auf die Freie Wohlfahrtspflege wird damit die systematische Eingliederung der wenigen großen, die begrenzte gesellschaftliche Pluralität spiegelnden Verbände in die staatliche Gewährleistung von Sozialen Diensten angesprochen. Dazu gehört nicht nur, dass ihnen die Erstellung der staatlich zu gewährleistenden Dienste übertragen wird. „Inkorporiert“ werden sie auch in die dafür notwendigen politischen Entscheidungen; auch werden sie mit zur gesellschaftlichen Legitimation des sozialstaatlichen Leistungssystems herangezogen. Im korporatistischen Sozialstaat wurden die Wohlfahrtsverbände in ein institutionalisiertes, gesellschaftlich aber kaum einsehbares Verhandlungssystem eingebunden. Wenngleich die Wohlfahrtsverbände ihre formale Unabhängigkeit behielten, übertrug ihnen der Staat Staatsaufgaben und setzte darüber eigene Interessen durch. Sie erbringen über ihre Einrichtungen nicht nur sozialstaatliche Leistungen und dies nach den Vorstellungen, die sozialstaatliche Institutionen von diesen Leistungen nach eigenem Interesse haben. Zugleich vertreten
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sie diese Vorstellungen gegenüber den Nutzer:innen, aber auch gegenüber den Kirchen sowie den dort beheimateten sozialen Milieus. So nimmt der Sozialstaat über das korporatistische Arrangement Einfluss auf die inkorporierten Verbände und darüber auch auf die Nutzer:innen der Sozialen Dienste sowie das gesellschaftliche Umfeld der Verbände und nicht zuletzt auf die Kirchen. Über das korporatistische Verhandlungssystem konnten jedoch die Verbände und über sie ihre Kirchen Einfluss auf staatliche Entscheidungen nehmen – und darüber auf ihre eigene staatliche Beauftragung sowie auf deren Refinanzierung. Im Korporatismus war die Kontrolle zwischen Sozialstaat und Freier Wohlfahrtspflege wechselseitig, was so von allen Beteiligten beabsichtigt war. Mit Anfängen in der „Ära Kohl“ wurde in der Bundesrepublik seit den 1990er Jahren ein Strukturwandel des Sozialstaats betrieben, und dies durchweg in allen seinen Bereichen. Bei den Sozialen Diensten wurden die vormaligen Privilegien der Freien Wohlfahrtspflege aufgelöst und deren Einrichtungen mit gewerblichen Leistungserbringer:innen gleichgestellt. Dadurch – sowie durch eine verschärfte Konkurrenz innerhalb der Freien Wohlfahrtspflege – wurde ein Wettbewerb zwischen den Anbieter:innen von Sozialen Diensten um ihre sozialstaatliche Beauftragung in Gang gesetzt. Jeder und jede geriet unter einen starken Kosten- und Qualitätsdruck, den sie untereinander ständig antreiben. Zugleich wurden sie alle auf dem Wege des „Kontraktmanagements“ einer kontinuierlichen Preis- und Qualitätskontrolle unterstellt. In einem scharfen Wettbewerb stehen die Anbieter:innen seither auch auf Wohlfahrtsmärkten, auf die der Sozialstaat – etwa im Bereich der Altenpflege – die Nutzer:innen und die leistungserbringenden Einrichtungen gezwungen hat. Die nicht-subsidiäre Art der staatlichen Gewährleistung drückt sich in Leitbildern des „aktivierenden“, des „präventiven“ oder des „investiven Sozialstaats“ aus. Ausgegeben wurden diese als Alternativen zum neoliberalen Leitbild vom „schlanken Staat“. Wie bei diesem ging es darum, den Staat vor gesellschaftlichen Ansprüchen und dabei nicht nur von denen der Nutzer:nnen, sondern auch von denen der Dienstleister:innen zu schützen. Jedoch sollte der Staat sollte in einer umfassenden Gewährleistungsverantwortung gehalten und die in Frage stehenden Leistungen der öffentlichen Daseinsvorsorge „erhalten“ werden. Gerade darin sollte der Staat modernisiert werden, was u.a. heißt, dass er den Einsatz öffentlicher Mittel kontrollieren und deren wirtschaftlichen Einsatz durchsetzen soll. Über die angesprochenen Steuerungsformen wird diese Modernisierung im Bereich der Sozialen Dienste umgesetzt und die Kontrolle gegenüber den dort engagierten Dienstleister:innen durchgesetzt. Dies geschieht bei der Auftragsvergabe: Sozialstaatliche Institutionen schreiben diejenigen Dienste aus, für die sie sich verantwortlich sehen – und definieren diese Dienste zugleich. Indem sie sich auf staatliche Ausschreibungen bewerben, „unterwerfen“ sich (auch) die Einrichtungen von Caritas und Diakonie dem darin enthaltenen „Willen“. Kontrolle übt der Staat auch über das „Kontraktmanagement“ aus: Für alle relevanten und kostenintensiven Hilfeformen schließt er inzwischen Leistungsvereinbarungen ab. Darin werden aber nicht nur die zu
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erbringenden Leistungen und die dafür sozialstaatlich aufzubringende Refinanzierung „vereinbart“; geregelt wird auch, zu welcher Qualität die Leistungen erbracht und mit welchen Indikatoren die Qualität bemessen wird, dass und wie der Auftraggeber laufend über Ressourceneinsatz und Auftragserfüllung Bericht erhält und wie bei Abweichungen verfahren wird. Auf diesem Wege sichern sich die sozialstaatlichen Institutionen ihren Einfluss auf die Erstellung der in Auftrag gegebenen Sozialen Dienste; und sie sorgen zugleich für einen Rückfluss von Informationen. Indirekt läuft die Kontrolle in den Bereichen, in denen die Sozialen Dienste auf Wohlfahrtsmärkten angesiedelt wurden. Dort nimmt der Staat über die Nachfrage der Kund:innen und über deren „Verbraucherschutz“ Einfluss auf die Leistungserbringer:innen. Damit hat der Staat die korporatistische Symbiose mit der Freien Wohlfahrtspflege zerschlagen. Während die leistungserbringenden Einrichtungen unter die verstärkte Kontrolle des Staates geraten sind, können diese und auch ihre Wohlfahrtsverbände den sie kontrollierenden Staat nicht mehr kontrollieren. Um den Aufträgen und Auflagen des Staates entsprechen zu können, müssen sich die leistungserbringenden Einrichtungen der Kontrolle ihrer Wohlfahrtsverbände sowie der mit diesen verbundenen Kirchen entziehen. So wird der Staat in der Kontrolle (auch) der Kirchlichen Wohlfahrtspflege auch gegenüber den Kirchen dominant. Die für die Kirchliche Wohlfahrtspflege notwendige Arbeit, die Ansprüche zwischen Kirchen und Sozialstaat zu vermitteln, wird deutlich vereinfacht – und ist nunmehr darauf fokussiert, die sozialstaatlichen Vorgaben zu erfüllen und entsprechende Auflagen zu bedienen. 4
Ökonomie der Daseinsvorsorge
Die Sozialen Dienste machen einen relevanten, sogar einen wachsenden Teil dessen aus, was man als „Wirtschaft“ bezeichnet und sich als eine Gesamtheit einzelwirtschaftlicher Aktivitäten und – ähnlich wie Religion – als einen ausdifferenzierten Teil der Gesellschaft vorstellt. Genaue Daten über diesen Teil der Wirtschaft liegen nicht vor. Dessen Umfang lässt sich aber über die Anzahl der Beschäftigten erahnen, die in diesem Bereich tätig sind: Die Daten des Mikrozensus weisen für das Jahr 2017 5,5 Millionen Erwerbstätige für das Gesundheits- und Sozialwesen aus. Gegenüber 2013 entspricht dies einem Zuwachs von rund 20 %. Mehr als 12 % aller Erwerbstätigen waren 2017 in diesem Bereich tätig (Bäcker u.a. 2020, 1100f.). Nach Auskunft der Gesamtstatistik der Bundesgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) waren 2016 in den Einrichtungen der Freien Wohlfahrtspflege über zwei Millionen Menschen – hauptamtlich oder auf Honorarbasis nebenamtlich – tätig, womit sich deren Anzahl seit den 1990er Jahren fast verdreifacht hat. Zwei Drittel der in der Freien Wohlfahrt Beschäftigten arbeiten in einer der Einrichtungen der Caritas oder der Diakonie (Schröder 2017, S. 44).
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Dieser beachtliche Bereich der Wirtschaft entspricht nicht dem Bild, das man sich (nicht nur) in der Mainstream-Ökonomik von „der Wirtschaft“ macht. So sind Soziale Dienste keine „privaten Güter“, die auf Warenmärkten getauscht und für diesen Tausch einzelwirtschaftlich hergestellt werden. Auch werden sie nicht von einzelwirtschaftlichen Anbieter:innen und daher dezentral geplant. Zu deren Herstellung wird nicht privates Kapital mit Aussicht auf Gewinn investiert und die Investitionen in die Herstellung von Sozialen Diensten werden nicht durch deren Verkauf realisiert. Vielleicht kann der – von der Mainstream-Ökonomik kontaminierte, deshalb nicht ganz unproblematische – Begriff „Sozialwirtschaft“ helfen, die Besonderheiten dieses besonderen Bereichs von Wirtschaft zu erfassen: Bevor die dort erstellten und „verteilten“ Güter, also personenbezogene Dienstleistungen, von Menschen nachgefragt werden, werden sie ihnen gesellschaftlich zugesprochen und deshalb staatlich zugesichert – und nur deswegen von ihnen im Bedarfsfall auch nachgefragt. Die Sozialen Dienste werden „hergestellt“ und „angeboten“, um den zugesprochenen Bedarf umfänglich zu decken – und entsprechend wird Herstellung und Angebot bedarfsbezogen und bewusst geplant. Zudem müssen die Nutzer:innen an der „Herstellung“ der Dienste beteiligt werden, die sie nutzen. Mit der Freien Wohlfahrtspflege engagieren sich Einrichtungen für die Herund Bereitstellung von Sozialen Diensten, die genau darin ihren Zweck haben – und deswegen keinen eigenen oder fremden Gewinnzweck verfolgen. Durch die angesprochenen Reformen hat der deutsche Sozialstaat diese Sozialwirtschaft dramatisch verändert. Häufig wurde diese Veränderung als Ökonomisierung angesprochen – auch aus der Kirchlichen Wohlfahrtspflege heraus. Davon sollte man aber nicht sprechen. Denn die Sozialen Dienste machten auch vor den damit angesprochenen Veränderungen einen besonderen Bereich der Wirtschaft aus. Die Sozialwirtschaft der Sozialen Dienste beginnt nicht mit den sozialstaatlichen Reformen, hat sich aber in mindestens diesen, für die Kirchliche Wohlfahrtspflege entscheidenden Hinsichten verändert: Erstens wurden die gemeinnützigen Akteure der Freien Wohlfahrtspflege und die öffentlichen Einrichtungen mit gewerblichen Anbietern:innen gleichgestellt. Dabei wurden aber nicht die gewerblichen Anbieter:innen auf die Spielregeln der Gemeinnützigkeit verpflichtet. Vielmehr wurden die bislang gemeinnützigen oder öffentlichen Einrichtungen genötigt, sich wie gewerbliche Anbieter:innen zu verhalten, sich nach innen betriebswirtschaftlich zu organisieren und nach außen mit allen anderen Anbieter:innen in den Preis- und Qualitätswettbewerb zu treten. Das, was der Zweck der gemeinnützigen Einrichtungen ist, wird ihnen zum „Output“ – und damit zu einer ihrer strategischen Operationen, dadurch aber zu einem kontingenten Sachverhalt erfolgreichen Wirtschaftens. In einigen Bereichen der Sozialen Dienste, vor allem in der Altenpflege, wurde zweitens von der „Objekt-“ auf die „Subjektsteuerung“ umgestellt. Die Nutzer:innen wurden mit Kaufkraft ausgestattet und ihnen die Auswahl sowie die Beauftragung der Leistungserbringer:innen überlassen. So wurden sie zu Kund:innen und diejenigen, die sie mit Dienstleistungen beauftragen, zu Anbieter:innen auf Wohlfahrtsmärkten. Die dabei unterlegene Position der Anbie-
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ter:innen hört sich in den Idealwelten der Mainstream-Ökonomik nach Kundensouveränität an, ist aber für Soziale Dienste prekär. Denn um entsprechende Dienstleistung gut erbringen zu können, müssen die Kund:innen erst einmal dazu gebracht werden, sich nicht wie Kund:innen, sondern wie Co-Produzent:innen zu verhalten. Zudem müssen die Anbieter:innen – im eigenen Bestandsinteresse – ihre Kund:innen dauerhaft binden und müssen ihnen dazu das für Kund:innen typische volatile Verhalten „ausreden“. Drittens verändert sich das Verhältnis der Soziale Dienste anbietenden Einrichtungen zu ihren Beschäftigten: Zumal im Qualitätswettbewerb mit anderen Anbieter:innen und im Bemühen um Kund:innen werden die Beschäftigten wertvoll, werden zum eigentlichen „Kapital“ der Einrichtungen. Wertvoll sind deren Expertise, Kreativität, Fantasie und alle anderen Formen ihres Humanvermögens – und dies allerdings nur, wenn sie dies alles zum Wohle ihrer Einrichtungen Tag für Tag vollziehen. Damit sie dies tun, setzen die Einrichtungen ihre Beschäftigten dauerhaft und durchgängig unter Stress, ihren Wert zu erfüllen und ihn wo und wie immer möglich zu steigern. Gegenläufig dazu und gleichzeitig werden die Beschäftigten im Preiswettbewerb ihrer Einrichtungen zum Kostenfaktor – und die Personalkosten zunehmend zur strategischen Größe, sofern anderweitige Rationalisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind und andere Anbieter:innen über geringere Personalkosten Wettbewerbsvorteile zu erzielen suchen. Dies alles betrifft Caritas und Diakonie nicht in ihren unterschiedlichen Teilen gleichermaßen, sondern vor allem die Einrichtungen, die unter den veränderten Bedingungen der Sozialwirtschaft agieren müssen. Andere Teile der Caritas und der Diakonie und viele der dort verrichteten Aktivitäten, vor allem die dies alles integrierenden Wohlfahrtsverbände, sind davon weniger und manchmal sogar gar nicht betroffen. Werden die einen zu „Sozialunternehmen“, verfolgen die anderen gemeinnützige Zwecke, müssen sich die einen der betriebswirtschaftlichen Rationalität unterwerfen und werden wie Betriebe geführt, sind die anderen dem gesellschaftlichen Gemeinwohl und dem verbandlichen Gemeinnutzen verpflichtet. So aber treten Caritas und Diakonie erstens auseinander: Die mit der Erstellung personenbezogener Dienstleistungen beschäftigten Einrichtungen kommen als der unternehmerische Teil überein und stehen in dieser Übereinkunft dem gemeinnützigen Teil gegenüber. Über die beiden Welten der Kirchlichen Wohlfahrtspflege hinweg wird eine gemeinsame Welt- und Organisationssicht, werden zudem gemeinsame Wertvorstellungen und Zielsetzungen prekär. Einvernehmliche Übereinkünfte über all dies sind unwahrscheinlich. Unsicher wird zwischen den beiden Welten, was sie mit den dort jeweils angesiedelten Aktivitäten zur kirchlichen Diakonia beitragen und was der Kirchenbezug für die Caritas und Diakonie bedeutet. Zweitens verlagern sich die Machtverhältnisse innerhalb von Caritas und Diakonie – und zwar von den Wohlfahrtsverbänden hin zu den leistungserbringenden Einrichtungen. War vormals der Wohlfahrtsverband Verhandlungspartner des Staates, sind inzwischen die Einrichtungen dessen unmittelbare Vertragspartner. Im Wettbewerb der Anbieter:innen müssen sie die staatlichen Aufträge „einholen“ oder gegenüber wankelmütigen Kund:innen auf Wohlfahrtsmärkten bestehen.
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Die Zugehörigkeit zu ihren Wohlfahrtsverbänden wird für die Einrichtungen zu einem strategischen Kalkül, weswegen wiederum die Wohlfahrtsverbände ihnen hinreichend gute Gründe für ihre Zugehörigkeit bieten und ihnen möglichst wenige Belastungen bereiten müssen. Deshalb erbringen sie für ihre Einrichtungen vor- oder übergelagerte Serviceleistungen und betreiben politisches Lobbying sowie Gremienrepräsentation. Was darüber hinaus in Caritas und Diakonie noch unternommen wird, muss auf dieses Kerngeschäft Rücksicht nehmen und hat sich den Belangen der unternehmerischen Caritas und Diakonie unterzuordnen. War es einst ein Vorteil, die „Produktion“ von Sozialen Diensten mit den anderen Tätigkeiten kirchlicher Wohlfahrtspflege abzustimmen, so verlieren sich nun diese Synergien und geraten die unterschiedlichen Rationalitäten der verschiedenen Funktionen gegeneinander. Bestenfalls treten die anderen und abweichenden Aufgaben in den Hintergrund oder werden als eigenständige Aufgabenbereiche ausdifferenziert und in die Ränder von Caritas und Diakonie ausgelagert, so dass sie den unternehmerischen Teil nicht stören und schon gar nicht belasten. Dann wird zwar die für die Freie Wohlfahrtspflege typische Multifunktionalität fortgeführt, nicht aber das produktive Wechselverhältnis zwischen den verschiedenen Aufgaben. Gesellschaftlich wird dies bemerkt und werden Caritas und Diakonie einseitig, nämlich als Anbieter:innen von sozialen Diensten wahrgenommen. In der Außensicht erscheinen sie als katholisches „Unilever“ oder evangelisches „Nestlé“. Das steht der Selbstwahrnehmung der Wohlfahrtsverbände diametral entgegen und belastet sie in ihrem öffentlichen Auftreten. Diese Außenwahrnehmung wird zumal dann zum Ärgernis, wenn sie in den Kirchen geteilt wird und in der Folge die Bezugnahme zu Caritas und Diakonie in Zweifel gesetzt oder gar aufgegeben wird. Eine kirchliche Wohlfahrtspflege zu betreiben, wird unter diesen Bedingungen für Caritas und Diakonie zunehmend schwieriger. Literatur Bäcker, G./Naegele, G./Bispinck, R. (2020): Sozialpolitik und soziale Lage in Deutschland. Ein Handbuch (6. Aufl.). Wiesbaden. Backhaus-Maul, H. (2014): Prall gefülltes Vakuum. Subsidiarität und Freie Wohlfahrtspflege. Blätter der Wohlfahrtspflege (6), 206–208. Bode, I. (2002): Service statt Subsidiarität? Die Organisation katholischer Wohlfahrt im Zeitalter der Vermarktlichung. Zeitschrift für Sozialreform 48 (5), 586–600. Burger, S. (2020): Caritas-Bischof Burger zum kirchlichen Welttag der Armen. „Wir haben nur diese eine Erde“. domradio.de 15.11.2020, https://www.domradio.de/themen/soziales/2020-11-15/wir-haben-nurdiese-eine-erde-caritas-bischof-burger-zum-kirchlichen-welttag-derarmen> (Zugriff am 21.05.2021).
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Hartmann, A. (2011): Soziale Dienste: Merkmale, Aufgaben und Entwicklungstrends aus der Perspektive soziologischer Theorien. In: A. Evers/R. G. Heinze/Th. Olk (Hg.): Handbuch Soziale Dienste (S. 76–91). Wiesbaden. July, F. O./Kaufmann, D. (2020): „Diakonie ist Kirche und Kirche ist Diakonie“. Bischofsbericht 2020 von Landesbischof Dr. h. c. Frank Otfried July und Oberkirchenrat Dieter Kaufmann vor der 16.Württembergischen Evangelischen Landessynode vom 26. bis 28. November 2020. Stuttgart. https://www.elk-wue.de/fileadmin/Downloads/Wir/Landesbischof/Bi schofsberichte/Bischofsbericht_zur_Herbstsynode_2020.pdf (Zugriff am 21.05.2021). Lange, Th. (2020): Hybrider Wohlfahrtskorporatismus. Eine Analyse zur Veränderbarkeit des Pflegesystems und der Wohlfahrtsverbände, Wiesbaden. Lehner, M. (2006): Caritas als Sozialunternehmen und Grundfunktion der Kirche. In: H. Manderscheid/J. Hake (Hg.): Wie viel Caritas braucht die Kirche – wie viel Kirche braucht die Caritas? (S. 81–94). Stuttgart. Sachße, Christoph (2011): Zur Geschichte Sozialer Dienste in Deutschland. In: A. Evers/R. G. Heinze/Th. Olk (Hg.): Handbuch Soziale Dienste (S. 94– 116). Wiesbaden. Schmid, J. (2011): Soziale Dienste und die Zukunft des Wohlfahrtsstaates. In: A. Evers/R. G. Heinze/Th. Olk (Hg.): Handbuch Soziale Dienste (S. 117– 144). Wiesbaden. Schmid, J./Mansour, J. (2007): Wohlfahrtsverbände. Interesse und Dienstleistung. In: Th. v. Winter/U. Willems (Hg.): Interessenverbände in Deutschland (S. 244–270). Wiesbaden. Schroeder, W. (2017): Konfessionelle Wohlfahrtsverbände im Umbruch. Fortführung des deutschen Sonderwegs durch vorsorgende Sozialpolitik? (Studien der Bonner Akademie für Forschung und Lehre praktischer Politik). Wiesbaden. Strünck, Ch. (2018): Wohlfahrtsverbände als zivilgesellschaftliche Akteure. In: R. G. Heinze/J. Lange/W. Sesselmeier (Hg.) (2018): Neue Governancestrukturen in der Wohlfahrtspflege. Wohlfahrtsverbände zwischen normativen Ansprüchen und sozialwirtschaftlicher Realität (Wirtschafts- und Sozialpolitik 19) (S. 129–151). Baden-Baden.
6 Diakonie in der Transformationsgesellschaft: Inklusion – Digitalisierung – Sozialökologie Andreas Lob-Hüdepohl
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Gesellschaftliche Transformationen als gestalteter Sozialer Wandel
Gesellschaftliche Transformationen bilden einen speziellen Typus des Sozialen Wandels. Sozialer Wandel beschreibt Prozesse, in denen sich wesentliche Ordnungen und Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens verändern – sei es durch interne Entwicklungen angestoßen, kontinuierlich und oftmals zunächst unmerklich, sei es durch externe Ereignisse ausgelöst, abrupt und radikal (Dewe/Ferchhoff 1991). Für erstere mag man an die sukzessive Auflösung von traditionellen Geschlechterarrangements und familiären Lebensformen denken, für letztere an revolutionäre Umwälzungen, die binnen kürzester Zeit ganze Staatsformen – etwa Monarchien – durch andere ersetzen oder im Bereich von Kommunikation und Technik die Arbeits- und Lebenswelten großer Teile der Bevölkerung tiefreifenden Veränderungen unterziehen. Das Charakteristische gesellschaftlicher Transformationen besteht darin, dass solche sozialen Wandlungsprozesse nicht nur Entwicklungen innerhalb bestehender sozialer Strukturen markieren, sondern dass sie tiefgreifende soziale Veränderungen der Strukturen selber auszeichnen, die mehr oder minder von bestimmten Akteur:innen oder Akteursgruppen bewusst vorangetrieben und gestaltet werden: Sie stehen für „Umformungen, Übergänge, Umgestaltungen von Gesellschaft-, Ordnungs-und Entwicklungsmodellen“ und „gesellschaftlichen respektive sozialen Formationen“ (Reißig 2014, S. 53). Sie sind sowohl ein „intentionaler, eingreifender, gestaltender“ als auch ein „eigendynamischer, organisch-evolutionärer Entwicklungsprozess“ (Reißig 2014, S. 54). Weil Transformationen damit immer auch gestaltete Prozesse verkörpern, folgen sie regelmäßig bestimmten Zukunftsannahmen, Visionen und vor allem normativen Leitideen – seien sie von ihren gesellschaftlichen Protagonist:innen offensiv vertreten oder aber – etwa aus strategischen Interessen – verdeckt und im Verborgenen verfolgt. Zwar bleiben alle Transformationsprozesse immer ergebnisoffen, weil sie von vielen unvorhersehbaren, endogenen wie exogenen Faktoren abhän-
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gen. Das hält sie aber zugleich auch offen für kritisch-innovative Lernprozesse wie möglicherweise auch für Revisionen und Nachsteuerungen. Die Diakonie der Kirchen ist wie alle (berufliche) Soziale Arbeit schon immer mit gesellschaftlichen Transformationsprozessen konfrontiert. Das beginnt mit den Auswirkungen, die sie für die Adressat:innen diakonischer Praxis und Sozialer Arbeit sowie deren Lebenswelt und Lebenslagen haben. Insofern ist die Diakonie der Kirchen von solchen gesellschaftlichen Transformationen unmittelbar betroffen – und zwar unabhängig davon, ob sie die normativen Leitideen, Visionen und Zukunftsannahmen bestimmter Transformationsprozesse teilt oder aber eher als Gefährdung menschenwürdiger Lebenslagen ihrer Adressat:innen und damit ihrer eigenen Zieloptionen wahrnimmt. Diese unmittelbare Betroffenheit führt diakonische Praxis, die sich im weitesten Sinne als Teil einer Menschenrechtsprofession versteht, direkt in die Rolle einer Beteiligten an gesellschaftlichen Transformationsprozessen – sei es, dass sie etwaige negative Folgen abzuwehren oder wenigstens abzumildern sucht, sei es, dass sie bestimmte Transformationsprozesse aufgrund deren normativen Zielsetzungen aktiv unterstützt oder vielleicht sogar (mit-)initiiert und damit selbst zu deren Protagonistin wird. Die spezielle Rolle von Diakonie und Sozialer Arbeit als mitgestaltende Protagonistinnen zeigt sich eindrücklich in wirkmächtigen Transformationsprozessen, die gegenwärtig in vielen Gesellschaften weltweit zu beobachten sind: die umfassende Inklusion, die Digitalisierung sowie der sozialökologische Umbau. Mit allen drei Transformationsprozessen verbinden sich tiefgreifende Veränderungen von Lebenslagen der betroffenen Menschen, die eine spezifische Relevanz zur Sozialen Arbeit beziehungsweise diakonischer Praxis besitzen: Inklusion als systematische, also strukturell abgesicherte Einbeziehung von Menschen in die Gesellschaft, die von Exklusion bedroht oder betroffen sind – aus welchen Gründen auch immer: auf Grund ihrer Migrationsgeschichte, aufgrund ihrer abgebrochenen Erwerbsgeschichte, aufgrund ihre körperlicher, seelischen, psychischen oder auch sinnesbezogenen Beeinträchtigung oder ihres Alters, Geschlechts oder religiösen Bekenntnisses; Digitalisierung der Lebenswelt in einer Weise, die diakonisches Handeln ganz neu herausfordert: sei es in Form der Generierung neuer sozial prekärer Lebenslagen, sei es als wichtiges Instrument zur Verbesserung der eigenen Wirksamkeit im Sinne ihrer Adressat:innen; und nicht zuletzt sozialökologische Transformation, an der sich soziale Arbeit wie diakonische Praxis schon deshalb aktiv beteiligt, weil sie die menschliche Lebenslagen weltweit verbessern hilft. Gerade diese drei Transformationsprozesse verkörpern – unbeschadete ihrer möglichen Ambivalenz – normative Leitideen, die gerade für die diakonische Praxis von besonderer Relevanz sind. Deshalb sollen diese drei Transformationsprozesse fokussiert und wenigstens in ihrer normativ-gestalterischen Ausrichtung unter den
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Stichworten „transformative Inklusion“, „transformative Digitalisierung“ sowie „transformative Sozialökologie“ knapp skizziert werden. 1 2
Transformative Inklusion
Unmittelbar betroffen und eingebunden ist diakonische Praxis in gesellschaftliche Transformationsprozesse, die in den letzten beiden Jahrzehnten unter dem Stichwort „inklusive Gesellschaft“ firmieren – die Einbeziehung solcher Personen und Personengruppen, die in den herkömmlichen Sozialstrukturen der Gesellschaft von systematischer Ausgrenzung bedroht oder längst betroffen sind: Menschen in Behinderung 2 oder mit Migrationshintergründen, Angehörige kultureller oder religiöser Minderheiten oder solche Menschen, die auf Grund ihres Geschlechts, ihres Alters oder ihrer persönlichen sozialen Lebenslage von der vollen und wirksamen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben faktisch ausgeschlossen sind. Die genannten Prozesse gesellschaftlicher Inklusion sind insofern transformativ, weil sie die Strukturen gesellschaftlichen Zusammenlebens in den relevanten Bereichen grundlegend verändern und sich dabei an einer normativ gehaltvollen Grundoption orientieren: eine „gerechte Gesellschaft“, deren „ethisches Leitbild […] dabei die möglichst umfassende soziale Inklusion und Partizipation aller Menschen in unserem Land sein [sollte]“ (DBK/Rat der EKD 2014, S. 21). Ausgangspunkt transformativer Inklusion ist die Realität struktureller Ausschließungen („Exklusionen“). Soziale Ausschließungen sind alltägliche Erfahrungen. Jede Beziehung zu Familienangehörigen, zu Nachbarn, Freunden oder Angehörigen einer Religionsgemeinschaft schließt alle Nichtdazugehörigen notwendigerweise aus. Solche begrenzenden personalen Beziehungen – Max Weber nannte sie „Schließungen“ (Weber 1980, S. 218) – sind immer exklusiv wie exkludierend: einige heraushebend, die anderen ausschließend. Sie konstituieren jene überschaubaren sozialen Beziehungsnetzwerke, die für die verlässliche Lebensführung jedes Menschen unabdingbar sind. Andere Ausschlüsse schützen dagegen gerade die Ausgeschlossenen: Der Ausschluss von Kindern vom Arbeitsmarkt dient dem Schutz ihrer gedeihlichen Entwicklung; derjenige von schwangeren Frauen dient dem Schutz deren leiblichen Unversehrtheit in einer mindestens medizinisch hohen Belastungssituation. Vgl. zu den einzelnen Bereichen ausführlicher in diesem Kompendium die Beiträge von Bertram/Huster (Armutsbedrohte und Verarmte), Jähnichen (Arbeitslosigkeit), Scheper (Menschen in Behinderung), Schöttler/Landstorfer (Digitalisierung) und Casel (Entwicklungszusammenarbeit/weltweite Diakonie). 2 Die Formulierung „Menschen in Behinderung“ (anstelle von „mit Behinderungserfahrungen“) greift das Verständnis der Behindertenrechtskonvention auf, der zufolge Behinderung keine Eigenschaft des betroffenen Menschen ist, sondern aus der Wechselwirkung „zwischen Menschen mit Beeinträchtigungen und einstellungs- und umweltbedingten Barrieren“ entsteht, die Menschen mit somatischen, kognitiven und/oder sinnesbezogenen Beeinträchtigungen an der vollen Teilhabe an der Gesellschaft behindert (UN-BRK Präambel Nr. 5; entsprechend auch § 1 Bundesteilhabegesetz [BThG]). Vgl. ausführlich auch Eurich/Lob-Hüdepohl 2020. 1
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Von solchen Ausschließungen zu unterscheiden sind Exklusionen, die die Betroffenen dauerhaft von lebenswichtigen Ressourcen oder gar vom gesellschaftlichen Leben insgesamt ausschließen. Solche sozialstrukturellen Ausgrenzungen verwehren den Exkludierten wesentliche Teilhabechancen und führen oftmals zu einer Abwärtsspirale an Teilhabemöglichkeiten. Der (dauerhafte) Ausschluss vom Erwerbsarbeitsmarkt etwa vermindert nicht nur die materiellen, sondern auch die immateriellen Ressourcen für eine gelingende Lebensführung: Erwerbslose werden vom Beziehungsnetzwerk ihrer Arbeitswelt abgeschnitten, in denen sie Anerkennung sowie Selbstachtung erfahren. Beschädigte Selbstachtung wiederum belastet die Beziehungen in den Familien oder Freundeskreisen und begünstigt den Rückzug aus den sozialen Nahräumen. Derart geschwächt schwinden zudem die real verfügbaren Verwirklichungschancen für die politischen, kulturellen oder wirtschaftlichen Bürgerrechte, selbst wenn sie den Exkludierten formal weiterhin zu- und offenstehen. Soziale Ausgrenzungen münden oftmals in ein „kumulierendes Verliererschicksal“ (Lob-Hüdepohl 2016, S. 31). Kommt es besonders in den drei Kerndimensionen Erwerbsarbeit, Bürgerrechte und soziale Nahbeziehungen zu Exklusionen, sind nach Kronauer (2010) die sozial-materiellen Grundlagen einer demokratischen und menschenrechtsbasierten Gesellschaft gefährdet. Transformative Inklusionsprozesse wirken solchen Exklusionen entgegen. Systemtheoretisch (Luhmann) betrachtet kann keine Person in einem umfassenden Sinne, also in allen Teilen der Gesellschaft, inkludiert sein (Totalinklusion). Stattdessen gilt eine Person bereits dann ausreichend inkludiert, wenn sie zumindest in einem zentralen gesellschaftlichen Teilsystem einbezogen ist. Zwar mag ein Erwerbsloser aus dem Teilsystem Arbeitsmarkt exkludiert sein. Insofern er aber im Netz der sozialen Sicherung Ansprüche auf materielle oder immaterielle Unterstützung besitzt, kompensiert dieser Einschluss (Inklusion) in das System sozialer Sicherungen den (zumindest vorübergehenden) Ausschluss aus dem anderen Teilsystem Arbeitsmarkt. In ähnlicher Weise wären diesem Inklusionsbegriff zufolge Menschen in Behinderungen bereits dann in ein System schulischer Bildung inkludiert, wenn sie überhaupt beschult würden. Ob sie in pädagogischen Sondereinrichtungen tatsächlich angemessen ihre Benachteiligungen ausgleichen können, welche Qualität die spezifische Weise der Inklusion und die damit verbundene Teilhabe am gesellschaftlichen Leben besitzen, ist in dieser funktional-deskriptiven Betrachtungsweise von Inklusion weitgehend ohne Belang. Dagegen setzt sich ein emphatisch-normatives Verständnis von Inklusion klar ab: Maßstab gesellschaftlicher Inklusion ist nicht mehr allein die formalfunktionale Einbindung von Menschen in bestimmte Subsysteme der Gesellschaft, sondern die effektive Gewährleistung ihrer Rechte als Bürgerinnen und Bürger eines menschenrechtlich basierten Gemeinwesens und damit ihrer Würde als Mensch. Bezogen etwa auf Menschen in Behinderungen heißt dies: Inkludiert sind sie dann, wenn ihre menschenrechtlichen Ansprüche in allen relevanten Lebensbereichen respektiert, geschützt und gefördert werden – und
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zwar unabhängig davon, ob sie gesellschaftlich funktionstüchtig und mehrwertsteigernd sind oder nicht. Im Fokus menschenrechtsbasierter Inklusion stehen Exklusionen, die die Möglichkeitsbedingungen würdevoller Lebensführung unmittelbar berühren. Sie betreffen öffentliche wie private Bereiche, in denen menschenrechtliche Ansprüche residieren. Freiheits-, Partizipationssowie Wirtschafts-, Sozial- und Kulturrechte eröffnen und sichern die Möglichkeit menschenwürdiger Lebensführung. Menschenrechtsbasierte Inklusion fordert hier reale Beteiligungschancen an all jenen Ressourcen und Vollzugsräumen, die für ein würdevolles Leben essenziell sind. Inklusion schützt und gestaltet solche privaten wie öffentlichen Arrangements, in denen Menschen unterschiedlichster Besonderheiten in den sozialen Netzen ihrer Lebenswelten als eigenständige Akteure ihrer Lebensführung befähigt werden und sich bewähren lernen. Solche Arrangements setzen Veränderungsprozesse auf allen Seiten voraus – vor allem auf Seiten einer Mehrheitsgesellschaft, die, in der Regel unbeabsichtigt, durch ihre oftmals unreflektierten Deutungs- und Handlungsmuster strukturelle Ausschließungsmechanismen beziehungsweise Zugangsbarrieren aktivieren. Menschenrechtsbasierte Inklusion besteht auf dem weitest möglichen Abbau dieser wesentlich anthropogenen Barrieren. Insofern beschreibt sie weniger einen (soziologisch feststellbaren) Zustand als persönliche Haltungen und einen kontinuierlichen Transformationsprozess gesellschaftlicher (Tiefen-)Strukturen. Transformative Prozesse der Inklusion sind in der Regel konfliktreich. Denn über die konzeptionellen wie „handwerklichen“ Details ihrer konkreten Gestaltung entstehen Kontroversen, die auch konkurrierende Interessen bis hin zu Stellvertreterkonflikten spiegeln. Der Streit um die inklusive Schule für Kinder mit und ohne Behinderungen (vgl. Speck 2011) ist paradigmatisch für die Konflikte, die durch menschenrechtsbasierte Inklusion entweder in anderen Lebensbereichen (z.B. Arbeitsmarkt) oder mit anderen von Exklusion bedrohten oder betroffenen Personen (-gruppen) (z.B. Personen mit Migrationshintergrund) entstehen. Unstrittig ist, dass Inklusionsprozesse kaum isoliert erfolgen können, sondern in eine umfassend inklusiv-aktive Bürgergesellschaft eingebettet sein müssen. Als enabling community (Lob-Hüdepohl 2016, Wegener 2014) etabliert sie soziale Nah- und Handlungsräume, in denen die notwendigen gesellschaftlichen Transformationen bereits selbst inklusiv, also unter Beteiligung potentiell aller Betroffenen vollzogen wird. Sie ermöglicht eine Solidargemeinschaft, in der sich selbst der primäre Empfänger von materiellen oder immateriellen Unterstützungsleistungen, wie die katholischen Bischöfe in Deutschland und der Rat der EKD Inklusion als Zielperspektive kirchlicher Sozialverkündigung beschreiben, „stets als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft empfinden kann“ (DBK/Rat der EKD 2014, S. 44). Menschenrechtsbasierte Inklusion zeigt hier nochmals ihren Vollsinn: Über die Wahrung von wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Anspruchsrechten geht es um die Einlösung basaler Freiheits- und Partizipationsrechte im normalen Zusammenleben aller – jenseits aller Unterschiedlichkeiten, die zwi-
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schen Menschen aufgrund ihrer materiellen, sozialen, kognitiven, kulturellen usw. Verschiedenheiten bestehen. Normalität bemisst sich hier nicht an der Durchsetzung einer durchschnittlichen, für alle normierten Lebensführung. Die Normalität inklusiven Zusammenlebens orientiert sich stattdessen an seiner emotiven Tiefendimension. Menschen in Behinderungen, die ebenso wie Menschen mit Migrationshintergrund oder ohne Erwerbsarbeit von Ausgrenzung bedroht oder betroffen sind, wünschen sich wie alle, dass ein möglichst unaufwendiges und achtungsvolles Zusammenleben zur gewohnten Selbstverständlichkeit ihres Lebensalltags wird – und dass dies durch die entsprechende gesellschaftliche Transformation strukturell abgesichert ist. 3
Transformative Digitalisierung
Eine der gegenwärtig wirkmächtigsten Transformationsprozesse vollzieht sich durch eine Form der Digitalisierung, die kaum einen Bereich der Arbeits- und alltäglichen Lebenswelt ausnimmt und in den letzten beiden Jahrzehnten eine neue Qualität erreicht hat (vgl. Kutscher u. a. 2020). Zwar ist Digitalisierung nichts Neues: Die Übersetzung, Speicherung und Übermittlung von Informationen im binären Code des „0“ und „1“ sind spätestens seit den 1960er Jahren aus der elektronischen Datenverarbeitung (EDV) bekannt. Was die Art und Weise des Sich-Informierens, des Kommunizierens, der Netzwerkbildung oder – um klassische Handlungsfelder (professioneller) diakonischer Praxis zu nennen – der Gesundheitsvorsorge oder des Pflegens (vgl. DER 2020) in den letzten Jahren allerdings revolutioniert hat, ist die galoppierende Geschwindigkeit, mit der immer größere Datenmengen in immer kürzerer Zeit erhoben, verarbeitet und sogar für zunehmend sich selbst steuernde Neuentwicklungen (maschinelles Lernen, schwache/starke Künstliche Intelligenz) von Software (Applikationen) genutzt werden können. Diese technische Errungenschaft entwickelt eine Eigenlogik, die sich tief in die persönliche Lebensführung nahezu aller eingeschrieben hat und damit zugleich deren Binnenlogik zu transformieren beginnt. Doch darin liegt auch das Problem jeder Entwicklung kultureller oder maschinenbasierter Technik: Wer nicht über sie verfügt oder verfügen kann oder sich ihr – etwa in bestimmten Teilbereichen – bewusst nicht unterwerfen will, verliert schnell den gesellschaftlichen Anschluss. Trifft dies wesentliche Lebensbereiche wie Bildung, Arbeit, Wohnen, Gesundheit oder sozialer Nahraum, droht sozialer Ausschluss: Exklusion. Deshalb weisen mittlerweile die Charta der digitalen Grundrechte der Europäischen Union oder auch die UN-Behindertenrechtskonvention (Art. 9 Abs. 2g UN-BRK) den Zugang zu digitalen Diensten beziehungsweise digitale Teilhabe schlechthin als Menschen- beziehungsweise Grundrecht aus. Digitale Teilhabe ist mittlerweile eine unverzichtbare Bedingung dafür, dass auch benachteiligte Menschen ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit und dadurch ihre Würde als gleichberechtigter und anerkannter Mensch erfahren können. Zur Teilhabe zählt freilich mehr als nur der Zugang zu technischen Geräten oder zum
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Internet (vgl. BMJFFS 2020). Barrierefreier Zugang umfasst auch die Kompetenz, digitale Assistenzen zur Lebensführung zu kennen, diese in ihren Vorund Nachteilen einordnen sowie im Bedarfsfalle auch nutzen zu können (Skutta/Steinke u. a. 2018). Solche Kompetenz bedarf der materiellen und vor allem der immateriellen Förderung – nicht zuletzt durch die in den unterschiedlichen Lebensbereich einschlägig befassten sozialen Professionen einschließlich der kirchlichen Diakonie. Im Fokus steht hier ein bedeutsamer normativer Zielkonflikt: Digitale Techniken entwickeln einen Sogeffekt, der ihre Nutzer:innen zu beherrschen droht. Digitale Überwachung Monitoring durch AmbiantAssisted-Living-Systeme zur Unterstützung eigenständigen Lebens, Electronic Care Surveillance zwecks elektronischer Überwachung von Sorgebedarfen) beispielsweise kann für ältere Menschen ein Segen sein, der sie länger in ihrer gewohnten Umgebung wohnen lässt; sie kann sich aber auch zum Fluch einer gängelnden Totalkontrolle entwickeln – jedenfalls dann, wenn die Nutzer:innen diesen Nachteil nicht bewusst in Kauf nehmen oder sich die Technik nicht nach deren Belieben an- und abstellen lässt. Deshalb bedarf jede transformative Digitalisierung auf Seiten der Nutzer:innen einer digitalen Souveränität (DER 2018), die sich solchen und ähnlich subtilen Fremdbestimmungen zu widersetzen weiß. Mittlerweile ist die Digitalisierung in eine neue Phase getreten. Unter den Stichworten Big Data und Künstliche Intelligenz geht es nicht mehr nur um die systematische Erzeugung, Aufarbeitung und Mustererkennung von ungeheuren Datenmassen mit dem Ziel, neue Einsichten in bestimmte Zusammenhänge zu gewinnen und für unterschiedliche Zwecke zu nutzen: etwa die präzisere Diagnose und Therapie von Krankheiten, personalisierte Qualifizierungskurse, Geldkredite oder Arbeitsstellen bis hin zur Erstellung von Risikoprofilen in der Kinder- und Jugendhilfe im Zusammenhang von Kindeswohlgefährdung (vgl. Schroedter u. a. 2018). Die Aufbereitung solcher Datenmassen ist nur durch hochkomplizierte Algorithmen möglich. Mittlerweile sind viele solcher Aufbereitungsprozesse und die Anforderungen an deren Rechenregeln so komplex, dass die Algorithmen offen programmiert werden – offen für sich selbst steuernde (autonome) Verbesserungen, deren Entwicklung von außen nicht mehr gesteuert oder rekonstruiert werden kann. So wird aus Big data durch sogenannte Künstliche Intelligenz (= lernende algorithmische Systeme) Smart data. Solche „intelligente Datennutzung“ besitzt auch für das Gesundheits- und Sozialwesen enorme Potentiale. Gleichwohl stellt es sie vor erhebliche Herausforderungen – gerade mit Blick auf Fragen der digitalen Souveränität und Selbstbestimmung. Zwei Beispiele: Big/Smart data funktioniert erst, wenn Massen von Daten von möglichst vielen Menschen bei möglichst vielen Gelegenheiten erhoben werden. Je mehr, desto besser. Wir kennen das von der Unzahl an Apps oder sozialen Netzwerken, die uns meist kostenlos zur Verfügung gestellt werden und die wir mit unseren persönlichen Daten bezahlen. Selbst wenn wir unterstellen, dass die Erhebung und Verarbeitung dieser Daten wirklich sinnvollen Zwecken dienen, so
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beißt sich dieser Datenhunger mit den klassischen Prinzipien des Datenschutzes: Datensparsamkeit und unmittelbare Zweckbindung der Datenverarbeitung. Freilich sind diese beiden Prinzipien kein Selbstzweck; sie dienen dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung jeder Person. In Zeiten von Big/ Smart Data bedarf es deshalb einer „Datensouveränität“, um „auf der Basis persönlicher Präferenzen effektiv in den Strom persönlich relevanter Daten eingreifen zu können“ (DER 2018, 252). Dazu sind in allen relevanten Lebensund Erhebungsbereichen eine Vielzahl rechtlicher wie technischer Regelungen erforderlich. Ein aufschlussreiches Beispiel liefert die jüngste Vergangenheit: Nahezu alle Webseiten nutzen Cookies, die das konkrete Nutzungsverhalten jeder Nutzerin auswertet – für technische Verbesserungen ebenso wie für Werbezecke usw. Früher musste man pauschal solche Cookies akzeptieren, damit man die Webseite nutzen konnte. Heute müssen die Webseiten allen Nutzer:innen am Start eine persönliche Auswahl ermöglichen – und zwar durch dessen aktive Zustimmung und nicht erst über Abwahl auf vertrackten Hinterwegen. Hier beginnt Datensouveränität. Um Datensouveränität geht es auch in anderen Kontexten. In immer mehr menschlichen Entscheidungsprozessen (Kreditvergaben, Personalgewinnung, Verwaltungsverfahren in Sozialbehörden usw.) werden algorithmische Systeme eingebunden. Die Datenethikkommission der Bundesregierung, die in deren Auftrag 2019 eine umfassende Analyse der Chancen und Risiken digitaler Transformationen erstellte, hat die ethischen Implikationen untersucht und folgende Unterscheidung vorgeschlagen: Bei algorithmenbasierten Entscheidungen werden etwa einer Ärztin Diagnose oder Therapie vorgeschlagen, sie ist aber in ihrer Letztentscheidung frei. Algorithmengetriebene Entscheidungen schlagen ihr verschiedene Optionen vor, innerhalb derer sie sich aber entscheiden muss. Bei algorithmendeterminierten Entscheidungen hätte sie keine andere Wahl; sie wäre lediglich die Erfüllungsgehilfin des Algorithmus. Bereits algorithmenbasierte Entscheidungen berühren die freie Entscheidung des Entscheiders; denn er gerät schnell unter Legitimationszwang, warum er von einer maschinell erstellten Handlungsempfehlung abweicht und doch einen Kredit vergibt oder eine Qualifizierungsmaßnahme gewährt. Vollständig ausgehebelt ist die menschliche Entscheidungsgewalt bei algorithmendeterminierten Entscheidungen. Wer ist dann für sie rechtlich und moralisch verantwortlich? Verletzt das nicht nur die Selbstbestimmung und Würde der Entscheiderin, sondern vor allem auch diejenige des von der Entscheidung betroffenen Menschen? Schon deshalb hält die europäische Datenschutzgrundverordnung kategorisch am Grundsatz der menschlichen Letztentscheidung fest (Art.22 DSGVO). Und die zivilgesellschaftlich initiierte europäische Digitalcharta fordert unmissverständlich: „Wer einer automatisierten Entscheidung von erheblicher Bedeutung für seine Lebensführung unterworfen ist, hat Anspruch auf unabhängige Überprüfung und Entscheidung durch Menschen“ (Art.5 [4]). Aber das ist nur die passive Seite von digitaler Souveränität. Zu ihrem Aktivposten gehören vor
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allem digitale Kompetenz und Teilhabe. Was nützt souveräne Entscheidungsgewalt, wenn es mangels Zugangs nichts zu entscheiden gibt? Und was nützen der Zugang und die angebotenen Auswahlmöglichkeiten, wenn die digitalen Systeme vom Nutzer nicht beherrscht werden können? Die Datenethikkommission will jeden Einsatz digitaler Technik dem Prinzip der „sozialen Nachhaltigkeit“ unterstellt wissen. Damit verbindet sie neben einer dauerhaft tragfähigen Gemeinwohlorientierung digitalisierter Techniken vor allem ihre partizipative und inklusive Gestaltung (Datenethikkommission 2019). Damit ist der digitalen Souveränität eine entscheidende Perspektive eröffnet: Teilhabe bedeutet nicht nur Teilnahme am digitalen Netzgeschehen durch entsprechende Zugänge (access), sondern vor allem auch Teilgabe der eigenen Nutzungsoptionen im Prozess der Ausgestaltung und Implementierung technischer Systeme (design). Die digitale Spaltung unserer Gesellschaft beginnt nicht erst bei den ungleich verteilten Chancen zur Nutzung, sondern bereits bei der mangelnden Einbeziehung relevanter Personengruppen bei deren Entwicklung. Gerade ältere oder pflege- bzw. assistenzbedürftige Menschen bleiben schon bei der Entwicklung digitaler Assistenzsysteme weitgehend außen vor. Ähnliches lässt sich auch von Mitarbeiter:innen im Gesundheits- und Sozialwesen berichten, in deren Arbeitsfeldern digitale Techniken zur Anwendung kommen sollen. So wird man nur schwerlich jenes „menschenzentriertes Design“ gewährleisten können, das – wie allenthalben gefordert – neben der technischen Handhabbarkeit und der lebensweltlichen Nützlichkeit auch die Selbständigkeit und das emotionale Wohlbefinden der Nutzer:innen gewährleisten soll. Digitale Souveränität gipfelt in dem, was soziale Professionen mit Empowerment verbinden: die Stärkung jener Gestaltungsmacht, mit der Menschen möglichst selbständig bestimmen können, ob und vor allem in welcher Weise sie professionelle und eben auch digitale Assistenzen in ihre alltägliche Lebensführung einbinden oder nicht (Seckinger 2018). Im Unterschied zum bloßen Kompetenz- oder Befähigungsansatz erinnert Empowerment unerbittlich daran, dass solche (digitale) Selbständigkeit sich immer gegen teils erheblichen Widerstand behaupten muss. In der digitalisierten Lebenswelt sind dies vor allem die ungeheuren Sogeffekte (manchmal erschreckend) faszinierender Möglichkeiten, denen wir alle (und nicht nur besonders vulnerable Personen!) erliegen können und durch die wir unserer Selbständigkeit verlustig zu gehen drohen. Diakonische Praxis steht hier vor der Aufgabe, mit allen anderen relevanten Akteur:innen die digitale Transformation gerade für die zumindest in dieser Hinsicht schwächelnden Nutzer:innen humanitätsverträglich mitzugestalten und insbesondere digitales Empowerment zu unterstützen. Und eine im engen Sinne politisch ambitionierte diakonische Praxis steht vor der Herausforderung, die offenkundig von Technik und Ökonomie getriebene Beschleunigung der Digitalisierung in Arbeits- und Lebenswelten wenigsten in der Weise einzuhegen, dass Transformation noch als solche gelingt und nicht dem Spiel gleichsam naturwüchsiger Marktkräfte zum Opfer fällt: als durchaus
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technikbasierte und ökonomisch sinnvolle Umgestaltung gesellschaftlicher Interaktionsformen, in dem das Digitale seine Humanitätsverträglichkeit wirksam zur Geltung bringen kann. 4
Transformative Sozialökologie
Spätestens seit der „Klima-Krise“ und der aufkommenden „Fridays-forFuture“-Bewegung ist die Notwendigkeit eines sozialökologischen Umbaus der Gesellschaft weithin anerkannt. Freilich offenbart die sogenannte KlimaKrise keinesfalls nur ein Fehlverhalten im Bereich der nichtnachhaltigen Verwendung stofflicher Ressourcen – hier also der Eintrag von gasförmigem Kohlendioxid, das bei der Verbrennung fossiler Stoffe entsteht und nicht ausreichend durch sogenannte Senken oder durch Wachstum von Bäumen und Pflanzen erneut gebunden wird. Sondern sie offenbart insgesamt „gesellschaftliche Naturverhältnisse“, die die natürlichen wie sozialen Grundlagen der menschlichen Weltgesellschaft zu zerstören drohen. Darin liegt ihre besondere Brisanz auch für die Diakonie und die Soziale Arbeit. Als „gesellschaftliche Naturverhältnisse“ (Becker/Jahn 2006, S. 26) werden jene Beziehungen verstanden, die zwischen der Art und Weise der Indienstnahme natürlicher Ressourcen durch gesellschaftliche Gruppen oder ganze Gesellschaften auf der einen Seite und deren Rückwirkung auf die regionalen, nationalen wie globalen sozialen Verhältnisse auf der anderen Seite bestehen: Die Art und Weise beispielsweise, wie für einen bestimmten Konsumstil digitaler Produkte (Handys, Notebooks usw.) im globalen Süden bestimmte Rohstoffe („seltene Erden“ usw.) kostengünstig gewonnen werden müssen, führt nicht nur zur Ausplünderung von nur begrenzt zur Verfügung stehenden Rohstoffen, sondern auch zu teilweise katastrophalen Arbeits- und Lebensbedingungen in den betreffenden Ländern – mit den entsprechenden Rückwirkungen auf die Länder des globalen Nordens, die sich etwa in armutsassoziierten Migrationsbewegungen bemerkbar machen. Sozialökologische Transformationsprozesse umfassen ein breites Spektrum von Handlungsbedarfen und Maßnahmen, um die Gesellschaften umfassend nachhaltig umzubauen. Neben geeigneten Förderungspolitiken für die nachhaltige, also dauerhaft-belastbare Produktion und Konsumtion von Gütern und Dienstleistungen sowie neben einem gesetzlichen Rahmen für ein nachhaltiges Mobilitäts- oder Nahrungsverhalten stehen im Mittelpunkt sozialökologischer Transformationen die Überwindung imperialer Lebensstile, die den Raubbau an den natürlichen wie sozialen Ressourcen der Menschheit vorantreiben. „Imperiale Lebensstile“ verkörpern persönliche wie gesellschaftliche Muster der Produktion wie des Konsums bestimmter Güter, die sich an bestimmten Leitbildern eines erstrebenswerten und gelingenden Lebens orientieren (vgl. Brand/Wissen 2015). Imperiale Lebensstile sind darin imperial, dass sie erfolgreich einen Hegemonialanspruch durchsetzen können, der sie in den Status einer faktisch
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allseits akzeptierten Leitoption für gutes Lebens erhebt. Allseits akzeptiert sind sie, weil sie Erreichbarkeit für alle versprechen und damit gleichsam universale Sehnsüchte bedienen. Genau darin leiden sie aber an einem Selbstwiderspruch: Sie beinhalten nämlich einen Umgang mit sozialen und ökologischen Ressourcen, der schon deshalb nicht universalisierbar ist, weil die Gewinne für die einen (vorrangig im globalen Norden) durch die sozialen wie ökologischen Verlustseiten der anderen (vorrangig globaler Süden) erkauft werden. Darin bergen sie fundamentale soziale Spaltungen. Diese fundamentale Verwerfung sozialer Beziehungen, die mit dem hemmungslosen Raubbau an den stofflichen Ressourcen gerade weltgesellschaftlich verbunden sind, hatte schon der Bericht der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung von 1987 im Fokus. Dieser sogenannte „Brundtland-Report“ verwendet zum ersten Mal den Begriff „sustainable development“ (nachhaltige, dauerhafte oder auch zukunftsfähige Entwicklung) offiziell und bestimmt ihn folgendermaßen: „Im Grund ist dauerhafte Entwicklung ein Prozess der Veränderung, in dem die Ausbeutung von Rohstoffressourcen, die Art der Investitionen, die Ausrichtung technologischer Entwicklung und die institutionellen Veränderungen miteinander harmonieren und sowohl die gegenwärtigen als auch die zukünftigen Möglichkeiten verbessern, die menschlichen Bedürfnisse zu befriedigen“ (WCED o.J., S. 24).
Deutlicher formuliert die Rio-Konferenz von 1992 die fundamentale soziale Verwerfung im Rahmen der ökologischen Krise: „Zwischen Armut und Umweltzerstörung besteht eine enge Wechselbeziehung. Zwar bringt auch die Armut bestimmte Arten von Umweltbelastungen mit sich, doch ist die Hauptursache für die allmähliche Zerstörung der globalen Umwelt in den nicht nachhaltigen Verbrauchs- und Produktionsmustern – insbesondere in den Industrieländern – zu sehen, die Anlass zur ernster Besorgnis geben und zunehmende Armut und Ungleichgewichte verursachen“ (UNCED 1992, Kap. 4, Ziff 4.3).
Deshalb fordert die Agenda 21 „neue Konzepte zur Schaffung von Wohlstand und Wohlergehen (…), die einen höheren Lebensstandard durch eine veränderte Lebensweise ermöglichen, in geringerem Maße auf die erschöpfbaren Ressourcen der Erde zurückgreifen und mit der Tragfähigkeit der Erde besser im Einklang stehen“ (UNCED 1992, Kap. 4, Ziff 4.11).
Dreißig Jahren später sind diese Forderungen weiterhin unabgegolten. Im Gegenteil, die Folgen globaler Erwärmung haben die Umweltkrise mitsamt ihren sozialen Verwerfungen sogar noch dramatisch verschärft. Deshalb haben die Vereinten Nationen die Notwendigkeit nachhaltiger Entwicklung im Rahmen ihrer Agenda 2030 in siebzehn Sustainable Development Goals (SDGs) ausdifferenziert. Freilich stellt sich die Frage, warum die notwendigen sozial-
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ökologischen Transformationen immer wieder ins Stocken geraten und sich die imperialen Lebensstile hartnäckig halten können. Sozialökologische Transformationen verkörpern unverkennbar normative Optionen (vgl. Vogt 2021): Ökologisch kennzeichnet die normative Option einer nachhaltigen, also dauerhaft-belastbaren Nutzung natürlicher Ressourcen einschließlich der Vermeidung negativer Folgen für das gesamte Ökosystem. Die Ausbeutung und Nutzung begrenzt zur Verfügung stehender fossiler Brennstoffe mag zwar durch ihre Substitution durch erneuerbarer Energie für sich genommen hinnehmbar sein. Insofern sie aber schon jetzt erheblich zur globalen Erwärmung beitragen, schädigen sie schon jetzt und vermehrt in der Zukunft die Lebensbedingungen vieler Menschen gravierend. Insofern können sie trotz ihrer schrittweisen Substitution durch erneuerbare Energien niemals ökologisch sein. Sozial kennzeichnet die normative Option einer sozialen Gerechtigkeit im weltweiten Maßstab und im zukünftigen Zeithorizont: Die Nutzungsweisen wie Lebensstile müssen darin ihre Nachhaltigkeit unter Beweis stellen, dass sie prinzipiell verallgemeinerbar sind im Hinblick auf die derzeit wie zukünftig lebende Weltbevölkerung. Sie müssen also vor dem Kriterium der internationalen wie der intergenerationalen Gerechtigkeit bestehen können. Auch diese Maßgabe einer nachhaltigen Entwicklung ist keinesfalls neu. Die Erklärung zum Recht auf Entwicklung der Vereinten Nationen hielt bereits 1986 apodiktisch in ihrer Präambel fest: Entwicklung ist „ein umfassender wirtschaftlicher, sozialer, kultureller und politischer Prozess […], der die ständige Steigerung des Wohls der gesamten Bevölkerung und aller Einzelpersonen auf der Grundlage ihrer aktiven, freien und sinnvollen Teilhabe am Entwicklungsprozess und an der gerechten Verteilung der daraus erwachsenen Vorteile zum Ziel hat“ (UNCED 1986, Präambel).
Kirchen und ihre diakonische Praxis können bei ihrem Engagement für sozialökologische Transformationen auf lokale, nationale wie internationale Erfahrungen aufbauen. Eine höchst prominente Tradition ist der „Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“, der 1983 im Ökumenischen Rates der Kirchen seinen Ausgang nahm und an vielen Orten der Welt beschritten wurde (Furger 1990). Es ist gerade die Verknüpfung einer „Bewahrung der Schöpfung“ – als Ausdruck eines gedeihlichen Umgangs mit den natürlichen wie sozialen Ressourcen – mit den Fragen des Friedens und weltweiter Gerechtigkeit, der für jedes diakonische Engagement bei der sozialökologischen Transformation der (Welt-)Gesellschaft profilgebend wirkt. 5
Transformative Diakonie in demokratischer Gesellschaft
Die Betonung der „aktiven, freien und sinnvollen Teilhabe“ aller Einzelpersonen beim Prozess nachhaltiger Entwicklung hebt auf das ab, was man als umfassende Demokratisierung menschlicher Lebensverhältnisse bezeichnen kann.
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Demokratie bedeutet „das gleiche Recht aller Bürger:innen auf Teilhabe an der kollektiven Gestaltung der sie gleichermaßen betreffenden gesellschaftlichen Lebensverhältnisse“ (Lessenich 2019, S. 20). Und es ist sicherlich kein Zufall, dass der Konziliare Prozess der Kirchen auch vor der ehemaligen DDR nicht haltmachte und im Frühsommer 1989 als Ökumenische Versammlung in Dresden und Magdeburg wichtige Impulse für die „friedliche Revolution“ der Jahreswende 1989/1990 freisetzte (Furger 1990). Demokratisierung der Gesellschaft hat immer zwei Richtungen: zum einen die Ausweitung jener Teilbereiche der Gesellschaft, in denen die Betroffenen an deren Ausgestaltung beteiligt werden; zum anderen die Ausweitung jenes Personenkreises, die als Betroffene formal wie tatsächlich gleichberechtigte Partizipationsmöglichkeiten in Anspruch nehmen können. Demokratie erweist sich infolgedessen als eine Staatsform, die auf den unterschiedlichen Ebenen solche Beteiligungsprozesse aller (Staats-)Bürger:innen verlässlich organisiert, und darüber hinaus auch als eine Lebensform, in der diese sich wechselseitig Gelegenheiten gemeinschaftlicher Teilhabe zuspielen und umgekehrt diese Möglichkeiten im Interesse aller verantwortungsvoll wahrnehmen. Gegen eine liberalistische Verkürzung demokratischer Vergemeinschaftung ist nämlich daran zu erinnern: Demokratie gewinnt erst im Raum kommunikativer Freiheiten ihrer Bürger:innen die Chance auf eine humane Gestaltung der Gesellschaft. Solch kommunikative Freiheit ist in einem emphatischen Sinne bindungsreich: Natürlich misst sie der Unvertretbarkeit individueller Selbstbestimmung und eigener Handlungskompetenz aller Einzelpersonen ein hohes Gewicht zu. Aber sie missversteht die Handlungsfreiheit der Mitmenschen nicht als bloße Grenze des je eigenen Freiheitsraumes – darin liegt der Irrtum liberalistischer Optionen. Sondern sie anerkennt die Handlungsmächtigkeit der Anderen als Ermöglichungsgrund des eigenen vitalen Lebens- und Freiheitsinteresses und umgekehrt. Das gilt gerade auch im politischen Sinne. Die Konstellation des gemeinsam geteilten Lebensraumes von Menschen koppelt schon die Befriedigung individueller elementarer Daseinsgrundfunktionen wie der Ernährung, des Wohnens, des Arbeitens, der Gesundheitsvorsorge usw. unauflöslich an das politische und ökonomische Zusammenspiel aller (vgl. Hambloch 1983). Es ist gerade die gegenwärtige globale Erwärmung des Klimas, die solches Zusammenspiel von Handlungsmächtigkeiten eindrucksvoll ansichtig macht – und zwar sowohl hinsichtlich deren unheilvollem Potential zur kollektiven Selbstzerstörung als auch hinsichtlich der heilsamen Notwendigkeit demokratischen Handelns, das die drohende Gefahr kollektiver Selbstzerstörung abzuwehren oder wenigstens zu begrenzen sich müht. Eine nachhaltige Demokratisierung im Kontext der Klimakrise wird insbesondere von ihrer konsequenten Internationalisierung, also des demokratischen Zusammenspiels innerhalb der Weltgesellschaft abhängen. Das bedeutet zunächst die Stärkung multilateraler Organisationen und Vereinbarungen, in denen wenigstens der Versuch gemacht wird, die Interessen aller betroffenen
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Bevölkerungen in einen fairen Ausgleich zu bringen. Fair heißt vor allem gerecht. Mit Blick auf die klimabelastenden Schadstoffemissionen heißt Gerechtigkeit wiederum, sorgfältig zu unterscheiden zwischen notwendigen Freisetzungen, die durch einen gewissen Grad an Industrialisierung und Technisierung die elementaren Bedürfnisse einer Bevölkerung(-sgruppe) stillen, und vermeidbaren Freisetzungen, die durch den effizienteren Einsatz von Rohstoffen reduziert werden können, sowie solchen lebensstilassoziierten Freisetzungen, die zwar die luxuriösen Annehmlichkeiten der (wenigen) einen ermöglichen, die Lebensgrundlagen der (vielen) anderen aber unwiederbringlich zerstören. Zur konsequenten Demokratisierung gehört aber vor allem, die wechselseitigen Verflechtungen in ihrer Komplexität sichtbar zu machen. Denn die imperialen Lebensstile der einen werden in ihrer alltäglichen Normalität überhaupt erst dadurch möglich, dass „andernorts“ etwas passieren kann – etwa die für Mensch und Natur zerstörerische Ausbeutung von Rohstoffen –, was für die Mehrzahl von Konsument:innen nicht sichtbar ist. „Es ist diese Unsichtbarkeit der sozialen und ökologischen Voraussetzungen“, so die tatsächlich aufregende Beobachtung von Ulrich Brand und Markus Wissen, „die die Selbstverständlichkeit des Kaufs und der Nutzung erst ermöglicht“ – beispielsweise „Erdbeeren aus China, die im Winter in deutschen Schulküchen angeboten werden“ oder „Tomaten, die illegalisierte MigrantInnen in Andalusien für den nordeuropäischen Markt produzieren“ (Brand/Wissen 2017, S.44). Ein nachhaltig demokratischer Lebensstil vor Ort wie im Weltmaßstab grenzt sich zur imperialen Lebensweise genau darin ab, dass er deren Ermöglichungsbedingung des unsichtbaren Andernorts außer Kraft setzt und die Verdunkelungsstrategie der Profiteur:innen als den Verblendungszusammenhang der (vorgeblich) Ahnungs- und Arglosen entlarvt. Für solches Sichtbarmachen besitzen die Kirchen und ihre Diakonie auf Grund ihres genuin religiösen Selbstverständnisses nicht nur ein originäres Mandat, sondern aufgrund ihres langjährigen Engagements in der weltweiten Ökumene eine besondere Kompetenz. In diesem Sinne wirken sie selbst unmittelbar transformativ. Literatur Becker, E./Jahn, T. (2006): Einleitung. In: E. Becker/T. Jahn (Hg.): Soziale Ökologie. Grundzüge einer Wissenschaft von den gesellschaftlichen Naturverhältnissen (S. 11–26). Frankfurt a.M./New York. Brand, U./Wissen, M. (2017): Imperiale Lebensstile. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im Globalen Kapitalismus. München. Datenethikkommission (2019): Gutachten der Datenethikkommission. Berlin https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/theme n/it-digitalpolitik/gutachten-datenethikkommission.pdf?__blob=publication File&v=6 (zuletzt abgerufen 10.3.2021). Deutsche Bischofskonferenz/Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (2014): Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initia-
Diakonie in der Transformationsgesellschaft
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Konzeptionen und Dialogbewegungen
7 Theologie der Diakonie – Konzeptionen und Profile Andreas Lob-Hüdepohl und Gerhard K. Schäfer
1 Rückkehr in die Diakonie Noch kurz vor seiner Ermordung durch die NS-Schergen plante Dietrich Bonhoeffer eine Schrift zur Zukunft des Christentums und der Kirche. In seiner Entwurfsskizze notiert er als ersten diesen apodiktischen Satz: „Die Kirche ist nur Kirche, wenn sie für andere da ist.“ Und sie ist nur dann für andere da, wenn sie „an den weltlichen Aufgaben des menschlichen Gemeinschaftslebens [teilnimmt], nicht herrschend, sondern helfend und dienend“ (Bonhoeffer 1990, 206 f.). Fast zeitgleich wandte sich der Jesuitenpater Alfred Delp, der im Februar 1945 als Widerstandskämpfer hingerichtet wurde, ebenfalls aus der Haft in einem aufrüttelnden Appell an beide Kirchen: Deren Schicksal, so war er überzeugt, wird von zwei Sachverhalten abhängen: Zum einen von einer konsequenten ökumenischen Zusammenarbeit: „Wenn die Kirchen der Menschheit noch einmal das Bild einer zankenden Christenheit zumuten, sind sie abgeschrieben.“ Zum anderen von ihrer bedingungslosen Rückkehr zum Dienst am Menschen, zur Diakonie: „Damit meine ich das Sich-Gesellen zum Menschen in allen seinen Situationen mit der Absicht, sie ihm meistern zu helfen, ohne anschließend irgendwo eine Spalte oder Sparte auszufüllen. […] ‚Geht hinaus‘ hat der Meister gesagt, und nicht: ‚Setzt euch hin und wartet, ob einer kommt‘. Damit meine ich die Sorge auch um den menschentümlichen Raum und die menschliche Ordnung“ (Delp 1981, S. 141).
Bonhoeffer und Delp markieren die beiden Pole, um die das theologische Nachdenken über die Diakonie immer wieder kreist: zum einen um die theologische Begründung der Diakonie als Wesensmerkmal christlichen Glaubens und kirchlichen Lebens und zum anderen um die Explikation des Profils, das nicht zuletzt aus theologischen Begründungskonzeptionen resultiert. Zwar mag das diakonische Handeln von Christ:innen und Kirche – bei aller Differenz der
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theologischen Konzeption – als Ausfluss, ja als Darstellung ihres Gottesglaubens im Grundsatz unstrittig sein. Die Frage nach dem spezifisch christlichen Profil der Diakonie gewinnt dagegen vor allem dort an Brisanz, wo sich Caritas und Diakonie im stark rechtlich normierten Rahmen des öffentlichen Gesundheits- und Sozialwesens sowohl als fachlich angemessene wie als christlich imprägnierte Dienste und Einrichtungen bewähren und profilieren müssen. 2 Theologische Begründungszusammenhänge 2.1 Suchbewegungen Johann Hinrich Wichern, einer der Pioniere der modernen Diakonie, hat Mitte des 19. Jahrhunderts eine ökumenisch angelegte Theologie der Diakonie entworfen, die Grundzüge einer „bedingungslosen Rückkehr zum Dienst am Menschen“ zum Inhalt hat. Diakonie gründet nach Wichern in Gott selbst. Sie ist „das Abbild der urbildlichen Liebe und Gemeinschaft […], die in dem dreieinigen Gott selber als ewiges Leben lebt“ (Wichern 1968, S. 133). Diakonie vollzieht sich als Einkehr in die diakonische Bewegung Gottes zum Menschen. Wicherns weitgespannte theologische Theorie der Diakonie fand allerdings kaum Resonanz. Im deutschen Protestantismus – wie im Katholizismus – entwickelte sich eine ausdifferenzierte soziale Praxis, die aber kaum Gegenstand theologischer Reflexion war. Erst mit den sozialen Herausforderungen nach dem Zweiten Weltkrieg und der Ausgestaltung des bundesdeutschen Sozialstaats setzten theologische Suchbewegungen ein, bei denen die Identität, Relevanz und Reichweite christlicher Hilfepraxis im Fokus standen. Im Zusammenhang der Neugestaltung konfessioneller Hilfe angesichts der massenhaften Not nach Ende des 2. Weltkriegs ist der Begriff „Diakonie“ im evangelischen Raum neu entdeckt und ekklesiologisch konturiert worden. Zur Geltung wird gebracht, dass Diakonie als Grundvollzug von Kirche ihren Zweck in sich selbst hat und als Teil der verfassten Kirche zu gestalten ist. Zugleich plädiert Eugen Gerstenmaier, der erste Leiter des 1945 gegründeten Hilfswerks, für eine Ausweitung des Diakonieverständnisses in Richtung der Gesellschafts- und Sozialpolitik. „Es ist das Vorrecht der Christen, Wunden zu verbinden, Barmherzigkeit zu üben und Trost zu spenden. Aber es ist nicht minder das Recht, ja die Pflicht der Christenheit, dem Streit zu wehren, Wunden zu verhindern, für die Gerechtigkeit in den Kampf zu gehen und verzweifelte Lebensbedingungen zu Lebensmöglichkeiten zu wandeln“ (Gerstenmaier 1956, S. 98 f.).
Ende der 1940er und in den 1950er Jahren mehren sich im deutschen Katholizismus die Stimmen, die – wie Romano Guardini – angesichts der Integration der Caritas in den bundesrepublikanischen Wohlfahrtsstaat die Identität des Dienstes am Nächsten kritisch einklagen. Guardini befürchtet eine Anpassung
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an den Staat und eine „Säkularisierung“ der Caritasarbeit. Gegenüber der Auffassung, Caritas sei eine Spielart des universalen Hilfehandelns, charakterisiert er sie als eine in der Christuswirklichkeit wurzelnde und durch die Liebe geprägte spezifische Praxis: „Das Gesetz [der Liebe] steht quer zu allem, was aus den natürlichen Zusammenhängen der menschlichen Beziehungen, biologischer, psychologischer, soziologischer, kultureller Art herauswachsen könnte. […] Es kommt aus der wissenden Innerlichkeit Jesu, fordert Glauben, verlangt Gehorsam und muß in Überwindung des nur Natürlichen verwirklicht werden“ (Guardini 1956, S. 12).
Gegenüber der puren „Sachlichkeit“ wohlfahrtsstaatlich organisierter Hilfe hebt Guardini die Bedeutung personaler Zuwendung zu Menschen in Not sowie die Selbstlosigkeit des Helfens als Profilelemente der Caritas heraus und wendet sich gegen die aus „menschlicher Selbstherrlichkeit“ (1956, S. 21) erwachsene Vorstellung, Not lasse sich grundsätzlich beseitigen. Die in den Nachkriegsjahren aufgeworfenen und in den 1950er und 1960er Jahren unter veränderten Bedingungen thematisierten Fragen sind auf evangelischer Seite insbesondere von Wendland, Philippi und Moltmann aufgenommen worden. Auf katholischer Seite hat das II. Vatikanischen Konzil wichtige Grundlagen für die Perspektivierung der Caritas gelegt. 2.2
Christologische Fundierungen
Heinz-Dietrich Wendland und Paul Philippi haben Konzeptionen entwickelt, die darauf zielen, eine christologisch basierte Theologie der Diakonie zu entwerfen. Im Horizont der „forcierten“ Modernisierung sucht Wendland der Christenheit einen Weg aus Introvertiertheit und sozialer Isolation zu weisen. Er geht davon aus, dass das Diakonein, der freie Dienst für andere, die Sendung Jesu Christi insgesamt kennzeichnet. Wendland erhebt Diakonie zum Leitbegriff einer theologischen Theorie des kirchlichen und christlichen Handelns in der modernen säkularen Gesellschaft. Diakonie ist dabei in die fundamentale Spannung hineingenommen, dass Christus einerseits in seiner Gemeinde – in Wort und Sakramenten – präsent und andererseits nach Mt 25,31 ff. in den „geringsten Brüdern“ in der Tiefe des Weltelends verborgen gegenwärtig ist. Diakonie vollzieht sich demnach „zwischen Kirche und Welt“ (Wendland 1958). Aus seinem christologischen Ansatz leitet Wendland vier Dimensionen von Diakonie ab: Diakonie bezeichnet – erstens – die Struktur der Kirche und ihres Handelns insgesamt. Diakonie realisiert sich – zweitens – vorinstitutionell in der Bruder- und Nächstenliebe und – drittens – in institutionellen Ausprägungen. Die institutionelle Ausformung der Diakonie in spezifischen Ämtern, Einrichtungen und Diensten entspricht der Intention, unterstützendes Handeln verlässlich zu gestalten. Dies impliziert die Übernahme weltlicher Rechts- und
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Organisationsformen – soweit dies dem Dienst der Liebe entspricht. Die institutionelle Diakonie konkretisiert sich – viertens – in der gesellschaftlichen Diakonie. Diese bezieht sich wesentlich auf die institutionelle Verflochtenheit menschlicher Existenz, die in der Moderne in spezifischer Weise hervortritt. Wendland betont die Vielgestaltigkeit von Diakonie und sucht zugleich zu zeigen, dass die gesellschaftliche Diakonie zur entscheidenden Handlungsform in der Moderne werden muss. Der in der universalen Herrschaft des „Christus Diakonos“ gründenden gesellschaftlichen Diakonie kommt nach Wendland die Aufgabe zu, angesichts dehumanisierender Strukturen der modernen funktionalen Gesellschaft, die zur Verdinglichung des Menschen führe, Gegenkräfte zu mobilisieren. Diakonie soll der „Freiheit, der Personalität und Gemeinschaftsfähigkeit der Menschen“ (Wendland 1958, S. 33) und damit der Humanisierung der Gesellschaft dienen. In Abgrenzung gegenüber Wendlands sozialethischer Einbettung der Diakonie entwickelt Paul Philippi seinen Entwurf einer ekklesiologisch verorteten Diakonie. Der diakonozentrischen Christuswirklichkeit – so Philippi – entspricht die christozentrische Diakonie. Diakonie bringt die Einbeziehung der Gemeinde in die Christuswirklichkeit zum Ausdruck und zielt auf die Bewährung der in Christus genahten Gottesherrschaft durch die Struktur zwischenmenschlicher Gemeinschaftsbeziehung. Sie wirkt die „solidarische Zuwendung des stärkeren Gliedes zum Schwächeren innerhalb der Bezüge dieses alten, aber nach den Maßen des neuen Äons“ (Philippi 1975, S. 203). Diakonie wird von Philippi als im Abendmahl fundierte Grundordnung der Gemeinde aufgefasst und als kontinuierliches Handeln der Gemeinde im Bezugsfeld sozialer Not definiert. In diesem Zusammenhang findet die Frage nach der Identität der Diakonie eine doppelgliedrige Antwort: Das Kennzeichen der Diakonie ist die gemeindliche Koinonia – und das Charakteristikum der Gemeinde ist die Diakonie. Zugleich markiert Philippi die spezifische Verantwortung der Kirche gegenüber den sozialen Nöten der Welt: Die Gemeinde soll der Welt das Beispiel eines Gott entsprechenden mitmenschlichen Zusammenlebens bieten. Vom Modell gemeindlicher Sozialität sollen Impulse ausgehen, die in die Gesellschaft und den Sozialstaat hinein ausstrahlen. Die Konzeptionen Wendlands und Philippis weisen wesentliche Gemeinsamkeiten auf – aber noch größere Differenzen: Während Wendland die diakonal verstandene Herrschaft Christi universal auslegt, fokussiert Philippi die Gemeinde als Feld, in dem Christi Herrschaft bejaht wird und Gestalt gewinnt. Philippi entfaltet das Wesen der Diakonie vor allem in Kontrast zum säkularen Staat. Wendland sucht hingegen diakonische Aufgabenstellungen in Bezug zu der durch die modernen Funktionssysteme gekennzeichneten Gesellschaft zu entwickeln.
Theologie der Diakonie
2.3
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Diakonie im Horizont des Reiches Gottes
Jürgen Moltmanns Beitrag zur diakonietheologischen Diskussion lässt sich als Versuch verstehen, die Alternativen, die mit den Ansätzen Wendlands und Philippis paradigmatisch in Erscheinung getreten sind, in pneumatologischer und eschatologischer Perspektive zu überwinden. Moltmann konturiert Diakonie als Nachfolge des Gekreuzigten in der Perspektive des Reiches Gottes. „Ohne die Reich-Gottes-Perspektive wird Diakonie zur ideenlosen Liebe, die nur kompensiert und wiedergutmacht. Ohne die Diakonie wird allerdings die Reich-GottesHoffnung zur lieblosen Utopie, die nur fordert und anklagt. Also kommt es in der diakonischen Praxis darauf an, die Liebe auf die Hoffnung und das Reich Gottes auf die konkrete Not zu beziehen. Ohne die Reich-Gottes-Hoffnung verliert die Diakonie ihre christliche Bestimmung und wird in Praxis und Theorie zu einem Teil der sozialstaatlichen Dienstleistungen. Mit der Reich-Gottes-Hoffnung aber muß die Diakonie christlich werden und über soziale Kompensationen hinaus zu Ansätzen und Experimenten der Erneuerung der menschlichen Gemeinschaft führen“ (Moltmann 1984, S. 20).
Moltmann entfaltet Diakonie als Dienst der Versöhnung und Befreiung angesichts unheilvoller Störungen menschlichen Lebens. Sie gewinnt Gestalt in Formen charismatischer, heilender und offener Gemeinschaft. Im Kraftfeld des Geistes kommen unterschiedliche Gaben, auch und gerade die Charismen der schwachen, als töricht geltenden und kleinen Leute zur Geltung. In der Annahme des Anderen wird die Überwindung sozialer Ausgrenzung möglich, die als Voraussetzung für die Heilung bzw. Linderung physischer Leiden gilt. „Wir können das kranke Verhältnis von behinderten und nichtbehinderten Menschen heilen. Das geschieht nicht schon durch Fürsorge und Helfen, sondern zuerst durch Solidarität und Miteinanderleben. Aus dem gemeinsamen Leben ergibt sich dann das Helfenkönnen und auch das Sich-helfen-lassen-können von selbst“ (Moltmann 1984, S. 70).
Moltmanns Konzeption findet in den Postulaten einer „Diakonisierung der Gemeinde“ und einer „Gemeindewerdung der Diakonie“ (1984, S. 36) ihre Pointe. Sein Ansatz zielt auf eine die wechselseitige Anerkennung der Verschiedenen und die Wahrnehmung der Schwächsten als Subjekte im Reich Gottes. Die Ambivalenzen und Überforderungen gemeinsamen Lebens kommen dabei allerdings nicht hinreichend in den Blick. Die These, aus dem „gemeinsamen Leben“ ergebe sich das Helfen und Helfen-Lassen „von selbst“, bleibt fragwürdig. 2.4
Das II. Vatikanische Konzil und seine Impulse für die Caritas
Im katholischen Bereich hat das II. Vatikanische Konzil (1962–1965) wesentliche Grundlagen für die vertiefte theologische Reflexion der Caritas gelegt. Zwei Aspekte kommt dabei besondere Bedeutung zu. Erstens: Während z.B. bei Romano Guardini – wie in Philippis Diakonietheorie – die Caritas in den Gegensatz von Kirche und Welt eingezeichnet ist, geht das Konzil von einer
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eigenen theologischen Dignität der Welt aus und vollzieht eine Öffnung zur Welt. Zum zweiten lässt die Wiederentdeckung der Kirche als „ecclesia caritatis“ und als in der Liebe des dreifaltigen Gottes gründender „communio caritatis“ (Völkl 1987, 231) die Bedeutung der Liebe für die Ordnung der römischkatholischen Kirche, die wechselseitige Fürsorge der Glieder der Kirche und die Verantwortung in der Welt neu hervortreten. Im Sinne des Konzils hat insbesondere Richard Völkl die Praxis der Caritas theologisch begründet und perspektiviert. Caritas gilt ihm als Antwort auf Gottes Liebe, als Mit- und Nachvollzug der göttlichen „caritas“. Darin liegt eine Abkehr von der traditionellen Vorstellung von der Verdienstlichkeit guter Werke bzw. helfenden Handelns. Darüber hinaus geht es Völkl vor allem darum, die ekklesiologische Relevanz der Caritas heraus zu arbeiten. Pointiert formuliert er: „Die Kirche als der fortlebende Christus muß der fortliebende Christus sein“ (Völkl 1987, 22 f). Ähnlich wie Philippi buchstabiert Völkl die Caritas als Lebensgesetz der Kirche – ohne sie allerdings auf den gemeindlichen Binnenbereich zu begrenzen. Mit der Formel des „sozial-caritativen Handelns“ markiert er den gesellschaftlichen Auftrag und bringt zum Ausdruck, dass Caritas in ihrer organisierten Form nicht nur auf individuelle Hilfe, sondern auf die Behebung sozialer Notstände und die Schaffung von Lebensbedingungen zielt, die den Kriterien der Gerechtigkeit und Liebe entsprechen. In ihrem „sozial-caritativen Handeln bezeugt sich die Kirche der Welt als ‚ecclesia caritatis‘, als eine der Gesellschaft ‚dienende Kirche‘ und in zeitgemäßer Form als ‚Kirche der Armen, die weder traditionelle Formen der Armenpflege konserviert noch die Armut selbst glorifiziert, sondern sie durch ‚soziale‘ Hilfen zu überwinden trachtet, aber im Geiste des Evangeliums, der Armut und der Liebe“ (Völkl 1987, S. 121).
Die verbandliche Caritas nimmt Völkl als spezifische Gestalt der Diakonie unter den Bedingungen des Sozialstaats wahr. Dabei macht er Analogien zwischen den Normen der modernen deutschen Sozialgesetzgebung und dem caritativen Handeln namhaft. Ganzheitlichkeit und Partnerschaftlichkeit z.B. gelten als Merkmale einer personalen Hilfe, die aus dem christlichen Verständnis des Menschen erwachsen und dem modernen Verständnis von Unterstützung entsprechen. Die Analogien zwischen christlichem und sozialstaatlichem Hilfeverständnis ermöglichen Völkl zufolge die Zusammenarbeit mit dem sozialen Rechtsstaat. Zugleich erfordert der Sozialstaat unterschiedliche wertorientierte Hilfeangebote. Entsprechend ist das Spezifikum christlicher Begründung und Zielsetzung von Hilfe zur Geltung zu bringen – ohne damit andere Hilfetraditionen zu diskreditieren. In diesem Sinne unternimmt es Völkl, in den Hintergrund gedrängte Motive der jüdisch-christlichen Überlieferung – Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Mitgefühl, Trost – zu rehabilitieren und einzubringen in den Diskurs um das, was Hilfe, die den Menschen gerecht wird, zu heißen verdient.
Theologie der Diakonie
2.5
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Dimensionen und Grundvollzüge kirchlichen Handelns
Nach 1945 hat in evangelischen wie katholischen Diskursen die Frage danach, welche Aktivitäten im Wesen der Kirche gründen und wie die Diakonie im Gesamtgefüge kirchlicher Praxis zu verorten ist, zur Ausformung des Theorems der drei Grunddimensionen bzw. -funktionen geführt. Feier des Lebens in Gottes Gegenwart (Leiturgia), (wortgebundene) Verkündigung der versöhnenden Kraft der Liebe Gottes (Martyria), Beistand in leiblichen, sozialen und seelischen Nöten (Diakonia) sind für das Leben und Handeln der Kirche unverzichtbar. Sie gelten als gleichursprüngliche, nicht aufeinander rückführbare Grundakte. Die Trias ist vor allem ausgebildet worden, um die Dignität der Diakonie herauszustellen und eine Instrumentalisierung der Diakonie für die Verkündigung oder die Auffassung, Caritas sei gegenüber dem liturgischsakramentalen Handeln zweitrangig, abzuwehren. Durch die ökumenisch verankerte Lehre vom dreifachen Amt Christi kann die Trias der kirchlichen Grundvollzüge vertiefend bestimmt werden: Dem prophetischen Amt entspricht die Verkündigung, dem priesterlichen die Liturgie, dem königlichen die Diakonie. Michael Welker hat die diakonische Relevanz des königlichen Amts betont: Der König, der zugleich Bruder und Freund, Armer und Ausgestoßener ist, wirkt durch seinen Geist eine Praxis der liebenden Anteilnahme, Heilung, befreienden Lehre und Bildung und das Bemühen, sie möglichst allen zuteilwerden zu lassen. Christi königliches Wirken ermöglicht die „freie, schöpferische und in der Liebe auch freudige Selbstzurücknahme zugunsten des Nächsten“ (Welker 2012, S. 223 f.). Die Grundvollzüge sind gleichrangig. Wesentlich ist zugleich, dass sie aufeinander bezogen bleiben. Sie ergänzen, vertiefen und durchdringen einander. Entsprechend ist im Horizont der verfassten Kirche zu deklinieren, wie Verkündigung und Feier des Lebens in eine Praxis der Liebe münden. Umgekehrt ist diakonischen Unternehmen zugemutet, ihr symbolisches Kapital zu erinnern und die religiösen Bezüge helfenden Handelns zu rekonstruieren. 2.6
Diakonie als radikale Humanität
Der seit Beginn der 1990er Jahre eingeführte Markt sozialer Dienstleistungen verstärkt für Caritas und Diakonie die Notwendigkeit, sich profiliert zu positionieren. In diesem Kontext hat der katholische Pastoraltheologe Herbert Haslinger eine theologische Grundlegung der Diakonie vorgenommen, in der die Unendlichkeit und Unverfügbarkeit Gottes zur Geltung gebracht und die unbedingte Verantwortung für den Anderen betont wird. Haslinger fundiert die Diakonie durch einen Rückgriff auf die Kategorie des „Anderen“, wie sie in der Philosophie Emmanuel Lévinasʼ zentral ist. Der Andere in seiner Nacktheit, Verletzlichkeit und Ausgegrenztheit ist für Lévinas der Ort, an dem der Unendliche „erscheint“. Entsprechend richtet sich nach Haslinger die biblische Tradition auf eine Praxis, deren Signatur die Begegnung mit anderen Men-
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schen ist. Dabei geht es ausschließlich darum, dem Anderen ein Mensch-Sein gemäß seines eigenständigen Person-Seins zu ermöglichen. Eine solche „diakonische Begegnung ist in sich und aus sich authentisches Zeugnis von Gott, Praxis gemäß dem, was wir als Willen Gottes erahnen können. Und sie ist das gerade und nur dann, wenn dabei kein ‚mehr‘, kein darüber hinaus gehendes christliches oder kirchliches Proprium und kein zusätzlicher Effekt für die Kirche angestrebt wird“ (2009, S. 302). Diakonie als radikaler Humanismus des Anderen ist Ausdruck christlichen Glaubens. Solche Humanität hat in der Option für die Armen ihre Pointe. Eine diakonische Praxis, die sich an der Option für die Anderen und für die Armen orientiert, ist nach Haslinger konstituiert durch die ästhetischen Wahrnehmungen der Betroffenheit und des Mitgefühls. Sie erfordert eine Haltung der Bescheidenheit, sodass dass die Bemühungen um die Befreiung der Armen nicht damit einhergehen, die Betroffenen an die Lebensmuster der Helfenden anzugleichen. Haslinger fordert schließlich eine „kulturelle Diakonie“, die an die meist übersehene Kultur der kleinen Leute erinnert und darauf abzielt, notleidende Menschen zu ermächtigen, als Subjekte handeln. In seiner Grundlegung der Diakonie greift Haslinger die sozialphilosophische Konzeption Ansatz Levinasʼ auf und korreliert dessen Verständnis von Alterität mit der biblischen Option für die Armen. So fruchtbar dieser Denkzusammenhang für die Begründung der Diakonie ist, so angebracht erscheint es, ihn durch sozialanthropologische Theorien und theologische Motive zu ergänzen, die die Bedeutung der Gabe für menschliche Gemeinschaften und das Hilfehandeln betonen. 1 In diesem Zusammenhang kommt Gott als vorgängiger Geber des Lebens in den Blick, und Diakonie gewinnt Konturen als Erwiderung und Dank an Gott und als Miteinander-Teilen. Seinen symbolischen Ausdruck findet dieses Geschehen von Teilhabe und Teilgabe in der Eucharistie. Insbesondere in orthodoxen Ansätzen einer Theologie der Diakonie und in Diskursen des Ökumenischen Rats der Kirchen ist dies zur Geltung gebracht worden (vgl. Maaser/Schäfer 2016, S. 551–561). 2.7
Schöpfungstheologische Begründung
In jüngster Zeit haben Christoph Sigrist und Heinz Rüegger dafür plädiert, Diakonie vorrangig schöpfungstheologisch zu begründen. Gott hat als Schöpfer allen Menschen die Fähigkeit zu prosozialem Verhalten mitgegeben – so lautet die Grundthese eines Ansatzes, der die Universalität mitmenschlicher Hilfemöglichkeiten betont und theologisch würdigt. Die theologisch reflektierte Einsicht, dass Helfen eine anthropologische Konstante darstellt, soll im „zugleich säkularen und multireligösen“ Kontext den Dialog über „heute angemessene Formen solidarischen Helfens“ (2014, S. 77) ermöglichen und eine
1 S.
den Beitrag von Maschmeier in diesem Band, S. 35 ff.
Theologie der Diakonie
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christliche Arroganz abwehren, die mit christologischen Konzeptionen der Diakonie verbunden sei. So notwendig es ist, christologische Begründungen zu modifizieren und zu ergänzen, so wenig produktiv ist es, schöpftungstheologische und christologische Orientierungen gegeneinander ausspielen zu wollen. 2.8
Trinitarischer Begründungszusammenhang
Johann Hinrich Wicherns Impuls aufnehmend, ist Diakonie trinitarisch zu begründen. Insofern Diakonie ihren ursprünglichen Ort im Gottesverständnis hat, gewinnt sie letzte Tiefe. Ein trinitarischer Begründungszusammenhang ermöglicht es auch, unterschiedlich motiviertes Hilfehandeln theologisch differenziert wahrzunehmen und verschiedene Zugänge zur Diakonie zu integrieren: Schöpfungstheologisch kommt die Würde des Menschen im Motiv der Gottebenbildlichkeit zur Geltung. In der Fähigkeit, sich von fremdem Leid anrühren zu lassen und Hilfe zu leisten, leuchtet die Güte des Schöpfers auf. Angesichts der Gefährdung der Schöpfung und der menschlichen Fähigkeit zur Hilfe stellt die Christologie heraus, wie Gott sich dem Unheil aussetzt, mitleidet und einen Perspektivwechsel zum anderen hin vollzieht. Im Blick auf das Kreuz und in der Kraft der Auferstehung können Menschen in Leid und Versagen zu neuen Lebensmöglichkeiten aufstehen. Hilfe kann erneuert und vertieft werden. Der schöpferische Geist Gottes vitalisiert und lässt Segenskräfte fließen. Kirche ist im Kern das Kraftfeld des Geistes, der Freude an schöpferischen Differenzen schenkt, Gaben weckt, Emphatie stärkt und den Mut zur Selbstzurücknahme zugunsten anderer und des Eintretens für andere gibt. Das Wirken des Geistes sensibilisiert zugleich für ungerechte Differenzen und drängt auf eine vollkommenere Gerechtigkeit, durch die der Schutz Schwacher und Benachteiligter gestärkt wird. Diakonie ist Teil der Geschichte Gottes, der unterwegs ist zum Ziel mit seiner Schöpfung. Als Praxis im Horizont des Reiches Gottes ist sie vorläufig – im doppelten Sinn: Sie ist zum einen vorläufig als symbolische Kommunikation und Interaktion der Reich Gottes-Hoffnung. Sie ist zum anderen vorläufig, weil sie als menschliches Handeln begrenzt ist. Diakonie ist und bleibt Fragment. Sie kann allerdings „messianisches“ Fragment werden. 3
Profile diakonischen Handelns in Diensten und Einrichtungen
Die Diakonie der Kirche vollzieht sich in den unterschiedlichen Formen und Sozialgestalten: in Gemeinden und Gemeinschaften, in (gegebenenfalls kirchlich offiziell anerkannten) Vereinen und Verbänden und besonders in Deutschland vor allem in den Diensten und Einrichtungen der organisierten Caritas und Diakonie. Die nachfolgenden Elemente profilieren alle diakonische Praxis – je nach Ort und Struktur einmal mehr, ein anderes Mal weniger ausgeprägt.
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3.1
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Spezifisch christlich?!
Die Frage des „spezifischen Christlichen“ diakonischen Handelns ist heikel. Denn jede Bestimmung steht schnell im Verdacht, über alle Fachlichkeit hinaus irgendetwas dingfest machen zu wollen, das andere im Bereich der öffentlichen Wohlfahrt – seien sie staatlich, freigemeinnützig oder privat – nicht ihr Eigen nennen können. Es geht um das sprichwörtliche „ad on“ oder „Alleinstellungsmerkmal“, mit denen sich Caritas und Diakonie von anderen wohlfahrtstaatlichen Akteur:innen abheben. Freilich ginge ein solch zugespitzter Exklusivitätsanspruch am Spezifischen des Christlichen vorbei. Der katholische Konzilstheologe Karl Rahner hat in diesem Zusammenhang vor einer „Ideologie im Namen des Christentums“ gewarnt und zu bedenken gegeben: „Von einer Katechismus-Theologie durchschnittlicher Art her könnte man meinen, das Christentum fange erst dort an, wo ganz bestimmte Normen sittlicher oder kultischer oder kirchengesellschaftlicher Art respektiert werden. So ist es aber nicht. Die eigentliche totale, umfassende Aufgabe des Christen als Christen ist die, ein Mensch zu sein, freilich mit jener göttlichen Tiefe, die ihm unweigerlich in seinem Dasein vorgegeben und eröffnet ist. Und insofern ist eben das christliche Leben Annahme des menschlichen Daseins überhaupt, im Gegensatz zu einem letzten Protest“ (Rahner 1981, S. 389).
Dieser Grundsatz ist auch für die Bestimmung des spezifisch Christlichen von Caritas und Diakonie aufschlussreich. Zum Proprium christlicher Diakonie gehört, sich auf die Wirklichkeit und Lebenswelt des Menschen, mit der Caritas und Diakonie konfrontiert sind, ungeschönt wie undramatisch einzulassen und einfach dasjenige zu tun, was unter Rücksicht der Menschendienlichkeit für alle richtig und plausibel ist. Darin besteht gewissermaßen das proprium inclusivum: Dieses und jenes muss in jedem Fall die diakonische Praxis bestimmen – unabhängig davon, ob andere Akteur:innen der Wohlfahrt das auch tun oder nicht. Und wenn sich in dieser Praxis christliche Deutungen oder Haltungen – Rahner spricht von „göttlicher Tiefe“, die unserem Dasein als Menschen eingeschrieben ist, – als wesentlich erweisen, die aber andere nicht teilen können oder wollen, dann erst gäbe sich ein Proprium zu erkennen, was spezifisch christlich in einem exklusiven Sinne (proprium exclusivum) ist. Das legt die Unterscheidung von drei Dimensionen oder Koordinaten nahe, in dem das spezifisch Christliche Profil gewinnt: Unverzichtbar für die kirchliche Diakonie ist etwa die Orientierung an der geschöpflichen Würde des Menschen, an seinem Selbstgestaltungspotential und daraus resultierend an einer möglichst hohen Fachlichkeit diakonischer Praxis, die für jede diakonische Unterstützung einer gelingenden Lebensführung unerlässlich ist. Diese Orientierung an der Würde des Menschen ist Grundlage jedes menschenrechtsbasierten Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen. Christ:innen interpretieren sie als Verpflichtung, die der Gottebenbildlichkeit jedes Menschen geschuldet ist. Auf diese Verpflichtung können sie aber keinen Exklusivitätsanspruch erheben. Unvermeidbar christlich ist die Einsicht, dass jede diakonische Praxis immer
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wieder mit schmerzhaften Widersprüchen menschlicher Existenz konfrontiert ist – mit Misslingen und Scheitern, bei sich und anderen, bei Klient:innen ebenso wie bei Kolleg:innen, Vorgesetzen oder anderen Akteur:innen, mit denen sie manches Mal selbst unheilvoll verstrickt sind. Gerade Christ:innen dürfen die Augen vor den Brechungen und Gebrochenheiten des Menschseins als dessen Grundsignum nicht verschließen. Christ:innen können aber diese Brechungen und Gebrochenheiten ernst nehmen mit einer Zuversicht, für die das Christliche unverwechselbar ist: nämlich mit dem Zuspruch christlicher Erlösung, dem Zuspruch Gottes unbedingtem Ja zu jedem einzelnen Menschen – vor aller Leistung und trotz allem Imperfekten, trotz aller Schuld. Diesen Zuspruch verbinden Christ:innen besonders mit dem Leben und Geschick, mit dem Tod und mit der Auferweckung Jesu Christi. Das ist tatsächlich ein Moment des proprium exclusivum, das sich in das Koordinatensystem spezifisch christlicher Diakonie einschreiben will (Lob-Hüdepohl 2017b). 3.2
Wachhalten der Gottesfrage
Für Rahner besteht kein Zweifel, dass sich auch in säkularen Formen wohlfahrtstaatlichen Engagements diakonisches Handeln ereignen kann: „Denn überall, wo die profane soziale Tat der Gesellschaft der ewigen Würde der Person, ihrer Freiheit und Befreiung von Selbstentfremdung dient, wo sie dem Menschen ermöglicht, er selbst zu sein und irdisches und ewiges Geschick in Selbstverantwortung zu tun, wo sie ihn von möglichst vielem Vorpersonalem entlastet, um ihm das Schwerste zuzulasten: ihn selbst in seiner Freiheit, überall da sind gesellschaftliche Wirklichkeiten gegeben, die auch Leib der Liebe sein können, es oft auch sind und so […] zum Erscheinungsbild der Kirche gehören könnten“ (Rahner 1967, S. 679).
Dagegen aber gibt es gesundheitliche oder soziale Problemlagen, in denen Fragen des Religiösen oder des Transzendenten eine gewichtige Rolle spielen – sei es, dass sie solche Problemlagen verstärken und gar erst erzeugen oder sei es, dass religiöse Sinnbezüge der Adressat:innen diakonischer Praxis als Ressourcen zur Verfügung stehen und zwecks eigenverantwortlicher Lebensbewältigung erschlossen werden können. So können ekklesiogene Zwangsneurosen (Hark 1990) oder auch religionsassoziierte Fanatismen soziale Problemlagen erst erzeugen. Umgekehrt erweist sich etwa religiös fundierte Hoffnung oftmals als wichtiges Potential für Überwindung von Lebenskrisen (Pargament 2013). Längst hat sich in vielen Bereichen des Gesundheits- und Sozialwesens die essentielle Bedeutung dessen herausgestellt, was die Begründerin der Hospizbewegung, Cecily Saunders, in den Grenzsituationen schwerster Erkrankung aufgezeigt hat: das Moment der persönlichen Spiritualität in der Bewältigung extremer Belastungen (Saunders 1993). Daraus ergibt sich schon die fachliche Notwendigkeit spiritueller Sorge („spiritual care“ Weiher 2014, Roser 2014). Ob man Spiritualität eher allgemein als „die transzendente und existenzielle Weise, das je eigene Leben in einem fundamentalen Sinn als menschliche Per-
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son zu leben“ (IWG 1990), als „religiöse Gesinnung aus der Inspiration des jüdisch-christlichen Glaubens“ versteht, „in der sich Menschen zur Wirklichkeit verhalten“ (Karrer 2006, S. 385) – all das ist zunächst unerheblich. Erheblich ist vielmehr, dass die basale und offenherzige Sensibilität für solche Fragen des Religiösen und des Transzendenten zum Kernprofil allen diakonischen Handelns gehört. Solche „basale religiöse Sensibilität“ (Lob-Hüdepohl 2017a) setzt zwar auf Seiten diakonischer Akteur:innen nicht zwingend ein eigenes religiöses Gottesbekenntnis voraus. Wohl aber zwingt es sie dazu, der Bedeutung religiöser Potentiale auf allen Seiten diakonischer Praxis und vor allem auf Seiten der Begleiteten mit Achtsamkeit und Respekt zu begegnen. Wo die Spiritualität eines Menschen einen persönlichen Gottesbezug herstellt, ist – wo gewünscht – sogar der Anknüpfungspunkt für eine Seelsorge in einem spezifisch christlichen Verständnis gegeben. „Diakonische Seelsorge“, so ist mit Henning Luther zu charakterisieren, ist die „solidarisch-helfende Zuwendung zum je individuellen einzelnen in befreiender Absicht zugunsten des einzelnen unter konstitutiver Berücksichtigung seines sozialen und gesellschaftlichen Kontextes“ (Luther 1988, S. 476). Insofern aber christliche Seelsorge immer auch die Gottesbeziehung eines Menschen einbezieht und so die Gottesfrage implizit oder explizit wachhält, wäre eine diakonische Praxis, die die religiösen Potentiale ausdrücklich mitthematisiert, immer auch eine „seelsorgliche Diakonie“. Das „Wachhalten der Gottesfrage“ bedeutet freilich weder eine aufdringliche Konfrontation mit dem Gottesglauben noch deren womöglich sogar autoritativen Beantwortung seitens der diakonischen Akteur:innen. Das „Wachhalten der Gottesfrage“ begleitet vielmehr jene Suchbewegungen, die die Adressat:innen mit Blick auf die Momente des Religiösen, also auf die Rückbindungen ihrer Existenz zu jener Wirklichkeit selbst zu erkennen geben, die nicht in ihrer Hand ist. In diesem Sinne engagiert sich seelsorgliche Diakonie in einem dialogischen Entdeckungszusammenhang von existentiellen Sinnpotentialen, die für die Bewältigung von Lebenskrisen und Lebenslagen der Begleiteten hilfreich sind – eben unter Einbeziehung der Gottesfrage. Von hier aus wird eine elementare Verschränkung diakonischen Handelns mit den anderen beiden Grundfunktionen kirchlichen Lebens deutlich. Denn ein seelsorgliches Gespräch, das in die diakonische Praxis des Gesundheits- und Sozialwesens eingebettet ist, wird gelegentlich auch biblische Erzählungen zur Sprache bringen, ein Gebet mitsprechen oder sogar ausdrücklich ein liturgisches Ritual mitfeiern – und sei es „nur“ im Mithören einer Kantate oder in der stillen Meditation im Angesicht einer brennenden Kerze. Nochmals: Auch solche basalen Formen der Wortverkündigung (Martyria) oder des liturgischen Feierns (Leiturgia) dürfen niemals aufgezwungen werden. Und doch sollten gerade kirchliche Dienste und Einrichtungen durch entsprechende Angebote Gelegenheiten einer in dieser Hinsicht ganzheitlich seelsorglichen Diakonie eröffnen, mit denen ihre Nutzer:innen rechnen und auf deren Vorhandensein sie vertrauen können. Rituale können eine heilsame Entlastungsfunktion entbergen. Sie inszenieren einen Kontrast zur Alltäglichkeit des Lebens, in der
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sich ein Mensch entweder zu verlieren droht oder aber allein auf sich gestellt sieht. Demgegenüber eröffnen „Rituale“, wie Fulbert Steffenski betont, eine Formensprache, „in denen wir bei uns sein können und in denen wir nicht ausschließlich bei uns sind. Fremdheit und Heimat knoten sich in ihnen. Sie lassen uns Bewusstheit, und sie nehmen uns Überbewusstheit und falsche Existentialität“ (Steffensky 1994, S. 30). 3.3 Entgrenzte Zuständigkeit Das Profil einer seelsorglichen Diakonie könnte das Missverständnis begünstigen, als richteten sich kirchliche Dienste und Einrichtungen in erster Linie an Angehörige der eigenen Religion oder gar Konfession. Und tatsächlich entwickelten sich die evangelische Diakonie und die katholische Caritas als Wohlfahrtseinrichtungen mit dem konfessionsgebundenen Hauptaugenmerk auf Angehörige ihrer eigenen Konfession. Was durch die spezifische Struktur des deutschen Wohlfahrtsstaates und seines Prinzips des „Wahlrechts“ begünstigt wurde, widerspricht aber eigentlich der biblisch-theologischen Grundsignatur diakonischen Handelns. Denn diese orientiert sich – neben Mt 25,31–46, der „Magna Charta“ der Diakonie, die ein universales Hilfsethos beinhaltet – insbesondere am Gleichnis des „barmherzigen Samariters“. Es steht für ein Engagement, dessen Zuständigkeit auf alle Hilfsbedürftigen – ohne Ansehen ihrer Religion oder sonstigen Zugehörigkeiten – entgrenzt ist und dessen Nächstenliebe sogar als „Fernstenliebe“ Gestalt annimmt. Das ergibt sich zumindest aus der ursprünglichen Aussageabsicht des biblischen Gleichnisses (Mieth 1977, 89 f.). Mit Blick auf seine Rahmung will es keineswegs ein Handlungsmodell sinnvoller Beseitigung von Notsituationen entfalten oder gar eine professionelle Helferrolle skizzieren. Vielmehr erläutert es an einem profanen Alltagsbeispiel die im Umfeld Jesu brisant gewordene Frage, wer denn als der Nächste eines Menschen und damit um der Gottesliebe willen als ein bevorzugter Adressat von Nächstenliebe und Unterstützung zu gelten hat (Lk 10,25–37). Modern gewendet lautet die Frage: Mit wem habe ich caritativ-diakonisch solidarisch zu sein? Nach gängiger Auffassung des antiken Judentums sind eigentlich der Priester und der Gesetzeslehrer (Levit) für die Hilfe des unter die Räuber gefallenen Israeliten zuständig. Denn sie gehören demselben Religions- und Sozialverband an. Trotzdem gehen sie achtlos am Überfallenen vorbei. Stattdessen hilft der Reisende aus Samaria dem hilflosen Israeliten, obwohl er nach den sozialen Gepflogenheiten seiner Zeit gar nicht für die Hilfe zuständig ist. Dass der Samariter als Angehöriger einer vom zeitgenössischen Judentum geächteten und selbst marginalisierten sozialen Gruppierung den unter die Räuber gefallenen Israeliten dennoch rettet und sich ihm in dieser Weise praktisch und leibhaftig als Nächster erweist, unterstreicht die Kernaussage diese Gleichnisses und mithin die Botschaft Jesu: Nicht überkommene soziale Normierungen und Rollenzuweisungen, sondern praktisches Unterstützungshandeln – sozusagen von
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der Unterseite der etalierten Gesellschaft – dokumentiert eine Nächstenliebe, die die vorfindlichen sozialen Grenzziehungen mit ihren üblichen Exklusionsmechanismen überschreitet. Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter illustriert die modellhafte Praxis gewohnheitssprengender Solidarbeziehungen, die über die prinzipiell unbegrenzte, universale Zuständigkeit aller vermeintlich Unzuständigen aufklärt – und zwar allein um der hilfebedürftigen Menschen willen. Damit leuchtet die theologische Infrastruktur diakonischen Handelns auf: gegen exklusive Solidaritäten zwischen den engen Angehörigen der eigenen sozialen Gruppe (Familie, Religionsgemeinschaft, Nation usw.) setzt sie auf die inklusive Solidarität mit wirklich allen, deren Antlitz und Lebenslage durch Leiden aller Art entstellt und beschwert ist – eine Solidarität, die allein durch die „absichtslose Absicht“ der Unterstützung motiviert ist und nicht heimlich die Absicht verfolgt, im Nachgang jede „Spalte oder Sparte“ (Delp) im Leben des Hilfsbedürftigen mit irgendwelchen kirchlichen Inhalten abfüllen zu wollen. 3.4
Persönlich wie politisch
Die oberflächliche Rezeption des „Barmherzigen Samariters“ als eines spontan und unmittelbar sich zuwendenden Helfers in höchster Not könnte dazu beitragen, diakonisches Handeln der Kirchen zu individualisieren und auf eine bloß nachsorgende, vor allem persönlich seelsorgliche Hilfehandlung zurückstutzen zu wollen. Befeuert wird diese privatisierende Tendenz in den letzten Jahren durch die Empfehlung etwa von Organisationsberater:innen, die Kirchen sollten sich angesichts ihres unverkennbaren Bedeutungsverlustes in modernen Gesellschaften auf ihre Kernkompetenzen konzentrieren – nämlich auf das wortgebundene Verkündigung des Evangeliums, auf die ritualreiche Liturgie und nicht zuletzt auf die individuell persönliche Seelsorge. Nur so könnten die Gottesfrage in unserer Gesellschaft und das Verlangen nach dem Numinosen und wirklich Erlösenden wachgehalten, das Alleinstellungsmerkmal beider Kirchen zur Geltung gebracht und damit deren Schicksal positiv gewendet werden. Solche Empfehlungen verkennen aber elementare Einsichten in moderne Lebenswelten ebenso wie die Sinnspitze der Frohen Botschaft des biblischen Gottes und damit der „Kommunikation des Evangeliums“ (Ernst Lange) in dieser Welt. Trost, Heil, ja Erlösung werden tatsächlich höchst persönlich ersehnt und erhofft – aber nicht abseits des alltäglichen Lebens, sondern inmitten jener konflikthaften Lebenslagen und sozialen Lebensnöte, die Menschen immer wieder neu zu bestehen und zu bewältigen haben. Diese persönlichen Lebenskrisen sind keinesfalls nur Ausdruck eines individuell leidvollen Lebensschicksals, sondern oftmals Manifestationen sozialer Spaltungen oder Resultate tiefgreifender sozialer Wandlungsprozesse; gesellschaftlicher Entwicklungen, deren Gewinn- und Verlustseiten selbst gleichmäßig verteilt sind, sondern neben den Gewinner:innen auch Verlierer:innen kennt. Der Gott Sarahs und Abrahams ist der Gott Jesu Christi, dessen Frohbotschaft nicht – wie das 2. Va-
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tikanische Konzil es zutreffend formuliert hat – im Inneren verborgen bleiben, sondern bis in die gesellschaftlichen Strukturen des Alltagslebens eingeschrieben, inkarniert werden will (Lumen gentium 35): „Das Reich Gottes ist“, wie die Gemeinsame Synode der katholischen Bistümer (West-)Deutschlands vor knapp 50 Jahren festgehalten hat, „nicht indifferent gegenüber den Welthandelspreisen“ (Synode 1976, S. 97). Deshalb sind die privilegierten Orte christlicher Gottesrede und praktischer Gottesbekenntnisse weniger die Kanzeln in Kirchen oder die Katheder in Vortragsräumen. Bevorzugte Orte sind vielmehr jene öffentlichen „Hecken und Zäune“ moderner Gesellschaften, jene wortreichen Diskurse wie tatkräftigen Projekte ziviler Öffentlichkeiten, an denen über Gott und die Welt räsoniert und manches Mal auch gestritten wird – und zwar um deren menschendienliche Gestaltung und darin um Gottes willen. Insofern muss der Dienst der Kirchen am, wie es Alfred Delp formuliert hat, „menschentümlichen Raum“ und an der „menschliche(n) Ordnung“ im engen Sinne auch eine politische Diakonie sein. Das hatten offensichtlich auch Eugen Gerstenmaier und Heinz-Dietrichich Wendland mit ihrem Plädoyer für eine gesellschaftliche Diakonie vor Augen. Gesellschaftlicher oder politischer Diakonie geht es weder um parteipolitische Aktivitäten und noch weniger um die Absicherung eigener Einflusssphären und Pfründe. Es geht um einen Dienst an der gemeinsamen Gestaltung des öffentlichen Raumes, zu der alle Bürger:innen einer demokratische Gesellschaft Zugang haben (müssen); um einen Dienst an der Befähigung und Unterstützung besonders derer, die im Handgemenge gesellschaftlicher Aushandlungsprozesse schnell unterzugehen drohen, die längst abgehängt oder an solchen Möglichkeiten „verarmt“ sind, die eigenen vitalen Interessen selbständig zur Geltung zu bringen. Bevorzugter Ort solcher politischen Diakonie ist der Raum ziviler Öffentlichkeit, in dem sie ihre Optionen praktisch bewähren, aber auch umgekehrt von der Gesellschaft für sich selbst lernen kann (vgl. Bedford-Strohm 2016). Politische Diakonie geht es im engen theologischen Sinne um Ökumene wie Katholizität: Es geht ihr um gemeinsames Handeln im Dienst an einer alle und alles umfassenden Gemeinschaft der einen Menschheitsfamilie, die keine und keinen ausschließt und niemanden zurücklässt. 3.5
Fragmentarisch wie verheißungsvoll
Gerade politische Diakonie führt die Dialektik eines Profilelements diakonischer Praxis vor Augen, das zur theologischen „DNA“ aller diakonischen Praxis gehört: Diakonie ereignet sich im Horizont des Reiches Gottes, ist aber immer auch Nachfolge des Gekreuzigten (Moltmann1989): Sie ist getragen von der Verheißung einer Erlösung, die das Heil des Menschen umfassend ergreift und schon jetzt von Menschen gegenüber anderen Menschen gewissermaßen als therapeutische Dimension der Erlösung zur Darstellung gelangen und erfahrbar werden lässt. Aber diakonische Praxis konfrontiert ebenso unerbittlich mit Leid, mit Misslingen, mit dem Scheitern ganzer Lebenswege. Und sie führt auch die diakonische Akteur:innen immer wieder an die äußerste Grenze ihrer Leistungsfähigkeit und ihres Lebensmutes – gelegentlich bis hinein in
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Gefährdungen der eigenen Existenz, in die der couragierte Einsatz für und mit den Verfolgten und Verfemten der Gesellschaft führen kann: Das Kreuz Jesu Christi ist und bleibt Mahnung und gefährliche Erinnerung zugleich. Noch diesseits solch äußerster Gefährdung erfahren auch diakonisch Handelnde immer wieder schmerzlich die Zerbechlichkeiten, Zufälligkeiten und Zwangsläufigkeiten allen Bemühens. Ihre Praxis steht immer unter dem Vorbehalt des bleibend Fragmentarischen. Doch Christ:innen müssen diesen Vorbehalt des bleibend Fragmentarischen, dieses Imperfekte als Signum ihrer menschlichen Existenz nicht nur akzeptieren, weil es unvermeidbar ist. Sie können es auch unter der Verheißung des Reiches Gottes in gewisser Weise sogar wertschätzen. Denn das Imperfekte steht ja nicht nur für das schmerzhaft Unzulängliche und darin Veränderungsbedürftige ihrer Aktivitäten und Unternehmungen, sondern eben auch für das Veränderungsfähige und Gestaltungsoffene. Diakonische Akteur:innen dürfen auf die Offenheit für die Entwicklung der jeweiligen Zeitumstände bauen – seien sie persönlich, seien sie gesellschaftlich. Sie können diese Offenheit gerade nutzen und gestalten. Denn auch das gehört zur christlichen Deutung von Geschichte und Gesellschaft: Wie das Leben und Geschick des Nazareners nicht im fluchbeladenen Tod am Kreuz endet, sondern Gott ihm durch den Tod hindurch die Treue hält, ihn auferweckt und zu neuem Leben führt; und ähnlich wie damit das Triduum der Karwoche nicht mit der Karfreitagsfeier endet, sondern in den hoffnungsvollen Aufbruch des Ostermorgens mündet; ebenso enden die kanonisierten Schriften der biblischen Tradition in der Offenbarung des Johannes nicht mit einem apokalyptischen Untergangsszenario, sondern mit der Vision der Neuen Stadt Jerusalem: „Seht, die Wohnung Gottes unter den Menschen! Er wird in ihrer Mitte wohnen, und sie werden sein Volk sein; und er, Gott, wird bei ihnen sein. Er wird alle Tränen von ihren Augen abwischen: Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen“ (Apk 21,3 f.).
Deshalb gilt: Auch das bleibend Fragmentarische diakonischer Praxis trägt diesen Verheißungsvermerk. Die Erinnerung an die Nachfolge des Gekreuzigten unter der Verheißung des Reiches Gottes ist gefährlich (Metz 1984, S. 77 f.) – gefährlich vor allem für die Profiteure ungerechter Lebensbedingungen, die nicht davon ausgehen können, dass die beherzten Taten und die unerschrockenen Worte zugunsten der Bedrängten und Benachteiligten mit dem Tod Jesu am Kreuz mundtot gemacht und entschärft wurden; die deshalb auch heute nicht davon ausgehen können, dass die Diakonie der Kirchen in der Nachfolge Christi vor den allfälligen Gegenwinden aus Politik, Wirtschaft oder Gesellschaft verstummt und erlahmt. Denn der Horizont des Reiches Gottes ist keine wohlfeile Vertröstung auf eine bessere Welt zu besseren Zeiten. Sondern er spiegelt einen Verheißungsvermerk: Er spiegelt die Hoffnungsperspektive eines je neuen Aufbruchs in eine je besser gestaltete Welt. Diese Hoffnung ist nicht die Gewissheit, dass alles
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ohnehin gut enden wird. Christliche Hoffnung steht lediglich für die Zuversicht, dass es einen Sinn macht, auch dann etwas beherzt anzufangen und gestalten zu versuchen, selbst wenn keine sichere Prognose zuhanden ist, dass es perfekt oder wenigstens halbwegs befriedigend ausgeht. Christliche Hoffnung ermutigt die Diakonie, die Welt, mit der sie konfrontiert ist, nicht fatalistisch hinzunehmen, sondern mit Zuversicht zu verändern und lebensdienlich zu gestalten – persönlich wie politisch. Literatur Bedford-Strohm, H. (2016): Diakonie in der Perspektive „öffentlicher Theologie“. Gegenwärtige Entwürfe. In: J. Eurich/H. Schmidt (Hg.): Diakonik. Grundlagen – Konzeptionen – Diskurse (S. 145–161). Göttingen. Bonhoeffer, D. (1990): Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Hg. v. E. Bethge. München. Delp, A. (1981): Das Schicksal der Kirchen. In: Ders.: Im Angesicht des Todes (S. 138–133). Frankfurt a.M. Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (1976): Beschluss: Unsere Hoffnung. In: Offizielle Gesamtausgabe. Hg. v. L. Bertsch u. a., Band I (S. 84–111). Freiburg i.Br. Gerstenmaier, E. (1956): Kirche und Öffentlichkeit. Rede bei der Jahrhundertfeier der Inneren Mission, Bethel, 29. September 1948. In: Ders.: Reden und Aufsätze (S. 87–109). Stuttgart. Guardini, R. (1956): Der Dienst am Nächsten in Gefahr. Würzburg. Haslinger, H. (2009): Diakonie. Grundlagen für die soziale Arbeit der Kirche. Paderborn. Karrer, L. (2006): Spiritualität: ein Megatrend? Diakonia, 37, 381–385. Lob-Hüdepohl, A. (2017a): Basale religiöse Kompetenz – ein professionsethisches Muss!? Ein professionsethischer Klärungsversuch. In: K. Hahn u.a. (Hg.): Religionssensibilität in der Sozialen Arbeit (S. 157–169). Stuttgart. Lob-Hüdepohl, A. (2017b): Was macht eine Unternehmenskultur christlich? Einige moraltheologische Erkundungen. In: A. Fritz u. a. (Hg.): Attraktiver Arbeitsplatz Caritas. Eine Unternehmenskultur, die hält, was sie verspricht (S. 21–38). Freiburg i.Br. Luther, H. (1988): Diakonische Seelsorge. Wege zum Menschen, 40, 475–484. Maaser, W./Schäfer, G. K. (2016): Geschichte der Diakonie in Quellen. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Neukirchen-Vluyn. Metz, J. B. (1984): Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Mainz Moltmann, J. (1984): Diakonie im Horizont des Reiches Gottes. Schritte zum Diakonentum aller Gläubigen. Neukirchen-Vluyn. Philippi, P. (1975): Christozentrische Diakonie. Ein theologischer Entwurf (2. Aufl.). Stuttgart. Rahner, K. (1981): Grundkurs des Glaubens. Freiburg i.Br.
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Einleitung
Jüdische Sozialarbeit hat mehrere Wurzeln. Sie liegen in den Geboten der Thora und in der Geschichte des jüdischen Volkes, einer Geschichte, in der es oft um den Kampf ums Überleben geht, um Flucht, Verfolgung und drohende Vernichtung. Diese unterschiedlichen Pfade führen uns schließlich zum gegenwärtigen Verständnis und zur Praxis der jüdischen Sozialarbeit in Deutschland. Sie lenken den Blick auf bedeutende Frauen und Männer, die in der jüngeren Geschichte entsprechende Ideen entwickelt, Konzeptionen erarbeitet und die soziale Praxis wesentlich geprägt haben. Diese werden schließlich auch in der Beschreibung der Entwicklung, der Selbsteinschätzung und der konkreten Tätigkeiten der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland sichtbar. 2 Die Ursprünge – Gerechtigkeit (Zedakah) und Barmherzigkeit (Gemilut Chassadim) Jüdische Sozialarbeit ist – unabhängig von den Leitlinien der Profession, die wesentlich von jüdischen Frauen und Forscher:innen geprägt wurden, – an eine Tradition gebunden, die sich aus den Geboten der Thora für „Zedakah“ (Gerechtigkeit) und „Gemilut Chassadim“ (Barmherzigkeit, Menschlichkeit) herleitet. In der Thora ist der Umgang mit den Armen und Schwachen festgelegt. Besonders schutzbedürftig sind Witwen, Waisen und Fremde. „Zedakah“ steht heute für die Unterstützung der Bedürftigen und stammt von dem Wort „zedek“ ab, das Gerechtigkeit bedeutet. Die Gaben an die Bedürftigen werden im biblischen Sinn nicht als Almosengabe gesehen, sondern sind Ausdruck des Rechts auf Hilfe. Damit wird die Menschenwürde der Bedürftigen unterstrichen und gewahrt.
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Neben „Zedakah“ ist „Gemilut Chassadim“, die Mildtätigkeit, die von Barmherzigkeit und Herzensgüte geleitet ist, ein weiterer Grundsatz der jüdischen Sozialethik. Gegeben und geholfen werden soll einmal im Sinne der Gerechtigkeit und zum anderen aus Barmherzigkeit. Gleichwohl liegt dem Verständnis von „Zedakah“ die Vorstellung von einer Welt zugrunde, die immer unvollkommen ist und sich in ständigem Wandel befindet. Wohltätigkeit im Sinne von „Zedakah“ beinhaltet Handlungsanweisungen und gleichzeitig den Hinweis darauf, dass Armut und damit die Grundlage für Wohltätigkeit nicht gottgewollt ist. Armut offenbart den Mangel an Gerechtigkeit, und die gilt es, durch Wohltätigkeit herzustellen. Neben „Zedakah“ hat die jüdische Krankenpflege eine lange Tradition. Die Pflege und Betreuung der Kranken wurde schon v.u.Z. von der sogenannten „Chawerim“ (Freunde) übernommen, einer Organisation, aus der heraus sich in der Diaspora die Bruderschaften der „Chewra Kadischa“ („heilige Bruderschaft“) entwickelten, die neben anderen mildtätigen Handlungen für die rituelle Waschung und Vorbereitung der Toten zuständig waren. Im 12. Jahrhundert stellte der jüdische Philosoph Moses ben Maimon (Maimonides) Grundsätze auf, die die jüdische Sozialethik und Hilfepraxis bis heute prägen. Er formulierte acht Regeln des Helfens, die alle mit der Gabe von Geld oder materiellen Gütern zu tun haben. Die unterste Stufe ist die, dem Bedürftigen widerwillig und mit Unfreundlichkeit etwas zu geben, ohne sich weiter darum zu kümmern, was er damit und daraus macht. Die höchste Stufe ist die, ihm so viel zu geben, dass er ein selbständiges Leben aufbauen und zukünftig unabhängig von fremder Hilfe leben kann. Diese Grundsätze erlangten erneut große Bedeutung nach dem Schrecken der Shoa, als die jüdischen Gemeinden und auch die jüdische Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik neu gegründet wurden. Darauf gehe ich später in der Darstellung der Geschichte der Jüdischen Sozialarbeit und Wohlfahrtspflege näher ein. An dieser Stelle sei nur erwähnt, dass sich zwei grundsätzliche Ansprüche und Orientierungen erhalten haben: Die Gemeinschaft hilft ihren Mitgliedern, sie steht für sie ein und muss sich dementsprechend immer wieder neu auf die Notlagen und Probleme einstellen, die der Gemeinschaft zustoßen. Hilfe ist orientiert an den Prinzipien der Gerechtigkeit und der Barmherzigkeit. Sie muss immer so gestaltet sein, dass sie es dem Bedürftigen ermöglicht, aus eigener Kraft sein Leben zu gestalten. Damit war und ist auch immer der Anspruch verbunden, dass die Gemeinschaft aus eigener Kraft und möglichst unabhängig von den „Almosenkonzepten“ und Hilfepraxen der jeweiligen Umgebung ihre sozialen Aufgaben erfüllen kann.
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Ein Blick auf die Geschichte des Judentums in Deutschland und Europa
Die Geschichte der Jüdischen Wohlfahrtspflege und der Jüdischen Sozialarbeit ist eng verbunden mit der Entwicklungsgeschichte der Jüdischen Gemeinden in Deutschland. Die Bilanz über 1700 Jahre jüdischen Lebens sieht dabei so aus, dass es mehr Jahre gab, in denen Juden in Bedrängnis leben mussten, als Jahre, in denen ihnen Ruhe, Anerkennung und volle Bürgerrechte zuerkannt wurden. Leo Trepp beschreibt in seinem Buch „Die Geschichte der Deutschen Juden“ (1996) die deutsche Geschichte aus jüdischer Perspektive. Im Hl. Römischen Reich standen Juden gewissermaßen unter dem Schutz des Kaisers, und Konflikte gab es vorwiegend mit den Kirchen. Das führte dazu, dass immer wieder Synagogen brannten und auch der Talmud Opfer der Flammen wurde. Dem versuchte Kaiser Maximilian I. (1459–1519) im Jahr 1509 mit einem Edikt entgegenzuwirken, das dergleichen verbot. Mit Josel von Rosenheim (1478–1554) erhielt die jüdische Gemeinschaft erstmals einen Sprecher („Regierer“), der ihre Interessen gegenüber der weltlichen Herrschaft vertrat. Rosenheims Einfluss auf Kaiser Karl V. (1500–1558) bewirkte, dass dieser Juden erneut unter seinen Schutz stellte und seinen Soldaten unter Androhung der Todesstrafe verbot, Juden Schaden zuzufügen. Im Jahr 1544 erhielten Juden über das „Speyrer Privileg“ weitgehende Rechte. 1548 bestätigte der Reichstag zu Augsburg den Bürgerstatus der Juden. Auf klerikale Kreise blieb der Einfluss des Kaisers allerdings begrenzt. Dieser Zeit war eine finstere und grausame Zeit vorausgegangen, in der das Jahr 1215 für die Juden von entscheidender Bedeutung war. Das 4. Lateralkonzil verordnete den Juden nicht nur das Tragen des „gelben Flecks“, sondern es schloss sie auch vom Orienthandel aus und verwehrte ihnen den Zugang zu den Zünften. Es blieb ihnen allein das Zinsgeschäft, das sich aber erst langsam und nur für wenige zu einem lukrativen Geschäft entwickeln konnte. Zu den Folgen der Beschlüsse des Lateralkonzils gehört der Beginn der jüdischen Wohlfahrtspflege in Europa und Deutschland, weil damit eine große Verarmung der jüdischen Bevölkerung einsetzte. Leo Trepp sucht nach Erklärungen, wie es Juden immer wieder gelingen konnte, nach Niederlagen und Verheerung neu zu beginnen – insbesondere in Deutschland. Er benutzt dafür „Teschuwa“ als Metapher, ein Begriff, der im biblischen Kontext den Wandel bezeichnet, und der heute vor allem im Zusammenhang mit Umkehr, Reue und Vergebung gedeutet wird. Aus „Teschuwa“ entsteht demnach die Kraft für Wandel und Neubeginn.
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Die Jüdische Wohlfahrtspflege bis 1933
Als die Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden im Jahr 1917 gegründet wurde, befand sich die deutsche Bevölkerung in großer Not. Die Gründung fiel in eine Zeit, in der die organisierte Wohlfahrtspflege in Deutschland eine immer bedeutendere Rolle zu spielen begann. Nachdem die kirchlichen Verbände bereits Mitte bzw. Ende des 19. Jahrhunderts ins Leben gerufen waren, fingen auch andere Organisationen wie die Arbeiterwohlfahrt oder auch die Rote Hilfe an, soziale Aktivitäten zu entfalten. Für die Juden in Deutschland waren bedeutende gesellschaftliche Prozesse vorausgegangen, die es möglich machten, dass sie mehr und mehr Rechte und Anerkennung erhielten. Die jüdische Gemeinschaft erlebte Notlagen wie alle Bürger:innen des Landes, wie z.B. die dramatischen Folgen des Krieges; gleichzeitig trafen spezifische Entwicklungen die jüdische Gemeinschaft besonders hart. Der massenhafte Zuzug von Juden aus Osteuropa, die seit 1818 vor antijüdischen Pogromen flüchteten, stellte eine große Herausforderung für die Gemeinden in Deutschland dar. „Zedakah“ und die Hilfe zur Selbsthilfe waren damals und sind auch heute hohe Ansprüche an die Gemeinden, die sie einmal als Teil der Gesellschaft und zum anderen im Einklang mit den eigenen Prinzipien zu erfüllen hatten. Es galt demnach einen Spagat zu bewältigen, der am Beispiel der Biographien von Hermann und Johanna Abraham (1847–1932) deutlich wird. Das Ehepaar Abraham hatte sich – nach einem persönlichen Schicksalsschlag – dafür entschieden, das eigene Vermögen in soziale Projekte zu investieren. Sie entwickelten Projekte für die Schulspeisung von Kindern und engagierten sich dafür, dass für Kinder aus ärmeren Schichten Erholungsstätten eingerichtet wurden. Johanna Abraham unterstützte den Bau des Berliner KrankenhausesWeißensee und war Mitbegründerin des Zweigvereins Berlin des Vaterländischen Frauenvereins. Das Ehepaar Abraham erhielt die Impulse für ihr weitreichendes soziales Engagement während einer Reise, die sie in den Sommertagen des Jahres 1891 nach Krakau unternahmen. Sie erlebten dort die unmenschlichen Lebensbedingungen von zahllosen jüdischen Flüchtlingen, die vor Pogromen aus Russland geflohen waren und zunächst in einem Sammellager in Krakau Unterkunft fanden. Besonders der Anblick der hungernden Kinder gab den Anstoß dafür, dass das Ehepaar sich entschied, das Komitee, das von der Jüdischen Gemeinde zu Berlin zur Unterstützung der geflüchteten russischen Juden gegründet worden war, mit großzügigen Spenden zu unterstützen und zudem auch Spenden für diesen Zweck zu sammeln. Das Elend der Ostjuden gab hier den Anstoß, was für die Abrahams aber nicht bedeutete, dass sie die Augen vor der Not in der eigenen Gesellschaft verschlossen.
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Abraham richtete 1892 die Berliner Volksküche für Kinder ein und gründete 1904 den Verein für Kindervolksküchen. Darüber hinaus richtete er Volksküchen für die Emigranten ein, sorgte sich aber gleichzeitig um die Obdachlosen und die Notleidenden der Stadt. Auch die Einrichtung von Horten für Kinder geht auf Abrahams Initiative zurück. So kann heute festgestellt werden, dass viele soziale Einrichtungen, die uns im Rahmen von sozialen und Bildungsleistungen als selbstverständlich erscheinen, ursprünglich auf die Initiative von jüdischen Mitbürgern zurückgehen und damit beeinflusst sind vom Grundverständnis der jüdischen Sozialarbeit (Reinicke 2007a). Auf die Aktivitäten von Lina Basch (1851–1920) geht der Aufbau der Sozialarbeit im Krankenhaus zurück. Sie wirkte bei der Gründung des Zusammenschlusses der Krankenhaus-Fürsorgerinnen mit und gab in Fachbeiträgen eine erste Orientierung für die professionellen Grundlagen der heutigen Klinischen Sozialarbeit (Reinicke 2007b). Starke Impulse für die Soziale Arbeit gingen vom Jüdischen Frauenbund aus, der im Jahr 1904 gegründet wurde. Namen wie Bettina Brenner und Bertha Pappenheim stehen beispielhaft für Anregungen und Initiativen im Blick auf die Entwicklung der Jüdischen Sozialarbeit. Bis heute wird das Wirken von Alice Salomon in der Fachwelt anerkannt und gewürdigt. Sie gründete 1908 die erste akademische Ausbildungsstätte für Sozialarbeit. Daneben entstanden viele soziale Projekte auf Initiative jüdischer Frauen, die sich im Frauenbund organisiert hatten. Der Frauenbund hatte sich eine zeitgemäße Struktur gegeben, die auf Reichsebene agierte und in Provinzial- und Landesverbände gegliedert war. Angeschlossen waren 430 Vereine und 31 Ortsgruppen mit ca. 50.000 Mitgliedern. Der Jüdische Frauenbund arbeitete mit im „Bund Deutscher Frauenvereine“ (BDF). Inhaltlich befasste sich der Frauenbund mit der Unterstützung von Aktivitäten, die dem Aufbau Palästinas dienten, und mit der Tuberkulosefürsorge, der Gefährdeten-Fürsorge, der Gemeindearbeit, der Adoptions- und Pflegestellenvermittlung sowie ganz praktisch mit der Betreuung von „jüdischen gefährdeten Mädchen“ und der Hilfe für Schwangere, Mütter und Familien. Hier wird erneut deutlich, dass sich die Sozialarbeit des Frauenbundes neben den auf die jüdische Bevölkerung gerichteten Aktivitäten mit den sozialen und gesundheitlichen Problemen auf gesamtgesellschaftlicher Ebene befasste. In den Kindereinrichtungen wurden moderne pädagogische Konzepte erprobt. Es entstand ein breites Netzwerk von sozialen Einrichtungen der jüdischen Gemeinschaft, die den Kosmos der jüdischen Welt abbildeten und sich gleichzeitig als Teil der Gesamtgesellschaft verstanden.
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Vom Ehrenamt zur Organisation
Der im Jahr 1893 gegründete „Verband für jüdische Wohlfahrtspflege“ war eine Antwort auf die in der damaligen Gesellschaft erkannten sozialen Probleme und insbesondere auch auf die Nöte in der jüdischen Bevölkerung. Eugen Caspary (1863–1931) leitete den Verband und kam im Zuge der sich zuspitzenden Notlagen, die der Erste Weltkrieg hervorbrachte, zu der Erkenntnis, dass die weit verzweigten jüdischen Wohlfahrtsaktivitäten, die vorwiegend auf den Grundsätzen der „Zedakah“ und der traditionellen jüdischen Armenpflege beruhten, in eine zeitgemäße Struktur überführt werden müssten. Er entwickelte eine Vision von Sozialarbeit allgemein und der jüdischen sozialen Arbeit im Besonderen. Dabei waren die Verknüpfung von Erkenntnissen aus den Sozialwissenschaften, Methodenkompetenz und Sozialpolitik grundlegend. Sein Weggefährte Max Kreuzberger beschrieb Casparys Wirken so: „Am Ende seines Wegs […] steht der Wandel der Begriffe und Methoden, die Vordinglichkeit der Wirtschaftsumwälzung und der Wirtschaftsfragen, steht die Forderung und der Anfang jüdisch-sozialpolitischer Arbeit“ (zit. n. Reinicke 2007b, S. 126).
Von Caspary ging der Impuls zur Gründung der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden aus. Er hatte klare Vorstellungen von den Aufgaben und der Struktur der Zentralwohlfahrtsstelle, die ein Zusammenschluss der jüdischen Wohlfahrtspflege in allen Gemeinden darstellte und auf Reichs-, Provinzialund Landesebene organisiert war. Casparys Vision und seine Tatkraft zeigen bis heute Wirkung. Er formulierte den Anspruch auf politische Teilhabe und die Notwendigkeit, das jüdische Verständnis von „Zedakah“ dahingehend zu erweitern, dass auf einen Rechtsanspruch der Armen auf staatliche Unterstützung nicht verzichtet werden kann. Er erkannte, dass darin kein Widerspruch zum ursprünglichen Verständnis von „Zedakah“ besteht, das sich sowohl vom protestantischen Arbeitsethos wie vom mittelalterlichen Almosengedanken anhebt. „Zedakah“ ist das Gebot, Gerechtigkeit herzustellen, und derjenige, der in eine Notlage geraten ist, muss die Hilfe bekommen, die er braucht, um aus dieser Notlage herauszukommen, und dies, ohne seine Würde zu verletzen. Caspary formuliert das so: „Ist doch der alte Zedakahgedanke der, dass der Arme einen Anspruch auf Unterstützung hat, ein Recht also. Wer aber ein Recht für sich in Anspruch nimmt, hat keinen Grund für Scham“ (zit. n. Reinicke 2007c, S. 131). Caspary wurde in der Führung der Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden im Jahr 1928 von Friedrich Ollendorf (1889–1951) abgelöst. Vor seiner Tätigkeit als Geschäftsführer der Zentralwohlfahrtsstelle bekleidete Ollendorf die Position des Obermagistratsrates im Wohlfahrts- und Jugendamt der Stadt Berlin. Er emigrierte im Jahr 1936 nach Israel. In der Zeit der nationalsozialistischen Terrorherrschaft konzentrierte sich die jüdische Sozialarbeit auf die Rettung von Menschenleben, darauf, Menschen
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behilflich zu sein bei der Auswanderung und auch bei der Vorbereitung ihrer Auswanderung nach Palästina. Ein Teil des Unterstützungsprogramms war darauf ausgerichtet, die Auswanderer auf handwerkliche Berufe und die Arbeit in der Landwirtschaft vorzubereiten, um Fähigkeiten zu entwickeln, die insbesondere in Palästina gebraucht wurden. Zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina wurden für jüdische Jugendliche die „Hachscharah“ (Lehrstätten für Handwerk und Landwirtschaft) gegründet. Zahlreiche Unterstützungsprogramme wurden von geflüchteten Juden vom Ausland aus organisiert, wo sie eine Organisationsstruktur im Exil aufbauten, um den noch in Deutschland lebenden Juden zur Flucht zu verhelfen und in Zusammenarbeit mit der von der NS-Herrschaft erzwungenen Gründung der „Reichsvereinigung deutscher Juden“ die Emigration zu organisieren. Beispielhaft dafür sei Salomon Adler-Rudel (1894–1975) genannt, der in seinem Londoner Exil die Hilfsorganisation „Council of German Jewery“ mitbegründete. Leo Baeck fiel die schwere Aufgabe zu, die jüdische Gemeinschaft durch die Zeit der Verfolgung und drohenden Vernichtung während der nationalsozialistischen Terrorherrschaft zu führen. Die Zentralwohlfahrtsstelle wurde während des Nationalsozialismus vollständig zerschlagen. Es blieben die von dem NSRegime verordneten Organisationsstrukturen, in denen die jüdische Sozialarbeit keinen Raum mehr hatte. 6
Neubeginn im Jahr 1951
Wie die obigen Ausführungen deutlich machen, hat jüdische Sozialarbeit bedeutsame Beiträge geleistet und wichtige Impulse zur Professionalisierung der sozialen Arbeit gegeben. Sie hat die Weiterentwicklung des gesamten Systems der staatlichen Fürsorge inspiriert und hatte im Einklang mit „Zedakah“ immer das Ziel, dass Bedürftige einen Rechtsanspruch auf Hilfe haben, der schließlich auf staatlicher Seite im Jahr 1962 mit dem Inkrafttreten des Bundessozialhilfegesetzes realisiert wurde. Neben diesen Schwerpunkten galt es aber immer wieder, alle Aktivitäten auf die Sicherung des Überlebens zu richten, Verfolgten und Geflüchteten zu helfen und Zuwanderer, die vor Ungerechtigkeit, Verfolgung und drohender Vernichtung aus ihren Ländern geflohen waren, über eine aktive Integrationsarbeit zu unterstützen. Das macht den Unterschied aus und verlagert auch immer wieder die besondere, der jeweiligen Bedarfslage angepasste Schwerpunktsetzung. Im Jahr 1951 wurde die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland, wie sie dann genannt wurde, neu gegründet. Dies nicht ohne begleitende Kritik von denjenigen, die sich ein Wiederentstehen von jüdischem Leben in Deutschland nicht vorstellen konnten. Die Frauen und Männer der ersten Stunde hatten dagegen anzukämpfen und setzten ihre Prioritäten (Arnsberg 1968).
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Philipp Auerbach (1906–1952) begann direkt nach dem Krieg im Jahr 1945 mit dem Aufbau eines Landesverbandes in der britisch besetzten Zone und setzte den Schwerpunkt der jüdischen Wohlfahrtspflege auf die Hilfe für die Überlebenden der Shoa. Dies blieb für viele Jahre die Hauptaufgabe der Zentralwohlfahrtsstelle, die sich darauf fokussierte, wieder eine von Juden organisierte und praktizierte Wohlfahrtspflege zu entwickeln. Diese sollte an den Strukturen und dem Wissen, das vor 1933 zur Verfügung stand, anknüpfen. Wert gelegt wurde darauf, dass die in ihrem Innersten getroffenen Menschen nicht abhängig wurden von der Beratung und Hilfe derjenigen, die verantwortlich waren für ihre Beschädigung (Bock/Weitzel-Polzer 2005). Auerbach stellte fest: „Die Wohlfahrtsarbeit unter den in Deutschland lebenden Juden muss, wie vor 1933, ausschließlich von Juden geleistet werden“ (zit. n. Ludyga 2006, S. 49). Die wichtige Aufbauarbeit leisteten die ersten Geschäftsführer der Zentralwohlfahrtsstelle Berthold Simonsohn, Max Willner und Alfred Weicheselbaum (vgl. ZWST 2006). Ab 1987 übernahm Benjamin Bloch die Geschäftsführung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und prägte maßgeblich die jüdische Sozialarbeit. Er war das Gesicht und die Seele des Verbandes. Seine Persönlichkeit zeigt Gemeinsamkeiten mit Eugen Caspary, beide widmeten ihr Leben der jüdischen Sozialarbeit in Deutschland. Nachdem der Verband die ersten Jahre nach der Wiedergründung die Sozialarbeit an den Bedürfnissen der Überlebenden ausrichtete, musste zudem die Aufgabe bewältigt werden, eine neue soziale Infrastruktur für das jüdische Leben in Deutschland zu schaffen. Mit dem Bau der Freizeit- und Bildungsstätte in Bad Sobernheim, der Übernahme des Hotel Eden (heute Benni Bloch Heim) in Bad Kissingen, der Unterstützung der Gemeinden beim Bau von Alten- und Pflegeinrichtungen sowie Kinderund Jugendeinrichtungen, dem Aufbau von Jugendzentren und der Jugendarbeit mit organisierten Freizeiten, die unter der Leitung geschulter „Madrichim“ stattfinden, der Einrichtung von Beratungsstellen und der Entwicklung eines breiten Weiterbildungsangebotes für alle Berufsgruppen, die in den sozialen Einrichtungen tätig sind, wurden wichtige Meilensteine gelegt, um den Anschluss an das, was in der Zeit der NS-Herrschaft zerstört worden war, wieder zu erlangen. Die ZWST sieht ihre Aufgaben darin, die Gemeinden auf dem „sozialen und erzieherischen Sektor“ zu unterstützen und auch darin, „dass wir weiterhin die jüdische Religion, Kultur und Tradition […] vermitteln, denn dies ist der Focus unseres Interesses. […] wir sind aufgerufen, die Menschen innerlich jüdisch zu stärken und äußerlich gegenüber der nichtjüdischen Gesellschaft zu öffnen“ (Schönauer 2006, S. 112). Eine besondere Aufgabe stellte sich der ZWST und den jüdischen Gemeinden in Deutschland mit dem Zuzug der Juden aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. Vor der großen Zuwanderung hatten alle jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik 20.089 Mitglieder. Ab 1992 stieg die Mitgliederzahl
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kontinuierlich an, bis sie im Jahr 2006 ihren Höchststand mit 107.797 Mitgliedern erreicht hatte. Seit dieser Zeit sinkt die Mitgliederzahl wieder und fiel im Jahr 2015 erstmals wieder unter 100.000 und erreichte im Jahr 2018 den Stand von 96.325 (ZWST 2020). Mit der Zuwanderung waren auch viele Hoffnungen der etablierten Gemeinden verbunden. Neue Gemeinden wurden vor allem in den neuen Bundesländern gegründet, und damit entstand dort wieder jüdisches Leben. Die ZWST und die Gemeinden mussten aktive Integrationsarbeit leisten, was insbesondere bedeutete, die Gemeinden beim Aufbau von Sozialabteilungen zu unterstützen. Zudem galt es, Bildungsangebote für Migrant:innen zu entwickeln, die darauf ausgerichtet waren, ihnen jüdische Religion und Tradition nahezubringen und sie vertraut zu machen mit den Spielregeln der Gesellschaft, in der sie leben. Es entstanden zahlreiche Projekte, einige in Zusammenarbeit mit anderen Wohlfahrtsverbänden, und es wurde und wird immer noch ein aktiver Austausch mit sozialen Organisationen in Israel gepflegt, die eine beispielhafte Integrationsarbeit geleistet haben. Zudem gibt es Kontakte zu allen jüdischen Organisationen in Europa und weltweit, die immer wieder Möglichkeiten bieten, auf internationaler Ebene den fachlichen Austausch über Fachkonferenzen und Begegnungen zu pflegen. In kein anderes europäisches Land wanderten so viele Juden aus den GUSStaaten ein wie nach Deutschland. Der Bedarf an fachlich qualifiziertem Personal wuchs stetig, so dass Benjamin Bloch Mittel aus Stiftungen beschaffte und gemeinsam mit der FH Erfurt im Jahr 2007 eine Kooperation einging mit dem Ziel, jüdische Student:innen zu Sozialarbeiter:innen auszubilden. Im ersten Studienkurs kamen fast alle Student:innen aus der ehemaligen Sowjetunion und hatten dort schon einen akademischen Abschluss erworben, der aber in Deutschland nicht anerkannt wurde. Meist arbeiteten sie in unterbezahlten Hilfsarbeiterjobs oder ehrenamtlich als Gemeindehelfer:innen. Nach Abschluss des ersten Studienkurses fanden alle Absolvent:innen eine Anstellung in jüdischen Gemeinden oder auch in kommunalen Projekten oder Behörden, wo sie i.d.R. für Soziale Arbeit mit Migrant:innen und Flüchtlingen zuständig sind. Ein zweiter Studienkurs folgte, in den acht Rabbinerstudenten vom Rabbinerseminar zu Berlin aufgenommen wurden. Die Zusammenarbeit wurde erweitert mit dem Zentralrat und dem Rabbinerseminar zu Berlin. Das Rabbinerseminar wurde im Jahr 2009 in Kooperation mit dem Zentralrat der Juden in Deutschland und der Lauder Foundation neu gegründet und gilt als Nachfolgeorganisation des im Jahr 1938 zwangsweise geschlossenen Rabbinerseminars, das von Rabbiner Hildesheimer gegründet worden war.
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An diesem Seminar wurden orthodoxe Rabbiner ausgebildet, und gleichwohl hatte Rabbiner Hildesheimer den Anspruch, dass alle Rabbiner neben ihrer theologischen Ausbildung auch eine weltliche akademische Ausbildung zu absolvieren hatten. An diese Tradition anknüpfend entschied sich die neue Leitung des Rabbinerseminars für die weltliche Ausbildung der Rabbiner in der Sozialen Arbeit. Ein Masterstudiengang Management und Interkulturalität folgte mit den gleichen Kooperationspartnern und dem Ziel, Führungsnachwuchs für die Führung der Gemeinden und ihrer sozialen Organisationen und Einrichtungen zu qualifizieren. Der dritte Studienkurs startete im Jahr 2019, mit einer inzwischen veränderten Teilnehmerstruktur. Es ist die zweite Generation der Zuwanderer und auch junge Menschen, die aus den Familien der Alteingesessenen stammen, haben sich immatrikuliert. Von Interesse ist, dass als neuer Kooperationspartner die Hochschule für Jüdische Studien in Heidelberg dazugewonnen werden konnte. In ihrer aktuellen Selbstdarstellung nennt die ZWST folgende zentralen Tätigkeitsfelder: – Förderung einer integrativen und professionellen Sozialarbeit, – Unterstützung der jüdischen Gemeinden in Deutschland, Ausbau der Infrastruktur – Stärkung jüdischer Identität, – Integration der jüdischen Zuwanderer aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion, – Hilfe zur Selbsthilfe, – sozial- und jugendpolitische Vertretung, – zielgerechte Beratung und Betreuung, – Flüchtlingshilfe, – internationales Engagement. Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland ist Mitglied in der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege sowie in zahlreichen jüdischen Organisationen auf europäischer und internationaler Ebene. Die veröffentlichten Jahresberichte der ZWST informieren ihre Mitglieder und die Öffentlichkeit über ihre vielfältigen Aktivitäten. Auch heute wieder muss die jüdische Wohlfahrt sich den Bedürfnissen einer sich wandelnden Welt anpassen. Der Kampf gegen Antisemitismus, Rassismus und Gewalt gehört zur Agenda der ZWST. Sie engagiert sich in Projekten, die zum Teil mit anderen Trägern durchgeführt werden, und sie ist im Kern getroffen, wenn es wieder Anschläge auf Synagogen gibt und Juden Angst haben, sich öffentlich als Juden zu erkennen zu geben.
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Im Jahr 2018 übernahm Aron Schuster die Geschäftsführung der ZWST. Der Verband zeigt sich jung, dynamisch, innovativ und entschlossen im Kampf für soziale Gerechtigkeit und gegen Antisemitismus und bleibt zugleich und gerade deshalb in der Tradition von „Zedakah“. Literatur Arnsberg, P. (1968): Zivilcourage zum Widerstand. Frankfurt a. M. Bock, M./Weitzel-Polzer, E. (2005): Alte Jüdinnen und Juden in Deutschland. Oldenburg. Ludyga, H. (2007): Als Kamerad für Kameraden Philipp Auerbach (1906– 1952). In: S. Hering (Hg.): Jüdische Wohlfahrtspflege im Spiegel von Biographien (Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland 2) (S. 46– 55). Frankfurt a.M. Reinicke, P. (2007a): Pionier der Schulspeisung in Deutschland. Hermann Abraham (1847–1932). In: S. Hering (Hg) Jüdische Wohlfahrtpflege im Spiegel von Biographien (Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland 2) (S. 21–33). Frankfurt a.M. Reinicke, P. (2007b): Die erste Krankenhausfürsorgerin in Deutschland. Lina Basch (1851–1920). In: S. Hering. (Hg): Jüdische Wohlfahrtspflege im Spiegel von Biographien (Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland 2) (S. 57–65). Frankfurt a.M. Reinicke, P. (2007c): Wegbereiter der modernen jüdischen Wohlfahrtspflege. Eugen Caspary (1863–1931). In: S. Hering (Hg.): Jüdische Wohlfahrtspflege im Spiegel von Biographien (Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland 2) (S. 124–135). Frankfurt a.M. Schönauer, S. (2006): „Kein 08/15-Job, sondern eine Herausforderung“. Ein Interview mit Benjamin Bloch. In: S. Hering (Hg.): Jüdische Wohlfahrt im Spiegel von Biographien (Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland 2) (S.102–113). Frankfurt a.M. Trepp, L. (1996): Die Geschichte der Deutschen Juden. Stuttgart. ZWST-Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (2006): Geschichte und Aufgabenbereiche. In: H. Krohn/G. Maierhof (Hg.): Deutschland – trotz alledem? Jüdische Sozialarbeit nach 1945 (Geschichte der jüdischen Wohlfahrt in Deutschland 1) (S. 122–135). Frankfurt a.M. ZWST (2020): Mitgliederstatistik. https://www.zwst.org/de/service/mitgliederstatistik (Zugriff am 05.05.2021).
9 Islamische Wohlfahrt Naime Çakir-Mattner
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Überlegungen zu einer Islamischen Wohlfahrtspflege
In Deutschland ist die Wohlfahrt mit ihren sozialen Dienstleistungen und entsprechenden institutionellen Rahmenbedingungen durch freie Wohlfahrtsverbände in freigemeinnütziger Trägerschaft organisiert, die sich in sechs große freie Wohlfahrtsträger (sog. Spitzenverbände) aufteilen: Deutscher Caritasverband (kath. Kirche), Diakonie (ev. Kirche), Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband (DPWV), Deutsches Rotes Kreuz (DRK), die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland e.V. (ZWST) und die Arbeiterwohlfahrt (AWO) mit etwa 230.000 hauptamtlichen Mitarbeiter:innen, die allerdings 2018 in die Schlagzeilen geriet (o.A. [a]). 1 Als Träger der Wohlfahrtspflege lassen sich demnach drei Kategorien unterscheiden: Sozialbehörde (öffentlicher Träger), kommerzielle Träger (gewerblicher Hintergrund) und freie Träger, die sich in freigemeinütziger Trägerschaft organisatorisch im sozialen und gesundheitlichen Bereich engagieren. Deren Aufgabenbereiche beziehen sich auf sämtliche Tätigkeitsfelder sozialer Dienstleistungen wie Migrationssozialarbeit, Kinder- und Jugendhilfe, Alten- und Behindertenhilfe. Ein großer Teil der Angebotspalette liegt seit Jahren im Grunde in Trägerschaft eines der genannten sechs Spitzenverbände. Der Etablierung einer neuen, insbesondere einer muslimischen Trägerschaft waren somit bereits vorab gewisse Hürden entgegengestellt (vgl. Rieker 2020, S. 353), was sicherlich auch dem strukturell-institutionellen Problem geschuldet war, dass islamisch geprägte Gesellschaften in der Regel keine vergleichbaren hierarchisch organisierten Körperschaften mit eingetragenen Mitgliedschaften und – wie am Bei1 Die AWO-Frankfurt geriet Ende 2018 wegen Betrugs- und Untreueverdachts in den Fokus staatsanwaltlicher Ermittlungen, als bekannt wurde, dass AWO-Funktionäre überzogene Gehälter bezogen und sehr teure Dienstwagen angeschafft wurden, was verdeutlicht, dass hier vom eigenen Leitbild – „in unserer Gesellschaft bei der Bewältigung sozialer Probleme und Aufgaben mitzuwirken, um den demokratischen, sozialen Rechtsstaat zu verwirklichen“ – aus Eigeninteresse erheblich abgewichen wurde.
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spiel der Diakonie und Caritas – keine vergleichbare hierarchische Struktur geistlicher Dienstleitungen (Priester, Bischöfe etc.) kennen (vgl. Ceylan/Kiefer 2016, S. 4). Es bestand insofern Unklarheit darüber, welche Körperschaft bezüglich einer Neugründung in welchem Interesse überhaupt ansprechbar war. Erst im Zuge der Deutschen Islamkonferenz im Jahre 2015 wurde die Gründung eines muslimischen Wohlfahrtverbandes auf die politische Agenda gesetzt. 2
Gründung einer islamischen Wohlfahrt
Ein wesentliches Argument für die Etablierung einer islamischen Wohlfahrt bezog sich auf die Tatsache, dass, wie die Studie „Islamisches Gemeindeleben in Deutschland“ (Halm/Sauer/Schmidt/Stichs 2012) ermittelte, bereits 2012 bundesweit belastbare Daten zur Gestaltung einer islamischen Wohlfahrtsarbeit vorlagen. Demnach boten mehr als 40 % der Moscheegemeinden ihren Mitgliedern Sozial- und Erziehungsberatung an, mehr als 50 % der Gemeinden unterstützten Schüler:innen in der schulischen Vor- und Nachbereitung und ca. 36 % leisteten für ihre Mitglieder Gesundheitsberatung. All diese durch islamische Gemeinden erbrachten Sozialdienstleistungen, die im Grunde ohne die Verfügbarkeit qualifiziert-professioneller Kompetenzen weite Bereiche des genuinen Arbeitsfeldes der Sozialen Arbeit abdecken, erfolgten bisher ehrenamtlich zumeist ohne staatliche Unterstützung (vgl. Halm/Sauer 2015). Im Zuge der Erkenntnis dieser staatlichen Versorgungslücke sahen insbesondere die islamischen Dachverbände die Möglichkeit einer Bündelung und Integration dieser seither geleisteten sozialen Dienstleistungen in das Netz professioneller Wohlfahrtspflege und zudem die historische Chance, damit die muslimische Lebenswelt im Bewusstsein der deutschen Bevölkerung noch fester zu verankern (vgl. Charchira 2015). Zudem konnte mit repräsentativen Daten des Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung (2017) belegt werden, dass sich das Engagement von Muslim:innen im Rahmen der Flüchtlingshilfe aufgrund kulturell-religiöser Kompetenzen und gemeinsamen Herkunftsbezugs als sehr erfolgreich erwies und eine große Wertschätzung seitens der Mehrheitsgesellschaft erfuhr (vgl. Nagel/El-Menouar 2017). Dieses Beispiel verweist auf den spezifischen Bedarf muslimischer Sozialdienste, der sich insbesondere in den urbanen Siedlungsräumen mit hohem muslimischen Migrationsanteil zeigt. Dort stehen den Muslim:innen zwar die wichtigen klassischen Betreuungsangebote der etablierten Wohlfahrtspflege zur Verfügung und sie erleben dort die zelebrierten religiösen Traditionen, Feiern und Feste wie Weihnachten, Pfingsten und Ostern – wie insbesondere den in Kindergärten von vielen Kindern vielgeliebten und traditionell gern gefeierten Martins- bzw. Laternenumzug –, wobei sie dort allerdings meist wenig bis nichts über muslimisch-kulturelle Traditionen und Feste in ihren Einrichtungen erfahren (vgl. Halm u.a. 2020, S. 373).
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Auf dem Hintergrund dieses erkannten Defizits und eines wachsenden emanzipatorischen Selbstbewusstseins entstand neben dem Bedürfnis, das gleiche Recht auf freie Religionsausübung wie andere Religionsgemeinschaften selbstverständlich für sich in Anspruch zu nehmen, eben auch der Wunsch, neben den etablierten Wohlfahrtsverbänden einen gleichwertigen Wohlfahrtsverband unter dem Gebot der Neutralität und Subsidiarität zu konstituieren, der im üblichen Rahmen der sozialstaatlichen Wohlfahrtspflege vor die Aufgabe gestellt ist, hinsichtlich einer Professionalisierung der sozialen Hilfe einen spezifischen Beitrag aus muslimischer Perspektive zu leisten. Neben den genannten Hürden der Etablierung einer islamischen Wohlfahrtspflege könnten auch noch andere Hemmnisse verantwortlich sein. So sieht Nagel (2020) den Erfolg einer solchen Wohlfahrtspflege auch in Abhängigkeit von der Bereitschaft zur „interreligiösen Öffnung” des etablierten (konfessionellen) Wohlfahrtswesens, obschon sich die Bereitschaft zur Abgabe von „Marktanteilen” vorteilhaft in der kooperativen Planung und Durchführung gemeinsamer Dienste erweisen könne (vgl. S. 298 f). Dessen ungeachtet sind der Wunsch und die Erwartung nach einem eigenständigen muslimischen Wohlfahrtsverband immer dringlicher geworden, zu dessen Unterstützung u.a. das „Netzwerk muslimischer Sozialarbeiter und Sozialpädagogen“ (NEMUS e.V.) beitragen möchte (vgl. [Interview mit] Charchira 2016). Ein wesentlicher Anstoß zur Gründung und Etablierung einer islamischen Wohlfahrt war das anlässlich der 3. Deutschen Islamkonferenz (DIK 2014– 2017) entstandene Projekt „Empowerment zur Wohlfahrtspflege“. Am 19.09.2018 fand im Bundesministerium (BMFSFJ) in Berlin die erste konstituierende Sitzung des Projektbeirats statt, der sich aus Vertreter:innen der DIKVerbände, der an der DIK beteiligten Bundesministerien, der Bundesländer und Kommunen, der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) und Wissenschaftler:innen zusammensetzte (vgl. Strube/Koc 2019). Die Begleitung des Projektes fand durch das Institut für Sozialarbeit und Sozialpädagogik e. V. (ISS) statt und wurde hinsichtlich einer Professionalisierung und Qualifizierung sozialarbeiterischen Handelns gefördert (vgl. Kleemann o.D.). Ziele des Projektes waren die Vermittlung von Qualifizierungs- und Professionalisierungsmaßnahmen sowie die Informationsvermittlung über Förderungen, Leistungen, Angebote, Funktionsweise und Strukturen der Wohlfahrtspflege. Die am Projekt beteiligten muslimischen Verbände sollten in die Lage versetzt werden, ihre Mitglieder dabei zu unterstützen, religions- und kultursensible Leistungen der Wohlfahrtspflege eigenständig anbieten zu können. Dem Wunsch nach einem eigenständigen muslimischen Wohlfahrtsverband sind inzwischen einige wenige islamische Initiativen gefolgt: Im Jahre 2016 kam es auf dem Hintergrund der Deutschen Islamkonferenz zur Gründung eines Islamischen Kompetenzzentrums für Wohlfahrtswesen e.V.
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(IKW e.V.), das von sieben islamischen Verbänden (IRBD, DITIB, IGBD, IGS, VIKZ, ZMD und ZRMD) gegründet wurde (vgl. o.A. [b]). Das IKW fungiert als ein gemeinnütziger Verein, der muslimische Träger gezielt unterstützen und eine Austauschplattform für die Mitgliederorganisationen bieten möchte (vgl. oA. [c]). Eine weitere, als gemeinnützig anerkannte Institution ist An-Nusrat e.V. (arab. die Hilfe), die bereits seit 2019 als anerkannter Träger der freien Jugendhilfe gemäß § 75 SGB VIII auf dem Gebiet der Jugendhilfe tätig ist (o.A. [d]). Anfang des Jahres 2020 trat die Union der Islamisch-Albanischen Zentren in Deutschland e.V. (UIAZD) dieser Konstellation bei (vgl. o.A. [e]). 3
Begründung einer Wohlfahrtspflege aus islamischer Perspektive
Zunächst muss hervorgehoben werden, dass der Begriff der Wohlfahrt, assoziativ mit einer zugewandten helfenden Tätigkeit für bedürftige Menschen im Sinne einer Fürsorge und Wohlfahrts-Pflege verknüpft ist, die definitorisch und inhaltlich mit der frühen Armenpflege, der Fürsorge und einer modernen professionellen Sozialarbeit verwandt ist. In diesem Zusammenhang sei auch betont, dass der Gemeinnützigkeitsstatus für die Wohlfahrtspflege konstitutiv und ihr damit eine helfend-unterstützende mitmenschliche Intention inhärent ist, die dem Gemeinwohl dienen soll. In all diesen Terminologien ist ganz allgemein eine wie auch immer geartete und begründete Hilfe für Hilfsbedürftige und ein darauf gründendes Ethos enthalten. So bezieht sich beispielsweise die evangelische Wohlfahrtspflege auf den biblischen Auftrag der Nächstenliebe. Diakonische Hilfeleistungen verstehen sich dort als angewandte Soziale Arbeit, die grundsätzlich für alle Menschen offen ist, die diese Hilfe in Anspruch nehmen wollen, unabhängig von Religion und Konfession, Herkunft und Nationalität, Alter und Geschlecht. Im Leitbild des deutschen Caritasverbandes der katholischen Kirche wird mit Verweis auf die christliche Sozialethik ein impliziter Anspruch eines interdisziplinären, interkonfessionellen, interreligiösen und interkulturellen Arbeitsansatzes erhoben (vgl. Patenge o.D.). Sowohl die Caritas als auch die Diakonie stehen somit bezüglich einer professionellen Entwicklung sachgerechter Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen zur Lösung von Problemlagen von Menschen unterschiedlicher ethnischer, religiöser oder sozialer Herkunft in enger Beziehung zu den angewandten Sozialwissenschaften bzw. mit Sozialarbeitswissenschaften, die mit ihrer wissenschaftlichen Expertise zur Qualitätsicherung und Professionalisierung einen wesentlichen Beitrag leisten (vgl. Blasberg-Kuhnke 2016). Insofern bieten die wertegebundenen christlichen Wohlfahrtsverbände ein Angebot für alle Menschen im Sinne der jeweiligen Profession (Soziale Ar-
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beit/Seelsorge/Krankenpflege etc.) an und tragen der gesellschaftlichen Pluralität Rechnung. Wie Andreas Lob-Hüdepohl in diesem Zusammenhang betont, eröffnet diese Vielzahl an „unterschiedlich wertgebundenen Trägern“ somit eine Auswahl, die den Nutzer:innen „eine ihnen und ihrer Lebensdeutung angemessene Begleitung und Unterstützung“ bietet (vgl. Lob- Hüdepohl 2017, S. 178). Die Gründung eines muslimischen Wohlfahrtsverbandes wäre somit die logische Konsequenz der interkulturellen Öffnung in einer pluralen Gesellschaft, um ebenfalls Menschen muslimischen Glaubens im Sinne der Kultur- und Religionssensibilität eine Wahlmöglichkeit anzubieten, die auch ihren religiösen Bedürfnissen authentisch gerecht werden kann. Dies bedeutet, dass im Zuge einer „interdisziplinären Öffnung der Sozialen Dienste“ Religion und Religiosität hinsichtlich eines diversitätssensiblen, sozialprofessionellen Handelns zu integrieren ist, ohne damit eine dezidiert theologische Ausrichtung der Dienste zu begünstigen (vgl. Cakir, Badawia Calisir 2020). Eine wichtige Aufgabe der wertegebundenen religiösen Trägerschaften wäre demnach, die religiösen bzw. spirituellen Sinndeutungen bei der Bewältigung von Lebenskrisen adäquat und authentisch zu berücksichtigen und zu begleiten (vgl. Lob-Hüdepohl 2017, S. 177). Im Bezug auf einen muslimischen Wohlfahrtsverband stellt sich dann die Frage, wie sich dieser gegenüber bestehenden Wohlfahrtsinstitutionen inhaltlich positionieren und profilieren könnte und wie eine Islamische Wohlfahrtspflege inhaltlich zu begründen wäre. In diesem Zusammenhang kann in Anlehnung an Tarek Ramadans Konzeption einer „angewandten islamischen Ethik“ dafür plädiert werden, dass bezüglich der Wohlfahrtspflege bzw. der sozialen Dienstleistungen die Begriffe „islamisch“ bzw. „nicht-islamisch“ zu vermeiden sind (vgl. Ramadan 2009, S. 164; S. 166). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die dort tätigen professionell Handelnden ihr „Handwerk“ wissenschaftsbasiert erworben haben, das primär den Erfordernissen des jeweiligen Forschungsgegenstandes zu entsprechen hat (vgl. Ramadan 2009, S. 164; S. 166). In diesem Sinne greift Ramadan auf ein „islamisches“ Offenbarungsverständnis zurück, das nicht nur eine zu erforschende Offenbarung (die Schriftquellen), sondern auch eine geoffenbarte Welt kennt, die durch die „profanen Wissenschaften“ zu erschließen ist. 2 Für Hartmut und Katharina Bobzin, die in diesem Zusammenhang auf verschiedene Koranverse (Q55, 11–18) verweisen, ist die Natur im Grunde das „aufgeschlagene Buch Gottes“, in dem man „die ,Zeichen‘ lesen und verstehen 2 In diesem Zusammenhang kritisiert Ramadan ein „islamisches“ Wissenschaftsverständnis, das lediglich dasjenige Forschungsinteresse als eigentliche Wissenschaft anerkennt, das primär die zu erforschende Offenbarung (die Schriftquellen) in den Blick nimmt und die auf eine (auch) geoffenbarte Welt gerichtete „profane (Natur-)Wissenschaft“ im Grunde geringschätzt (vgl. Ramadan 2009, S. 11; S. 164).
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kann wie die ,Verse‘ eines heiligen Buches“ (vgl. Bobzin/Bobzin 2015, S. 98). So kann resümiert werden, dass es zwei Arten der Offenbarung gibt, deren Zeichen es zu verstehen und zu deuten gilt. Ramadan plädiert deshalb dafür, dass die islamischen Textgelehrten (‘ulamâ’an-nusûs), die sich mit unterschiedlichen religiösen Quellen beschäftigen, gleich den Kontextgelehrten (‘ulamâ’ al-wâqi’)“, die sich wissenschaftlich mittels „profaner“ Wissenschaften (Natur-, Sozial- und Humanwissenschaften) mit der Welt bzw. der Schöpfung befassen, gleichberechtigt anzuerkennen sind (vgl. Ramadan 2009, S. 11). Letzteres bedeutet, dass die Muslim:innen zur Erbringung wohlfahrtspflegerischer Dienstleistungen nicht zwangsläufig einer theologischen Begründung aus ihren Schriftquellen (Koran) bedürfen, um ihr Handeln als islamisch auszuweisen. Die Bezugnahme auf fachspezifische wissenschaftliche Erkenntnisse (z.B. bezüglich der Kontextwissenschaften, Human- und Geisteswissenschaften) sind hier völlig ausreichend, da es, neben dem geoffenbarten Wort (Koran), eben die Schöpfung gibt, deren Bedeutsamkeiten im Zuge wissenschaftlichen Bemühens zu verstehen sind. Dennoch sind jene auf dem Hintergrund islamischer Schriftquellen zu stellende Rückfragen bedeutsam, die sich auf die „islamische Ethik“ sowie auf das implizite islamische Menschenbild beziehen und die als ethische Leitlinien die Basis für theoretische Konzeptionen und das jeweilige praxisbezogene (z.B. sozialarbeiterische) Handeln bilden (vgl. Cakir-Mattner 2021). Notwendig wäre demnach analog zu den christlichen Trägern ein Ethos zum Hilfehandeln aus der islamischen Theologie abzuleiten und zu begründen, das interdisziplinär und interreligiös anschlussfähig ist. Interessant hierzu sind die Überlegungen zur Vernuftfähigkeit (´aql) des Menschen, die neben dem Wissensdrang seine Autonomie hervorheben. 3.1
Die göttlich gegebene Vernunft als Basis und Voraussetzung ethischen Handelns
Im islamischen Glauben ist der Mensch als Geschöpf und Sachverwalter des einen Gottes mit gottgegebener Vernunft ausgestattet und dazu aufgerufen, das göttliche „Weisheitsbuch Welt” mittels wissenschaftlichen und philosophischen Bemühens zu erforschen und zu begreifen (vgl. Kißkalt 2010, S. 119). Diese menschliche Vernuftfähigkeit (´aql) wird als Tätigkeit des Herzens (qalb) angesehen, womit im islamischen Glauben das Herz des Menschen gewissermaßen die „Schnittstelle“ zwischen der Vernunfttätigkeit im rationalen Sinne und einer „inneren Erkenntniskraft“ (baṣīra) bildet (vgl. Takim 2017, S. 107). Mit der Fähigkeit, über seine Vernunft verfügen zu können, ist auch die Freiheit bei gleichzeitiger Verantwortung (al-amāna) angesprochen, das göttliche Vertrauen nicht zu missbrauchen (vgl. Hassan/ Ardakani 2014, S. 218). Nach dem muslimischen Philosophen Muḥammad Iqbāl (1877–1938) überträgt Gott (absolutes Sein) „in einer freiwilligen Selbstbeschränkung” dem
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Menschen (begrenztes Sein) seine Freiheit im Denken und Handeln (vgl. Tatari 2014, S. 47 f.). Dieser Gedanke einer in Freiheit von Gott gegebenen Vernunft im Sinne eines vernünftigen moralischen Regulativs durchzieht die gesamte philosophisch-religiöse Geschichte des Islams. Für den persischen Gelehrten und islamischen Philosophen Ibn Sīnā (etwa 980–1037 n.Chr.) (lat. Avicenna) sei im Menschen eine immaterielle geistige Vernunft-Seele wirksam, die zur geistig-ethischen Sphäre gehöre. Die Besonderheit im Menschen gegenüber allem Lebendigen bestehe darin, dass er das „allgemein Vernünftige“ (die Wahrheit) von der Materie abstrahieren könne (vgl. Gara 2003, S. 38 f.). Demnach verfügt der Mensch über eine Vernunft, die sich in Richtung Vollkommenheit entwickelt, jedoch nicht die „heilige Vernunft“ erreichen kann, die lediglich Auserwählten zugänglich bleibt. Diese Fähigkeit, über die von Gott gegebene Vernunft (´aql) zu verfügen und mittels Vernunft nach Wissen zu streben, gehört auch für Al-Ghazālī (1059–1111 n. Chr.) 3 zur Natur des Menschen (vgl. Tatari 2016, S. 125 ff.). 4 Mittels seiner Vernunft ist der Mensch dazu befähigt, „Einsichten zu gewinnen, sich ein Urteil zu bilden, die Zusammenhänge und die Ordnung des Wahrgenommenen zu erkennen und sich in seinem Handeln danach zu richten“ (vgl. Türkmenoglu 2019, S. 2 f.). Dieses Vermögen ist für ihn die Grundlage intellektuellen und wissenschaftlichen Forschens und Hinterfragens hinsichtlich eines „wahren Wissens“. Demnach kann dem beschriebenen islamischen Menschenbild entnommen werden, dass vom Gedanken eines vernünftigen Menschen auszugehen ist, der gehalten ist, in freier Entscheidung und in Selbstverantwortlichkeit für sein Handeln zur Etablierung einer Welt beizutragen, die von Gerechtigkeit, Liebe und Barmherzigkeit durchdrungen ist (vgl. Takim 2017, S. 105 f.). Die Wohlfahrtspflege in muslimischer Trägerschaft kann sich auf dieses Verständnis stützen, das eine Richtschnur für ein Hilfe-Ethos aus islamischer Perspektive bilden kann. 4
Fazit
Das Ziel einer Islamischen Wohlfahrtspflege in einer säkularen-pluralen Gesellschaft kann und darf nicht die Rechtleitung im Sinne der religiösen Unterweisung bzw. ein darauf bezogenes paternalistisches Hilfe-Verständnis sein, das im Zuge der Professionalisierung helfender Berufe (Soziale Arbeit) im europäischen Kontext mehr als problematisch gilt (vgl. Çakir-Mattner 2021). Die islamische Theologie hat unter Wahrung ihrer Authentizität auf die im Fluss befindlichen Lebensbedingungen einer globalisierten Spät-Moderne und den damit verbundenen dynamischen Wertmaßstäben zu reagieren und Antworten auf Fragen zu geben, die sich aus der Interaktion mit der Lebenswelt der Gläu3 Al-Ghazālī ist bis heute für die islamische Geistesgeschichte ein sehr bedeutsamer persischer Gelehrter und Philosoph. 4 Das Wort ´aql“ wird im Koran als Verb („nachdenken“) verwendet, was auch als Aufforderung zu verstehen ist (vgl. Türkmenoglu 2019, S. 2 f.).
Islamische Wohlfahrt
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bigen ergeben. Neben den primären Quellen des Islam im Hinblick auf religiöse Fragen und Lebensgestaltung sind hierbei insbesondere Religions- und Sozialwissenschaften als Erkenntnisquellen des religiösen Wissens gleichberechtigt einzubeziehen. Im Kontext einer Islamischen Wohlfahrtspflege kommt der islamischen Theologie die Aufgabe zu, eine theologische Theorie des Helfens zu entwickeln, deren Ausgangspunkt im Spannungsfeld zwischen Ethik der Sozialen Arbeit und einer spezifisch islamischen Ethik zu suchen ist, die im interdisziplinären Diskurs sprachfähig ist: eine islamisch grundierte Ethik also, die auf den Hauptquellen des Islam gründet und ein emanzipatorisches Hilfeverständnis aufweist (vgl. Cakir-Mattner 2021). Literatur Blasberg-Kuhnke, M. (2016): Muslimische Wohlfahrtspflege in Deutschland. Eine historische und systematische Einführung (Vorwort). In: R. Ceylan/M. Kiefer (Hg.): Muslimische Wohlfahrtspflege in Deutschland. Eine historische und systematische Einführung (XI-XIV). Wiesbaden. Bobzin, H./Bobzin, K. (2015): Der Koran. Die wichtigsten Texte. München. Çakir-Mattner, N. (2021): Islamische Theologie im Praxisfeld der Sozialen Arbeit. In: N. Çakir-Mattner/P. David/A. Kreutzer (Hg.): Theologie[n] und Modernisierung (im Druck). Çakir-Mattner/Badawia/Calisir (2020): Religion, Diversität und Soziale Arbeit: Eine Perspektive aus der islamischen Theologie. Zeitschrift Migration und Soziale Arbeit, 4, 310–317. Ceylan, R./Kiefer, M. (2016): Muslimische Wohlfahrtspflege in Deutschland. Eine historische und systematische Einführung. Wiesbaden. Charchira, S. (2015): Wohlfahrt und Seelsorge für Muslime in Deutschland. https://islam-aktuell.de/wohlfahrt-und-seelsorge-fuer-muslime-indeutschland (Zugriff am 3.2. 2021). Charchira, S. (2016) (Interview): Islamische Wohlfahrtspflege als Notwendigkeit ansehen. https://www.islamiq.de/2016/03/05/islamische-wohlfahrtspfle ge-als-notwendigkeit-sehen/ (Zugriff am 13.05.2021). Gara, N. S. (2003): Die Rezeption der Philosophie des Aristoteles im Islam. Inaugural-Dissertation Uni Heidelberg. Halm, D./Sauer, M./Schmidt, J./Stichs, A. (2012): Islamisches Gemeindeleben in Deutschland. Forschungsbericht 13. https://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Ergebnisse-Empfehlungen/islamischesgemeindeleben-in-deutschland-lang-dik.pdf?_blob=publicationFile&v=7 (Zugriff am 7.2.2021). Halm, D./Sauer, M. (2015): Soziale Dienstleistungen der in der Deutschen Islam Konferenz vertretenen religiösen Dachverbände und ihrer Gemeinden. https://www.deutsche-islam-konferenz.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Ergeb nisse-Empfehlungen/soziale-dienstleistungen-gemeinden.pdf? __blob=publicationFile&v=7 (Zugriff am 7.2. 2021).
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Islamische Wohlfahrt
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10 Menschenrechtsbasierte säkulare Wohlfahrt Heiner Bielefeldt
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Einführung
Die Menschenrechte haben sich als eine normative „lingua franca” der modernen Welt weithin durchgesetzt. Rechtsverbindlich verankert in internationalen und regionalen Konventionen sowie in zahlreichen nationalen Verfassungsordnungen, fungieren sie als Referenznormen in der internationalen Diplomatie, in der transnationalen Entwicklungszusammenarbeit und in der Kooperation zivilgesellschaftlicher Organisationen. Auch als Maßstab sozialer Wohlfahrt sowohl kirchlicher als auch säkularer Organisationen kommt ihnen heute eine unverzichtbare Rolle zu. Ob es um den Einsatz für Wohnungslose, die Inklusion von Menschen mit Behinderungen, den Kampf gegen Menschenhandel, die Aufnahme von Geflüchteten oder internationale humanitäre Katastrophenhilfe geht – an der Sprache der Menschenrechte führt kein Weg vorbei. Im Selbstverständnis sozialer Professionen sind die Menschenrechte längst fest verankert. Dass soziale Arbeit inzwischen weitgehend als „Menschenrechtsprofession“ gilt, zeigt sich in einschlägigen Buchtiteln, Trainings- und Studiengängen. Darüber hinaus gibt es bereichsspezifische Konkretisierungen menschenrechtlicher Verbindlichkeiten, die aus der Erfahrung der sozialen Arbeit auf die allgemeine Menschenrechtsdiskussion zurückwirken. Ein Beispiel bietet die „Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen“ 1, die nach einem umfassenden Konsultationsprozess zunächst 2006 verabschiedet und 2018 überarbeitet wurde. Soziale Arbeit, dies zeigt sich dabei, dient nicht nur der Implementierung vorgegebener Menschenrechtsnormen; sie kann auch ihrerseits zur Weiterentwicklung der Menschenrechte beitragen. Im Blick auf die Menschenrechte finden kirchliche und säkulare Wohlfahrtsorganisationen eine gemeinsame normative Basis. Die weitgehende Akzeptanz, https://www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/charta-der-rechte-hilfe-und-pflegebeduerf tiger-menschen-77446 (Zugriff am 19.08.2021).
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die die Menschenrechte eben auch in christlicher Caritas und Diakonie mittlerweile erfahren, ist bei näherer Betrachtung indes alles andere als selbstverständlich. Denn der egalitäre Freiheitsanspruch des modernen säkularen Rechtsdenkens fügt sich keineswegs bruchlos in traditionelle christliche Ideen gerechter sozialer Ordnung ein. Zwar lässt sich die Vorstellung, die Menschenrechte seien durchgängig gegen die christlichen Kirchen erkämpft worden, historisch nicht halten. Es wäre aber nicht weniger falsch, die Auseinandersetzungen zwischen säkularem Freiheitsrechtsdenken und traditionellem christlichen Ethos, die in Vergangenheit wiederholt in kulturkämpferische Verwerfungen eskalierten, rückblickend zu bloßen Missverständnissen herabzustufen. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich sowohl der Ökumenische Rat der Kirchen als auch die Katholische Kirche (letztere im Kontext des Zweiten Vatikanischen Konzils) zu den Menschenrechten bekannt und bis dato teils hartnäckig behauptete Abwehrpositionen systematisch – auch theologisch – überwunden. Komplementär dazu setzten interdisziplinäre, interkulturelle und interreligiöse Diskussionen ein, die dazu beigetragen haben, den Anspruch der Menschenrechte zu präzisieren und manche Vorbehalte auszuräumen. Auf diese Weise ist eine wechselseitige Annäherung gelungen – womit allerdings nicht ausgeschlossen ist, dass es nach wie vor gelegentlich zu Irritationen kommt. Die Klärung des Verhältnisses von säkularem Menschenrechtsdenken und christlicher Caritas bzw. Diakonie bleibt auf der Agenda. Geht die Anerkennung des Menschenrechtsansatzes möglicherweise auf Kosten moralischer Sensibilitäten? Wo bleibt der Raum für die Praxis christlicher Nächstenliebe, wenn normative Debatten zunehmend durch das Insistieren auf verbriefte Rechtsansprüche geprägt sind? In solchen skeptischen Anfragen kommt die Sorge vor einer einseitigen „Juridifizierung“ sozialer Beziehungen zu Wort, wie sie auch in kirchlichen Kreisen verbreitet ist. Nicht selten verbindet sie sich mit der Befürchtung, die Menschenrechte beförderten einen einseitig individualistischen Lebensstil, durch den Gemeinschaftsgeist und Solidarität unterminiert werden könnten. Hinzu kommen schließlich die Unsicherheiten, die sich an das weite semantische Feld des „Säkularen“ heften. Haben die Kirchen mit der weitgehenden Akzeptanz der säkularen Menschenrechtsidee, ohne dies zu wollen, womöglich einer schleichenden Entwertung christlicher Caritas und Diakonie den Weg bereitet? Solche kritischen Anfragen an die Menschenrechte sind nicht nur legitim; sie können notwendige Klärungsprozesse weiter voranbringen. 2
Rechte gleicher Freiheit: zum Empowerment-Charakter der Menschenrechte
Die Menschenrechte bilden eine spezifisch moderne Rechtsidee, die sich seit den demokratischen Revolutionen des ausgehenden 18. Jahrhunderts sukzessive Geltung verschafft hat. Ihr Ziel ist „Empowerment“. Die Menschen sollen
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als Subjekte verbriefter Rechtsansprüche Respekt erfahren, auf Einhaltung ihrer Rechte bestehen und dafür notfalls auch wirksame Rechtsmittel einsetzen können. Die Achtung des Menschen als Rechtssubjekt definiert nicht nur den demokratischen Rechtsstaat, sondern nicht minder auch den Sozialstaat.2 Gegen etwaige utilitaristische Lesarten staatlicher „Wohlfahrt“ geht es dabei nie nur um soziale Versorgungsleistungen, sondern stets zugleich darum, demütigende Abhängigkeitsverhältnisse zu verhindern bzw. zu überwinden. Die Empowerment-Funktion der Menschenrechte manifestiert sich in ihrer freiheitlichen Ausrichtung. Sie betrifft keineswegs nur diejenigen Rechte, denen der Freiheitsanspruch gleichsam auf die Stirn geschrieben steht: Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit, Meinungsäußerungsfreiheit, Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, gewerkschaftliche Koalitionsfreiheit usw. Die Orientierung an der Freiheit gilt letztlich für sämtliche Menschenrechte, für die wirtschaftlichen und sozialen Menschenrechte nicht weniger als für die bürgerlichen und politischen Rechte. So stärkt beispielsweise das Menschenrecht auf Gesundheit auch die Patientenautonomie. Das international mittlerweile weithin anerkannte Menschenrecht auf Wasser dient u.a. dazu, Menschen vor Situationen zu bewahren, in denen sie etwaiger Erpressung durch diejenigen, die die Kontrolle über Wasserressourcen ausüben, wehrlos ausgesetzt wären; auch hier ist das Ziel die Ermöglichung realer Freiheit. Das menschenrechtliche Prinzip der Freiheit ist eng verwoben mit dem Prinzip der Gleichheit. Hinsichtlich ihrer grundlegenden Rechte sollen alle Menschen gleichermaßen Respekt, Schutz und Förderung erfahren. Die Garantie der Gleichheit bei der Inanspruchnahme der Freiheitsrechte geschieht vor allem über das Verbot von Diskriminierungen, etwa aufgrund ethnischer Herkunft, Geschlecht, Behinderung, religiös-weltanschaulicher Überzeugung, sexueller Orientierung usw. Die Liste der explizit aufgeführten Anknüpfungspunkte verbotener Ungleichbehandlung bleibt für weitere Entwicklungen ausdrücklich offen. Die Empowerment-Funktion der Menschenrechte hängt sowohl an ihrer freiheitlichen Ausrichtung als auch an ihrer egalitären Grundstruktur. Im Lichte des Gleichheitsprinzips wird deutlich, dass rechtliche Freiheit – anders als in vormodernen Sozialordnungen – nicht das Privileg einiger Weniger bleiben kann; sie gebührt dem Menschen als Menschen und ergo allen Menschen gleichermaßen. Nur so kann das Freiheitsprinzip seine ordnungsstiftende BeIn der deutschen Diskussion kommt dieser Aspekt oft zu kurz. Ein Grund dafür ist die Tatsache, dass der Grundrechtsabschnitt des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland lediglich bürgerliche und politische Freiheitsrechte, nicht aber wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte enthält. Die Rechtsprechung hat indes aus dem Sozialstaatsprinzip (Art. 20 GG) in Verbindung mit der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) zur Aufwertung sozialer Ansprüche als Rechtsansprüche beigetragen. Hinzu kommt, dass Deutschland über internationale Menschenrechtskonventionen zur Einhaltung sowohl der bürgerlichen und politischen als auch der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte verpflichtet ist.
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deutung für das moderne Recht entfalten. Die Freiheit des einen findet in der gleichen Freiheit der anderen auch ihre notwendige Grenze. Im Lichte des Freiheitsprinzips lässt sich wiederum die Verwechslung der menschenrechtlichen Gleichheit mit planer Gleichmacherei zurückweisen. Das Gleichheitsprinzip zielt nicht etwa auf Uniformität oder Homogenisierung, sondern auf gleichen Respekt für die je „besonderen“ Biographien, Lebenspläne, Prägungen und Überzeugungen der Menschen, die sich in Freiheit entfalten können sollen. Dazu Unterstützung zu geben, entspricht dem modernen Selbstverständnis sozialer Arbeit als Menschenrechtsprofession. 3
Verankerung des Menschenrechtsethos in der Menschenwürde
Die emanzipatorische Ausrichtung der Menschenrechte impliziert eine kritische Haltung gegenüber sämtlichen Formen moralisierender Bevormundung. Beispiele aus jüngerer Zeit bieten die Kämpfe gegen die Stigmatisierung sexueller Minderheiten. Gerade auch in kirchlichen Milieus galten homosexuelle Beziehungen bis vor kurzem weithin als „unmoralisch“; solche Abwertungen sind nach wie vor verbreitet. In der liberalisierenden Emphase gegen paternalistische Moralisierung jeder Art kann indes aus dem Blick geraten, dass die Menschenrechte ihrerseits auf genuin moralischen Prämissen basieren. Dies mündet gelegentlich in antagonistische Konstruktionen des Verhältnisses von Recht und Moral. Durch moderne Freiheitsrechte, so mag es dann vordergründig erscheinen, seien moralische Verpflichtungen mehr oder minder abgelöst worden. Im Spiegel der Kritik an den Menschenrechten zeigt sich derselbe Antagonismus in der Sorge vor einer Entmoralisierung der Gesellschaft durch eine einseitige „Juridifizierung“ sozialer Beziehungen. Genau aus diesem Grund wurde Ende der 1990er Jahre das Projekt einer Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten entwickelt, das die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 hätte ergänzen sollen; dieses Projekt scheiterte jedoch an grundlegenden Einwänden. Tatsächlich ist der Menschenrechtsidee eine genuin moralische Verpflichtungsdimension inhärent. Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als im Begriff der „Unveräußerlichkeit“ der elementaren Rechte, die der Mensch nicht preisgeben kann, ohne sich damit selbst als moralisches Subjekt zu diskreditieren. Der Begriff der unveräußerlichen Rechte spielt für die historische Konturierung und das systematische Verständnis der Menschenrechte eine zentrale Rolle. Es ist kein Zufall, dass die Präambel der UN-Menschenrechtserklärung von 1948 mit der Anerkennung der „inhärenten Würde und der […] unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der menschlichen Familie“ einsetzt. Den Zusammenhang zwischen Menschenwürde und Menschenrechten betont – mit ähnlichem Wortlaut – auch das weniger Monate später in Kraft getretene Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland. Anknüpfend an die Proklamation der unantastbaren Würde des Menschen (Art. 1 Abs. 1 GG) bekennt sich das deutsche
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Volk zu „unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten“ (Art. 1 Abs. 2 GG). Menschenrechte sind Freiheitsrechte, die in einem Ethos der Freiheit gründen und deshalb nicht beliebig disponibel sind. In ihnen geht es um nicht weniger als das Selbstverständnis des Menschen als Verantwortungssubjekt. Für diese Einsicht steht der Begriff der „Unveräußerlichkeit“ der Rechte, der seinerseits auf die „Unantastbarkeit“ der Menschenwürde verweist. Der von dorther gebotene Respekt vor der Würde des Menschen als eines Verantwortungssubjekts findet seine institutionelle Rückendeckung in der Gewährleistung von Freiheitsrechten, die allen Menschen gleichermaßen zukommen. Dies ist in aller Kürze die leitende Idee der Menschenrechte. In den Menschenrechten geht es nicht etwa um eine Befreiung „von der Moral“, sondern um eine freiheitliche Moral, besser gesagt: ein Ethos der Freiheit, das auch für das Selbstverständnis kirchlich getragener sozialer Arbeit maßgebend geworden ist. So verstanden, ist die rechtlich geschützte Freiheit nicht nur Anspruch des Menschen, der sich gegen Bevormundung jedweder Art wehren und dabei auf sein Recht pochen können soll; sie ist zunächst ein Anspruch an den Menschen, seine Bestimmung als Verantwortungssubjekt ernst zu nehmen und in Kooperation mit anderen zu realisieren. Deshalb brauchen die Menschenrechte keine „externe Moralzufuhr“, wie dies im – glücklicherweise – gescheiterten Projekt einer Allgemeinen Pflichtenerklärung gedacht war. Sie sind in sich selbst ethisch gehaltvoll. 4 Menschenrechte als relationale Rechte Nach wie vor heften sich manche Vorbehalte gegenüber den Menschenrechten an die Vorstellung, diese seien Ausdruck eines einseitig individualistischen Menschenbildes, das die wesentliche Sozialität des Menschen ausblende und somit schwäche. Nun handelt es sich bei den Menschenrechten in der Tat um Rechte, die für jeden Menschen schlicht aufgrund seines Menschseins gelten und deshalb jedem einzelnen Menschen vorgängig zu spezifischen Gruppenzugehörigkeiten zukommen. Wer sie als „Individualrechte“ bezeichnet, liegt insofern nicht falsch. Aus dem Begriff des Individualrechts zu folgern, es gehe um die Herauslösung des Menschen aus kommunitären Beziehungen und Loyalitäten, wäre jedoch ein gravierender Fehlschluss. Denn alle Menschenrechte weisen gemeinschaftliche Bezüge auf, ja sie zielen darauf ab, freiheitliche Formen von Gemeinschaftlichkeit zu ermöglichen und abzustützen. Dazu hier nur einige Beispiele: Die Meinungsfreiheit beschränkt sich keineswegs auf die individuelle Freiheit zur Meinungsäußerung, sondern sichert damit zugleich die Bedingungen des demokratischen Diskurses in einem freiheitlichen Gemeinwesen; sie ist gleichsam das Ur-Recht des demokratischen Miteinanders. Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit können offensicht-
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lich von isolierten Individuen gar nicht wahrgenommen werden, sondern eröffnen Möglichkeiten des freien Zusammenschlusses; dies ist ihr ausdrückliches Ziel. Die Religionsfreiheit umfasst über die individuelle Glaubens- und Bekenntnisfreiheit hinaus die Freiheit zu gemeinschaftlicher Religionsausübung. Im Wirtschafts- und Arbeitsleben spielen Verbände und Gewerkschaften eine zentrale Rolle, die wiederum durch menschenrechtliche Gewährleistungen abgestützt werden. Das Recht auf Schutz von Ehe und Familie soll Familien davor bewahren, gegen ihren Willen auseinandergerissen zu werden – zum Beispiel in Flüchtlingslagern oder Asylaufnahmezentren. Soziale Rechte gewährleisten die faire Teilhabe an Bildung, Gesundheitsversorgung sowie am Arbeitsmarkt; wiederum geht es offensichtlich um den Menschen als Beziehungswesen. Auch die Habeas-Corpus-Rechte verfolgen das Ziel, Menschen vor Situationen einer „incommunicado“-Haft zu bewahren, in der sie keinen Kontakt mehr mit der Außenwelt aufrechterhalten können; sie sollen die Menschen also davor schützen, aus der Beziehungsgemeinschaft der Menschen herausgerissen zu werden. Die Menschenrechte geben nicht nur Schutz gegen die Überwältigung durch ein Kollektiv, sondern auch gegen unfreiwillige Ausgrenzung. In einem Klima der Einschüchterung durch autoritäre Regime trauen sich Menschen oftmals nicht, gemeinsam für Veränderungen einzutreten. In einem von Homophobie geprägten Umfeld können Lesben und Schwule ihre Partnerschaft schwerlich angstfrei leben. Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel neigen zur Kontaktvermeidung, um die Risiken von Entdeckung und Ausweisung zu minimieren; nicht selten führt dies dazu, dass sie selbst in medizinischen Notfällen keine Ärztin aufsuchen. Gerade auch für solche Situationen erzwungener Vereinzelung wollen Menschenrechte Abhilfe schaffen. Man könnte die Liste der Beispiele verlängern, an denen deutlich wird, dass die Menschenrechte gerade keineswegs auf die „Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade“ (Karl Marx) zielen, wie Kritiker von links oder rechts oft insinuiert haben – und wie dies auch von kirchlicher Seite lange Zeit behauptet worden war. Wenn jedem einzelnen Menschen die grundlegenden Rechte garantiert werden, verbessert dies zugleich die Voraussetzungen für freie Gemeinschaftsbildungen. Nicht der immer wieder beschworene Gegensatz von Individuum versus Gemeinschaft macht die Pointe der Menschenrechte aus. Stattdessen geht es um Freiheit versus Autoritarismus; das ist die entscheidende Stoßrichtung. Indem die Menschenrechte freie Gemeinschaftsbildung in vielfältigen Sozialstrukturen fördern – von der Ehe und Familie über Vereine und politische Parteien bis hin zu Religionsgemeinschaften –, richten sie sich gegen autoritäre, bevormundende Kollektivismen einerseits und gegen erzwungenen sozialen Ausschluss andererseits. Menschenrechtswidrig wären demnach Familienformen, die auf erzwungener Eheschließung basieren, oder Volksdemokratien ohne Pressefreiheit und ohne Freiheitsrechte der Opposition. Ebenfalls inakzeptabel aber wären eine Wirtschaftspolitik, die die dauerhafte Exklusion von Arbeits-
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losen zynisch oder schulterzuckend hinnähme, oder eine gesellschaftliche Praxis, die Menschen mit geistigen Behinderungen vom öffentlichen Leben absondert. Die UN-Behindertenkonvention von 2006 hat erheblich dazu beigetragen, den relationalen Charakter der Menschenrechte deutlicher zu profilieren – mit Auswirkungen weit über das Themenfeld von Behinderungen hinaus. Mit dem Begriff der Inklusion hat sie ein tragendes Prinzip der Menschenrechte geprägt, das gewissermaßen an die Stelle des inzwischen anachronistisch klingenden Prinzips der „Brüderlichkeit“ getreten ist. Der Anspruch der Inklusion steht für die elementare Einsicht, dass Menschen den Respekt ihrer Freiheitsund Gleichheitsrechte nur innerhalb menschlicher Beziehungen erfahren können. Die Ermöglichung vielfältiger menschlicher Beziehungen innerhalb einer inklusiven Gesellschaft bildet deshalb das Kernanliegen der Menschenrechte. Gerade hier liegt ein starker Anknüpfungspunkt zum Selbstverständnis sozialer Arbeit im kirchlichen Raum. 5
Die raumgebende Säkularität der Menschenrechte
Menschenrechte sind säkulare Rechte. Paradigmatisch zeigte sich dies in der Debatte um die UN-Menschenrechtserklärung von 1948. Vorschläge, der Erklärung ein religiöses Fundament einzuziehen, stießen damals auf massiven Widerspruch und konnten sich nicht durchsetzen. Die UN-Erklärung und die in ihrem Gefolge verabschiedeten rechtsverbindlichen Menschenrechtskonventionen sind deshalb durchgängig säkular gehalten. Für die Kirchen und Religionsgemeinschaften ist dies bis heute Quelle mancher Verunsicherungen. Dass sich die Säkularität der Menschenrechte letztlich nicht aus einer antireligiösen Orientierung speist, zeigt sich indes am hohen Stellenwert der Religionsfreiheit. In ihr findet die Bedeutung identitätsstiftender religiöser bzw. weltanschaulicher Überzeugungen und einer daran ausgerichteten Lebenspraxis ausdrückliche Anerkennung. Rechtssubjekte sind dabei allerdings nicht die Religionen als solche, sondern zunächst die Menschen, die sie bekennen und danach leben. Überspitzt formuliert: Die Religionsfreiheit beschäftigt sich nur insofern mit Religion, als sich Menschen mit Religion beschäftigen. Nur vermittelt über die Menschen gelangt Religion überhaupt in den Fokus menschenrechtlicher Wahrnehmung und Gestaltung. Diese charakteristische Indirektheit, mit der sich die Menschenrechte auf Religion beziehen, schafft Raum für die Entfaltung menschlicher Freiheit; genau darin besteht ihr Sinn. Sie gilt deshalb auch für den die Menschenrechte sichernden säkularen Rechts- und Sozialstaat in seinem Verhältnis zu den Kirchen bzw. Religionsgemeinschaften. Um der Religionsfreiheit aller willen ist der Staat gehalten, Abstand gegenüber den Religionsgemeinschaften zu wahren. Diese Abstandnahme ist nicht etwa Ausdruck von Indifferenz, Passivität
Menschenrechtsbasierte säkulare Wohlfahrt
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oder Gleichgültigkeit, sondern ein Gebot der Religionsfreiheit. In der verbreiteten Rede von der „Trennung“ zwischen Staat und Religionsgemeinschaften droht diese Pointe freilich unterzugehen, klingt die Trennungssemantik doch oft nach Abschiebung der Religion in die Privatsphäre oder gesellschaftliche Nischen. Um verengten Lesarten der staatlichen Säkularität entgegenzuwirken, ist es sinnvoll, die scheinbar negative Komponente der Trennung – besser: der Abstandnahme – als Bestandteil eines positiven Auftrags auszuweisen, nämlich zur Schaffung eines Entfaltungsraums für religiösen und weltanschaulichen Pluralismus. Ohne die klar gesetzte Funktionsdifferenz zwischen Staat und Religionsgemeinschaften könnte ein solcher Raum von vornherein weder entstehen noch aufrechterhalten werden. Der säkulare öffentliche Raum meint dabei nicht einen vom Staat purifizierten, gleichsam „leeren“ Raum, sondern einen offenen Raum, den konkret zu füllen den Religionsgemeinschaften und ihren Angehörigen überlassen bleibt. In diesem Raum können sich auch christliche Caritas und Diakonie frei entfalten, ist doch auch Wirken vom Menschenrecht der Religionsfreiheit ausdrücklich umfasst. Die klare Funktionsdifferenz zwischen Staat und Religionsgemeinschaften schließt Kooperation nicht aus, sondern schafft die Voraussetzungen dafür, dass sie ohne wechselseitige Grenzüberschreitungen gelingen kann. Eine förmlich geregelte Kooperation ist deshalb nicht per se Ausdruck einer inkonsistenten, irgendwie noch „hinkenden“ Trennung, wie es nach wie vor häufig heißt. Wohl aber müssen Kooperationsbeziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften dem Prinzip der Diskriminierungsfreiheit genügen. Dies verlangt, die Kriterien der Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften so zu gestalten, dass die Angehörigen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Gruppierungen, wenn sie dies denn wollen, gleichermaßen von staatlichen Unterstützungs- und Kooperationsoptionen profitieren können. In Deutschland ist dies derzeit nicht durchgängig der Fall. Deshalb gilt es, die traditionell stark an den beiden christlichen Großkirchen ausgerichteten Kooperationsstrukturen reformerisch in Richtung eines offenen Religionsverfassungsrechts weiterzuentwickeln. Kirchliche Sozialarbeit sollte sich auf diesen Öffnungsprozess aktiv und nicht nur defensiv einlassen. Dadurch würde sie zugleich die menschenrechtlichen Grundlagen ihres eigenen Selbstverständnisses glaubhaft machen und stärken. 6
Resümee
Die Aufnahme der Menschenrechtsidee in christlicher Caritas und Diakonie ist historisch und systematisch keineswegs selbstverständlich. Ihr liegen wechselseitige Annäherungsprozesse zugrunde, die indes keine Gewähr gegen das Auftreten alter und neuer Irritationen bieten. Mit der Anerkennung der Menschenrechte haben sich die Kirchen dem modernen politisch-rechtlichen Frei-
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H. Bielefeldt
heitsanspruch geöffnet – mit weitreichenden Auswirkungen auf ihr Selbstverständnis und ihre Praxis, nicht zuletzt die Praxis kirchlicher Sozialarbeit. Kritische Anfragen aus der Perspektiven der christlichen Sozialethik können im Gegenzug dazu beitragen, das normative Profil der Menschenrechte zu schärfen und insbesondere ihre ethische Verankerung im Respekt der Menschenwürde, ihre durchgängig relationale Orientierung und den freiheitssichernden Sinn der menschenrechtlicher Säkularität genauer in den Blick zu nehmen. Literatur Bielefeldt, H. (1998): Philosophie der Menschenrechte. Darmstadt. Fremuth, M.-L. (2015): Menschenrechte. Grundlagen und Dokumente. Berlin. Heimbach-Steins, M. (2001): Die Menschenrechte in Gesellschaft und Kirche. Mainz. Hilpert, K. (2018): Ethik der Menschenrechte. Paderborn. Joas, H. (2011): Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte. Frankfurt a.M. Krennerich, M. (2013): Soziale Menschenrechte. Schwalbach/Ts. Reuter, E.-R. (Hg.) (1999): Ethik der Menschenrechte. Tübingen. Schwartländer, J. (Hg.) (1981): Modernes Freiheitsethos und christlicher Glaube. Mainz. Staub-Bernasconi, S. (2007): Soziale Arbeit: Dienstleistung oder Menschenrechtsprofession?, in: A. Lob-Hüdepohl/W. Lesch (Hg.): Soziale Arbeit – ein Handbuch (S. 20–54). Paderborn.
11 Zwischen Ohnmacht und Widerstand – zum Grundprofil einer diakonischen Ethik Andreas Lob-Hüdepohl
Ethik ist die kritisch-konstruktive Reflexion moralisch gehaltvoller Praxis – einer alltagsweltlichen ebenso wie einer berufs- oder bereichsspezifischen Praxis menschlicher Akteur:innen. Ethische Reflexionen erfassen die Begründung von Normen und Werten, die Abwägung von Gütern in moralischen Dilemmata und nicht zuletzt die Würdigung der ganzen Bandbreite von Ethiktheorien, die – wie etwa utilitaristische oder vertragstheoretische, care- oder diskurstheoretische Ethikentwürfe – Begründungsprinzipien und Entscheidungskriterien zu einem konsistenten Ganzen zu vereinigen suchen. Ethische Reflexionen ermöglichen Urteile über moralisch Erlaubtes, Verbotenes oder Gebotenes. Zugleich nehmen sie auch moralische Grundhaltungen von Akteur:innen in den Blick. Traditionell kann man solche Grundhaltungen Tugenden nennen. Wem dies zu antiquiert ist, nennt sie Grundfiguren gelingender moralischer Praxis. Diakonie ist kirchliches Handeln – vorrangig im Bereich des Gesundheits- und Sozialwesens – im Vertrauen auf die heilsam-befreiende Gegenwart Gottes zur Unterstützung der Menschwerdung jedes Menschen. Eine Ethik diakonischer Praxis reflektiert Normen, Werte oder auch Grundhaltungen ihrer Akteur:innen vor dem Hintergrund genau dieses christlichen Gottesglaubens – also eben vor dem Hintergrund des hoffenden Vertrauens auf jene heilsam-befreiende Gegenwart, die die biblischen Erzählungen als den Gott Israels in den Geschichten und Gesellschaften Seines Volkes bekennen und bezeugen. Eine Ethik der Diakonie unternimmt gewissermaßen eine Auslegung des Glaubens im Medium diakonischer Praxis und ist damit eine applikative Ethik: eine Ethik im Praxisvollzug. (Lob-Hüdepohl 2021a) Einige Grundorientierungen und Grundfiguren, die sie bei dieser Auslegung ermittelt, werden im Folgenden skizziert. 1
1 Ein
– womöglich sogar ökumenischer – Gesamtentwurf ist Desiderat.
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1
A. Lob-Hüdepohl
Von Ohnmacht zur Beziehungsmacht – der Schrei Bedrängter als Ursprung diakonischer Praxis
Das Vertrauen von Menschen in die heilsam-befreiende Gegenwart Gottes war und ist nie kontextlos. Ein bleibendes Merkmal solcher Kontexte war und ist – um es in einem biblischen Bild zu beschreiben – die Situation himmelschreienden Unrechts. Als Erlösungsglaube sucht das jüdisch-christliche Vertrauen immer wieder Antworten auf die individuelle wie kollektive Erfahrung von Unheil – von Ohnmacht gegenüber Leid, Unterdrückung und Ausgrenzung aller Art. Ausgangspunkt diakonischen Handelns, das sich als praktischer Teil solcher Antwort versteht, ist deshalb nicht ein ungetrübter Normalzustand. Ausgangspunkt ist vielmehr der je schon verletzte Mensch: „Unordnung, sowohl im eigenen Herzen, als auch in der Gesellschaft […]. Die ethische Aufforderung ist daher“, wie Edward Schillebeeckx zutreffend feststellt, „nicht eine abstrakte Norm, sondern, geschichtlich, ein geschichtliches Geschehen: unsere konkrete Geschichte selbst; Menschen in Not; die Menschheit in Not“ (Schillebeeckx 1977, S. 639). Bemerkenswert ist nun der Prozess, in dem sich inmitten von Not und Unheil die heilsam-befreiende Gegenwart Gottes ausweislich der biblischen Erzählungen Bahn bricht. Paradigmatisch berichtet das Zweite Buch Mose vom Exodus-Geschehen: Ausgangspunkt ist der Schrei der Bedrängten im Sklavenhaus Ägyptens (Burns 1987; Croatto 1981): „Ich habe den Schrei über ihre Bedränger gehört“ (2 Mose/Ex 3,8). Der Schrei der Armen und Bedrängten ist aber mehr als ein bloßes Aufschreien, in dem sich ein momentaner Schmerz Luft verschafft. Im Schrei artikuliert sich vielmehr ein fundamentales Widersetzen gegenüber einer Wirklichkeit, die etwa in Gestalt gesellschaftlicher Verhältnisse persönliches Leid, Marginalisierung und Unterdrückung zulässt, hervorruft oder stabilisiert (Metz 2006, 135 f.). Der Schrei der Armen fordert andere auf, das ihnen Mögliche zu ergreifen, den alltäglichen Zustand des Leidens und der Marginalisierung zu durchbrechen – so wie der biblische Gott als der ganz Andere das Befreiungsgeschehen des Exodus auslöst und Sein Volk aus dem Sklavenhaus Ägyptens führen lässt. „Wer diesen Aufschrei des Schmerzes hört, wird davon überrascht, aufgeschreckt: Der Schrei bricht in seine geordnete, alltägliche Welt hinein als Zeichen, als der Schall oder der Lärm, der abwesende Anwesenheit eines Menschen inmitten des Leidenden ahnen lässt“ (Dussel 1989, S. 10).
Entscheidend ist: Der Schrei der Leidenden und Marginalisierten ist schon ihre erste Tat auf dem Weg ihrer heilsamen Befreiung. Mit ihm beginnen sie, ihre Angst und Ohnmacht zu besiegen und damit ihre Würde als Subjekte ihrer eigenen Lebensgeschichte einzufordern und zu behaupten – und sei es als Akt eines letzten Protestes, sich nicht abfinden zu wollen mit dem erlittenen Schicksal: „Jesus aber schrie laut auf. Dann hauchte er den Geist aus“ (Mk 15,37). Dieser Schrei Jesu ist Kulminationspunkt eines solchen letzten Protestes und
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seines Vertrauens auf einen Gott, der selbst in der Finsternis eines gewaltsamen Todes dem Leidenden und Geschundenen die Treue hält und ihn letztlich zu neuem Leben führt. Darauf auch für sich zu vertrauen, kann Menschen befähigen, sich nicht ihrem bedrängenden Schicksal zu ergeben, sondern sich ihm zu widersetzen – und sei es nur im Pianissimo eines stummen Schreis. Diese Dynamik heilsam-befreiender Gegenwart disponiert die normative Logik jeder diakonischen Praxis. Ausgangspunkt ist die Not marginalisierter Menschen und die entschiedene Ansage des Juden aus Nazareth, die ihn die Verheißung des Propheten Jesaja zitieren lässt und gewissermaßen zur Antrittspredigt seines Wirkens wird: „Der Geist des Herrn ruht auf mir; denn der Herr hat mich gesalbt. Er hat mich gesandt, damit ich die den Armen eine gute Nachricht bringe; damit ich den Gefangenen die Entlassung verkünde und den Blinden das Augenlicht; damit ich die Zerschlagenen in Freiheit setze und ein Gnadenjahr des Herrn ausrufe“ (Lk 4,18 f.).
Aus dieser Fundamentaloption resultiert das, was seit einigen Jahrzehnten – überwiegende im katholischen Raum, darauf aber keineswegs begrenzt – innerkirchlich die vorrangige Option für die Armen genannt wird. Entscheidend ist dabei, dass die Armen schon zu biblischen Zeiten weniger allein für individuelle Verliererschicksale im Wettlauf um ökonomisch ausreichende Ressourcen, denn für ein Verständnis von – modern formuliert – Lebenslagenarmut stehen. Lebenslagenarmut umfasst neben materieller auch immaterielle Ressourcenarmut, besitzt oftmals systemische (Mit-)Ursachen und bezieht sich auf die unterschiedlichsten Gruppen von Menschen, die an den Rand gedrängt und ausgegrenzt (exkludiert) sein können: Frauen, Kinder und Jugendliche, Ältere, Fremde, Geflüchtete, Obdachlose, Verwirrte, Erkrankte usw. Vorrangig ihnen – ob als Einzelne oder als Personengruppen – gilt die Zusage der heilsam-befreienden Wirkmacht Gottes, die diakonische Praxis in die Gegenwart übersetzen will. Zugleich mahnt der Schrei der Armen jede diakonische Praxis, sich nicht in überwältigendem Aktionismus zu verlieren. Es muss ihr immer um die unterstützende Befähigung (empowerment, enabling; [Wegner 2011]) der Betroffenen gehen, nicht um deren Ersetzung oder womöglich sogar als eine ungebetene Fremdbeglückung (nur, weil es doch Gott durch kirchliche Diakonie gut mit den Bedrängten und Marginalisierten meint). Die normative Intuition vieler biblischer Narrative ist offensichtlich eine andere. Eindrucksvoll übermittelt dies die Heilungserzählung der blutflüssigen Frau (Lk 8,46 parr.): einer Frau, deren steter Blutfluss sie zur Unreinen und damit zur Ausgestoßenen in ihrer Gesellschaft macht; einer Frau aber auch, die sich nicht abfinden will mit ihrem Schicksal; die allen ihren Mut zusammennimmt und die Nähe Jesu sucht, um ihn wenigstens am Saum seines Gewandes zu berühren und damit Heilung zu erfahren. Mit Erfolg: Die Berührung und das öffentliche Bekenntnis ihres Tabubruches – immerhin hat sie das strikte Verbot körperlicher Nähe
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einer Unberührbaren verletzt – lassen sie gesunden; ihre unheilvolle Isolation ist überwunden. Gottes lebensspendende Kraft wird erfahrbar in der heilsamen Kraft Jesu von Nazareth. Und – so die biblisch inspirierte normative Intuition – in der heilsamen Kraft derer, die sich in seinem Namen ermächtigt wissen und Ohnmacht überwinden helfen. Es ist die Kraft bewegender und bemächtigender Beziehungen, die Grenzen überwinden helfen: „Ja, mit dir überrenne ich Scharen“, preist der Psalmist, „mit meinem Gotte überspringe ich Mauern“ (Ps 18,30). Aber es sind – wie die blutflüssige Frau – letztlich die Ausgegrenzten und Leidenden selbst, die sich von der Frohen Botschaft ermutigt fühlen und ihr Leben und Schicksal – soweit es geht – selbst in die Hand nehmen. Modern gewendet zeichnet sich hier die Kontur einer diakonischen Praxis ab, die die Beteiligung (Partizipation) einer befähigenden Diakonie mit einem eigenen Akzent versieht: Es geht nicht mehr darum, die Betroffenen an der diakonischen Praxis zu beteiligen, sondern idealerweise um deren Befähigung, diakonische Expertise an der produktiven Bewältigung ihrer Lebenslagen zu beteiligen – wenn sie es denn wollen. Das korrespondiert mit der Sinnspitze moderner sozialer Professionen: Im Letzten geht ihnen darum, dass ihre Adressat:innen in die Lage versetzt werden, selbst zu entscheiden, ob und wie sie professionelle Unterstützung für die Bewältigung ihrer Lebenslage einbinden. Zwar mag die reale Praxis immer wieder hinter diesem Leitbild zurückbleiben. Aber es gibt die entscheidende normative Richtung an. Das setzt eine zugleich hörende wie barmherzige Grundhaltung diakonischer Akteur:innen voraus. Eine hörende Diakonie nimmt den Schrei der Armen nicht nur ernst und zum Anlass, gegebenenfalls unterstützend einzugreifen. Sie hört den Ermutigten und Notleidenden vor allem aufmerksam zu. Denn es geht um deren Leben, um deren Not, um deren ersehnte Perspektiven. Eine hörende Diakonie stellt Fragen, vermeidet aber vorschnelle Antworten. In gewisser Weise ist eine hörende zugleich eine lernende Diakonie. Denn die Fragen, die sie stellt, zielen nicht darauf ab, die eigene Auffassung bestätigt zu bekommen. Es gibt zwei Typen von Fragen: „Das ist meine Meinung. Kannst Du ihr zustimmen?“ Der andere Typus sucht dagegen keine Affirmation des Eigenen, sondern das Erkunden von etwas Neuem und Ungewohnten. Es ist ein eröffnendes Fragen. Es hat die Struktur des „Was denkst, was meinst, was fühlst Du?“ Solchem Fragen geht es um das Verstehenlernen des Anderen als Anderen. Wenn das Wort nicht mit dem negativen Beigeschmack des Aufdringlichen verbunden wäre, könnte man sogar von einem neugierigen Fragen sprechen: begierig, etwas Authentisches und Neues zu erfahren. Neugieriges Fragen kann freilich – und darin besteht gerade die negative Konnotation von Neugier – schnell zum Instrument einer fast schon inquisitorischen Verfolgungsbetreuung mutieren. Deshalb bedarf diakonische Praxis der Einbettung in eine Grundhaltung der Barmherzigkeit – einer Barmherzigkeit allerdings in einem genuin biblischen Sinn. Dieser setzt andere Akzente als
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moderne Assoziationen wie Milde, Mitleid oder Nachsichtigkeit. Die ursprünglich hebräische Wurzel des deutschen Wortes Barmherzigkeit rachamim verweist auf rechem (= Gebärmutter) sowie auf cham (= Wärme) – eine Wärme also, die einen bergenden Nährboden für das Wachsen und Gedeihen von Leben und von Menschen auf dem Weg ihrer Menschwerdung als eigenständige Subjekte und Autor:innen ihrer Lebensgeschichte bildet. Papst Franziskus hat diese Barmherzigkeit mit einem Vorrang der Zeit vor dem Raum in Verbindung gebracht: „Die Zeit ist mehr wert als der Raum. […] Dieses Prinzip erlaubt uns, langfristig zu arbeiten, ohne davon besessen zu sein, sofortige Ergebnisse zu erzielen. […] Der Zeit Vorrang zu geben bedeutet sich damit zu befassen, Prozesse in Gang zu setzen anstatt Räume zu besitzen. […] Es geht darum, Handlungen zu fördern, die eine neue Dynamik in der Gesellschaft erzeugen, und Menschen sowie Gruppen einzubeziehen, welche diese vorantreiben, auf dass sie bei wichtigen historischen Ereignissen Frucht bringt“ (Evangelii gaudium, S. 222 f.).
Vielleicht ist damit ein signifikantes Vorzeichen gesetzt, dass eine diakonische Ethik für diakonische Praxis aus genuin theologischen Gründen auf den Begriff bringt: den Schrei der Armen hören; der Not von Menschen Raum geben; aber vor allem auf Zeit setzen, in der die Notleidenden zu Subjekten ihrer Lebensgeschichte werden und nicht zu bloßen Objekten umtriebiger Heilsverwirklichungspraxis diakonischer Akteur:innen. 2
Mit Herz und Verstand
Die vorgenannten Grundhaltungen bilden zweifelsohne die Herzmitte diakonischer Praxis. Weil es aber um die gelingenden Lebensführungen der adressierten Menschen geht, bedarf es einer bestmöglichen Fachlichkeit diakonischen Handelns und mithin einer diakonischen Ethik, die entsprechende normative Grundhaltungen als fachlich geboten oder sogar zwingend ausweist. Solche Grundhaltungen bilden den zentralen Gegenstand von Care-Ethiken (Banks/Gallagher 2009; Conradi 2001; Tronto 1993), die auf die SorgeStruktur sozialer Praxis abzielen. „Sorge verbindet“, wie der Deutsche Ethikrat mit Blick auf die professionellen Sorgebeziehungen festhält, „das ‚Bekümmertsein‘ (‚Besorgtsein‘) einer Person über etwas oder jemanden, das oder der in welcher Form auch immer in Bedrängnis oder Gefahr gerät, intuitiv mit der persönlichen Aufforderung an den Bekümmerten (‚Besorgten‘), Verantwortung zu übernehmen für das Abwenden und Überwinden des Bedrängnisses oder der drohenden Gefahr – eben Sorge zu tragen für den Schutz und die Förderung einer gedeihlichen (‚flourishing‘) Lebensgestaltung der mit der Sorge adressierten Person“ (DER 2018, S. 42).
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Sorge bildet das Grunddispositiv aller diakonischen Praxis. Es lässt sich in vier normative Grundhaltungen ausdifferenzieren: aufmerksam, achtsam, assistierend und anwaltlich. 2.1 Aufmerksam Die Care-Ethik spricht von attentiveness (Tronto 1993), wenn sie das erste Moment des Besorgtseins auf den Begriff bringen will. Es ist zunächst die Aufmerksamkeit für die höchst persönliche Lebenslage der Adressat:innen diakonischer Interventionen. Die Lebenslage eines Menschen wird von vielen Faktoren beeinflusst: von objektiven Ressourcen (materielle und immaterielle wie soziale Netzwerke, Bildungsabschlüsse, physische/psychische Gesundheit, Mobilität/Flexiblität, positionelle Macht/Entscheidungsbefugnisse/Selbstwirksamkeitserfahrung usw.) ebenso wie von subjektiven Ressourcen – von Ressourcen also, die real genutzte Handlungsspielräume für objektiv zuhandene Ressourcen oder auch die kognitiven, emotionalen und volitiven Kompetenzen umfassen. Dieser subjektive Faktor menschlicher Lebenslagen hat unmittelbare Auswirkungen auf die Wirkung professioneller sozialer Hilfen. Denn er macht verständlich, warum beispielsweise traumatische oder andere psychosoziale Vorerfahrungen die Überwindung einer prekären Lebenslage trotz der äußerlich gewährten professionellen Unterstützung erschweren oder verhindern – ein Sachverhalt, der zu den ernüchternden Erfahrungen sozialer Professionen gehört. Die Insuffizienz kognitiver, emotionaler oder volitiver Kompetenzen spiegelt oftmals eine tiefsitzende „soziale Scham“ (Honneth, 1992, S. 219) der Betroffenen, die selbst wiederum aus mal subtilen, mal offenkundigen Erfahrungen von Missachtung resultiert: der Missachtung etwa des menschlichen Bedürfnisses nach emotionaler Nähe und Anerkennung in Familie, Nachbarschaft oder in einem Bekannten- und Freundeskreis; oder der Missachtung des Anspruchs, sich als gleichberechtigtes und anerkanntes Mitglied einer Gesellschaft zu fühlen und nicht als bloßer Spielball anderer Mächte (oder einer anonymen Politik und Verwaltung); oder der Missachtung des Bestrebens, durch selbständige Arbeit bzw. durch eigenständiges Vermögen an der materiellen wie ideellen Wertschöpfung ihres persönlichen wie des gesellschaftlichen Lebens teilzuhaben (Honneth 1999). Solche Missachtungserfahrungen können zu Handlungsblockaden, motivationalen Antriebsschwächen oder sogar zu einer generellen Perspektivlosigkeit führen, die jedwede bloß äußerlich vollzogene Unterstützung im Ansatz chancenlos werden lassen. Individuelle oder auch kollektive Missachtungserfahrungen und Notlagen berühren unmittelbar elementare menschenrechtliche Ansprüche. Eine aufmerksame Grundhaltung diakonischer Praxis wird sie deshalb auch aus der Perspektive fundamentaler (professions-)ethischer Grundprinzipien beurteilen; etwa a) der Autonomie in Form von Selbstbestimmungsrechten in allen relevanten Lebensfragen als Ausfluss menschlicher Würde und Freiheit;
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b) der Gerechtigkeit in Form gleichberechtigter sozialer Teilhabe an der materiellen wie immateriellen Wertschöpfung sozialer, kultureller und politischer Güter ebenso wie in Form gleichberechtigter Teilhabe an politischen Aushandlungsprozessen; c) der Solidarität in Form von Verschaffungsansprüchen elementarer Sorgeund Unterstützungsleistungen ebenso wie in Form der Einbindung in soziale Netzwerke (Familie, Nachbarschaften, Gemeinwesen usw.), in denen Menschen persönliche Selbstwirksamkeit entwickeln können und wechselseitig Anerkennung erfahren; d) der Subsidiarität in Form wirklich hilfreicher Hilfe, weil sie so nah wie möglich an den Adressat:innen platziert ist und sie damit am ehesten in das Hilfehandeln einzubinden vermag; e) der Nachhaltigkeit in Form von auf Dauer angelegten und verlässlich zur Verfügung stehenden materiellen wie immateriellen Ressourcen, zu denen nicht zuletzt die Güter der leiblichen wie seelischen Gesundheit sowie eine lebensförderliche natürliche Umwelt zählen. Diese Grundprinzipien, die hier nur stichwortartig aufgerufen werden können, stehen im Mittelpunkt vieler Entwürfe einer Ethik (in) der Sozialen Arbeit (Lob-Hüdepohl/Lesch 2007; Maaser 2010; Schmid Noerr 2018). Sie gehören ebenfalls zum festen Kanon einer diakonischen Ethik. 2.2
Achtsam
Achtsamkeit ersetzt die auch für diakonisches Handeln klassische Grundhaltung des Mitleids. Zweifelsohne besitzt Mitleid Bedeutungen, die für eine Kultur der Achtsamkeit unverzichtbar sind und im englischen Begriff der compassion nochmals stärker mitschwingen (Haker 2001). Das gilt besonders für das Moment der Empathie im Sinne des Mitgefühls für Menschen, deren Lebenslage schwer belastet und beschädigt ist. Gleichwohl war und ist Mitleid nie davor gefeit, den Mitleidenden in eine eigentümlich hierarchisierende Distanz zum Bemitleideten zu bringen. Mitleid birgt die Gefahr, dass sich der Mitleidende in der Pose des Großherzigen und womöglich sogar des moralisch Überlegenen gefallen will. Sprichwörtlich geworden ist die beißende Kritik Friedrich Nietzsches an der entwürdigenden Form eines Mitleides, mit der sich der Mitleidende über den Bemitleidenden in der mindestens klandestinen Absicht erhöht, um sich „in der ganzen Rücksichtlosigkeit seines eigensten lieben Selbst“ (Nietzsche 1956, S. 486) zu gefallen. Zudem begünstigt die Haltung des Mitleids eine Defizitorientierung, die den Bemitleideten lediglich in seinen Schwächen und Erbarmungswürdigkeiten sieht. Achtsamkeit hingegen ist auch sensibel für die verschütteten oder unmerklichen Problembewältigungskompetenzen, die Menschen bei allen ihren Behinderungen und Beschädigungen in der Regel nach wie vor besitzen. Solche Ressourcenorientierung will keinesfalls das Problematische und schmerzhaft Prekäre einer Lebenslage verharmlosen. Diakonisches Handeln hat immer
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auch mit „Ausstattungsproblemen“ (Staub-Bernasconi 1996, 15 f.) zu tun – seien sie körperlicher, seelischer, spiritueller, soziokultureller oder auch ökonomischer Art. Dennoch schrumpft die Biographie eines Menschen selbst in einer prekären Lebenslage keinesfalls auf solche Ausstattungsprobleme zusammen. Auch in außergewöhnlich bedrängenden Lebenslagen liegen oftmals wenigstens basale Selbstkompetenzen bereit, die für die Überwindung prekärer Situationen erschlossen und (mit-)eingesetzt werden können. Darin beachtet Achtsamkeit diakonischen Handelns das Bilderverbot. Bekanntlich beziehen es die biblischen Narrationen nicht nur auf das Verbot, sich von Gott kein Geschnitzwerk zu machen – in der heimlichen Absicht, Ihn als solches in den Händen zu halten und damit über Ihn verfügen, also sprichwörtlich „in der Hand halten“ zu können (2 Mos/Ex 20,4). Sie weiten das Bilderverbot auch auf alle seine Ebenbilder aus (Dohmen 1985). In diesem Sinne akzeptiert zwar das Bilderverbot im diakonischen Handeln die Bedeutung der fachlichen Notwendigkeit, dass Professionelle sich ein möglichst genaues Bild von der Lebenslage eines Betroffenen machen. Eine ausreichend differenzierte Diagnose ist die unverzichtbare Basis, um geeignete Unterstützungsmaßnahmen anbieten zu können. Aber das Bilderverbot versagt den diakonischen Akteur:innen und ihrem professionellen Blick – und hier liegt seine Entsprechung zum biblischen Bilderverbot –, die Adressat:innen ihrer Interventionen auf genau dieses diagnostisch erhobene Bild zu reduzieren und festzulegen. Das diakoniepraktische Bilderverbot rechnet mit dem unabschätzbaren Mehr, das jeder Mensch und selbstverständlich jede:r Adressat:in immer auch und vor allem ist. Es respektiert jeden Menschen in seiner Unverfügbarkeit und Unverplanbarkeit. Das betreuungspraktische Bilderverbot stellt letztlich jede:n Betreuer:in vor die Gretchenfrage: Geben sie ihren Adressat:innen und deren Lebensführung nur eine vorausberechnende Prognose? Oder gewähren sie ihnen eine noch unentdeckte und unverplante Zukunft, die offen ist für unvorhergesehene und überraschend neue Entwicklungen und Wendungen ihres Lebens? 2.3
Assistierend
Lange Zeit waren soziale Berufe untrennbar mit der Grundhaltung der Fürsorge verknüpft. 2 Allerdings ist Fürsorge – wie Mitleid – äußerst ambivalent. Fürsorge hat gerade in der Sozialen Arbeit schnell jenen paternalistischen Modus, den Martin Heidegger treffend als „einspringend-beherrschende“ Fürsorge bezeichnet hat: „Diese Fürsorge übernimmt das, was zu besorgen ist, für den Anderen. Dieser wird dabei aus der Stelle geworfen, er tritt zurück, um nachträglich das Besorgte als fertig Verfügbares zu übernehmen bzw. sich ganz davon zu entlasten. In solcher Fürsorge kann der Andere zum Abhängigen und Beherrschten werden, mag diese Herrschaft Das schlug sich konsequent in der Bezeichnung „Fürsorgeberufe“ bzw. „Fürsorgerinnen“ usw. nieder.
2
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auch eine stillschweigende sein und dem Beherrschten verborgen bleiben“ (Heidegger 1979, S. 122).
Heidegger hat der einspringenden die so genannte „vorspringend-befreiende“ Fürsorge gegenübergestellt, die dem Besorgten in dessen „existenziellen Seinkönnen“, also in seiner selbständigen Lebensführung, in einer Weise „vorausspringt“, dass der Andere der Notwendigkeit wie der Möglichkeit eigener Selbstsorge ansichtig und „für sie frei“ (Heidegger 1979, S. 122) wird. In einer modernen Sprache lässt sich der Modus vorspringender Fürsorge besser mit dem Begriff der Assistenz bezeichnen. Der Assistierende ist nicht einfach nur eine beliebige Stütze des Hilfsbedürftigen. Er weiß sich sehr wohl von der Beschwernis von dessen Lebenslage in die Verantwortung und Pflicht genommen, im Zweifelsfalle auch stellvertretend Veränderungsprozesse anzustoßen oder drängende Entscheidungen gelegentlich sogar selbst zu treffen. Assistenz regt aber Veränderungen letztlich nur im Interesse lernender Selbstsorge des Adressaten an. Assistierende „Fürsorge“ tritt nicht an ihre Stelle. Sie ist nie die Mutter von Lösungen, sondern immer nur Hebamme bei deren Geburt. Manche Lebenslage ist freilich deshalb prekär, weil die Lebenseinstellungen und Lebensgewohnheiten der Adressat:innen professioneller Assistenz die Lösung auftretender Probleme verunmöglichen. Insofern sind Interventionen notwendig, die solche Handlungsmuster und Lebensgewohnheiten verändern. Allerdings gibt es hier zwei Arten von Intervention: die Unterweisung oder die Unterbrechung. Eine Unterweisung versucht, den Adressaten professioneller Assistenz über das Selbstwidersprüchliche und Gefahrvolle seiner Lebensführung aufzuklären und ihn in einer mutmaßlich besseren, gesünderen oder zweckdienlicheren Lebensführung zu unterweisen. Eine Unterweisung blockiert aber das selbstsorgende Selbsterkennen und Selberlernen. Sie entpuppt sich schnell als Wegverwehrerin einer eigenständigen Lebensführung. Gegenüber einer unterweisenden beschränkt sich eine unterbrechende Assistenz darauf, den verhängnisvollen Kreislauf zwischen den prekären Lebenslagen des Adressaten und seinen problemgenerierenden Lebensgewohnheiten und Lebensgewissheiten lediglich zu stoppen. Unterbrechende Assistenz lässt lediglich innehalten, um von hier aus im gemeinsamen Gespräch die innere Landkarte des Hilfebedürftigen nach hinderlichen Orientierungsmustern der Lebensführung abzusuchen und alternative Orientierungen zu gewinnen. Unterbrechung fordert von den Adressat:innen Selbstlernen. Sie fördert damit eine Selbstkompetenz, die für eine selbständige und selbstbestimmte Lebensführung unerlässlich ist. Hier zeigt sich das Profil einer professionellen Menschenrechtsassistenz, die die menschenrechtlichen Ansprüche der Adressat:innen diakonischer Praxis nicht nur respektiert, sondern auch schützt und proaktiv verwirklichen hilft. Dieses Profil ist allerdings schnell gefährdet – jedenfalls dann, wenn die selbstbestimmte Lebensführung eines Menschen schwerwiegend seinem eige-
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nen Wohl zu widerstreiten scheint. Auch heute noch findet sich gerade in kirchlich-diakonischen Kontexten immer wieder der Hinweis, dass der Respekt vor der Selbstbestimmung dort endet, wo diakonische Fürsorge – dann noch überhöht als Ausfluss des fürsorglichen Gottes – das Wohl und Wehe des Betroffenen vor schweren Beschädigungen zu schützen hat – notfalls auch gegen seinen Willen. Dieser diakonische Paternalismus müsste zumindest im Sinne einer advokatorischen Ethik (Brumlik 2017) unterscheiden zwischen einem sogenannten weichen Paternalismus, der sich situativ etwa über eine krankheitsbedingt eingetrübte Selbstbestimmung hinwegsetzt und nachträglich mit ausdrücklicher Zustimmung des Betroffenen rechnen kann, und einem harten Paternalismus, der sich über eine freiverantwortliche Entscheidung hinwegsetzt und deshalb nie legitim ist (DER 2018). Auch im christlichen Kontext gilt ausnahmslos der theologische Grundsatz, den etwa das Zweite Vatikanische Konzil zur freiverantwortlichen Selbstbestimmung jedes Menschen ausgeführt hat: „Die wahre Freiheit aber ist ein erhabenes Kennzeichen des Bildes Gottes im Menschen: Gott wollte nämlich den Menschen ‚in der Hand seines Entschlusses lassen‘ […]. Die Würde des Menschen verlangt daher, dass er in bewußter und freier Wahl handle, das heißt personal, von innen her bewegt und geführt und nicht unter blindem inneren Drang oder unter bloßem äußeren Zwang“ (Gaudium et spes, S. 17).
2.4
Anwaltlich
Die Fallkonstellation des weichen Paternalismus macht offenkundig, dass eine Assistenz gelegentlich auch stellvertretend Entscheidungen für ihren Adressat:innen treffen und manchmal sogar gegen den Willen des Betroffenen durchsetzen muss. Solche Situationen sind der diakonischen Praxis aus ihren Handlungsfeldern der Erziehung von Kindern und Jugendlichen oder der Betreuung von psychisch Kranken wohl vertraut. Sie nötigen die Sozialprofessionellen zu besonders diffizilen Abwägungen zwischen verschiedenen moralischen Gütern. Denn auf der einen Seite gilt nach wie vor die professionsmoralische Fundamentalnorm, den erklärten Willen des Betroffenen als Ausdruck seiner Selbstbestimmung zu respektieren und zur Geltung zu bringen. Auf der anderen Seite gibt es Situationen – und die Erforderlichkeit gesetzlich vorgeschriebener Betreuung ist definitionsgemäß eine solche –, in denen die Adressat:innen professioneller Assistenz noch nicht, vorübergehend nicht oder nicht mehr die elementaren Angelegenheiten ihrer persönlichen Lebensführung selbständig wahrnehmen können. Eine stellvertretende Entscheidung kann im eigentlichen Sinne des Wortes bevormunden oder aber die Belange des Betreuten anwaltlich vertreten. Um es zuzuspitzen: Eine vormundschaftliche Stellvertretung, die das Wohl des Betreuten letztlich nach eigenem Gutdünken des Betreuers veranschlagt und ohne Revisionsmöglichkeit auf Dauer über dessen eigene Willensbekundung stellen will, wäre mit der Würde der Betreuten und deren Anspruch auf ein Höchst-
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maß an eigenständiger und selbstverantwortlicher Lebensführung nicht zu vereinbaren. In den letzten Jahrzehnten ist mit Blick auf die anwaltliche Funktion diakonischer Praxis viel in Bewegung geraten. Das Betreuungsrecht in Deutschland etwa – maßgeblich für einen Schwerpunkt in diakonischen Diensten und Einrichtungen – wird im Jahr 2021 einer weiteren fundamentalen Veränderung unterzogen. Zug um Zug wird auch das Moment stellvertretender Entscheidungen auf Ausnahmesituationen zurückgenommen. Stattdessen wird das Anwaltliche diakonischer Praxis vor allem in ihrer Assistenz für die weitest mögliche Selbstvertretung der Betroffenen profiliert (Brosey 2020; Lob-Hüdepohl 2021b). Nicht mehr die Betreuer:innen haben das letzte Wort, sondern die Betreuten selbst. Ausnahmen von dieser Regel sind: Sie schädigen sich dadurch schwer, und sie können solche Selbstgefährdung – etwa aufgrund einer Erkrankung – nicht erkennen, damit auch nicht wollen und nicht mehr nach ihrer Einsicht handeln (§ 1821 Abs.3 Ziff 1 BGB-E). Das Betreuungsrecht vollzieht mit diesem Paradigmenwechsel endgültig nach, was bereits die UNBehindertenrechtskonvention von den Vertragsstaaten seit 2006 einfordert und spätestens mit Inkrafttreten der BRK als unmittelbar geltendes Recht eigentlich auch in Deutschland gilt: nämlich die Selbstvertretungsunterstellung der Betreuten gemäß Art. 12 UN-BRK (Lachwitz 2014) sowie ihr Recht auf assistierte Selbstbestimmung (Graumann 2011). Damit zeigt sich eine weitere, eher politisch-strukturelle Dimension des Anwaltlichen diakonischer Praxis: die Notwendigkeit des Einsatzes für solche Institutionalisierungen, die das Recht auf Selbstvertretung und Selbstbestimmung strukturell absichern und damit aus der Sphäre des Beliebigen und Unverbindlichen herausführen. Diakonische Praxis kann hier an zentrale biblische Intuitionen und Traditionen anknüpfen: etwa an das Engagement prominenter Propheten, deren teilweise beißende Sozialkritik vor allem die Verletzung elementarer Rechte der Bedrängten und Marginalisierten geißelten. Deren Engagement ist in vielfacher Hinsicht von bleibender Aktualität für Diakonie und Soziale Arbeit insgesamt (Lob-Hüdepohl 2003). 2.5
Von prophetisch bis beredt schweigend
Diakonische Praxis – zumal dann, wenn sie wie in Deutschland in das wohlfahrtstaatliche System eingebunden ist und deshalb in großem Stil staatlich refinanziert wird – droht immer wieder, sich in der alltagsroutinierten Daseinsvorsorge für bedürftige Leistungsberechtigte zu verlieren. Auf dem Spiel stehen dann aber zwei normativ hoch anspruchsvolle Grundfiguren diakonischer Praxis, die ihr ein spezifisch christliches Profil 3 verleihen und vor allem für die Lebensdienlichkeit ihres Engagements unverzichtbar sind.
3
S. den Beitrag von Lob-Hüdepohl und Schäfer in diesem Band, S. 120 f.
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Bei aller Emphase, mit der unisono die Ausgrenzung von armen, erwerbslosen, geflüchteten oder wohnungslosen Menschen oder von Menschen in Behinderung beziehungsweise mit chronischen Erkrankungen beklagt und deren konsequente Einbeziehung (Inklusion) in alle menschenrechtlich relevanten Lebensbereiche gefordert wird, darf nicht verkannt werden, dass die Umsetzung der erforderlichen Maßnahmen oftmals auf erhebliche Schwierigkeiten und verbreiteten Unwillen stößt. In all diesen Fällen ist ein beinahe messianisch langer Atem wie der Mut zum couragierten Widerspruch erforderlich. Gefordert ist hier die Grundhaltung prophetischen Widerständigkeit – und zwar in seinem urbiblischen Sinne: Wenn es um die Würde der Armen, der Ausgegrenzten und der Verstummten geht, darf eine prophetisch profilierte diakonische Praxis keinen Zank und Streit scheuen. Prophetischer Widerstand, so ist von den biblischen Narrationen über die sozialkritischen Propheten zu lernen, fordert nichts Übermäßiges. Deren Sozialkritik appellierte – erinnert sei hier besonders an Amos oder Hosea – nur an die Plausibilität jener sozialethischen Infrastruktur einer Gesellschaft, die wenigstens die elementaren Bedingungen eines menschenwürdigen Lebens für alle ihre Mitglieder sichern will und deshalb von allen respektiert werden müsste. Für Max Weber waren die Propheten des antiken Judentums zwar keine politischen Parteigänger mit konkreten politischen Interessen. Eben so wenig bemühten sie sich, ihre sozialethisch orientierten politischen Ideale etwa durch Beratung der Machthaber in die Praxis umzusetzen. Gleichwohl waren sie für Weber politisch hoch ambitionierte „Demagogen und Publizisten“ (Weber 1988 S. 288 f.), die konsequent die Umsetzung der Gebote Jahwes im konkreten Lebensalltag einforderten. Sie forderten also nur das offensichtlich Erforderliche zugunsten der Bedrängten – in letzter Konsequenz aber mit einer Leidenschaft und Unerbittlichkeit, die keine faulen Kompromisse oder falschen Rücksichten kennen. Mit Blick auf die Dienste und Einrichtungen von Caritas und Diakonie ist dies vermutlich leichter gesagt als getan. Deren wohlfahrtstaatliche Einbindungen machen sie abhängig von jenen staatlichen Zuwendungsgeber:innen oder privatwirtschaftlichen Stifter:innen, denen sie im Zweifelsfall entschieden widersprechen müssen. Aber die Bereitschaft, in letzter Konsequenz die eigenen Organisationsinteressen hintanzustellen, ist der Lackmustest einer diakonischen Praxis, die sich in der Tradition biblischer Prophetie und vor allem um die Nachfolge dessen bemüht, der sich als Mann aus Nazareth ausdrücklich in diese Tradition gestellt sieht. (Lk 4,18 f.) Selbstverständlich muss sich jede Gesellschaftskritik argumentativ ausweisen können. Auch prophetische Kritik darf sich nicht hinter dem Bollwerk verschanzen, sie spreche doch im Namen Gottes (Huber 1991). Und dennoch hat die genuin prophetische Gesellschaftskritik nach wie vor eine unverzichtbare Rolle. Denn sie vermag gegen die schweigenden Mauern einer Mehrheitsgesellschaft die Schubkraft jenes für prophetisches Reden so typischen heiligen Zorns zu bündeln, angesichts des oftmals erdrückenden Unrechts und Leidens von Millionen von Menschen auch unbequeme und anstößige Wahrheiten auszusprechen – damit die Welt nicht ersticken muss an den Worten, die um der
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Gerechtigkeit und der Solidarität willen auszusprechen sich ansonsten niemand mehr wagt. Einen ganz anderen Akzent als die prophetische Bereitschaft zum lautstarken Gezänk und Protest setzt die diakonische Grundhaltung des beredten Schweigens. Die Lebensbewältigung versehrter Menschen ist wie die Lebensführung jener, deren Lebensgeschichte eng mit ihnen verknüpft ist, auch immer ein Leben unter erheblich erschwerten Bedingungen, die als Zumutung, als Überforderung, kurz: als furchtbar leidvoll erfahren werden. Diakonische Praxis ist immer wieder mit Misslingen und Scheitern konfrontiert: ihres eigenen Bemühens ebenso wie aller Anstrengungen um eine halbwegs gelingende Lebensführung bedrängter Menschen. Für die diakonische Praxis spitzen sich solche Situationen nochmals zu: Wie kann sie sich auf einen heilsam-befreienden Gott zurückbeziehen, der von ihrem Gegenüber in ihrem Leiden und Scheitern gerade schmerzlich vermisst wird? Dessen Abwesenheit beklagt wird, der womöglich sogar selbst angeklagt wird? Kann diakonische Praxis solche Klage und Anklage übergehen? Zweifelsohne nicht, denn dies wäre nachgerade zynisch und obszön. Stattdessen tut sie gut daran, sich in solchen Situationen die eigene Ratlosigkeit einzugestehen. Auch das dürfte zur redlichen Auslegung von Glaubenserkundungen – hier zur Theodizee – im Medium der Ethik gehören: Christen werden sich selbst und der Welt gegenüber eine letztlich befriedigende Antwort auf die Frage nach dem Sinn von Beschwernis und Leid schuldig bleiben müssen. Gegen eine augustinische Antwort wäre beispielsweise zu fragen, wie die Ambivalenz menschlicher Freiheit, als deren Preis Augustinus alle Übel und alles Leid zu veranschlagen bereit ist, wie diese Ambivalenz einen gütigen und allmächtigen Gott entlasten könnte. Denn menschliche Freiheit weist als Ausdruck des Schöpferwillens auf den Schöpfergott selbst zurück. Gewiss, im Ringen um eine angemessene Theodizee sind Christ:innen niemals nur Fragende; sie sind immer auch zugleich Gefragte (Pröpper 1993). Gefragt ist keine theoretische Beantwortung der Theodizee; sondern gefragt ist eine „praktisch-authentische Theodizee“ (Ammicht Quinn 1992). Darunter ist eine Rechtfertigung Gottes durch eine Praxis von Menschen zu verstehen, die das Leiden etwa von Menschen mit Behinderungen als Leiden an und in ihrer Lebenssituation ernst nimmt; die die sozialen Inszenierungen, die zu solchen Leiden führen, überwindet; und die in dieser solidarischen Praxis jene rettend-heilende Wirklichkeit zur Darstellung bringt, die Christen als ihren Gott bekennen; die in Leben und Schicksal Jesu Christi für Kranke und Behinderte handgreiflich und heilsam geworden ist. Aber: Auch eine praktische Theodizee bleibt immer offen: offen zunächst mit Blick auf ihr praktisches Gelingen, das immer unter dem Vorbehalt des Fragmentarischen verbleibt; offen vor allem aber als Frage nach dem letzten Warum menschlichen Leidens, das ihr entschiedenes Engagement für die Belange bedrängter Menschen niemals abschließend beantworten kann. In diesem Punkt lässt auch eine praktische Theodizee nur Ratlosigkeit zurück.
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In seinem „Plädoyer für die Freunde Hiobs“ stellt Jürgen Ebach deren erste Reaktion auf die Leiden des Hiob heraus. Bevor sie gegenüber Hiob für eine konsequente Auslegung des Tun-Ergehen-Zusammenhangs argumentieren, auf der Gerechtigkeit Gottes beharren und daher – letztlich wenig überzeugend – auf Hiobs Schuld schließen, schweigen sie mit Hiob und geben so dessen verzweifeltem Ringen mit Gott nicht nur aus taktischen Gründen Raum, sondern – davon ist Ebach überzeugt – auch aus solidarischen, aus mit leidenden Gründen (Ebach 1991). Hier zeichnet sich die Kontur einer ethischen Grundhaltung ab, die man als beredtes Schweigen im Kontext diakonischer Praxis nennen könnte. Das beredte Schweigen kapituliert keineswegs vor den Absurditäten und Aussichtlosigkeiten von Lebensschicksalen, mit denen diakonische Praxis immer wieder konfrontiert ist. Sondern es hält die Spannung offen zwischen der Erfahrung schmerzhaften Vermissens und der Verheißung Gottes heilsam-befreiender Nähe. Denn wer noch den heilsam-befreienden Gott vermisst und darüber ihm gegenüber klagt, der rechnet noch mit und seiner Wirklichkeit und klagt seine verheißene Heilsamkeit für sich und andere ein (Metz 2006). Das beredte Schweigen führt nicht zu Fatalismus und Lethargie. Im Gegenteil, es unterbricht die Selbstgewissheit von blindlings auf die Wirklichkeit Gottes vertrauender Menschen, die sie gerade unempfindlich machen kann gegenüber dem Leiden und den Verwerfungen, denen viele Menschen unbarmherzig in ihrem Leben ausgesetzt sind. Denn eine naive Heilsgewissheit verleitet zur billigen Vertröstung auf bessere Umstände und bessere Zeiten. Sie narkotisiert das Aufbegehren, das Sich-nicht-Abfinden-Wollen mit den pathologischen Zuständen der Jetztzeit, das Sich-Widersetzen um der Leidenden und Marginalisierten willen. Insofern ist das beredte Schweigen gleichermaßen eine Ausdruckshandlung wie normative Grundhaltung, in der alle diakonische Praxis zu sich selber findet: in der Nachfolge des Gekreuzigten unter der Verheißung des Reiches Gottes (Moltmann 1989). Das ist vielleicht die herausfordernste Grundhaltung einer diakonischen Ethik. Literatur Ammicht Quinn, R. (1992): Von Lissabon nach Auschwitz. Zum Paradigmenwechsel in der Theodizeefrage. Freiburg i.Br. Banks, S./Gallagher, A. (2009): Ethics in professional life. Virtues for health and social care. New York. Brumlik, M. (2017): Advokatorische Ethik. Zur Legitimation pädagogischer Eingriffe. Hamburg. Burns, R. (1987): Das Buch Exodus. Concilium (D), 23, 8–14. Conradi, E. (2001): Take Care. Grundlagen einer Ethik der Achtsamkeit. Frankfurt a.M. Croatto, J. S. (1981): Exodus, a hermeneutics of freedom. New York.
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12 Barmherzigkeit – Gerechtigkeit – Gemeinschaft: Wohlfahrtsstaatliche Paradigmen in der theologischen Reflexion Wolfgang Maaser
1
Einleitung
Diakonisches Hilfehandeln ist für die christliche Gemeinde von Beginn an substantieller Ausdruck ihres Selbstverständnisses. Stets griff die inner- und zwischengemeindliche Diakonie der ersten Jahrhunderte die kontextuellen Herausforderungen von Armut und Krankheit auf. Seit der konstantinischen Wende (312) und der sich anschließenden Anerkennung des Christentums als Staatsreligion (393) besaß die Kirche nicht zuletzt durch ihre Diakonie eine durchschlagende Relevanz für die gesamte Gesellschaft. Sie war zum zentralen Akteur von sozialer Hilfe geworden. Die Narrative, auf die sie sich in ihrem Handeln bezog, fokussierten facettenreiche biblische Traditionen (Schäfer/Maaser 2020, S. 17–71); hinzu kam in den darauffolgenden Jahrhunderten die vor allem in Heiligenlegenden (Sankt Martin) zum Ausdruck kommende barmherzige, spontane Hilfe für den Nächsten (Sulpicius Severus 2020). Durch die Reformation ergaben sich neben einem veränderten Hilfeverständnis auch gewisse Verschiebungen auf der Akteursebene. Die Reformatoren verstärkten die Tendenz, die städtischen Kommunen, die bereits in ihren frühen Armenordnungen zu Verantwortungsträgern avanciert waren, zu wichtigen Akteuren der Bewältigung sozialer Probleme, vor allem der Armut, zu machen (Schäfer 2021). In vielerlei Hinsicht gewannen die mit den kirchlichen Amtsträgern verzahnten Kommunen eine prinzipielle Verantwortung für die Armenfürsorge. Entsprechend arbeitete man in sog. Kastenordungen Finanzierungssysteme aus (Luther 2020). Die soziale und die personale Verantwortung der Amtsträger für eine fürsorgliche Obrigkeit wurde zunehmend betont. Auf diese Weise erweiterte sich die
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Bandbreite der Verantwortungsträger um eine Instanz, die für eine Gesamtsteuerung zuständig und der die Armutsbewältigung neben Frieden und Rechtssicherheit als Aufgabe aufgegeben war. Fürsten bemühten sich beispielsweise, Krankenanstalten in strukturschwachen Gebieten einzurichten und damit eine gewisse Notversorgung zu garantieren (Ordnungen 2020). In der stetigen programmatischen Erweiterung der Akteure lassen sich gewisse Präfigurationen erkennen, die in der Neuzeit zunehmend hervortraten, sich aber gleichzeitig transformierten. Die Motive und Erfordernisse einer übergeordneten Steuerung der Bewältigung sozialer Fragen verstärkten sich. Gleichzeitig gewannen erneut auch nichtstaatliche Akteure wie caritativ orientierte Schwesternschaften (Vinzenz von Paul 2020) oder die Gründung von missionarisch diakonischen Einrichtungen, z.B. die Franckeschen Stiftungen, an Bedeutung (Francke 2020). Beide Entwicklungslinien verweisen auf den erweiterten Kreis der Akteure. Einerseits wird die Frage nach einer übergeordneten Steuerung sozialer Verantwortung immer bedeutsamer, andererseits entstehen über die facettenreichen Stiftungen, Orden und Bruderschaften des Mittelalters hinaus neue Organisationsformen, die kirchliche Anliegen mit sozialer Hilfe verknüpfen. 2
Zugangsschwierigkeiten
Es wäre allerdings ein Irrtum zu glauben, dass die sich hier andeutende Doppelseitigkeit von übergeordneter staatlicher und ergänzender gesellschaftlicher Verantwortung bereits die Arbeitsteilung des korporatistischen Wohlfahrtsstaats in Grundzügen vorwegnimmt und am Ende konfliktlos in sie einmündet (zur Sozialstaatstypologie vgl. Esping-Andersen 1990). Das wohlfahrtsstaatliche Paradigma von staatlicher Sozialverantwortung und subsidiär agierenden Organisationen bildete sich erst in der Weimarer Republik (1918–1933) heraus und erfuhr auch danach unterschiedliche theologische Bewertungen mit spezifischen Akzentuierungen. Bereits der prinzipiellen Formierungsphase des Sozialstaats im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts gingen kritische Auseinandersetzungen mit der Sozialstaatsidee voraus. Aus heutiger Perspektive verwundern die Abwehrbewegungen und die langen Zeiträume, derer es bedurfte, um die in der Vorstellung einer fürsorglichen Obrigkeit angelegte, übergeordnete Steuerung in die Konzeption eines Sozialstaates weiterzuentwickeln, lagen doch die Probleme der Sozialen Frage im 19. Jahrhundert sichtbar vor Augen. Trotzdem gab es aus unterschiedlichen Richtungen grundsätzliche Bedenken, die Wohlfahrt als Staatszweck zu erklären: Liberale Staatstheorien, die den Staatszweck in der Abgrenzung und Ermöglichung der individuellen Freiheitssphären sahen, erachteten den Wohlfahrtszweck nicht als staatliche Aufgabe (Rassem 1992). Sie wollten eine Rückkehr zum autoritären Wohlfahrtsstaat des 18. Jahrhunderts vermeiden; das Individuum sollte nicht dem volkspädagogisch motivierten Paternalismus einer fürsorglichen Obrigkeit unterworfen werden. Die linke Bewegung, die bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts
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zunehmend Profil gewann (Euchner 2005, S. 19–354), forderte zwar politische Lösungen der Sozialen Frage, war aber in der zweiten Jahrhunderthälfte insofern zerstritten, als die einen die Herausforderungen mithilfe des vorhandenen Staats bewältigen wollten und auf Reformen drängten; eine Minderheit hingegen hoffte auf einen revolutionären, die Eigentumsverhältnisse umstürzenden Neuanfang. Gegen die Forderungen der aufkommenden sozialistischen Bewegung grenzten sich die Konfessionen bereits deshalb ab, weil sie in ihr einen programmatischen Weltanschauungsgegner mit antikirchlicher und -religiöser Zuspitzung sahen. Hinzu kamen weitere facettenreiche Vorbehalte: Wohlfahrt war in wesentlichen Teilen eine kirchliche Domäne. Abgesehen von der kommunalen Armenpflege verfügten die Kirchen in diesem Bereich über eine Monopolstellung, auf die man nicht verzichten wollte und in der auch die Relevanz des Christentums für die Gesellschaft anschaulich vor Augen trat (Große Kracht 2017, S. 25f.). Zudem war ein Konzept des Staates, in das Wohlfahrt als Staatszweck eingeschrieben war, kaum kompatibel mit dem patriarchalen Verständnis einer personal vor Gott verantwortlichen Obrigkeit. Der Staat galt als gottgegebene Ordnung, in der übergeordnete Amtsträger in der Erfüllung der staatlichen Aufgaben (Rechts- und Friedenssicherung) ihre religiös fundierte, fürsorgliche Verantwortung wahrnehmen sollten. Diese starre Vorstellung widersprach dem Gedanken, dem Staatsverständnis einen weiteren Zweck hinzuzufügen. Der Staat galt als eine von Gott der Welt eingestiftete, von den Menschen und ihrem Gestaltungswillen losgelöste Rahmenordnung. Eine Erweiterung des Staatszwecks und damit die Bestimmung staatlicher Aufgaben vom Menschen her, der als Bürger den Staat mit von ihm bestimmten Zwecken mandatiert, stand diesem Verständnis fundamental entgegen. Die Ablehnung eines von allen Bürgern mandatierten Staates war nachhaltig von der meist impliziten Kritik an der Volkssouveränität und der Demokratie begleitet. Vor diesem Hintergrund muss auch für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Soziale Frage den Ruf nach sozialen Maßnahmen immer lauter werden ließ, im Einzelfall geprüft werden, ob die Bejahung staatlicher Interventionen als prinzipielle Bejahung der Sozialstaatsidee zu verstehen war oder weiterhin das Paradigma einer für die Wohlfahrt fürsorglichen Obrigkeit Gültigkeit hatte. 3
Barmherzigkeit und Gerechtigkeit
Die Ablehnung und Skepsis gegenüber einer vom Staat verantworteten Wohlfahrt verband sich gleichzeitig mit der starken theologischen Akzentuierung der Barmherzigkeit und der in den biblischen Narrativen und Heiligenlegenden im Mittelpunkt stehenden Spontaneität moralisch-religiös motivierter Hilfeleistungen. In der emotional affizierten Zuwendung zum Nächsten sind Barmherzigkeit und Diakonie aufs engste verbunden. Als substantieller Bestandteil ernsthafter religiöser Lebensführung gewann dies in den Sozialprojekten des Pietismus wegweisende Bedeutung und inspirierte Fliedner, Wichern und zahl-
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reiche andere Entwickler der Diakonie des 19. Jahrhunderts. Die gemeindeüberschreitende Diakonie dieser Zeit betonte stets die Barmherzigkeit und die christliche Liebestätigkeit, aber gleichzeitig auch die schöpfungstheologische Begründung sozialer Verantwortung der Obrigkeit. Von ihr erwartete man einen fürsorglichen Paternalismus im besten Sinne. Soziale Probleme sollten gewissermaßen von innen durch das religiös-missionarische Engagement möglichst vieler Menschen bewältigt werden, während die Obrigkeit hierfür einen stabilen Rechtsrahmen zur Verfügung stellen und das kirchliche Engagement in diesem Feld wohlwollend fördern sollte. In diesem Verständnis steht die Barmherzigkeit im Kontrast zur sozialen Gerechtigkeit, die naturgemäß die Veränderungen von Strukturen und Verteilungsregeln in den Blick nimmt. Die Idee der sozialen Gerechtigkeit besitzt theologisch keine oder eine nachgeordnete Bedeutung; noch bis in den 1990er Jahre war Gerechtigkeit vor allem ein theologisch-dogmatischer Begriff, der das Verhältnis von Gott und Mensch oder Gott selbst betraf (Reuter 2017, S. 269–271). Dort, wo er als ethischer Begriff in den Blick kommt, steht er im Kontrast zur Barmherzigkeit bzw. zur Liebe. Dieser Gegensatz impliziert auch die Gegenüberstellung einer asymmetrischen Gabebeziehung versus einer auf Gegenseitigkeit und Gleichheit basierenden Beziehung, aus der sich wechselseitige Ansprüche ergeben. Vor diesem Hintergrund lässt sich die Ablehnung oder Aufgeschlossenheit gegenüber der Sozialstaatsidee auch durchgängig an der Verhältnisbestimmung von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit historisch-systematisch verfolgen und rekonstruieren. Die Bandbreite reicht von schroffen Kontrasten bis hin zu produktiven, spannungsreichen Verhältnisbestimmungen, die wiederum Lernprozesse und Adaptionen auf den Weg brachten. Retrospektiv lässt sich feststellen, dass die produktiven Spannungen in vielen Fällen dazu geführt haben, dass das, was in früheren Zeiten als barmherzige, ungeschuldete Gabe verstanden wurde, bis heute zu einem unbestrittenen, jedoch vorläufigen Teil unseres Gerechtigkeitsverständnisses und unserer Gerechtigkeitsintuitionen wurde. „La justice d´aujourd´hui est la charité d´hier; la charité d´aujourd´hui est la justice de demain“ (Wolf 1972, S. 136): Die Gerechtigkeit von heute ist die Barmherzigkeit von gestern; die Barmherzigkeit von heute ist die Gerechtigkeit von morgen. Die konkreteren Bestimmungen entwickelten sich in konfliktreichen politischen Diskursen und Weichenstellungen (Maaser 2014). In diesen Auseinandersetzungen war der theologische Gegensatz von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit mit bedeutsamen, eher gesellschaftstheoretischen Unterscheidungen verbunden, mit deren Hilfe die sich dynamisch entwickelnde Gesellschaft interpretiert wurde. Die spontane barmherzige Zuwendung betonte die persönliche Begegnung, die Gemeinschaft und die überschaubaren sozialen Erfahrungsräume im Kontrast zu den anonymen Strukturen der Gesellschaft; die fürsorgliche Verantwortung war den Anspruchsrechten des einzelnen entgegengesetzt. Diese Distinktionen entfalteten noch weitreichende Wirkungen, als der entstandene Sozialstaat bereits unumstritten war, man jedoch um die Ausgestaltung der Sozialstaatsklausel des Grundgesetzes stritt.
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Heute umfasst die Sozialstaatsklausel „Hilfe gegen Not und Armut und ein menschenwürdiges Existenzminimum für jedermann; mehr Gleichheit durch den Abbau von Wohlstandsdifferenzen und Kontrolle von Abhängigkeitsverhältnissen; mehr Sicherheit gegenüber den ,Wechselfällen des Lebens‘ und schließlich Hebung und Ausbreitung des Wohlstandes“ (Zacher 1993, S. 18 f.). Dass diese institutionelle Verantwortung in modernen Gesellschaften in weiten Teilen mit Mitteln des Rechts gesteuert wird, gilt heute als unbestritten. „Das Wesentliche zur Verwirklichung des Sozialstaats kann nur der Gesetzgeber tun“ (BVerfGE zit. nach Zacher 2000, S. 62). 4
Konfessionelle Beiträge in der sozialstaatlichen Formierungsphase
Der Diskurs über die Notwendigkeit des Sozialstaats bewegt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Kräftefeld von drei Traditionen: der sich immer stärker ausbreitenden sozialistischen Bewegung, des politischen Katholizismus und des Sozialprotestantismus (Grebing 2005). Die besonders durch die Soziale Frage beflügelten politischen Auseinandersetzungen changierten zwischen den Extremen eines sog. Manchesterkapitalismus auf der einen Seite und sozialistischen Konzepten auf der anderen Seite. Beide Konfessionen verfolgten hierzu einen Mittelweg. In der Auseinandersetzung mit den sozialistischen Ideen und der entstehenden Sozialdemokratie trat der Ruf nach einer staatlichen Bewältigung der sozialen Herausforderungen, insbesondere der Arbeiterfrage, immer deutlicher in den Vordergrund. Bereits 1854 konzediert August Reichenberger, Führer der katholischen Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus, dass der Staat in der Arbeiterfrage aktiv werden müsse, so dass „man auf dem Weg der Gesetzgebung Vorsorge trifft, dass die Arbeiter auch in den Tagen der Krankheit Unterstützung durch Beiträge erhalten“ (Reichensperger zit. nach Stegmann/Langhorst 2005, S. 666). Die Einsicht in die soziale Not der Arbeiter war allerdings stets durch die kritische Auseinandersetzung mit der antireligiösen Zuspitzung des Sozialismus überlagert und verlangsamte daher die politische Umsetzung praktischer Vorschläge. Hatte zuvor bereits Lorenz von Stein die Sozialstaatsidee theoretisch vorbereitet (Böckenförde 1991), so verlangte der Mainzer Bischof Wilhelm von Ketteler 1869 in der sogenannten „Magna Charta der christlichen Arbeiterbewegung“ (Grebing 1981, S. 59) sowohl das Koalitions- als auch das Streikrecht sowie eine leistungsgerechte Entlohnung. Er erhob einen weitreichenden Forderungskatalog von vom Staat zu schaffenden Rahmenbedingungen (Verkürzung der Arbeitszeit, Gewährung von Ruhetagen, Verbot der Fabrikarbeit für schulpflichtige Kinder). Der Mainzer Kapitularvikar Christoph Moufang stellte 1871 unmissverständlich die Funktion des Staates heraus: „Um jedoch die sociale Frage zu einer befriedigenden Lösung zu bringen, ist endlich und zumeist die Hilfe des Staates nötig. Der Staat ist eigentlich Schuldner in dieser Sache“ (Moufang zit. nach Stegmann/Langhorst 2005, S. 673 f.).
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Durch die 1870 gegründete Zentrumspartei und den politischen Katholizismus mündeten diese Forderungen in die Sozialversicherungspläne Bismarcks der 1880er Jahre. Dabei akzentuierte man vor allem subsidiäre Dimensionen sowie die berufsgenossenschaftliche Selbstverwaltung (Stegmann/Langhorst 2005, S. 678). Der Rechtsanspruch für den Versicherungszwang läge „einfach in der Erkenntnis der Gesellschaft […], dass es sich hier um eine Notwendigkeit handelt im Interesse der Sicherung der Gesellschaft gegen mögliche und wahrscheinliche Gefahren“ (Reichensperger zit. nach Stegmann/Langhorst 2005, S. 678). Die Enzyklika Rerum novarum von 1891 förderte diese Entwicklung mit einem klaren Appell an die staatliche Verantwortung für die „Wohlfahrt der Glieder des Staates“ (Enzyklika rerum novarum 2021, Nr. 26). Während im Katholizismus programmatische Vorschläge zur Wohlfahrt als Staatszweck aus dem Raum der verfassten Kirche kamen, wurden diese Ziele von evangelischer Seite vor allem von protestantismusaffinen Einzelgestalten verfolgt, die mit ihren Konzepten politische Wirkung entfalteten und teilweise im Verbandsprotestantismus wirkten. Im Verein für Socialpolitik gewannen die Umrisse des Sozialprotestantismus – „die meisten von uns sind Protestanten“ (Schmoller 1897, S. 260) – politische Gestalt (Ritter 1989, S. 76 f.). Gustav Schmoller übernahm weite Teile der sozialistischen Gesellschaftsanalyse und -kritik, strebte aber einen dritten Weg zwischen Liberalismus und sozialistischem Klassenkampf an. Der Staat trat als zentraler Akteur und Verantwortungssubjekt sozialer Sicherung in den politischen Fokus. Mit diesem erweiterten Staatsverständnis trat zweifellos eine „qualitative Veränderung des öffentlichen Handelns“ (Ritter 1989, S. 76) ein. Schmoller, aber auch Adolph Wagner galten als Staats- oder Kathedersozialisten, da sie dem Staat den „Wohlfahrtszweck“ (Wagner 1879, S. 304) als Aufgabe einschrieben. Diese protestantischen Laien vertraten ihre Auffassungen aus einem christlichen Ethos heraus. Schmoller appellierte an den Common Sense des Gerechtigkeitsgefühls. Es sei in gewisser Weise ein Gebot der Leistungsgerechtigkeit, dass alle, besonders die Arbeiter, ein Recht auf ein „ihrem Dienst entsprechende[s] Entgelt“ (Schmoller 1904, S. 83) hätten, da sie wesentlich zu den wirtschaftlichen Wertschöpfungsprozessen beitrügen. Die staatliche Sozialversicherung erscheint daher als eine leistungsgerechte Rückverteilung für die im Wirtschaftsprozess erbrachte Leistung. Theologisch ausgearbeitete Begründungen fanden sich im Verbandsprotestantismus in der wesentlich von Theodor Lohmann (Zitt 1997) – er hatte auch wesentlichen Einfluss auf die Entstehung der Sozialversicherung (Jähnichen/ Friedrich 2005, S. 941 f.) – 1884 verantworteten Denkschrift der Inneren Mission (Centralausschuss 1994). Fragen des irdischen Glücks werden hierin systematisch von Heilsfragen unterschieden. So könne das „irdische Glück“ (Centralausschuss 1994, S. 129) zwar nicht durch Besitz gesichert werden, allerdings kann den für den „Bau des Reiches Gottes vorzugsweise hinderlichen“ (S. 128) Sünden entgegengewirkt werden. Konzeptionell will man hierbei durch die christliche Liebestätigkeit und die Förderung des Sittengesetzes,
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d.h. der individuellen Moral beitragen, von denen man sich substantielle Ausstrahlungseffekte in die wirtschaftlichen Verhältnisse erwartet. (Reuter 2017, S. 274) Mit der Unterscheidung von Wohl und Heil sowie der Integration einer in die Gesellschaftsentwicklung integrierten Reich-Gottes-Idee gelingt es, den Staatszweck der sozialen Sicherung in eine christliche Gesellschaftsauffassung zu integrieren. Fragen der sozialen Gerechtigkeit gewinnen allerdings keine Bedeutung im theologischen Diskurs. Der Protestant Friedrich Naumann bemängelte diese Verkürzung und kennzeichnete sie als die „unpolitische[r] Lebensarbeit im kleinen“ (Naumann 1894/ 1964, S. 182), die sich einer sozialpolitischen Mitgestaltung verweigert und entzieht. Die Debatten spitzten sich zu, sodass der Evangelisch-Soziale Kongress zerbrach, der sich gegründet hatte, um den Protestantismus in sozialpolitischen Fragen zu profilieren. 1897 entstand die Freie Kirchlich-Soziale Konferenz, die eine konservativ-soziale, unpolitische Diakonie verfolgte. Ihr schillernder Gründer Adolf Stoecker hatte allerdings in seinem Programmentwurf der Christlich-Sozialen Arbeiterpartei 1878 die soziale Sicherung, insbesondere der Arbeiter, als staatliche Aufgabe geltend gemacht (Stoecker 2016). Insgesamt erscheint das Verhältnis von Protestantismus und dem sich im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts formierenden Sozialstaat deutlich disparater als im Katholizismus. Während sich einzelne Protestanten konstruktiv mit Ideen und Gestaltungsvorschlägen in den Sozialstaatsdiskurs einmischten, blieb die verfasste Kirche einem personalen Obrigkeitsverständnis verhaftet, das stets begrüßte, wenn der Kaiser in seinen Botschaften (Erste Kaiserliche Botschaft 2016/1881, S. 240) seine Verantwortung für die soziale Frage dokumentierte, das jedoch ebenso kaisertreu die politische Einmischung von Pfarrern in einem sog. Maulkorberlass (Zirkularerlass 2016/1895, S. 284–288) dienstrechtlich verbot, wenn dieser es erwartete. Der Verbandsprotestantismus suchte einen Kompromiss zwischen diesen beiden Positionen. In den konfliktreichen protestantischen Debatten entwickelten sich nachhaltig zwei konzeptionelle Linien, die auf lange Sicht beide die Wohlfahrt als Staatszweck und damit die Idee des Sozialstaats im Ergebnis anerkannten: Die sozialkonservative Konzeption sah den Beitrag der Diakonie in einer praktischen, unpolitischen Liebestätigkeit, um auf diese Weise die gesellschaftliche Not zu lindern und der Gemeinschaft zu dienen; eine eher liberal-soziale Linie wollte sich hingegen darüber hinaus am Sozialstaatsdiskurs und der Ausgestaltung des Sozialstaatsidee aus kirchlicher Sicht beteiligen. Die erstere akzentuierte die Liebe als praktische Tätigkeit. Dass sich in der Bewältigung sozialer Probleme gleichzeitig eine Beteiligung am Diskurs über eine sozialpolitische Lösung nahelegte, begriff man eher als eine Gefährdung des christlichen Markenzeichens der Diakonie. Obwohl spätestens seit der Weimarer Republik die prinzipielle Idee des Sozialstaats nicht mehr zur Diskussion stand, setzte sich die konzeptionelle Diskussion über die prinzipielle Legitimität sozialpolitisch induzierter Einmischungen im Protestantismus fort. Aber auch konkrete Aus-
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gestaltungsfragen, insbesondere über die Leistungsbreite und -tiefe des Sozialstaats, waren davon berührt, da sie in die eingeführte Verantwortungsteilung zwischen Staat und kirchlich getragener Diakonie eingriffen. Ein dynamischeres Verständnis von Liebe oder ein produktives Spannungsverhältnis von Liebe und Gerechtigkeit forcierte in diesen Debatten einen kritischen Beitrag zur staatlichen Sozialpolitik und setzte gleichzeitig voraus, dass diesen Formen der Einmischung ein Ausschnitt demokratischer Willensbildung ist, in der sich ein maßgeblicher Akteur der Gesellschaft legitimerweise zu Wort meldete. 5
Gerechtigkeitsorientierung, politischer Gestaltungswille oder grundlegende Skepsis (1919–1932)
Der katholische Zentrumspolitiker Matthias Erzberger verkündete 1919 den Sozialstaat als zukünftiges Regierungsziel (Reulecke 1996, S. 57 f.). Der Protestantismus fand nur teilweise einen Zugang zu dieser Programmatik, obwohl auch die verfasste Kirche nach dem Kaiserreich stärker soziale Fragen aufgriff (Sozialpfarrämter u.ä.; vgl. Jähnichen/Friedrich 2005, S. 982–988). Evangelische Arbeitervereine formulierten ihre sozialen Ansprüche unter Rückgriff auf den Gemeinschaftsgedanken (Jähnichen/Friedrich 2005, S. 995), nicht jedoch als Forderung gegenüber dem Sozialstaat. Insgesamt dokumentiert der Protestantismus in der Weimarer Republik ein weites Spektrum unterschiedlicher Perspektiven auf den Sozialstaat. Der Verbandsprotestantismus profitierte von den sich ausbildenden korporativen Strukturen und Finanzierungen des neuen Staates und konnte so „gleichsam im Schatten der staatstragenden Parteien der Republik an den neuen Möglichkeiten partizipieren, ohne sich mit dem ,System‘ identifizieren zu müssen“ (Kaiser 1998, S. 31). So waren die großen sozialstaatlichen Reformwerke der Weimarer Republik (Angestelltenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Arbeitsgerichtsbarkeit) „den der Republik näheren Katholiken und Sozialdemokraten zu verdanken“ (Kaiser 1998, S. 31). Wegweisende Impulse und theologisch-konstruktive Überlegungen finden sich vor allem im eher randständigen religiösen Sozialismus, der in der zweiten Hälfte der Weimarer Republik zeitweise auch das schmale linksliberale Spektrum im Evangelisch-Sozialen Kongress inspirierte (Jähnichen/Friedrich 2005, S. 993). „Man kann Gott nur dienen, indem man der Gerechtigkeit der Welt dient“ (Wünsch 1972c, S. 17). Der religiöse Sozialist Georg Wünsch brachte damit die Gerechtigkeit als Gestaltungskriterium ins Spiel, das die Durchdringung der Gesellschaft durch eine sozialmissionarische Liebesgesinnung hinter sich lassen wollte. Die Vorstellung von einer „Liebe nicht in der sentimentalen, sondern in der sachlichen Form“ (Wünsch, 1972b, S. 194) versucht ein produktives Verhältnis von Liebe und Gerechtigkeit zu entwickeln, wie es auch Paul Tillich vorschwebte (Reuter 2017, S. 279 f.). Komplementär hierzu galt es, sich von einem starren schöpfungstheologischen Ordnungsbegriff zu
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lösen, den Wünsch als „feudal, patriarchal, kleinbürgerlich“ (Wünsch 1972a, S. 169) charakterisierte. Religiöse Sozialisten forderten strukturelle, d. h. vor allem gesetzliche Lösungen durch eine „fortschrittliche Sozialpolitik des Staates“ (Göring 1994, S. 245). „Soziale Gesetzgebung ist sittliche Forderung für jeden entschiedenen Christen“ (Bund 1994, S. 246). Die Forderungen des Vorsitzenden des Bundes der religiösen Sozialisten Deutschland, Bernhard Göring, umfassten die heute für uns selbstverständlich gewordenen Bausteine des Sozialstaats: “Ausbau des Arbeitsschutzes, Verkürzung der Arbeitszeit und internationale Regelung der Arbeitszeit, Ausbau der Invaliden-, Angestellten-, Unfall- und Krankenversicherung, insbesondere der Leistungen für die Familie. Ausbau der Arbeitslosenversicherung“ (Göring 1994, S. 245). Präventive Sozialpolitik sollte das „Flickwerk privater Wohltätigkeit“ (Wünsch 1972a, S. 161) überflüssig machen. Der religiöse Sozialist Eduard Heimann verlieh der Idee der Sozialpolitik „als Verwirklichung der sozialen Ideen im Kapitalismus gegen den Kapitalismus“ (Heimann 1980, S. 167) ein wegweisendes Profil. Der Sozialkatholizismus verfolgte in der Weimarer Republik sein Programm eines subsidiären Sozialstaats. Durch die Zentrumspartei war er an der Regierungsverantwortung beteiligt, und durch die Besetzung von zentralen Leitungspositionen prägte er der Ausgestaltung des deutschen Sozialstaats seinen Stempel auf. (Sachße 2003, S. 201 f.) Damit setzte er die katholische Form des sogenannten Solidarismus (Stegmann 2005, S. 727–733) praktisch um, der einen Mittelweg zwischen Liberalismus und Sozialismus anstrebte. Die Begründungen hierfür nahmen ihren Ausgang bei einer sozialphilosophisch-anthropologischen Bestimmung, die die Ergänzungsfähigkeit und -bedürftigkeit des Menschen in den Mittelpunkt stellte. Der hieraus entwickelte Solidaritätsgedanken erfordere ein soziales Rechtsprinzip und die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit, für die der Staat durch die Sicherung der Lebensbedingungen irdischen Glücks zuständig sei. Diese öffentliche Wohlfahrt aller sei der „Sozialzweck des Staates“ (Pesch 1924, S. 184). Die Subsidiaritätsformel der im Wesentlichen von dem Jesuiten Oswald von Nell-Breuning verfassten Enzyklika Quadragesimo anno von 1931 unterstrich die Konzeption der korporativen Ausgestaltung des Sozialstaats und das Bekenntnis zum „Rechts- und Wohlfahrtsstaat“ (Quadragesimo Anno 2021, Nr. 25). 6
Der konfessionelle Sozialstaatsdiskurs nach 1945: Kontinuitäten – Neuanfänge – Bedenken
Die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg knüpfte auch in der Frage der Begründung und Ausgestaltung des Sozialstaats an die Weichenstellungen der Weimarer Republik an und entwickelte sie weiter. Im Nationalsozialismus hatten Rassenideologie und Volksgemeinschaft die Auswahlkriterien staatlicher Hilfe bestimmt und sog. Gemeinschaftsfremde ausgeschlossen. Vor diesem Hinter-
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grund, der das Konzept eines demokratisch mandatierten Sozialstaats zerstört hatte, erschien der sozialstaatliche Grundriss der zwanziger Jahre umso unbestrittener, zumal das Sozialstaatsprinzip Eingang in das Grundgesetz fand (Zacher 2000, S. 56f.). Prinzipielle Bedenken waren in dieser politischen Konstellation nicht zu vertreten. Umso spannungsreicher stellte sich allerdings der theologische Diskurs um die Ausgestaltung des Sozialstaates und die darin geltend gemachte Ambivalenz dar. Dies betraf sowohl Fragen nach der Leistungsbreite und -tiefe als auch die Frage gesellschaftlicher Verantwortungsteilung und damit nach der Verteilung der sozialen Aufgaben an unterschiedliche Akteure. Die konservativ-liberale Traditionslinie des Protestantismus akzentuierte besonders die Ambivalenz des Ausbaus staatlicher Leistungen und warnte vor einer Entwicklung, in der der moderne Wohlfahrtsstaat „eine Art von All-Vater“ wird; „der moderne Wohlfahrtsstaat will Omnipotenz sein“ (Berggrav zit. nach Albertz 1953, S. 62). Dem Sozialstaat sei eine Dynamik zur Selbstverabsolutierung und zum totalitären Staat eingestiftet (Thielicke 1966, S. 363– 382). Eugen Gerstenmaier verstärkte die negativen Konnotationen, wenn er vor „der Ideologie des angelsächsischen Wohlfahrts- und Versorgungsstaates“ (Gerstenmaier zit. nach Große Kracht 2017, S. 35) warnte. Staatliche Omnipotenz und schematisch-bürokratische Hilfe – Thielicke setzt den „liebende[n] Ich-Du-Begegnungen in personhaftem Sinne“ durchgängig den „Großapparat des Staates“ (Thielicke 1966, S. 362) entgegen – werden interpersonalen Hilfeprozessen entgegengesetzt. Hier vertritt man eher ein subsidiäres Hilfeverständnis (Thielicke 1955, S. 305). Überdies drohte die Versorgung die individuelle Leistungsbereitschaft zu unterminieren, am Ende sei der Steuerzahler überfordert (Meireis 2017, S. 56). Insgesamt bewegen sich die Warnungen im ordnungspolitischen Rahmen der Sozialen Marktwirtschaft (Jähnichen/Friedrichs 2005, S. 1054 f.). Dieser vor allem kritischen Perspektive auf den Sozialstaat stand in der Nachkriegszeit eine sozial-liberale Traditionslinie gegenüber. Sie bewegte sich ebenfalls im Horizont der sozialen Marktwirtschaft, bejahte allerdings die konsequente Ausgestaltung des Sozialstaats, da das Staatsverständnis stärker demokratietheoretisch durchdrungen war. Vor diesem Hintergrund akzentuierte sie vor allem das subjektive Anspruchsrecht des Bürgers und insgesamt die soziale Partnerschaft (Jähnichen/Friedrich 2005, S. 1056 f.) der Beteiligten in der lösungsorientierten Bewältigung sozialer Herausforderungen. Die Mitte der fünfziger Jahre in der Ökumene entwickelte Idee der verantwortlichen Gesellschaft (Lüpsen 1954, S. 77–90) und ihre deutsche Rezeption förderte einen politischen Begriff von Gesellschaft – heute würden wir von Bürger- oder Zivilgesellschaft sprechen –, der den vielfältigen Beteiligungsprozessen eine substantielle demokratische Bedeutung zuschrieb. Die Mitarbeit von Christen in diesen Veränderungen „schafft nicht eine ‚christliche Gesellschaft‘, bewahrt aber ihre Menschlichkeit. Die rationalen Formen der modernen Gesellschaft […] werden nicht in ‚Gemeinde‘ oder ,Gemeinschaft‘ umgeschaffen. Aber sie
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bleiben leer, wenn nicht die Kräfte der Mitmenschlichkeit in sie einströmen, wenn nicht personale Verantwortung sie belebt und steuert und die kritische Frage nach der sozialen Gerechtigkeit sie kontrolliert“ (Wendland 1963, S. 31). Die produktive Spannung von Gerechtigkeit und Liebe (vgl. Kap. 2) steht hier im Mittelpunkt. Sie stellt gewissermaßen das fruchtbare Unruhemoment dar, das zur diakonischen Hilfe motiviert und auf Mitgestaltung drängende, sozialpolitische Diskurse auslöst. Diese Interpretation des sozialstaatlichen Paradigmas gewann auch dadurch an Bedeutung, dass sie sozialethische Impulse der Bruderräte bzw. von Teilen der Bekennenden Kirche in sich aufnehmen konnte, die im Sinne Barths betonten, „auch im politischen Raum vor allem nach unten“ (Barth 1984, S. 68) zu schauen. Die katholische Kirche und der Sozialkatholizismus verfolgten in der Nachkriegszeit den Ausbau des subsidiären Sozialstaatsmodells der Weimarer Republik, an deren Grundlegung sie wesentlichen Anteil hatten. Teilweise kam es in der frühen Nachkriegszeit zu erheblichen Annäherungen an sozialistische Ideen (Focke 1998), die in der neu gegründeten CDU Impulse entfalteten. Man unterstützte die wegweisende Rentenreform von 1957, die in einer dynamischen Rente die Rentenhöhe an das Niveau der Arbeitseinkommen koppelte. Auch in der Familienförderung bzw. im Familienlastenausgleich setzte man Akzente (Stegmann/Langhorst 2005, S. 798; 800 f.) Der subsidiäre Ausbau des Sozialstaates führte im Zusammenspiel mit dem Bundessozialhilfegesetz von 1961, das den Hilfesuchenden einen Rechtsanspruch einräumte, zu einer immensen Expansion des Diakonischen Werks und des Deutschen Caritasverbandes. Auch der Diskurs über das Verhältnis von Barmherzigkeit und Gerechtigkeit setzte sich fort. Vertreter der Diakonie votierten für eine vom Paternalismus befreite Barmherzigkeitskultur, die in einem wechselseitig befruchtenden Spannungsfeld zu strukturellen Gerechtigkeitsfragen steht (Schäfer 2010). Vor dem Hintergrund, dass sich in den Denkschriften der EKD ein innerprotestantischer Konsens abbildet, stellt die Denkschrift „Soziale Sicherung im Industriezeitalter“ (EKD 1973, S. 115 ff.) die Selbstvergewisserung eines wechselvollen und spannungsreichen Lernprozesses dar. „Die Grundsätze der Liebe, der Barmherzigkeit und Menschlichkeit sowie der Gerechtigkeit, wie sie sich aus dem christlichen Glauben ergeben, bedürfen […] in einer hochindustrialisierten Wirtschaftsgesellschaft neuer institutioneller Formen und Maßnahmen“ (EKD 1973, S. 121). Die Sozialstaatsprogrammatik ist hier vorbehaltlos anerkannt und auf die sich verändernde sozioökonomische Dynamik der modernen Gesellschaft bezogen. Trotzdem kann es nicht überraschen, dass sich der Diskurs um die Ausgestaltung auch in den nächsten Jahrzehnten fortsetzt. Das von beiden Kirchen verantwortete „Gemeinsame Wort zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland“ (EKD/DBK 1997) stellte das Leitbild der „sozialen Gerechtigkeit“ (EKD/DBK Nr. 107) in den Mittelpunkt und fokussierte vor allem die Strukturen, die „einzelnen die verantwortliche
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Teilnahme erlauben“ (EKD/DBK 1997, Nr. 113). In der Forderung, die Gesellschaft armutsfest zu machen, zeigt sich auch die biblische Orientierung an der vorrangigen Option für die Armen, die seit den 1980er Jahren, zumeist unter Rückgriff auf John Rawls (Bedford-Strohm 1993), den kirchlichen Sozialstaatsdiskurs mitbestimmte. In der Folgezeit wird die Sozialstaatskonzeption von der Idee effektiver Teilhabe aller Menschen profiliert, die auch ihre politische Beteiligung einschließt (EKD 2006). Zeitweise gewinnt vor dem Hintergrund der Idee des aktivierenden Sozialstaats die Eigenverantwortung des Einzelnen im Diskurs um die gesellschaftliche Verantwortungsteilung wieder stärker an Bedeutung. Insgesamt aber bleiben die präventiven und grundsichernden Aufgaben des Sozialstaats interpretationsleitend (Reuter 2017, S. 293–296). Die Diskussion um die Ausgestaltung wird dabei zunehmend durch einen allumfassenden Inklusionsdiskurs gefördert (Degener u. a. 2016), der auf die effektiven Teilhabemöglichkeiten aller Menschen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen und Begabungen abhebt. Literatur Albertz, H. (1953): Das Recht auf Existenz. In: Die Sozialpolitik der Sozialdemokratie, https://library.fes.de/prodok/fa-28462b.pdf (Zugriff am 22.03.2021). Barth, K. (1984): Christengemeinde und Bürgergemeinde (3. Aufl.). Zürich. Bedford-Strohm (1993): Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischen Theorie der Gerechtigkeit. Gütersloh. Böckenförde, E.-W. (1991): Lorenz von Stein als Theoretiker der Bewegung von Staat und Gesellschaft zum Sozialstaat. In: Ders.: Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte (S. 170–208). Frankfurt a.M. Brakelmann, G./Jähnichen, T. (Hg.) (1994): Die protestantischen Wurzeln der Marktwirtschaft. Ein Quellenband. Gütersloh. Bund der religiösen Sozialisten (1994): Kundgebung des 5. Kongresses des Bundes der religiösen Sozialisten (1930). In: G. Brakelmann/T. Jähnichen (Hg.): Die protestantischen Wurzeln der Marktwirtschaft. Ein Quellenband. (S. 245f.). Gütersloh. Centralausschuss für die Innere Mission (1994): Die Aufgabe der Kirche und ihrer inneren Mission gegenüber den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kämpfen der Gegenwart. Eine Denkschrift (1884). In: G. Brakelmann/T. Jähnichen (Hg.): Die protestantischen Wurzeln der Marktwirtschaft. Ein Quellenband (S. 124–139). Gütersloh. Degener, T./Eberl, K./Graumann, S./Maas, O./Schäfer, G. (Hg.) (2016): Menschenrecht Inklusion. 10 Jahre UN-Behindertenrechtskonvention – Bestandsaufnahme und Perspektiven zur Umsetzung in sozialen Diensten und diakonischen Handlungsfeldern. Göttingen.
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13 Religionssensible Diakonie in säkularen Handlungskontexten Kathrin Hahn, Matthias Nauerth und Michael Tüllmann
Religionssensibilität ist eine theoretische und praktische Antwort auf die Frage, wie mit der religiösen Vielfalt umzugehen sei, die Verantwortlichen in der Diakonie begegnet. Ausgehend von diesem konzeptionellen Zugang soll im Folgenden zunächst der Religionsbegriff erläutert werden, der unserer wissenschaftlichen Arbeit an einer religionssensiblen Sozialen Arbeit und Diakonie zu Grunde liegt (Kap. 1). Daran anknüpfend wird die aktuelle Relevanz einer entsprechenden professionellen Orientierung anhand von drei Prämissen begründet (Kap. 2). Im sich anschließenden Kapitel zeigen wir auf, welche grundlegenden Fähigkeiten religionssensibles Handeln in der Praxis diakonischer Arbeitsfelder umfasst und daher durch Professionelle erworben werden sollten (Kap. 3). Sich hieraus ergebende Herausforderungen für die Forschung (Kap. 4) sowie für die Diakonie (Kap. 5) werden im Anschluss erörtert. 1 Religion als eine Form transpersonaler Orientierungen Um die Realität religiöser Vielfalt zu erfassen, bedarf es einer Erweiterung des zentralen Religionsbegriffs. Im engeren Sinne sind „Religionen“ kollektiv geteilte Deutungen der eigenen Erfahrungen (und eine damit verbundene verbindliche Praxis), die sich auf eine transzendente, übermenschliche Realität beziehen, zu Bekenntnissen verdichtet wurden sowie institutionalisiert sind (vgl. Riesebrodt 2007). Als Deutungsgemeinschaften verbinden sich mit Religionen sprachlich ausgearbeitete Bekenntnisse, sodann Rituale, Normen, Regelwerke und Bindungskräfte, die soziale Räume prägen, spezifisch erfahrbar werden lassen und damit voneinander abgrenzen. Inspiriert durch Lechner (vgl. z.B. Lechner/Schwer 2009) schlagen wir einen erweiterten Begriff vor, der auch solche „religiösen Orientierungen“ der Menschen wahrzunehmen hilft, die sich nicht in einem konfessionellen Bezugsrahmen bewegen. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass alle Menschen Erfahrungen der Selbstüber-
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schreitung und des tiefen Berührtseins machen und ein Bedeutungsnetz entwickeln, das ihrem Leben Kohärenz und Sinn verleiht (vgl. Bengel/Lyssenko 2012, S. 72). Ein Teil der Menschen deutet sich mit diesen Erfahrungen im Lichte einer abstrakten transzendenten Wirklichkeit (z.B. Gott, Kosmos, Energie) und integriert dies in das eigene Selbstkonzept. Jedoch nur ein Teil davon deutet dies im oben definierten „engen“ Sinne religiös, also verdichtet zu einem theologisch beschreibbaren Bekenntnis, wie es beispielsweise in den großen monotheistischen Religionen vorliegt (vgl. Nauerth/Hahn/Tüllmann/ Kösterke 2017, S. 3). Für die Erfassung religiöser Realitäten in einer pluralistischen Gesellschaft relevant sind daher „transpersonale Orientierungen“ der Menschen (Blank 2012), ihre Erfahrungen der „Resonanz“ (Rosa 2016) oder „Selbsttranszendenz“ (Joas 2013; 2017), unabhängig davon, ob sie diese im Rahmen konfessioneller Glaubensvorstellungen deuten oder nicht. 2
Drei Prämissen einer religionssensiblen Diakonie
Die Realität von transpersonalen Orientierungen und Religion ist für die Diakonie bedeutsam. Diese Bedeutung begründet sich im Kern aus drei Annahmen: 1.) dass transpersonale Orientierungen und Religion weiterhin Bedeutung für viele Menschen haben und sich hieraus für die Sozialdiakonie zwangsläufig Konsequenzen ergeben, weil 2.) ihre handlungstheoretischen Grundorientierungen und 3.) ihr Wissen um die Bedeutung von Ressourcen und Schutzfaktoren sie zu einer Sensibilität für diese Realität auffordern. Die erste Annahme lautet, dass transpersonale und religiöse Orientierungen für die Menschen in unserer Gesellschaft weiterhin Relevanz besitzen werden. Während Religion einerseits in ihren institutionalisierten Formen einen Bedeutungsverlust erfährt, scheint sie zugleich auf neuerliche Weise zum Bezugspunkt individueller und kollektiver Anerkennungsforderungen sowie Sinnsuchbewegungen zu werden und zeigt in dieser Hinsicht beharrliche Präsenz (vgl. z.B. Beck 2008; Habermas 2009; Hellemanns 2010; Koschorke 2013; Berger/Hock/Klie 2013). Das ist erstaunlich, weil die inzwischen umstrittene, aber über einen langen Zeitraum allseits anerkannte Säkularisierungstheorie in den letzten Jahrzehnten eine andere Prognose nahe legte. Joas (2013) spricht von nicht still zu stellenden Transzendenzerfahrungen, die alle Menschen machen, wohl aber in sozialen Zusammenhängen ungleich deuten (vgl. Joas 2013, S. 153). Rosa (2016, S. 450 f.) spricht von Religion als einem Resonanzversprechen und dem Bezugspunkt einer Resonanzsehnsucht, Taylor (2002, S. 30) von religiösen Erfahrungen, die zugleich immer durch gesellschaftlich produzierte Sprache vermittelt sind (siehe hierzu auch Habermas 2012, S. 93). Zugleich erfolgt die Deutung solcher Erfahrungen in den westlichen Ländern zunehmend uneinheitlicher. Feststellbar ist hier der Verlust des alten Deutungsmonopols der christlichen Kirchen im Hinblick auf solche Transzendenzfragen der Menschen und – damit verbunden – eine zunehmende Pluralisierung und Privatisierung religiöser bzw. transpersonaler Überzeugungen, unter
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Einbezug und Vermischung verschiedener Religionen und spiritueller Vorstellungen (vgl. Knoblauch 2009, S. 15 ff.; Daiber 1996, S. 86 ff.). Die zweite Annahme lautet, dass eine moderne Sozialdiakonie, wie die Soziale Arbeit überhaupt, gar nicht anders kann, als hieraus konzeptionelle und methodische Konsequenzen zu ziehen. Denn alle großen handlungstheoretischen Ausarbeitungen der Sozialen Arbeit, die auch für die Diakonie von Relevanz sind, eint, dass sie die individuelle Lebensweise und Selbstdeutungen der Adressatinnen und Adressaten als Bezugspunkt der Hilfen hervorheben. In den Ansätzen der etablierten Theorieschulen, wie z.B. von Staub-Bernasconi, Thiersch, Böhnisch und Winkler, geht es um eine Adressatinnen- und Adressatenorientierung, die deren Wirklichkeit, deren Alltag, deren Bedürfnisse, deren Ressourcen und Ausstattungen zum Ausgangspunkt fachlicher Hilfen macht. In neueren, eher poststrukturalistisch ausgerichteten Handlungsorientierungen ist dies mit dem Begriff „Differenz“ beschrieben (vgl. z.B. Mecheril/Plößer 2011). Es geht um die sensible Wahrnehmung pluraler Identitäten sowie um deren Schutz und Anerkennung – woraus auch die Notwendigkeit einer professionellen Aufmerksamkeit für religiöse Realitäten folgt (vgl. zusammenfassend Nauerth 2017, S. 65 ff.). Von den Fachkräften in sozialen und diakonischen Handlungsfeldern kann eine normative Haltung erwartet werden, aus der heraus sie Unterschiedlichkeit und Diversität grundsätzlich bejahen und würdigen sowie auf kritisch-reflexive Weise in ihr professionelles Handeln einbeziehen (vgl. Mecheril/Plößer 2011, S. 279). Sie werden damit u.a. auch zu Anwältinnen und Anwälten des Rechtes der Menschen darauf, ohne Angst verschieden sein zu können (vgl. Adorno 1951, S. 131), also in ihrer je spezifischen Identität Anerkennung zu erfahren, Teilhabe zu erleben und hierfür die jeweils eigenen Ressourcen einbringen und entfalten zu können. Diese Anwaltschaft schließt selbstverständlich spirituellen und religiösen Eigensinn der Menschen mit ein, ebenso wie den Schutz vor destruktiven oder diskriminierenden religiösen Einengungen bzw. Zuschreibungen. Die dritte Annahme lautet, dass Religion für die Menschen als Ressource und als Barriere wirksam sein kann. Ressource ist hierbei der Begriff für die in sozialarbeiterischen und diakonischen Hilfeprozessen bedeutsamen Quellen von Kraft, Energie und Unterstützung (vgl. zusammenfassend Knecht/Schubert 2020, S. 310 ff.). Sie wurden im Fachdiskurs der letzten Jahrzehnte zu einem wichtigen Bezugspunkt von subjekt- und lebensweltorientierten Hilfeansätzen. Denn die Realisierung einer z.B. lebensweltorientierten Sozialen Arbeit und Diakonie bedeutet, sich auf die „biographischen, subjektiven und objektiven Anforderungen und Möglichkeiten“ (Möbius 2010, S. 13) zu beziehen, sie zum Ausgangspunkt des professionellen Handelns zu machen und daher die bei den Menschen vorhandenen Ressourcen zu entdecken, zu unterstützen und zu aktivieren. Forschungsergebnisse weisen darauf hin, in welchem Maß Religion als Ressource ein Wirkfaktor im Bemühen von Menschen um Lebensbewältigung ist. In der klinischen Resilienzforschung liegen inzwischen Ergebnisse vor, die die These des salutogenen Potentials individueller Religiosität
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stützen (vgl. z.B. Miller et. al. 2014; Koenig 2012). Zwar ist ihre Wirkung für Genesungs- und Stabilisierungsprozesse nicht so eindeutig bewiesen, wie dies für z.B. Selbstwirksamkeitserwartung und Selbstwertgefühl gilt, aber es gibt hierfür Hinweise und vor diesem Hintergrund fortgesetzte Forschungen (vgl. zusammenfassend Bengel/Lyssenko 2012). Es gibt darüber hinaus in qualitativen Studien gewonnene Befunde aus Deutschland zur Bedeutung von Religion in den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen sowie zu den Potentialen religionssensibler Pädagogik (vgl. Vieregge 2013; Lechner/Schwer 2009; Lechner /Gabriel 2009). Zudem ist bekannt, dass religiöse Weltbilder in ihrer Funktion als Deutungsmuster und Handlungsanleitung ebenso destruktive Wirkmacht für Einzelne und Gemeinschaften entfalten können und Exklusionspotentiale enthalten (vgl. zusammenfassend Nauerth 2017). Wird Religion auf diese Weise zu einem Störfaktor bzw. zu einer lebensweltlichen Restriktion für den/die Einzelne, sollte auch dies im Fokus religionssensiblen professionellen Handelns stehen. 3 Anforderungen an religionssensibles Handeln in Sozialer Arbeit und Diakonie Eine solche Sensibilität für die transpersonalen Orientierungen anderer Menschen stellt allerdings eine Herausforderung für die Fachkräfte dar. Sie bedarf der kontinuierlichen Aneignung einer Reihe grundlegender, insbesondere (selbst-)reflexiver Handlungsfähigkeiten: zentral dabei sind die Fähigkeiten zu verstehen und zu bewerten, die Bereitschaft zum Dialog und zur Verständigung, die Fähigkeit zu übersetzen sowie Erfahrungen der Kontingenz auszuhalten und professionell damit umzugehen. Verstehen Verbunden mit dem Anspruch einer Religionssensibilität ist die Fähigkeit, andere, von den eigenen Vorstellungen abweichende (religiöse) Welt- und Selbstdeutungen von Menschen zum Bezugspunkt der professionellen Arbeit zu machen. Für Fachkräfte stellt sich daher die Frage, wie eine solche Erschließung der Realität anderer erfolgen kann: Wie können die subjektiven Sinnwelten von Menschen im professionellen Fallzusammenhang sensibel erfasst und am Ende komplex verstanden werden? Wie können Fachkräfte ein qualifiziertes Verständnis entwickeln von (religiösen) Hintergrundüberzeugungen, den materiellen sowie kommunikativen Räumen ihrer Reproduktion und den in ihnen enthaltenen Ressourcen sowie Barrieren? Verstehensprozesse setzen ein hohes Maß an Selbstreflexivität sowie eine offene, forschende Haltung voraus. Das Bewusstsein über die eigene Perspektive, den eigenen Standpunkt, von dem aus der Andere erschlossen werden soll, sowie die Fähigkeit zum Perspektivenwechsel sind Grundbedingungen gelingenden Verstehens. Dies schließt eine Sensibilität gegenüber eigenen Grundannahmen, Wertvorstellungen und religiösen Orientierungen ein. Religionssensibilität ist daher auch eine selbstreflexive Kompetenz (vgl. Hahn 2018, S. 141 f.).
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Unterscheiden Eine zweite Herausforderung besteht in der Notwendigkeit, wertende Unterscheidungen vornehmen zu müssen im Hinblick auf das, was in professionellen Verstehensprozessen zutage tritt. Hierbei geht es um die Frage, wie in der diakonischen Praxis auf professionell abgesicherte Weise unterschieden werden kann zwischen einer Religiosität, die förderlich ist und zum Bezugspunkt der weiteren Arbeit gemacht werden sollte und jener, die in Frage zu stellen ist und dekonstruiert werden muss (vgl. Bohmeyer 2009, S. 447). Zu fragen ist also, wie im professionellen Handlungszusammenhang vorfindbare religiöse Weltbilder, transpersonale Erfahrungen, religiöse Praktiken und Zugehörigkeiten als legitimer Eigensinn oder als persönliche Ressource und salutogenes Potenzial identifiziert und anerkannt werden können, im Gegensatz zu einer Religiosität, die als verzerrtes Bewusstsein oder (Selbst-)Zuschreibung zur Barriere gelingender Subjektwerdung und sozialer Integration wird und womöglich andere Menschen und sich entwertet und bedroht. Dialogbereitschaft Ob und inwiefern religiöse Orientierungen in einer Situation und für einen Adressaten bzw. eine Adressatin Bedeutung erlangen, ist nicht vorab bestimmbar. Religionssensibilität umfasst daher die Fähigkeit, Situationen sensibel zu deuten und zu erfassen, welche Relevanz Religion jeweils beigemessen wird und von wem. Religionssensibilität setzt vor diesem Hintergrund ein hohes Maß an Offenheit und die Bereitschaft zur Verständigung voraus. Sowohl im Zuge des Verstehens des Anderen als auch im Kontext der Notwendigkeit, in professionellen Situationen wertende Unterscheidungen zu treffen, bedarf es einer forschenden und fragenden Grundeinstellung. Eigene Vorannahmen und Vorverständnisse sind stets unsicher und als vorläufig einzustufen. Sie sollten in einem dialogischen Prozess mit den Adressat:innen einer Überprüfung unterzogen und ggfs. modifiziert werden. Nicht selten kommt es dabei zu einem diskursiven Aushandeln von Bedeutung. Übersetzen Weil es in einem religiös und kulturell heterogenen sozialen Raum erforderlich sein kann, dass sich religiöse Überzeugungen von Menschen auch in einer öffentlichen Auseinandersetzung auszuweisen haben, müssen sie oftmals übersetzt werden, um für Außenstehende verständlich werden zu können (vgl. Bohmeyer 2009, S. 449). Fachkräfte der Sozialen Arbeit und Diakonie, die die subjektive Wirklichkeit ihrer Adressat:innen als Ausgangspunkt ihres Handelns begreifen, müssen in der Lage sein, die Gläubigen bei dem hierbei vonstattengehenden Reflexionsprozess zu begleiten. Habermas (2001) hat darauf verwiesen, vor welchen Herausforderungen Menschen mit einem religiösen Bewusstsein stehen: „Das religiöse Bewusstsein muss erstens die kognitiv dissonante Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen verarbeiten, es muss sich zweitens auf die Autorität von Wissenschaften einstellen, die das gesellschaftliche Monopol an Welt-
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wissen innehaben. Schließlich muss es sich auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen, die sich aus einer profanen Moral begründen“ (Habermas 2001, S.14).
Dies gilt nicht nur für Kollektive, sondern auch für religiöse Menschen als Einzelne in einem säkular orientierten gesellschaftlichen Umfeld. Hier bedarf es einer Fachlichkeit, die religionssensibel jene Übersetzungsaufgaben von Menschen fördern und begleiten kann, deren subjektive religiöse Wirklichkeit sich dissonant zu ihrer gesellschaftlichen Umwelt verhält. Mit Kontingenzerfahrungen umgehen Die Auseinandersetzung mit dem Anderen und dessen prinzipielle Anerkennung stellt immer auch das Eigene in Frage und kann dadurch eine Zumutung darstellen. Die Ausarbeitungen der interaktionistischen Sozialisationstheorie wie auch der Wissenssoziologie machen deutlich, dass sich jede Ich-Bildung in einer Auseinandersetzung mit dem sozialen Gegenüber vollzieht. Menschen entwickeln eine Ich-Identität durch die Spiegelungen ihrer sozialen Umwelt und sie erhalten und vergewissern ihr jeweils entstandenes „Ich“ und ihr Selbstkonzept im Austausch mit dieser Umwelt, damit verbundenen Rückmeldungen und „Anrufungen“ (Butler 1991, S. 8; vgl. zusammenfassend Honneth 2010, S. 265 ff.). Das heißt aber auch, dass ausbleibende Vergewisserungen der eigenen Identität, also des eigenen Glaubens, der eigenen Werte, Prinzipien und Weltdeutungen, zu Irritationen führen können. Vor diesem Hintergrund werden in Situationen, die von religiöser Vielfalt geprägt sind, eigene Glaubens-, Wert- und Normvorstellungen durch das „Andere“ infrage gestellt und relativiert. Für das Zusammenleben in einer pluralisierten Gesellschaft insgesamt und für den professionellen Kontext sozialer und diakonischer Handlungsfelder im Besonderen bedeutet religionssensibel zu sein daher auch, Kontingenzerfahrungen auszuhalten und mit ihnen umgehen zu lernen (vgl. Hahn 2018, S. 142). 4 Herausforderungen für die Forschung Beim Blick auf die Theorie- und Forschungslandschaft der Sozialen Arbeit und Diakonie der letzten Jahrzehnte zeigt sich, dass die Bedeutung einer solchen Sensibilität für die religiöse Dimension weitgehend eine Leerstelle gewesen ist. Obwohl sie prinzipiell eine Sensibilität auch für die religiösen Dimensionen des Lebens der Adressatinnen und Adressaten begründen, wurden Religion, Glaube und Spiritualität kaum mitgedacht und handlungstheoretisch letztendlich nicht integriert. Dies gilt auch für Handlungstheorien aus dem diakonischen Kontext seit den späten 1970er Jahren. Hinzu kommt, dass das Verhältnis der Sozialarbeitswissenschaft und der theologisch dominierten Diakoniewissenschaft in den Jahrzehnten ihrer Koexistenz wohl als ein von beiden Seiten aktiv betriebenes „sich nicht zur Kenntnis nehmen“ betrachtet werden muss (vgl. hierzu Thiersch 2017, S. 33 f.).
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Daher bedarf es einer Thematisierung von Religionssensibilität in grundlegender Forschung zu den hiermit verbundenen Fragekomplexen. Dies gilt für das Wissen um den tieferen Bedeutungsgehalt von transpersonalen Orientierungen der Menschen, die zu Adressatinnen und Adressaten der Angebote von Sozialer Arbeit und Diakonie werden. Wir wissen noch zu wenig darüber, in welchem Zusammenhang sie mit individuellen Bewältigungsstrategien stehen und was die Bedingungen der Möglichkeit sind, dass sie als Ressource wirken. Dies gilt zudem für die Angebotsseite: Wir wissen noch nicht genug darüber, wie die Organisationsstrukturen sozialdiakonischer Einrichtungen zu gestalten sind, um eine religionssensible Praxis zu unterstützen. In diesem Zusammenhang ist auch nicht klar, was religionssensible Personalentwicklung bedeutet, gerade in ihrer Wirkung auf die Befähigung von Mitarbeitenden, religionssensibel zu agieren. Es stellt sich zudem die Frage, inwiefern Religionssensibilität als Orientierungsrahmen bzw. Leitbild in das Profil diakonischer Unternehmen aufgenommen werden kann, um auf diese Weise die religiöse Pluralität von Mitarbeitenden sowie Adressatinnen und Adressaten sichtbar zu machen und aktiv zu gestalten. Weiterer Forschung bedarf es auch bezüglich der operativen fachlichen Praxis selbst und den hiermit verbundenen Fragen danach, über welche Kompetenzen und Methoden die Fachkräfte verfügen sollten, um religionssensibel agieren zu können. Die Qualifikationsvoraussetzungen einer religionssensiblen fachlichen Praxis bedürfen somit weiterer Klärung durch Forschung, Theoriearbeit und Erprobung. 5
Herausforderungen für die Diakonie
Religionssensibilität kann zu einer Neujustierung der Diakonie in einem doppelten Sinne führen. Die Aufforderung, differenzsensibel in der Lage zu sein, die transpersonalen, spirituellen, religiösen Erfahrungen und Suchbewegungen Anderer wahrzunehmen, anzuerkennen und zu unterstützen, stellt traditionelle missionarische Grundhaltungen in Frage und irritiert den einfachen Rückbezug auf jenen traditionellen Glauben, der die Identität der Institution stiftet. Man könnte auch sagen, Religionssensibilität tangiert die Art der Bindung an das Evangelium als zentralem Fundament der Diakonie und befördert damit auch ihren Säkularisierungsprozess. Zugleich aber fordert Religionssensibilität die Diakonie zur Auseinandersetzung mit dieser Traditionsbasis auf. Die Fähigkeit zu Religionssensibilität im hier beschriebenen Sinne bedarf gerade der Reflexion religiöser Erfahrungen, Sicherheiten, Vorbehalte und Zweifel, also der reflexiven Selbstverortung in der Landschaft des Religiösen – sowohl als Fachkraft wie auch auf der Ebene der Organisation. Sie fordert damit zur Klärung eigener religiöser Identitäten auf, was für die säkularisierte Mitarbeiter:innenschaft der Diakonie und ihre Organisationsverantwortlichen eine Herausforderung darstellen kann. Dieser reflexive Prozess kann jedoch zwei hilfreiche Effekte auslösen. In der Auseinandersetzung mit pluralen religiösen Identitäten konturiert sich erstens der ei-
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gene Glaube und gewinnt dadurch an Profilschärfe. Er wird so für die Mitarbeitenden in der Diakonie selbst sowie für andere transparenter. Je klarer, bewusster und reflektierter sich zweitens der eigene religiöse Standpunkt den Mitarbeitenden selbst und anderen zeigt, desto eher kann es gelingen, sich religionssensibel auf Andere einzulassen, d.h. ohne sich selbst in einem pluralen Feld von Religiositäten zu verlieren und ohne ungewollt eigene Maßstäbe auf das Gegenüber zu übertragen. Ein eigener Zugang der Fachkraft zu Religion kann insofern ein zusätzliches Potenzial für gelingende Religionssensibilität darstellen. Voraussetzung hierfür ist allerdings, dass die Bereitschaft zum Perspektivenwechsel sowie zur dialogischen Aushandlung von Bedeutung in professionellen Situationen und in diesem Kontext auch zur Relativierung des eigenen Standpunktes gegeben ist (vgl. Hahn 2017). Religionssensibilität kann in einer religiös pluralen Gesellschaft als eine grundlegende Handlungsfähigkeit von sozialen Fachkräften verstanden werden, die diese unabhängig von der Institution, in der sie tätig sind, aufweisen sollten. Für diakonische Träger zeigt sich darüber hinaus jedoch noch ein zusätzliches Potenzial: Diakonie enthält, im Gegensatz zu säkularen Anbietern sozialer und gesundheitlicher Dienstleistungen, immer auch ein spezifisches Leistungsversprechen, was durch Religionssensibilität verstärkt und verbindlicher werden kann: die religiöse Dimension in ihrem Leistungsspektrum auch explizit und durch entsprechend ausgewiesene Angebote aufzugreifen. Sie muss diesbezüglich religiös sprachfähig sein und Räume schaffen, die es Mitarbeitenden sowie Adressat:innen ermöglichen, an eigenen religiösen Selbstverständnissen zu arbeiten. Zugleich sollte sie als christlich gegründete Institution ebenfalls in der Lage sein, mit Sensibilität und Kompetenz konfessionell Suchenden jene Werte und Glaubensvorstellungen bereit zu stellen, die in der eigenen christlichen Tradition vorhanden sind. Menschen werden sich dann (mehr denn je) darauf verlassen können, dass sie auch mit ihrer spezifisch christlichen Religiosität bei Diakonie Anerkennung, Förderung und Unterstützung erhalten. Religionssensibilität kann somit eine doppelte Bewegung der Diakonie initiieren: Über das traditionell Christliche hinaus eine antimissionarische Erweiterung hin zu einer Anerkennung religiöser Vielfalt und zugleich über die eigene Säkularisierung hinaus eine neuartige Befähigung, an der eigenen christlichen Glaubenstradition vertieft fachlich zu arbeiten. Literatur Adorno, T. W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt a.M. Bengel, J./Lysenko, L. (2012): Resilienz und psychologische Schutzfaktoren im Erwachsenenalter. Stand der Forschung zu Psychologischen Schutzfaktoren von Gesundheit im Erwachsenenalter, Bundeszentrale für gesundheit-
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Personen und Konfessionen
14 Diakonie in der Perspektive religionssoziologischer Forschung Michael N. Ebertz
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Vielfalt
Diakonie und Caritas geschehen in vielen Initiativen, Projekten, Gruppen, Vereinigungen, Kirchengemeinden und Verbänden. Vielfältig ist auch die Zusammensetzung der Engagierten aus Haupt- wie Ehrenamtlichen. Darunter sind, rein quantitativ gesehen, auf diakonischer Seite zumeist evangelische und auf caritativer Seite zumeist katholische Kirchenmitglieder in der Mehrheit. Aber ohne Konfessionslose oder Konfessionsfreie und Andersgläubige geht es in vielen Fällen nicht. Und „die Evangelischen“ bilden so wenig einen einheitlichen Konfessionsblock wie „die Katholischen“. Spirituelle Vielfalt ist auch auf der Seite der Klient:innen wie auf der Seite derer angesagt, mit denen diakonisch wie caritativ Engagierte arbeiten. Vielfalt ist auch ein zentrales Thema der – selbst wieder vielfältigen – Forschung, deren Ergebnisse die Gestaltung der diakonischen und caritativen Praxis anregen soll. 2
Unikate
In Gestalt von Wohlfahrtsverbänden hierzulande sind Diakonie und Caritas Unikate – nicht nur im Weltmaßstab, sondern auch im europäischen Vergleich. Sie partizipieren finanziell am deutschen Sozialversicherungsstaat und dominieren den Sozial- oder „Wohlfahrtssektor“ (Kaufmann 1997, S. 24) mit seinen Sozialen Diensten. Zusammen mit den sechs Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege bilden sie auch einen „eigenen Wirtschaftssektor“ (Goll 1991). Wählt man eine andere Forschungsperspektive, dominieren sie damit schon seit Jahren den – in Deutschland von den Sozialen Diensten bestimmten – sog. „Dritten Sektor“ (vgl. Zimmer/Priller 2007; Merchel 2011, bes. S. 250 ff.), der auch eine „Arena des freiwilligen Engagements“ ist (Feiler 2016, S. 353 ff.). Mit ihren inzwischen über 1,1 Mio. hauptamtlichen Mitarbeitenden (vgl.
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M. N. Ebertz
www.bagfw.de) stellen sie ca. drei Viertel aller Hauptberuflichen der Freien Wohlfahrtspflege. So sind die beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbände zusammen – aber schon das Ensemble der verbandlichen Caritas (mit derzeit 660.000 Hauptamtlichen) allein – der größte nicht-staatliche Arbeitgeber nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Regional sind sie in West- wie Ostdeutschland als konfessionelle Mitgestalter der sozialen Dienstleistungsmärkte verankert. 3
Hybride
Weil diese beiden konfessionellen Wohlfahrtsverbände sowohl in die staatlich, also säkular regulierten Felder sozialer und gesundheitlicher Hilfen als auch in ihr jeweiliges kirchlichen Feld eingebunden sind, das sie ja – wenn auch nur bescheiden – mitfinanziert, sind sie hybride Gebilde. Auch in rechtlicher Hinsicht. Sie müssen unterschiedlichen Erwartungen entsprechen, was Spannungen und Konflikte hervorrufen kann. So sollen sie ihre jeweilige Konfessionalität mit der Sozial- und Gesundheitsarbeit so vermitteln, dass sie sich als interaktionsnahe, personenorientierte Dienstleister, als gemeinschaftsorientierte Solidaritätsstifter sowie als advokatorische Interessenvertretungen gegenüber politischen Entscheidern von anderen Wohlfahrtsorganisationen unterscheiden. Überall soll dieser „Mehrwert“ aufleuchten (vgl. Krech 2001). So werden die Erforschung des sog. konfessionellen Profils und die Arbeit daran zu einer Dauerbaustelle, zumal in der Wahrnehmung der Bevölkerung den Kirchen die Dienste von Diakonie und Caritas oft gar nicht mehr zugerechnet werden. Denn die Zuschreibungen des jeweiligen Beitrags zum Gemeinwohl durch die „Diakonie“, die „Caritas“, die „Evangelische Kirche Deutschland“ und die „Römisch-katholische Kirche Deutschland“ werden auffällig getrennt vorgenommen, und ihre Beiträge gelten – in dieser Reihenfolge – als höchst disparat verteilt (vgl. www.gemeinwohlatlas.de; vgl. SI 2018, S. 17, 35). 4
Konfessionell konfiguriert
An der Vielfalt der Ausprägungen der Wohlfahrtsproduktion in den europäischen Wohlfahrtsstaaten ist der religiöse Faktor erheblich mitbeteiligt. Das ist erst in den letzten beiden Jahrzehnten Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung geworden (vgl. Fix/Fix 2005). Deutlich wird dabei, dass „religiös-kulturelle Faktoren [...] einen Unterschied machen, in welchem Ausmaß und mit welcher Charakteristik sich der Wohlfahrtsstaat und der Wohlfahrtssektor insgesamt länderspezifisch entwickelten“ (Gabriel u.a. 2013, S. 467 f.). In der historischen Wohlfahrtsstaatsentwicklung sind „unterschiedliche Organisationsformen von Glaubensgemeinschaften fest etabliert“ (Ehlke u.a. 2017, S. 13), d.h. national, regional und/oder kommunal verankert. Als im deutschen Nationalstaat des 19. Jahrhunderts noch der Protestantismus (Staatskirche) dominierte, organisierte zunächst die „Innere Mission“, erst Jahrzehnte später dann
Diakonie aus religionssoziologischer Perspektive
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der „Charitasverband für das katholische Deutschland“ die regional hochgradig zersplitterten diakonischen und caritativen Initiativen. Im Zuge des Ausbaus des deutschen Sozialstaats wurden dann die diakonischen und caritativen Organisationen zunächst in der Weimarer Republik nach Abschaffung der (protestantischen) Staatskirche als nicht-staatliche („freie“) Akteure der Wohlfahrtspflege staatlich anerkannt. Ein eher partnerschaftlich verstandenes Verhältnis von Staat und Kirchen und die massive Einflussnahme ihrer Vertreter auf die jeweiligen politischen Entscheidungsträger bewirkte schon vor einhundert Jahren die sozialgesetzliche Verankerung des Subsidiaritätsprinzips und stellte damit die rechtlichen und finanziellen Weichen für die enorme Expansion und Vorrangstellung der organisierten Caritas und Diakonie unter den sechs Spitzenverbänden der freien Wohlfahrtspflege. Gekoppelt an das Wachstum des deutschen Wohlfahrtsstaats verlief diese Expansion gegenläufig zu den bis heute sinkenden Kennzahlen von Kirchlichkeit (Kirchenmitgliedschaften, Gottesdienstbesuchen, privater Frömmigkeit), d.h. trotz aller seit den 1970er Jahren sich schubweise vollziehender Entkirchlichungsprozesse und Kirchenkrisen. Gegenläufig auch zur weitgehenden „Konfessionsresistenz“ der ostdeutschen Bevölkerung und trotz einer – europapolitisch geforderten – marktorientierten Deregulierung des Wohlfahrtssektors seit den 1990er Jahren konnte diese Vorrangstellung behauptet, ja bis heute ausgebaut werden. Damit wurde aber auch die konfessionsgemeinschaftliche Kultur herausgefordert, denn durch den Mix aus Kirchenkrise einerseits und Mangel an Fachkräften andererseits, die zwar immer stärker professionalisiert, aber immer schwächer im Sinne der Kirchen sozialisiert waren, drohte den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden eine „innere Aushöhlung“ (Pollack/Rosta 2015, S. 122), die man zusehends auch bei einer wachsenden Zahl von Kirchenmitgliedern wahrzunehmen begann. Selbst Geistliche, die z.B. unter den Mitarbeitenden der verbandlichen Caritas 1950 noch die Mehrheit stellten (vgl. Ebertz 1993), können kaum mehr die schwächelnde Konfessionsfahne schwingen; ihr Anteil unter den Mitarbeitenden ist schon seit Jahrzehnten gegen Null gesunken. 5
Tiefenbohrung
In einer neueren, groß angelegten und von der DFG geförderten empirischen Studie kann gezeigt werden, dass „die regionale Wohlfahrtserbringung weiterhin im Pfad des sozialstaatlichen Korporatismus strukturiert und verankert ist“ (Ehlke u.a. 2017, S. 271). Für die verbandliche Diakonie und Caritas ist aber auch herausgekommen, dass es „in erster Linie nicht die glaubensgemeinschaftliche Fundierung“ ist, die ihren Status begründet, sondern die „organisationale Entwicklungspartnerschaft mit der öffentlichen Wohlfahrtspflege“ (Ehlke u.a., S. 272). Anders gesagt: Die organisierte Diakonie und Caritas reproduzieren sich – wie auch die in Ostdeutschland dominanten nicht-konfessionellen Träger – vor allem durch die hierzulande typische korporatistische Grundstruktur. Sie werden darin – insbesondere von kommunaler Seite – weniger als Organisationen geistlicher Kommunikation, sondern als politisch agie-
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rende und universalistisch ausgerichtete Dienste wahrgenommen, da sie ihre Produkte im Prinzip und faktisch an alle und nicht nur – wie anfänglich primär – an Gläubige adressieren. Die unvergleichlich breiten Angebote von verbandlicher Caritas und Diakonie, die angesichts der Dominanz konfessionsfreier Dienste in Ostdeutschland allerdings eher auf Spezialisierung setzen (vgl. Ehlke u.a. 2017, S. 140 ff.), gelten als „von einer glaubensgemeinschaftlichen Zugehörigkeit der Adressat:innen entkoppelt“ (S. 91). Von den historischen Wurzeln dieser Verbände her gesehen, versteht sich das nicht von selbst, lebten sie doch im 1918 untergegangenen Kaiserreich und weit darüber hinaus aus ihren konfessionellen Milieus und für diese. Andere – kleinere und historisch jüngere – religiös ausgerichtete Dienste der Wohlfahrtsproduktion (z. B. von evangelikalen bzw. freikirchlichen Organisationen, der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden, von Moscheevereinen) werden dagegen weitaus stärker (oder ausschließlich) als spezifisch religiös orientierte Gemeinschaften typisiert. Sie sind deshalb aus der Kooperation mit Anspruch auf kommunale Ressourcen faktisch ausgeschlossen, zumal sie häufig „nur“ ehrenamtlich arbeiten. Dies gilt ja auch für das diakonische und caritative Engagement in den großkirchlichen Gemeinden (vgl. Sinnemann 2017, S. 17 ff., 25, 29; Ahrens 2018, bes. S. 51; Roß u.a. 2017; Rebenstorf/Ahrens/Wegner 2015), weshalb sie auch für die Kooperation mit den kommunalen Sozial- und Jugendbehörden weitgehend ausfallen. Indem das diakonische und caritative Engagement auf die Geleise der Professionalisierung gesetzt wurde, haben es die Kirchengemeinden weitgehend an ihre beiden Wohlfahrtsverbände delegiert und dabei weitgehend von der Seelsorge abgekoppelt. Die Folge ist, dass den kirchlichen Gemeinden häufig Diakonie- oder Caritasvergessenheit attestiert wird. Dieses Schlagwort „gehört zu den Wörtern, mit denen die innerkirchlichen Klagemauern immer wieder beschriftet werden“ (Heil 2016, S. 121). So erscheint diakonisches und caritatives Engagement innerkirchlich in mehrfacher Weise zu einem Dienst zweiter Klasse abgewertet worden: in den Kirchgemeinden deprofessionalisiert, weil aus den Kirchengemeinden ausgewandert, an eine professionelle kirchliche „Zweitstruktur“ abgetreten und damit der Kontrolle der geistlichen Amtsträger entzogen. Die „Einheit von Diakonie- und Ortsgemeinde“ ist oft nicht einmal mehr eine Fiktion, denn beide Systeme haben sich „auseinandergelebt“ (Kerner/Müller/Raschzok 2021). Eine explorative Studie, welche die Chancen und Grenzen der Kooperation zwischen Pastoral-und Sozialkirche im Erzbistum Berlin ausloten sollte, stieß auf diesbezüglich massive Erschwernisse. Die Arbeitsfelder und -bedingungen sind wechselseitig zu wenig bekannt, Pfarrer überlastet. Nicht nur unterschiedliche Finanzierungslogiken, sondern auch inkompatible (Arbeits-)Zeit- und Personalstrukturen (Hauptamtliche hier, Ehrenamtliche dort) erschweren die Zusammenarbeit, selbst wenn sie subjektiv für sinnvoll und relevant definiert wurde (s. Ebertz/Segler 2016b). In der sog. Pfarrcaritas engagieren sich insbesondere „Frauen über 60“ (Warsberg 2008). Drei Viertel aller Ehrenamtlichen sind älter als 50 Jahre (Becker/Spiegel 2019, S. 129) und verkörpern eher kleinbürgerliche Milieus (vgl. Roß u.a. 2017, S. 22 ff.). Ein Nachwachsen der Jüngeren geschieht ebenso wenig automatisch wie ein Vorstoß in andere Milieus. Unerlässlich erscheinen nicht nur
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ein Management der differenzierten Erweiterung der Zielgruppen bei der Gewinnung und Einbindung ehrenamtlichen Engagements, sondern auch die Eröffnung von Partizipations- und projektbezogenen Gestaltungsspielräumen dafür, wozu auch die Unterstützungsbereitschaft der Hauptamtlichen gehört. Möglicherweise steht auch ein Paradigmenwechsel dergestalt an, dass sich Caritas wie Diakonie noch mehr fragen müssen, wo sie bereits bestehende selbstaktive Engagementfelder der Zivilgesellschaft unterstützen und mit diesen Kräften kooperieren sollten. Hierzu kann die Analyse von einschlägigen Projekt- und Vernetzungserfahrungen der organisierten Diakonie und Caritas mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren im lokalen Sozialraum hilfreich sein (vgl. Schmälzle 2008). 6
Verdichtungen
Für jenes korporatistische Gefüge ist eine soziale Schließung nach außen und eine kommunikative, informationale und kooperative Verdichtung nach innen typisch. Dieses Gefüge zeigt sich als strukturell verfestigt: seine Reviere sind abgesteckt, seine finanziellen Ressourcen aufgeteilt. In seinem Inneren ist das Aufkommen von Konkurrenz temperiert wie die Konflikte heruntergedimmt sind, weil sich die Beteiligten wechselseitig – und auf ihre Weise – legitimieren (vgl. Ehlke u.a. 2017, S. 43 f.). Das an ökonomischen Versorgungsprinzipien orientierte Kontraktmanagement der Kommunen fungiert in diesem Arrangement als mächtiger „Initiator glaubensgemeinschaftlicher Öffnungsprozesse“ (Ehlke u.a., S. 48) und als indirekter Treiber für „eine starke ökumenische Ausrichtung“ (S. 62). Denn gefordert wird, dass die wohlfahrtsproduktiven Kirchen gemeinsam „als Kirche“ an den Verhandlungstisch treten, d.h. im Vorfeld ihre Konkurrenz und ihre – auch ethisch – differenten Wertprofile neutralisiert haben. So kann die Leistung von Diakonie und Caritas, mit Luhmann (1977, S. 57 ff.) gesagt, „in Konflikt zur Funktion der Religion“, also zu ihrem „religiösen Kernbereich geistlicher Kommunikation“ geraten, wird von solchen Leistungen doch gefordert, „sich Fremdnormierungen zu unterstellen, um ankommen zu können“. Und, so Luhmann weiter: „Gesteigerte Ansprüche in beide Richtungen verschärfen den Konflikt.“ Solche und andere – auch arbeitsteilige – Kooperationen mit den Kommunen und anderen Trägern des Wohlfahrtssektors, die aufeinander verweisen und sich wechselseitig Klient:innen überweisen, dienen dazu, „Ressourcen zu nutzen, die im eigenen Verein/ Verband nicht vorhanden sind“ (Ehlke u.a. 2017, S. 56), oder sozialraumbezogene Projekte zu stemmen, wo „das Zusammenrücken aufgrund räumlicher Nähe, nicht aufgrund religiöser“ (S. 64) Gemeinsamkeiten wichtig wird. Sie gefährden zwar nicht den historisch gewonnenen Vorsprung von Diakonie und Caritas im Wohlfahrtssektor. Aber sie dethematisieren ihren konfessionellen Eigensinn und zähmen das sozialkritische Potential christlicher Wirklichkeitsauffassungen zugunsten eines „affirmativen Christentums“ (vgl. Sutterlüty 2014, S. 216 ff.). Die kritische Distanz zu einer von sozialen Ungleichheiten geprägten Gesellschaft wird dann anderen christlichen Gruppen – gemeindli-
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chen Projekten für Kirchenasyl oder Laienbewegungen wie Sant’Egidio – und ihrem jeweiligen Verständnis von Diakonie und Caritas überlassen. So zeigt die Forschung auch: Für religiöse Neulinge ist der Vorsprung der Alten im sozialstaatlich gestützten Wohlfahrtssektor kaum einholbar. Eine auch spezifisch interreligiöse Zusammenarbeit kommt kaum zustande (vgl. Ehlke u.a. 2017, S. 53, 114 ff.). 7 Ultrastabil Während die Lage der Kirchen als Träger geistlicher Kommunikation als labil wahrgenommen wird, gelten ihre Leistungstrabanten im Wohlfahrtssektor als vergleichsweise ultrastabil, weil am goldenen Zügel des Staates (sozial-)rechtlich gesichert, politisch gewollt und finanziell gestützt. Was theologisch zusammengedacht wird, nämlich die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe, ist empirisch (organisationell, finanziell, rechtlich, methodisch) durchaus getrennt, als gäbe es innerhalb der evangelischen und der katholischen Konfessionskirche zwei Kirchen, eine Glaubenskirche hier und eine Sozialkirche dort. Zwischen dem Anspruch an eine religiöse Wertbindung einerseits und den praktischen Feldern, in denen Diakonie und Caritas operieren andererseits, gerät deren jeweiliges Wertprofil nicht zuletzt auch angesichts der weltanschaulichen Pluralisierung und Entkonfessionalisierung (vgl. Ebertz 2017) und einer „forcierten Säkularität“ (Wohlrab-Sahr/Karstein/Schmidt-Lux 2009) insbesondere in der ostdeutschen Bevölkerung unter Druck und löst einen Zwang zum „Aushandeln christlicher Werte“ (Ehlke u.a. 2017, S. 187) aus. Stephanie Bohlen reflektiert im Anschluss an Habermas auf deren „Übersetzbarkeit“ zwischen der religiösen und der säkularen Sphäre, beklagt aber dabei eine gewisse Asymmetrie in der für den deutschen Wohlfahrtsstaat prägenden „Synthese explizit christlicher und religiös-säkularer Wertideen“ (Gabriel/Reuter 2013, S. 133). Denn die umgekehrte Deutung moderner (Wert-)Begriffe „im Rückgang auf die religiösen Überlieferungen“ fände kaum Interesse (Bohlen 2018, S. 39). 8
Loyalität
Seit Jahren ist die „Spannung zwischen religiöser Verbandsprogrammatik auf der einen Seite sowie abnehmender Kirchenbindung und zunehmender Professionalisierung des Personals auf der anderen Seite“ (Gabriel/Reuter 2013, S. 113) ein ganz zentrales Thema geworden. Allerdings zeigen empirische Studien, dass Diakonie und Caritas, anders als konfessionell nicht gebundene Träger, mehrheitlich konfessionell gebundene Mitarbeitende haben (vgl. Ehlke u.a. 2017, S. 198 f.; Ebertz/Segler 2016a, S. 43 f.). Doch fällt nicht nur der Mangel an konfessionell gebundenen Fachkräften in Ostdeutschland auf (Ehlke u. a. 2017, S. 138, 183), sondern auch der „Mangel an religiöser Sozialisation“ (Kerner/Müller/Raschzok 2021, S. 20) sowohl bei den Mitarbeitenden als auch bei den Klient:innen. So heißt es lapidar: „Die Bedeutung einer religiös-
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liturgischen Kompetenz bzw. einer kirchlichen Sozialisation tritt vor diesem Hintergrund gegenüber einer allgemeinen pädagogischen Qualifikation zurück und kann bei Bewerberinnen und Bewerbern nicht mehr vorausgesetzt werden“ (Kerner/Müller/Raschzock, S. 29). Viele Mitarbeitende der „Dienstgemeinschaften“ interpretieren ihr helfendes Handeln nicht als Religionsausübung, sondern als berufliches Handeln in – mehr oder weniger – vom Kirchenjahr rhythmisierten, von Leitbildern (vgl. Losch 2012) und anderen Verbalfassaden umstellten und durch Kreuze und anderen frommen Wandschmuck anschaulich erinnerten religiösen Kontexten, auf die es Rücksicht zu nehmen gilt. Denn die caritativen und diakonischen Organisationen sind durchaus in der Lage, ihren Mitgliedern solche „specials“ aufzuerlegen, die sie in Kauf zu nehmen haben, um Mitglied werden und bleiben zu können. Solche Formalisierungen können sich auf ein bestimmtes Corporate Design, einen eigensinnigen Sprech- oder Dresscode oder bestimmte Pausen- und Gesundheitsregelungen am Arbeitsplatz beziehen oder sogar auf ein Bündel von Verhaltenserwartungen an die Lebensführung außerhalb des Organisationssystems. Bestimmte Formalisierungen (Loyalitätsobliegenheiten) werden sich zukünftig freilich verstärkt vor den staatlichen Gerichten bewähren müssen. In diakonischen Einrichtungen wird die Teilnahme an sogenannten geistlichen Zusammenkünften als formalisierte Erwartung – ähnlich wie bestimmte Teamoder Gesundheitsregeln in einigen Arbeitsorganisationen – an die diakonische Mitgliedschaftsrolle gebunden, obwohl viele Mitarbeitende „nicht mal (wissen), wie das Kirchenjahr ist“ (Kerner/Müller/Raschzok 2021, S. 3): Wer z.B. in einer Einrichtung des Diakonischen Werks eine Leitungsrolle übernimmt, geht, so eine neuere Studie, die Verpflichtung ein – weitaus mehr als diejenigen, die sich auf der Kundenposition befinden – , den organisationellen Einbau religiöser „specials“ in Struktur und Ablauf der Arbeitsorganisation nicht nur hinzunehmen, sondern das „bisschen mehr“ auch in sein Erwartungsspektrum aufzunehmen (Kerner/Müller/Raschzok; vgl. Ehlke u.a. 2017, S. 224). Eine emotionale oder wertrationale – „innere“ – Zustimmung ist damit freilich nicht zwingend verbunden, allerdings eine traditionelle oder zweckrationale. Nicht aktive Gläubigkeit zählt dann, sondern Loyalität, d.h. die Bereitschaft, es aktiv zu unterlassen, den durch die „specials“ repräsentierten Eigensinn der Arbeitsorganisation in Frage zu stellen. 9
Spiritualitäten
Eine Befragung von Leitungskräften (in evangelischen Kindertagesstätten und Seniorenheimen) zeigt: Obwohl ihnen in ihren Einrichtungen geistliche Termine (Gottesdienste, Andachten, Impulse) wichtig sind, tendierten sie, wenn sie sich zwischen der Stärkung von kirchlichen oder gemeinschaftlichen Inhalten entscheiden müssten, „eher zur Gemeinschaft“ (Wolframm/Graupner 2017, S. 11, 29). Dementsprechend fragen sie auch mehr Fortbildungen in interreligiöser und interkultureller statt theologischer Kompetenz nach (S. 27). Nicht nur Einrichtungen der Diakonie, sondern auch der Caritas sind heute von einer
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Vielfalt von Spiritualitäten (vgl. Ebertz/Segler 2016a, S. 155 ff.) geprägt, auch auf der Seite der Mitarbeitenden. Vielen diakonischen Einrichtungen fällt es schwer, Fachkräfte mit „erkennbarem evangelischem Profil“ (Kerner/Müller/ Raschzok 2021, S. 20) zu finden, was immer das im Einzelnen heißt. Angesichts dieser konfessionsinternen Pluralisierung in den diakonischen und caritativen Einrichtungen bedeutet dies: Formell die evangelische oder die katholische Kirchenmitgliedschaft zu haben, heißt noch lange nicht, sich im jeweiligen konfessionellen Sinn als religiös zu verstehen. Gemäß einer Befragung von über 2000 Mitarbeitenden der verbandlichen Caritas lehnt die Mehrheit von ihnen eine religiöse Homogenisierung der Mitarbeiterschaft ab. Sie wünschen Schutz der Pluralität ihrer spirituellen Quellen, ja Autonomieschutz für ihre je eigenen spirituellen Ressourcen. Erwartet wird, dass die Dienstgebenden kirchliche Normen nicht als betriebliche Steuerungsinstrumente einsetzen. Dem Christentum gegenüber sind die Mitarbeitenden deutlich positiver eingestellt als der kirchlichen Institution gegenüber. Für den Sinn des Lebens, so betonen sie mehrheitlich, ist jeder bzw. jede selbst verantwortlich: das Individuum, nicht die kirchliche Institution. So erlaubt man sich auch den einen oder anderen Abstecher in alternative spirituelle Welten, bringt Vorstellungen von dort mit und mischt sie mit dem Christlichen. Alles in allem lehnen die Mitarbeitenden ein exklusives zugunsten eines inklusiven Religionsverständnisses ab (vgl. Ebertz/Segler 2016a, S. 67 ff., 140 ff.). Wenn für gut zwei Drittel der Mitarbeitenden der Caritas das Christentum als Fundament ihres persönlichen Wertesystems gilt, so ist dies allerdings nicht mehr für die Mitarbeitenden der jüngeren Generationen der Fall (Ebertz/Segler, S. 86 ff.). Diese wissen immer weniger etwas mit der Kirche, dem Christentum und seinen theologischen Grundlagen, ja mit Religiosität und Spiritualität überhaupt anzufangen (vgl. Ehlke u.a. 2017, S. 209 ff.). Anders als die älteren Mitarbeiter:innen betonen sie weitaus seltener, dass sie ohne den Glauben ihren Beruf nicht bewältigen könnten. Sie vertrauen auch weniger darauf, „von einer höheren Macht geführt zu werden“, wenn sie bei ihrer Arbeit nicht mehr weiterwissen. Viele denken dabei an Gott, noch mehr an Engel, an die auch die Jungen glauben können. Tatsächlich verbindet der Engelglauben die Generationen der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Caritas, nicht – so hart das auch in einigen Ohren klingen mag – der Jesusglauben (Ebertz/Segler 2016a, S. 150 ff.). So kommen in diesen Befunden auch die kirchenreligiösen Sozialisationsabbrüche zum Ausdruck, die seit den 1980er und 1990er Jahren registrierbar sind. Sie bringen die bisherige spirituelle Basis von Caritas und Diakonie ins Wanken. Nicht allein von einem Fachkräftemangel werden Diakonie und Caritas gegenwärtig und wohl auch zukünftig herausgefordert, sondern auch von einem konfessionellen Profilmangel. Die Profilfrage ist ebenfalls ein Dauerbrenner. Vielfalt, so hat man den Eindruck, wird immer noch als Kollateralschaden der Expansion wahrgenommen, weniger als Chance.
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Vielfalt gestalten
So stellt sich die Frage ganz zentral, wie es der verbandlichen Caritas und Diakonie gelingen kann, die außerordentlich heterogene Spiritualität ihrer Mitarbeitenden für ihre Arbeit fruchtbar zu machen und dabei das Christliche auch und gerade mit den jüngeren Mitarbeitenden zu replausibilisieren. Dies sind Herausforderungen für die – auch als karrierefreundlich erkannten – konfessionellen Bildungs- und Ausbildungsstrukturen, aber auch für die Thematisierung von Glaubensfragen durch Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen, die von den Trägern von Diakonie und Caritas vergleichsweise häufig angeboten werden (vgl. Ehlke 2017, S. 229 ff. i; 225). Wenn es aber auf der Ebene der Gesellschaft kein Zurück hinter ihre beschleunigte Dynamik wachsender religiöser und kultureller Pluralisierung gibt und wenn auch für die organisierte Diakonie und Caritas kein Rückzug aus dieser Gesellschaft – in ein wie auch immer zu pflegendes konfessionelles Restmilieu – auf der Agenda steht, legen sich einige Leitideen als Orientierungsgrößen im Umgang mit den Mitarbeitenden und Klient:innen nahe. Stichwortartig und parolenförmig könnten sie lauten: 1. Spiritualitäten als vielfältige Ressourcen entdecken: Vielfalt statt Einfalt. 2. Die spirituelle Selbstermächtigung der Individuen respektieren: kein Zwang in Glaubensdingen. 3. Auf spirituelle Vereinnahmung zwecks betrieblicher Steuerung verzichten: Religionsfreiheit als Menschenrecht. 4. Reflexive, rituelle und symbolische Angebote für den Umgang mit existentiellen Erfahrungen machen: Erfahrungen der Selbsttranszendenz in Freude und Hoffnung, Trauer und Ängsten. 5. Zeitressourcen zur Steigerung der Interaktionsqualität bereitstellen: Ohne Zeit keine Nächstenliebe. 6. Konfession und Profession kreativ ineinanderschieben und verbinden: Verweltlichung statt Entweltlichung. 7. Religiöse Schätze entdecken: Sprudelnde Quellen christlicher Inspiration. 8. Praktische Erfahrungen einbringen und reflektieren: Sitze im Leben. 9. Gemeinsamkeiten in der Vielfalt erschließen: Wertegeneralisierung. 11
Friedensmacht
Angesicht der wachsenden spirituellen Vielfalt der Mitarbeitenden und der Klient:innen von Diakonie und Caritas bietet sich nicht mehr ein gemeinsamer Glaube, gar eine Glaubenskonsensfiktion an, sondern der ,‚Frieden“ als „einigendes Band“ (Heil 2016, S. 274). Hanno Heil entfaltet dieses Band als die „Kultur des Schalom“. Caritas und Diakonie wären somit als „Friedensmächte“ zu entfalten, auch stellvertretend und gleichsam modellhaft für das Zusammenleben in der Gesellschaft insgesamt. Dabei lässt sich auch von anderen gesellschaftlichen Feldern lernen; denn Vielfalt zeigt sich inzwischen auch in Wirtschaftsunternehmen, die als profitabler, produktiver und an der Börse wertvoller gelten, wenn sie Diversität zulassen und fördern. Vielfalt zeigt sich
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auch in der Einheit des Berufsfußballs. An der Sportart Nummer eins lässt sich in vielen Ländern konstruktiv lernen, „wie kulturell-ethnische Pluralität mit National- und Lokalidentitäten zusammenfließen und wie sich neue Identitätsausformungen ergeben“ können (Robertson-von Trotha 2016, S. 55). Herkunftsland, Muttersprache oder Hautfarbe können den Zusammenhalt vieler Sportgemeinschaften nicht mehr garantieren. Ehedem vorherrschende Mechanismen sozialer Integration, die auf substantialistischen und essentialistischen Identitäten („Wir Deutsche“, „Wir Katholiken“, „Wir Evangelische“ usw.) basieren, werden zwar nicht beseitigt, aber durch neue „relationale Mechanismen“ (Pries 2013) ergänzt und erweitert. Relationale Mechanismen des Zusammenhalts und der Zugehörigkeit fragen zum Beispiel nach dem Leistungsbeitrag für das Team oder die zweckbezogenen Kompetenzen. Auf das Mannschaftskonzept kommt es im Fußball an, auf die Technik und den Spirit. Bei Diakonie und Caritas kommt es auf die akute und nachhaltige Hilfe im und zwischen dem Sozial- und Gesundheitssystem jenseits von Sprachen, Territorien und Hautfarbe, Religionen und Weltanschauungen an. Es kommt darauf an, dass aus der Sicht der Klient:innen Hilfe als hilfreich erfahren wird. Diesem Zweck dient der Spirit der Diakonie, der Caritas, dieser Zweck dient dem Frieden und einigt die Mitarbeitenden und lässt sie die Grenzen ihrer spirituellen Zugehörigkeit überschreiten. Das entgrenzende wie zugleich einigende Band des Friedens unter allen Beteiligten darf sich deshalb nicht an der Vorstellung der religiösen Grenze, sondern sollte sich an der Metapher der Schwelle orientieren. Es geht somit um den Aufbau einer Schwellenkultur und einer „Grammatik der Anschlüsse, des Austauschs, des Transfers“ (Demuth 2016, S. 76 ff.), welche die christliche Wertorientierung nicht ersetzbar, sondern übersetzbar macht. Statt Abgrenzung ist die „Vernunft des generalisierten Austauschs“ (Demuth, S. 80) gefragt. Hierfür braucht es – so Hans Joas – bindende gemeinsame Verfahren (Prozeduren), die Fähigkeit, die Welt mit den Augen anderer zu sehen (Empathie) und das Bemühen um Wertegeneralisierung. Dabei geht es um Prozesse, in denen die Vertreterinnen und Vertreter „unterschiedlicher, partikularer Werttraditionen ein allgemeineres, meist auch abstrakteres Verständnis ihrer Gemeinsamkeiten entwickeln. Ein Beispiel wäre etwa der christlich-buddhistische Dialog über Nächstenliebe und Mitleid oder über Menschenrechte und Menschenwürde“ (Joas 2002, S. 74 ff.). Prozeduralisierung, Empathie und Wertegeneralisierung sind nur möglich, wenn keine der spirituellen Ressourcen „der anderen zumutet, sich selbst aufzugeben, und wenn nicht von allen religiösen Traditionen erwartet wird, zugunsten rationalistischer Begründungen zurückzutreten. Bei der Wertegeneralisierung bleibt vielmehr die affektive Stützung einer religiösen Tradition, ihre partikulare bindende Kraft erhalten“ (Joas 2004, S. 26 f.). Vielfalt durch relationale Mechanismen kann nicht erfolgreich ohne „essentialistische Ankerpunkte“ (Pries 2013, S. 32) gestaltet werden, und die Frage der „Mischung“ muss empirisch durch die Praxis erprobt werden (vgl. auch Nagel 2015). Dafür haben helfende Organisationen des kirchlichen Feldes biblische
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Leitfiguren, etwa den bunt-schillernden Randseiter des Samariters (und der Samariterin), den die (jüdische) Jesusbewegung ins Zentrum eines ihrer Gleichnisse gerückt hat: Er ist ein Gottgläubiger zwar, aber ein Andersgläubiger, Unorthodoxer, des Heidentums Verdächtigter. Er löst bis heute Kontroversen unter den Christinnen und Christen aus, weist die Geschichte vom Samariter doch tatsächlich in die Richtung eines Universalismus der Werte. Die Motive des Samariters, den Jesus im Gleichnis die heilsame Nächstenliebe praktizieren lässt (Lk 10,25-37), kennen wir nicht. Allerdings wissen wir, dass den Juden die Samariter, deren Tempel sie auf dem Garizim zerstört hatten (111 v. Chr.), „wie Heiden“ galten, sie nicht mit ihnen verkehrten (vgl. Joh 4,9), ihnen also ein illegitimer religiöser Status zugeschrieben wurde. Und wir wissen, dass für die Jesusbewegung, die auch andere Grenzziehungen überschritt und herrschende Ordnungsvorstellungen irritierte (vgl. Ebertz 1987), dieser heterodoxe Status kein Hindernis darstellte, ja „vollauf genügt, Gottes spontane, bedingungslose Güte gegenwärtig zu setzen“, wie Rolf Zerfass (1992, S. 38) sagt. Und er ergänzt an gleicher Stelle: „Wenn aber der Samariter in der Dienstgemeinschaft der Caritas keinen Platz mehr findet, hol sie der Teufel!“. Hier zu ergänzen wäre: auch die Diakonie. Literatur Ahrens, P. A. (2018): Was macht eigentlich den Unterschied? Evangelische und Konfessionslose im Osten Berlins. Lebensorientierungen, Engagement und Bezug zur Kirche. Hannover. Becker, M./Spiegel, J. (2019): Erhebung zum caritativen ehrenamtlichen Engagement in der Caritas: Abschlussbericht; Onlineversion mit einer Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes, https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/61183/ssoar-2019becker_et_al-Erhebung_zum_caritativen_ehrenamtlichen_Engagement.pdf (Zugriff am 15.03.2021). Bohlen, S. (2018): Soziale Arbeit im Dialog mit der Theologie – Gedanken zur Bedeutung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit für die Soziale Arbeit. Caritas et veritas, 8, 34–42. Demuth, V. (2016): Was heißt Zwischengesellschaft? In: C. Y. Robertson-von Throtha (Hg.): Die Zwischengesellschaft (S. 69–82). Baden-Baden. Ebertz, M. N. (1987): Das Charisma des Gekreuzigten. Zur Soziologie der Jesusbewegung. Tübingen. Ebertz, M. N. (1993): Caritas im gesellschaftlichen Wandel – Expansion in die Krise? In: M. Lehner/W. Zauner (Hg.): Grundkurs Caritas (S. 83–114). Linz. Ebertz, M. N. (2017): Wahrnehmung, Akzeptanz und Umgang mit religiöser Vielfalt in Deutschland. In: M. Schambeck/S. Pemsel-Maier (Hg.): Welche Werte braucht die Welt? (S. 17–37). Freiburg i.Br. Ebertz, M. N./Segler, L. (2016a): Spiritualitäten als Ressource für eine dienende Kirche. Würzburg.
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Diakonie aus religionssoziologischer Perspektive
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Zwischen Problemanzeigen und Wertbekundungen – zum Phänomen des Ehrenamts
Seit etwa Ende der 1990er Jahre hat in Deutschland der Themenkomplex rund um die ehrenamtliche Arbeit stark an Dynamik gewonnen. Waren die Debatten zum Ehrenamt und die wissenschaftlichen Annäherungen an dieses Phänomen bis zu dieser Zeit eher randständig, änderte sich dies vor dem Hintergrund vielfältiger Problemanzeigen aus mehreren gesellschaftlichen Institutionen kurz vor der Jahrtausendwende mit großer Vehemenz. In der Folge wurde dieses Thema auch von politischer Seite aufgegriffen. Als Meilenstein innerhalb dieser Entwicklung und als Bezugspunkt für viele weitere Aktivitäten kann die Arbeit bzw. die Berichterstattung der Enquete-Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ des Deutschen Bundestags betrachtet werden (vgl. Deutscher Bundestag 2002). Nach dem Anstoß zu vielfältigen Bestandserhebungen zu allen Formen des freiwilligen Engagements – als repräsentative empirische Projekte oder als empirische Detailanalyse zu gesellschaftlichen Bereichen, regionalen Einheiten oder mehreren Verbandsstrukturen – wurden anschließend weitere Fragestellungen behandelt, die die Bedeutung der ehrenamtlich erbrachten Arbeit für die Gesellschaft als Ganzes, für die Funktionserfüllung einer breiten Palette von Institutionen und nicht zuletzt für die Ehrenamtlichen selbst ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückten. Damit verbunden waren einerseits intensive Debatten und andererseits zahlreiche Bemühungen, aus Praxiserfahrungen der Vergangenheit und aus wissenschaftlichen Befunden die Strategien der Rekrutierung, des Einsatzes und der Einbindung von Ehrenamtlichen in organisationale Strukturen zu verbessern und in Praxiskonzepte münden zu lassen. Ziel der vielfältigen Initiativen und Entwicklungsprozesse (auch in kirchlichen Strukturen) – etwa durch Stärkung der Informations- und Weiterbildungsangebote, durch Gründung von Ehrenamtsakademien, Ehrenamtsgesetze und -preise, Handreichungen und Praxishilfen – war es, einerseits die ehrenamtliche Arbeit stärker als bisher zu unterstützen und andererseits die beruflich Tätigen für diese Aufgabe weiter zu qualifizieren.
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Inzwischen scheint die Phase der diskursiven Hochkonjunktur der Vergangenheit anzugehören und die öffentlichen Auseinandersetzungen scheinen an Heftigkeit verloren zu haben. Dies hat sicherlich auch damit zu tun, dass sich die Wissensbasis zum Phänomen des Ehrenamts bzw. zum freiwilligen Engagement in den letzten 20 Jahren enorm verbreitert hat (vgl. u. a. Beher/Liebig 2021). Außerdem hat sich mittlerweile zu diesem Themenkomplex eine Kultur der Berichterstattung etabliert. Deren bekannteste Ausdrucksformen sind einerseits der alle fünf Jahre durchgeführte – für die Bevölkerung in Deutschland ab 14 Jahre repräsentative – Freiwilligensurvey und andererseits die – von einer unabhängigen Expert:innenkommission verfassten – Engagementberichte, die für die Bundesebene und in jeder Legislaturperiode bestimmte Fragestellungen in Verbindung mit dem freiwilligen Engagement behandeln (für die jeweils jüngsten zentralen Veröffentlichungen vgl. Simonson/Vogel/TeschRömer 2017 und BMFSFJ 2020). Diese Berichtskultur ist gleichzeitig Ursache und Folgeerscheinung einer intensiven Beschäftigung der politischen Instanzen auf allen föderalen Ebenen mit dem Themenkomplex Ehrenamt und insbesondere mit der Ehrenamtsförderung. In der Folge fand und findet das Bürgerengagement sowohl im politischen Tagesgeschäft als auch in politischen Programmen seinen Platz. Dies passiert vor dem Hintergrund, dass das Ehrenamt in vielerlei Hinsicht mit positiv bewerteten Effekten in Verbindung gebracht wird (vgl. u. a. Liebig/Rauschenbach 2010): Das Ausmaß des Engagements der Bürger:innen wird aus einer gesellschaftlichen bzw. nationalstaatlichen Perspektive u. a. als Indikator für den sozialen Zusammenhalt und die Funktionsfähigkeit der Zivilgesellschaft betrachtet. In diesem Kontext richtet sich der Blick in besonderem Maße auch auf die Kirchen. Denn diese haben als eine von wenigen Organisationen die besondere Chance, „Engagement und Beruflichkeit, Gemeinwesen, Quartier und soziale Unternehmen, Basisarbeit und politische Reflexion zu verknüpfen. Eine der wichtigsten Zukunftsfragen ist, wie sich freiwilliges Engagement und Subsidiarität zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft entwickeln und welche Aufgabe die Kirchen dabei als Impulsgeber übernehmen können“ (Coenen-Marx 2015, S. 112). Außerdem können die grundsätzlichen Differenzen zwischen ehrenamtlich und beruflich ausgeübter Arbeit – etwa hinsichtlich der Organisationsbindung, vertraglichen Ausgestaltung, Refinanzierungsoptionen, Lebensweltnähe oder des Qualifikationsgrades – für die Kirchen und vor allem für die kirchlichen Wohlfahrtsverbände einen großen Vorteil bieten, da durch den kombinierten bzw. partnerschaftlichen Einsatz mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllt werden können: Hinsichtlich des breiten Spektrums der Dienstleistungen und Hilfsangebote kann so zugleich qualitativ anspruchsvoll gearbeitet und eine alltags-, klient:innen- und milieunahe Hilfe verwirklicht werden. Mit Blick auf die Organisationsstrukturen (insbesondere kleinerer Vereinsgebilde und Projekte) ist die Besetzung ehrenamtlich ausgeübter Leitungsfunktionen und Mitarbeit zudem essenziell. Dies konnte beispielsweise mit einer
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umfassenden Einzelfallanalyse des Kolpingwerkes Deutschland bestätigt werden. Allerdings muss heute immer häufiger der Frage nachgegangen werden, unter welchen Bedingungen dieses Prinzip zukunftsfähig sein kann. Denn die Analyse besagt, dass das „Ehrenamtsprinzip als bestimmendes Organisationsprinzip des Kolpingwerkes Deutschland […] zunehmend unter Druck [gerät]. Nicht nur die rückläufige Mitgliederzahl, sondern auch die nachlassende Bereitschaft, sich in übergeordneten formalen Organen und Gremien als Freiwilliger zu engagieren, wird – sofern der Trend der Abkehr vom formalisierten freiwilligen Engagement anhält – diesen Organisationstyp zunehmend in Frage stellen“ (Feiler 2016, S. 409 f.). Obwohl der Begriff des Ehrenamts im alltäglichen Sprachgebrauch häufig fest verankert ist und in vielen Großorganisationen des gesellschaftlichen Lebens – auch innerhalb der Kirchen – wie selbstverständlich genutzt wird, ist bei einer genaueren Betrachtung festzustellen, dass durchaus unterschiedliche Definitionen im Umlauf sind. Die Differenzen werden insbesondere bei empirischen Erhebungen und immer dann offensichtlich, wenn es um die Abgrenzungen zwischen ehrenamtlicher Arbeit und beruflich ausgeführter Tätigkeit – inklusive der Frage, welche monetären Transfers damit verknüpft sind – oder zwischen Ehrenamt und bloßer Mitgliedschaft oder gesellschaftlicher Aktivität geht. Insofern ist bei der Interpretation bzw. Verwertung empirisch produzierten Wissens, aber auch bei der Bewertung von Konzepten und Programmen rund um die ehrenamtliche Arbeit immer das zu Grunde gelegte Verständnis ein notwendiger und zentraler Bezugspunkt. Grundsätzlich gilt, dass die Definition dessen, was ehrenamtliche Tätigkeit ausmacht – ebenso wie die gewählte Erhebungsmethode – die Untersuchungsbefunde in gewissem Umfang vorherbestimmt. Bei einer Konzentration auf das Gemeinsame, auf den Kern der Begriffsbestimmungen bietet sich die folgende Definition an: Das Ehrenamt findet freiwillig in der Freizeit der Ehrenamtlichen statt und begründet kein ordentliches Arbeitsverhältnis; es erfolgt ohne eine angemessene finanzielle Gratifikation, d.h. es wird nicht entgolten und die Tätigkeit dient nicht primär dem Zweck der Einkommenserzielung; es ist eine personen- oder sachbezogene Arbeit bzw. Hilfe außerhalb von Familie und Freundeskreis, d.h. es ist in einem engeren Sinne Fremdhilfe und bedarf i. d. R. der Anbindung an eine Organisation; es ist letztlich als „verschenkte“ Zeit zu verstehen und dient vor allem der Steigerung des Gemeinwohls (vgl. u. a. Beher/Liebig/Rauschenbach 2002; Stricker 2011). Um quantitative Aussagen zum Ehrenamt für Deutschland zu präsentieren, wird zumeist auf den oben bereits erwähnten Freiwilligensurvey zurückgegriffen. Dies ist eine repräsentative telefonische Befragung, die vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) gefördert wird. Der Freiwilligensurvey ist die größte Studie zum freiwilligen und ehrenamtlichen Engagement in Deutschland, der seit der ersten Erhebung im Jahr 1999 in
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vier Befragungswellen – zuletzt zum Jahr 2014 zu 28.690 Teilnehmer:innen – Daten produziert hat. Da auch in diesem Beitrag anschließend Befunde des Freiwilligensurveys präsentiert werden, sei hier bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass dort ein eher weites Verständnis Verwendung findet. So wie in großen Teilen des Fachdiskurses ist auch im Freiwilligensurvey – gewissermaßen als Oberbegriff für unterschiedliche Formen des Engagements und als begriffliche Klammer für Ehrenamt, Freiwilligenarbeit, Selbsthilfe oder Tätigkeiten in selbstorganisierten Initiativen und Projekten – der Begriff des „freiwilligen Engagements“ zentral. 2
Zwischen Instrumentalisierung und Gewährleistung – Forschungsbefunde und aktuelle Diskurse
Eine Grundaussage des Freiwilligensurveys 2014 ist die deutliche Zunahme an Menschen, die angeben, freiwillig engagiert zu sein. Während die Engagementquote für die Wohnbevölkerung ab 14 Jahren im Jahr 2009 noch bei 35,9 % lag, ergab sich für 2014 ein Anteil von 43,6 %, was einer absoluten Zahl von 30,9 Millionen Menschen entspricht. Eine solche Zunahme des Engagements könnte einerseits auf gesellschaftliche Veränderungen zurückzuführen sein – wie etwa die Bildungsexpansion oder die gestiegene Thematisierung des freiwilligen Engagements in der Öffentlichkeit und die Etablierung eines entsprechenden Politikfeldes. Andererseits ist auch zu bedenken, dass sich das Erhebungskonzept in zwei wichtigen Aspekten verändert hat: Erstens wurde der Einbezug von Menschen mit Migrationshintergrund durch den Einsatz fremdsprachiger Interviews ausgebaut und zweitens wurden bei der Stichprobenziehung neben Festnetztelefonanschlüssen erstmals auch Mobilfunknummern berücksichtigt. Der Freiwilligensurvey sieht zwar eine Differenzierung hinsichtlich verschiedener gesellschaftlicher Bereiche vor, in denen das Engagement stattfindet. Obwohl in diesem Kontext auch die Kategorie „kirchlicher oder religiöser Bereich“ abgefragt wurde, geben die dieser Sphäre zugeordneten Daten keinen vollständigen Überblick über das Engagement von Menschen in den vielfältigen Strukturen der evangelischen und katholischen Kirche. Bezogen auf dieses Erkenntnisinteresse ist von mehr oder weniger großen Überschneidungsflächen mit anderen abgefragten gesellschaftlichen Bereichen auszugehen (vgl. Sinnemann 2017, S. 16) – insbesondere hinsichtlich der Engagementbereiche der „außerschulischen Jugendarbeit oder Bildungsarbeit für Erwachsene“, „Schule oder Kindergarten“ und dem „sozialen Bereich“. Werden diese grundsätzlichen Vorbehalte ausgeblendet, dann lassen sich aus der detaillierten Analyse der „Kernkategorie“ für Kirche und Religion für das Erfassungsjahr 2014 u. a. die folgenden Aussagen gewinnen: – „Das freiwillige Engagement im Kontext von Kirche und Religion gehört […] zu den großen Engagementbereichen in Deutschland. Auffällig ist der
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überdurchschnittlich hohe Anteil von Frauen“ (Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2017, S. 135). – Trotz sinkender Mitgliederzahlen der Kirchen ist das Engagement im Bereich Kirche und Religion in den 15 Jahren (zwischen 1999 und 2014) angewachsen; allerdings fällt diese Steigerung im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Bereichen eher moderat aus. – 7,6 % der in Deutschland lebenden Personen ab 14 Jahren (bzw. ca. 2,35 Mio. Menschen) engagierten sich 2014 freiwillig im „kirchlichen oder religiösen Bereich“. Dies bedeutet, dass diese Personen angegeben haben, dass sie dort in den letzten zwölf Monaten nicht nur aktiv waren (also am zivilgesellschaftlichen Leben teilgenommen haben), sondern in diesen Strukturen auch Aufgaben und Arbeiten unbezahlt oder gegen geringe Aufwandsentschädigung freiwillig übernommen haben. – Weitere 4,7 % der in Deutschland lebenden Personen ab 14 Jahren sind 2014 in den Institutionen/Strukturen dieses Bereichs aktiv – aber nicht freiwillig engagiert. Im Unterschied zu den ersten Befragungswellen erfolgte beim Freiwilligensurvey zum Jahr 2014 die Erfassung der Religionszugehörigkeit bzw. Konfession standardmäßig, vollständig und in differenzierter Weise. Auf der Basis dieser Angaben konnte eine Sonderauswertung (für die evangelische Kirche von dem Sozialwissenschaftlichen Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland) durchgeführt werden, die u. a. die folgenden Befunde hervorgebracht hat: – Bezogen auf die Bevölkerung in Deutschland ab einem Lebensalter von 14 Jahren ist davon auszugehen, dass 28,3 % sich freiwillig engagieren und gleichzeitig der evangelischen oder katholischen Kirche angehören. Die Menge der Engagierten wird vervollständigt durch weitere 5,1 % der Bevölkerung, die einer anderen Konfessionen bzw. Religion zugehören, und einem Bevölkerungsanteil von 13,3 % von Menschen, die sich selbst als konfessionslos bezeichnet haben (vgl. Sinnemann 2017, S. 12). Besonders auffällig sind – hinsichtlich der Bereitschaft, das aktuelle Engagement auszuweiten oder zukünftig neue Aufgaben zu übernehmen – die besonders hohen Werte für Menschen muslimischen Glaubens sowie für Angehörige evangelischer Freikirchen. – Ebenso wie bei der Gesamtheit der Befragten zeigt sich, dass hinsichtlich der Merkmale Bildungsgrad und Erwerbsstatus auch innerhalb der Gruppe der Befragten mit evangelische Konfession Unterschiede zwischen den engagierten und den nicht-engagierten Personen auszumachen sind. Die freiwillig Engagierten verfügen häufiger über einen hohen oder mittleren Bildungsgrad als die Menge der Nicht-Engagierten. Außerdem sind sie im Vergleich wesentlich häufiger erwerbstätig und können auf ein höheres Haushaltseinkommen zurückgreifen (vgl. Sinnemann 2017, S. 14). – Die persönliche Motivation bzw. Bereitschaft zu einem Engagement korrespondiert anscheinend mit der Bindung bzw. der Verbundenheit zur Kirche. „Während sich von allen Evangelischen 48,7 % freiwillig engagieren, tun
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dies von denjenigen, die angeben, stark mit ihrer Kirche verbunden zu sein, sogar 66,7 %“ (vgl. Sinnemann 2017, S. 35). Jenseits der Formen von monetären Entschädigungen, die Nachteile ausgleichen oder Zugangsmöglichkeiten zum Ehrenamt generieren, sind ebenfalls Formen der materiellen Anerkennung als Geldzahlungen, die z.T. deutlich über dem entstandenen Aufwand liegen, zu beobachten, die das freiwillige Engagement in die Nähe von Niedriglohn-Arbeitsgelegenheiten rücken und damit Grauzonen zwischen und Mischformen von (niedrig) entlohnter und nicht-entlohnter Arbeit entstehen lassen. „Auch in den Kirchen gibt es längst eine Grauzone zwischen dem klassischen Ehrenamt und prekären Beschäftigungsverhältnissen: Mit Übungsleiterpauschale, Bürger:innenarbeit und Minijobs. Rentnerinnen mit kleinen Renten werden Alltagsbegleiterinnen in der Altenpflege oder engagieren sich als Kirchenführerinnen und verstehen ihre Aufgabe als Beruf. Und auch ehrenamtliche Küster und Sekretärinnen sind längst keine Seltenheit mehr“ (Coenen-Marx 2015, S. 109). Insbesondere dort, wo eine direkte Koppelung von Engagement und Geld zu finden ist – wo also offensichtlich mit dem Tausch von Arbeitskraft gegen Geld oder geldwerte Vorteile für Verlässlichkeit und Dauerhaftigkeit geworben werden kann – wird diese Praxis der Honorierung, die häufig mit dem Begriff der „Monetarisierung des freiwilligen Engagements“ ihr Etikett bekommt, vor allem von wissenschaftlicher aber auch von verbandlicher Seite aus kritisiert. Gefordert wird eine Verständigung auf der organisationalen Ebene über die damit verbunden Risiken sowie über die arbeitsrechtlichen und organisationskulturellen Folgewirkungen, die auch ethische Aspekte berücksichtigt (vgl. u. a. Jakob 2015). Dabei geht es letztlich auch um die immer wieder aufgeworfene Frage, unter welchen Umständen bislang beruflich ausgeführte Tätigkeiten durch Ehrenamtliche erledigt werden (können). Immer dann, wenn das freiwillige Engagement primär unter „dem Blickwinkel seiner organisatorischen Einsatzmöglichkeiten und seines Dienstleistungspotenzials“ (Deutscher Caritasverband 2017, S. 31) gesehen wird, wenn die konkreten Geldtransfers oberhalb des tatsächlichen Auslagenersatzes liegen, dann verschwimmen die tradierten Grenzen zwischen den organisationalen Statusgruppen. Um die Grenzziehungen wieder transparent, einheitlich und nachvollziehbar zu gestalten, hat sich beispielsweise der Caritasverband in einem Impulspapier folgendermaßen positioniert: „Eine Aufwandsentschädigung, die aufgewendete Zeit in Geldwert umrechnet und damit der Logik einer auf Entgelt ausgerichteten Beschäftigung folgt, steht im Widerspruch zum Ehrenamtsverständnis der verbandlichen Caritas“ (Deutscher Caritasverband 2017, S. 32).
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Zwischen Fürsorge und Einsatzplanung – Handlungsoptionen und Herausforderungen der Kirchen
Wie aber können die Organisationen, die ehrenamtliche Arbeit befördern und unterstützen möchten, die ehrenamtlich tätige Menschen für ihre Aufgabenerfüllung rekrutieren und in die eigenen Strukturen integrieren wollen, unter den aktuellen Bedingungen erfolgreich agieren? Welche Maßnahmen können unter der offensichtlichen Voraussetzung, dass sich sowohl die eigenen organisationalen Strukturen und die zu bewältigenden Prozesse als auch die Erwartungen, Beweggründe und persönlichen Hintergründe der zum Ehrenamt bereiten Menschen wandeln, zu einer Zielerreichung beitragen? Diese Fragen sind nicht einfach zu beantworten – vor allem deshalb, weil die Herstellung des „Passungsverhältnisses“ zwischen den organisationalen Gegebenheiten sowie Angeboten für das Ehrenamt und den stark differenzierten Wünschen und Motiven der potenziell freiwilligen engagierten Menschen ein anspruchsvolles und stetig zu bearbeitendes Unterfangen darstellt. Dies hat zentral damit zu tun, dass – stärker als in der Vergangenheit – die Organisationen heute eine breite Palette von unterschiedlichen Typen der ehrenamtlichen Rekrutierung und Einbindung zu entwickeln und gleichzeitig umzusetzen haben. Auf der Grundlage empirischer Befunde konnte nämlich mehrfach bestätigt werden, dass zur Kennzeichnung der Wandlungsprozesse auf der Ebene der Ehrenamtlichen keine einfachen Gegenüberstellungen bzw. Dualismen zwischen „alt“ und „neu“ oder zwischen „altruistisch“ oder „eigennützig ausgerichtet“ der Wirklichkeit entsprechen. Im Gegenteil: Es ist „von einer Vielzahl gleichzeitig nebeneinander existierender Formen und Typologien ehrenamtlichen Engagements auszugehen, folglich von einer Erweiterung bzw. Verschiebung, nicht jedoch einer Ablösung einer Form durch die andere“ (Gleich 2008, S. 110). Gleichzeitig kann davon ausgegangen werden, dass Phasen des freiwilligen Engagements heute vielfach als Element zur Gestaltung der eigenen Biografie genutzt werden und die Auswahl der Engagementorte bzw. -projekte selektiver, interessengeleiteter und selbstbezogener als zu früheren Zeiten erfolgt (vgl. u. a. More-Hollerweger 2014, S. 306 f.). Um diese Vielschichtigkeit und Differenziertheit zu gewährleisten und in attraktive organisationale Einladungen für ein Ehrenamt zu transformieren, bedarf es eines planvollen, konzeptbasierten und mit „Wirkmacht“ ausgestatteten Handelns. Auch für die Kirchen sowie die Träger unter dem Dach des Deutschen Caritasverbands oder des Diakonischen Werkes gilt, dass sich fördernde Bedingungen für ihre ehrenamtlich getragenen Säulen schon lange nicht mehr nebenbei oder wie von selbst ergeben. Die Schaffung geeigneter Voraussetzungen muss deshalb – so wird es vielfach vorgeschlagen – als eine Aufgabe der Führungs- und Leitungsgremien bzw. des Managements (Schlüsselbegriff „Freiwilligenmanagement“) angesehen oder zumindest von den jeweiligen Spitzen der Hierarchie offensiv mitgetragen und offensichtlich gewünscht werden. Nur vor einem solchen Hintergrund erscheint es möglich, die Vielfalt der organisationalen Andockpunkte für das Ehrenamt erfolgreich zu gestalten
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– auch hinsichtlich der folgenden Analyse: „Die Veränderungen für freiwilliges Engagement in den vergangenen Jahrzehnten […] stellen hohe Anforderungen an gemeinnützige Organisationen, die Ehrenamtliche in ihrem selbstbestimmten Engagement als Impulsgeber und interne Seismographen ernst nehmen. Ohne die Bereitstellung von Ressourcen werden sich viele Ehrenamtliche in ihrem Elan ausgebremst fühlen“ (Stellungnahme/Bewertung des Deutschen Caritasverbandes, in: Becker/Spiegel 2019, S. 23). Die Entwicklung einer solchen professionell gestalteten Organisationsumgebung für ein freiwilliges Engagement muss allerdings die beruflichen Kräfte mitnehmen. Denn ein Blick auf die Praxis zeigt, dass mit vielen Veränderungsprozessen die Rolle und die Wertschätzung der Ehrenamtlichen besonders einseitig fokussiert werden. Eine Folge kann sein, dass „Beruflichkeit und Ehrenamtlichkeit […] mitunter wie Bruder und Schwester in einem Aufmerksamkeits-Kampf zu stecken scheinen“ (Flierl/Junga 2018, S. 52). Und dabei „geraten die Hauptamtlichen und ihre Ansprüche nicht selten aus dem Blick. Sie sind es allerdings, die in der Engagementförderung in besonderer Weise gefragt sind“ (Meyer-Düttingdorf/Junga 2018, S. 40). Auf der Basis der eben ausgeführten Punkte lassen sich bereits eine Menge von Aspekten benennen, die heutige Organisationen mit Blick auf ihre Ehrenamtlichen bzw. ihre ehrenamtlich getragenen Strukturen zu beherzigen haben: Von dem Ratschlag einer unterstützenden Grundhaltung der (obersten) Führungsebene(n) zu den ehrenamtlich getragenen Organisationsbestandteilen und zu deren Bedarfen an Ressourcen sowie nach Mitspracheoptionen bis zu der Empfehlung der Realisierung einer Vielfalt von Engagementoptionen, die sich gegenüber den Impulsen durch die Ehrenamtlichen offen zeigt. Darüber hinaus werden – gerade für Institutionen im Raum der Kirchen – weitere Elemente einer Strategie für das Ehrenamt wichtig (vgl. u. a. EKBO 2017; Stellungnahme/Bewertung des Deutschen Caritasverbandes, in: Becker/Spiegel 2019, S. 23): – Geraten wird zu einem Medienkonzept, das das Potenzial der (neuen) Medien für kommunikative, bildungs- und aufgabenbezogene Aspekte des Engagements mit Mitwirkung der Ehrenamtlichen selbst nutzt. – Die gesellschaftliche und verbandliche bzw. innerorganisationale Bedeutung des Engagements sollte sowohl für die Ehrenamtlichen und die Organisation als auch für die Öffentlichkeit erkennbar sein. Dazu bedarf es eines entsprechenden Gesamtkonzepts, das auch eine Kultur der Anerkennung entstehen lässt. – Die Bedarfe des Ehrenamts sollten ermittelt und – insbesondere hinsichtlich der Gewährleistung von Weiterbildungs- und Qualifizierungsmöglichkeiten auch zur Stärkung der Selbstbestimmung sowie von hinreichenden Austausch- und Reflexionsformaten – Berücksichtigung finden. – Es wird zum Einsatz von Mentor:innen geraten, die besonders durch die Einführung in die Organisationskultur, die organisationalen Gepflogenheiten und die Weitergabe des internen Wissens Unterstützung leisten.
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Gelingt die Umsetzung der Elemente einer solchen Strategie, dann wird das Ehrenamt in kirchlichen Strukturen heute vermehrt auch als Motor für eine Erneuerung, für einen Gestaltwandel tradierter und aktuell weniger nachgefragter Angebote und Aktivitäten betrachtet. Gerade die Veränderungen hinsichtlich der Bereitschaften, sich zu engagieren, werden zugleich als Anlass für eine Neuorientierung und als Entwicklungschance für die kirchlichen Gemeinschaften gesehen. So heißt es entsprechend in einem Wort der deutschen Bischöfe: „Die Menschen möchten immer weniger für vorgegebene Aufgabenfelder angeworben und ehrenamtlich eingesetzt werden, sie wollen umgekehrt ihre persönlichen Gaben entdecken, einbringen und entfalten. Durch ein solches Umdenken von einer Bedarfsauf eine Ressourcenorientierung können ganz neue Ausdrucksgestalten kirchlichen Lebens entstehen“ (Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2015, S. 19).
Der vorgeschlagene Weg einer solchen Neuausrichtung wird sicherlich lange Zeit in Anspruch nehmen und mit einigen Stolpersteinen ausgestaltet sein. Literatur Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement (Hg.) (2018): (BBE Dossier Nr. 4). Berlin. Becker, M./Spiegel, J. (2019): Erhebung zum caritativen ehrenamtlichen Engagement in der Caritas: Abschlussbericht (Onlineversion mit einer Stellungnahme des Deutschen Caritasverbandes). Freiburg. Beher, K./Liebig, R. (2021): Soziale Arbeit als Ehrenamt. In: W. Thole (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit. Ein einführendes Handbuch (5. Aufl.). Wiesbaden [im Erscheinen]. Beher, K./Liebig, R./Rauschenbach, T. (2002): Das Ehrenamt in empirischen Studien – ein sekundäranalytischer Vergleich. Schriftenreihe des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Band 163 (3. unv. Aufl.). Stuttgart u. a. [BMFSFJ 2020] Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Familie (Hg.): Dritter Engagementbericht. Zukunft Zivilgesellschaft: Junges Engagement im digitalen Zeitalter (Drucksache des Deutschen Bundestags 19/19320). Berlin. Coenen-Marx, C. (2015): Engagement und Berufung: Die Kirchen als profilierte Bündnispartner in der Zivilgesellschaft. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, 28 (1), 107–113. Deutscher Bundestag (Hg.) (2002): Enquete Kommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“: Bürgerschaftliches Engagement: auf dem Weg in eine zukunftsfähige Bürgergesellschaft. Opladen. Deutscher Caritasverband (2017): Impulspapier der Delegiertenversammlung „Ehrenamt ist unentgeltlich“. Position des Deutschen Caritasverbandes zur Monetarisierung im ehrenamtlichen und freiwilligen Engagement. neue caritas, 4, 31–35.
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16 Hauptamtliche Mitarbeiter:innen / Personalentwicklung Irme Stetter-Karp
Vorbemerkung Der demografische Wandel, der wachsende Bedarf an sozialen Dienstleistungen und die Professionalisierung von Care-Tätigkeiten haben zu einem Mangel an geeigneten Bewerber:innen in den sozialen Berufen geführt. Das verändert die Anforderungen an Personalarbeit, auch in Caritas und Diakonie. Gefragt sind mehr denn je attraktive Arbeitgeber. In diesem Beitrag soll exemplarisch an wenigen Handlungsfeldern aufgezeigt werden, worin die Herausforderungen für Personalarbeit bestehen, welche Lösungsmöglichkeiten sinnvoll und welche Risiken und Nebenwirkungen dabei abzuwägen sind. 1
Zur Ausgangslage
Bei insgesamt knapp 1,3 Millionen hauptberuflich Beschäftigten in Diakonie und Caritas in Deutschland und angesichts des breiten Spektrums der vielfältigen Berufe und Tätigkeits-felder in allen Handlungsfeldern sozialer Dienstleistungen bei den mehr als 55.000 Einrichtungen beider Spitzenverbände ist es nicht möglich, hier eine differenzierte Ausgangslage zu skizzieren. Stattdessen sollen einige wesentliche Ausgangspunkte und Entwicklungslinien skizziert werden, die für die Personalarbeit einer Mehrheit der Träger Relevanz hat. Während noch vor zwanzig Jahren für viele Sozialunternehmen die Umstellung auf Marktmechanismen, die Folgen neoliberaler Politik und die Privatisierung von sozialen Risiken sowie das Szenario vom Rückzug des Sozialstaates zentrale Herausforderungen darstellten, ist inzwischen die Nachfrage nach sozialen und insbesondere pflegerischen Dienstleistungen in der älter werdenden Gesellschaft in Deutschland kontinuierlich gestiegen. Nicht nur in der Pflege – hier lagen schon seit Jahren entsprechende Prognosen vor dem Hin-
Personalentwicklung
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tergrund des demografischen Wandels vor –, sondern auch in vielen anderen Tätigkeitsfeldern ist der Fachkräftemangel angekommen. Die Notwendigkeit, die Herausforderungen der Zukunft fachlich gut zu analysieren und sich gemeinsam mit den Mitgliedern strategisch aufzustellen, wurde in immer mehr Einrichtungen erkannt. Am Beispiel der Konflikte um die Tarifgestaltung, um den sog. Dritten Weg und das Festhalten an einem flächendeckenden Tarif lässt sich gut skizzieren, in welchen Spannungen sich Träger und Mitarbeiterschaft in der Sozialwirtschaft befinden. Im ersten Lockdown in der CoronaPandemie erhielten Pflegekräfte szenischen Applaus aus der Bevölkerung. In den Medien konnte über die Wertigkeit ihrer Arbeit viel gelesen werden. Die zugrunde liegenden Muster der Geringschätzung von sozialen Berufen im Verhältnis zu Tätigkeiten in anderen Sektoren der Gesellschaft mit vergleichbarem Ausbildungsniveau sind dagegen weitgehend unverändert. Die Antidiskriminierungsstelle der Bundesregierung weist in ihrem Newsletter im Juli 2020 in einem Beitrag von Andrea Jochmann-Döll gezielt darauf hin. „Dieser Widerspruch zwischen der hohen Bedeutung dieser Berufe für das System unserer Gesellschaft einerseits und ihre niedrigen Verdienste andererseits zeigt eines: Die (nun auch offiziell) als systemrelevant erkannten frauendominierten Berufe waren bislang unterbezahlt. Die Corona-Krise bestätigt insofern, was schon seit langem kritisch diskutiert wird“ (Jochmann-Döll 2020).
Dennoch lässt aufhorchen, dass etwas in Bewegung ist. So hat der Deutsche Caritasverband im Januar 2021 das Ergebnis einer repräsentativen Umfrage in der Bevölkerung veröffentlicht, nach der auf die Frage, auf welche der politischen Handlungsfelder sich der Staat baldmöglichst konzentrieren sollte, an erster Stelle – mit 48 % und noch vor dem Klimaschutz – die Aufwertung der sozialen Berufe genannt wird. Kann es also sein, dass die Corona-Pandemie doch die Bedeutung der sozialen Dienstleistungen in den Fokus gerückt hat, also die Leistung derjenigen Menschen, die Kranke und Hilfebedürftige pflegen, betreuen, begleiten und unterstützen? Das ist dringend zu wünschen, nicht nur im Blick auf die Personalgewinnung und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden im Sektor sozialer Dienstleistungen, sondern auch im existenziellen Interesse der pflegebedürftigen Menschen. Aber auch aller, die der professionellen Care-Arbeit Dritter bedürfen, und nicht zuletzt schließlich auch im Interesse einer solidarischen Gesellschaft. Eine zweite Entwicklungslinie soll skizziert werden. Über 80 % unter den Beschäftigten bei Caritas und Diakonie sind Frauen. Im Unterschied zur Vergangenheit haben Frauen auch in anderen Branchen heute deutlich bessere berufliche Auswahlmöglichkeiten, zumal sie bei den Bildungsabschlüssen gegenüber den Männern weit aufgeholt haben. Es ist also kein Selbstläufer mehr, Frauen für Soziales zu motivieren.
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I. Stetter-Karp
Personalarbeit und Personalentwicklung
Die Begriffe Personalarbeit und Personalentwicklung sind in Theorie und Praxis nicht einheitlich definiert. Weite Begriffsfassungen von Personalentwicklung stehen in begrifflicher Nähe zu Personalarbeit, die alle Managementfunktionen umfasst, „die sich direkt oder auch indirekt auf die Beschäftigten einer Organisation richten. Sie schließen auch die Gesamtheit aller Ziele, Strategien und Instrumente ein, die das Verhalten der Führungskräfte und der Mitarbeitenden in einer Organisation prägen“ (Friedrich 2013, S. 9). Damit überschneiden sich die Begriffsdefinitionen von Personalentwicklung in einem weiten Verständnis mit Elementen der Organisationsentwicklung. Diese Verknüpfungen sind in Phasen mit hohem Veränderungsdruck von besonderer Bedeutung, weil Lernen im Unternehmen wichtiger wird. Die breitgefächerten Ziele der Personalentwicklung lassen sich unterteilen in solche des Unternehmens – wie etwa die Sicherung des notwendigen Fach- und Führungskräftebestandes oder das Entwickeln geeigneter Rekrutierungsinstrumente – und in Ziele der Mitarbeitenden – verbesserte Karriere- und Laufbahnchancen, Verbesserung der fachlichen und persönlichen Qualifikation oder auch die Übertragung erweiterter Aufgaben. Kernaufgabe der Personalentwicklung ist die Kompetenzentwicklung der Mitarbeiter:innen. Bedarfs- und Potenzialanalysen gehören in vielen Organisationen zum Standard. Im Folgenden wird Personalarbeit in der weiten Definition von Andrea Friedrich zugrunde gelegt und je nach Akzentuierung im Kontext wird von Personalarbeit bzw. von Personalentwicklung gesprochen. 3
Entwicklungsnotwendigkeiten
Nicht alle wesentlichen Entwicklungsnotwendigkeiten in der Personalarbeit können im Rahmen dieses Beitrags diskutiert werden. Zwei wichtige, hier nicht explizit bearbeitete Themen sollen mindestens benannt werden: Das ist zum einen Gesundheitsmanagement als Antwort auf das gewachsene Bewusstsein für die Bedeutung eines gesunden Lebens- und Arbeitsstils. Das ist zum anderen die Erhöhung des Renteneintrittsalters und eine Umstellung auf Kompetenzorientierung als Antworten auf den europäischen DQR-Rahmen und auf das Ziel, non-formal erworbenes Können stärker zu berücksichtigen (vgl. Herrmann 2017). 3.1
Strategische Personalgewinnung
Die Erwartungen an einen attraktiven Arbeitgeber haben sich in den vergangenen Jahren gravierend verändert. Personalgewinnung strategisch klug aufzustellen, ist vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels für die Einrichtungen in Diakonie und Caritas wie für alle Sozialunternehmen zu einem Must-have geworden. Entsprechend wurden auch die Anforderungen an die Personalge-
Personalentwicklung
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winnung weiterentwickelt. Im Deutschen Caritasverband wurde vor diesem Hintergrund beim Prozess „Caritas 2020“ eine der Wegmarken als Zukunftsaufgabe so beschrieben: „Um zukunftsfähig zu sein, steigern die Verbände und Träger der Caritas ihre Attraktivität als Arbeitgeber mit einer glaubwürdigen Praxis und einem positiven Arbeitgeberimage. Die Megatrends ‚Individualisierung‘ und ‚Pluralität‘ sind wesentlicher Hintergrund für die Notwendigkeit strategischer Personalpolitik, die ein anderes Maß an passenden Lösungen benötigt und die Verantwortung der Caritas auf der Organisationsebene für ein unverwechselbares Caritasprofil stärkt. Themen wie ‚Balance von Beruf und Freizeit‘, ‚Flexibilität und Selbstbestimmung‘ und ‚Geschlechtergerechtigkeit‘ gehören zu den obersten Prioritäten der Personalarbeit. Die Unternehmen der Caritas sind gefragt, innovative Wege zu gehen und ein Mehr an Flexibilität, Pluralität und Mitbestimmung als Arbeitgeber zu schaffen. Transparenz über Mittelherkunft und -verwendung sorgt zusätzlich für Glaubwürdigkeit. Attraktive Rahmenbedingungen finden sich in einer glaubwürdigen Praxis wieder und ermöglichen es auch Mitarbeitenden, als Markenbotschafter aktiv zur Personalgewinnung beizutragen“ (Caritas 2020).
In ähnlicher Weise setzt auch die Diakonie auf neue Wege. Ein Karriereportal wurde erfolgreich eingerichtet, auf dem die Arbeitgebermarke profiliert wird. Drei Viertel der Diakonie-Unternehmen bilden selbst aus und rekrutieren damit gezielt Nachwuchskräfte. Die Bedeutung der sozialen Medien für Bewerber:innen ist erkannt worden, wenngleich hier überall noch weitere Anstrengungen notwendig sind. Wenn auch nicht unumstritten, setzen caritative und diakonische Unternehmen u.a. auch auf die Gewinnung ausländischer Fachkräfte und investieren in das Onboarding dieser neuen Gruppe von Mitarbeitenden. Angesichts der Größe und des Potenzials der beiden Marken Caritas und Diakonie fällt auf, dass die jeweils verbandsweite Vernetzung bzgl. Personalentwicklung und die Durchlässigkeit zwischen den Trägern erst sehr spät mit Jobbörsen etc. aktiviert wurden und immer noch weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibt. 3.2
Diversity Management
In kaum einem aktuellen Fachbeitrag fehlt ein Hinweis auf Diversität. Gerade weil der Sog von Trends und Moden auch vor der Sozialwirtschaft nicht Halt macht, sollen bei diesem Thema zuerst eine grundsätzliche Reflexion und der Versuch einer Einordnung zu dieser Entwicklung erfolgen. Im Rückblick fällt auf, so stellt Thürmer-Rohr zutreffend fest, dass in den 1970er und 1980er Jahren „Vielfalt“ bzw. „Diversität“ weder als Konzept noch als politischer Begriff bekannt waren. Schritt für Schritt hat sich eine andere Betrachtungsweise etabliert. Zuerst wurde die Frauenforschung durch Genderforschung ersetzt und der Ansatz des Gender-Mainstreamings setzte sich politisch durch. Inzwischen lässt sich an der Umbenennung von Büros für Frauenbeauftragten in Büros für Gender&Diversity und an der Zahl von Lehrstühlen, die diesen Doppelbegriff
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im Titel haben, der enorme Erfolg des neuen Ansatzes festmachen. Was war geschehen? Geschlecht wurde als übergeordnete Kategorie von Über- und Unterordnung relativiert und der Blick auf andere Diskriminierungsmuster geweitet. Geschlecht als „Masterkategorie“ (Thürmer-Rohr 2019, S. 174) hat ausgedient. Sexuelle Orientierung, Ethnizität, Alter, Hautfarbe, Religion, Behinderung erweitern die Blickachsen. Damit stellen sich neue Fragen, doch eine alte Frage bleibt! Wer den Diversity-Ansatz praktizieren will, sollte sich eines grundsätzlichen Dilemmas bewusst sein, vor dem auch der neue Ansatz nicht schützt. Kategorien aller Art stellen ein paradoxes Problem dar. „Einerseits handelt es sich um hierarchisierende Etikettierungen, die menschliches Leben beherrschen und verletzen, andererseits auch um Orte der Zugehörigkeit und Übereinstimmung mit denen, die den eigenen Standort und die eigene Geschichte teilen oder zu teilen scheinen“ (Thürmer-Rohr 2019, S. 176).
Die Gefahr liegt also darin, dass Kategorien als Identitäten angenommen werden und damit schließen sie in einen sozialen Raum ein, statt aus Zuschreibungen zu befreien. So wird aus Identitätsgefühl eine Identitätsfalle und Individuen werden entgegen den in ihnen liegenden Vielfalten und Potenzialen auf Schablonen und gruppenbezogene Oberflächen reduziert. Um es am Beispiel der Kategorie weibliches Geschlecht zu übersetzen, lässt sich mit dem paradoxen Problem dieser Kategorie umgehen, wenn man dem Leitsatz von Julia Kristeva folgt, sie sei für eine Konzeption des Weiblichen, für die es so viele Weiblichkeiten gebe wie Frauen (vgl. Kristeva 1990). Ein solches Herangehen verbindet sich mit der Weigerung, sich einseitig auf die Theorien der Gleichheit oder auf die Theorien der Differenz zu beziehen, sondern beide mit einem UND zu verbinden, also beide Perspektiven im Blick zu halten (vgl. StetterKarp 1997, S. 115 ff.). Der Kritik von Thürmer-Rohr, Gender&Diversity verwiesen auf einen klassischen Rückschlag in der Geschlechterpolitik, einem so genannten Backlash, muss man nicht folgen, doch ihre Warnungen sind es wert, wahrgenommen zu werden. Ungleichheit verflüchtigt sich nicht durch die Inszenierung von Gleichheit und zwischen gefühlter Diskriminierung und strukturell verursachter Gewalt ist unbedingt zu unterscheiden. Was bedeutet nun der Diversity-Ansatz für Personalarbeit? Welche Instrumente sind dienlich und worauf muss besonders geachtet werden? Nach einer Definition des Instituts für Diversity der Universität Nürnberg bedeutet DiversityManagement die Gestaltung, Steuerung und Entwicklung von personeller Vielfalt in einer Organisation auf den drei Ebenen von Individuen, Teams und der Gesamtorganisation (vgl. Homepage). Während es auf der Ebene der Mitarbeitenden darum geht, diese mit ihren individuellen Bedürfnissen zu berücksichtigen und weitere Teilidentitäten zu fördern, ist die zentrale Aufgabe auf der
Personalentwicklung
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Teamebene die Optimierung des Verhältnisses von Homogenität und Heterogenität. Die Schaffung von Rahmenbedingungen für eine multikulturelle Organisation ist Aufgabe auf der Organisationsebene. Die Erfahrungen in der Begleitung von Organisationen in den letzten Jahren zeigen, dass dabei die Teamebene in der Praxis stark vernachlässigt wird. Für ein zielgerichtetes Vorgehen empfiehlt es sich, zuerst eine systematische Bedarfsanalyse vorzunehmen. Dazu kann eine Dokumentenanalyse gekoppelt werden mit einer Personalstrukturanalyse plus Erhebung neuer Kennzahlen, wobei für Zukunftsszenarien die Altersstrukturanalyse sehr aussagekräftig ist. Abhängig vom Problemfokus, der dann aus der Auswertung der Bedarfsanalyse gewonnen wird, können Maßnahmen in der Personalgewinnung, also im Rekruiting, in der Mitarbeitendenbindung, Personalentwicklung, in der Gesundheitsförderung und in der Führungskultur geplant und durchgeführt werden. Dabei sollte nicht unterschätzt werden, wie anspruchsvoll das Ziel ist, verzerrungsfreie Strukturen zu schaffen und bei Personal- und Entscheidungsprozessen gängige Stereotype zu durchbrechen. Das Wissen um die Wirkung von unbewussten Vorurteilen (unconscious bias) ist dafür elementar. Für eine Prüfung der kritischen Personalprozesse kann deshalb die Investition in eine externe Beratung sinnvoll sein. Eine gewisse Vorsicht ist geboten, wenn im Blick auf die Potenziale und Kompetenzprofile von Mitarbeitenden Netzwerke durch die Personalentwicklung gegründet werden. Diese sollten besser aus den Reihen der Mitarbeiterschaft entstehen. Denn wenn sie allein top-down gegründet werden, stehen sie in der Gefahr nicht zu überleben. Darüber hinaus separieren Mitarbeiternetzwerke in gewisser Weise, und als Projektionsfläche sind sie überhöhten Erwartungen ausgesetzt. Um versteckte Potenziale zu entdecken, eignet sich die Nutzung eines Kompetenzpasses, besonders interessant zum Beispiel für die Zielgruppe von Wiedereinsteiger:innen. Generell gilt, dass es auch beim Diversity-Ansatz notwendig ist, dass Strategie und Planung, Führung, Diversity-Prozesse und Ressourcen gut aufeinander bezogen sind und ineinandergreifen. 3.3 Geschlechtergerechtigkeit Es ist allein die erdrückende Datenlage, die dazu veranlasst, in diesem Kontext die Kategorie Geschlecht eigens jenseits Diversity zu bearbeiten: Caritas und Diakonie sind weiblich! Seit vielen Jahren sind bei den insgesamt knapp 1,3 Mio. Beschäftigten in beiden Marken ca. 80 % Frauen angestellt, wie die veröffentlichten Statistiken von Caritas und Diakonie ausweisen (vgl. www.caritas.de / www.diakonie.de). Mehr als 82 % der Caritas-Mitarbeiter:innen sind Frauen und bei der Diakonie liegt der Durchschnitt aktuell auf ähnlichem Niveau bei 78,5 %. Andererseits, auch das sind Fakten: Diakonie und Caritas sind männlich! Auf der Führungsebene sind Männer in der absoluten Mehrheit. So beträgt der Männeranteil bei der Diakonie auf der obersten Leitungsebene 69 % (31 % Frauen) und bei der Caritas 72 % (28 % Frauen). Der geringe Frauenanteil in den Aufsichtsräten ist mit jeweils 29 % gleich hoch (Stetter-Karp 2018).
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Um diese Diskrepanz in Richtung Geschlechtergerechtigkeit zu verändern, haben beide Verbände in den vergangenen Jahren Anstrengungen unternommen, die im aktualisierten Corporate Governance Kodex und dem Gleichstellungsatlas der Diakonie und in den sieben Genderberichten im Deutschen Caritasverband nachzulesen sind. Mit der erforderlichen Drei-Viertel-Mehrheit beschloss die Delegiertenversammlung der Caritas eine Satzungsänderung, die eine geschlechterparitätische Besetzung der Verbandsorgane vorsieht und Quoten für einzelne Gruppierungen definiert. Die bisherigen verbandsweiten Anstrengungen in der Caritas, u.a. in drei Projekten mit vielen Maßnahmen an einer Reihe von Projektstandorten, gefördert durch den Europäischen Sozialfonds „rückenwind+“, belegen zweifelsfrei, dass sich die Sozialunternehmen selbst verändern müssen, wenn sie das Ziel einer ausgeglicheneren Führungscrew erreichen wollen. Themen wie gendersensibler Führungsstil, geschlechtergerechte Personalentwicklung, vereinbarkeitsorientierte Arbeitsmodelle, geschlechtergerechte Gremienbesetzung sind darin definierte Handlungsfelder. Es entstanden Angebote wie zum Beispiel eine Vernetzungstagung für junge Führungskräfte „Führen 4.0 in der Caritas“ und die Caritas-Unternehmenstagung „Diversity als Innovationstreiber“. Der Deutsche Caritasverband war Gründungsmitglied der Initiative „Chefsache“, einem Bündnis zur Verbesserung der Chancengerechtigkeit und Vielfalt in den oberen Leitungsebenen von Unternehmen, Verbänden und öffentlichen Institutionen. Unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzlerin Angela Merkel hatten sich elf Organisationen zu einem Netzwerk zusammengeschlossen, das inzwischen auf 21 Mitgliedsorganisationen angewachsen ist. „Unconscious Bias“ und „Flexibles Arbeiten (auch) in Führungspositionen“ – diese beiden Schwerpunktthemen wurden weiter vertieft. Auf der genannten Homepage finden sich vielfältige praktische Tools für die Personalentwicklung zum Ziel Geschlechtergerechtigkeit und auch Diversity. Auch sind Studien und konkrete Handlungsempfehlungen für Sozialunternehmen zum Thema im Download zugänglich, darunter die vom Deutschen Caritasverband in Auftrag gegebene Studie „Frauen in Führungspositionen“ von der Katholischen Hochschule Freiburg (www.initiative-chefsache.de/caritas-frauen-in-fuehrungspositionen). Es gibt Kurzvideos zu Instrumenten einer Personalarbeit, die sich nicht von Stereotypen leiten lässt, und ein „Flex-Report“ informiert über Maßnahmen zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Im Netzwerk mit großen Konzernen in Deutschland hat sich die Caritas dafür eingesetzt, nicht allein ökonomisch zu argumentieren bzw. den entsprechenden Mehrwert nicht vordringlich aus einer erhöhten Erwerbsintegration von Frauen und einer damit angestrebten Steigerung des Bruttoinlandsprodukts abzuleiten. Vielmehr muss aus Sicht der Caritas immer im Vordergrund stehen, Arbeitsverhältnisse auch auf Führungsebenen so auszugestalten, dass sie familiäre Sorgeverantwortung nicht ausklammern, sondern systematisch, unabhängig vom Geschlecht, mitdenken. Im Lauf der vergangenen Jahre rücken immer mehr (organisations-)kulturelle Fragen in den Mittelpunkt. So wird sich der Blick weiten müssen. Überall dort,
Personalentwicklung
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wo Diakonie und Caritas gestaltend tätig sind, sei es als Dienstgeberin, als Anwältin und als gesellschafts-politische Akteurin, muss die Perspektive der Leitidee einer Gesellschaft mit einer fairen Verteilung von Chancen und Risiken im Lebenslauf für Männer und Frauen für sie pointierter als in der Vergangenheit eine Rolle spielen. Das Gutachten zum Zweiten Gleichstellungsbericht der Bundesregierung (www.bmfsfj.de) weist erstmals einen sog. Gender Care Gap aus, den Abstand zwischen der von Frauen und von Männern geleisteten Sorgearbeit. Die gesellschaftspolitische Realität weicht deutlich vom überwiegenden Wunsch junger Paare ab, sich Erwerbs- und Sorgearbeit gleichberechtigt zu teilen. Alle kirchlichen Organisationen sollten sich fragen, wie weit sie die Lebensentwürfe junger Menschen ernst nehmen bzw. wie sie selbst in ihrer Organisationskultur in die gegebenen Verhältnisse „verstrickt“ sind. Leider ist inzwischen zu beobachten, dass das Phänomen der „rhetorischen Modernisierung“ wirkmächtig ist. Das meint die Gleichzeitigkeit eines modernisierten Selbstverständnisses mit Strukturen, denen eine gewisse Beharrungstendenz innewohnt. Das erschwert die kulturelle Weiterentwicklung. In der Vergangenheit fanden eine systematische Personalbewertung und ein daran anknüpfendes strategisches Talentmanagement deutlich zu wenig ausgeprägt statt. Für das Ziel, mehr Frauen in Führungsaufgaben zu bringen, hat das erhebliche Folgen. Denn wissenschaftlich ist inzwischen ausreichend belegt, dass Frauen ihre Leistung tendenziell schlechter einschätzen als Männer und sich weniger für Leitungsstellen ins Spiel bringen. Wo Leistung und Potenzial nicht extern gemessen wird, kommt es überwiegend auf die Selbsteinschätzung der Einzelnen an. Wo andererseits Potenzialbeurteilung mehr oder weniger unbewusst im Alltag stattfindet und ein systematischer, kontrollierbarer Zugang fehlt, haben Rollenstereotype leichtes Spiel. Wo keine Potenzialbeurteilungsinstrumente entwickelt sind, wo keine Prozesse schriftlich hinterlegt sind, da kann auch nicht evaluiert werden, ob dadurch Geschlechterstereotype eher reproduziert oder vermieden werden. Am Ende wird es zum Problem von Frauen, aber auch den Männern. Wenn das Management von Potenzial und Talent nicht in der Organisation opportun ist und quasi hinter vorgehaltener Hand stattfindet, werden Grundannahmen über Frauen und Männer, davon muss man zumindest ausgehen, die Sicht auf die Dinge bestimmen. Wir alle haben entsprechende Vorannahmen und -urteile. Das zeigen die Materialien der Initiative „Chefsache“ zu Führungsleitbildern sehr gut auf. Fazit: Das Stereotyp „Mann“ und das Stereotyp „Führungskraft“ stimmen einfach nach wie vor sehr gut überein, auch in Diakonie und Caritas. Neben der Veränderung struktureller Rahmenbedingungen, so zum Beispiel von Mobilitätserwartungen und -pflichten an Führungskräfte, bedarf es der Entwicklung einer Organisationskultur, die sich dem Talent- und dem Potenzialbegriff positiv zuwendet. 3.4
Digitalisierung
Die Frage, ob Digitalisierung auch für die Sozialunternehmen eine Bedeutung hat, gehört der Vergangenheit an. Es geht längst nur noch um das wie. Die So-
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zialwirtschaft ist wie alle Branchen dabei, aktiv den Wandel hin zur Arbeitswelt 4.0 zu gestalten. Das gilt für alle Akteure, die einzelnen Dienste und Einrichtungen, die Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege als auch für alle Träger der beruflichen Bildung. Allerdings haben Studien, wie etwa diejenige der Bank für Sozialwirtschaft mit dem Titel „Erfolgsfaktor Digitalisierung. Auf dem Weg zur Sozialwirtschaft 4.0.“ (www.sozialbank.de), gezeigt, dass die Investitionssummen bzw. finanziellen Ressourcen für Digitalisierung in den Wohlfahrtsverbänden deutlich unter denen in anderen Branchen liegen und auch Strategien teils fehlen. Zu lange wurde seitens der Politik die Sozialwirtschaft in ihrer Bedeutung beim digitalen Transformationsprozess der Gesellschaft unterschätzt, sodass sich die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW) gezwungen sah, hierzu im September 2017 vorstellig zu werden und gemeinsam mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) eine Absichtserklärung zu verhandeln. Wer an der Notwendigkeit eines dynamischen Organisationsentwicklungsprozesses bei den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege als Folge des digitalen Transformationsprozesses noch Zweifel hatte, dürfte spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie und den rasanten Folgen für mobiles Arbeiten, digitale Formate und Produkte eines Besseren belehrt worden sein. Die Herausforderungen machen vor der Personalarbeit nicht Halt, im Gegenteil. Das vorhandene Personal muss qualifiziert werden im Umgang mit den neuen Anforderungen und auch Risiken, die sich aus der Digitalisierung für die soziale Arbeit ergeben. Es geht dabei um das Verstehen der Erfordernisse digitaler Produkte, Prozesse und Organisation, um methodische Kenntnisse des vernetzten, kollaborativen Arbeitens sowie um die Fähigkeit zur Gestaltung von Veränderung. Die Mediennutzung der Menschen hat sich massiv verändert. Informationen sind zu allen Tageszeiten und unabhängig vom eigenen Standort universell und oft kostenfrei verfügbar. Das verändert bzw. erhöht selbstverständlich auch die Erwartungen von Bewerber:innen an ein Sozialunternehmen. Die Notwendigkeit der Umstellung betrifft sämtliche Dienstleistungen und Prozesse in der Personalarbeit und verlangt ein hohes Maß an Abstimmung aller Führungskräfte zum Ziel und Tempo der Dynamik und zur Weiterentwicklung der Organisationskultur. 4
Zeitpolitik und Co.
Die skizzierten Herausforderungen können innerhalb einer Organisation zielgerichtet bearbeitet werden, auch wenn deren Erfolgskontrolle alles andere als einfach ist. Anders verhält es sich mit politischen Rahmenbedingungen, von denen die Unternehmen selbst abhängig sind. So scheitern radikal neue Modelle flexibel arrangierter Lebensarbeitszeit an sozialrechtlichen und rentenpolitischen Rahmenvorgaben. Seit mehreren Jahren diskutieren beispielsweise Expert:innen in der Deutschen Gesellschaft für Zeitpolitik über das sogenannte Optionszeitenmodell als Modell atmender Lebensläufe. Der Diskurs über sol-
Personalentwicklung
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che Modelle lohnt, weil sie die Motive der Mehrheit jüngerer Menschen zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf berücksichtigen und Sorgearbeit intelligenter mit Erwerbsarbeit verknüpfen, als das bisher gelungen ist. Gleichzeitig sind noch viele Fragen der Umsetzung ungelöst. Wie systemrelevant die caritative und diakonische Arbeit nach der Pandemie sich auch immer erweisen wird, ohne die stete Bereitschaft zur Veränderung auch mittels Organisations- und Personalentwicklung, wird sie im Fremdbild vieler im alten Zerrbild stecken bleiben: als gewohnter Flickschuster der Nation. Literatur Friedrich, A. (2013): Personalarbeit in Organisationen sozialer Arbeit. Theorie und Praxis der Professionalisierung. Wiesbaden. Herrmann, A. (2017): Personalarbeit 4.0. Arbeit kompetenzorientiert gestalten. Handbuch für das Sozial- und Gesundheitswesen. Münster. Kristeva, J. (1990): Fremde sind wir uns selbst. Frankfurt a.M. Stetter-Karp, I. (1997): Wir und das Fremde. Von der Funktionalisierung des Fremden in der Lebensgeschichte von Frauen. Frankfurt a.M. Stetter-Karp, I. (2018): Nicht stehen bleiben bei der rhetorischen Modernisierung. Diakonia, 49 (2), 92–96. Thürmer-Rohr, Ch. (2019): Fremdheiten und Freundschaften. Essays. Bielefeld. http://www.initiative-chefsache.de/content/uploads/2017/04/caritas-frauen-infuehrungspositionen.pdf (Zugriff am 19.01.2021). http://www.initiative-chefsache.de/fuehrungsvorbilder/chefsache-training (Zugriff am 22.01.2021). http://www.diversity-institut.de (Zugriff am 20.01.2021). http://www.diakonie.de/fileadmin/user-upload/diakonie/PDFs/Ueber_ uns_PFD/191213_Gleichstellungsatlas_diakonie_Web.pdf (Zugriff am 19.01.2021). http://www.caritas.de/FuerProfis/Caritas/Caritas2020/Wegmarken (Zugriff am 20.01.2021). http://www.caritas.de/Magazin/Schwerpunkt/DigitaleTransformation/Stellung nahmen zum Thema: Digitale Transformation und gesellschaftlicher Zusammenhalt – Organisationsentwicklung der Freien Wohlfahrtspflege unter den Vorzeichen der Digitalisierung.pdf (Zugriff am 21.01.2021). https://www.antidiskriminierungsstelle.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/20 20/nl_02_2020/nl_02_3_fragen_an.html (Zugriff am 08.02.2021). https://www.caritas.de > die-caritas-in-zahlen > statistik (Zugriff am 08.02.2021). https://www.diakonie.de/die-diakonie-in-zahlen (Zugriff am 08.02.2021) https://www.bmfsfj.de/blob/117916/7a2f8ecf6cbe805cc80edf7c4309b2bc/zwe iter-gleichstellungsbericht-data.pdf (Zugriff am 08.02.2021). https://www.sozialbank.de/fileadmin/2015/flipbook/BFS_Erfolgsfaktor_Digita lisierung/#p=1 (Zugriff am 08.02.2021).
17 Religiöse Bindungen und konfessionelle Prägungen Dierk Starnitzke
1
Historische Entwicklungslinien
Nach den biblischen Zeugnissen strebt der christliche Glaube im Kern danach, in der Liebe tätig zu sein. So heißt es in Gal 5,14 und sieben anderen neutestamentlichen Stellen in Aufnahme eines Satzes aus dem Alten Testament: „Denn das ganze Gesetz ist in dem einen Wort erfüllt: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (vgl. Lev 19,18; Röm 13,9; Mk 12,31 mit Parallelen in Mt 22,39 und Lk 10,27; Mt 5,43 und 19,19; Jak 2,8). In Lk 10,25–37 wird der Sinn des biblischen Liebesgebotes mit der Beispielgeschichte vom Barmherzigen Samaritaner entfaltet und dadurch eine grundlegende Erzählung diakonisch-caritativen Handelns gegeben. Dabei soll sich diese Liebe, jedenfalls nach Röm 13,8 ff., an alle Menschen richten, nicht nur an die Angehörigen des christlichen Glaubens. Das christliche Handeln geschah auf der Basis des biblischen Liebesgebotes von vornherein auf Wegen, die einerseits die damaligen Strukturen der Gesellschaft zwar im Grundsatz respektierten, aber andererseits nach ganz eigenen Formen suchten und dadurch den etablierten gesellschaftlichen Verhaltensmustern zum Teil auch widersprachen (vgl. Röm 12,2 und Röm 13,1). Durch diese ambivalente Positionierung wurden von Anfang an eigene personelle und organisatorische Strukturen von Kirche und Diakonie generiert, ohne dass damit die gesellschaftliche Ordnung im Grundsatz in Frage gestellt wurde. So schreibt Paulus z.B. in Röm 16,1 f. (hier in eigener Übersetzung wiedergegeben): „Ich empfehle euch Phöbe, unsere Schwester, die diakonos (griechisch, unübersetzt) der Gemeinde in Kenchreä ist. […] Denn auch sie ist Vorstand vieler geworden, auch meiner selbst.“ Es gibt also bereits in den fünfziger Jahren unserer Zeitrechnung eine eigene Struktur der christlichen Gemeinden, die als Leitungspersonen die so genannten episkopoi und diakonoi kennt (vgl. auch Phil 1,1), und bei der – im Unterschied zur damaligen Gesellschaftsstruk-
Religiöse Bindungen
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tur – auch Frauen führende Positionen einnehmen konnten. Diakonisch-caritatives Handeln ist insofern ein fester Bestandteil des Christentums, der von Anfang an auch durch besonders dazu motivierte und beauftragte Personen geprägt gewesen ist und auch eigene Organisationsstrukturen hervorgebracht hat. Die organisatorischen Entwicklungen in der deutschen Diakonie und Caritas seit dem 19. Jahrhundert führten den biblischen Gedanken fort, dass kirchlichcaritatives Handeln auf der Initiative besonders dazu motivierter Personen und der eigenständigen Organisation kirchlich-caritativen Handelns beruht. Klar war schon bei der Gründung des „Central-Ausschuss für die innere Mission“ durch Initiative Johann Hinrich Wicherns 1848/49, dass es sich bei den hier verbundenen Organisationen nicht einfach um Vereine und andere Körperschaften sozialer Arbeit handelte, sondern um eine Form christlicher Mission. Etliche dieser Initiativen entstanden im Kontext geistlicher Gemeinschaften, die die Arbeit in wesentlichen Teilen trugen, z.B. Diakonissenschaften wie Kaiserswerth in Düsseldorf oder Diakonenschaften wie das Rauhe Haus in Hamburg. Auch im katholischen Bereich entwickelten sich zahlreiche eigenständige caritative Organisationen, getragen von geistlichen Gemeinschaften wie z.B. den verschiedenen Orden der Barmherzigen Brüder. Auf dieser Basis bildeten sich in einer ersten Gründungsphase der modernen deutschen Diakonie und Caritas bereits im 19. Jahrhundert eine größere Anzahl konfessionsgebundener Vereine oder Stiftungen aus. Die caritativen und diakonischen Organisationen haben im Kontext der westdeutschen Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg eine spezielle Ausformung erfahren, die sich an den Selbstbestimmungsrechten der Kirche gemäß Artikel 140 des Grundgesetzes in Verbindung mit Artikel 137, Abs. 3 der Weimarer Reichsverfassung orientiert. Die Möglichkeit, in eigenständiger Organisation christliches Hilfehandeln im Rahmen des deutschen Sozialstaates zu entwickeln, führte seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu einem großen quantitativen Wachstum von Caritas und Diakonie. Der Anteil und die Bedeutung geistlicher Gemeinschaften mit besonderer religiöser Bindung und konfessioneller Prägung an der Mitarbeiterschaft nahmen dabei kontinuierlich ab. Unter diesen Voraussetzungen haben sich etliche konfessionell geprägte Organisationen einerseits in relativer Eigenständigkeit gegenüber den verfassten Kirchen zu großen und komplex organisierten Einrichtungen entwickelt. Mit Blick auf die katholische Kirche gilt dabei eine enge Verbindung zwischen Caritas und verfasster Kirche: theologisch wie kirchenrechtlich sind die Caritas bzw. die von Orden usw. getragenen Dienste und Einrichtungen Teil dessen, was man „verfasste Kirche“ nennen mag. Ihr besonderer rechtlich-organisatorischer Status in Deutschland resultiert eher aus ihrer zivil- bzw. öffentlich-rechtlichen Verfassung bei gleichzeitig enger Bindung gegenüber den Bistümern bzw. den bischöflichen Stühlen.
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D. Starnitzke
Das Bundesverfassungsgericht hat dabei andererseits in einigen grundsätzlichen Urteilen aus den 1980er Jahren das Selbstbestimmungsrecht auch der selbstständig gegenüber den verfassten Kirchen organisierten Trägern gemäß Artikel 140 des Grundgesetzes aufgrund ihrer besonderen religiösen Prägung und ihrer ideellen und verbandlichen Verbindung mit den verfassten Kirchen eindeutig festgestellt. Parallel dazu gibt es allerdings auch zahlreiche caritative und diakonische Initiativen und Organisationen innerhalb der verfassten Kirchen. 2
Unterschiedliche katholische und evangelische Prägungen
Auf evangelischer Seite wurde ein speziell ausformulierter, gesamtdeutscher und durch Kirchengesetz zwingend geregelter konfessioneller Sonderweg auf der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) am 9.11.2011 beschlossen. Dort wurde das „Arbeitsrechtsregelungsgrundsätzegesetz“ (ARGGEKD) verabschiedet, und es wurden dann nach einem entsprechenden Urteil des Bundesarbeitsgerichtes weitere Ergänzungen auf der EKD-Synode im November 2013 vorgenommen. Auf dieser Basis wurde 2016 vom Rat der EKD die „Richtlinie des Rates über kirchliche Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie“ beschlossen (Rat der EKD 2016). Ein ähnlicher Prozess ergab sich für die Caritas etwa zeitgleich mit ihrer „Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse“ (Deutsche Bischofskonferenz 2011 und 2015). In der katholischen Kirche und ihrer Caritas stellt sich die enge kirchliche Bindung caritativer Unternehmen mindestens ebenso deutlich dar wie auf evangelischer Seite. Die katholischen Träger sind darauf verpflichtet worden, die Grundordnung (in der Fassung vom 20. Juni 2011) in ihren Institutionen ausdrücklich anzuerkennen und zu beachten. Die Grundordnung schreibt dazu in Artikel 2, Abs. 2 vor: „Kirchliche Rechtsträger, die nicht der bischöflichen Gesetzgebungsgewalt unterliegen, sind verpflichtet, bis spätestens zum 31.12.2013 diese Grundordnung durch Übernahme in ihr Statut verbindlich zu übernehmen. […] Wenn sie dieser Verpflichtung nicht nachkommen, haben sie im Hinblick auf die arbeitsrechtlichen Beziehungen nicht am Selbstbestimmungsrecht der Kirche gemäß Art. 140 GG i. V. m. Art. 137 Abs. 3 WRV teil.“
Die Übernahme der Grundordnung ist denn auch bei den meisten Caritas-Einrichtungen geschehen. Wie auch auf diakonischer Seite werden alle in einer caritativen Einrichtung der katholischen Kirche Tätigen als „Dienstgemeinschaft“ verstanden (Deutsche Bischofskonferenz 2015, Artikel 1, Abs. 1). Spezifisch katholisch ist demgegenüber, dass sich alle dort tätigen Personen an der „Glaubens- und Sittenlehre und an der Rechtsordnung der katholischen Kirche auszurichten haben“ (Artikel 1, Abs. 2). Das ermöglicht z.B. die Kündigung bei einem „kirchenrechtlich unzulässigen Abschluss einer Zivilehe, wenn diese
Religiöse Bindungen
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Handlung nach den konkreten Umständen objektiv geeignet ist, ein erhebliches Ärgernis in der Dienstgemeinschaft oder im beruflichen Wirkungskreis zu erregen“ (Artikel 5, Abs. 2, c). Bemerkenswert ist an der bisherigen Entwicklung, dass damit der spezielle Charakter der diakonischen und caritativen Unternehmen wesentlich durch die kirchliche Bindung ihrer Mitarbeitenden definiert wird. Auf evangelischer Seite wird das durch die Vorgabe konkretisiert, dass die in der Diakonie Tätigen in der Regel Mitglied einer der in der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen verbundenen Kirchen sein sollen (so genannte ACK-Klausel, vgl. Rat der EKD 2016, § 3, Absatz 1). Diese Prämisse ist aber zum einen in ostdeutschen Bundesländern oder Großstädten wie Hamburg und Berlin problematisch, weil sie dort aufgrund des geringen Anteils von Kirchenmitgliedern an der Bevölkerung gar nicht erfüllt werden kann. Zum anderen identifiziert sie das konfessionelle Selbstverständnis der jeweiligen Organisation mit der religiösen Bindung und konfessionellen Prägung der Mehrzahl seiner Mitarbeitenden. Diese Identifikation erscheint aber unter den heutigen Bedingungen einer kulturell und religiös differenzierten Gesellschaft nicht mehr zeitgemäß. Etwas differenzierter formuliert die katholische Grundordnung, dass bei der Einstellung darauf zu achten ist, „dass eine Mitarbeiterin und ein Mitarbeiter die Eigenart des kirchlichen Dienstes bejahen“ (Deutsche Bischofskonferenz 2015, Artikel 3, Abs. 1). Auf dieser Basis werden verschiedene „Loyalitätsobliegenheiten“ formuliert, die jeweils von katholischen, von nichtkatholischen christlichen und von nichtchristlichen Mitarbeitenden zu beachten sind (Artikel 4). Wer jedoch aus der katholischen Kirche austritt, ist für keinen Dienst in der Kirche geeignet (Artikel 3, Abs. 4). 3
Neue Herausforderungen
In der deutschen Gesellschaft hat sich seit der Wiedervereinigung eine Vielfalt verschiedener Glaubensüberzeugungen und Weltanschauungen entwickelt. Waren in der ehemaligen Bundesrepublik Deutschland (BRD) in den 1980er Jahren noch knapp 85 Prozent der Bevölkerung Mitglieder einer der beiden großen Kirchen, so machen demnächst deren Kirchenmitglieder in Deutschland weniger als fünfzig Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Innerhalb von gut dreißig Jahren hat sich also die deutsche Gesellschaft in Bezug auf ihre religiösen und weltanschaulichen Bindungen in hohem Maße differenziert. Hauptgründe dafür sind die Säkularisierung in den östlichen Landesteilen und in den Großstädten, die große Zahl von Kirchenaustritten sowie die Migration von Menschen aus dem Ausland mit verschiedenen kulturellen und religiösen Hintergründen. Damit ergibt sich zunächst grundsätzlich die Problematik, wie man angesichts dieser kulturellen Verschiedenheit mit Identitätsfragen in der Gesellschaft insgesamt umgehen kann.
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Sie betrifft die Arbeit von Diakonie und Caritas in besonderem Maße. Der quantitative Umfang organisierter diakonischer und caritativer Arbeit hat sich in den letzten Jahrzehnten enorm entwickelt. Nach der Wiedervereinigung wurden dabei auch in Ostdeutschland zahlreiche konfessionelle Organisationen – nicht zuletzt auch durch die Übernahme anderer Träger – gegründet, in denen nur eine geringe Zahl christlich gebundener und konfessionell geprägter Personen tätig ist. Aktuell werden bundesweit durch ca. 1,3 Millionen hauptamtlich tätige Mitarbeitende und mindestens ebenso viele Ehrenamtliche etliche Millionen Bürgerinnen und Bürger in eigenständig organisierten caritativen und diakonischen Organisationen unterstützt. Damit partizipieren Diakonie und Caritas einerseits zwangsläufig an der aktuellen Differenzierung der deutschen Gesellschaft. Anderseits findet sich bislang aus guten Gründen in diakonischen und caritativen Organisationen eine christlich geprägte Monokultur (zur Diskussion über Kultur im diakonischen Kontext vgl. Moos 2018). Diese traditionelle Prägung hält sich zumindest bei älteren Trägern bis heute im Prinzip durch. Allerdings ist der Arbeitsalltag in konfessionellen Organisationen längst von der Vielfalt verschiedener Kulturen geprägt. Beachtenswert ist dabei, dass die Öffnung gegenüber anderen Kulturen im Christentum schon in den frühesten Quellen angelegt ist. Bereits in den fünfziger Jahren unserer Zeitrechnung beschreibt Paulus im Römerbrief, dass alle Menschen von der Barmherzigkeit Gottes umfangen und darin vereint sind. Deshalb schreibt er im Brief an die Gemeinde in Rom als Fazit seiner langen Argumentation in Kapitel 1 bis 11 dieses für das Christentum sehr grundlegenden Briefes: „Denn Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen, um sich aller zu erbarmen. O Tiefe des Reichtums, der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unergründlich sind seine Entscheidungen, wie unerforschlich seine Wege“ (Röm 11,32 f.).
Dieser theologische Ansatz kann für aktuelle Fragen des kulturellen Wandels in caritativen und diakonischen Einrichtungen hilfreich sein und Orientierung bieten. Eine Unternehmenskultur, die sich am Gedanken des universalen Erbarmens Gottes gegenüber allen Menschen ausrichtet, kann sich einerseits auf der Basis dieses Erbarmens allen Menschen liebevoll zuwenden, die eine Unterstützung wünschen. Sie kann dies andererseits in dem Wissen und Vertrauen tun, dass sie gerade mit dieser universalen Weite des Erbarmens zutiefst im christlichen Glauben verankert ist. Es macht deshalb guten Sinn, wenn caritative und diakonische Einrichtungen das eingangs dieses Beitrages zitierte biblische Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst!“ universal verstehen und ihre Unterstützung grundsätzlich allen Menschen anbieten. Als Konsequenz daraus werden traditionell gewachsene religiöse Bindungen und konfessionelle Prägungen in Caritas und Diakonie sich weiterentwickeln müssen. Es wird unvermeidbar und ist dringend geboten, dass man sich auch mit der Kultur und Religion der Perso-
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nen befasst, die man unterstützt – auch der Nichtchristen. So gilt z.B. in Nordrhein-Westfalen die gesetzliche Bestimmung, dass Anbieter der Eingliederungshilfe die von ihnen unterstützten Menschen ihrer Religion entsprechend begleiten müssen, bis hin zu der gesetzlichen Verpflichtung, ihnen aktiv eine Teilhabe an ihrer Religion und Kultur zu ermöglichen. So heißt es im Wohnund Teilhabegesetz Nordrhein-Westfalen in Bezug auf die im Wohnen unterstützten Menschen mit Behinderungen: „Die Menschen, die Angebote nach diesem Gesetz nutzen, […] sollen insbesondere ihrer Kultur und Weltanschauung entsprechend leben und ihre Religion ausüben können und in jeder Lebensphase in ihrer unverletzlichen Würde geachtet und am Ende ihres Lebens auch im Sterben respektvoll begleitet werden“ (WTG-NRW 2020, § 1, Absatz 4, Satz 8 und 9.).
Für Organisationen der Diakonie und Caritas und ihre Mitarbeitenden gehört es deshalb zu den Kernfragen ihrer Arbeit, wie sie sich auf die zunehmende kulturelle Vielfalt in der Gesellschaft und bei den Nutzern ihrer Angebote einstellen und intern mit den Anforderungen kultureller und religiöser Verschiedenheit umgehen können. Dabei ist gerade die religiöse Begleitung von Menschen mit Unterstützungsbedarf in den verschiedenen Handlungsfeldern von Diakonie und Caritas eine besonders anspruchsvolle Aufgabe, die gute Kenntnisse und eine hohe Sensibilität verlangt. 4
Bearbeitungsstrategien
In dieser Situation ist es für Einrichtungen der Caritas und Diakonie wichtig, zu einer ausgewogenen Balance zu kommen. Öffnung für andere Glaubensüberzeugungen und Kulturen einerseits und Wahrung und Weiterentwicklung der eigenen religiösen Bindungen und konfessionellen Prägungen andererseits müssen gut miteinander abgewogen werden. Das bezieht sich sowohl auf mögliche Nutzerinnen und Nutzer caritativer und diakonischer Organisationen als auch auf deren Mitarbeitende. Die Verantwortung für diese Balance liegt bei der einzelnen kirchlichen Organisation (vgl. Rat der EKD 2016, § 2 Absatz 2). Bei den konfessionellen Trägern von Caritas und Diakonie kann sie wahrgenommen werden, indem ein Selbstverständnis entwickelt wird, das die wesentlichen Werteorientierungen der eigenen Organisation klar und deutlich formuliert und damit den Handlungsrahmen definiert, der für alle Akteurinnen und Akteure verbindlich ist. Dadurch kann sich die kulturelle Vielfalt auch innerhalb caritativer und diakonischer Organisationen erhöhen, ohne dass damit die konfessionelle Prägung und christliche religiöse Bindung verloren gehen muss. Damit solche Entwicklung von einer bislang relativ monokulturellen zu einer stärker multikulturell geprägten Ausrichtung gelingen kann, braucht es aber erhebliche Anstrengungen. Es geht hier vor allem um eine intensive Arbeit an der eigenen Identität der Organisation, also um eine systemische Aufgabe. Sie muss von den konfessionellen Trägern selbst geleistet werden und kann nicht
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nur an die Mitarbeitenden und ihre persönlichen Gesinnungen delegiert werden. Damit entsteht allerdings das Problem, wie das Selbstverständnis der jeweiligen diakonischen Organisation für alle dort arbeitenden Menschen transparent werden kann und wie daraus für die Mitarbeitenden verbindliche Kriterien ihres beruflichen Handelns in der Organisation abgeleitet werden können – unabhängig von ihren persönlichen religiösen Bindungen und kulturellen Prägungen. Der „Brüsseler Kreis“, ein von großen Organisationen der Diakonie und Caritas gebildeter Verein, hat dazu folgenden Vorschlag als These formuliert: „Das Unternehmen formuliert dieses Selbstverständnis gegenüber allen Mitarbeitenden und spricht an sie die klare Erwartung aus, sich mit ihrem eigenen Handeln daran zu orientieren. Es akzeptiert dabei explizit nicht nur die verschiedensten persönlichen Überzeugungen der durch das Unternehmen unterstützten Personen, sondern auch der eigenen Mitarbeitenden. Die Mitarbeitenden erkennen umgekehrt bei aller Pluralität der persönlichen Überzeugungen die konfessionelle Bindung des Unternehmens und die dadurch an sie selbst gerichteten Verhaltenserwartungen ausdrücklich und verbindlich an“ (Haas/Starnitzke 2015, S. 23). Es geht deshalb darum, konkrete Instrumente, Methoden und Kommunikationsformen zu entwickeln und zu pflegen, mit denen das Selbstverständnis der Organisation in diesem Sinne gestaltet werden kann. So kann z.B. die gemeinsame Erarbeitung eines entsprechenden Leitbildes sehr hilfreich sein, an dem die Mitarbeiterschaft in möglichst hohem Maße beteiligt ist. Solch ein Leitbild kann dann zu einer konsequent daraus abgeleiteten Gesamtstrategie der Organisation, zu den entsprechenden fachlichen Konzeptionen und einem dieses Selbstverständnis ausdrückenden äußeren Erscheinungsbild (Corporate Design) führen. Die im Leitbild formulierte Identität kann schon für Bewerbungsgespräche mit – auch nichtchristlichen – neuen Mitarbeitenden wichtige Anhaltspunkte liefern, wie sich die jeweilige Organisation versteht, was sie von ihren Mitarbeitenden erwartet und ob sie diesen Erwartungen entsprechen können und wollen. Wenn auf dieser Basis ein Arbeitsverhältnis von beiden Seiten bewusst eingegangen wird, kann das Leitbild im Arbeitsvertrag als Grundlage des Handelns verbindlich benannt werden – bis dahin, dass wesentliche Abweichungen davon als gravierendes Dienstversäumnis bewertet werden können, mit entsprechenden arbeitsrechtlichen Konsequenzen. Um die eigene konfessionelle Identität diakonischer und caritativer Organisationen bei einer zunehmend vielfältiger werdenden Unternehmenskultur nicht zu verlieren, braucht es also eine Fülle spezieller Aktivitäten (zu verschiedenen Beispielen aus der Praxis vgl. Haas/Starnitzke 2019). Diese sicherzustellen ist zunächst einmal Verantwortung der jeweiligen Leitung. Man benötigt dafür innerhalb konfessioneller Einrichtungen klare Konzepte und entsprechend ausgebildete Personen. Unbedingt hilfreich sind in diesem anspruchsvollen Pro-
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zess deshalb Leitende und auch weitere Mitarbeitende, die diesbezüglich besondere Fähigkeiten und Kompetenzen besitzen. Die Gestaltung des kulturellen Wandels diakonischer und caritativer Organisationen erfordert gezielte Investitionen in Personalentwicklung und -bildung. Sie kann nicht zuletzt durch entsprechende interne und externe Aus- und Fortbildungen gefördert werden. Die Weiterentwicklung der Mitarbeitenden muss durch geeignete Fortbildungsangebote von den Organisationen besonders unterstützt werden. Der Erfolg solcher Prozesse in Bezug auf die in diesem Beitrag thematisierten Fragen hängt deshalb auch daran, ob sich caritative und diakonische Träger dazu entschließen können, geeignete Menschen in eigens dafür geschaffenen Funktionen zu beschäftigen, damit sie solche besonderen Kommunikations- und Gestaltungsaufgaben in der eigenen Organisation übernehmen können. 5
Besondere Herausforderungen aufgrund der neueren Europäischen Rechtsprechung
Mit einem Urteil des Europäischen Gerichtshofes vom 17.4.2018 werden die hier dargelegten Überlegungen zu einer ausgewogenen Balance von Öffnung gegenüber Personen aus anderen Religionen bzw. Weltanschauungen und Weiterentwicklung der christlichen Identität in konfessionellen Organisationen auf eine sehr grundsätzliche Ebene gehoben. Im konkreten Falle ist dabei besonders markant, dass eine Bewerberin für eine Stelle des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung (EWDE) wegen religiöser Diskriminierung geklagt hat, wobei die zu besetzende Stelle zur Aufgabe hatte, sich gerade mit Diskriminierungsfragen zu beschäftigen. Für die Stelle war eine nachweisliche Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche bereits in der Ausschreibung gefordert. Darin hieß es: „Die Mitgliedschaft in einer evangelischen oder der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland angehörenden Kirche und die Identifikation mit dem diakonischen Auftrag setzen wir voraus. Bitte geben Sie Ihre Konfession im Lebenslauf an“ (EuGH 2018, Rn 25). Nachdem eine Bewerberin, die keiner der genannten Kirchen angehörte, im Bewerbungsverfahren nicht berücksichtigt wurde, forderte sie eine Entschädigung wegen religiöser Diskriminierung. Der Fall wurde vom Bundesarbeitsgericht wegen seiner sehr grundsätzlichen Bedeutung an den Europäischen Gerichtshof verwiesen. Bei dessen Beurteilung ging es im Kern um Artikel 4, Absatz 2 der europäischen Richtlinie 2000/78, „wonach eine Ungleichbehandlung wegen der Religion oder Weltanschauung einer Person keine Diskriminierung darstellt, wenn die Religion oder die Weltanschauung dieser Person nach der Art dieser Tätigkeiten oder den Umständen ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation
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darstellt“ (EuGH 2018, Rn 6). Das beklagte EWDE bezog sich in dem Rechtsstreit zusätzlich auf das kirchliche Selbstbestimmungsrecht gemäß Artikel 140 des deutschen Grundgesetzes, demzufolge eine Ungleichbehandlung von Bewerberinnen und Bewerbern auch dem deutschen Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) nicht widerspreche: „Das Evangelische Werk trug vor, eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion sei in diesem Fall nach § 9 Abs. 1 AGG gerechtfertigt. Das Recht, die Zugehörigkeit zu einer christlichen Kirche zu verlangen, sei Ausfluss des durch Art. 140 GG […] geschützten kirchlichen Selbstbestimmungsrechts“ (EuGH 2018, Rn 28).
Der EuGH hat entschieden, dass eine Überprüfung der Frage der Diskriminierung durch staatliche Gerichte in solchen streitigen Fällen grundsätzlich möglich sein muss und nicht einfach den Kirchen überlassen werden kann. Hierbei gilt es, zwischen Diskriminierungsverbot und kirchlichem Selbstbestimmungsrecht jeweils im konkreten Einzelfall abzuwägen. Mit dieser Vorgabe hat er den konkreten Fall an das Bundesarbeitsgericht zurückgegeben. Das Bundesarbeitsgericht hat der Klägerin mit Urteil vom 25.10.2018 Recht gegeben. In Bezug auf die hier genannten Argumente ist nun die Frage, wie man feststellt, dass in Bezug auf eine Anstellung in Kirche und Diakonie „eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des Ethos der Organisation“ durch eine Person erfüllt oder nicht erfüllt werden kann. Das formale Kriterium der Kirchenzugehörigkeit dürfte dafür kein hinreichendes Entscheidungskriterium sein – und auch keine Gewähr. Vielmehr muss es darum gehen, dass nach der Art ihrer Tätigkeiten und den Umständen ihrer Ausübung eine inhaltliche Übereinstimmung und Loyalität der Mitarbeitenden mit dem Selbstverständnis der konfessionell geprägten Organisation und ihrem daraus abgeleiteten Ethos vorhanden sein muss. Diese Frage könnte gerade bei einer Bewerbung im Bewerbungsverfahren geklärt werden, was eine intensive inhaltliche und nicht nur rein formale Befassung mit potentiellen Mitarbeitenden erfordern würde. Entsprechende Entwicklungen lassen sich auch im Raum der katholischen Kirche beobachten (Reichold 2017). Die aktuellen Entwicklungen gerade im Rahmen der europäischen Rechtsprechung zeigen, dass zum Thema der religiösen Bindungen und konfessionellen Prägungen caritativer und diakonischer Organisationen und ihrer Mitarbeitenden eine erhebliche Dynamik zu beobachten ist, in der sicherlich auch in nächster Zeit die entsprechenden grundlegenden kirchlichen Bestimmungen zu bearbeiten und zu verändern sind. Von katholischer Seite wären hier z.B. solche Fälle zu benennen, in denen im Hinblick auf die oben genannten Fragen der „Sittenlehre“, etwa den „kirchenrechtlich unzulässigen Abschluss einer Zivilehe“ (Grundordnung, Artikel 5, Abs. 2,c), Kündigungen ausgesprochen werden.
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Literatur Evangelische Kirche in Deutschland [EKD] – Kirchenamt (Hg.) (2016): Richtlinie des Rates der EKD über kirchliche Anforderungen der beruflichen Mitarbeit in der Evangelischen Kirche in Deutschland und ihrer Diakonie, vom 9. Dezember 2016, in: Amtsblatt der EKD, 2017 (1), S. 11f. https://www. kirchenrecht-ekd.de/kabl/36975.pdf#page=11 (Zugriff am 28.02.2021). Gerichtshof der Europäischen Union. Urteil des Gerichtshofs (Große Kammer) vom 17. April 2018 in der Rechtssache C-414/16 betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Bundesarbeitsgericht (Deutschland) mit Entscheidung vom 17. März 2016, beim Gerichtshof eingegangen am 27. Juli 2016, in dem Verfahren Vera Egenberger gegen Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e. V. http://curia. europa.eu/juris/document/document.jsf?text=&docid=201148&pageIndex= 0&doclang=DE&mode=lst&dir=&occ=first&part=1&cid=1862599 (Zugriff am 28.02.2021). Haas, H.-S./Starnitzke, D. (Hg.) (2015): Diversität und Identität. Konfessionsbindung und Überzeugungspluralismus in caritativen und diakonischen Unternehmen. (Diakonie. Bildung – Gestaltung – Organisation 14). Stuttgart. Haas, H.-S./Starnitzke, D. (2019): Gelebte Identität. Zur Praxis von Unternehmen in Caritas und Diakonie. (Diakonie. Bildung – Gestaltung – Organisation 19). Stuttgart. Landesregierung Nordrhein-Westfalen u. a. (2014): Wohn- und Teilhabegesetz (WTG) vom 2. Oktober 2014 (Artikel 2 des Gesetzes zur Entwicklung und Stärkung einer demographiefesten, teilhabeorientierten Infrastruktur und zur Weiterentwicklung und Sicherung der Qualität von Wohn- und Betreuungsangeboten für ältere Menschen, Menschen mit Behinderungen und ihre Angehörigen (GEPA NRW) vom 2.10.2014. https://recht.nrw.de/lmi/owa/ br_text_anzeigen?v_id=10000000000000000678 (Zugriff am 28.02.2021). Reichold, H. (Hg.) (2017): Führungskultur und Arbeitsrecht in kirchlichen Einrichtungen. Von der Personen- zur Institutionenorientierung der Grundordnung. Regensburg. Moos, T. (Hg.) (2018): Diakonische Kultur. Begriff, Forschungsperspektiven, Praxis. (Diakonie. Bildung – Gestaltung – Organisation 16). Stuttgart. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.) (2011): Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse. (Die deutschen Bischöfe, 95A). Bonn. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.) (2015): Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse 27. April 2015 (4., völlig überarb. Neuaufl.). (Die deutschen Bischöfe, 95A). Bonn. https://www.dbk-shop.de/media/files_public/00feb131aad0854e33b50f8 1f24cbe7d /DBK_1195000.pdf (Zugriff: 28.02.2021). Starnitzke, D. (2011): Diakonie in biblischer Orientierung. Biblische Grundlagen – Ethische Konkretionen – Diakonisches Leitungshandeln. Stuttgart.
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Schwesternschaften, Diakonissen und die „weibliche Diakonie“
Auch im evangelischen Raum reagierten Frauen und Frauengemeinschaften auf die geistigen, geistlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen, die mit Aufklärung und Industrialisierung verbunden waren. Ein markantes Beispiel ist Amalie Sieveking, der es darum ging, dem Dasein der alleinstehenden Frau einen Sinn zu geben (Philippi 1966). „Dass ich zu denen gehöre, die durch Entsagung für den Himmel gebildet werden sollen“, schreibt Sieveking 1822, „erscheint mir immer klarer und gewisser, wenn anders Entsagung genannt werden kann, wofür ein so reicher Einsatz geboten wird“. (zit. nach Philippi 1966, S. 75) „Ich glaube immer deutlicher zu fühlen, dass ich nach meiner ganzen Individualität nicht hineinpasse in jenes Heiligtum [der Ehe]“ (zit. nach Philippi 1966, S. 75). Sie wollte Christus in der Welt dienen und sich dabei mit anderen zusammenzuschließen. Eine klösterliche Gemeinschaft – etwa nach dem Vorbild der Barmherzigen Schwestern (Melwes 2015) – hielt sie aber nicht für nötig. Ihre erste Gemeinschaftsregel sah keine lebenslangen Gelübde vor; aus der Schwesterngemeinschaft konnte man jederzeit wieder austreten und dabei auch den eigenen Besitz mitnehmen. Bildung und Ausbildung hatten von Anfang an einen hohen Stellenwert. Der Diakoniewissenschaftler Paul Philippi, der in Sievekings Schwesternschaft eine Vorstufe des modernen Diakonissenamts sah, verstand Verbindlichkeit und Rituale dieser christlichen Gemeinschaft als „Schutzhülle“ einer Genossenschaft freier und gebildeter, berufstätiger Frauen – als Ring nach innen, der für die Begegnung mit der Außenwelt stärken sollte (Philippi 1966, S. 82). Angesichts wachsender sozialer Probleme kam es mit Beginn der Industrialisierung an vielen Stellen zur Gründung neuer diakonischer Gemeinschaften – Johann Hinrich Wichern, Theodor und Friederike Fliedner, Wilhelm Löhe und vielen anderen ging es dabei nicht zuletzt um die Erneuerung des neutestamentlichen Diakonats (Reiniger 1999) mit Armen-, Kranken-, und Gefangenenfürsorge, Erziehungs- und Ausbildungshilfen – als Antwort von Christin-
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nen und Christen auf die Zeichen der Zeit (Coenen-Marx 2013). Insbesondere Theodor Fliedner und Wilhelm Löhe knüpften nun explizit an Ordenstraditionen an. So nahm Fliedner die apostolischen Räte in die Grundordnung der 1836 gegründeten Kaiserswerther Diakonissengemeinschaft auf. Solange die Schwestern der Gemeinschaft angehörten, lebten sie zölibatär – allerdings waren Austritt und Heirat nicht ungewöhnlich; nicht wenige spätere Pfarrfrauen gingen aus der Schwesternschaft hervor. Sie erhielten Kost, Logis und ein Taschengeld und sollten der Mutterhausleitung gegenüber gehorsam sein. Vor diesem Hintergrund ist in der Rezeption von einem „evangelischen Orden“ die Rede. Wie bei den katholischen caritativen Kongregationen wuchsen die Diakonissenhäuser in der Restaurationszeit über die Gründerzeit bis in die Weimarer Republik. Auf dem Höhepunkt der Bewegung 1930 wurden 30.000 Diakonissen in achtzig Häusern in ganz Deutschland und im europäischen Ausland gezählt. Aber auch im Nahen Osten und in den USA gründeten die Mutterhäuser Schulen und Ausbildungsstätten, Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen und organisierten die Gemeindepflege (Schmidt 1994). Seit Beginn der Weimarer Republik war es allerdings zu einer wachsenden Ausdifferenzierung der Erziehungs-, Gesundheits-, und Sozialberufe gekommen, die schließlich in den 1970er Jahren zur Entwicklung von Pflegestudiengängen führten. Aus den generalistisch ausgebildeten Schwestern der Gründerjahre, die zugleich Quartiersmanagerin und Sozialarbeiterin, Pflegekraft und Seelsorgerin waren und in ihrem Dienst Kirche wie Diakonie repräsentierten, wurden im Laufe des 20. Jahrhunderts Pflegefachkräfte und Erzieherinnen, die in das staatliche Gesundheits- oder Sozialsystem eingebunden und teilweise daraus finanziert wurden. Die Emanzipation der Pflege- und Erziehungsberufe aus patriarchal geprägten kirchlichen Strukturen kam aber erst zögernd in Gang. Seit der Gründung des Zehlendorfer Diakonievereins durch Friedrich Zimmer 1894 hatte es auch innerdiakonisch Kritik am ordensähnlichen Aufbau der Mutterhäuser mit Entsendungsprinzip, Taschengeld und Versorgungsordnung gegeben. „Das Mutterhaus vertritt das Autoritätsprinzip, die mutterhauslose Schwesternschaft das genossenschaftliche, demokratische Prinzip. Dort Fürsorge, hier Selbsthilfe und Selbsterziehung“ (Zimmer 1904). Doch konnte man sich in der Wilhelminischen Ära eine genossenschaftliche Form weiblicher Krankenpflege in der Kirche noch schwer vorstellen. „Eine Schwesternschaft ohne Mutterhaus“, schreibt Zimmer, „das ist von den Vertretern und Freunden der Mutterhäuser wie von einem großen Teil der Geistlichen als etwas Undurchführbares angesehen worden. Aber gerade, dass es den Beifall derjenigen gefunden hat, auf die es doch in erster Linie ankommt, nämlich den zur Krankenpflege sich wendenden Frauen selbst, [...] hat dem Ev. Diakonieverein die große Zahl seiner Schülerinnen und Schwestern zugeführt“ (Zimmer, 1904, S. 32).
Nach Gesprächen mit den Vorstehern der Mutterhäuser u. a. in Kaiserswerth und Bethel entschied sich Zimmer, mit städtischen Kliniken zusammenzuar-
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beiten (Zimmer 1904, S. 32). Nicht auf eigene Einrichtungen kam es ihm an, sondern – ganz im Sinne Amalie Sievekings – auf „die Erziehung der weiblichen Jugend zu Persönlichkeiten mit Eigenbesitz, Selbständigkeit und Gemeinsinn“ (Zimmer 1919, S. 13). „Die Freiheit der eigenen Wahl ist für den erwachsenen Menschen doch von erheblichem Wert“ (Zimmer 1919, S. 25). Folgerichtig entwickelten die Zehlendorfer Schwesterngemeinschaften eigene fachliche Curricula und eine eigene Tarifordnung. Diakonissengemeinschaften haben sich erst in den 1960er Jahren für „Tarifangestellte“ geöffnet – in den meisten Häusern des Kaiserswerther Verbands ist es heute nicht mehr möglich, lediglich für ein „Taschengeld“ zu arbeiten, ohne die eigene Rente sichern zu können. In vielen Gemeinschaften legten die Schwestern die Tracht ab und ersetzten sie durch Symbole wie Schals oder Kettenanhänger. Seit Beginn der 2000er Jahre wurde zudem eine Reihe von Gemeinschaften auch für verheiratete Frauen geöffnet. Ähnlich wie im katholischen Kontext war es mit dem Ende der Nachkriegszeit zu einem sich beschleunigenden Rückgang der Schwesternzahlen gekommen; der Generationenvertrag konnte nicht mehr eingehalten werden. Neben verpassten Reformen spielten dabei gesellschaftliche Umbrüche wie Individualisierung, Veränderung der Geschlechterrollen und Entinstitutionalisierung eine entscheidende Rolle. Im Rückblick betrachtet haben die Unsicherheiten und Versorgungsprobleme der beiden Weltkriege und der ideologische Druck des Nationalsozialismus sowie die erste Phase des Wiederaufbaus den Gemeinschaften zunächst ein „Überleben“ gesichert. Das galt paradoxerweise auch für die Zehlendorfer Schwesternschaft, die sich während des Nationalsozialismus eine Mutterhaus-ähnliche Struktur gab, um – wie die Häuser des Kaiserswerther Verbandes – analog zu den katholischen Orden den Schutz des Konkordats vor staatlichen Eingriffen zu genießen. 2
Diakone, Diakoninnen und die Entwicklung der Arbeitsfelder
Die „männliche“ Erziehungs- und „Fürsorge“-Diakonie der Brüderhäuser in der Tradition Johann Hinrich Wicherns war traditionell durch andere Arbeitsfelder und Berufsgruppen geprägt als die „Mutterhausdiakonie“ mit ihren Pflegeeinrichtungen und -schulen. In den (sozial-)pädagogisch ausgerichteten Diakonengemeinschaften entstanden Einrichtungen der Erziehungs- und Berufshilfe, Hilfen für Obdachlose und Strafentlassene und die entsprechenden diakonischen Ausbildungsstätten. Seit der deutschen Einheit, der Entwicklung eines europäischen Sozialrechts, der Privatisierung vieler Arbeitsbereiche und einem wachsenden ökonomischen Druck auf dem Sozial- und Pflegemarkt kommt es aber immer häufiger zu Fusionen unterschiedlich geprägter diakonischer Träger, die in der Folge zum Teil auch zum Zusammenschluss der Gemeinschaften führen.
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Tatsächlich lassen sich die traditionellen Unterschiede im Berufs-, Dienst- und Amtsverständnis von Diakon und Diakonisse nicht von der Geschlechterfrage trennen. Das galt (und gilt) nicht nur für die Arbeitsfelder, sondern auch für den Umgang mit Ehe und Ehelosigkeit, Entgelt, Ausbildung und Einsegnung. Während die „Schwestern“ als Teil der „Mutterhausfamilie“ ehelos bleiben sollten, waren Heirat und Familiengründung für Diakone selbstverständlich und entsprechende Lehrgänge für Diakonenfrauen verpflichtend. In einigen Kirchen waren und sind Diakone Kirchenbeamte. Zu der von Theodor Fliedner angestoßenen Professionalisierung der „Frauenberufe“ in Pflege und Erziehung gehörte zwar von Anfang an eine biblisch-theologische Qualifikation; sie blieb jedoch in ihrem Anspruch hinter dem an die Diakone zurück. Auch die Einsegnung der Diakonissen wurde – anders als bei den Diakonen – nicht in allen Landeskirchen als Einsegnung in ein kirchliches Amt verstanden. Und während heute die Zugehörigkeit zu einer Diakon:innengemeinschaft fakultativ ist, blieb die Zugehörigkeit zur Schwesternschaft konstitutiv für das Selbstverständnis. Seit der Öffnung der Diakonenausbildung für Frauen in den 1960er Jahren sind Beruf und Dienst der Diakonin für Frauen attraktiver als der Eintritt in eine Schwesternschaft. Heute bieten nur noch wenige Mutterhäuser wie Witten oder Bethel eine Diakonissenausbildung mit eigenem Abschluss an, der sich dann oft bei der Diakon:innenausbildung anrechnen lässt. Vielen, die sich in „Diakonischen Gemeinschaften“ zusammenschließen, fehlt eine theologische Qualifikation. Angesichts der Herausforderung, auf dem vielfältigen Pflegeund Sozialmarkt ein eigenes diakonisches Profil zu bilden, bieten stattdessen immer mehr Häuser kurze Diakonatskurse für alle (interessierten oder leitenden) Mitarbeitenden an. Neben diakonischen Bildungsangeboten und spirituellen Orten braucht es dazu, wie Untersuchungen zeigen, glaubwürdige „Ankerpersonen“ (IDM 2019). Hier kann die Tradition der Schwestern- und Bruderschaften Anknüpfungspunkte bieten. 3
Beruf, Amt und Gemeinschaft
Bis heute ist es nicht gelungen, die diakonischen Berufe in Pflege, Erziehung und (Sozial-)Pädagogik im Sinne eines geordneten, diakonischen Amtes auf allen Ebenen von Kirche und Diakonie zu etablieren, wie es Johann Hinrich Wichern 1856 in seinem Gutachten über die Diakonie und den Diakonat gefordert hatte. Diakon:innen werden sowohl an kirchlichen Fachhochschulen oder Fachschulen als auch in den Ausbildungsstätten der Brüder- und Schwesternschaften ausgebildet. Kirchlicher Auftrag, Gemeinschaftszugehörigkeit und Einsegnung sind allenfalls in gliedkirchlichen Diakonengesetzen geregelt. Dabei gibt es erhebliche Unterschiede im Blick auf Ausbildungsniveau, Einsatzorte, Einsegnung und Ordination. Insbesondere in manchen lutherischen Kirchen sind Diakoninnen vor allem in Kirchengemeinden eingesetzt (Noller/Eidt/ Schmidt 2013) Zwar hat die EKD 2014 mit der Schrift zu diakonisch-gemein-
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depädagogischen Ausbildungs- und Berufsprofilen einen Rahmen zur Modularisierung und standardisierten Zertifizierung der vielfältigen diakonischen und gemeindepädagogischen Berufsprofile geschaffen (Kirchenamt 2014). Doch fehlen trotz des Votums der Theologischen Kammer der EKD über den „Diakonat als geordnetes Amt der Kirche“ (1996) bis heute gemeinsame Regelungen im Blick auf das Amt und die damit verbundenen Fragen von Einsegnung oder Ordination (Kirchenamt 1996). Das Verständnis des Diakonats (gestuftes oder gefächertes Amt, Ordination oder Einsegnung) wird nicht nur ökumenisch, sondern auch inner-protestantisch sehr unterschiedlich diskutiert. Dabei zeigt der Vergleich mit lutherischen Kirchen in den skandinavischen Ländern oder in Lateinamerika, dass die Gemeinschaftstraditionen in dem Maße an Bedeutung verlieren, wie die verschiedenen diakonischen Berufe (Diakon, Diakonin, Diakonisse) in einem diakonischen Amt der Kirche aufgehen, das die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft nicht mehr unbedingt voraussetzt (McKnee/Ahonen 1996). Unabhängig davon bilden sich in den letzten Jahrzehnten diakonische Basisgemeinschaften wie z.B. die Basisgemeinschaft Wolfshagener Hütte oder die Gemeinschaft „Brot und Rosen“ als Lebensgemeinschaften von Familien und Einzelnen. Literatur Coenen-Marx, C. (2013): Die Seele des Sozialen. Neukirchen-Vluyn. IDM Wuppertal-Bethel (2019): Merkmale diakonischer Unternehmenskultur in einer pluralen Gesellschaft. http://www.diakoniewissenschaft-idm.de/ forschung/projekte/prof-dr-beate-hofmann/forschungsprojektunternehmenskultur (Zugriff am 04.05.2021). Kirchenamt der EKD (1996): Diakonat als geordnetes Amt der Kirche. Gütersloh. Kirchenamt der EKD (2014): Perspektiven für diakonisch-gemeindepädagogische Ausbildungs- und Berufsprofile. Gütersloh. McKee, E./Ahonen, R. (1996): Erneuerung des Diakonats als ökumenische Aufgabe. Hg. u. eingel. v. T. Strohm (Diakoniewissenschaftliche Studien 7). Heidelberg. Melwes, R. (2015): Frauen in Bewegung. In: C. Stegemann (Hg.): Caritas. Nächstenliebe von der frühen Christenheit bis zur Gegenwart. Ausstellungskatalog (S. 316–323). Petersberg. Noller, A./Eidt, E./Schmidt, H. (2013): Diakonat – theologische und sozialwissenschaftliche Perspektiven auf ein Amt. Stuttgart. Philippi, P. (1966): Die Vorstufen des modernen Diakonissenamtes, 1789– 1848. Eine motivgeschichtliche Untersuchung. Neukirchen-Vluyn. Reiniger, D. (1999): Diakonat der Frauen in der Einen Kirche. Ostfildern. Schmidt, J. (1994): Beruf Schwester. Mutterhausdiakonie im 19. Jahrhundert (Geschichte und Geschlechter 24). Frankfurt a.M. Zimmer, F. (1904): Nach zehn Jahren. Zehlendorf. Zimmer, F. (1919): Nach 25 Jahren. Zehlendorf.
19 Sozial-karitative Orden Michael Fischer
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Eine einmalige Blütezeit
Die umstürzenden sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen des 19. Jahrhunderts führten zur größten Gründungswelle der gesamten Ordensgeschichte. Dieser Umstand wird gerne als der Ordensfrühling des 19. Jahrhundert bezeichnet. Um der vielfachen Not in dieser Zeit zu begegnen, entstanden insbesondere weibliche Kongregationen mit einem sozial-karitativen und erzieherischen Apostolat. Mit diesem Engagement wurden die neu gegründeten Kongregationen zu wichtigen Trägerinnen des weiblich-kirchlichen Ansehens. Sie bekamen Zugang zu Bildung und zu einer gesellschaftlich geschätzten Tätigkeit. Diese neu gewonnene Anerkennung ist deshalb von großer Bedeutung, weil im Rahmen der zuvor stattgefundenen Aufklärung das Mönchstum radikal in Frage gestellt wurde. In einer Zeitschrift aus dem Jahr 1783 wurden beispielsweise die Orden als ein Stand bezeichnet, „der weder lehret noch nähret, noch wehret, sondern nur zehret“ (zit. n. Wolf 2007, S. 161). Insbesondere die Frauenordnen erlebten einen enormen Aufschwung. Dabei wurden oftmals kleinere Ordenskonvente in sogenannte Kongregationen umgewandelt. Beispiele hierfür sind die in der Krankenpflege tätigen Cellitinnen und Elisabethinen. Aber auch zahlreiche neu gegründete Frauengemeinschaften lebten nach der Drittordensregel der Vinzentinerinnen oder der Franziskanerinnen. Ein Beispiel sind die Mauritzer Franziskanerinnen. Die erste deutsche Kongregation nach der Säkularisation waren die Clemensschwestern. Sie wurden bereits im Jahre 1808 in Münster gegründet. Neben den zahlreichen Pflegegemeinschaften gab es auch Konvente, die sich dem Schuldienst widmeten. Dazu zählten unter anderen die Ursulinen oder Augustinerchorfrauen, die der Auflösungswelle von Orden während der Säkularisation im beginnenden 19. Jahrhundert entgangen waren, oder auch Neugründungen wie die Armen Schulschwestern (Wolf 2007).
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M. Fischer
Die enorme Dynamik des Ordensfrühlings wurde ein erstes Mal durch den Kulturkampf, dem Konflikt zwischen dem preußischen Staat und der katholischen Kirche in den 1870er Jahren, abrupt ausgebremst. Als der Kulturkampf im Jahr 1878 beendet und schließlich 1887 diplomatisch beigelegt wurde, setzte sich das Wachstum der sozial-karitativen Ordensgemeinschaften ungehindert bis in die Vierzigerjahre des 20. Jahrhunderts fort. Im Jahr 1940 verzeichneten die Statistiken ungefähr 100.000 caritativ tätige Ordensfrauen in Deutschland, die in knapp 800 Niederlassungen dieser Gemeinschaften arbeiteten (Berg 2015). Eine Reduzierung der Mitgliederzahlen in diesen Gemeinschaften setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein. In den Sechzigerjahren des 20. Jahrhunderts erlebten diese Gemeinschaften aufgrund innerkirchlicher Reformprozesse durch das Zweite Vatikanische Konzil noch einmal einen massiven Einbruch. Zudem sank die Notwendigkeit, Frauen wirtschaftlich und persönlich versorgt zu wissen. Die Attraktivität des Ordenslebens ging zurück und es verlor an gesellschaftlichem Prestige. Das Verständnis für diese Lebensform und deren Glaubwürdigkeit ist vielfach verschwunden. Die Anzahl der karitativ tätigen Ordensfrauen geht bis heute kontinuierlich zurück. Im Jahr 2019 lebten in Deutschland noch ungefähr 13.500 Frauen in sozial-karitativ tätigen Gemeinschaften, von denen fast die Hälfte aufgrund ihres Alters nicht mehr berufstätig ist (Deutsche Ordenskonferenz). Diese Entwicklung spiegelt sich zudem in den Mitgliedszahlen des Deutschen Caritasverbands wider. Während dort in den Sechzigern noch rund 60 Prozent der Hauptamtlichen Ordensleute waren, sind es heute unter 0,3 Prozent (Berg 2015). Viele dieser damals gegründeten Gemeinschaften haben ihr soziales Engagement stark reduziert oder sind nicht mehr in ihren ursprünglichen Aufgabenfeldern tätig. Längst ist ihr Alltag von anderen Herausforderungen geprägt: die Übergabe ihrer Werke in zumeist weltliche Hände, die Auflösung zahlreicher Konvente, die Überalterung der Gemeinschaften und die damit verbundene Sorge um die alten Schwestern und Brüder und deren Pflege. Manche dieser Gemeinschaften stehen kurz vor ihrer Auflösung. Aus heutiger Perspektive scheint die Blütezeit der caritativen Ordensgemeinschaften eine Ausnahmezeit gewesen zu sein (Berg 2015). 2
Beispiel der Mauritzer Franziskanerinnen
Zahlreiche sozial-karitativ tätige Ordensgemeinschaften verdanken ihre Gründung engagierten und visionären Ordensleuten oder Weltpriestern. Der Gründer der Mauritzer Franziskanerinnen, der Franziskanerpater Christoph Bernsmeyer, bemühte sich um den Aufbau eines Krankenhauses und um die Gründung einer Schwesternkongregation. Im Jahr 1844 nahm Pater Bernsmeyer vier junge Frauen in seine Gemeinschaft auf. Seit diesem Datum existiert die Kongregation der Krankenschwestern vom Regulierten Dritten Orden des hl.
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Sozial-karitative Orden
Franziskus (Mauritzer Franziskanerinnen). Schon im Jahr 1845 pflegten die ersten Schwestern vornehmlich Kranke und Arme (Fischer 2012). Die nun beginnende Phase steht unter dem Vorzeichen eines weltweiten barmherzigen Dienstes und des Aufbaus entsprechender Werke. Die weltweite Expansion der Anzahl der Schwestern ist in Abbildung 1 verdeutlicht. 4000
3532
3506
Anzahl
3000 2169
2000
1589 1085
1000 0
1017
150 1847
1901
1931
1961
1981
1997
2010
Jahr Abbildung 1: Anzahl der Mauritzer Franziskanerinnen (Fischer 2019, S. 41)
Wie sich dem Schaubild entnehmen lässt, ist die Schwesterngemeinschaft bis Anfang der Dreißigerjahre des letzten Jahrhunderts gewachsen. In ihrer Blütezeit gehörten dem Orden ungefähr 3500 Schwestern an. Etwa 30 Jahre lang blieb die Anzahl der Schwestern konstant auf diesem Niveau. Seit 1962 wird die Anzahl stetig geringer (Fischer 2012). Für die Mauritzer Franziskanerinnen gilt in gleicher Weise, dass die Gemeinschaft ihr bisheriges Lebenswerk nicht uneingeschränkt weiterführen kann. Die demographischen Daten zeigen die Notwendigkeit einer Neuorientierung der Ordensgemeinschaft. Hierbei geht es einmal um die Frage, was die Ordensgemeinschaft mit ihren ordenseigenen Krankenhäusern machen soll. Zum anderen bedarf es der grundsätzlichen Überlegung, welchen Einfluss diese Entwicklung auf das Selbstverständnis und den Sendungsauftrag der Ordensgemeinschaft haben wird. Die Ordensgemeinschaft der Mauritzer Franziskanerinnen hat sich seit den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts intensiv mit der Frage nach ihrer Zukunft beschäftigt. In dieser Zeit deutete sich bereits eine Erweiterung des Selbstverständnisses der Ordensgemeinschaft an. Die Schwestern betonen, dass ihr berufliches Apostolat vom heilenden Dienst an den Kranken auch in der Zeit der staatlich organisierten Krankenpflege seine Bedeutung behält. Zugleich aber weisen sie darauf hin, dass der Auftrag für den heilenden Dienst über ihr berufliches Apostolat hinausreicht. So heißt es im Schlussdokument des Generalkapitels von 1994: „Wir wollen den heilenden Dienst Jesu bezeu-
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M. Fischer
gen durch unser Mitsein und Mitfühlen mit den Menschen, denen wir täglich begegnen“ (Generalat 1994, o. S.). Der heilende Dienst der Schwestern bezieht sich demnach sowohl auf kranke Menschen als auch auf Obdachlose, materiell arme, alte und behinderte Menschen, die in der heutigen Gesellschaft der besonderen Fürsorge bedürfen. Diese Weiterentwicklung des Selbstverständnisses der Mauritzer Franziskanerinnen war die notwendige Voraussetzung dafür, neue Möglichkeiten für die Weiterführung ihrer Werke zu finden. Im Jahr 2004 übergaben sie ihre Krankenhäuser in die dafür gegründete St. FranziskusStiftung Münster.
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Übergabe der ordenseigenen Werke
Die Übergabe der ordenseigenen Werke markiert einen tiefen Einschnitt in das Selbstverständnis des Ordens, weil die Schwestern einen wesentlichen Teil ihres bis dahin gelebten Aufgaben- und Lebenswerks aufgaben. Die damalige Generaloberin der Franziskanerinnen, Schwester Mary Ann Minor, drückte dies in ihrer Ansprache anlässlich der Feier zur Übergabe der ordenseigenen Krankenhäuser in die St. Franziskus-Stiftung deutlich aus: „Dieses Ereignis ist wirklich ein schmerzvolles für uns Schwestern, aber gleichzeitig ist es auch eine Zeit, um über eine neue Vision für unsere Zukunft nachzudenken [...]. Wir selber lebten sehr arm und waren Tag und Nacht verfügbar für jene, die unseren Dienst brauchten. Wir waren sehr glücklich und verbreiteten unsere Freude bei allen, mit denen wir zusammentrafen. Wir gaben bereitwillig unser ganzes Leben für die Menschen und wurden immer wieder gestärkt durch unser Gebet und die heilige Eucharistie [...] Wir alle fanden unsere größte Zufriedenheit und Erfüllung darin, dass wir Christi heilende Hände für die Geringsten der Brüder und Schwestern sein durften [...]. Diejenigen von Ihnen, die nun die Verantwortung übernommen haben für die Fortsetzung des Apostolates der Schwestern in unseren Hospitälern, haben ein sehr, sehr wertvolles Erbe erhalten. Ihnen ist viel mehr anvertraut worden, als nur Land, Gebäude und Geld. In Ihre Hände gelegt sind die Tradition von 160 Jahren hingegebenen Dienstes an den Kranken, 160 Jahre persönliches Opfer und 160 Jahre vom Gebet getragenes Engagement. Ihnen ist die Geschichte und das geistliche Vermächtnis, das in den Herzen und im Geist der Schwestern lebendig ist, anvertraut“ (zit. n. Fischer 2019, S. 52).
Mit der Übergabe der Werke in eine Stiftung beginnt für die Schwesternkongregation in Deutschland ein neues Kapitel. Noch sind heute viele Fragen offen: Wie geht es weiter mit der Ordensgemeinschaft? Wie kann das Zusammenleben einer Kommunität gelingen? Was verbindet Ordensleute untereinander, wenn die gemeinsame Arbeit nicht mehr ist? Warum sollen junge Christen in alte Orden eintreten? Inwiefern und wofür soll Ordensleben ein Zeugnis sein (Kiechle 2004)? Bei all diesen Fragen geht es um die theologisch fundamentale Orts- und Sinnbestimmung des Ordenslebens in der Kirche und in der Welt von heute.
Sozial-karitative Orden
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Literatur Berg, P. (2015): Eine Liebesgeschichte caritativer Orden und ihre Perspektiven. Neue Caritas, 1–12. https://www.caritas.de/neue-caritas/heftarchiv/ jahrgang2015/artikel/eine-liebesgeschichte-caritative-orden-und-ihre-pers pektiven (Zugriff am 19.02.2021). Deutsche Ordenskonferenz (2021): Statistische Daten Frauenorden. https://www.orden.de/presseraum/zahlen-fakten/statistik-frauenorden/ (Zugriff am 10.02.2021). Fischer, M. (2012): Barmherzigkeit provoziert. Vom heilenden Dienst zum kirchlichen Dienstleistungsunternehmen (2. Aufl.). Rheinbach. Fischer, M. (2019): Das konfessionelle Krankenhaus. Begründung und Gestaltung aus einer theologischen und unternehmerischen Perspektive (4. Aufl.). Münster. Generalat der Kongregation der Krankenschwestern vom Regulierten Dritten Orden des hl. Franziskus (1994): Schlussdokument zum Generalkapitel. Münster. Kiechle, S. (2004): Vom Ich zum Wir und vom Tun zum Leben. Ordenstheologie im Prozess. Ordenskorrespondenz, 45, S. 286–290. Wolf, H. (2007): Katholische Kirchengeschichte im „langen“ 19. Jahrhundert von 1789 bis 1918. In: T. Bremer/J.-Chr. Kaiser/K. Nowak/J. Pilvousek/H. Wolf (Hg.): Ökumenische Kirchengeschichte. Bd. 3 (S. 91–177). Darmstadt.
Diakonie, Verkündigung und Bildung
20 Spiritualität und Sorge Cornelia Coenen-Marx und Beate Hofmann
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Der Begriff „Spiritualität“ – ein Container?
Noch vor zehn oder fünfzehn Jahren hätten wir vielleicht an dieser Stelle einen Artikel über geistliches Leben und Fürsorge geschrieben. Aber die Begriffe haben sich gründlich gewandelt. Das hat vielerlei Gründe, vor allem solche, die mit einem neuen genderperspektivischen und ökumenischen Blick auf diese Fragen zu tun haben. Im Folgenden sollen die hier verwendeten Begriffe Spiritualität (1–2) und Sorge (3) geklärt und in den Zusammenhang der gesellschaftlichen und kirchlich-diakonischen Entwicklung gestellt werden. Dabei geht es zugleich um das Beziehungsgeflecht zwischen Spiritualität und Sorge. Der Begriff Spiritualität ist über die Ökumene erst in den 1970er Jahren in die deutsche Theologie eingewandert. Er wird sehr verschieden gefüllt: Christliche Spiritualität steht neben esoterischer, buddhistischer oder jüdischer Spiritualität. Der Begriff ist offener, moderner und inhaltlich nicht so festgelegt wie „Frömmigkeit“. Er wird im Kontext von Körperarbeit oder in der ökologischen Bewegung durchaus auch jenseits explizit religiöser Bezüge genutzt und bezeichnet dann Kraftquellen mit sakralem Charakter. Spiritualität hat viele Gesichter – präziser spricht man besser von Spiritualitäten. Die Begriffswurzel, das lateinische „spiritualis“, ist die Übersetzung des neutestamentlichen Begriffs „pneumatikos“. Diese Übersetzung ist seit ca. 200 n. Chr. dokumentiert und meint die christliche Lebensgestaltung – Leben in und aus der Kraft des Geistes Gottes (Barth 1993). Hierbei gibt es zwei Traditionslinien, einen weiten Spiritualitätsbegriff und einen engen. Der weite, aus der angelsächsischen Tradition stammende Begriff meint die Verbundenheit mit etwas Heiligem, die Bezogenheit auf ein größeres Ganzes. Aus religionswissenschaftlicher Sicht zählt Spiritualität zu einer anthropologischen Grundfunktion. Demnach gehört eine heilvolle und identitätsstiftende Bezogenheit auf eine letzte Wirklichkeit zum Menschsein dazu. Seit
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1995 bezieht auch die WHO Spiritualität als einen Faktor für gesundheitsbezogene Lebensqualität in ihre Arbeit mit ein (WHO 1995: The world health report). Nach der WHO ist Spiritualität für jeden Menschen relevant, weil alle sich spätestens angesichts des Todes existenziellen Fragen stellen müssen und Erfahrungen im Umgang damit machen. Spiritualität wird als die Reflexion der Erfahrungen verstanden, die im Umgang mit existenziellen Fragen gemacht werden. Auf diesen Hintergrund haben auch die Krankenkassen die spirituelle Dimension bei der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) in die Refinanzierung einbezogen. Die enge Begriffsfassung stammt aus der französischen Theologie, die im Bereich der Klöster und Kirchen versucht hat, spirituelles Leben aus dem Geiste Gottes umzusetzen (Köpf 2004, Sp. 1590). Nach diesem Verständnis fehlt dem weiten Konzept „Bezogenheit auf ein größeres Ganzes“ sein Ziel und Gegenüber. Auch Michael Nüchtern hat in seinem Nachdenken über Spiritualität (Nüchtern 2003, S. 14) eine Differenzierung eingeführt. Er unterscheidet zwei Typen von Spiritualität. Die eine bezeichnet er als entwicklungsorientierte Spiritualität. Dabei geht es um die eigene Person, die wachsen und sich transformieren soll. Die jeweiligen Transzendenzvorstellungen bieten dabei den Rahmen für die Entwicklungsmöglichkeiten des Ichs. Die meisten spirituellen Angebote auf dem Psycho- oder Esoterikmarkt gehören in diese Kategorie. Den anderen Typ nennt Nüchtern beziehungsorientierte Spiritualität. Dabei geht es um die Selbsttranszendenz des Ichs durch den Eintritt in eine Beziehung zu Gott. In diese Kategorie gehört die christliche Spiritualität, die von einem transzendenten Gott im Gegenüber zu den Menschen ausgeht und die Formen und die Gestaltung dieser Beziehung reflektiert. Nüchtern entwickelt hilfreiche Kriterien für die Beurteilung von spirituellen Angeboten. So beobachtet er in der Entwicklungsspiritualität eine starke Konzentration auf den einzelnen Menschen, der zum Mittelpunkt seines Kosmos geworden ist und im Extremfall andere Menschen vor allem als Ressource für das Wachstum des eigenen Ichs wahrnimmt. Diese Form der Selbstsorge und Selbstoptimierung kann allerdings auch die Betroffenen unter erheblichen Erfolgsdruck setzen: Wem es darum geht, sich selbst weiterzuentwickeln, der erlebt auch Erfahrungen von Scheitern und Ungenügen. Der Druck, der so entsteht, ist dem Christentum nicht fremd, wie die Geschichte Martin Luthers zeigt. Seine aus dieser Stresserfahrung gespeiste Ablehnung religiöser Übungen hat die evangelische Spiritualität lange dominiert. Erst durch die intensivierte Ökumene ist hier ein neues Suchen nach der Vielfalt christlicher Spiritualität entstanden. Neben der Individualisierung und der Suche nach guten Formen der Selbstsorge tut die religiöse Pluralisierung ein Übriges, um Spiritualität zu einem Megathema zu machen. Die Sehnsucht nach Spiritualität ist – trotz aller Säkularisie-
Spiritualität und Sorge
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rung – ungebrochen. Gleichwohl nutzen viele Menschen die Angebote der Kirchen nicht mehr, um ihre Spiritualität zu leben. Sie trauen den Kirchen nicht mehr zu, Spiritualität ansprechend und zeitgemäß zu gestalten. So ist die spirituelle Praxis vieler Menschen aus der Kirche ausgewandert – in Yogastudios oder auf Pilgerreisen. 2
Spiritualität in Beziehung
Christliche Spiritualität lebt also aus der Beziehung zu Gott und den Menschen. Sie lebt im Geist der Gemeinschaft und hat immer auch eine diakonische Dimension. Ganz auf der Spur Israels als des Gottesvolkes kommt sie zum Ausdruck in der Sorge um Arme, Kranke, Fremde und Kinder. So erzählt die Apostelgeschichte, wie sich durch Tischgemeinschaft und wechselseitige Sorge eine Gemeinde bildet (Apg. 2,2 ff.). Und der Jakobusbrief fordert die Gemeindemitglieder auf, im Krankheitsfall „die Ältesten der Gemeinde (zu sich zu rufen); sie sollen Gebete über ihn [den Kranken] sprechen und ihn im Namen des Herrn mit Öl salben“ (Jak 5,14). Dieses Beziehungsgeschehen kommt in besonderer Weise in Familien zum Ausdruck. Die frühen Gemeinden waren ihrer Gestalt nach Wahlfamilien, in denen sich Männer und Frauen, Juden und Heiden, Sklaven und Freie ungeachtet aller Unterschiede von Herkunft, Status und Geschlecht als Schwestern und Brüder in der Nachfolge Jesu verstanden. Familien in ihren unterschiedlichen Gestalten sind in der gesamten Bibel Symbol für die Gottesbeziehung. Sie bilden „die Folie, ohne die eine Fülle biblischer Geschichten und Texte anscheinend nicht ausreichend verstanden werden können“, heißt es in der Familienschrift der Evangelischen Kirche in Mitteldeutschland (Evangelische Kirche in Mitteldeutschland 2012). Christ:innen denken Gott als Vater und Mutter und sprechen von Geschwistern im Glauben. Umgekehrt prägt das christliche Gottesund Menschenbild auch die Kommunikation untereinander. Albert Biesinger spricht in diesem Zusammenhang von Gotteskommunikation – Gotteskommunikation ist das Abendgebet genauso wie die Meditation am Morgen. Gotteskommunikation ist aber auch, „wenn der erwachsene Enkel Silvester mit den gebrechlichen Großeltern feiert, wenn er die Zerstreutheit und die Phantasien der Oma, die früher doch so eine starke Frau war, wahrnimmt“ (Biesinger 2012, S. 93). Die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung (KMU) der EKD (Evangelische Kirche in Deutschland 2014) unterscheidet bei der religiösen Kommunikation eine eher informativ-intellektuelle, eine praktisch-handlungsorientierte und eine existenzielle Dimension. Existenziell-religiöse Kommunikation wird hier mit der Frage nach dem verbalen Austausch über den Sinn des Lebens operationalisiert – und diese wird von den Befragten eindeutig im Privaten verortet: Das Gespräch über den Sinn des Lebens gehört nicht in die Öffentlichkeit, sondern ist offenbar ein persönliches, „als intim empfundenes Thema, das in erster Li-
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nie mit dem Partner/der Partnerin besprochen wird, dann auch mit Freunden/ Freundinnen. An dritter Stelle wird die (erweiterte) Familie genannt. Der Austausch über religiöse Themen erfolgt also primär in Mikronetzwerken von Wahlverwandten und engsten Vertrauten, denen man sich in hohem Maß verbunden fühlt“ (EKD 2014, S. 7). Die fürsorgliche Praxis in der Erziehung von Kindern oder in der Pflege Kranker und Sterbender ist im Sinne Hannah Arendts Sorge für die Welt. Dabei meint Welt „den unersetzlichen Zwischenraum, der zwischen dem Menschen und seinem Mitmenschen“ zu gestalten ist (Arendt 2013, S.115), nicht nur Last oder Pflicht. Es geht darum, zwischen den großen Fragen des „Woher komme ich – wohin gehe ich?“ und den alltäglichen Lebensvollzügen eine Brücke zu bauen. Albrecht Biesinger nutzt dazu einen Schlüsselbegriff aus der lateinamerikanischen Befreiungstheologie. Es geht um dignification, die Erfahrung, dass die alltäglichen Augenblicke sinnerfüllt sein können (Biesinger 2012, S. 21). So muss die Zeit dauernden Gefordertseins und intensiver Zuwendung von den Eltern kleiner Kinder gleichwohl nicht als Verlust verstanden werden. Ignatius deutet sie als geistliche Übung: „Wenn Ihr könnt, hört die Messe und obliegt den gewohnten Andachten, wenngleich sie abgekürzt werden können, wenn Ihr der Hilfe für die Nächsten obliegt; denn es ist Gebet, was man für sie tut“ (Wagener-Esser/Esser 2008, S. 18; Hervorhebung hinzugefügt). Auch Luther nimmt die Erziehung von Kindern und die Fürsorge in der Familie so wichtig, dass für ihn aus der Perspektive des Glaubens auch das Wiegen des Kindes oder das Waschen der Windeln „guldene, edele werck“ (Luther 1907 [1522], S. 296) sind. 3
Care-Arbeit und Sorge
Im Deutschen hat der Begriff Sorge eine doppelte Bedeutung – er steht einerseits für das beunruhigende Sich-Sorgen um eine Person oder eine Situation und bezeichnet andererseits die praktische Sorge für jemanden, damit es ihm oder ihr wohlergehe. Dafür wurde über lange Zeit der Begriff „Fürsorge“ verwendet. Der Begriff der „Daseinsvorsorge“ steht dem gegenüber für den größeren Rahmen der politischen Verantwortung für die Stabilität des Sozialen. Auch das englische Care kann in unterschiedlichen Kontexten genutzt werden: im Sinne von caring about, also des emotionalen sich Sorgens um; mit taking care of als aktives Tun; oder mit take care of yourself im Hinblick auf Aspekte der Selbstsorge. Care wird dabei in allen Facetten als Haltung der Verantwortlichkeit und fürsorgliche Praxis verstanden (Friesacher 2015). Die feministische Theorie problematisiert mit dem Begriff „Sorge“ die Dominanz einer ökonomisierten Sichtweise im Sozial- und Gesundheitswesen, die den Menschen nur als bloßen Kunden und Empfänger von Dienstleistungen
Spiritualität und Sorge
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sieht (Jochimsen 2005). „Sorge“ – ein Versuch, das englische Care zu übersetzen und den historisch durch staatliche Übergriffe belasteten Begriff Fürsorge zu vermeiden – steht stattdessen für das grundlegende, umfassende Für-einander-Dasein und meint alle Beziehungs- und Zuwendungsarbeit privater wie professioneller Natur. Dabei basieren die Care-Berufe auf der täglichen Erfahrung von Zuwendung. Letztlich basiert alle berufliche Arbeit auf der unentgeltlichen privaten Sorgetätigkeit. Sorgende und fürsorgliche Tätigkeiten in der Familie sind Arbeit. Es geht aber nicht (nur) um eine Dienstleistung, sondern um das für andere Da-Sein und Zeit haben, das Sich-Kümmern um das Wohlergehen eines/r anderen, um die Weitergabe des Lebens und den gesellschaftlichen Zusammenhalt angesichts der neuen Anforderungen einer globalisierten und digitalisierten Arbeitswelt. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung und des sozialen Wandels von Geschlechterrollen und Lebensformen können die familiären Sorgeaufgaben aber nicht mehr als selbstverständliche Aufgabe der Mütter vorausgesetzt werden. Die „Versorgungslücke“, das Care-Defizit, das damit entsteht, stellt für Staat und Gesellschaft eine erhebliche Gestaltungsaufgabe dar (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend [BMFSFJ] 2012). Denn statistisch gesehen sind Frauen bis heute erheblich stärker als Männer in Sorgebeziehungen involviert, in der Familienarbeit wie öffentlich, zum Beispiel als Mitarbeiterinnen in der Pflege. Das Care-Defizit wurzelt in einer fehlenden Wahrnehmung und Wertschätzung traditionell weiblich besetzter Tätigkeitsbereiche oder, noch grundsätzlicher, in der Dichotomie des öffentlichen und privaten Lebens. Christine Globig (Globig 2013) sieht in Care bzw. (Für)-Sorge vor allem eine Praxis, die zugunsten des Wohlergehens eines anderen, zumeist bedürftigen Menschen ausgeübt wird, die eine genaue Wahrnehmung dieses Menschen und der jeweiligen Situation voraussetzt, die Mitgefühl einbringt und die von der Bereitschaft getragen ist, in der gegebenen Situation die Verantwortung zu übernehmen. Damit steht Care für die Anerkennung der Tatsache, dass Menschen im Wesentlichen aufeinander angewiesen und voneinander abhängig sind und nicht autonome Individuen, die sich in einem Verhältnis wechselseitiger Unabhängigkeit (Wahlfreiheit) und in symmetrischen Kräfteverhältnissen zu ihren Mitmenschen befinden (Jochimsen 2005, S. 25). Gleichwohl sind Care-Verhältnisse reziprok – insofern, als Fürsorgebeziehungen in verschiedenen Situationen und Lebensphasen alternieren. Es geht zwar in der konkreten Situation nicht um ein Handeln der Einzelnen auf Augenhöhe; es gibt aber eine biographisch wechselnde Verantwortungsübernahme, in dem Sinne, dass jeder Mensch stets Verantwortung trägt, aber doch, früher oder später, auch der Fürsorge bedürftig ist. Diese Erfahrung, die Familien prägt, wird heute in den Caring Communities den sorgenden Gemeinschaften oder lokalen Verantwortungsgemeinschaften,
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wieder aufgenommen (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2016a). Hier entstehen zwischen Familien, Nachbarschaften, Dienstleistern und Engagierten Verantwortungsbeziehungen für Menschen mit Behinderungen, Ältere oder Sterbende. Solche „Sorgenden Gemeinschaften“ leben aus einem gemeinsamen „Spirit“, geteilten Werten, wie wir das aus Familien oder Glaubensgemeinschaften kennen. Fürsorge, Selbstsorge und Mitsorge sind dabei im Sinne Hannah Ahrendts ineinander verschränkt. 4
Spiritualität in der Diakoniegeschichte
Das Verhältnis von Spiritualität und Sorge in der Geschichte der Diakonie kann hier nur in Stichproben beleuchtet werden. Ein entscheidender Moment ist dabei die große gesellschaftliche Transformation, ausgelöst durch die beschleunigte Industrialisierung, das Wachstum der Städte und die entsprechenden Migrationsbewegungen, die spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts zur Überforderung von Familien und zur Unterversorgung von Kindern, Kranken und Sterbenden geführt hat. Die Erfahrung von Armut, Suchterkrankungen und zunehmender Kriminalität brachte zahllose Vereine und Initiativen hervor, die die diakonische Arbeit erneuerten. Dabei hat die Gründung von Schwesternund Bruderschaften eine wichtige Rolle gespielt. Der ersten caritativen Frauengemeinschaft der Neuzeit, der „Genossenschaft der Barmherzigen Schwestern von der allerseligsten Jungfrau und schmerzhaften Mutter Maria“, die nach dem Muster der französischen „Vincentinerinnen“ 1808 in Münster entstanden war, folgten zwischen 1850 und 1872 dreiundzwanzig neue Frauenkongregationen in Preußen. (Meiwes 2015) Auch Theodor Fliedner, der Gründer der Kaiserswerther Diakonissenanstalt, bezog sich auf die Arbeit der „Barmherzigen Schwestern“. Die diakonischen und caritativen Frauengemeinschaften boten einen den Familien analogen Rahmen für die persönliche und gesellschaftliche Sorgearbeit. Dabei sind die Gründungsgeschichten reich an biblischen Bezügen vom Barmherzigen Samariter über die Kindersegnung bis zum Gleichnis vom großen Weltgericht aus Mt 25. Andere speisen und tränken, kleiden, besuchen und pflegen – die alltäglichen Sorgetätigkeiten in den „Werken der Barmherzigkeit“ sind Ausdruck von Spiritualität und ermöglichen spirituelle Erfahrungen. Wer den anderen in seiner leibseelischen Ganzheit wahrnimmt, schaut tiefer: Die Begegnung mit einem anderen kann zur Gottesbegegnung werden. Solche Erfahrungen werden schon im Mittelalter aus dem Umfeld von Heiligen wie Elisabeth von Thüringen berichtet. Deren Ehemann, Fürst Ludwig, erkennt in dem Aussätzigen, den Elisabeth im Ehebett pflegt, den gekreuzigten Christus. Und die Brote, die Elisabeth den Armen bringt, werden zu Rosen. In diesen und anderen Wandlungswundern wird Auferstehungswirklichkeit präsent. Immer hat es angefangen mit Menschen, die überzeugt waren, dass sie in den Heruntergekommenen, Verzweifelten, Sterbenden Jesus begegnen. Dass
Spiritualität und Sorge
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in dem Bett, das sie dem Kranken bereiten, der Gekreuzigte liegt. Dass unsere Frömmigkeit auf dem Spiel steht, wo die Menschlichkeit auf dem Spiel steht. Dieser Zusammenhang zwischen Gottes- und Nächstenliebe wird auch in den diakonischen Gründungen des 19. Jahrhunderts festgehalten. So heißt es in der Grundordnung der Kaiserswerther Diakonissenanstalt von 1901 in der Präambel zur Krankenpflege: „Die Liebe Christi beweist sich in der Krankenpflege durch […] herzliches Mitleid mit den Kranken und Treue in der Verrichtung der kleinen und doch so wichtigen Dinge. Diese Liebe verleiht erst aller erlernten Kunst und Fertigkeit das Leben und gibt all unserem Wirken den Wert für die Ewigkeit“ (Grundordnung der Kaiserswerther Diakonissensanstalt 1901, S. 18).
Auf diese Weise bot christliche Spiritualität Sinnstiftung im diakonischen Alltag. Mit ihren Gottesdiensten und Andachtszeiten, ihren Einkehrtagen, Einsegnungs- und Abschiedsritualen sorgten die Diakonischen Gemeinschaften für eine regelmäßige Aktualisierung bzw. Bekräftigung der Motivation. Sie schuf, wie die Erzählungen alter Diakonissen zeigen (Gause/Lissner 2005), durch die Aufnahme der klösterlichen Tradition des „ora et labora“, die Rhythmisierung und Ritualisierung der Tage einen Ruhepol in einem sehr angespannten Arbeitsalltag, und sie ermöglichte Gemeinschaftserfahrungen durch die besondere Fest- und Feierkultur, angefangen vom Adventskranz bei Johann Hinrich Wichern bis hin zu besonderen Stundengebeten bei Wilhelm Löhe in Neuendettelsau. „Gemeinschaft mit Christus, Gemeinschaft mit dem Nächsten, Gemeinschaft untereinander“, wie es in der Kaiserswerther Mutterhaustradition heißt (Grundordnung der Kaiserswerther Diakonissenanstalt 2001, S. 5), gehörte zum Kern des diakonischen Selbstverständnisses. Wohl nicht zufällig fehlt in dieser Traditionsformel das persönliche Selbst, das im biblischen Dreieck von Gottesliebe, Nächstenliebe und Selbstliebe seinen Platz hat. Die Selbstaufopferung und Hingabe, die die Schwesterngemeinschaften als Kollektiv kennzeichnete, ist auf dem Hintergrund einer Gesellschaft zu verstehen, für die die unentgeltliche Sorgetätigkeit von Frauen in Familie, Gemeinde und Nachbarschaft selbstverständlich war – aus dem gleichen Grund erodierte sie spätestens mit den Emanzipationsbewegungen der 1960er Jahre. Die „Fürsorgetradition“ von Kirchen und Wohlfahrtspflege in Deutschland hatte aber noch eine andere furchtbare Schattenseite. Zwar wurde der Sozialstaat seit der Weimarer Republik immer weiter ausgebaut – mit staatlichen Hilfen für Versehrte, Hinterbliebene, Arbeitslose, Kranke und Rentner. Zugleich aber wuchs auf dem Hintergrund von Armut und Umverteilung auch die staatliche Kontrolle – die Hausbesuche der „Fürsorgerinnen“ sind im kollektiven Gedächtnis geblieben –, bis schließlich im sogenannten Dritten Reich Menschen mit Behinderung oder psychischen Erkrankungen, so genannte Aso-
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ziale und nicht-arische Familien deportiert und ermordet wurden. Auch diakonische Träger und Gemeinschaften haben versagt, als es darum ging, die anvertrauten Menschen als ihre Nächsten zu verteidigen. So wurde im totalitären Staat nicht nur die Idee des Subsidiaritätsprinzips beschädigt, sondern auch die spirituelle Identität der Häuser. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts trat dann Spiritualität in der diakonischen Arbeit stark in den Hintergrund. Die bald eintretende Säkularisierung in der Nachkriegszeit, die Professionalisierung des aufkommenden Wohlfahrtsstaats und schließlich die religiöse Pluralisierung der Mitarbeiterschaft führten dazu, dass Fachlichkeit in den Fokus rückte. Die gemeinschaftliche Lebensform als Rahmen für ein gemeinsames spirituelles Leben löste sich auf. Hilfe zur Selbsthilfe trat an die Stelle fürsorglicher Fremdbestimmung der oft „hilflosen Helfer“ (Schmidtbauer 1992). Spiritualität wurde jetzt vor allem als Tradition der Einrichtungen und ihrer Gründer:innen wahrgenommen und nur noch bei besonderen Gelegenheiten (Jubiläum, Sterberituale, Einführungsgottesdienste) praktiziert, zunehmend an „religiöse Expert:innen“ delegiert (Theolog:innen, Diakon:innen), aber trotzdem häufig als Alleinstellungsmerkmal der Marke Diakonie bemüht, vor allem im Blick auf Bewohner:innen, Patient:innen und Angehörige. Entsprechend wurde Wert auf spirituelle Angebote wie Gottesdienste, Andachten, religiöse Sterbebegleitung oder die Gestaltung der Zeiten im Kirchenjahr gelegt. Diese werden in Stellungnahmen diakonischer Verbände und Unternehmen (Rahmenbedingungen einer christlichen Unternehmenskultur in Caritas und Diakonie) häufig als Indikatoren einer diakonischen Kultur gewertet oder als religiöse Dienstleistung angeboten. Fraglich ist aber, inwieweit sie vor allem eine formal aufrechterhaltene religiöse Oberfläche abbilden oder inwieweit sie Ausdruck kollektiver organisationaler Praxis sind und von Mitarbeitenden und Nutzer:innen als relevant, weil sinndeutend erfahren werden (Utsch/ Hofmann 2018, S.183). Von außen festgelegte Standards können gerade in den Feldern, die mit Religion zu tun haben, als fremd und bevormundend erlebt werden. Die unterschiedlichen Formen spiritueller Praxis anzuerkennen und in die Organisationsstruktur einzubringen, bleibt eine komplexe Aufgabe – nicht zuletzt deshalb, weil Mitarbeitende die organisationelle Verwertung ihrer religiösen Erfahrung im Sinne eines diakonischen Mehrwerts fürchten. 5
Spiritualität und Pflege: Spiritualität als Ressource?
Die Schweizer Pflegewissenschaftlerin Silvia Käppeli (Käppeli 1997) hat gezeigt, dass das Motiv des mitleidenden Gottes die wichtigste religiöse Wurzel der sozialen Arbeit im Christentum und auch im Judentum ist. Gottes Mitleiden, seine Liebe und Gerechtigkeit stärken Israel den Rücken, als das Volk aus der Sklaverei in Ägypten aufbricht. Der Ruf am brennenden Dornbusch macht Mose Mut, sein Volk in die Freiheit zu führen. Und Gottes Sympathie mit den
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Leidenden und Verzweifelten gewinnt ein menschliches Gesicht in Jesus Christus. Entsprechend heißt es dann im Hebräerbrief (4,15): „Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mitleiden mit unserer Schwachheit“. Das griechische Wort „Sympathie“, das hier gebraucht wird, ist das gleiche wie das englische compassion, einer der zentralen Begriffe der Pflegewissenschaft heute, die manche auch als die Kunst der mitleidenden Aufmerksamkeit bezeichnen. „Pflege ist ein Beziehungsberuf, in dem es nicht nur um die gekonnte Aktion, sondern vor allen Dingen um die Interaktion geht“, schreibt Giovanni Maio, der die Identität der Heilberufe im Zeitalter umfassender Ökonomisierung bedroht sieht (Maio 2018, S. 189). Die Pflege leide besonders darunter, dass ihre unersetzbare Expertise nicht formalisiert, nicht gezählt werden kann – denn diese Expertise besteht darin, sich auf den einzelnen Menschen einzulassen und ihm gerade in seiner Angewiesenheit seine ihm eigene Würde widerzuspiegeln. Bis zur Grenze der Selbstausbeutung, so Maio, versuchten Pflegende, diesen Kern zu bewahren – sie würden aber zerrieben an der moralischen Dissonanz, die ihnen das System auferlegt. Spiegelbildlich empfinden sich Pflegebedürftige in diesem Gesundheitssystem nur noch als Aufwand, als Pflegefall, der Zeit und Geld kostet. Letztlich laufe alles auf die Frage hinaus, ob wir die gebrechlichen Menschen einem normierten Dienstleistungsdenken überantworten wollen oder ob wir Orte schaffen, in denen man neu auf ihre Bedürfnisse als Bedürfnisse ganzer Menschen hört. Eine neue Ethik der Sorge ist also notwendig. In unserer Gesellschaft, die stark geprägt ist vom Wunsch nach Selbstbestimmung und Selbstoptimierung, angesichts der Vermarktlichung des Sozial- und Gesundheitssystems, in dem Zugänge zunehmend über Geld und Wissen gesteuert werden, geht es um ein Gegengewicht: um wechselseitige Unterstützung und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen – für sich selbst, für andere und auch für die gesellschaftliche Entwicklung. In einer Untersuchung des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD zu der Frage, welche Kraftquellen Pflegepersonen helfen, leichter mit kritischen Situationen umzugehen, sprechen die Interviewten von Spaziergängen und Meditationen (Lubatsch 2008). Als Energiequellen nennen sie auch die Begegnung mit Patientinnen und Patienten und das Miteinander mit Kolleginnen und Kollegen. In einem wertschätzenden Miteinander fühlen sie sich getragen. Sie brauchen Vertrauen in die Arbeit, in neue Ideen und Gestaltungsmöglichkeiten. Sie wollen Zukunft angehen können und wünschen sich, dass ihre Ideen gehört und angenommen werden. Die zentrale Erwartung von Mitarbeitenden besteht darin, mit den eigenen Kompetenzen gesehen zu werden und Veränderungsprozesse aktiv mitzugestalten. Damit das gelingt, braucht es gemeinsame Reflexionsräume – Orte, wo Situationsdeutungen ausgetauscht, Tabus angesprochen und bearbeitet werden.
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Ein Forschungsprojekt des Instituts für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement in Bethel (Hofmann 2020) zu den Merkmalen diakonischer Kultur in Einrichtungen der Alten- und Behindertenhilfe zeigt: Es geht um die Pflege- und Betreuungsqualität, Abschiedskultur und Feste, den Umgang mit ökonomischen Herausforderungen und räumlichen Gegebenheiten und die bewusste Wahrnehmung von Führung. Für die Mitarbeitenden besonders wichtig, offenbar aber von der Führung unterschätzt, sind die Pausenkultur und die Kommunikation im Umgang mit Fehlern und Konflikten. Eine lebendige diakonische Kultur lebt aber auch von „Ankerpersonen“, die die Werte und Traditionen der Häuser lebendig halten und in den Widersprüchen der Gegenwart verkörpern. 6 Gemeinde als Sorgende Gemeinschaft Die familiären Netze dünnen aus – das ist in den Kirchengemeinden deutlich zu spüren. Die Wohnentfernung zwischen Eltern und erwachsenen Kindern hat in den letzten Jahren ständig zugenommen. Nur noch ein Viertel der Befragten gaben 2014 an, dass ihre erwachsenen Kinder noch am selben Ort wohnen (Deutsches Zentrum für Altersfragen 2016, Deutscher Alterssurvey). Im FWS der Bundesregierung wurde 2014 zum ersten Mal die informelle, außerfamiliale Unterstützung in Freundschaft und Nachbarschaft abgefragt (Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2016b). Dabei zeigte sich: Immerhin 25 Prozent engagierten sich in der nachbarschaftlichen Hilfe bei Einkäufen, Handwerksdiensten bis Kinderbetreuung – und es waren, bis auf die Unterstützung Pflegebedürftiger, mehr Männer als Frauen und eher Jüngere als Ältere. In der Befragung wurde deutlich: Die wechselseitigen Unterstützungsleistungen verbessern die Lebensqualität aller Beteiligten. Die Sorgebeziehungen schaffen Vertrauen und Gemeinschaft. In den Kirchengemeinden und Quartieren gibt es seit einigen Jahren wöchentliche Mittagstische im Gemeindehaus, wo oft abwechselnd gekocht wird – manchmal einfach für eine Gruppe von Älteren, die nicht länger für sich allein kochen wollen. Es fällt auf, dass die Tischgemeinschaft, die in den Familien aufgrund der unterschiedlichen Rhythmen und in den Einrichtungen auf dem Hintergrund unterschiedlicher Schichten erodiert, sich an anderen Orten erneuert: in den Altenzentren, die ihre Mittagstische ins Quartier öffnen, für Schulen und Kitas oder in den Demenz-Wohngruppen, wo das Kochen zentraler Teil der Tagesgestaltung ist. Kirchengemeinden, die sich an solchen Prozessen beteiligen, werden Teil der Sorgenden Gemeinschaften. Dafür ist es wichtig, die traditionelle Trennung zwischen Kirche und Diakonie zu überwinden und Brücken zu schlagen zwischen Bürgerengagement und Pflege, zwischen Einrichtungen und Besuchsdiensten. Wo Pflegende in den oft schwierigen Abschiedsprozessen begleitet werden, werden die Sorgekräfte gestärkt und oft auch neue spirituelle Ressourcen entdeckt. Solche Brückenschläge können auch helfen, der Bedeutung des eigenen Lebens auf die Spur zu kommen und die Bezie-
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hungen zwischen dem eigenen Selbst und Familie, Gemeinschaft, Gesellschaft und der Natur zu stärken (Global Network for Spirituality and Health [GNSAH]). Wo das gelingt, machen Menschen spirituelle Erfahrung in den alltäglichen Sorgebeziehungen. Literatur Arendt, H. (2013): Vita activa oder Vom tätigen Leben. Zürich. Barth, H.-M. (1993): Spiritualität. Göttingen. Biesinger, A. (2012): Gotteskommunikation. Religionspädagogische Lehr- und Lernprozesse in Familie, Gemeinde und Schule. Ostfildern. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2012): 8. Familienbericht: Zeit für Familie – Familienzeitpolitik als Chance einer nachhaltigen Familienpolitik: Bericht der Sachverständigenkommission und Stellungnahme der Bundesregierung. Bundestagsdrucksache 17/9000 vom 15.03.2012. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2016a): Der Siebte Altenbericht der Bundesregierung. Sorge und Mitverantwortung in der Kommune Aufbau und Sicherung zukunftsfähiger Gemeinschaften. Berlin. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hg.) (2016b): Freiwilliges Engagement in Deutschland. Zentrale Ergebnisse des Deutschen Freiwilligensurveys 2014. Berlin. https://www.bmfsfj.de/blob/939 14/e8140b960f8030f3ca77e8bbb4cee97e/freiwilligensurvey-2014-kurz fassung-data.pdf (Zugriff am 05.01.2021). Deutsches Zentrum für Altersfragen (2016): Deutscher Alterssurvey 2014. Zentrale Befunde, Berlin. Kurzfassung. http://www.gender.sachsen-anhalt. de/fileadmin/user_upload/_Deutscher_Alterssurvey_2014_Kurzfassung.pdf (Zugriff am 23.09.2021). Diakonie Bundesverband/Deutscher Caritasverband (2011): Rahmenbedingungen einer christlichen Unternehmenskultur in Caritas und Diakonie. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.) (2014): Engagement und Indifferenz – Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. [KMU V]. Hannover. Evangelische Kirche in Mitteldeutschland (2012): Im Blickpunkt: Familie. https://www.ekmd.de/attachment/aa234c91bdabf36adbf227d333e5305b/b2 6e91b7524e7528716ac04248a1902f/Familienbezogene+Arbeit.+Positonen +und+Impulse.pdf/ (Zugriff am 23.09.2021). Gause, U./Lissner, C. (Hg.) (2005): Kosmos Diakonissenmutterhaus. Geschichte und Gedächtnis einer protestantischen Frauengemeinschaft. Leipzig. Global Network for Spirituality and Health (GNSAH): https;//smhs.gwu.edu/ gwish/global-network (Zugriff am 20.1.2016). Globig, C. (2013): Realitäten der Abhängigkeit. Fürsorge als ethisches Paradigma. Habilitationsschrift. Wuppertal. Grundordnung der Kaiserswerther Diakonissenanstalt (1901). Kaiserswerth.
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C. Coenen-Marx und B. Hofmann
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21 Verkündigung und diakonische Beratung Klaus Baumann
Wird die Frage nach dem Verhältnis von Verkündigung und diakonischer Beratung gestellt, tauchen drei eng miteinander verbundene weitere Fragen auf. 1. Wie verhalten sich theologisch die Verkündigung des Evangeliums und das helfende Handeln für die Nächsten in Not grundsätzlich zueinander? 2. Inwiefern sind Beratungsdienste der Diakonie oder der Caritas in der freien, staatlich refinanzierten Wohlfahrtspflege Orte und Momente christlicher Glaubensverkündigung – oder muss das nicht im Sinne professioneller Standards von Beratung im weltanschaulich neutralen Staat ausgeschlossen sein? 3. Wie verhalten sich Seelsorge und Beratung zueinander? 1
Die theologische Beziehung zwischen der Diakonie der Verkündigung und der Caritas
1.1 Offenbarung und Verkündigung Die Verkündigung des Wortes Gottes, das Zeugnis für Jesus Christus in Wort und Tat, mit „Herz und Mund und Tat und Leben“ (BWV 147) „in der ganzen Schöpfung“ (vgl. Mk 16,15) ist schlechthin die allererste Aufgabe der Kirche, die ihr in ihrem biblisch-ökumenischen Selbstverständnis vom Auferstandenen selbst ausdrücklich aufgetragen wurde (Mk 16,15–20; Mt 28,28–30; Apg 1,8 u.a.m.). Diese Überzeugung eint alle christlichen Kirchen im Hören auf „das Wort“ selbst, wie sie es aus der Heiligen Schrift lebendig empfangen, bewahren und weitergeben. Dabei wird die Offenbarung des Wortes nicht nur und nicht primär instruktionstheoretisch als Mitteilung von etwas verstanden, sondern als kommunikatives Geschehen in und als Beziehung Gottes zu den Menschen erlebt und gedeutet: als Gottes Selbstmitteilung. Die Botschaft des Wortes enthält über diese (ihrerseits instruktiven) Beziehungsmitteilungen hinaus selbst explizit inhaltliche Impulse zum Handeln, paradigmatisch in der Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe als dem „wich-
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tigsten Gebot“ (Mk 12,28–34 par) wie auch in Jesu eigenem Handeln der unablässigen Zuwendung zu den Armen, Ausgegrenzten, Kranken, Leidenden und in seiner Verkündigung, etwa vom barmherzigen Samariter (Lk 10,25– 37), vom armen Lazarus und dem reichen Prasser (16,19–31), vom Weltgericht (Mt 25,31–46). Impulse aus dem „Wort des lebendigen Gottes“ erneuern durch die Jahrhunderte hindurch das Christentum von seinem Ursprung her und entfalten „wie neu“ frisch und lebendig, kreativ und innovativ in den Hörenden, in Kirche, Kultur und Gesellschaft Wirkung in existentiellen Erfahrungen (vgl. Theissen 2000; Schneider 2017). Kommunikationspsychologisch (Watzlawick u.a. 2011) gilt auch in diesem und im ganzen folgenden theologischen Kontext, dass die Beziehung als Metakommunikation definiert, wie der Inhalt zu verstehen ist. Sind Beziehungsebene und Inhaltsebene miteinander genügend konsistent? Leben, Handeln und Erleiden in Beziehung wirken auch ohne Worte und haben existentiell Vorrang vor der propositionalen Richtigkeit verbaler Äußerungen. 1.2
Missionsauftrag, Ausbreitung und Überleben des Christentums
A. von Harnack sah den Erfolg der „Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten“ (1924) durch viele Momente bedingt. Die ersten drei sind „Die religiösen und ethischen Grundzüge der Missionspredigt“, „Das Evangelium vom Heiland und der Heilung“ samt „Der Kampf gegen die Herrschaft der Dämonen“ und als drittes „Das Evangelium der Liebe und Hilfeleistung“. C. Markschies unterstreicht, „dass der sozialdiakonische Impuls des antiken Christentums eine grundsätzliche Bedeutung für seinen Aufstieg wie für sein Überleben hatte“ (2004, S. 50). Die Zusammengehörigkeit von Verkündigung und tätiger Nächstenliebe war für die Confessio Augustana (CA) von 1530 so selbstverständlich, dass sie als Wesensmerkmal von Kirche neben den Sakramenten definierte, „dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt“ wird (CA 7), infolge Luthers Zwei-ReicheLehre tätige Nächstenliebe der Gemeinde jedoch (leider) nicht nannte. Neuzeitliche katholische Ordensgründungen zur Krankenpflege, Armenfürsorge und Bildung, zumal für Mädchen (Angela Merici; Camillus von Lellis; Johannes von Gott; Vinzenz von Paul; Louise von Maurillac), wie die neue diakonische Wirkung durch den Pietismus (J. Ph. Spener; A. H. Francke; N. L. Zinzendorf; die Blumhardts) waren Früchte innerer Bekehrung zum „Wort“, das Fleisch geworden ist. 1.3
Innere Mission und Selbstzwecklichkeit des kirchlichen Auftrages zur Nächstenliebe
Umgekehrt sah J.H. Wichern (1848) die Wiedergewinnung der religiös entwurzelten und verarmten Bevölkerungsgruppen der industriellen Revolution im 19. Jh. für den Glauben nur für möglich an, wenn ihre akute Not wirksam bekämpft wurde. Bertold Brecht (Die Dreigroschenoper, „Denn wovon lebt der Mensch?“) würde später (1928) religionskritisch sagen: „Erst kommt das
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Fressen, dann kommt die Moral.“ Christliche Liebestätigkeit diente Wichern gezielt volksmissionarischen Zwecken, wenngleich in der Folge die soziale Arbeit und deren Organisation weit stärker zunahmen als die Re-Christianisierung des deutschen Volkes. Volksmissionarische Absichten fanden sich weit weniger in den expliziten Motiven Lorenz Werthmanns zur Gründung des Deutschen Caritasverbandes (1897). Ihm ging es um die fachliche und politische Zusammenfassung der vielen katholischen Einzelinitiativen im Kaiserreich, welche die Innere Mission bereits erreicht hatte. Vorstellungen, dass Diakonie und Caritas „nur“ im Vorfeld des „eigentlich“ Christlichen und Kirchlichen tätig seien, um Menschen zum Glauben hinzuführen, bilden (bis heute) ein verbreitetes (und „ökumenisch gemeinsames“) theologisches Missverständnis. Es stand sogar in der Konzilsaula des II. Vatikanischen Konzils zur Debatte: Die theologische Kommission des Konzils wies eine entsprechende Eingabe von drei Bischöfen mit der vom Plenum akzeptierten Begründung ab: „Die caritative Tätigkeit hat aus sich apostolischen Wert, nicht nur als Instrument oder Gelegenheit zur Evangelisierung“ (actio caritativa ex seipsa habet valorem apostolicum, non solum ut instrumentum vel occasio evangelizationis) (Acta Synodalia Vaticanum II, IV–II [Vatican 1977], S. 327). Diese Begründung verdient, kurz erläutert zu werden. – „Apostolisch“ meint im ursprünglichen griechischen Sinn „Sendung“, den Auftrag der Kirche, wie ihn nach den exegetischen Studien von Collins (1990) und Hentschel (2007) auch der Begriff „diakonia“ als „vollmächtige Beauftragung“ und „Vermittlung“ ausdrückt. Die Sendung Jesu, „Christos diakonos“ (vgl. Mk 10,45), bleibt dynamisches Vorbild und Quelle für die Diakonie, den gesamten Sendungsauftrag der Kirche: Diakonie des Wortes, der Liturgie und der Nächstenliebe („diakonia verbi, liturgiae et caritatis“; II. Vat. Konzil, Kirchenkonstitution Lumen Gentium 29). – Die Begründung vertritt eine Eigenständigkeit und funktionale Autonomie (N. Luhmann) kirchlich organisierter Nächstenliebe im Ganzen der Kirche für die Erfüllung ihrer Sendung. Sie trägt bei aller Verbundenheit und Wechselwirkung mit „Verkündigung“ und „Liturgie/Feier der Sakramente“ (vgl. CA 7) in sich selbst zentrale ekklesiologische Bedeutung. Damit ist jedoch klar, dass nicht die „Verkündigungsnähe“ von caritativer Arbeit für ihre genuine Kirchlichkeit entscheidend ist, sondern ihre Entsprechung zum christlichen Ethos, auf dem Caritas und Diakonie als Organisationen beruhen. Für Caritas-Organisationen besteht laut II. Vatikanischem Konzil (vgl. Dekret „Apostolicam Actuositatem“ Nr. 8) das Mindeste an Nächstenliebe in Gerechtigkeit – d.h. „zumindest“ darin zu ermöglichen, dass die Notleidenden „ihr Recht“ bekommen: die Sicherung der materiellen, psycho-sozialen und spirituellen Grundlagen für ein menschenwürdiges Leben; Schutz und Förderung ihrer Freiheit, ihrer Würde und ihrer selbstbestimmten Teilhabe am gesellschaftlichen Leben; Hilfe zur Selbsthilfe („empowerment“, „capacity building“) und
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möglichst die Beseitigung der strukturellen Ursachen von Not und Unrecht über die akute Nothilfe im Hier und Jetzt hinaus. Diese Zielsetzungen leiten auch die diakonischen (kirchlichen) Beratungsdienste. 2 2.1
Kirchliche Beratungsdienste im Wohlfahrtssystem des säkularen demokratischen Staates Beratungsdienste im Wohlfahrtssystem
Mit der Entstehung sozialer Arbeit und staatlicher Fürsorge entstanden im 19. Jh. zunehmend auch formalisierte Beratungsaufgaben und -einrichtungen (Erziehungs- und Familienberatung, in den 1920er Jahren Arbeitslosen- und Berufsberatung), die im Grunde autoritär der sozial-normativen Lenkung der Bedürftigen dienten. Mit den gesellschaftlichen Entwicklungen seit den 1960er und 1970er Jahren wandelte sich das Beratungsverständnis grundsätzlich emanzipatorisch hin zu einem psychologisch qualifizierten Hilfeangebot, das sich den Bedürfnissen und Problemlagen der Klientel und ihrer Befähigung zur selbstbestimmten Problembewältigung widmet. Die Maxime „Hilfe zur Selbsthilfe“ spiegelt sich in der gemeinsamen Prämisse heutigen Beratungsverständnisses und Beratungshandelns, dass es nicht die Beraterin, sondern (allenfalls) die Klientin ist, die in ihrem Kontext ihre Probleme löst. Beratung ist darum immer und notwendig ergebnisoffen. Beratungsdienste sind Verfahren mit kommunikativen Mitteln. Sie können an Therapierichtungen orientiert sein – v.a. Psychoanalyse und Tiefenpsychologie, (kognitive) Verhaltenstherapie, Gesprächstherapie, Gestalt- oder systemische Therapie – und damit Aspekte eines therapeutischen Selbstverständnisses enthalten und realisieren. Sie sind in der Regel sozialrechtlich zu unterscheiden von heilkundlicher Psychotherapie als Leistung der Gesundheitsversorgung (gemäß SGB V). Beratungsdienste vielfältiger Art sind Gegenstand sozialrechtlicher Regelungen und Refinanzierung. Das Spektrum ist groß und sehr verschieden, schon im Feld der Gesundheitsdienste und der Pflege, darüber hinaus, um nur einige zu nennen, Ehe-, Familien- und Lebensberatung, Erziehungsberatung, Schuldnerberatung, Suchtberatung, Studien- und Berufsberatung, psycho-soziale und / oder sozialpsychologische Beratung, Sozialberatung im Kontext des Strafvollzugs und der Resozialisation, Schwangeren- und Schwangerschaftskonfliktberatung, Pflegeberatung, Advance Care Planning, Telefonseelsorge und Kriseninterventionen in akuten persönlichen Notlagen, u.a.m. Sie sind nicht alle und nicht in gleicher Weise öffentlich refinanzierbar und darum zum Teil auf andere Finanzierungsquellen oder Projektmittel wie Spenden, Stiftungen oder Kirchensteuern angewiesen. Wo das deutsche Wohlfahrtssystem Beratungsdienste als gesetzliche Leistungen refinanziert, geschieht dies grundsätzlich um ihrer erhofften unterstützenden oder präventiven
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Funktion für die „Rat“- oder „Hilfesuchenden“ und ihre Angehörigen willen mit dem fundamentalen Ziel der Förderung und Stärkung ihrer selbstbestimmten Teilhabe. Im deutschen Wohlfahrtssystem ist als Ausdruck einer lebendigen Zivilgesellschaft und des Subsidiaritätsprinzips ausdrücklich erwünscht und vorgesehen, dass frei-gemeinnützige Träger in ihrer Pluralität und ganz explizit mit ihrer jeweiligen weltanschaulichen Orientierung – unter ihnen auch die kirchlichen Träger von Caritas und Diakonie – als Ausdruck und Abbildung dieser Pluralität in der Gesellschaft solche professionellen Beratungsdienste gemäß den gesetzlichen (Qualitäts-) Vorgaben übernehmen und lege artis anbieten. Dass sie diese Aufgaben übernehmen, kann der Staat, bei dem die Garantenpflicht verbleibt, jedoch nicht erzwingen. Beratungsdienste spielen eine bedeutende Rolle in den Handlungsfeldern der kirchlichen Dienste und Einrichtungen im Feld der sozialen Arbeit und des Gesundheitswesens. Sie knüpfen an das „Geistliche Werk der Barmherzigkeit“ an, Suchenden und Zweifelnden recht zu raten, und zielen emanzipatorisch von einem theologischen Ethos der Befreiung (vgl. Joh 8,32; Gal 5,1) her wie im Sinne sozialer Arbeit auf Hilfe zur Selbsthilfe, auf die Prävention und Bewältigung sozialer Probleme und die Förderung menschlicher und sozialer Entwicklung. 2.2
Was ist bzw. charakterisiert Beratung?
Sich mit Personen des eigenen Vertrauens zu beraten, um persönliche Fragen zu klären oder in Unsicherheit mehr Gewissheit zu gewinnen, gehört schon als nicht-formalisierte Alltagserfahrung universal zu zwischenmenschlicher Kommunikation. Sie geschieht freiwillig – unbeschadet der möglichen Drucksituation, die Rat suchen lässt – und im Gespräch. Auf dieser anthropologischen Basis bauen auf die eine oder andere Weise alle Formen institutionalisierter, formalisierter und professionalisierter Beratung auf. In der Trias „informieren – beraten – entscheiden“ bzw. „informativ – konsultativ – deliberativ“ nimmt das Beratende eine Mittelstellung ein. Es ist mehr als nur Information, enthält Informationen jedoch als notwendigen Bestandteil. In der Informationsgesellschaft ist die Flut an Informationen für NichtExpertinnen nur schwer aufgrund von Relevanzkriterien auszuwählen, zu sortieren und auf ihre Richtigkeit hin zu überprüfen. Dies gilt noch mehr in Krisen- und Entscheidungssituationen mit ihren psycho-sozialen Stressfaktoren. Diese Schwierigkeit hat im Kontext von Social Media und der gezielten Verbreitung von Falschinformationen zugenommen (Fake News; von wem auch immer letzteres als Behauptung vorgebracht wird). Es bedarf der qualifizierten Auswahl und Hilfen zum Verstehen und zur Gewichtung von Informationen. Beratung ist aber auch weniger als Entscheiden. Wer ein Mandat zum Beraten annimmt, muss zugleich verstehen und akzeptieren, dass das Mandat nicht deliberativ ist und nicht zur Entscheidung befugt, sondern dass diese Kompetenz
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der Person obliegt, die Beratung in Anspruch nimmt. Offenkundig ist mit der Zwischenposition von Beratung – zwischen informieren und entscheiden – sowohl Einfluss als auch dessen Begrenzung gegeben, verbunden mit Chancen und Grenzen, Erfolgen und Enttäuschungen, Macht und Ohnmacht für das Erleben der Beraterin. Die Beraterin braucht eine wache Kultur der Selbstreflexion auf ihr eigenes Erleben wie auf ihre Bedürfnisse etwa von Einfluss und Macht, von Erfolg und zwischenmenschlicher Annahme. Sie braucht grundsätzlich eine Beratungsausbildung mit dem Erwerb und der Qualifikation von feldunspezifischen Kommunikations- und Interaktionskompetenzen und handlungsfeldspezifischen Wissenskompetenzen (vgl. Nestmann et al. 2004). Dazu gehören auch Kompetenzen zur Prozessgestaltung und -kontrolle im Beratungsgeschehen vom Vorfeld und der Beratungsvereinbarung (Kontrakt) bis hin zur Evaluation, soweit die Prozesskontrolle durch die Beraterin zum formalisierten Beratungsverfahren gehört. Mit der Doppelverortung beraterischen Wissens und Könnens im spezifischen Feld und in feldunspezifischen Kommunikations- und Interaktionskompetenzen ist als gemeinsamer Ausbildungsstandard generell (schulenübergreifend) die Entwicklung von humanistischen Grundhaltungen der Gesprächsführung nach Carl Rogers verbunden: Echtheit, Empathie und unbedingte Annahme des anderen. Die damit realisierbare Atmosphäre soll helfende Gespräche ermöglichen. Die zugrundeliegende Grundannahme und Zielperspektive drückte Gerard Egan (1986, S. 12 f.) so aus: „Biete dem Menschen eine Beziehung, in der er sich ganz frei mit seinen Problemen auseinandersetzen kann. Hilf ihm dann, das Problem objektiv zu sehen und die Notwendigkeit zu handeln zu begreifen. Hilf ihm schließlich zu handeln.“ Der entscheidende Punkt liegt nicht primär in den starken Ausdrücken wie „ganz frei“ und „objektiv“, sondern in den Haltungen der Beraterin, durch die sie im Beratungssetting („allparteilich“) durch ihre Beziehungsgestaltung Sicherheit und Freiraum dafür schafft, dass die Ratsuchenden sich neu, offener und ehrlicher mit ihren Situationen auseinandersetzen und frei werden für neue Perspektiven und Neuentdeckungen. Die Hilfe zum Handeln, die Egan fordert, wird (und darf) also nicht in Handlungsanweisungen oder anderen konkreten Ratschlägen zur Problemlösung bestehen. Vielmehr wird es Hilfe dazu sein, neuen Einsichten zu vertrauen und neues Handeln zu wagen – mitunter als vereinbarte Aufgabe(n) bis zum nächsten Beratungstermin, mitunter als einvernehmlicher, verbindlicher und rechtsfester Vertrag wie im Falle von Scheidungsmediation. Die Beraterpersönlichkeit ist somit ein entscheidender Wirkfaktor des Beratungsgeschehens, wie Sabine Bachmair et al. (1999, S. 13) unterstreichen: „Die Persönlichkeit des Beraters, sein Menschenbild, die Beziehung zwischen Berater und Klienten, sowie die ständige Reflexion der Beraterrolle bilden den Rahmen und die Grundlage für den eigentlichen Beratungsprozess. Diese Grundlagen kommen vor jeder ‚Beratungstechnologie‘.“
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Im Beratungsgeschehen kommen die beteiligten Personen unweigerlich bewusst und unbewusst auf emotionaler Ebene miteinander in Kontakt. Die Ratsuchenden nehmen intuitiv und unweigerlich „Kostproben“ der Persönlichkeit der Beraterin und ihrer Haltungen, Werte, Überzeugungen und emotionalen Reaktionen. Sie reagieren unvermeidlich auf ihre eigene Weise emotional auf die Beraterin – und ebenso umgekehrt die Beraterin auf sie. Psychotherapeutisch wird dies als Übertragung und Gegenübertragung bezeichnet; die Beratungssituation kann nur sehr begrenzt der Ort sein, die Übertragung zu fokussieren; die Beraterin muss jedoch bereit und fähig sein, das Beziehungsgeschehen wahrzunehmen und zu erkennen, es zu verstehen und zu reflektieren: Sie sollte es in Supervision besprechen und die Qualität ihres Beratungshandelns sichern. 2.3
Die Rolle des Menschenbildes und des Ethos der Organisation für die Beratung
Wo kirchliche Beratungsdienste im säkularen System der Wohlfahrtspflege im demokratischen Staat wie andere Dienste und Einrichtungen des Sozial- und Gesundheitswesens an der Erbringung refinanzierbarer Leistungen mitwirken, geschieht dies zum einen nach professionellen Standards, die für alle gelten, zum anderen als Ausdruck der weltanschaulichen Pluralität und Diversität moderner Gesellschaften und als Realisierung des Rechts der Bürgerinnen und Bürger zu helfen und sich dafür frei zivilgesellschaftlich zu organisieren. Weltanschauliche Neutralität, die den Staat bindet (vgl. Dreier 2018), ist gerade nicht das Ziel einer lebendigen Zivilgesellschaft und ebensowenig des bedingten (subsidiären) Vorranges freier Wohlfahrtspflege im sozialstaatlichen System. Die Pluralität im Rahmen der (verfassungsgemäßen, gesetzlichen) Vorgaben dient auch dazu, das Wunsch- und Wahlrecht der Rat- und Hilfesuchenden zu sichern, statt sie mit einem einzigen (ggfs. staatlichen) EinheitsAngebot zu bedrängen. Die Rat- und Hilfesuchenden dürfen stattdessen erwarten, dass sie sowohl fachlich kompetent als auch im Sinne des vermuteten Ethos bzw. Menschenbildes der Trägerorganisation beraten werden, um bewusst und frei ohne Manipulation eigene Entscheidungen treffen und nächste Schritte planen zu können. Von Beratungsdiensten der Diakonie oder Caritas erwarten sie legitimer Weise, dass die Beratung christliche Grundoptionen ins Spiel bringt und reflektierte (Gewissens-)Entscheidungen der Rat- und Hilfesuchenden fördert. „Das Christliche“ darf unbeschadet der Professionalisierung der Beratung erkennbar werden, um sich auch damit bewusst auseinandersetzen zu können. Zugleich kann sie genau auf diese Weise nicht anders als jede kompetente Beratung von Beraterinnenseite her ergebnisoffen sein und bleiben. Damit richtet sich der Blick erneut auf die Beraterinnen und Berater. In der sozialen Arbeit ist klassisch vom Doppelmandat der Sozialarbeiterin die Rede, das analog auch für die Beraterin gilt: Sie hat im Sozialsystem einen Auftrag von staatlicher Seite und einen von Seiten der Klientinnen und Klienten. Die
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mögliche Spannung wird geweitet und ergänzt durch ein drittes Mandat (Tripel-Mandat) der Sozialarbeiterin durch ihr berufsethisches Selbstverständnis als Menschenrechtsprofession. Im institutionellen systemischen Kontext freier Wohlfahrtseinrichtungen wie z.B. kirchlicher Beratungsdienste kommt ein viertes Element hinzu, der Anspruch eines christlichen Ethos, das von seinem christlichen Menschenbild her bei breiter gemeinsamer Basis doch wesentliche Nuancierungen und klare Unterschiede gegenüber säkularen oder anderen weltanschaulichen Verständnissen eines Menschenrechtsethos aufweisen kann, die besonders in ethischen Konfliktsituationen hervortreten können – klassisch z.B. bei Schwangerschaftskonflikten, in Paarberatung und Trennungsmediation, in der Frage von Advance Care Planning oder möglicherweise auch von Suizidbeihilfe. Unthematisch und oft sehr machtvoll wirkt darüber hinaus als Quasi-Mandat der Druck bzw. die Erwartungshaltung medialer Öffentlichkeiten bzw. Lobby-Gruppen, die polarisierend Diskurse zu prägen suchen. Bei all diesen Anforderungen und Aufträgen darf nicht die Persönlichkeit der Beraterin und ihr eigenes Menschenbild mit den damit verbundenen ethischen Optionen und Perspektiven vergessen werden: Es ist davon auszugehen, dass ihr Menschenbild nicht einfach den verschiedenen Mandaten entspricht und sie vielerlei Schnittmengen, aber auch konflikthafte Spannungen erlebt, mit denen sie sich schon um ihrer Selbstachtung und um ihrer Professionalität willen reflektiert auseinanderzusetzen gefordert ist. Im Blick auf das Mandat ihrer Arbeit- oder Dienstgeberin gehört dazu die vom EuGH in seinen Urteilen zum kirchlichen Arbeitsrecht in Deutschland 2018 unterstrichene Bezugnahme auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz der EU („Europäische Antidiskriminierungsrichtlinie“), wonach Organisationen, deren Ethos religiös oder weltanschaulich begründet ist, mit Recht „von den für sie arbeitenden Personen verlangen, dass sie sich loyal und aufrichtig im Sinne des Ethos der Organisation verhalten“ (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften L303/16-22 vom 02.12.2000, Art. 4 Absatz 2 Satz 2). 2.4
Sonderfälle Pflicht- und Zwangsberatung
Eine besondere Herausforderung stellen Mandate staatlicherseits aufgrund politischer Weichenstellungen dar, die eine Pflicht- oder Zwangsberatung vorsehen, bevor die Menschen andere erwünschte Leistungen erhalten können. Dies erschwert und konterkariert echte Beratung im Sinne der Freiwilligkeit, wenn sie sie nicht sogar verunmöglicht – insbesondere dann, wenn die Beratungsstelle nicht ohnehin die erwünschte Leistung favorisieren würde, wie dies im Falle der Schwangerschaftskonfliktberatung nachweisbar oder – potentiell – in der Frage der Suizidbeihilfe erwartbar ist. Auch hier eröffnet sich das skizzierte Spannungsfeld der verschiedenen Mandate, wo die Legislative fachlich problematische Festlegungen vornimmt, die schwerwiegende Fragen an alle Beteiligten nach ihrem Beratungsverständnis unter solchen systemischen (Zwangs-) Bedingungen, nach Gewissensvorbehalten und nach der institutionellen Mitwirkung der freien Wohlfahrtspflege aufwerfen.
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Zum Verhältnis von Seelsorge und Beratung
Kirchlich bestellte Seelsorgerinnen und Seelsorger bringen stets mit, dass sie „von der Kirche“ oder „Gemeinde“ kommen. Im spezifischen Kontext des kirchlichen Rahmens von Seelsorge ist explizite Verkündigung weitaus selbstverständlicher und sogar erwartet, als dies im üblichen Beratungskontext diakonischer Beratungsdienste der Fall ist und sein kann (3.1). Mit explizit religiöser oder spiritueller Bezugnahme, die in diakonischer Beratung eher implizit bleiben, ragen zwei ökumenische Trends und Formen von Seelsorge heraus, die in unterschiedlicher Weise ausdrücklich dem religiösen Suchen und den spirituellen Bedürfnissen der Begleiteten entgegenkommen wollen: Geistliche Begleitung (3.2) und Spiritual Care im Kontext von Palliative Care im Besonderen und allgemeiner im Gesundheitswesen (3.3). 3.1 Amtliche Seelsorge enthält Dimensionen von Beratung in einem systemisch religiös geprägten Rahmen Amtlich beauftragte wie informell-geschwisterliche Seelsorge kann Beratung sein und sollte dies in ihren am Evangelium orientierten freiheitlichen, emanzipatorischen und befähigenden Anliegen auch, unbeschadet ihrer Komplexität und möglicher Akzentsetzungen verschiedener Seelsorgekonzepte (vgl. Nauer 2014). Jede Seelsorgeperson bedarf der oben genannten Gesprächsführungskompetenzen und Grundhaltungen als einem bewussten Ausdruck christlicher Nächstenliebe – allen Menschen gegenüber, erst recht gegenüber Suchenden, Zweifelnden, körperlich und seelisch Leidenden. Wie in Beratung wirkt authentische Seelsorge auch auf die Seelsorgenden zurück und fordert ihre Selbstreflexion – nicht zuletzt coram Deo – heraus. Die sog. „unbedingte Annahme“ nach Rogers wird, wenn nicht schon in der diakonischen Beratung, so spätestens als Anforderung an christliche Seelsorgepersonen in eine Haltung der Ehrfurcht vor dem Geheimnis der anderen Person in ihrer unverlierbaren Gottebenbildlichkeit und apriorischen Annahme (und Rechtfertigung) durch den Gott Jesu Christi aufgehoben, zumal im Aushalten möglicher Spannungen des „Nicht-unbedingt-Annehmen-Könnens“. Als Beziehungshaltungen können wir von den drei „großen E’s“ sprechen: Empathie, Echtheit, Ehrfurcht (Baumann 2016). Die angesprochene Ehrfurcht impliziert die bewusste Öffnung eines triadischen geistigen Beziehungsraumes des Seelsorgegeschehens seitens der Seelsorgeperson zwischen ihr selbst, Gott und der anderen Person(en) und damit deren „Einbezug in die Güte“ (so Meister Eckhart; vgl. Heizler 2021). Entscheidende Unterschiede zur diakonischen Beratung im sozialstaatlichen Setting werden systemisch durch den unterschiedlichen institutionellen Rahmen und von den damit verbundenen impliziten wie expliziten Zielsetzungen und Erwartungen geprägt. Konkret heißt das: Mit der Bezeichnung „Seelsorge“ ist im gesellschaftlichen säkularen (!) Grundverständnis eine (noch immer) positive religiöse Konnotation und Erwartung verbunden. Diese im Wortsinn
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diffuse Konnotation ist Teil der organisationalen und rechtlich legitimierenden Rolle der Seelsorgerin als auch der Assoziationen und Erwartungen, die in der Begegnung mit ihr z.B. seitens des militärischen Personals, der Gefängnisinsassen und -bediensteten als auch der Patientinnen und Patienten geweckt werden. Seelsorge darf selbstverständlich und ausdrücklich religiöse Verkündigung sein. Die klar religiöse Konnotation färbt das kommunikative Geschehen auch seitens der anderen Person(en) bewusst oder latent religiös ein und macht die Seelsorgeperson zu einer Repräsentanz der religiösen Organisation und ihres „heiligen Ursprungs“. Meist enthält dies zunächst einen Vertrauensvorschuss und eine Verheißung von Begegnung. Bei gravierendem Fehlverhalten liegt darin aber eine umso schlimmere seelische Bedrohung und zerstörerische Belastung primär für die von solchem Missbrauch Betroffenen, sodann für ihre Angehörigen und ihr Umfeld, für die Gemeinde und die Kirche, auch für die Seelsorgeperson selbst, und nicht zuletzt ist es ein Verrat am Heiligen. Beides – Verheißung wie Gefahr – ist hier zunächst für die christlichen Kirchen, Gemeinden und Gemeinschaften gesagt. Es gilt zunehmend auch interund transreligiös: Christliche Seelsorge ist für alle Menschen offen. Darüber hinaus wird in Deutschland in Anerkennung der religiösen Pluralität in der Bevölkerung für Militär, Gefängnisse, Krankenhäuser und andere Felder zunehmend muslimische und jüdische wie auch buddhistische Seelsorge gewünscht und etabliert. Sie werden auch durch kirchliche Kooperationen in Konzept- und Kompetenzenentwicklung gefördert, zumal traditionelle Konzepte der nicht-christlichen Religionen Seelsorge durch amtlich Bestellte wie in der christlichen Tradition weniger praktizierten oder gar nicht kannten (vgl. Noth u.a. 2017). So definiert z.B. Abdelmalek Haboui angelehnt an christliche Konzepte und sehr weit: „Islamische Seelsorge ist ein religiös motiviertes Angebot, um Menschen in einer besonderen Notlage eine professionelle Hilfe anzubieten“ (Haboui 2017, S. 101). 3.2
Geistliche Begleitung, nicht Geistliche „Führung“ („direction“)
Einen besonderen Traditionsstrang von Seelsorge stellt die sog. „Geistliche Begleitung“ dar, die in ihren archaischen Wurzeln auf die Ratsuche und Erziehung bei religiösen Autoritäten zurückgeht und in vielen Religionen vielfältige Formen gefunden hat. In der christlichen Entwicklung gründet sie in der religiösen Suche und dem Wunsch zur radikalen bzw. ganzheitlichen Nachfolge Christi, schon bei den Wüstenvätern, sodann in den monastischen bzw. klösterlichen Gemeinschaften von Frauen und Männern, die sich Weisung und Rat für ihr Leben mit Gott von darin Erfahrene(re)n suchten. Ein besonderer Entwicklungskontext war der Dialog in der sakramentalen Beichte. Vielfältige Traditionen sind synthetisiert und christologisch konzentriert in den sogenannten Geistlichen Übungen des Ignatius von Loyola (1491–1556) und dem damit verbundenen Begleitprozess mit dem Ziel, „den Seelen zu helfen“ (Lambert
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1991, S. 114). Dieser Begleitprozess dient als Referenzpunkt in der Exerzitienbewegung seit Mitte des 20. Jahrhunderts, die zunehmend ökumenisch anschlussfähig geworden ist, da es in ihm um eine subjektorientierte Logik existentieller Erfahrung im Licht bzw. im meditierenden Gegenüber zum „Du“ Jesu Christi geht, welche die Person erhofft, die solche Begleitung sucht und erbittet. Die ignatianischen Hinweise zum Beziehungsgeschehen an den, „der die Übungen gibt“, zielen auf einen sehr sorgsamen und förderlichen Umgang mit der unvermeidlichen Asymmetrie gegenüber der Person, „die die Übungen macht“, und ganz darauf, „dass der Schöpfer und Herr selber sich seiner ihm hingegebenen Seele mitteile, sie zu Seiner Liebe und Seinem Lobpreis entflamme und sie zu dem Weg bereit mache (disponer), auf dem sie Ihm künftig besser dienen kann.“ (Haas 1967, Nr. 15) Dem darf die Begleiterin in keiner Weise im Wege stehen, sondern mit ihren Hinweisen dies nur fördern und „wie eine Waage in der Mitte stehend, unmittelbar den Schöpfer mit seinem Geschöpf und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und Herrn wirken lassen“ (ebd.) Dennoch sind die Hinweise nicht „non-direktiv“, sondern im Kontrakt mit der begleiteten Person ist enthalten, sich auf die Meditation des Lebens und der Worte Jesu Christi einzulassen und das eigene Erleben dabei zur „Unterscheidung der Geister“ der Begleiterin mitzuteilen. Diese darf nicht führen oder bestimmen, sondern durch ihre Hinweise „nur“ mithelfen, dass und wie die begleitete Person ihren unvertretbar eigenen Weg in innerer Freiheit findet und als Getaufte mit Jesus Christus bewusster, dankbarer und liebender („magis“; vgl. Lambert 1991, S. 106–108) geht. 3.3
Seelsorge als Aufgabe aller und jedes Getauften und Spiritual Care
Der katholische Theologe J.M. Sailer (1751–1832) fasste die jahrhundertealte Tradition zusammen, dass Seelsorge in dreierlei Sinn aufgetragen ist: als „persönliche“ ist sie „die Selbstpflicht eines jeden Menschen, für seine Seele (Religion, Tugend, Weisheit, Seligkeit) zu sorgen: Jeder sei sein Selbstseelsorger!“; als „gemeinsame“ die „Nächstenpflicht eines jeden, für das unsterbliche Heil anderer zu sorgen: Jeder sei des anderen Seelsorger!“ und erst als drittes „die Amtspflicht der öffentlichen Personen, die von der Kirche bevollmächtigt und angewiesen sind, für das unsterbliche Heil ihrer Mitmenschen in einem bestimmten Kreise zu sorgen: Jeder Geistliche sei Seelsorger in seinem Kreise!“ (zit. nach Hofmeier 1995, S. 379). Häufig traten die ersten beiden Verständnisse trotz aller Überzeugung vom gemeinsamen Priestertum aller Gläubigen „ökumenisch“ in den Hintergrund der dominierenden Perspektive von Seelsorge als Aufgabe des kirchlichen Amtes. Daran änderte auch die schon bei Augustinus vorfindliche explizite Ergänzung der leiblichen Werke der Barmherzigkeit (vgl. Mt 25,31–46) um die geistigen Werke der Barmherzigkeit als möglichen Operationalisierungen der Nächstenliebe nichts: Unwissende lehren, Zweifelnde beraten, Trauernde trösten, Sün-
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der zurechtweisen, Beleidigern verzeihen, Lästige ertragen, für Lebende und Verstorbene beten. Eine besondere Aktualisierung erfuhr ein Teil dieser geistigen Werke der Barmherzigkeit in der „Wiederentdeckung“ der spirituellen Bedürfnisse von Sterbenden und schwerstkranken Schmerzpatienten sowie ihrer Angehörigen und des Personals durch Cicely Saunders (1918–2005) im Rahmen ihrer Entwicklung der palliativen Behandlung (von „total pain“). Die Beachtung und das jeweils individuell angepasste Eingehen auf die spirituellen Bedürfnisse der Patienten (und ihres persönlichen Umfeldes) in ihrem Schmerzerleben nicht nur durch Klinikseelsorge, sondern durch alle Berufe im Behandlungsteam wird als „Spiritual Care“ bezeichnet (vgl. Evangelische Kirche in Deutschland 2020; Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 2021). Spiritual Care wird inzwischen allmählich sachgemäß ausgeweitet auf alle Patientengruppen und überhaupt auf Menschen in kritischen Lebensereignissen. Denn Spiritual Care erkennt an und nimmt ernst, dass in jedem Menschen spirituelle Bedürfnisse wach und wirksam werden können. Ebenso achtsam wie amtlich bestellte Seelsorge auf diese Bedürfnisse personenzentriert einzugehen sucht, achtet auch Spiritual Care die religiöse Unterdeterminierung und persönlichkeitsspezifische Ausprägung (Baumann/Frick 2021) spiritueller Bedürfnisse und sucht, was die betroffenen Personen selbst brauchen. Sie unterlässt jede Form indiskreter, bedrängender Ausnutzung der Situation zu damit per se missbräuchlichen Verkündigungszwecken (s.o. 1.). Spiritual Care kann somit im zweiten und dritten Sinn von Seelsorge nach Sailer verstanden werden, jedoch auch als religiös ungebundene, sogar säkulare Form einer Nächstenliebe praktiziert werden, die auf die spirituellen Bedürfnisse anderer um ihrer selbst willen eingeht (Büssing 2021) und auf diese sorgsame Weise ihren „Seelen helfen“ will. Literatur Bachmair, S. et al. (1989): Beraten will gelernt sein. Ein praktisches Lehrbuch für Anfänger und Fortgeschrittene. Weinheim. Baumann, K./Frick, E. (2021): The Religious Under-Determination of Spiritual Needs from a Theological Perspective and Their Implications for Health and Social Care. In: A. Büssing (Hg.): Spiritual Needs in Research and Practice (S. 9–25). Cham. Baumann, K. (2016): Heilsame Haltungen unter systemwidrigen Bedingungen? Beraterinnen und Berater im kirchlichen Dienst. In: B. Plois/W. Strodmeyer (Hg.): Heilsame Haltungen. Beratung als angewandte theologische Anthropologie (S. 143–156). Berlin. Büssing, A. (Hg.) (2021): Spiritual Needs in Research and Practice. Cham. Collins, J. N. (1990): Diakonia. Re-interpreting the ancient sources. New York. Dreier, H. (2018): Staat ohne Gott. Religion in der säkularen Moderne. München.
Verkündigung und diakonische Beratung
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Egan, G. (1996): Helfen durch Gespräch. Ein Trainingsbuch für helfende Berufe. Weinheim. Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.) (2020): Spiritual Care durch Seelsorge. Zum Beitrag der evangelischen Kirche im Gesundheitswesen. Eine Handreichung der Ständigen Konferenz für Seelsorge in der EKD. Hannover. Haas, A. (1967): Ignatius. Geistliche Übungen. Übertragung und Erklärung. Mit einem Vorwort von Karl Rahner. Freiburg i.Br. Haboui, A. (2017): Islamische Seelsorge und Beratung im Kontext pluraler Gesellschaften. Das Beispiel Krankenhausseelsorge. In: I. Noth et al. (Hg.): Pastoral and Spiritual Care (S. 101–114). Göttingen. Harnack, A. v. (1924): Die Mission und Ausbreitung des Christentums in den ersten drei Jahrhunderten (4., verbesserte und vermehrte Aufl.). Leipzig. (Nachdruck Darmstadt: WBG 2018). Heizler, C. (2021): Der Einbezug in die Güte bei Meister Eckhart. Ein Beitrag zur theologischen Begründung und praktischen Entfaltung klinischer Seelsorgepraxis. Noch unveröffentlichte Habilitationsschrift, Freiburg i.Br. Hentschel, A. (2007): Diakonia im Neuen Testament: Studien zur Semantik unter besonderer Berücksichtigung der Rolle von Frauen. Tübingen. Hofmeier, J. (1995): Johann Michael Sailer. In: C. Möller (Hg.): Geschichte der Seelsorge in Einzelporträts Bd. 2 (S. 371–385). Göttingen/Zürich. Lambert, W. (1991): Aus Liebe zur Wirklichkeit. Grundworte ignatianischer Spiritualität. Mainz. Markschies, C. (2004): Warum hat das Christentum in der Antike überlebt? Ein Beitrag zum Gespräch zwischen Kirchengeschichte und Systematischer Theologie. Theologische Literaturzeitung Forum, 13, 5–65. Nauer, D. (2014): Seelsorge (3. Aufl.). Stuttgart. Nestmann, F./Engel, F./Sickendieck, U. (Hg.) (2004): Das Handbuch der Beratung. 2 Bd. Tübingen. Noth, I./Wenz, G./Schweizer, E. (Hg.) (2017): Pastoral and Spiritual Care Across Religions – Seelsorge und Spiritual Care in interkultureller Perspektive. Göttingen. Schneider, B. (2017): Christliche Armenfürsorge. Von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters. Eine Geschichte des Helfens und seiner Grenzen. Freiburg i.Br. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.) (2021): „Bleibt hier und wacht mit mir!“ (Mt 26,38) Palliative und seelsorgliche Begleitung von Sterbenden (Die deutschen Bischöfe Pastoralkommission 51). Bonn. Theissen, G. (2000): Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums. Gütersloh. Watzlawick, P./Beavin, J. H./Jackson, D. D. (2011): Menschliche Kommunikation. Formen. Störungen. Paradoxien (12. Aufl.). Bern.
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„Ich möchte gerne helfen und das ganz praktisch lernen...“. „Ich interessiere mich für einen sozialen Beruf, wo ich gebraucht werde und systemrelevant bin...“. So oder ähnlich beschreiben Schüler und Schülerinnen oder Studierende ihre Vorliebe für Lernsettings, die Theorie und Praxis miteinander verbinden. Sie wollen in der Praxis für die Praxis etwas Sinnvolles lernen, um mit ihrem Handeln das soziale Klima zu verbessern und zugleich persönlich weiterzukommen. Soziales und diakonisches Bildungshandeln nimmt dieses Anliegen auf. Es ist prosoziales, handlungsorientiertes und praxisbezogenes Lernen, das eingebunden ist in eine Konzeption sozialer und diakonischer bzw. caritativer Bildung. Dabei wird nicht etwas über diakonische Bildung gelernt, sondern – im Sinne dualer Bildung – durch diakonische Bildung, indem „religiöser Impuls, fachliches Können und menschliche Empathie miteinander verschmelzen“ (Schulz 2015, S. 113). Praxislernen bildet das Herzstück diakonischer Bildung. 1
Begriffliche Klärungen
Die Begriffe „diakonisches Lernen“ und „diakonische Bildung“ sind – ähnlich wie „Solidarität“ – neuzeitliche Termini der westlichen Welt. Sie reagieren auf tiefgreifende Veränderungen der Familienstrukturen und von stabilisierenden Faktoren des Zusammenhalts. Schule oder kirchliche Andersorte bieten dafür Modelle guten Zusammenlebens, auch durch Bildung, an. Warum beschäftigen wir uns 2021 neu mit diakonischem Lernen und Bilden? Man könnte auf gute und gängige Publikationen verweisen, die historische Wurzeln diakonischen Bildungshandelns darstellen und unterschiedliche Formate diakonischer Bildung entfalten (vgl. Schmidt 2005; Fricke/Donner 2015; Schulz/Eidt 2015; Boës 2013). Aber: Diakonische Bildung ist zeitgebundene Bildung. Sie muss heute reagieren auf die großen Herausforderungen der Coronakrise, der Klimakrise, der Digitalisierung, auf wirtschaftliche Einbrü-
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che und in diesem Kontext Vorstellungen von Inklusion, Integration oder Partizipation mit Gottvertrauen zusammenbringen. Sie muss z.B. klären, ob soziales Handeln auch digital erlernbar ist und wie sich digitale Bildung und diakonische Bildung zueinander verhalten. Wie einst die Rettungshausdiakonie die Not einzelner liebevoll zu wenden suchte, soll heute diakonische Bildung global für alle Menschen rettend wirken. Kein Begriff steht dabei so im Zentrum wie der der Solidarität im Sinne des sozialen Kitts, der unsere Gesellschaft trägt und zusammenhält. Buyx und Prainsack (2016) verweisen auf unterschiedliche Vorstellungen von Solidarität, die in multikulturellen Gesellschaften aufeinandertreffen (S. 56–58) und miteinander auszuhandeln sind. Weil Kirche und Diakonie einen eigenen Beitrag dazu leisten, ist diakonische Bildung – so die These – vor diesem Hintergrund heute neu zu buchstabieren. Ich gehe dabei von einem Bild des Menschen als Resonanzwesen aus, der sein Menschsein im Resonanzraum der Solidarität zu entfalten sucht. Biologische und neurobiologische Forschungen stützen die These, dass prosoziales Verhalten zur Natur des Menschen gehört und erlernbar ist. Darauf baut diakonische Bildung auf. Neben der Neurobiologie, die unser Gehirn als Lernort prosozialen Verhaltens definiert (vgl. Singer 2006, S. 466), nehmen entwicklungsbezogene Forschungen zusätzlich geschlechts-, kultur- oder religionsbezogene Faktoren diakonischer Bildung in den Blick. Sie kommen zu „bereichsspezifischen Vorstellungen“ (E. Stern, zit. n. Einsiedler 2005, S. 331) oder „religiösen Stilen“ (A. Szagun, zit. n. Streib 2001, S. 149) als persönlichen Dispositionen sozialen und diakonischen Lernens. Leitend ist die Überzeugung, dass alle Menschen in jeder Lebensphase zum diakonischen Lernen fähig sind, weil Wahrnehmung, Teilhabe und Solidarität „auf Augenhöhe“ (Bude 2020) trainierbar sind. Auch wenn mehr Handreichungen zum diakonischen Lernen vorliegen als zur diakonischen Bildung, sind beide Aspekte gleich wichtig und gehören zusammen: Diakonisches Lernen ist eher funktional zu verstehen als Gestaltung eines Lernprozesses. Boës z.B. gibt – entlang der Kompetenzmatrix des schulischen Bildungsplanes – zahlreiche Felder diakonischer Kompetenzbildung an (2013, S. 8). Schulz (2015, S. 123) nutzt den Ansatz elementarisierenden, diakonischen Kongruierens und die Kompetenzmatrix kirchlicher Berufe im Diakonat (Zippert 2019) für ein Konzept diakonischen Lernens. Diakonisches Lernen ist ein von Lehrpersonen oder Anleitenden diakonischer Einrichtungen geführter und begleiteter Prozess (bei Sozialpraktika, Freiwilligem Sozialem Jahr usw.). Es ist eine auf Ziele ausgerichtete Bewegung (top down), die sich an Bildungsplänen, Rahmenrichtlinien usw. orientiert. In diesem Sinne versteht sich auch das Compassion-Lernen, das auf die Bildung von Mitgefühl und Mitverantwortung zielt.
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Compassion bezeichnet ein in katholischen Schulen etabliertes Projekt, das Jugendlichen für ca. drei Wochen die Möglichkeit gibt, soziale Erlebnisse in Einrichtungen der Caritas zu machen, wobei die Praxis im Unterricht mehrerer Fächer begleitet wird. Ziel ist es, Mitleidenschaft (nicht Mitleid) einzuüben und dabei auch die Ursachen von Leid samt gesellschaftlicher Fehlentwicklungen zu bearbeiten (Metz/Kuld/Weisbrod 2000). Diakonische Bildung, als der umfänglichere, vornehmlich in den reformatorischen Kirchen beheimatete Begriff, zielt auf ein Miteinander, das Exkludiertes bewusst inkludiert und sich an Jesu liebevoller Zuwendung zum Einzelnen orientiert. Diakonische Bildung steht im Dienste der Persönlichkeitsbildung im Sinne des Priester:innenamtes aller Gläubigen. Sie orientiert sich an Bedarfen (Hilfehandeln an Schwachen) und Bedürfnissen (Bildung einer diakonischen Kultur des Miteinanders) und bringt als Bewegung von unten (bottum up) vor allem diese beiden Schwerpunkte in die Solidaritätsbildung ein. Caritative Bildung, als in der katholischen Kirche beheimateter Begriff, zielt auf Solidarität mit dem Fokus auf den Armen und ihre Teilhabe an der Sakramentsgemeinschaft der Kirche. Als der neue amerikanische Präsident seinen Amtseid mit Handauflegung auf der Bibel schwor, bezeugte er damit genau diesen Zusammenhang von Gemeinschaftsbindung und-bildung. Eine ökumenische Kooperation von diakonischer und caritativer Bildung kann die beiden konfessionellen Pole von individueller und gemeinschaftsverbundener Bildung gezielt in Blick nehmen. Sie kann gemeinsam dafür Sorge tragen, Solidarität an der Bedürftigkeit und den Bedarfen zu orientieren. Biblische Impulse aufnehmend, geht es dabei um Grundbedürfnisse, die über die Existenzsicherung hinausgehen. Menschen sind der Liebe, der Ansprache usw. bedürftig und dabei evtl. auch offen für göttliche Zuwendung. Diakonische Bildung leistet somit einen Beitrag zur Kulturbildung oder Sozialraumgestaltung. Hier stehen Bildung als Selbstbildung 1 und Weltbildbildung in engem Zusammenhang mit der Selbststeuerung des Lernprozesses. Wichtig werden nun die Analyse und Konstruktionen gesellschaftlicher Wirklichkeit unter prosozialer und konstruktivistischer Perspektive. Der Beitrag diakonischer Bildung zur Solidaritätsbildung konzentriert sich hier auf die Bildung einer Kultur, in der niemand verloren geht oder übersehen wird mit dem Fokus auf Teilhabe und Bedürfnisorientierung. Der Prozess selbst ist Teil dieses kulturbildenden Profils. In welchem Verhältnis stehen nun die beiden Begriffe Bildung und Diakonie zueinander? Das Diakonische ist weder das Spielbein von Bildung noch die Bildung das Standbein von Diakonie. Sie bedingen einander wechselseitig. Diakonische Bildung ist ein Prozess ständiger Fortbewegung von Kirche und Ge1 Bildung ist die „Selbstbildung des Menschen, der kognitiv und mit seiner kritischen Vernunft eigene Lebenswirklichkeit durchdringt. In diesem Prozess bezieht der Mensch sein kulturelles Allgemeinwissen, seine wertgeleiteten Einstellungen sowie sein verantwortliches Handeln mit ein“ (Weber 2014, S. 34).
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sellschaft: Diakonische Bildung liefert einen eigenen Beitrag zur Solidaritätsbildung. Sie umfasst einen Prozess des Wahrnehmens und Einübens prosozialer, diakonischer Fähigkeiten, Fertigkeiten und Handlungen (bezeichnet als diakonisches Lernen), der sich am christlichen Bild von Persönlichkeits- und Gemeinschaftsbildung und Teilhabe am Reich Gottes orientiert, sowie einen Prozess der Analyse, Gestaltung und Reflexion prosozialer Einmischung von Einzelnen, Institutionen (Kirche) oder Staaten in das Gemeinwesen, auch unter der Einbeziehung von biblisch-diakonischen, christlichen oder kirchlichen Perspektiven und Interessen. Eine Systematik diakonischer und caritativer Bildung hat Bildungsprofile, -prozesse und -methoden in ihrem Zusammenwirken zu entfalten. 2
Bildungsprofile
Bildungsprofile diakonischer Bildung sind religiös und gesellschaftlich verortet. Wie bei den unterschiedlichen Richtungen religiöser Bildung im Religionsunterricht dominieren auf der einen Seite biblisch motivierte Zugänge, auf der anderen Seite problemorientierte Zugänge. 2.1
Biblisch-theologisch motivierte Profile
„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist“ (Lk 6,36 – Jahreslosung 2021). Solidaritätsbildung gründet in einem Menschenbild, das prosozial, human und soziomorph agiert. Mit Hilfe seines Geistes kann der Mensch bewusst sein Denken und Handeln gestalten und diesem einen Sinn geben. Theologiegeleitete Profile gehen darüber hinaus davon aus, dass der Mensch nicht nur in der Lage ist, sich mitzuteilen und auf Mitteilungen zu reagieren, sondern sich auch zu öffnen für Mitteilungen und Sinn, die von außen auf ihn zukommen. Religio, die Bindung an Göttliches, kann als Transzendenzbezug prosoziale Bildung mitprägen. Grundlegend ist die christliche Überzeugung, dass die Würde eines Menschen sich aus der Ebenbildlichkeit ableitet und sich am Bild von Jesus Christus orientiert. Diakonische Bildung bringt die Wahrung dieser Würde ein, welche allein von Gottes Schöpfung, nicht aber von Leistung, Besitz, Geschlecht usw. abhängig ist. Deshalb stehen Erzählungen vom Barmherzigen Samariter (Lk 10,25–37) oder von den Werken der Barmherzigkeit (Mt 25,31– 46) im Zentrum. Theologische Schlüsselbegriffe sind Liebe (caritas), Dienen (diakonia), Barmherzigkeit (misericordia) und Gerechtigkeit (iustitia). Sie entfalten, was bereits im Ersten Testament grundgelegt ist: Gott sieht die Niedrigen (Ps 138,6) und leidet mit. Im Bild von der Mahlgemeinschaft der frühen christlichen Gemeinden (Apg 2,42) oder des Zusammenlebens im Reich Gottes (Offb 21) wird diakonisches Miteinander als Versammlung aller um einen gemeinsamen Bezugspunkt, Jesus Christus, vor Augen gestellt. Indem alle teilhaben und gesehen werden, kann diakonische Bildung auch Vorstellungen
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von Solidarität infrage stellen, die sich an kulturellen oder materiellen Mehrheiten orientieren. Denn diakonischer Bildung geht es um Erfahrungen mit einem zugewandten Gott, der durch die Errettung von Sünde und Schuld (Rettungshausdiakonie), der Errichtung von Gerechtigkeit (integrative Diakonie), der Barmherzigkeit (Anstaltsdiakonie) oder Teilhabe (Verbands- und Sozialraumdiakonie) seine Liebe durch und unter den Menschen ausbreitet. Von Anfang an bezog die Innere Diakonie ihre Bildungsideale auf gesellschaftliche Herausforderungen. Während im Pietismus um 1680 das prosozial motivierte Handeln als Glaubenspraxis verstanden wird, durch die man „gutes Christsein“ erlernt und pflegt (z.B. in den Franckeschen Anstalten), stellen Johann Hinrich Wichern und Amalie Sieveking das Hilfehandeln ins Zentrum von Erziehung und Bildung. Mit der Gründung des Rauhen Hauses 1833 sollten die verwaisten Kinder oder verarmten Jugendlichen in Schule und Rauhhausfamilie Stabilität erfahren. Neben der Kirchengemeinde am Ort wurden Netzwerke, Vereine und Kooperationen mit gesellschaftlichen Akteuren aktiviert, sodass diakonisches Lernen mit dem Beginn der Anstaltsdiakonie aus dem innerkirchlichen Bereich heraustrat. Oft am Rande, an eigenen Orten (z.B. Karlshöhe Ludwigsburg) oder mit eigenen Schwerpunkten (evangelische Schulen), entstanden Vorzeigeorte diakonischer Gesinnung und Bildung. Der Beitrag theologisch motivierter diakonischer Bildung zur Solidaritätsbildung umfasst vier Dimensionen: die Gottesliebe, die Selbstliebe, die Nächstenliebe und vor allem auch die Fernstenliebe oder sogar die Feindesliebe (Mt 5,44 f.). Gerade die Fernstenliebe, die jeden Menschen gleich welcher geschlechtlichen, kulturellen oder religiösen Orientierung achtet – und auch in Hilfeprogrammen keinen Unterschied macht (z.B. bei Projekten von Brot für die Welt, Caritas) – ist ein besonderes Merkmal diakonischer Bildung. Mit der Konzentration auf die Menschenrechte, Individualität, Toleranz und Barmherzigkeit jeder Person gegenüber wurde sie ein Wegbereiter einer globalen und pluralitätsfähigen Gesellschaft. Insofern gehört eine Auseinandersetzung mit kolonialer Theologie, mit Abhängigkeiten und Verstrickungen unbedingt zur diakonischen Bildung. Zur historischen Tradition diakonischer und caritativer Bildung in Deutschland gehört die Überzeugung, einem ganzen Volk durch das Christentum und die kirchliche Bildung heilvolle Impulse zum eigenverantwortlichen und vor Gott zu verantwortendem Zusammenleben zu geben. Dass die Grenze zwischen einer Zuwendung zu den Bedürftigen auf der einen Seite und Missbrauch, Kolonialisation oder Zwangskonversion von Menschen in Not auf der anderen Seite oft fließend war und kirchliche Diakonie oder Caritas hier zeitweise zum Unheil, denn zum Heil der Menschen agierten, gehört ebenso zur Wahrheit wie die Wahrnehmung, dass diakonische Bildung die Volksbildung und das soziale Miteinander in Deutschland maßgeblich vorangebracht hat und bringt.
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Gesellschaftlich motivierte Profile
Diakonische Bildung, die sich als Player in einer solidarischen Gesellschaft versteht, fokussiert sich nicht auf das Leid, sondern auf das Wohlsein. Dabei werden Strukturen des Zusammenlebens erkundet und diese mit unterschiedlichen Perspektiven gedeutet und ins Gespräch gebracht. Die komparative Theologie ist dabei ein wichtiger Impulsgeber, um sozial-diakonische Anliegen sowohl weltlich, interreligiös als auch kirchlich anschlussfähig einzubringen. Martin Horstmann (2011) z.B. arbeitet bei seinem konstruktivistischen Modell diakonischer Bildung für Erwachsene mit elementaren Grunderfahrungen des Diakonischen, die allgemein zugänglich sind, basierend auf einem Verständnis von Bildung, wie es auch die EKD-Studie Maße des Menschlichen beschreibt. 2 Ausgangspunkt ist ein nicht-wertender Blick auf den Menschen in seiner Bedürftigkeit, Verletzlichkeit und Fragmentarität. Diakonische Bildung ist damit Bildung für alle mit allen. Fricke und Dorner plädieren hierzu für einen integralen Ansatz diakonischen Lernens im Verbund mit anderen Professionen (2015, S. 6). Fricke weist zu Recht darauf hin, dass diakonisches Handeln sich seit Jesu Zeiten nicht ausschließlich auf Bedürftige konzentrierte, sondern das „arm sein im Geiste“ als zu bildende Haltung ebenso im Blick war (2016, S. 20 ff.). Insofern hat diakonisches Lernen an unterschiedlichen Lernorten zu erfolgen. Claudia Schulz plädiert am Beispiel von Sozialraumprojekten für eine diakonische Bildung als „service learning“. Die Beteiligten bringen sich gesellschaftlich ein und dabei wird ihnen das, was sie dabei wissen müssen, je nach Bedarfen „serviert“. Hierzu wird ein besonderes Augenmerk auf die Wahrnehmung der Beteiligten und ihre Erfahrungen mit Solidarität gelegt. In gemeinsamen Reflexionen können Aspekte wie Inklusion, Gender, Diskurs, Globalisierung, Zusammenleben in Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung, aber auch spirituelle Orte usw. gemeinsam entdeckt und weiterentwickelt werden. Hier dominiert die Analysekompetenz (2015, S. 115 ff.). Walter Boës verfolgt mit seinem Dreischritt von „Ansehen – Deuten – Handeln“ (2013, S. 165–262) das Ziel, mit Hilfe allgemeinpädagogischer und gesellschaftlich relevanter Kategorien das Spezifische diakonischer Bildungsprofile zu beschreiben und dieses zugleich theologisch anschlussfähig zu machen. Lernorte diakonischer Bildung sind nun neben konfessionellen Schulen und Bildungseinrichtungen oder Kirchengemeinden am Ort ebenso nichtkirchliche Organisationen oder der Sozialraum. Kritische Stimmen fragen allerdings, ob bei diesem Ansatz das theologische Anliegen in Wort und Tat bei der Solidaritätsbildung erkennbar bleibt.
Bildung wird hier verstanden als ein „Zusammenhang von Lernen, Wissen, Können, Wertebewusstsein, Haltungen (Einstellungen) und Handlungsfähigkeit im Horizont sinnstiftender Deutungen des Lebens“ (Kirchenamt der EKD 2003, S. 66).
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Bildungsprozesse: Inhaltliche und methodische Schwerpunkte diakonischer Bildung
Diakonische Bildung als Beitrag zur Solidaritätsbildung steht für eine Kultur des „Mit-Seins“. Dem „Ich-für-mich-Sein-und-Sorgen“ entgegen wird das „Ich-mitAnderen-zusammen-Sein-und-füreinander-Sorgen“ zum Maßstab. Mit-Sein ist komparativ übersetzbar: Als Mit-einander-Sein und Füreinander-Sein bezieht es sich vom theologischen Selbstverständnis her auf einen Gott, der sich als „Gott mit Dir“ (als mitfühlender, mitleidender, mithoffender, mitgehender Gott) mit uns Menschen verbindet. Leitend für den Bildungsprozess sind die Verben, mit denen das Handeln des Barmherzigen Samariters beschrieben wird. Insofern ist das „Mit-Sein“ im Sinne eines „Dabei-Seins“ der didaktische Schlüssel, um diakonische Bildung als komparatives Geschehen auf vier miteinander korrespondierenden Ebenen zu entfalten und zu evaluieren. 3.1 Mit-Gefühlsbildung durch Identifikation: Gott kommt, fühlt mit und hört mein Jammern (Lk 10,33) Beispiel: Im Religionsunterricht der Klasse 5 erzähle ich (als ehemalige Schülerin der Wichern-Schule des Rauhen Hauses) vom großen Adventskranz mit seinen 24 Kerzen, unter dem wir uns jeden Morgen im Advent zur Morgenandacht versammelten. Ich erlebte hier lichtvolle Momente. Unvergesslich jedoch der eine Morgen, an dem ein Lehrer im Rahmen der Andacht in die Runde fragte, ob jemand von uns einen Schüler aus dem Rauhen Haus, dessen Mutter verstorben und dessen Vater als Kapitän an Weihnachten nicht in Deutschland anlanden würde, an Weihnachten mit zu sich nach Hause nehmen würde. Wir sollten mal zuhause fragen. Der Junge war in meiner Klasse. Ich kannte ihn, mochte ihn jedoch nicht. Und erzählte daheim nichts, bis mein Vater, der als Mitarbeiter darum wusste, dieses Thema einbrachte. Ich wollte den Jungen an Weihnachten nicht bei uns haben – wie auch sonst niemand aus meiner Klasse. So verbrachte er Weihnachten im Rauhen Haus. Ich hatte auf die Gutmütigkeit der Anderen gesetzt, und ich erinnere noch, mit welch gemischten Gefühlen ich diese Weihnacht gefeiert hatte und hoffte, die Erzieher würden es im Rauhen Haus für ihn auch schön machen (vgl. Baur 2008, S. 63). Diakonische Bildung arbeitet mit Gefühlen, Erfahrungen und Performationen (Klie/Leonhard 2008), um Identifikationen anzustoßen. In „nicht originaler Begegnung“ fühlen wir uns mit Hilfe methodischer Inszenierungen durch Narrative, Lernen an Biografien, erlebnispädagogische Übungen usw. real oder digital in das Gegenüber ein. Beim „Lernen im (Klassen-/digitalen) Raum“ ist zu klären, ob z.B. eine Erzählung bereits Erfahrungen von Mitgefühl vorstellt (diakonische Bildung als Nachvollziehen) oder ob man sich zu unterschiedlichen Gefühlen und Dilemmata verhalten kann (diakonische Bildung als Auseinandersetzung). Bis hin zur Frage, wie sich die Lehrperson positioniert, ob diese selbst Teil der Story wird (wie im Beispiel) oder mit Außenperspektive beschreibt.
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Es betrifft auch die theologische Ebene, die mit entsprechenden Bildern (lichtvoll) den Blick für den mitfühlenden Gott an meiner Seite öffnen kann. Singer zeigt in ihren Ressource Projekten, dass Empathie (im Sinne der Fähigkeit zur Resonanz) zu unterscheiden ist von Mitgefühl, das sich an die Seite des Gegenübers stellt (2006, S. 466). Diakonische Bildung ist als Mitgefühlsbildung zu gestalten. 3.2
Mit-Wissensbildung: Perspektiven und Komparationen beschreiben und deuten: Gott geht zu mir in meiner Not und heilt meine Wunden (Lk 10,34)
Beispiel: Studierende aus dem Oman nehmen am Revers-Programm eines gemeinsamen Studienprojektes von Studierenden aus dem Oman, der Universität Tübingen und der Evangelischen Hochschule Ludwigsburg zum interreligiösen Lernen teil. Mit Hilfe von Unterrichtsmaterial werden sie auf eine Exkursion zur Karlshöhe Ludwigsburg vorbereitet (Baur 1996). Auf der Karlshöhe besuchen sie eine WG, in der Studierende der Diakoniewissenschaft und zwei syrische Flüchtlinge zusammenleben. Die beiden Geflüchteten erzählen, dass sie hier unter Christen als Muslime ein neues Zuhause fänden, man ihnen helfe und sie in der WG sogar beten könnten. Einfacher wäre es gewesen, in einem arabisch sprechenden Land oder bei Muslimen unterzukommen. Die meisten omanischen Studierenden waren sehr betroffen und sichtbar unsicher. Die Frage, warum die jungen Syrer, die arabisch sprechen wie sie, die Muslime sind wie sie, in ihrem Land keine Aufnahme finden und was Diakonie hier leistet, geht mit ihnen mit. Vielleicht müssten sie den Koran noch einmal anders lesen –– auch zusammen mit Christen, im „scriptural reasoning“, so ein omanischer Student. Diakonische Bildung kann zum Widerfahrnis werden und bisherige Weltbilder infrage stellen. Dazu sind Wissen und Kenntnisse erforderlich, um Bekanntes und Neues mit ihrer jeweiligen Perspektive zu begreifen und durch Komparationen hin und her zu übersetzen. Die Omanis, die eher aus touristischer Perspektive auf christliche motivierte Diakonie blickten, wurden zu Mit-Wissenden (theory of mind) und damit zu Beteiligten. Ihr eigenes Denken und ihr Glaube bekamen durch das Fremde neue Impulse, sodass sie mehr über christliche Diakonie wissen wollten und eigene Vorstellungen von Solidarität und sozialem Handeln als Muslime – im Dialog mit den christlichen Studierenden – reflektierten. Die Beschäftigung mit einem Gott, der jeden in der Not heilt und Nächstenliebe an keinerlei menschliche Vorgaben bindet, wurde in der Gesamtgruppe kontrovers diskutiert und wissensmäßig vertieft – z.B. durch Textstudien, Rollenspiele, World-Café, open space und andere Methoden (auch digitale), die verschiedenen Perspektiven aufdecken und deuten helfen.
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3.3
K. Baur
Mit-Gestalten als Aktions- und Kommunikationsbildung: Gott sorgt für die Pflege (Lk 10,35)
Beispiel: 25 Studierende verschiedener evangelischer Hochschulen in Deutschland nehmen gemeinsam am BIDA-Studienprojekt (Brücken zum Interkulturellen und Interreligiösen Dialog in Amman/Nahost und Deutschland, Baur 2009) im Nahen Osten teil. Sie studieren in Amman zusammen mit jordanischen Studierenden und wohnen auf dem Gelände der Theodor Schneller Schule (TSS) in Amman. Dort arbeiten sie täglich für 2–3 Stunden in den Wohngruppen des Internates mit, wozu sie von den Erziehern angeleitet werden. Sie bekommen mit, wie die muslimischen Schülerinnen einer christlichen Einrichtung Raum bekommen, um ihren Glauben zu leben. Am Ende gestalten sie einen Projekttag zum Thema „Frieden“ mit und für die Schüler der TSS (Baur 2011, S. 120). An einer Station soll ein Bild zum Frieden der Religionen gemalt werden. Dass es für die SCH unstrittig ist, dass Christen und Muslime gemeinsam an den Gott der Liebe glauben und ihre unterschiedlichen Religionen nur verschiedene Spuren auf dem einen Weg sind, fand bei manchen Studierenden keine Zustimmung. Sie waren mit den Schülerinnen und Schülern einig, dass man in der TSS gut zusammenlebt, bestanden aber auf theologischen Unterschieden, die ihrer Meinung nach auch im Bild Platz finden müssten. So wurde das Praxisprojekt zur Bühne für Diskurse. Diakonische Bildung ist handlungsorientierte Bildung im Sinne des „situated learning“ innerhalb einer Praxisgemeinschaft. 3 Lernen erfolgt in Handlungssituation unter Anleitung und mit zunehmender Übernahme von Verantwortung. Dadurch wird „tourism learning“ in „travelling learning“ 4 überführt. Als Gäste und zugleich Mitwirkende nahmen die Studierenden Strukturen sozialer Ungleichheit, Exklusionen oder Spuren von Kolonialisierung oder Missionierung wahr, die das Schicksal vieler Flüchtlingskinder in Jordanien prägen. Das ging in die Planung des Projektes ein und erwirkte auch eine Infragestellung eigener religiöser Ansprüche oder eines Gottes, der alle Menschen hegt und pflegt (Lk 10). Die interreligiöse Praxis an der TSS übertrugen die Studierenden auf ihre Aufgabe in Deutschland bis hin zur Frage, ob diakonische Praxis an sich interreligiös zu gestalten ist, sofern religiös verschiedene Menschen zusammentreffen. Die stete Reflexion und Dokumentation der Praxis, die für Handlungsbildung notwendig ist, half den Studierenden, an den Fragen und praktischen Möglichkeiten interreligiösen Miteinanders zu reifen. Als methodische Settings dienen z.B. das Lernen in originalen Begegnungen durch Projekte, Praktika und Lernen im Feld. H. Noormann weist zu Recht darauf hin, dass man Das Setting des situierten Lernens wird vor allem mit Hanisch und Toaspern verbunden, vgl. Fricke 2016, S. 4. 4 Suzanne K. Damarin unterscheidet zwischen einem Lernen als Tourist, bei dem mir das, was ich sehe, im Reisepaket des Veranstaltenden vorgegeben wird und ich mit dem Fotoapparat festhalte, was ich sehen sollte – und einem Lernen als Traveller, bei dem ich mir selbst meine Route zusammenstelle und sehe, was ich entdecken möchte, manchmal auch etwas, was auf dem Wege liegt (vgl. Damarin, in Boës, 2013, S. 27). 3
Diakonische Bildung und Solidarität
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diakonisches Handeln und Gestalten nur in der Diakonie und nicht über die Diakonie lernen kann (1998, S. 8). Das Studienprojekt in Amman zeigt aber auch, dass die Qualität der Praxisbildung insbesondere von geeigneten Handlungssituationen und der Qualität der Anleitenden abhängig ist. 3.4
Mit-Verantwortungsbildung – Reflexionsbildung: Tu desgleichen (Lk 10,37)
Beispiel: Eine evangelische Schule nimmt an einem Beratungsprozess zur Qualitäts- und Schulentwicklung teil. Sie beteiligt Personen aus der Kommune und anderer Bildungsträger, um besonders ihr diakonisches Profil in den Blick zu nehmen. Programme wie „Schule ohne ismen“ (Rassismus, Fundamentalismus, Islamismus, Antisemitismus usw.) stehen auch auf dem Prüfstand. Mit Hilfe einer Evaluation nach DialogES (Baur 2014) wird qualitativ und quantitativ erhoben, ob und wie die angestrebte diakonische „Kultur des barmherzigen Miteinanders“ im Schulleben verankert ist. Während die Schülerinnen und Schüler manche gelungenen Beispiele beschreiben, decken Lehrkräfte und Eltern unbarmherzige Verhaltensweisen und Strategien der Leitungsebene auf, die das Profil ihrer Meinung nach infrage stellen und die Qualitätsentwicklung behindern. Diakonische Bildung bedarf der ständigen Reflexion und Evaluation ihrer Inhalte und Methoden im systemischen Kontext. So wurde z.B. die Qualität diakonischen Lernens an ausgewählten evangelischen Schulen oder auch die des Compassion-Projekts erforscht (Gramzow/Hanisch 2004; Beck/Schmidt 2008; Kult/Gönnheimer 2000). Um einerseits den Bildungsprozess zu evaluieren, andererseits aber gerade das theologisch-diakonische Profil in den Blick zu nehmen, eignen sich Evaluationsformate, die die Ebenen diakonischer Bildung (Mitfühlen, Mitdenken, Mitgestalten) in methodischen Settings aufnehmen. Interviews, Dilemmata, praktische Gestaltungen z.B. fordern die verschiedenen Akteure heraus, ihre jeweiligen Interessen sowie ihr Selbstverständnis von Solidarität und Diakonie offen zu legen und regelmäßig zu überprüfen – auch im Sinne eines Gottesbildes, das mit Vergleichen („Tu das Gleiche“) das Handeln fordert und fördert. 4
Diakonische Bildung – ein ökumenischer Solidaritätsbeitrag?
2020 veröffentlichte Papst Franziskus sein Schreiben fratelli tutti. Darin analysiert er die Realität der Weltgesellschaft und fordert die Umkehr zu einem Planeten, der allen Menschen Land, Heimat und Arbeit biete. In der Kritik der „gefährlichsten Viren“, Rassismus, Ausbeutung und Egoismus, schlägt er die Brücke zu allen, die „anfangen Gutes zu tun“ jenseits kontroverstheologischer Dissense. Nur durch ein Miteinander in Solidarität und mit Gottvertrauen könnten die gegenwärtigen Konflikte gemeistert werden. Dass dabei auch Spiritualität, Diakonie und Caritas wichtige Impulsgeberinnen sind, macht diakonische und caritative Bildung heute neu notwendig. Exemplarisch zeigt das Pe-
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K. Baur
ter Zeilinger in einer Analyse des „Exodus-Narrativs“ (2019, S. 5): Aus gelungener Befreiung kann gelingende Veränderung werden. Voraussetzung dafür ist ein prosoziales Verhältnis von Religion und gesellschaftlichem Zusammenleben – auch in der diakonischen und caritativen Bildungsarbeit. Das bleibt eine ökumenische und diakonische Herausforderung. Literatur Baur, K. (1996): Diakonie entdecken: Unterrichtsmaterial zur Karlshöhe Ludwigsburg (Materialheft und Medienheft mit Dias) anlässlich des Diakoniesonntags 1996. Stuttgart/Ludwigsburg. Baur, K. (Hg.) (2008): Wichern 2008 – (k)ein Thema im Religionsunterricht? (Arbeitsbücher für Schule u. Bildungsarbeit 9). Münster. Baur, K./Landgraf, M. (2011): Schule für Hoffnung und Frieden. Zusammen leben und lernen von Christen und Muslimen in den Schneller Schulen in Nahost. Einführung und Unterrichtsbausteine für Schule und Gemeinde. Münster. Baur, K. (Hg.) (2009): Abraham - Impulsgeber für Frieden im Nahen Osten?! Interreligiöser Dialog anhand abrahamitischer Impulse. Ein friedenspädagogisches Studienprojekt evangelischer Hochschulen zum interreligiösen und interkulturellen Lernen in Jordanien und Israel. Münster. Baur, K./Johannsen, K. (Hg.) (2009): Ich hör dir einfach zu. Am Beispiel der Telefonseelsorge seelsorgerlich-personale Kompetenzen fördern. Stuttgart. Baur, K./Fliege, T./Schlenker, C. (2014): Dialogische Evaluation und Schulentwicklung. Ein Evaluationsmodell insbesondere für evangelische Schulen. Münster. Boës, W. (2013): Diakonische Bildung. Grundlegung einer Didaktik diakonischen Lernens an der Schule (VDWI 49). Leipzig. Bude, H. (2020): https://www.tagesspiegel.de/kultur/soziologe-bude-uebercorona-folgen-fuer-die-gesellschaft-verwundbarkeit-macht-solidarisch/ 25757924.html (Zugriff am 27.07.2021). Buyx, A./Prainsack, B. (2016): Das Solidaritätsprinzip: Ein Plädoyer für eine Renaissance in Medizin und Bioethik. Frankfurt a.M./New York. Einsiedler, W. (2005): Unterricht in der Grundschule. In: K. S. Cortina u. a. (Hg.): Das Bildungswesen in der Bundesrepublik Deutschland (2. Aufl.; S. 285–340). Reinbek. Fricke, M./Dorner, M. (2015): Werkbuch Diakonisches Lernen. Göttingen. Fricke, M. (2016): Diakonisches Lernen, evangelisch. In: Das wissenschaftlich religionspädagogische Lexikon im Internet. http://www.bibelwissenschaft. de/stichwort/100314/ (Zugriff am 27.07.2021). Gramzow, Chr. (2012): Diakonie in der Schule –Evaluation eines neuen Unterrichtsfaches (Pdf): www.dr-gramzow.de. Gönnheimer, S./Kult, L. (2000) Compassion. Sozialverpflichtetes Lernen und Handeln. Stuttgart.
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K. Baur
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23 Lebensbegleitendes Lernen – Aus-, Fort- und Weiterbildung in Diakonie und Caritas Annett Herrmann
1
Auftakt und Annäherungen
Die Berufliche Bildung und Qualifizierung bezieht sich auf den gesamten Bereich der Aus-, Fort- und Weiterbildung und schließt Studiengänge als auch die Persönlichkeitsentwicklung mit ein. Die Begriffe Aus-, Fort- und Weiterbildung werden im Sprachgebrauch nicht eindeutig unterschieden. Besonders der Unterschied zwischen Fort- und Weiterbildung ist nicht deutlich. In der Diakonie und im Bundesrahmenhandbuch Diakonie-Siegel Fort- und Weiterbildung in der Diakonie wird Ausbildung in der Regel als der Bereich kenntlich gemacht, in dem erste Qualifikationen in einem Berufsfeld an einer staatlich anerkannten Bildungsinstitution im Umfang von ein bis fünf Schuljahren erworben werden. Der Bereich der Fortbildung soll verstanden werden als Berufsbildung, die auf eine spezifische Aufgaben- oder Berufstätigkeit aufbaut und Kenntnisse wie Fertigkeiten im Sinne des Lebensbegleitenden Lernens aktuell und auf dem neuesten professionellen Stand hält. Hier spielen fachliche und personale Aspekte gleichermaßen eine Rolle. Veranstaltungen zu spezifischen fachlichen Fragestellungen mit dem Ziel der Erweiterung berufsspezifischer Kompetenzen (Kenntnisse, Fertigkeiten, Verhaltensweisen, Einstellungen) und dem Anspruch, die eigene Person, Rolle und die konkreten Berufsvollzüge zu reflektieren und Perspektiven für das berufliche Handeln zu entwickeln, werden als Fortbildungen bezeichnet. Unter Weiterbildung wird eine auf beruflicher Ausbildung und mehrjähriger Berufserfahrung aufbauende Höher- oder Zusatzqualifikation verstanden (vgl. Herrmann 2017, S. 74; Bundesrahmenhandbuch 2018, S. 24). Mit Blick auf die verschiedenen Lernfelder – formales Lernen, non-formales Lernen, informelles Lernen – lässt sich im Kontext des Lebensbegleitenden
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Lernens von einem biographiebegleitenden Lernen sprechen, das sich je nach Lebensphase und Lebensalter in der Methodik, Didaktik, den Bezügen und Inhalten verändern kann. Dem Begriff des Lebenslangen Lernens, der durch die wortgetreue Übersetzung in die Bildungsdiskussion Eingang fand, wohnt dagegen ein Aufforderungscharakter inne, der Lernen auf eine Zeitachse verkürzt, die gemäß dem menschlichen Leben ein Anfang und ein Ende kennt und auf das Individuum verwiesen bleibt (vgl. Herrmann 2017). In diesem Sinne hat auch das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) das Referat „Lebenslanges Lernen; Allgemeine Weiterbildung“ umbenannt in „Lebensbegleitendes Lernen; Allgemeine Weiterbildung“. Studium, Ausbildung und Berufstätigkeit sind gegenwärtig vielfältig herausgefordert und durch einen Kompetenzbegriff geprägt, den der Deutsche Qualifikationsrahmen (DQR) seit 2013 in das Bildungs- und Arbeitsmarktsystem hineinträgt. Bildung und Arbeitsmarkt werden in der Logik der Kompetenzorientierung zusammengedacht. In Zukunft wird es eine große Herausforderung sein, Bildungswege an berufsbildenden Schulen, an Fachschulen, im Rahmen von Studiengängen oder in der beruflichen Fort- und Weiterbildung so zu gestalten, dass sie in ihrer Kompetenzorientierung miteinander abgestimmt und aneinander ausgerichtet sind. Ebenso sind Bildungswege mit Berufsbiographien in einen Zusammenhang zu stellen, so dass auch Kompetenzen von Quereinsteigenden, die in Aus-, Fort- und Weiterbildungsangeboten erworben werden, für spezifische berufliche Tätigkeiten angerechnet werden können. Aus-, Fort- und Weiterbildung sind darüber hinaus wesentliche Elemente einer kompetenzorientierten Personalentwicklung, die für die Diakonie wie die Caritas von besonderer Relevanz ist. Lebensbegleitendes Lernen ist dabei unverzichtbar für alle Berufe im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen. Insbesondere der non-formale Bildungsbereich ist gefordert, Fort- und Weiterbildungsangebote so aufzustellen, dass Qualifizierungsangebote die Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsberufe in ihren verschiedenen Arbeitsfeldern unterstützen und weiterentwickeln. Gerade die Gestaltung der eigenen Bildungsund Berufsbiographie durch Qualifizierungen ist für Mitarbeitende der Sozialwirtschaft ein Erfordernis, um professional handeln und arbeiten zu können und in einem Unternehmen zu verbleiben. Non-formale Bildung ist kein „nice to have“, sondern ein Qualitätsmerkmal, Innovationsfaktor und zugleich ein Erfolgsgarant für die Unternehmen der Sozialwirtschaft. 2
Diakonische Einblicke in die Geschichte der beruflichen Bildung und Qualifizierung
Diakonisches Handeln orientiert sich an den Bedarfen und Notlagen der Menschen. Eine frühkirchliche Systematisierung diakonischer Handlungsfelder waren die sieben Werke der Barmherzigkeit (vgl. Mt 25,34–46): Hungrige speisen, Durstige tränken, Fremde beherbergen, Nackte kleiden, Kranke pflegen,
Lebensbegleitendes Lernen
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Gefangene besuchen, Tote bestatten. Neben der Bedarfsorientierung zeichnet sich Diakonie durch ihre Fachlichkeit aus. Die Professionalisierung sowie die Entwicklung der Diakonie- und Sozialwissenschaften haben zu einer deutlichen Differenzierung der Handlungsfelder geführt. Der einzelne Mensch steht im evangelischen Bildungsverständnis im Mittelpunkt. Es geht darum, den Menschen im Horizont der christlichen Tradition und relevanter Erkenntnisse zu fördern. Bereits Luther sah verschiedene Orte, an denen Bildung ermöglicht werden konnte: die Familie und das Haus, die Schule und die Universität, die Kirche sowie das damals neue Medium der Flugschrift stellten für Luther „Lernorte“ dar. Diese Lernorte finden ihre Aktualität, wendet man sich dem Thema der kompetenzorientierten Lehrpläne zu, der Lernberatung und des Lebensbegleitenden Lernens. Auch die Lernbereiche des formalen Lernens, des non-formalen Lernens und des informellen Lernens gehören dazu wie E-Learning-Angebote und Portfolio-Arbeit. Darüber hinaus führt Luther für die Notwendigkeit der Schulbildung an, dass es neben dem Verdienen des Lebensunterhalts stets auch um eine Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und religiösen Bezügen geht, die eine Einsicht in Gesellschaftliches eröffnen und gleichzeitig mit christlichen Verhaltensweisen wie Nächstenliebe einhergehen, um soziale Teilhabe und ein „Sich verorten können in der Welt“ zu ermöglichen. Professionalität in evangelischer Tradition bedeutet, sich fachlich und sozialengagiert zu betätigen. Fachliche und soziale Kompetenzen sind dabei ebenso Bestandteile des Lebensbegleitenden Lernens wie Selbstsorge und der richtige Umgang in arbeitsverdichteten Situationen. Die Genese der Sozial-, Bildungsund Gesundheitsberufe als professionell ausgeübte Berufe führt zu Theodor und Friederike Fliedner. Sie reagierten auf die Not kranker Menschen und gründeten 1836 in Kaiserswerth die Bildungsanstalt für evangelische Pflegerinnen und das erste Diakonissenmutterhaus. In der Bildungsanstalt wurde großen Wert auf die fachliche Ausbildung und auf die seelsorgerlich stützende Gemeinschaft der Diakonissen gelegt. Die Britin Florence Nightingale, die als Begründerin der modernen westlichen Krankenpflege gilt, war von den Kaiserswerther Entwicklungen beeindruckt und ließ sich 1851 für drei Monate in Kaiserswerth in Pflegetechniken ausbilden. Einen weiteren wichtigen Beitrag zur Professionalisierung der Pflege leisteten Friedrich Zimmer und Vertreterinnen der Frauenbewegung, die 1894 den „Verein zur Sicherstellung von Dienstleistungen der evangelischen Diakonie“ (heute: Evangelischer Diakonieverein Berlin-Zehlendorf e.V.) gründeten. Es folgten weitere, auf die jeweiligen Bedürfnisse reagierende Impulse von Kirche und Diakonie. Es lassen sich drei Phasen zur Entstehung sozialberuflicher Tätigkeiten skizzieren. Charakteristisch für die erste Phase von 1830 bis 1914 ist die Ausformung sozialer Berufe. Sie lassen sich in den Bewegungen des deutschen Katholizismus und Protestantismus nachzeichnen. Von den caritativen Laienbewegungen, die sich nach dem Vorbild der Barmherzigen Schwestern des Vin-
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zenz von Paul vor allem der Krankenpflege widmeten, bis hin zu Theodor Fliedner, der in der pflegerischen Tätigkeit eine Verbindung von Berufung und Beruf sah. Berufliche Arbeit wurde allerdings nicht als Erwerbsarbeit, sondern als Dienst verstanden. Seit den 1830er Jahren kamen, neben der Krankenpflege und vor Fröbels Kindergärten, die eine kindgemäße Frühpädagogik etablierten, konfessionelle Initiativen zur Betreuung von Kindern aus ärmeren Familien hinzu. Fliedners Gründung eines Seminars für Kleinkindlehrerinnen in Kaiserswerth 1836 war prägend für die Entwicklung des Erzieherinnenberufs im kirchlichen Kontext. Weitere Perspektiven eröffneten die sozialen Frauenschulen, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts durch die bürgerlichen Frauenbewegungen gegründet wurden. Dort begann die Ausbildungsgeschichte der Sozialen Arbeit als Beruf. Die zweite Phase ist gekennzeichnet durch den Ausbau des Wohlfahrtsstaates in der Weimarer Republik. Sozialstaatliche Verantwortung ging einher mit einer Ausweitung und Ausdifferenzierung der Wohlfahrtspflege und einer Stellenexpansion und Professionalisierung Sozialer Arbeit. Innere Mission (heute Diakonie) und Caritas waren und sind bis heute Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Mit Beginn der nationalsozialistischen Machtübernahme wurden Caritas und Innere Mission vor allem aus dem Erziehungs- und Gesundheitswesen zurückgedrängt. Nach dem Zweiten Weltkrieg – mit Beginn der dritten Phase – zeigten sich unterschiedliche Entwicklungen in der Bundesrepublik und der DDR. Vor allem in der Förderpflege und der Ausbildung in der Heimerziehungspflege setzen die Kirchen in der DDR wichtige Akzente. In der Bundesrepublik prägten die Säkularisierung und Verstaatlichung die Professionalisierung und Ausdifferenzierung der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsberufe. Bis heute verzeichnen die konfessionellen berufsbildenden Schulen, die Fachschulen und die Hochschulen für angewandte Wissenschaften einen stetigen Zuwachs an Auszubildenden und Studierenden (vgl. Hering/Münchmeier 2014; Amthor 2012; Schäfer 2002; Schatz 2000). 3 Kompetenzen und Lebensbegleitendes Lernen in der Wissensgesellschaft In den Bildungswissenschaften spricht man von einer kompetenzorientierten Wende, die klassische Termini wie Qualifikation und Beruf hinterfragt. Der wissenschaftliche Kompetenzbegriff, wie er von Noam Chomsky (1970) verwendet und von Jürgen Habermas (1971) im sozialwissenschaftlichen Theoriegebrauch benutzt wird, hat auch in der Erwachsenenbildung Tradition (vgl. Dewe 2010). Mit der begrifflichen Umstellung auf Kompetenz verändert sich die Vorstellung von in institutionellen Ausbildungsgängen abschließend erworbenen und abrufbaren Kenntnissen, die in Form von Zeugnissen und Zertifikaten auf Dauer gestellt sind. Die Idee des Abschlusses wird durch die Idee des Erwerbs von Kompetenzen überschrieben, die sich zu einem Bündel verschiedener Kompetenzen zusammenfassen lassen und stets aktualisiert werden müssen. Entsprechend dieser Logik gilt das Augenmerk den verschiedenen Kompetenzniveaus des DQR und der jeweiligen Zuordnung des Aufgabenspektrums.
Lebensbegleitendes Lernen
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Mit der Einführung des Deutschen Qualifikationsrahmens (DQR) im März 2013 wurden inhaltlich und methodisch neue Wege beschritten. Dabei dient der Europäische Qualifikationsrahmen (EQR) als Referenzrahmen für alle nationalen Qualifikationsrahmen. Die Leitgedanken des EQR – Life Long Learning, Mobilität, Transparenz, Kompetenzorientierung – erfordern einen neuen Blick auf das deutsche Bildungssystem. Die Idee des Lebensbegleitenden Lernens reagiert auf die zunehmende Erosion der Grenzen zwischen Erwerbs- und Ausbildungszeit, Arbeitszeit und Freizeit. Ungewohnt in der deutschen Debatte ist die Abkoppelung der Bildungsergebnisse von Lernwegen und Lerninstitutionen, ebenso wie eine Validierung nicht-formalen und informellen Lernens. Fachliche und personale Kompetenzen werden erstmalig grundsätzlich als gleichwertig betrachtet. Der DQR ist relevant für den Bildungsbereich und die Personalverantwortlichen, die zuständig sind für Personalauswahl und Personaleinstellung, da bisherige Zeugnisse und Zertifikate durch Kompetenzbeschreibungen und Niveaufestlegungen ergänzt werden. Die jeweiligen Qualifikationsniveaus der allgemeinen und beruflichen formalen Bildung werden seit 2019 auf den Zeugnissen ausgewiesen. Die Zuordnungsverfahren der non-formalen Bildung – des Fort- und Weiterbildungsbereichs – werden derzeit im Arbeitskreis DQR diskutiert und erarbeitet. Die Einführung des DQR erfordert überdies kompetenzbasierte Beschäftigungs- und Anforderungsprofile, und kompetenzorientierte Anforderungsprofile erfordern veränderte Stellenbeschreibungen und Stellenausschreibungen. In der Fort- und Weiterbildung geht es nicht mehr darum, was als Lernziel erreicht werden soll, sondern was als Lernergebnis sichtbar wird. Langfristig sollen Fort- und Weiterbildungsangebote einem der acht Qualifikationsniveaus des DQR zugeordnet werden können. Gegebenenfalls sind Qualifizierungsangebote einem Anerkennungsverfahren zu unterziehen, und es werden Zertifikate notwendig, aus denen der jeweilige Kompetenzerwerb ablesbar ist. Ebenso soll mit dem DQR ein Instrument geschaffen werden, welches zukünftig auch die Kompetenzen erfasst, die außerhalb formaler Bildungsabschlüsse erworben werden. Fachkompetenzen und personale Kompetenzen sollen dabei angemessen gewichtet und Aufstiege sowie Übergänge erleichtert werden. Der DQR, der sich um das Prinzip des Lebensbegleitenden Lernens rankt, unterscheidet drei verschiedene Lernfelder, die gleichwertig mit Blick auf den Kompetenzerwerb zu behandeln sind: formale Bildung (Ausbildung), nonformale Bildung (Fort- und Weiterbildung) und informelles Lernen. Der DQR beschreibt acht Niveaustufen, zu denen alle Qualifikationen zugeordnet werden (vgl. www.dqr.de). Für jedes Tätigkeitsfeld wird ein Qualifikationsraster mit je acht Qualifikationsniveaus angelegt. Mit jeder Stufe wächst der Grad der Verantwortung und Selbstständigkeit. Eine Outcome-Orientierung (Lernergebnisorientierung), die den Kompetenzerwerb auf verschiedenen Qualifikationswegen sichtbar macht, widerspricht zunächst dem deutschen Berufsprinzip, das auf eine Ganzheitlichkeit von Berufen gerichtet ist, welche aber ihrerseits kaum zur Philosophie des Lebensbegleitenden Lernens passt. In der DQR-Debatte haben insbesondere die Sozialpartner, aber auch die Bundesre-
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gierung – diese sogar in ihrem Koalitionsvertrag von 2009 – am Berufsprinzip festgehalten. Eine (Teil-)Anerkennung beruflich erworbener Qualifikationen durch die Hochschulen wird zwar in der Praxis vorgenommen, die von vielen Staaten angestrebte Akkumulierung von Qualifikationen zu einem Beruf wird allerdings in Deutschland von den meisten Akteuren abgelehnt. Neben der Frage, wie kompetent jemand ist, das richtige Wissen zur Lösung bestimmter Probleme auszuwählen und anzuwenden, gibt es in der wissenssoziologischen Debatte einen weiteren Punkt zum Verhältnis von Wissen und Handeln. Was immer man von der Beschreibung der Gesellschaft als „Wissensgesellschaft“ halten mag, die Beschreibung zeigt, welches herausragende Merkmal zur Bestimmung der modernen Gesellschaft ausgewählt wird. Mit Hilfe des Labels „Wissensgesellschaft“ lässt sich veranschaulichen: Wer vom Handeln spricht, muss zugleich das Wissen mit thematisieren. Die immense Zunahme von Wissen als Informationsfluten eröffnet eine Vielfalt von Handlungsmöglichkeiten, so dass das Wissen zusehends an Sicherheit verliert. Mit der Zunahme von Wissen nimmt immer zugleich auch das Nichtwissen als dessen Gegenpart zu. Und die Adaption von bestimmtem Wissen lässt die Frage aufkommen, ob anderes Wissen nicht angemessener gewesen wäre. Demnach folgt aus der zunehmenden Wissensbasierung der Gesellschaft nicht nur eine Multioptionalität des Handelns als Multiplikation möglicher Handlungen, sondern zugleich erwächst das Risiko, die falsche Entscheidung zu treffen (vgl. Giddens 1996; Lemke/Krasmann/Bröckling 2000). Das sich vervielfachende und vervielfältigende und sich auch widersprechende Wissen in der Moderne führt geradezu zum Verlust von Handlungssicherheit (vgl. Altvater/Mahnkopf 1999; Catsells 2001; Giddens 2001; Boltanski/Chiapello 2003; Atzert/Müller 2004; Bröckling 2007). Daher überrascht es nicht, dass die Kompetenz, mit Unsicherheiten und Ungewissheiten umgehen zu können, an Bedeutung gewinnt. Entsprechend leitet die Bildungsforschung aus der Diagnose der Wissensgesellschaft die Anforderung an die Individuen ab, sich auf Lebensbegleitendes Lernen einzustellen und entsprechende Kompetenzen des individuellen Wissensmanagements auszubilden (vgl. Keller 2010; Krautz 2007; May 2003; Negt/Klausnitzer 2003). 4
Kompetenzorientierte Ausbildungswege – Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen im Umbruch
Ausbildungswege in sozialen Berufen sind vielfältig und mit unterschiedlichen Ausbildungs- und Schulabschlüssen möglich. Die schulischen Ausbildungsformate sozialer Berufe an berufsbildenden Schulen, an Pflegeschulen, an Fachschulen entsprechen nicht den dual organisierten Ausbildungsformaten aus dem kaufmännischen und produzierenden Bereich. Auch die sogenannten praxisintegrierten Ausbildungsformate entsprechen nicht den dualen Ausbildungsgängen, auch wenn beide Formen den Theorie- und Praxistransfer ver-
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zahnen. Die berufsbildenden Schulen bieten eine Ausbildung zu verschiedenen sozialen Assistent:innen-Berufen an. Die Ausbildung dauert oft ein Jahr, beispielsweise im hauswirtschaftlichen Bereich oder im Pflegebereich als Gesundheits- und Krankenpflegefachassistent:in. Kinderpfleger:innen und Sozialassistent:innen lernen – nach landesrechtlichen Bedingungen unterschiedlich – in der Regel zwei Jahre ihren Beruf. Auch wenn die beiden letztgenannten Ausbildungen zu Assistenzberufen führen, sind diese Qualifikationen dem Qualifikationsniveau vier im Deutschen Qualifikationsrahmen zugeordnet, wie bspw. der Automobilkaufmann, die Augenoptikerin oder die Pflegefachfrau. An Pflegeschulen werden Auszubildende zur Pflegefachfrau und zum Pflegefachmann ausgebildet. Die Pflegeausbildung wird ab 2020 in einer curricular neu gestalteten, generalistisch organisierten Ausbildung durchlaufen. Die Differenzierung für die unterschiedlichen Berufsfelder wie Alten-, Kinder- und Krankenpflege erfolgt erst im dritten Lehrjahr. Wer eine Ausbildung als Sozialassistent:in oder Kinderpfleger:in absolviert hat, kann entweder diesen Assistent:innenBeruf ausüben oder über weiterführende Schulen, in diesem Fall Fachschulen, eine weitere Qualifikationsebene, die der staatlich anerkannten Fachkraft anstreben. Die staatlich anerkannten Abschlüsse an Fachschulen sind gleichwertig mit dem Abschluss der/des Meister:in und eines Bachelorabschlusses an Hochschulen. Eine Zulassung zur Ausbildung an einer Fachschule für Sozialpädagogik, einer Fachschule für Heilerziehungspflege oder einer Fachschule für Heilpädagogik ist in der Regel mit einem mittleren Schulabschluss oder einem gleichwertig anerkannten Bildungsabschluss erlaubt. Die einzelnen Bundesländer können darüber hinaus weitere Ausnahmeregelungen treffen. Für angehende Erzieher:innen ist eine grundständige und eine praxisintegrierte Ausbildung möglich. Die praxisintegrierte Ausbildung umfasst eine Vergütung der Ausbildung als auch von Anfang an eine Verknüpfung vom Lernort Schule und Lernort Praxis in den Bereichen der Tageseinrichtungen für Kinder und der Hilfen zur Erziehung. Die dreijährige Ausbildung mit staatlicher Anerkennung an einer Fachschule eröffnet den Weg an eine Hochschule mit Bachelorund Master-Abschlüssen bis hin zu einer Promotion. Vor allem Hochschulen für angewandte Wissenschaften bieten grundständige und duale Studiengänge für die sozialen Berufe wie Soziale Arbeit, Heilpädagogik, Elementar- oder Kindheitspädagogik, Sozialmanagement an. Auch gibt es entsprechende Studiengänge wie Pflegewissenschaften oder Hebammenkunde. Die Hochschulausbildung wird in der Regel nach sechs Semestern mit dem berufsqualifizierenden Abschluss „Bachelor“ beendet. Angeboten werden an Hochschulen auch Masterstudiengänge, in deren Mittelpunkt die Befähigung zu wissenschaftlichem Arbeiten steht. Die Durchlässigkeit zwischen Fachschulen und Hochschulen gehört zu den positiven Entwicklungen der letzten Jahre. Wesentlich für die Ausgestaltung der beruflichen Bildung und Qualifizierung in der Bundesrepublik Deutschland sind das Berufsbildungsgesetz (BBiG) und die Handwerksordnung (HwO). Vertreter:innen der Beruflichen Bildung und
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Qualifizierung, die über das BBiG oder die HwO geregelt sind, finden sich in allen relevanten Gremien der Bundesregierung, in Enquetekommissionen und in Ausschreibungen für Modellversuche und für hochdotierte Projekte. Sie gestalten die Berufsbildungslandschaft maßgeblich über eine starke Lobbyarbeit, Sozialpartnerschaftlichkeit in der curricularen Ausgestaltung und über Gesetzgebungsverfahren. Die Berufe, die über das BBiG und die HwO geregelt sind, geben den Ton in der Berufsbildung an und werden von den entsprechenden Bundesministerien in ihrer Position gestärkt. Die sozialen Berufe – außer der Hauswirtschaft – werden weder über das BBiG noch über die HwO geordnet. Sie werden in bildungspolitischen Aushandlungsprozessen nachrangig berücksichtigt. Die Zuständigkeiten für die sozialen Berufe ist Ländersache und nicht einheitlich ausgestaltet. Ausbildungen des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesens unterliegen in der Regel der Kultusminister:innenkonferenz (KMK). Als freiwilliges Koordinationsgremium der Länder hat die KMK keine unmittelbare Rechtssetzungsbefugnis. Ihre Entscheidungen müssen vielmehr von dem jeweiligen Land als landesrechtliche Rechtsvorschriften erlassen werden. Die Pflegeberufe werden durch das am 1. Januar 2020 in Kraft getretene Pflegeberufegesetz (PflBG) geregelt. Sie unterliegen damit ebenfalls nicht dem Berufsbildungsgesetz (BBiG) oder der Handwerksordnung (HWO). Die Ordnungsarbeit wird durch eine vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) und vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) einberufene Fachkommission wahrgenommen, die im Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) angedockt ist. Die von der Kommission erarbeiteten Rahmenpläne enthalten konkrete Vorschläge für die inhaltliche Ausgestaltung der neuen beruflichen Pflegeausbildungen. Als Orientierungshilfe zur Umsetzung der Ausbildung nach dem Pflegeberufegesetz und der Pflegeberufe-Ausbildungs- und Prüfungsverordnung haben sie empfehlende Wirkung für die Lehrpläne der Länder und die schulinternen Curricula der Pflegeschulen. In den sechzehn Bundesländern werden die organisatorisch zusammengefassten Schulformen: Berufsschule, Berufsoberschule, Berufsfachschule, Berufsaufbauschule, Fachoberschule, Berufliches Gymnasium als berufsbildende Schulen bezeichnet. Je nach Bundesland werden die einzelnen Schulformen der beruflichen Schulen zudem unterschiedlich benannt. Sozialpädagogische und pflegerische Assistenzkräfte lernen an Berufsfachschulen. Das Qualifikationsprofil für die Ausbildung sozialpädagogischer Assistenzkräfte an Berufsfachschulen ist durch den Ausschuss für Berufliche Bildung der Ständigen Konferenz der Kultusminister:innen der Länder beschlossen worden. Das Qualifikationsprofil definiert das Anforderungsniveau der einschlägigen Berufe der Assistenzkräfte für das Arbeitsfeld Kindertageseinrichtungen und der Ganztagsbetreuung und enthält die Beschreibung der beruflichen Handlungskompetenzen, über die eine qualifizierte Assistenzkraft verfügen muss, um den Beruf dem Anforderungsniveau entsprechend kompetent ausüben zu können. Das Qualifikationsprofil ergänzt die „Rahmenvereinbarung über die Berufsfachschulen“ (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 17.10.2013 in der jeweils gültigen
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Fassung). Allerdings gibt es in der Fassung vom 18.6.2020 im „Kompetenzorientierten Qualifikationsprofil für die Ausbildung sozialpädagogischer Assistenzkräfte an Berufsfachschulen“ die neue Fußnote, „[n]ach Landesrecht können berufsfachschulische Ausbildungsgänge auf die Arbeit mit bestimmten Altersgruppen oder auf bestimmte Tätigkeitsbereiche begrenzt werden“ (Kompetenzorientiertes Qualifikationsprofil für die Ausbildung sozialpädagogischer Assistenzkräfte an Berufsfachschulen. Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 18.06.2020, S. 3). Das führt dazu, dass es einen regelrechten Wildwuchs in der Ausbildungslandschaft zu Assistenzkräften gibt. Auch beeinflusst durch den Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung setzen die Länder vor allem auf neue Assistenzausbildungsformate, die Einzug in den Personalschlüssel finden, damit der Rechtsanspruch auf Kindertagesbetreuung erfüllt werden kann. Das heißt, je nachdem wie sich der Bedarf in den einzelnen Ländern an Assistenzkräften für einen bestimmten Arbeitsbereich zeigt, werden Assistenzausbildungen auf den Ausbildungsmarkt gebracht, ohne Rücksicht auf anschlussfähige, vergleichbare und einheitliche Bildungs- und Berufsbiographien. Und dies stets angelehnt an die Fachkraftschlüssel, die die Länder für die Arbeitsbereiche selbst aufsetzen. Mit den Gesetzen für die Berufe in der Kranken- und in der Altenpflege von 2003 wurde die bundesweit geregelte einjährige Krankenpflegehelfer:innenausbildung in Deutschland abgeschafft. Gleichzeitig wurde die dreijährige Altenpflegeausbildung erstmals bundeseinheitlich geregelt. In der Folge entstand auch im Bereich der Pflege eine nahezu unübersichtliche Vielzahl an landesrechtlich geregelten Pflegehelfer:innen- und Pflegeassistenzberufen. Sowohl inhaltlich als auch formal bestehen zum Teil erhebliche Unterschiede in den Ausbildungen. Fachschulen sind Einrichtungen der Aufstiegsfortbildung, die als postsekundäre Bildungseinrichtungen gelten; international werden sie dem tertiären Bildungsbereich zugerechnet, sofern der Bildungsgang mindestens 2400 Unterrichtsstunden hat. Sie setzen eine berufliche Erstausbildung und/oder Berufserfahrungen voraus und führen auf dieser Grundlage zu einem staatlichen Berufsabschluss nach Landes- oder Bundesrecht. Für den sozialen Bereich sind die Fachschulen für Sozialpädagogik, die Fachschulen für Heilpädagogik und die Fachschulen für Heilerziehungspflege von Bedeutung. Im Rahmen der Harmonisierung der Bildungsgänge im Raum der Europäischen Union ist der Fachschulabschluss auf DQR Qualifikationsniveau sechs eingestuft worden. Auch der Meistertitel und der Bachelorabschluss sind auf Qualifikationsniveau sechs des DQR zugeordnet. Das heißt, diese Qualifikationen sind gleichwertig. Fachschulen qualifizieren zur Übernahme erweiterter beruflicher Verantwortung und Führungstätigkeit. Die bundesweit geltende Vereinbarung über Fachschulen (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 7. November 2002) setzt Rahmenbedingungen. Die Ausgestaltung ist auch hier Ländersache. Bei den Aufnahmevoraussetzungen können z.B. Länderregelungen über die „Einschlägigkeit“ von vorausgehenden Berufsausbildungen oder über die Dauer und Art
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vorausgehender Praktika differieren. Auch Lehrpläne und Prüfungen unterscheiden sich. Aus Sicht des Bundesverbandes evangelischer Ausbildungsstätten für Sozialpädagogik (www.beaonline.de) ergeben sich folgende Leitlinien für die zukünftige Gestaltung der Fachschul- und Ausbildungslandschaft: 1. Eine auskömmliche Finanzierung der Auszubildenden ermöglichen. 2. Eine kostendeckende Finanzierung aller Fachschulen und Fachakademien realisieren. 3. Eine Angleichung einer bundeseinheitlichen curricularen Ausgestaltung der Ausbildungs- und Prüfungsordnungen auf Fachschulniveau ermöglichen. Dabei muss sichergestellt sein, dass eine Angleichung der Ausbildungsmodalitäten nicht dazu beiträgt, dass Diskussionen darum geführt werden, die Erzieher:innenausbildung in das Berufsbildungsgesetz (BBiG) zu integrieren. Eine Engführung dieser Debatte gefährdet die Qualität der Erzieher:innenausbildung, da die Nähe zu den über das Berufsbildungsgesetz (BBiG) und die Handwerksordnung (HwO) geregelten dualen Ausbildungsgänge, den Blick auf die Besonderheit und Qualität der rein (fach-)schulischen Ausbildung verstellen würde, was zu einer Herabsenkung des Ausbildungsniveaus und zugleich zu einer Herabsenkung der Qualität in den Arbeitsfeldern führen würde. 4. Die Professionalisierung beibehalten und Bildungsbiographien ermöglichen – das stetig wachsende Ausbildungsangebot assistierender Kräfte im Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder ausbremsen. 5. Die Entlohnung muss dem Qualifikationsniveau der ausgebildeten Fachkräfte als bachelor professionell entsprechen. 6. Die Ausbildung der Praxisanleitungen an die Fachschulen binden. 7. Bundesweit ausreichende Ausbildungsmöglichkeiten für Lehrkräfte an Fachschulen und an Fachakademien bereitstellen. Mit der Schaffung eines einheitlichen europäischen Hochschulwesens bis zum Jahr 2010 wurde die Studienzeit mehr und mehr verschult. Ein politisches Vorhaben, das eine Akzentsetzung auf die Ermittlung von Credit Points (Leistungspunkte) mit sich brachte. Sowohl in der Sorbonne- als auch in der Bologna-Deklaration wird die Vermittlung von „employability“ als Ziel der Bachelor-Studiengänge genannt, die im Rahmen des Bologna-Prozesses eingeführt wurden. Employability bedeutet offensichtlich nicht dasselbe wie die Vorbereitung auf eine berufliche Praxis durch Praxisorientierung oder Berufsorientierung des Studiums. In der Diskussion wird vielmehr der Aspekt der Befähigung der Studierenden zur Behauptung auf dem Arbeitsmarkt nach dem Studienabschluss betont. Im Hinblick auf Studierende heißt das: Sie sollen durch ein Studium in die Lage versetzt werden, nach Studienabschluss beruflich Fuß zu fassen, in eine adäquate Erwerbstätigkeit einzumünden und sich dauerhaft im Beschäftigungssystem zu behaupten. Dies setzt die Bereitschaft zu regionaler Mobilität (Ortswechsel) und zu Flexibilität im Hinblick auf die Anforderungen der Erwerbstätigkeit (Anspruchsniveau) sowie auf die Art des Beschäf-
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tigungsverhältnisses (Eingehen vorübergehender Beschäftigungsverhältnisse) voraus. Die Stärkung des akademischen Lehrpersonals ist für die Studienfächer im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesens und für die Zukunft von Profession und Wissenschaft von herausragender Bedeutung. Die Rektor:innenkonferenz der kirchlichen Hochschulen für angewandte Wissenschaften Deutschlands (RKHD) (www.rkh-d.de) richtet den Blick in ihrer Stellungnahme zum Lehrpersonal auf den vorherrschenden Personalmangel und fordert mehr qualifizierte Professor:innen für kirchliche Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Die Nachwuchsförderung soll gemeinsam mit den Kirchen und den Trägern aus Diakonie und Caritas mit Blick auf Karrierewege für eine Hochschulprofessur gefördert werden. Träger und Unternehmen sehen sich zudem mit einem wachsenden Wettbewerbsdruck konfrontiert, und die erwerbstätige Bevölkerung ist höheren Anforderungen im Hinblick auf berufliche Kompetenzen und Flexibilitätsansprüchen ausgesetzt. Dies hat Auswirkungen auf die Arbeitsbeziehungen und den Beschäftigungsstatus, sichtbar an der Zunahme diskontinuierlich verlaufender Erwerbsbiographien. Gerade im Sinne von Beschäftigungsfähigkeit müssten entsprechende Weiterqualifizierungsangebote wählbar sein, die langfristige berufliche Entwicklungsmöglichkeiten von Mitarbeitenden und Leitungskräften gewährleisten. In diesem Zusammenhang kommt auch den Master-Studiengängen eine gewichtige Funktion zu, wenn adäquate Zugangsregelungen für die Masterstudiengänge entwickelt und implementiert werden würden. 5
Fort- und Weiterbildung – Attraktive Bildungs- und Berufsbiographien für Diakonie und Caritas
Was macht einen Beruf attraktiv? Zur Attraktivität eines Berufes gehört zum einen das Gehalt. Allerdings wird die Höhe des Einkommens, die zu Beginn einer Beschäftigung relevant war, im Laufe einer Berufstätigkeit zu einem Normalzustand, so dass es weiterer Faktoren bedarf, um Berufe attraktiv zu halten und Personal an Unternehmen zu binden. Neben dem Einkommen spielen Weiterentwicklungspotenziale und das Gestalten Können eigener Bildungs- und Berufsbiographien eine gewichtige Rolle. Dabei geht es nicht immer darum, dass alle Mitarbeitende eine Leitungstätigkeit anstreben, also um Entwicklungschancen hinsichtlich einer Karriereleiter. Relevant sind auch Qualifizierungsangebote, die die Fachlichkeit auf dem neusten Stand halten und zugleich Methoden und Techniken eröffnen, um Arbeitsprozesse besser bewältigen zu können. Dazu gehört auch, persönliche Interessen mit beruflichen Fähigkeiten und Weiterbildungen zu kombinieren und in ein individuelles Fachkraft-Profil zu überführen, welches sich auch in der Beschäftigungssemantik der Anstellung und in der Wertschätzung ausdrücken muss. Erzieher:innen, Heilerziehungspfleger:innen und Heilpädagog:innen sind stark fort- und weiterbildungsaffine Gruppen. Allerdings bleibt aufgrund von Arbeitsverdichtung kaum Zeit und Raum, dieses erlernte Wissen mit dem jeweiligen Einrichtungsteam zu reflek-
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tieren und gemeinsam umzusetzen. Zudem ist es nur erschwert möglich, absolvierte Qualifizierungen in die Berufs- und Bildungsbiographie so zu integrieren, dass diese sich im Tätigkeitsportfolio und der Beschäftigung deutlich abbilden. Es gibt kein anerkanntes aufstiegsrelevantes Ausbildungs- und Weiterbildungssystem für soziale Berufe, das vergleichbar wäre mit den Qualifizierungsstufen, die das Bundesinstitut für Berufsbildung (BiBB) gemeinsam mit dem Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) für die im Berufsbildungsgesetz (BBiG) und der Handwerkordnung (HwO) geregelten Berufe installiert hat. In dieser Logik führt jede geleistete Qualifizierung, jeder Kompetenzzuwachs zu einer weiterführenden beruflichen Tätigkeit mit einem anerkannten Abschluss einer Qualifikation. In sozialen Berufen stehen wir mit einer derartig abgesicherten Qualifizierungslogik noch in den Kinderschuhen. Der gewonnene Kompetenzerwerb in sozialen Berufen führt nicht zwangsläufig zu einer Erweiterung des Beschäftigungstableaus und auch nicht unbedingt zu weiteren Zugängen im jeweiligen Handlungs- und Arbeitsfeld. In der non-formalen Bildung der Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsberufe führt selten eine Qualifikation zu einem anerkannten höheren Abschluss. Bisher wird der erzielte Kompetenzerwerb in die bisherige Tätigkeit inkorporiert und schafft keine weiteren Zugänge zu Bildungs- und Berufspositionen. Weiter zeigen sich Erfordernisse, auch hinsichtlich einer stetig älter werdenden Belegschaft, Zugänge zu Ausbildungen und Wege durch Weiterbildungen so zu gestalten, dass Einstige in weitere Berufsfelder ermöglicht werden, wenn berufliche Umorientierung angestrebt wird oder Krankheiten und Überlastungssymptome auftreten. Zu den weiteren Faktoren eines attraktiven Berufes zählt die Vereinbarkeit von Familie, Beruf und Eigen- wie Lernzeiten, im Sinne einer work-learn-life balance (Herrmann 2017). Laut SINUS-Studie 2020 „Kindertagesbetreuung & Pflege – attraktive Berufe?“, die vom BMFSFJ in Auftrag gegeben wurde, sind soziale Berufe für Jugendliche und junge Erwachsende grundsätzlich attraktiv. Beide Berufe werden als anspruchsvoll und abwechslungsreich betrachtet, die insbesondere mit Sinnstiftung und Verantwortung assoziiert sind sowie mit der Möglichkeit, etwas Positives für die Gesellschaft bewirken zu können (vgl. SINUS-Studie 2020, S. 53). Die wichtigsten Kriterien der Jugendlichen und jungen Erwachsenen für die Berufswahl werden allerdings nur teilweise erfüllt: Sie bewerten die Weiterentwicklungs- und Karrierechancen kritisch und nehmen das Gehalt als zu gering wahr (SINUS 2020, S. 55). Für eine zukunftsfähige Fort- und Weiterbildung in der Diakonie hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Fort- und Weiterbildung in der Diakonie (www.bagfwd.de), die Fort- und Weiterbildungsakademien, Hochschulen, Referate in Landes- und Fachverbänden, unternehmensinterne Fort- und Weiterbildungsabteilungen zu ihren Mitgliedern zählt, folgende zu bearbeitende Themenbereiche herausgestellt:
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– Lernberatung: Ausbau des Bildungsauftrages hin zur Lernberatung, die Orientierung gibt, Beratung bereithält und Kompetenzaufbau sowie Unterstützung für die Teilnehmenden/ Lernenden gewährleistet. – Work-learn-life-balance: Ausschreibungen verstärkt auf zielgruppenspezifische Erfordernisse und Lebenswelten ausrichten. – Fachkraftbindung und Fachkraftentwicklung: Angebote speziell für Leitungsund Führungskräfte sowie für assistierende Kräfte, um sie in der Fachkraftausbildung zu unterstützen; Kombination von Angeboten notwendig a) mit Blick auf die Beschäftigung und b) mit Blick auf die individuelle persönliche Entwicklung. – Digitalisierung: Implementierung und Verstetigung digitaler Formate in den Alltag; Einarbeitung von Lehrpersonal und Lehrbeauftragten in die digitale Wissensvermittlung und Lernbegleitung; Neuorganisation der inhaltlichen Ausrichtung der Angebote, da sich nicht alle Inhalte gleichermaßen für digitales Lernen eignen; digitale curriculare Gestaltung von Workshops und Fortund Weiterbildungen; Klärung rechtlicher Fragen in Bezug auf digital abgenommene Prüfungen oder Zertifikatsvergaben, wenn Teilnehmende nicht anreisen können oder dürfen; zusätzliche asynchrone Angebote für Teilnehmende, die verstärkt beruflich eingebunden sind. – Kompetenzorientierung, Zertifizierungs- und QM-Systeme: Kompetenzorientierte Angebote und Zertifikate werden auch mit Blick auf Zertifizierungsund Qualitätsmanagementsysteme eine erweiterte Bedeutung für die Fortund Weiterbildung erfahren (vgl. Herrmann 2014). – Politische Arbeit/Lobbyarbeit: Themen und Belange der Fort- und Weiterbildung für die Sozial-, Bildungs- und Gesundheitsberufe müssen deutlicher in den Gremien der Bundesregierung berücksichtigt werden. – Finanzielle Unterstützung: Fort- und Weiterbildungsanbieter müssen ausdrücklich bei der Ausgestaltung von finanziellen Unterstützungsleistungen berücksichtigt werden. 6
Kompetenzorientierte Personalarbeit als Schlüssel für das Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen
Die Schlagzeilen zu COVID-19 und den Auswirkungen auf die Industrie und Wirtschaft häufen sich. Die Coronakrise könnte Deutschland nach Berechnungen des Münchner Ifo-Instituts mehr als eine halbe Billion Euro und mehr als eine Million Jobs kosten. Die Spitzen der Wohlfahrts- und Sozialverbände appellieren an Bund und Länder, Garantien für die Sozialwirtschaft zu übernehmen. Viele Einrichtungen geraten in wirtschaftliche Schwierigkeiten und werden zugleich dringend gebraucht. Gerade die kleinen und mittleren Einrichtungen der Sozialwirtschaft sind auf Zuwendungen und Entgelte nach Leistungsvereinbarungen angewiesen, die wegfallen könnten, wenn Einrichtungen schließen müssen. Zudem sind die Einrichtungen gemeinnützig; das heißt, sie dürfen keine großen Rücklagen bilden. Die Kosten für Mieten und Personal laufen weiter. Wie können wir – auch in diesen schwierigen Zeiten – Mitarbeitende bin-
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den und ihnen in den Unternehmen und Einrichtungen des Sozial-, Bildungsund Gesundheitswesens eine Perspektive bieten? Was sind die neuen Herausforderungen, denen sich die Personalarbeit zu stellen hat, damit die Unternehmen der Sozialwirtschaft marktfähig bleiben? Die Personalarbeit ist einem Paradigmenwechsel unterworfen, der auf die Personalgewinnung, Personalentwicklung und Personalbindung Einfluss nimmt. Unter dem Begriff Personalarbeit werden in diesem Beitrag alle Aufgaben zusammengefasst, die im Zusammenhang mit der Personalplanung, Personalentwicklung, Personalführung und Personalverwaltung stehen. Personalarbeit ist daher keine Aufgabe einer einzigen Person oder Abteilung, sondern wird von allen Führungspositionen gestaltet und ausgeführt. Um diese Aufgaben umsetzen zu können, bedarf es einer strategischen und nachhaltigen Planung sowie einer geeigneten Unternehmenskultur. Kompetenzorientierung in der Personalarbeit heißt, strukturiert die individuellen Kompetenzen der Mitarbeitenden „zu heben“ und sichtbar zu machen. Das dreijährige Projekt der Diakonie Deutschland „Bildungsaufgaben und Strategien des Lebensbegleitenden Lernens zur Förderung der Fachkräfteentwicklung in der Diakonie“ (https://www. diakonie-wissen.de/web/kompetenzorientierung) stellt heraus, dass Kompetenzorientierung die gesamte Personalarbeit umfasst, da die Instrumente der Personalgewinnung, des Personaleinsatzes und der Personalentwicklung zusammenpassen müssen. Es ist ein Kreislauf, der stets von Neuem in Gang kommt. Zuerst bedarf es eines kompetenzorientierten Modells, das im Unternehmen abgestimmt ist. In dieses kompetenzorientierte Modell spielen drei Faktoren hinein: a) Lebensbegleitendes Lernen, Berücksichtigung der Qualifikationsebenen und Kompetenzbeschreibungen: die Grundprinzipien des Deutschen Qualifikationsrahmens; b) handlungsfeldspezifische Kompetenzmodelle: für welches Arbeitsfeld sind welche Kompetenzen relevant und c) kompetenzorientierte Definitionen: welche Kompetenzen werden an welcher Stelle wie gebraucht. Diese Faktoren ergeben das kompetenzorientierte Unternehmensmodell. Dieses Modell bildet die Basis für die Personalarbeit. Wie gewinnen wir Fachkräfte? Die Personalgewinnung basiert auf kompetenzorientierten Anforderungsprofilen und Stellenbeschreibungen und erfordert kompetenzorientierte Stellenausschreibungen. In Bewerbungsgesprächen und im Bewerbungsassessment sind anhand des Anforderungsprofils die Kompetenzen sichtbar zu machen. Dann erfolgt der Onboardingprozess, der die Erwartungen an Wissen, Können, professionelle Haltung und die Durchführung der Aufgaben im jeweiligen Verantwortungsbereich mit anschließender Reflektion umfasst. Die Mitarbeitendengespräche in der Probezeit nutzen Verhaltensanker, um Erwartungen und Kompetenzen aufzuzeigen. Ebenso können Vereinbarungen, Entwicklungsschritte und Lernformate im Sinne des Lebensbegleitenden Lernens vereinbart werden. Eine kompetenzorientierte Personalgewinnung ist ebenfalls nützlich,
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wenn Bewerber:innen für eine Stelle nicht geeignet sind. Sie liefert Begründungen und zeigt auf, warum Bewerber:innen nicht auf die ausgeschriebene Stelle passen. Wie binden wir Fachkräfte an unsere Unternehmen? Passen Mitarbeitende mit ihren Kompetenzen auf die zu besetzenden Stellen, erfolgt der Personaleinsatz. Auch hier müssen die kompetenzorientierten Instrumente – Mitarbeitendengespräche, Kritikgespräche und Zielvereinbarungsgespräche bzw. Jahresgespräche – zusammenpassen. Als Basis aller Gespräche dienen kompetenzorientierte Anforderungsprofile und die dazugehörigen Verhaltensanker. Ebenso relevant sind die Kompetenzen, die bei den Mitarbeitenden gehoben werden können. In der Personalentwicklung greift das Leitmotiv des Lebensbegleitenden Lernens, das nicht davon ausgeht, dass alle Mitarbeitenden von Beginn an alles können, sondern das Lernen stets ein Begleiter von Arbeitsprozessen ist. Kompetenzorientierte Personalarbeit ist ein transparentes Modell für den Dienstgeber und die Mitarbeitenden. Es geht um Nachvollziehbarkeit und Anknüpfungsfähigkeit – um eine gemeinsame Sprache. Wissen Mitarbeitende, welche Kompetenzen benötigt werden und ausgebaut werden können, steigert dies die Motivation der Mitarbeitenden, die dann wiederum gerne im Unternehmen bleiben. Gibt es ein kompetenzorientiertes Modell in einem Unternehmen, bei dem die Personalinstrumente nicht zusammenpassen, sind diese isoliert voneinander. Dies führt zu Fehlbesetzungen bei Stellenausschreibungen und zu Kündigungen in der Probezeit, ohne dass die Personalinstrumente begründet überprüft werden können. Das führt zu hohen Kosten für das Unternehmen, zu Qualitätseinbußen, zu hohen Fluktuationen, Beschwerden häufen sich und ein wirtschaftlicher Schaden entsteht. Kompetenzorientierte Personalarbeit, bei der die Instrumente der Personalgewinnung, des Personaleinsatzes, der Personalentwicklung und Personalbindung zusammenpassen, erhöht die Motivation der Mitarbeitenden. Dadurch steigen die Wirtschaftlichkeit der Unternehmen und die Identifikation mit der Dienststelle und dem Dienstgeber. Und dies stärkt die Arbeitgebermarke (vgl. Herrmann 2017). 7
Desiderata – Lebensbegleitendes Lernen in Diakonie und Caritas
Die pandemiebedingten Phasen des Lockdowns haben gezeigt, dass vieles geschlossen werden kann, außer Bereiche, die mit der unmittelbaren Sorge für das tägliche Leben zu tun haben. Zu diesen Bereichen zählen die Gesundheitsversorgung, die Betreuung von Kindern und Menschen mit Unterstützungsbedarfen, eine Angebotskultur für Jugendliche und junge Erwachsene, die Sorgen für die tägliche Nahrung, für Sicherheit und Hygiene. Diese Arbeiten bilden die Basis für menschliche Gemeinschaften und für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In der Corona-Krise hat sich verdeutlicht, wie wichtig – systemrelevant – die Berufsgruppen im Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbe-
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reich für den gesellschaftlichen Zusammenhalt sind. In den Handlungsfeldern des Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesens gilt es mehr denn je bewusst professionell pädagogisch, pflegerisch, betreuend, anerkennend, empathisch zu arbeiten. In der Arbeit im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen geht es in allen Handlungsfeldern darum, Interesse an den Menschen zu wecken, empathisches Verständnis für menschliche Lebenslagen zu entwickeln, Lebenskrisen kompetent zu begleiten und damit die Fähigkeit zur selbstständigen und kritischen Auseinandersetzung zu ermöglichen. Das stellt die berufliche Bildung und Qualifizierung vor die Herausforderung, sich primär vor ökonomischen Verwertungsimperativen zu schützen. Im Zentrum der Beruflichen Bildung und Qualifizierung steht das Lebensbegleitende Lernen, das versteht, Informationen in Zusammenhänge zu bringen und Übergänge zwischen Ausbildung, Studium und Beruf gekonnt zu gestalten. Die Träger und Einrichtungen sollten über die verschiedenen Inhalte der Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote informiert und mit Blick auf die konkrete Praxisbezogenheit involviert werden, da sie zum einen die Arbeitgeber von morgen sind und zum zweiten Personalbindung und Personalentwicklung professionell gestalten müssen. Antworten auf die Fragen, wann, wie lange, wie oft, in welcher Reihenfolge und in welcher Geschwindigkeit gelernt, gelehrt und gearbeitet werden soll, haben massive Auswirkungen auf die Lernenden und Lernbegleitenden, auf die Konzepte der Aus-, Fort- und Weiterbildung, auf Bildungsprozesse im Allgemeinen und auf Arbeitsverhältnisse. Raum für die Entwicklung eines reflexiven Bewusstseins, in dem Subjektivität und Erinnerungsarbeit sowie Zukunftsperspektiven aufgehen, bleibt bei allen Problemen und offenen Fragestellungen auch auf Bildungsinstitutionen, Fort- und Weiterbildungsanbieter und Beschäftigungsverhältnisse verwiesen, die die Relevanz eines Kompetenzkanons nicht nur funktional und evaluativ, sondern ebenso inhaltlich, in den Lernergebnissen, Lern- und Lehrmethoden, in Arbeitszeitmodellen, in worklearn-life-balance-Konzepten in Unternehmen, in der Anerkennung von Eigenzeiten und Familienzeiten berücksichtigen. Eine kompetenzorientierte Personalarbeit und ein systematisch angewandter Anforderungs- und Qualifikationsrahmen werden zukünftig notwendig sein, um Mitarbeitende zu gewinnen und zu binden, weil der monetäre Wert eines Unternehmens nicht nur auf Kriterien der klassischen Bilanz fußt. Kompetenzen, Lebensbegleitendes Lernen, Gewinnung von Fachkräften, identifizierte Potenziale von Mitarbeitenden und mitarbeitendenorientierte, individuelle Karrierewegplanungen gehören ebenso zu den aktuellen Themen von Caritas und Diakonie und der Freien Wohlfahrtspflege insgesamt wie verschiedene Arbeitszeitmodelle. Und nicht zuletzt geht es, um mit den Worten Hannah Arendts (1970) zu sprechen, bei der Betrachtung des tätigen, arbeitenden Menschen, ob als „Kopf-“ oder „Hand“-arbeitende Person darum, zu unterscheiden, ob der Mensch ein animal laborans, also ein Lasttier und ein Routinetätigkeiten ausübendes Individuum sei, oder ein homo faber, der nicht um der Arbeit willen arbeitet, sondern in seiner Tätigkeit die Verantwortung für die Gemeinschaft der Menschen
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erkennt und nach dem Warum seines Tuns zu fragen vermag. Im Zentrum steht hier mehr oder weniger die Vermutung, dass der Mensch bestrebt ist, nicht nur, im Sinne der griechischen Philosophie, gut zu leben, sondern auch gute Arbeit zu verrichten. Dabei geht es auch um Selbstbestimmung des eigenen Lebens in persönlicher wie auch gesellschaftlicher Hinsicht. Arbeitsverhältnisse bedürfen, neben einer ernstzunehmenden Selbstbestimmung und Anerkennung, auch einer Verknüpfung zwischen Sicherheit und Flexibilität. Die Arbeit im Sozial-, Bildungs- und Gesundheitswesen braucht kein Gehetze, keine inhumanen Maßstäbe, Messwettkämpfe und noch mehr Konkurrenz auf allen pädagogischen, pflegerischen, betreuenden und beratenden Ebenen, sondern Zeit, Raum und Besinnungsmöglichkeiten. Es fällt letztlich die Erkenntnis, dass Bildungspolitik Gesellschaftspolitik ist, zusammen mit der Erkenntnis, dass eine demokratische Gesellschaft auf gebildeten – und dies meint handlungsfähigen, demokratisch agierenden und in politische Angelegenheiten eingreifenden – Bürgerinnen und Bürgern basiert. Literatur Altvater, E./Mahnkopf, B. (1999): Grenzen der Globalisierung: Ökonomie, Ökologie und Politik in der Weltgesellschaft (4. Aufl.). Münster. Amthor, R.-C. (2012): Einführung in die Berufsgeschichte der Sozialen Arbeit (2. Aufl.). Weinheim/Basel. Arendt, H. (1970): Macht und Gewalt (Bd. 1). München. Atzert, T./Müller, J. (Hg.) (2004): Immaterielle Arbeit und imperiale Souveränität: Analysen und Diskussionen zu Empire. Münster. Boltanski, L./Chiapello, É. (2003): Der neue Geist des Kapitalismus. Konstanz. Bröckling, U. (2007): Das unternehmerische Selbst: Soziologie einer Subjektivierungsform. Frankfurt a.M. Chomsky, N (1970): Sprache und Geist. Frankfurt a.M. Diakonie Deutschland (Hg.) (2018): Bundesrahmenhandbuch Fort- und Weiterbildung in der Diakonie. Diakonisches Institut für Qualitätsentwicklung. Berlin. Dewe, B. (2010): Begriffskonjunkturen und der Wandel vom Qualifikationszum Kompetenzjargon. In: T. Kurtz /M. Pfadenhauer (Hg.): Soziologie der Kompetenz (S. 107–118). Wiesbaden. Giddens, A. (1996): Konsequenzen der Moderne. Frankfurt a.M. Habermas, J. (1971): Theorie der kommunikativen Kompetenz. In: J. Habermas/N. Luhmann (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie (S. 101–141). Frankfurt a.M. Herrmann, A. (2017): Personalarbeit 4.0. Arbeit kompetenzorientiert gestalten. Handbuch für das Sozial- und Gesundheitswesen. Münster/New York. Herrmann, A. (2014): Eckpunkte zur Formulierung von Lernergebnissen (learning outcomes) im Bereich der Fort- und Weiterbildung. Düsseldorf. Keller, R. (2010): Kompetenz-Bildung: Programm und Zumutung individualisierter Bildungspraxis. Über Möglichkeiten einer erweiterten Bildungssozi-
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Selbstverständnis
Das wissenschaftliche Selbstverständnis in Diakonie und Caritas, wie es in jüngerer Zeit im deutschsprachigen evangelischen wie katholischen Raum entfaltet wurde, ist diffus und komplex zugleich (vgl. zu den evangelischen Stimmen: Benad/Büscher/Krolzik 2015; Eidt/Eurich 2016; Eidt/Eurich 2016a; Mutschler/Hörnig 2018; Sigrist 2020; Klaus Baumann hat die katholische Position entfaltet: Baumann 2015; 2016). Einerseits hängt das diffuse Selbstverständnis wissenschaftlicher Reflexion der Diakonie in der evangelischen Theologie mit der Frage zusammen, wie denn der Begriff „Diakonie“ genauer zu beschreiben ist. Die begriffliche Definition bleibt durch die westeuropäisch kontextuell unterschiedliche Prägung dessen, was Menschen und Institutionen „diakonisch“ bezeichnen und verstehen, unscharf. Dazu trägt bei, dass die beiden Begriffe „Diakonie“ und „Caritas“ in praktisch-theologischen Texten durchaus auch als Synonyme verstanden werden (vgl. Baumann 2017, S. 23). Andererseits wird in der katholischen Theologie selber die Komplexität von „Caritas“ hervorgehoben: „Caritas“ als komplexer Begriff „vereint sowohl die theologische Perspektive auf die Caritas als Wesensvollzug der Kirche (und ihr opus proprium) als auch die verschiedensten anderen wissenschaftlichen Sichtweisen auf die Caritas in ihren vielfältigen Organisationsformen mitten in der Welt (mit ihren mehr oder weniger säkularen sozialen Ordnungen)“ (Baumann 2015, S. 143).
Aufgrund dieser diffusen und komplexen Auffassung von „Diakonie“ und „Caritas“, wie sie in kirchlichen Verlautbarungen, diakonischen Leitbildern, kollektiven Glaubensvorstellungen oder individuell gelebtem Christsein zum Ausdruck kommt, ist die Vielfalt der Definitionen, was denn unter Diakoniewissenschaft bzw. Caritaswissenschaft zu verstehen ist, einzuordnen. Sie kann allgemein in Aufnahme von Schleiermachers Verständnis der praktischen Theologie als Theorie der diakonischen Praxis beschrieben werden, die weder
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nachträglich die Praxis reflektiert noch Theoriemodelle für die praktische Umsetzung anbietet, sondern sich methodengeleitet und systematisch im interdisziplinären Diskurs mit theologischen Begründungen diakonischer Praxis beschäftigt (Eidt/Eurich 2016, S. 118). Als katholische „Schwester“ der Diakoniewissenschaft wird die Caritas als Disziplin der Praktischen Theologie mit eigenem Gegenstand, eigenen Zielen u. eigener Methodenvielfalt definiert (Baumann 2016, S. 86). Schließlich kann Diakoniewissenschaft als Kunstlehre des Helfens bestimmt werden (Sigrist 2020, S. 11 f.). Mit dieser Definition rücken der Begriff des „Helfens“ und der schöpferisch, kreative Akt als inspirierende Kunst in den Vordergrund. So kann das diakoniewissenschaftliche Selbstverständnis auch in einer Hermeneutik der christlichen Kultur des Helfens begründet werden (Anselm 2001, S. 10). Das hermeneutische Potential kommt in der Kunst zum Ausdruck, das allgemein menschliche Helfen als spezifische diakonische Praxis zu verstehen, zu interpretieren und zu deuten. Zusammengefasst scheint in den folgenden drei grundlegenden Fragen das wissenschaftliche Selbstverständnis in Lehre und Forschung nun überraschend erhellend und einfach zugleich auf: „Wie ist allgemein zu verstehen, dass Menschen sich von der Not anderer betreffen lassen und helfen? Wie sind Hilfe und Diakonie als Praxis des christlichen Glaubens praktisch-theologisch zu interpretieren? Wie ist individuelle und institutionelle, als Diakonie beschriebene Hilfe unter den Bedingungen einer pluralen, multikulturellen und -religiösen Gesellschaft westeuropäischer Prägung gesellschaftspolitisch zu gestalten und zu deuten?“ (Sigrist 2020, S. 12).
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Gegenstand
Mit Blick auf die Kunstlehre des Helfens ist es nun folgerichtig, allgemein helfendes Handeln als spezifische diakonische Praxis zu verstehen (Sigrist 2020, S. 12). Die theologische Begründung dieser diakonischen Praxis geschieht im interdisziplinären Diskurs mit anderen entsprechenden Bezugswissenschaften und trägt so „zur hermeneutischen Selbstverständigung des Christentums u. dessen Glaubenspraxis unter den Bedingungen einer pluralen Gesellschaft“ bei (Eidt/Eurich 2016, S. 118). Christlicher Glaube tradiert aus seiner jüdischchristlichen Tradition den fundamentalen Zusammenhang zwischen der liebenden und schöpferischen Kreativität Gottes, die seine Menschenfreundlichkeit (Tit 3,4), seine Liebe in Person (1Joh 4,6) oder sein Freundsein des Lebens (Weish 11,26) betont, mit der Liebesfähigkeit des Menschen. Die Liebeskreativität Gottes und die Liebesfähigkeit des Menschen schaffen eine Welt voller Resonanz helfenden Handelns, indem durch die Schwingung göttlicher Liebe die Eigenfrequenz menschlicher Liebe angeregt wird und zu vibrieren beginnt.
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Der Soziologe Harmut Rosa schlug den Begriff der Resonanz vor, um die Soziologie der Weltbeziehung zu beschreiben (Rosa 2018); dieser Begriff findet sowohl in der Theologie (vgl. Theissen 2021) wie auch in der Diakoniewissenschaft grossen Anklang (vgl. Sigrist 2020, S. 132–135). Dieser vibrierende Draht zwischen göttlicher Fremd- und menschlicher Eigenfrequenz wird theologisch in unterschiedlichen christlichen Glaubensbildern und religiösen Traditionen gedeutet, kann jedoch auch von nichtchristlichen und nichtglaubenden Menschen als hilfreiche Deutung ihres Verhaltens dienen, ohne sich explizit religiösen oder christlichen Glaubensmustern zu bedienen. Das Responsive der Hilfe lässt nicht nur vertikale ursprungsbezogene, sondern auch horizontale vibrierende Drähte zwischen Hilfesuchenden und Hilfeempfanden entstehen, die den Resonanzraum einer gesamten, wirklichen Welt aufspannen. Auf den Punkt gebracht: „Spezifisch diakonische Praxis ist allgemein menschliches Handeln. Allgemein menschliches Handeln kann als spezifisch diakonische Praxis interpretiert werden“ (Sigrist 2020, S. 14). Dieser responsive Ansatz bekommt in der katholischen Perspektive eine besondere ekklesiale Färbung: „Gegenstand der Caritaswissenschaft ist die Caritas als Wesensvollzug der Kirche und verbandliches Engagement in Kirche und Gesellschaft“ (Universität Freiburg o. D.). Dabei kommt einerseits die responsive Beziehung zwischen helfenden und leidenden Menschen, anderseits die responsive Qualität der Kirche in den Blick, indem „das Liebestun der Kirche als Ausdruck der trinitarischen Liebe“ (Deus Caritas est 19) entfaltet wird. Dabei spielt die „Option für die Armen“, also „für die Armen und Bedrängten aller Art“ (Gaudium et Spes 1), mit ihren geschichtlichen und kulturellen Bedingungen eine zentrale Rolle. Die Reflexion allgemein helfenden Handelns als spezifisch diakonische Praxis führt zu drei elementaren Fragestellungen: – Wie trägt diakonische Praxis zur christlichen Identität bei angesichts der biblischen Einsicht, dass die christliche Nächstenliebe des barmherzigen Samariters eben nicht exklusiv christlich (sie ist ein Erbe der jüdischen Tradition, vgl. Lev 19,33), sondern konstitutiv christlich ist (vgl. Lk 10,25–37) (vgl. Theissen 2006, S. 88–116)? – Wie können die Vielfalt und Pluralität diakonischer Praxis angesichts der pluralen Gesellschaft und der Individualisierung ethischer und moralischer Wertvorstellungen adäquat entfaltet werden? – Wie ist angesichts der Komplexität von Hilfe die Zuordnung der Theologie als Wissenschaft im interdisziplinären Verbund von Wissenschaften neu zu bestimmen und die Kooperation zwischen Forschenden, Nutzern und Praktizierenden zu gestalten? – Die wissenschaftliche Forschung und Lehre solch elementarer Fragen geschieht in unterschiedlichen Modellen, die entweder phänomenologischdeskriptiv, theologisch-normativ, handlungswissenschaftlich oder integrativ-multidisziplinär ausgerichtet sind (vgl. Götzelmann/Herrmann 2004, S. 484 f). Das aktuell in der Diakoniewissenschaft breit vertretene integrativ-
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multidisziplinäre Modell kongruiert Aspekte anderer Modelle zu einem neuen methodischen Ansatz. Dieser Ansatz bringt Theoriemodelle und Praxiserfahrungen in einen zirkulären, sich gegenseitig befruchtenden Prozess fortschreitender Erkenntnisgewinne. Die schon zu Beginn im Zusammenhang mit dem Begriff „Caritas“ erwähnte Komplexität diakoniewissenschaftlicher Arbeit und Reflexion schafft Spielräume und Denkmodelle, um dem Phänomen der Diakonie bzw. Caritas näher zu kommen. Nach Johannes Eurich kann Diakonie als kirchliches, christliches oder menschliches helfendes Handeln interpretiert werden (vgl. Eurich 2018, S. 113–138). Ellen Eidt entwickelt in Anlehnung an die Maslowschen Bedürfnispyramide ein dreigliedriges Diakonieverständnis von Nothilfe, Lebenshilfe und christlich geprägter Lebenskunst (Eidt 2018, S. 139–161). Welches Diakonieverständnis auch in den Blick kommt, die kritische Reflexion der Praxis, die ethische Beurteilung des Helfens sowie die Einbettung der diakonischen Praxis in die abendländische Kultur sind drei Prämissen diakoniewissenschaftlicher Arbeit (vgl. Sigrist 2020, S. 23–26). Diese Arbeit lebt von der Kunst und Kultur, helfendes Handeln als spezifisch diakonische Praxis in der Gesellschaft sprach- und handlungsfähig zu machen. Die Praxis des Helfens braucht bisweilen geistesgegenwärtige Inspiration, schöpferische Kreativität und freudvolle Lust zu versuchen, zu wagen und auszuprobieren. Die Reflexion des Helfens schafft Resonanz dafür. 3
Geschichte
Die Geschichte der Diakoniewissenschaft bzw. Caritaswissenschaft im engeren Sinne beginnt für beide Konfessionen im 19. Jahrhundert. Die Wurzeln gehen bis auf die früheste Zeit des Christentums zurück. Neben vorchristlichen Formen von helfendem Handeln in der Antike ist die zentrale Bedeutung der Diakonie in urchristlichen Gemeinden, in der Kirche des Mittelalters, in den reformatorischen Aufbrüchen wie auch in den pietistisch geprägten Erweckungsbewegungen und monastischen Gemeinschaften durch das Zeugnis von Kirchenvätern und -müttern, Ordensleuten und Reformatoren, vom Glauben bewegten Männern und Frauen belegt und aufgearbeitet (vgl. Haslinger 2009, S. 25–71; Hammann 2003). Im 19. Jahrhundert veränderten sich die europäischen Länder durch die beginnende Industrialisierung mit ihren gesellschaftlichen Transformationsprozessen in Arbeits-, Familien- und Alltagswelten radikal. Das soziale Elend und die aufkommende grosse Armut drängten unweigerlich dazu, angesichts der Not die „soziale Frage“ zu stellen. Viele Menschen begannen schlicht zu helfen. In Kirchen und Gemeinschaften aller Konfessionen entstanden Initiativen, Vereine und Einrichtungen, um der Armut zu begegnen und sie zu bekämpfen. Auf evangelischer Seite waren es Gründungsväter und -mütter wie Johann Hinrich Wichern, Theodor und Friederike sowie Caroline Fliedner, auch Ama-
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lie Sieveking, Gustav Werner oder Wilhelm Löhe, die Heime und Häuser für Waise, Kranke, Menschen mit Beeinträchtigungen und Alte aufbauten (vgl. Schäfer/Herrmann 2006, S. 155–158). Dabei kombinierten sie vielfach gesellschaftliche Notsituationen mit prosperierenden Aufbrüchen: Die Not der Hygiene und Pflege im Spital brachte das Ehepaar Fliedner mit der Not von alleinstehenden Frauen in Resonanz, die (noch) keine gesellschaftliche Rolle besassen: Sie bauten Spitäler und bildeten die Frauen zu Diakonissen aus. Die bis heute vielfältig eingesetzte diakonische Formel (- x - = +: „Minus“ mal „Minus“ gleich „Plus“) war für die Diakonie in der Gestalt der Mission ins Innere der Gesellschaft geboren. Auf katholischer Seite waren es zahlreiche Kongregationen, insbesondere von Ordensfrauen mit ihrem grossen karitativen Engagement, die in ähnlichen sozialen Brennpunkten tätig wurden. Nonnen wie Diakonissen, Mönche wie Diakone prägten das Bild der entstehenden Diakonie und Caritas mit ihren individuellen und kollektiven Initiativen. Die Praxis helfenden Handelns ging der Organisation und Reflexion voraus. Doch beides, d.h. die Frage nach organisatorischen Strukturen wie auch nach praktisch-theologischer Reflexion, drängte. Wichern machte sich auf evangelischer Seite für beides stark: Während seiner Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, die in Hamburg unter prekären Bedingungen aufwuchsen, reflektierte er in der Öffentlichkeit seine Tätigkeit durch den Versand der „Fliegenden Blätter aus dem Rauhen Hause“ und plädierte für den praktisch-theologischen Diskurs: „Namentlich muß die protestantische Geistlichkeit vom Geist, Wissen und Leben der inneren Mission durchdrungen werden. Die innere Mission muß zu dem Zwecke ein Moment der pastoralen Vorbildung werden. Hier haben die Universitäten einen neuen Beruf zu erfüllen“ (Wichern 1849, S. 243 f.). Er war einer der Gründungsväter des „Central-Ausschusses für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche“ (CA), der am 9. Januar 1849 mit Sitz in Hamburg und Berlin als Verbandsstruktur für diakonische Werke gegründet wurde. Auf katholischer Seite war der Priester Lorenz Werthmann die treibende Kraft für die Gründung des „Charitasverband für das katholische Deutschland“ am 9. November 1897. Der Hauptsitz war seit Beginn in Freiburg i. Br. Werthmann prägte in einer seiner flammenden Rede 1899 das Bild der Caritas als „Dampf in der sozialen Maschine“ und proklamierte klar und deutlich die wissenschaftliche Reflexion: „Damit nun die hohen Ziele der christlichen Caritas besser erreicht und die Caritasjünger für ihre Aufgabe mehr befähigt werden könnten, wurde durch die Caritasbewegung die Parole ausgegeben: es müsse unsere Caritas mehr publiziert, mehr studiert und mehr organisiert [Hervorhebung im Original, erg. CS] werden“ (Werthmann 2016, S. 297 f.). Die universitäre Anbindung gelang dann vollends in den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts: Auf evangelischer Seite wurde 1927 das „Institut für Sozialethik und Wissenschaft der Inneren Mission“ an der Berliner FriedrichWilhelm-Universität gegründet. Das Institut war dem Bereich Ethik zugeordnet. Inhaber des Lehrstuhls war der systematische Theologe Reinhold Seeberg. Am 3. April 1925 wurde an der theologischen Fakultät der Universität Frei-
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burg i.Br. das „Institut für Caritaswissenschaft“ gegründet. Inhaber des Instituts war der Priester und Moraltheologe Franz Keller. Das satzungsmässige Ziel war die wissenschaftliche Forschung und der Unterricht auf dem Gebiet der Caritas (vgl. Völkl 1975, S. 201). Keller definierte Gegenstand und Auftrag der anstehenden Arbeit so: „Caritaswissenschaft ist demnach die Wissenschaft von der freiwilligen und frei sich gestaltenden Nothilfe zur christlichen Gemeinschaft aus übernatürlichem Gemeinschaftsbewusstsein und Gemeinschaftswillen heraus und getragen von der übernatürlichen Kraft der göttlichen Gnade“ (Keller 1925, S. 45 f.). Durch diese Zieldefinition konnten erstmals auch Frauen an der theologischen Fakultät studieren (vgl. Baumann 2007; 2016). Beide universitären Institute wurden aufgrund ihres praktisch-theologischen wie ethisch-normativen Widerspruchs zur Volkswohlfahrtsideologie des Nationalsozialismus von der NS-Regierung 1938 geschlossen. Mit der Gründung des Diakoniewissenschaftlichen Instituts (DWI) an der Universität Heidelberg 1954 und der Gründung des „Instituts für Caritaswissenschaft und christliche Soziallehre“ 1965 an der Universität Freiburg bekam die Wissenschaft ihren festen Ort im universitären Raum. In den vergangenen Jahrzehnten entstanden in Deutschland neben dem DWI weitere Lehrstühle wie das Institut für Diakoniewissenschaft/Diakoniemanagement (IDM) an der kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bielefeld. Die evangelischen und katholischen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften/ Fachhochschulen tragen mit ihrem starken Praxisbezug zur Akademisierung der Diakoniewissenschaft wie auch deren internationalen Vernetzung und zum Transfer wissenschaftlichen Wissens bei. An der Universität Passau erwuchs aus caritaswissenschaftlichen Initiativen seit 2009 ein Masterstudiengang „Caritaswissenschaft und werteorientiertes Management“. In der deutschsprachigen Schweiz wurde 2009 an der theologischen Fakultät der Universität Bern eine Dozentur für Diakoniewissenschaft gegründet, die am Institut für Systematische Theologie angegliedert ist (vgl. Sigrist 2021, S. 23–34). Kirchen und Fachhochschulen führen seit Jahrzehnten universitär akkreditierte Weiterbildungskurse für angehende Sozialdiakoninnen und Sozialdiakone durch. Die höhere Fachschule Theologie, Diakonie, Soziales in Aarau bildet in Sozialdiakonie und Gemeindeanimation aus (vgl. Sigrist 2020, S. 42–46). Aktuell orientiert sich die Diakoniewissenschaft in unterschiedlichen Kooperationen zwischen Fakultäten und Fachhochschulen als kontextbezogenes, anwendungsorientiertes, international sich vernetzendes Fach, das theologisch und interdisziplinär zugleich mit anderen Wissenschaften kooperiert. Durch die Integration in offizielle Curricula theologischer Fakultäten und Neukonzeptionen von Masterstudiengängen im Verbund mit anderen Wissenschaften versucht die Diakoniewissenschaft auch in Zukunft, der Einschätzung von Klaus Baumann Lügen zu strafen: „Doch die zentrale theologisch-ekklesiologische Bedeutung der Caritas war durch die Jahrhunderte der Kirchenge-
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schichte immer wieder gefährdet und ist es auch heute noch“ (Baumann 2015, S. 140). 4
Forschung
Geht es der Caritaswissenschaft darum, „die Theorie und Praxis von Caritas und christlicher Sozialarbeit aus unterschiedlichen Perspektiven und Fragestellungen heraus 1) zu beschrieben, 2) zu erklären und 3) zu fördern beziehungsweise konstruktiv zu verändern“ (Baumann 2015, S. 143), fragt Diakoniewissenschaft dabei nach den Bezugsgrössen in Sozial-. Human-, Wirtschafts-, Staats- und Rechtswissenschaften diakonischer Praxis. Die Methodenauswahl orientiert sich am jeweiligen Gegenstand im Wissen darum, dass empirische und geisteswissenschaftliche hermeneutische Ansätze schwer zu verbinden sind. In methodischer Hinsicht hat sich ein Vorgehen mit dem Dreischritt Sehen – Urteilen – Handeln etabliert, das aus der katholischen Arbeiterbewegung stammt und im vergangenen Jahrhundert innerhalb der Christlichen Arbeiterjugend unter dem Einfluss ihres Gründers Joseph Cardjin entwickelt wurde. In jüngerer Vergangenheit wurde dieser Dreischritt auf evangelischer Seite mit einem vorgelagerten Schritt „Orientierung über den eigenen Standpunkt“ zu einem Vierschritt ergänzt (Sigrist 2020, S. 107; vgl. Eidt/Eurich 2016, S. 355– 358). Dieser methodische Drei- bzw. Vierschritt ist nicht als lineare Abfolge zu verstehen, sondern im Sinne von zirkulären Reflexionsschlaufen, im Wissen darum, dass es dem wissenschaftlichen Zugang zur diakonischen Praxis nie gelingen wird, „alle relevanten Faktoren in jedem einzelnen methodischen Schritt zu berücksichtigen. Aber unter den Bedingungen, dass dieser Sachverhalt konsequent bewusst gehalten wird, kann die Diakoniewissenschaft ihren Teil dazu beitragen, dass die Komplexität der Praxis, die Notwendigkeit ihrer Deutung und Darstellung unter den Bedingungen einer sich ständig wandelnden, pluralen Gesellschaft bearbeitbar bleibt“ (Eidt/Eurich 2016, S. 357 f.; vgl. dazu auch: Eidt/Eurich 2016a, S. 355–358).
Es liegt in der Ambivalenz der Nächstenliebe, in der Diffusität diakonischer Praxis, in der Komplexität karitativer Arbeit, dass die wissenschaftliche Reflexion und Forschung von Diakonie als spezifisch christlich motivierte, begründete und tradierte Form allgemein menschlichen Handelns seine Unschärfe behält. In den folgenden sechs Spannungsfeldern verortet sich aktuell eine Vielzahl von Forschungsaufgaben: – „Einerseits ist Diakonie Ausdruck des allgemein menschlichen, helfenden Handelns, anderseits gehört sie konstitutiv zur christlichen Nächstenliebe: Das ist ihr Spannungsfeld mit dem Proprium. – Einerseits setzt Diakonie eine Beziehung auf Augenhöhe und die gegenseitige Gleichheit von unten voraus, anderseits hebt das biografisch bedingte
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Wechselspiel von Fürsorge und Verantwortung asymmetrische Konstellationen nie auf: Das ist ihr Spannungsfeld mit der Asymmetrie. Einerseits verortet sich Diakonie in parochialen und organisationalen Kontexten wie Kirchgemeinden, Pfarreien, Unternehmen und Verbänden, anderseits geschieht sie im Sozialraum des Gemeinwesens oder der Gesellschaft in Partnerschaft mit anderen: Das ist ihr Spannungsfeld mit dem Sozialraum. Einerseits ist die Logik der Diakonie, anderen in Not zu helfen, klar, anderseits gerät sie im Wirrwarr der unterschiedlichen Systemlogiken helfenden Handelns in unzählige Dilemmata: Das ist ihr Spannungsfeld mit den Systemen von Hilfe. Einerseits wahrt und bewahrt Diakonie das eigene, christliche Profil, anderseits öffnet sie sich dem Potential der religiösen und säkularen Vielfalt helfenden Handelns einer pluralen Gesellschaft: Das ist ihr Spannungsfeld mit der Interreligiosität. Einerseits ist Diakonie unbezahlbar durch ihren Geist, sich mit Haut und Haar vom Anderen in seiner Not betreffen zu lassen, anderseits kostet sie Geld und hütet seit 2000 Jahren das Geheimnis, für die Bezahlung der Rechnung mit dem Wirt Geld diakonisch waschen zu können: Das ist ihr Spannungsfeld mit der Ökonomie” (Sigrist 2020, S. 100 f.).
Eine der grundlegenden wie drängenden Fragen bleibt die nach dem Proprium der Diakonie in seiner vielfältigen Ausgestaltung. In der evangelisch-theologischen Diskussion gerät man, ausgehend vom schöpfungstheologischen Ansatz mit seiner Grundthese, dass alle Menschen zum Helfen fähig sind und diese Fähigkeit ihre Resonanz in der Liebe und Menschenfreundlichkeit Gottes findet (vgl. Rüegger/Sigrist 2011; Rüegger/Sigrist 2014, S. 65–77), in das Spannungsfeld theologischer Begründungszusammenhänge, die helfendes Handeln aus unterschiedlichen dogmatischen und konfessionellen Perspektiven beleuchten, begründen und diese theologischen Entwürfe in einen interreligiösen Horizont stellen. Im epistemologischen Diskurs gerät das Verhältnis von Diakonie und Ethik in den Fokus, verbunden mit der kontrovers geführten Debatte, ob von einer spezifisch diakonischen Ethik (Körtner 2004, S. 248) oder von einer allgemeinen „Ethik des Sozialen“ (Rüegger/Sigrist 2011, S. 193) zu reden ist. In der enzyklopädischen Einordnung wird praktologisch-theologisch nach den Schnittstellen und Differenzen zu den vier kirchlichen Handlungsfeldern in Seelsorge und Diakonie, Verkündigung und Gottesdienst, Bildung und Spiritualität, Gemeindeaufbau und Leitung geforscht (Sigrist 2020, S. 115–122). Ausgehend von der Frage nach dem Proprium der Diakonie kommen in der evangelischen Diakonie einerseits Funktion, Rolle und Position der Theologie für Diakonieunternehmen in den Blick (Hofmann/Montag 2018); dazu gehört auch die Perspektive von konfessionslosen Mitarbeitenden auf das diakonische Profil (Foss 2021). Anderseits wird mit Blick auf katholische Wohlfahrtsverbände in Deutschland der Umgang mit der Vielfalt der Konfessionen innerhalb des Personals zum Gegenstand von Untersuchungen (Voss 2021; Arens 2018).
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Neben der institutionellen gelangt die parochiale Diakonie in den Fokus der ökumenisch ausgerichteten Forschung. Diakonie bzw. Caritas als besondere Form von Gemeinwesenarbeit wird neu als überkonfessionelle, interreligiöse und interkulturelle, zivilgesellschaftliche, soziale Kraft im Sozialraum, in der Nachbarschaft und im Quartier entdeckt: „Kirche findet Stadt“ (Vorhoff/Beneke 2018) und „Urbane Diakonie“ wird Teil von Stadtentwicklung. 5
Transfer
Der Transfer zwischen Diakoniewissenschaft und der Diakonie in Kirchgemeinden und Unternehmen, der Transfer zwischen Caritaswissenschaft und Caritas in Pfarreien und Verbänden ist aktuell im vollen Gang und wird sich in den nächsten Jahren verstärken. Dieser grundlegende Transfer als zirkulärer Prozess zwischen Theorie und Praxis gestaltet sich – so zeigt es das Projekt „Kirche findet Stadt“ gut – ökumenisch mit interreligiöser und interkultureller Ausrichtung als inspirierender Resonanzraum helfenden Handels. Dieses Ineinanderfliessen von theoretischer Reflexion und tätiger Praxis wird in Zukunft die Diakoniewissenschaft bzw. Caritaswissenschaft noch verstärkt nach innen zur Wissenschaft selber und nach aussen in die Gesellschaft und Kirche hinein herausfordern. Nach innen wird sie erstens normative Bedeutungsmuster der Theologie beim helfenden Handeln klären und entwickeln. Zweitens wird sie sich als dynamische und eigenständige Disziplin im Fächerkanon der Theologie in Lehre und Forschung positionieren und festigen. Drittens hat sie im Verbund mit anderen theologischen Disziplinen durch inter- und transdisziplinäre Prozesse methodische und theoriegeleitete Modelle zu entwickeln, um so visionäre, in den sozialen Brennpunkten der Gesellschaft verortete diakonische Praxis bzw. christliche Sozialarbeit zu beschreiben, zu erklären, zu fördern und zu verändern. Nach außen wird sie erstens bei der diakonischen Praxis in Kirchen, Kirchengemeinden und Pfarreien die diakonische Ausbildung von Pfarrpersonen, Diakoninnen und Diakonen, Freiwilligen und Ehrenamtlichen fördern und kirchenpolitisch mitfestigen. Zweitens wird sie in der diakonischen Nutzung und Umnutzung von Kirchen, kirchlichen öffentlichen Räumen sowie durch die Gemeinwesendiakonie den Sozialraum responsiv auf sein solidarisches Potential hin mitausgestalten. Drittens wird sie in der Unternehmens- und Verbandsdiakonie die Veränderung der religiösen Landschaft bei Personal und Patientinnen und Patienten sowie auch bei Bewohnerinnen und Bewohnern in ein zukünftiges diakonisches Profil in der Spannung zwischen christlichem Erbe und interreligiöser Zukunft mitentwickeln. In dieser doppelten Ausrichtung des Transfers eröffnet Diakoniewissenschaft „Begegnungs-, Bildungs- und Innovationsräume für Akteure [und Akteurinnen, erg. CS] aus verschiedenen Feldern für das Studium und für die globalen
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Herausforderungen des 21. Jahrhunderts“ (Mutschler 2018, S. 295). In diesen Räumen werden konfessionelle Unterschiede zugunsten ökumenischer Gemeinsamkeiten in den Hintergrund treten. Nicht nur die Fähigkeit zur Hilfe, auch die Not ist allgemein menschlich. Es stellt sich deshalb in Zukunft weniger die Frage, wie katholische Glaubende in Resonanz zu evangelisch Glaubenden helfen, sondern vielmehr, wie Christinnen und Christen im Zusammenspiel mit Andersdenkenden, Andersglaubenden und Andersliebenden helfen können. Es ist in der Tat heutzutage eine Kunst, vor Ort und in Not zu helfen, sowie in der Wissenschaft und Theologie solches zu lernen und zu lehren. Literatur Anselm, R. (2001): Diakonie als Wissenschaft. Überlegungen zum besonderen Charakter einer jungen theologischen Disziplin. Zeitschrift für evangelische Ethik 45, 8–16. Arens, Th. (2018): Christliches Profil und muslimisches Personal. Katholische und muslimische Ärzte in Caritas-Krankenhäusern. Stuttgart. Baumann, K. (2007): Frauen am Institut für Caritaswissenschaft der Theologischen Fakultät von 1925-1940. In: U. Nothelle-Wildfeuer/A. Kaupp (Hg.): Frauen bewegen Theologie. Das Beispiel der Theologischen Fakultät der Albert-Ludwig-Universität Freiburg (Historisch theologische Genderforschung 3) (S. 232–239). Leipzig. Baumann, K. (2015): Caritaswissenschaft: ihre Ursprünge und Aktualität. In: Deutscher Caritasverband (Hg): neue caritas. Jahrbuch 2016 des Deutschen Caritasverbandes (S. 139–145). Freiburg i.Br. Baumann, K. (2016): Art. Caritaswissenschaft. In: N. Friedrich et al. (Hg.): Diakonie-Lexikon (S. 86–87). Göttingen. Baumann, K. (2017): Theologie der Caritas – ein verheissungsvolles offenes Arbeitsfeld. In: Ders. (Hg): Theologie der Caritas. Grundlagen und Perspektiven für eine Theologie, die dem Menschen dient. Festschrift für Heinrich Pompey aus Anlass seines 80. Geburtstages (S. 21–27). Würzburg. Benad, M./Büscher, M./Krolzik, U. (Hg.) (2015): Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Interdisziplinarität, Normativität, Theorie-Praxis-Verbindung. Baden-Baden. Deus Caritas est. Enzyklika von Papst Benedikt an die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und alle Christgläubigen über die christliche Liebe (2005) (Verlautbarungen des Apostolischen Stuhls 171). Hg. v. Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz. Bonn. Eidt, E. (2018): Diakonie als „Hilfe zum Leben“ oder als „Lebenskunst“? Ein Beitrag zum Diskurs über den Gegenstandsbereich der Diakoniewissenschaft. In: B. Mutschler et al. (Hg.): Was ist Diakoniewissenschaft? Wahrnehmungen zwischen Dienst, Dialog und Diversität (S. 139–161). Leipzig. Eidt, E./Eurich, J. (2016): Art. Diakoniewissenschaft. In: N. Friedrich et al. (Hg.): Diakonie-Lexikon (S.118–119). Göttingen.
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C. Sigrist
(Hg.): Diakonie – biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch (VDWI 2) (S. 376–402). Heidelberg. Theissen, G. (2021): Botschaft in Bildern. Entmythologisierung als theologische Wahrheitssuche. Stuttgart. Universität Freiburg (o.J.): Was ist Caritaswissenschaft? https://www.theol. uni-freiburg.de/disciplinae/ccs/fachprofil/definition (Zugriff am 9.08.2021). Urbane Diakonie. http://www.urbanediakonie.ch (Zugriff am 10.8.2021). Vorhoff, K./Beneke, D. (Hg.) (2018): Kirche findet Stadt. Zusammenleben im Quartier – Entwicklungspartnerschaften für lebenswerte Quartiere. Leitfaden. Berlin. Voss, J. (2021): Ignorieren. Imitieren. Integrieren. Umgang mit der Vielfalt in konfessionellen Wohlfahrtsorganisationen. Stuttgart. Wichern, J. H. (1849): Die innere Mission der deutschen Evangelischen Kirche. Eine Denkschrift an die deutsche Nation. In: Ders. (1962): Sämtliche Werke (SW) 1 (S. 175–366). Berlin/Hamburg. Werthmann, L. (2016): Die soziale Bedeutung der Caritas und die Ziele des Caritasverbandes (1899). In: W. Maaser/G. Schäfer (Hg.): Geschichte der Diakonie in Quellen. Vom Anfang des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart (S. 293–305). Neukirchen-Vluyn. Völkl, R. (1975): Fünfzig Jahre Institut für Caritaswissenschaft. In: Deutscher Caritasverband (Hg.): Caritas. 75/76. Jahrbuch des Deutschen Caritasverbandes (S. 199–209). Freiburg i.Br. Zweites Vatikanisches Konzil: Pastoralkonstitution über die Kirche in der Welt dieser Zeit „Gaudium et spes“. (1965/2004). In: P. Hünermann (Hg.): Herders theologischer Kommentar zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Bd. 1: Die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils (S. 592–749). Freiburg i.Br.
Ressourcen und Kooperationen
25 Partizipation Leo Penta und Tobias Meier
1
Einleitung
Seit Beginn der uns zugänglichen Geschichte der Menschheit können wir beobachten, wie sich Personen und Gruppen zusammenschließen, um diejenigen Ziele zu erreichen, die im gemeinsamen Interesse sind. Ausgehend von der Großfamilie bzw. dem Familienverbund als erster Keimzelle der Gemeinschaft haben sich die Möglichkeiten der Vergemeinschaftung über die Generationen vervielfältigt und zur modernen Gesellschaft geführt. Das Verhältnis des Einzelnen zu den Vielen und die dazugehörigen Dynamiken prägen dabei ein modernes Gesellschaftsverständnis. Mit Etablierung des Nationalstaats im späten 19. Jahrhundert ist dann vor allem das Verhältnis des Einzelnen zur Gesamtheit der politischen und sozialen Gesellschaft ins Zentrum gerückt. Wenn Demokratie in ihrem Kern bedeutet, dass das Zusammenleben der Vielen gemeinsam von eben diesen Vielen gestaltet wird (Lincolns „government of the people, by the people, for the people“) (Schmidt 2000, S. 24), rückt die Frage der Art und Reichweite der Teilhabe in den Mittelpunkt. Fragen der Macht und der Legitimation derselben sind Kernfragen einer liberalen Demokratie und werden von politischen und philosophischen Denkern unterschiedlich beantwortet. Vor allem das Werk Hannah Arendts ist für ein Verständnis einer partizipativen Macht grundlegend. So ist für Hannah Arendt die antike polis der zentrale Bezugspunkt ihrer politischen Theorie. Die polis legte den Grundstein für eine Trennung des familiären Verbands vom öffentlichen Raum, was ein gleichberechtigtes, politisches Gemeinwesen zur Folge hat (Arendt 2016, S. 33 ff.). In diesem Sinne sind auch moderne Demokratien vor allem im Kontext ihrer öffentlichen Aushandlungsprozesse zu verstehen, in denen die Bürger die zentrale Rolle innehaben. Dabei sind nicht nur die formalen Mechanismen eines politischen Systems im Blick, sondern vielmehr die Gesamtheit der politischen Teilhabe.
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L. Penta und T. Meier
Eine hinreichende Umsetzung ist aber noch strittig. Gerade mit Blick auf Randgruppen der Gesellschaft zeigt sich schnell die Komplexität des Themas. Das Werk von Zygmunt Baumann macht deutlich, dass gerade die Moderne auch immer wieder Außenseiter produziert, die nicht am Wohlstand partizipieren (Baumann 2001; 2005). Hier spielt das Mandat der Sozialen Arbeit eine zentrale Rolle, da sie gerade auch diejenigen in den Blick nehmen muss, die an anderer Stelle vergessen werden – Soziale Arbeit wird dann zur „Menschenrechtsprofession“ (Staub-Bernasconi 1995). In jüngster Vergangenheit wird dies unter dem Begriff der Inklusion verhandelt, der gerade auch am Rande stehende Menschen teilhaben lassen soll. Teilhabe als Grundform gelingender Lebensgestaltung ist dabei handlungsleitend und so im besten Fall partizipativ im ursprünglichen Sinne des Wortes. 2 Partizipation: nutzenoptimierend oder radikaldemokratisch Unter dem Begriff der Partizipation werden in dieser Tradition verschieden Grundsätze als auch Ansätze verstanden, um das demokratische Miteinander um diejenigen zu erweitern, die nicht oder nur bedingt gehört werden. Dabei dominieren zwei Blickrichtungen: zum einen eine nutzenoptimierende, die vor allem die Güte und Reichweite von Entscheidungen verbessern möchte, zum anderen eine radikaldemokratische, die auch die Teilhabe an sich verändern möchte. Bei beiden Blickrichtungen gilt dabei der Grundsatz, dass das moderne demokratisch-repräsentative Staatswesen von komplexen Aushandlungsprozessen geprägt ist. Die Planung und Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen, die Verteilung knapper Ressourcen sowie die Herstellung von Chancengleichheit bedingen eine Vielzahl von Kenntnissen und Erfahrungen. Hierfür werden immer stärker auch Fachexperten, die solche Entscheidungen vorbereiten und die verschiedenen Optionen gegeneinander abwägen können, herangezogen. Zudem hat die Planungswissenschaft hierfür Verfahren entwickelt, die eine rationale, nutzenabwägende Herangehensweise systematisieren und diese einem öffentlichen Diskurs zugänglich machen. Wie Rittel und Webber zeigen, hat dieses Vorgehen aber auch seine Grenzen. Umso komplexer die Problemlagen werden, umso weniger können Entscheidungen alleine aus der Fachkenntnis heraus erfolgen, sondern müssen aufgrund der nicht planbaren Effekte eine Entscheidung des Gemeinwesens sein (Rittel/Webber 1973). Vor diesem Hintergrund spielt Partizipation eine nutzenoptimierende Funktion: Indem Menschen aus ihrer eigenen Lebenswelt die anstehenden Entscheidungen mitgestalten, werden diese sowohl in der Reichweite als auch in der Güte besser. Nicht zuletzt wird auch die Akzeptanz der gemeinsam beschlossenen Entscheidungen erhöht. Dabei ist ein koordinierender und harmonisierender Gedanke handlungsleitend: Trotz differierender Meinungen soll am Ende ein gemeinsam getragenes Ergebnis erzielt werden. Die
Partizipation
331
Aushandlungsprozesse finden deshalb meist in gemeinsamen Formaten statt, in denen sich die beteiligten Akteure auf Spielregeln und Ziele verständigen. Bei diesem Vorgehen sind verschiedene Stufen zu beobachten, die Sherry Arnstein bereits 1969 in der „Ladder of Participation“ beschreibt (s. Abb. 1). Sie zeigt dort das Spektrum möglicher Beteiligungstiefe auf, das von einer vorgetäuschten, manipulativen Beteiligung bis zu einer bürgerschaftlichen Kontrolle reicht (Arnstein 1969).
Abbildung 1: Ladder of Participation (nach Arnstein 1969)
Partizipation besitzt bei Arnstein einen normativen Gehalt und findet mit der obersten Stufe seine eigentliche Entfaltung. Die politische Gesellschaft wird hier ganz im Sinne von Jürgen Habermas auf einen Aushandlungsprozess freier Bürger bezogen, die in der Kommunikation miteinander ihre Belange selbst regeln (Habermas 1990). Dieser Grundgedanke wird in der Sozialen Arbeit durch die gleichermaß gestaltete Beteiligungspyramide weitergeführt (s. Abb. 2), in der neben der staatlichen Ermöglichung von Partizipation auch die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation eine Rolle spielt (Straßburger/Rieger 2014):
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L. Penta und T. Meier
Abbildung 2: Die Partizipationspyramide (aus: Gaby Straßburger/Judith Rieger (Hg.), Partizipation kompakt, © 2019 Beltz Juventa in der Verlagsgruppe Beltz, Weinheim/Basel)
Die Spitze der Pyramide bildet die „Übertragung von Entscheidungsmacht“ und die Etablierung von „zivilgesellschaftlichen Eigenaktivitäten“ und verweist damit auf eine radikaldemokratische Partizipation. Radikaldemokratische Partizipation geht über ein Beteiligt-Werden hinaus und umfasst das Verschieben oder Schaffen eines neuen „Erscheinungsraums“ gesellschaftlichen Handelns (Arendt 2016, S. 251). Oftmals wird dabei der bekannte, gemeinsam vereinbarte Aushandlungsrahmen verlassen und es werden neue Alternativen zur Lösung gesellschaftlicher Probleme eingebracht. Als Beispiele für radikaldemokratische Partizipation können direkte Aktionen wie Demonstrationen oder Volksbegehren oder das aktive Einforderung einer Mit-Entscheidung genannt werden. Jack Rothman beschreibt diese Verfahren als social action und fasst unter diesem Begriff diejenigen Verfahren, die eine strukturelle Veränderung in einem lokalen Gemeinwesen zum Ziel haben. Als Beispiele nennt er soziale Bewegungen sowie lokale Demokratieansätze wie Community Organizing oder gewerkschaftliches Handeln (Rothman 1970). Eine Reflexion über Macht darf bei beiden Partizipationsformen niemals fehlen, da diese – so die Analyse von Hannah Arendt – immer dann entsteht, wenn Menschen miteinander handeln (Arendt 2000, S. 181). Der politische Philosoph Sheldon Wolin führt den Gedanken weiter: „Jede/r von uns trägt dazu bei, Macht aufzubauen, ohne die menschliches Leben keinen Bestand haben kann. Das Problem des Politischen ist nicht, einen Platz zu schaffen, von dem das Gesellschaftliche ausgeschlossen wird, sondern Macht in Gemeinsamkeit zu gründen, während Vielfalt verehrt – nicht bloß Differenz respektiert wird. Vielfalt kann nicht durch bürokratische Entscheidungsformen verehrt werden“ (Wolin 1983, S. 18).
Partizipation
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Dies zeigt, dass gerade in koordinierenden oder kooperativen Ansätzen die Machtfrage oftmals ausgeblendet und zugunsten eines staatsorientierten gemeinsamen Interesses zurückgestellt wird. Im deutschen System einer umfassenden und korporativen Form der Partizipation von Verbänden, Wohlfahrt und Gewerkschaften darf die Frage nach der Macht deshalb nicht vergessen werden. In diesem Sinne muss eine „gestaltende Bürgergesellschaft“ auf Augenhöhe mit Staat und Wirtschaft agieren und auch diejenigen Themen und Interessen zu Gehör bringen, die sonst nicht sichtbar sind (Penta 2008). Die Rolle der Zivilgesellschaft ist dabei immanent und darf als gestaltende Kraft nicht unterschätzt werden. Frank Adloff beschreibt den Grundgedanken wie folgt: „Zivilgesellschaft meint den Raum, wo sich Bürger und Bürgerinnen in ihrer Rolle als Bürger treffen und solidarisch oder konflikthaft handeln – sie können sich horizontal vernetzen, solidarisch handeln und sich bürgerschaftlich selbst organisieren, oder sie beziehen sich zustimmend oder protestierend auf den Raum des Politischen und verstehen sich als Urheber der Gesetze. Sie handeln in diesem öffentlichen Raum nicht als Familienmitglieder, Bürokraten oder Wirtschaftsbürger, sondern in der Rolle des Citoyen“ (Adloff 2005, S. 155, kursiv im Original).
Dies kann vor allem dann eingelöst werden, wenn verschiedene Formen der Partizipation zur Verfügung stehen und auch gelebt werden. 3
Partizipationsansätze
In der Praxis hat sich ein vielfältiger Zugang zu Partizipation entwickelt, der Ausdruck der bereits geschilderten Grundgedanken ist. Aufbauend auf der deutschen Verfassung ist die Urform der Partizipation die Wahrnehmung der verbürgten Grundrechte (wie Unversehrtheit der Person, Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc.). Diese bilden die Basis allen weiteren Engagements. Aufbauend darauf haben sich verschiedene Verfahren und Partizipationsansätze ausgebildet, die mit Bezug auf die Soziale Arbeit skizzenhaft dargestellt werden sollen. Am weitesten verbreitet sind Partizipationsansätze auf kommunaler Ebene, in der Partizipation auch größtenteils gesetzlich fixiert ist. So legt beispielsweise das Baugesetzbuch in § 3 die Beteiligung der Öffentlichkeit an Planungsvorhaben fest, was in der Praxis auf vielfältige Weise umgesetzt wird (vgl. bspw. Bischoff/Selle/Sinning 2007; Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt 2012). Auch in der Jugendhilfe ist eine umfassende Partizipation der Träger sowie der Öffentlichkeit vorgesehen und im Sozialgesetzbuch festgeschrieben (§ 80 Abs. 3 SGB VIII und 80 Abs. 4 SGB VIII). Die Partizipationsansätze sind dabei in der Regel nur allgemein beschrieben und können jeweils individuell ausgestaltet werden. Darüber hinaus existieren verschiedene informelle und noch wenig formalisierte Möglichkeiten, um Partizipation zu gestalten.
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L. Penta und T. Meier
Das Handbuch Bürgerbeteiligung der Stiftung Mitarbeit zeigt exemplarisch diese Vielfalt auf (Mitarbeit/ÖGUT 2018): Methoden wie Planungszelle, Bürgerrat, Bürgerhaushalt, Runder Tisch oder World Café sind Beispiele, wie bei konkreten Partizipationsanlässe aus einem reichhaltigen Fundus an Erfahrungen geschöpft werden kann. Bei allen diesen Verfahren rückt in jüngster Vergangenheit der Sozialraum als Bezugspunkt in den Fokus und wird sowohl in der kommunalen Planung als auch in der Sozialen Arbeit als Partizipationsraum genutzt (Früchtel/Cyprian/ Budde 2007; Kessl/Reutlinger 2011). Mittels partizipativer Verfahren sollen die Interessen der lokalen Bevölkerung erkundet und aktiviert werden. Für die Erkundung kann mittlerweile auf ein großes Spektrum an Methoden wie Stadtteilerkundungen, Umfragen, Tagebücher sowie kartografische Darstellungen zurückgegriffen werden (eine Übersicht bieten u.a. Deinet 2009a; 2009b; Spatschek/Wolf-Ostermann 2016). Im Sozialraum zeigt sich die Spannung zwischen nutzenoptimierenden und radikaldemokratischen Ansätzen ebenfalls sehr deutlich. So entstand in den 1990er Jahren aus der kommunalen Planung das Quartiersmanagement als moderierender und nutzenoptimierender Partizipationsansatz, um die vielfältigen Interessen sozial benachteiligter Sozialräume zusammenführen und in kommunale Entscheidungsstrukturen zu übertragen. Die Spannung differierender Interessen wurde hierbei zwar erkannt, aber noch nicht zufriedenstellend gelöst (Greiffenhagen/Neller 2005). Aus diesem Grund wählten radikaldemokratische Ansätze wie das Community Organizing einen anderen Zugang: Hier ist das Ziel, Teilhabedefizite von den Betroffenen direkt zu Gehör zu bringen und über konkrete Themen konkrete Verbesserungen zu erzielen (Penta 1999; 2007). Neben der gewünschten Zielrichtung der Partizipation ist vor allem auch der lokale Handlungsrahmen bestimmend, mit welchem Ansatz die besten Erfolge erzielt werden können (Kurtenbach 2018). 4
Partizipation im Kontext kirchlicher Sozialer Arbeit
Partizipation im Kontext kirchlicher Sozialer Arbeit steht darüber hinaus vor einer besonderen Herausforderung: Die im christlichen Glauben bekannte und erhoffte rettend-befreiende Gegenwart Gottes soll sich auch auf die Gestaltung der gesellschaftlichen Lebensverhältnisse auswirken. Wie diese zentrale Herausforderung des christlichen Glaubens aber konkret gestaltet wird, bleibt stets von den Bedingungen aktueller politischer und sozialer Systeme abhängig und reiht sich in die Auseinandersetzung zwischen dem christlichen Glauben und der jeweiligen Kultur ein (Metz et al. 2011). Fragen zu den Akteuren, Organisationsformen und der Reichweite dieser Gestaltung haben durch die Zeit sehr unterschiedliche Antworten erhalten. Durch die Reformation wurden die binnenkirchlichen Partizipationsmöglichkeiten der Gläubigen deutlich verändert:
Partizipation
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hierarchisch/klerikal auf der katholischen gegenüber synodal/presbyterial auf der reformatorischen Seite. Diesem grundlegenden Unterschied im Kirchenverständnis und in der Kirchenverfassung zum Trotz weisen die Entwicklungslinien bei Partizipationsfragen bezüglich der praktischen Vollzüge der christlich geprägten Sozialen Arbeit im deutschen Kontext eine verblüffende Symmetrie auf. Mit der Entwicklung der beruflichen Sozialen Arbeit im Zusammenhang mit den gesellschaftlichen und politischen Maßnahmen des Sozialstaats im Industriezeitalter und deren Spiegelung in kirchlichen Strukturen erhielt der diakonische Auftrag der Kirchen zunehmend eine individualisierende, fürsorgliche und pädagogisierende Form, welche die Partizipation der „Klienten“ (lat. Hörende) auf ein Minimum reduzierte (Müller 2013, S. 323 ff.). Die enge Bindung kirchlicher Wohlfahrtsorganisationen an den Sozialstaat untermauert diese Ausprägung. Auch wenn zum Teil anders verursacht, bestimmen ähnliche Entwicklungen die Vorherrschaft einer Versorgungspastoral im Gemeindeleben und das „Outsourcing“ der diakonischen Aufgaben in die kirchlichen Wohlfahrtsverbände. Die Selbstgenügsamkeit dieser Parallelwelten, sowohl einander als auch dem Gemeinwesen im Allgemeinen gegenüber, wirkte und wirkt sich negativ in puncto Partizipation aus. Vor allem bleibt das gestalterische Handeln und Entscheiden den (höheren) Funktionären vorbehalten. Ausnahmen bilden die seit dem Zweiten Weltkrieg wiederkehrenden Rezeptionswellen (mitsamt ihren jeweiligen Krisen) der Gemeinwesen- bzw. Stadtteilarbeit in Deutschland (beispielhaft Borck et al. 2016; Götzelmann 2010). Diese Wellen finden ihre Parallele in der Theologie sowie im kirchlichen Verbands- und Gemeindekontext (Steinkamp 1991). Sie bezeugen immer wieder den Impuls, vom Ansatz und von ihren selbstorganisierten Formen her mit den Adressatinnen – und nicht nur für sie oder neben ihnen – agieren zu wollen. Gesucht werden nicht nur programmatische, sondern auch strukturelle Mitgestaltungsmöglichkeiten „von unten“ und „von innen“ statt „von oben“ und „von außen“. Dadurch wird der Blick auf den gesamten Sozialraum bis hin zum Politischen gerichtet (vgl. z.B. Penta 2009). Im katholischen Bereich findet diese Auffassung ihre Basis in der Tradition der Katholischen Soziallehre, insbesondere bei den Stichwörtern Subsidiarität, Solidarität und Zivilgesellschaft (Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden 2014). Beispiele finden sich in verschiedenen Arbeitsfeldern (wie z.B. Gemeindeentwicklung, Arbeit mit Beeinträchtigten und Benachteiligten, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Mitgestaltung des Gemeinwesens, Public Health) und den damit verbundenen Partizipationsansätzen (Evangelische Stiftung Alsterdorf/Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin 2010; Hinte 2012). Die sich daraus ergebenden Spannungsfelder zeichnen sich bereits im Umfeld der nutzungsoptimierenden Partizipation ab, umso mehr bei einer radikaldemokratischen. Die Gründe dafür sind struktureller Art und liegen in den Organisationsstrukturen sowohl der kirchlichen Wohlfahrtsverbände als auch der
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L. Penta und T. Meier
Versorgungspastoral. Vor allem die schwierige Vereinbarkeit der Dynamik der Partizipation mit bürokratischen und verwaltungsmäßigen Abläufen führt zu Spannungen, die in der Regel zugunsten der (Groß-)Institutionen (kirchlich und säkular) entschieden werden. Ein zusätzliches Spannungsmoment bildet die noch weiterhin bestehende, konfessionsübergreifende Trennung der kirchlichen Pastoral von den kirchlichen Wohlfahrtsstrukturen. Initiativen und Reformversuche partizipativer Natur geraten häufig zwischen die Fronten der jeweiligen institutionellen Systeme. Dadurch werden sie ausgebremst oder gar zum Scheitern verurteilt (für ein Beispiel siehe Baldas 2010). Zudem haben (glaubens-)demographische Veränderungen in neuester Zeit die Grundlagen der Gemeindearbeit verändert. Es gibt keine etwaige Überstimmung mehr zwischen dem lokalen Gemeinwesen und der lokalen Kirchengemeinde. In der multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft werden Kirchengemeinden immer mehr zu schrumpfenden Inseln von spezifischen gesellschaftlichen Milieus. Partizipation wird somit zur entscheidenden Frage der Gemeindeentwicklung, auch wenn die Akzeptanz dafür (noch) nicht allgemein zu vernehmen ist. Die binnenkirchlichen Konflikte spiegeln sich in den gegenwärtigen Streitthemen der verbandlichen Sozialen Arbeit wider: etwa Vorherrschaft einer Angebots- und Dienstleistungskultur gegenüber einer Kultur, die Solidaritätsstiftung, zivilgesellschaftliches Engagement und Selbstbestimmung der Adressat:innen („Nichts für uns ohne uns“) priorisieren will. Wie wird die Objektivierung der Betroffenen verhindert? Gilt die Sozialraumorientierung oder die Sozialraumverpflichtung? Inwieweit ist die Soziale Arbeit politisch? Und welche Rolle spielen überhaupt Menschenrechte in der Sozialen Arbeit? Summa summarum: Partizipation in der kirchlich geprägten Sozialen Arbeit, auch wenn es vielerorts Initiativen und erneuernde Aufbrüche gibt, bleibt ein Thema, das noch auf seine Durchsetzung wartet. Hier lohnt ein Blick auf das weitere Feld der Partizipation, um neue und andere Wege zu finden, um eine passende und gerechte Form der Teilhabe zu ermöglichen. Literatur Adloff, F. (2005): 5. Sozialkapital und bürgerschaftliches Engagement. In: F. Adloff (Hg.): Zivilgesellschaft (S. 123–130). Frankfurt a.M. Arendt, H. (2000): In der Gegenwart. Übungen im politischen Denken II. München. Arendt, H. (2016): Vita Activa oder Vom Tätigen Leben. München u.a. Arnstein, S. (1969): A Ladder of Citizen Participation. Journal of the American Institute of Planners, 35, 216–224. Baldas, E. (Hg.) (2010): Community Organizing: Menschen gestalten ihren Sozialraum. Freiburg i.Br.
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L. Penta und T. Meier
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26 Gemeinwesen – Sozialraum Ralf Hoburg
1
Einleitung
Im wissenschaftlichen Kontext haben die beiden Begriffe von Gemeinwesen und Sozialraum in der Vergangenheit sowohl im kirchlich-theologischen Diskurs als auch in der Sozialen Arbeit eine breite Aufmerksamkeit erhalten (Herrmann 2019). Inzwischen scheint die Literatur auf diesem Gebiet fast unübersehbar, und die mit ihnen verbundene Perspektive der Sozialraumorientierung hat sich zum Leitbild praktischer Arbeit bei den Kommunen, den Trägern der Wohlfahrtspflege sowie Caritas und Diakonie, der evangelischen und katholischen Kirche und der Fachwissenschaft Sozialer Arbeit entwickelt (Kessel/Reutlinger 2019, S. VI). Mit Galuske lässt sich geradezu von einem „Boom des Sozialraums“ sprechen (Galuske 2013, S. 312). Gemeinwesen und Sozialraum bilden die Schnittmenge zwischen unterschiedlichen Fachrichtungen, die von Raum- und Stadtplanung in der Zivilgesellschaft bis hin zu Aspekten der Digitalisierung sowie neueren Vorstellungen einer lokalen Gemeinwesenökologie und -Ökonomie reichen. Mit dieser Ausweitung der fachlichen Perspektiven hin zu einer interdisziplinären Betrachtung hat der Diskurs über Sozialraum und Gemeinwesen in den letzten Jahren an Komplexität gewonnen, kommt zum Ort des „Kiezes“ die „Ent“-Ortung digitaler Raumstrukturen und soziale Raumkomponenten kreuzen sich mit ökologischen und ökonomischen Aspekten. Um diesem Phänomen anwachsender Komplexität im Verständnis des Sozialraumes gerecht zu werden, wird inzwischen vorgeschlagen, in der Beschreibung von Gemeinwesen und Sozialraum einen Mehrebenenansatz zu verfolgen (SONI-Schema), um die Interessen von Individuen, Institutionen und Strukturen des Sozialraums zu vereinen (Zippert 2013, S. 189). Es bedarf also einer disziplinären Ordnung des Themenfeldes und auch einer systematisierenden Betrachtung gegenüber der älteren Literatur (Vgl. Ruddat/Schäfer 2005). Da beide Begriffe gleichermaßen in der Fachwissenschaft Sozialer Arbeit wie auch in Caritas, Diakonie und Theologie rezipiert werden – dort dann unter
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R. Hoburg
den Begriffen der „Sozialpastoral“ und „Gemeinwesendiakonie“ – wird es im Rahmen dieses Beitrages auch darum gehen müssen, die fachwissenschaftlichen Diskurse sozialer und theologischer Provenienz auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede hin zu untersuchen und durch Aspekte anderer Disziplinen zu ergänzen. Nur sehr selektiv werden bislang die verschiedenen Theorien des Raumes (Architektur, Politik, Ökonomie, Umwelt, Soziales) reflektiert bzw. zusammengeführt oder in die Arbeitskonzepte von Sozialraum oder Gemeinwesen aufgenommen, so dass die Diskussion trotz einer Breite noch immer „blinde Flecken“ – vor allem in Hinsicht ökologischer und ökonomischer Nachhaltigkeit – aufweist. 2
Einordnung und Begriffsgeschichte
Gemeinwesen und Sozialraum sind keine Erfindung der Moderne. Beide Begriffe weisen eine lange Traditionsgeschichte auf, die in Europa letztlich bis in die Entwicklung des Städtewesens im Mittelalter reicht und später zur Aufteilung in Stadtquartiere wie in diversen Stadtordnungen im 18. Jahrhundert führt. Mit der Binnendifferenzierung der Städte ist zugleich bereits früh die Wahrnehmung des Sozialen im lokalen Raum verbunden. Die Herausbildung des kommunalen Sozialraums ist in Deutschland verwaltungsrechtlich und politisch komplex und nicht ohne die Verknüpfung zum Städtewesen sowie dann zu den preußischen Kommunalreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu denken. Das moderne Verständnis von Sozialraum im Sinne einer am Gemeinwesen orientierten Stadtteilarbeit, wie er im Begriff der Gemeinwesenarbeit in der Sozialen Arbeit heute vorwiegend gebraucht wird, ist neueren Datums und in seiner jetzigen Form im Fachdiskurs Sozialer Arbeit geprägt durch die geschichtliche Ableitung aus der Settlement-Bewegung um Jane Addams, die mit der Gründung des Hull-House in Chicago den Anfang einer politisch ausgerichteten Stadtteilarbeit setzte (Herrmann 2019, S. 42–47). Sie steht damit in der Traditionslinie der Chicagoer Soziologenschule des 19. Jahrhunderts. Sozialraum meint hier vor allem die lokal und kleinräumig gedachte social area. Die Settlement-Bewegung setzt sich mit der Idee des Community Organizing fort, als deren Gründervater Saul David Alinsky gilt. Sein Ansatz kann mit den Begriffen einer Bürgerbeteiligung und der Partizipation der Betroffenen an stadtteilpolitischen Fragen beschrieben werden und findet gegenwärtig seine Fortführung in akteurspolitischen Diskursen der Zivilgesellschaft. Für die Entwicklung der Gemeinwesenarbeit in Deutschland wird als Vorläufer auch die Nachbarschaftsheimbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts angeführt (Vgl. Israel 2006, S. 207). Sie hat eine internationale Parallele in Schweden, wo sich mit dem Projekt des Arsta-Centrums in Stockholm bereits seit den 30er Jahren und dann bis 1954 ein nachbarschaftliches Ladenkonzept entwickelte, das als Stadtteilzentrum das Wohnen mit kulturellen, ökonomischen und sozialen Aspekten vereinen sollte.
Gemeinwesen – Sozialraum
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Zu beachten ist indes dennoch, dass beide Begriffe – Gemeinwesen und Sozialraum – oft parallel verwendet werden, letztlich aber doch sich auf unterschiedliche Aspekte beziehen. Dem ist hier kurz Rechnung zu tragen, um die Begriffe und die damit verbundenen Konzepte einordnen zu können. Während der Begriff Sozialraum eher an ein territorial-räumliches Verständnis anknüpft bzw. soziale Positionen im Raum beschreibt oder auch Erfahrungen im Raum aufgreift, weist Gemeinwesen eher einen soziologisch-politischen Kontext auf. Im Gemeinwesen geht es primär um die „Commons“, d.h. die der Allgemeinheit zur Verfügung stehenden und zu verwaltenden „Gemeingüter“. Der Begriff Gemeinwesen tritt damit in Beziehung zum gesellschaftlichen Gemeinwohl – einem zentralen Anliegen der politischen Ökonomie. Seine Fortführung findet dieser Aspekt in der europäischen Verfassungsgeschichte etwa bei Jean Jaques Rousseau, der im Gemeinwesen die Summe aller partikularen Interessen sieht. Den Übergang von politischen zu eher sozialen Schwerpunktsetzungen im Begriffsverständnis von Gemeinwesen und damit gesellschaftskritischen Intentionen markiert Karl Marx, der von Verhältnissen und Bedürfnissen der Menschen untereinander spricht. Marx nimmt also die Perspektive einer gesellschaftlichen Veränderung ein. Die – kurz aufgezeigten – historischen Linien (die sich differenzieren lassen in eine europäische und stadtsoziologisch ausgerichtete und eine US-amerikanisch politische Linie) münden in ein Begriffsverständnis, das sich seit den 1970er Jahren weiterentwickelt hat und die verschiedenen begriffsgeschichtlichen Linien in sich vereinigt. Hier vollzieht sich im Fachdiskurs der Übergang vom Begriff des Gemeinwesens zur Stadtteilorientierung. Der Begriff Gemeinwesen wird im Sinne von Karl Marx ideologiekritisch in seiner, die Strukturen verändernden Intention aufgefasst, aber gleichzeitig in Aufnahme der Chicagoer Tradition in politischer Intention von Beteiligung auf Stadtteile bezogen – also regionalisiert und territorial-geographisch gefasst – und verliert damit gleichzeitig die Bedeutungsfacette seiner Ausrichtung auf die „Commons“, also des Gemeinwohls, was als Begriff mehr meint als politische Partizipation. Das Ergebnis dieses Rezeptionsprozesses der Begriffe besteht darin, dass der regional-territoriale Begriff des Sozialraums (stammend aus der Chicagoer Traditionslinie, aber auch passig zum territorial-geographischen Hintergrund des ursprünglichen preußischen Kommunalverständnisses) zu einem Begriffssynonym des Gemeinwesens wird. Aus der Stadtteilorientierung wird dann der Terminus Sozialraumorientierung und Gemeinwesen wird zum ContainerBegriff lokal begrenzter Räume wie Stadtteilen, Quartieren und Nachbarschaften. Gemeinwesenarbeit heißt hier sozialraumorientiertes Handeln im Stadtteil. Dem folgte in ihrer Konzeptentwicklung die Soziale Arbeit mit dem Modell der stadtteilbezogenen Sozialen Arbeit (Wolfgang Hinte), aus dem sich seit den 90er Jahren das heutige Modell der Gemeinwesenarbeit (GWA) ableiten lässt, in dem zum Stadtteilansatz nun der emanzipativ-politische Faktor elementar hinzutritt. Diese Ergänzung war das Ergebnis einer Kritik, die bemängelte, dass Sozialraum auf Stadtteilorientierung reduziert wurde, und anführte, dass damit der Raum einerseits individual-personenbezogen und andererseits
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territorial als Gebiet definiert wird. Für das Selbstverständnis der Gemeinwesenarbeit gilt heute: Sie betreibt „Dialogmanagement“, und Soziale Arbeit ist vermittelnde Instanz zwischen Verwaltung und Bürgerinteressen und vertritt die basisdemokratische Forderung nach Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen (Hinte 1996, S. 108). Als Katalysator dieser Entwicklung kann sicherlich die Gebietsreform der 1970er Jahre in Deutschland sowie die Ausbreitung der Städte in Sub-Urbans und Vorstädte gelten, die den Gedanken der Schaffung von räumlich und gesellschaftlich verbesserten Bedingungen für mehr Lebensqualität voranbringen sollten. Zeitgleich kreierte der Aufbruch alternativer Bewegungen und Initiativen „Zonen einer räumlich aktivierten Praxis politischer Öffentlichkeit“, die durch teilhabeorientierte Aneignungsprozesse Räume „besetzten“ (Böhnisch/ Schroer 2019, S. 152). Seitdem steht der Stadtteil als Epizentrum der Städte im Focus der Betrachtung, womit die Förderung von mehr Selbständigkeit und die Hebung einer sozial-kulturellen Qualität gemeint sind. Dazu zählen seit den 1970er Jahren die Dezentralisierung von sozialen Verwaltungsstrukturen („Bürgernähe“) im Rahmen der Neuen Steuerung (NST) des „public Managements“. Auch das Modell der Sozialen Stadt (1998) ist als politische Weiterentwicklung in diesem Rahmen zu verankern. Zum Begriff der Gemeinwesenarbeit tritt inzwischen seit dem Jahr 2000 der Begriff des Quartiersmanagements. In der Sozialen Arbeit und darüber hinaus in Caritas und Diakonie dominiert der Begriff Gemeinwesenarbeit und ist im Anschluss an Wolfgang Hinte zum Arbeitsprinzip in der Sozialen Arbeit geworden. Der gemeinsame Ausgangspunkt aller neueren Perspektiven auf Gemeinwesen und Sozialraum besteht in der Grunderkenntnis, dass sich die Lebenswelt und der Alltag heute deutlich in verschiedenen „Parallelwelten“ (Räumen) abspielen. Der Sozialraum bildet demzufolge eine Mehr-Ebenen-Konstruktion, die unterschiedliche Perspektiven (sozial, kulturell, stadtplanerisch, partizipativ) in sich vereinigen muss. Nach Fabian Kessl und Christian Reutlinger liegt dem Sozialraumverständnis ein Raumbegriff zugrunde, der Räume als „ständig (re)produzierte Gewebe sozialer Praktiken“ versteht (Kessl/Reutlinger 2019, S. VII). Damit kommen über das Lokal-Territoriale hinaus die Strukturen, Machtverhältnisse und sozialen Interaktionen in den Blick, die im Sozialraum stattfinden und von verschiedenen Akteuren vorangetrieben werden. Sozialraumorientierung und Gemeinwesenarbeit bilden in heutiger Perspektive eine feste Säule in den unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit. Dabei bildet die Gemeinwesenarbeit eher das (kommunal)-politische Prinzip und die Sozialraumorientierung das (lokale) Handlungsprinzip der Sozialen Arbeit ab. Die zentrale Perspektive liegt bei beiden Aspekten vom Selbstverständnis der Sozialen Arbeit ausgehend auf der Wahrnehmung von Problemlagen, die sich für Menschen durch ihre soziale Stellung und Positionierung im sozialen Raum ergibt. Die Soziale Arbeit muss sich von ihrem Auftrag her mit den räumlichen Konstellationen zwischen Menschen, Institutionen und
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Strukturen im Sinne einer Eröffnung von Beteiligungs- und Handlungsoptionen befassen. Der Sozialraum ist demnach eine „Bedingung sozialen Tuns“ (Kessl 2019, S. 165) oder anders formuliert der lokale Gestaltungsraum sozialen Handelns. Dies bedingt dann letztlich die aktive Beteiligung an lokalen Gestaltungsprozessen. Hier verbinden sich die Linien der Gemeinwesenarbeit und der Sozialraumorientierung als Beteiligung an lokaler Sozialpolitik. Vier unterschiedliche Modelle von Gemeinwesenarbeit lassen sich unterscheiden: – Wohlfahrtsstaatliche Gemeinwesenarbeit – Integrative Gemeinwesenarbeit – Aggressive Gemeinwesenarbeit – Katalytisch-aktivierende Gemeinwesenarbeit. Das Ziel von Sozialraumorientierung und Gemeinwesenarbeit bildet insgesamt die Gestaltung lebenswerter Räume, die über ihre territorial gedachte Eingrenzung hinausweisen und den Sozialraum als relationales Gewebe (Netzwerk) betrachten. Im Zentrum stehen hierbei soziale Praktiken, die dem Sozialraum Sinn geben. Das Ziel ist es, in der Zusammenarbeit und Zusammenführung lokaler Akteure demokratische und menschenrechtsorientierte Strukturen als neue soziale Gestaltung der Gesellschaft zu ermöglichen und nachhaltig demokratiefördernd zu wirken. Institutionen wie Initiativen, Vereine, Kirchen und Wohlfahrtsverbände sind Teile dieses Netzwerkes lokaler Akteure. Die Gemeinwesenarbeit versteht sich als demokratische Gestaltungskraft, die im Sozialraum ansetzt, aber durch das politische Selbstverständnis über den geographisch bzw. territorial gedachten Raum des Stadtteils hinausgeht (Bringt 2016, S. 184–185). Der Fokus liegt hierbei eindeutig auf der Perspektive der benachteiligten Bevölkerungsgruppen, womit eine Milieu-Eingrenzung innerhalb des Gemeinwesens gesetzt und zugleich auch konzeptionell gewollt ist. Die diesem Verständnis der Begriffe und Konzepte zugrunde liegende Erweiterung des Raumverständnisses über das Territoriale („Container-Raum“) hinaus als relationales Faktum geht zurück auf die neueren Erkenntnisse der Raumsoziologie. Vor allem die Soziologin Martina Löw hat das neue Verständnis von Sozialraum geprägt und greift dabei auf die Arbeiten von Pierre Bourdieu zurück, dessen zwei Konzeptionen von sozialem Kapital und Habitus hier nachwirken. Ein Ort wird als (sozialer) Raum erzeugt durch die soziale und kulturelle Praxis (spacing). Der Raum spiegelt die Anordnung wider, die durch Menschen entstehen und hergestellt werden. Insofern steht im Sozialraum als dynamischem Geschehen der Prozess im Vordergrund, wie sich Menschen den Raum jeweils aneignen. Mit dem Begriff des „Spatial Turn“ wird der Sozialraumbegriff neu jenseits des territorialen Paradigmas aufgenommen, weil er die Produktion des Raumes durch soziale Praxis als Gegenwelt zum geographischen Containerraum konstruiert. Demnach offenbaren Sozialräume etwas von sozialen Arrangements von Orten, die zu spezifischen Wahrnehmungen führen. Auf diese Weise können Exklusions- und Inklusionsprozesse räumlich dargestellt werden und Institutionen als Akteure in die Gemeinwesenarbeit mit einbezogen werden (Löw 2001).
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Theologische Orientierung
Die Kategorie des territorialen Raumes sowie der sozialen Interaktionen darin finden sich in vielfachen Variationen bereits in biblischen Zusammenhängen und wurden in der Literatur immer wieder reflektiert. Als ursprünglich kann hierfür in der biblisch-jüdischen Vorstellung die Korrelation von Volk Israel und dem verheißenen Land gelten, die einen zunächst inhaltslosen (geographisch bestimmten) Raum mit einer spezifischen Sinnfüllung und dann auch ihrer heilsgeschichtlichen Deutung (heiliges Land) versieht. Durch die Exilerfahrung Israels konstituiert sich dann in der Diaspora die Exilgemeinde als religiösinteragierender Raum, der sich in der Synagoge als Weiterführung des Jerusalemer Tempels „verortet“, aber eher als in sich abgeschlossener und eigenständiger Sozialraum existiert und eine teilweise selbst-exkludierende Tendenz gegenüber der Umwelt aufweist. Die Vorstellung der Gemeinde als einem religiös konstituierten Sozialraum (durch die Praxis von Ritus und Kultus) setzt sich im Christentum fort. Obwohl sich die Gemeinde theologisch eher als Binnensystem definiert, interagiert die christliche Gemeinde mit der Zeit stärker mit der sozialen Umwelt. Die christliche Gemeinde ist bereits in frühchristlicher Zeit ein zugleich territorial und spirituell gedachter Raum, der eine Interaktion zum sozialen Nahraum aufweist, wobei sich die Kirche als Gegen-Ort zur Welt versteht. Die christliche Ekklesiologie bleibt lange diesem Modell verhaftet und beschreibt das Verhältnis in der Dialektik von „Christengemeinde und Bürgergemeinde“ (Karl Barth). Nach 1945 löst sich diese Dialektik mehr und mehr auf und bilden die Kirchengemeinden eine Teilmenge des sozialen Nahraums. Heute verortet sich die Kirche im „Dazwischen“ und stellt die Frage, wie Gemeinde und sozialer Nahraum konstruktiv – strukturell und sozial – aufeinander bezogen werden können (Sigrist 2014, S. 328). Für ein modernes Verständnis von städtisch-säkularem Sozialraum gilt aber festzuhalten, dass es nicht unwesentlich auf der christlichen Traditionsgeschichte in den Städten beruht und Stadtbilder, Stadtarchitektur und Stadtentwicklung durch die Positionierung (Zentralstellung) der Kirchbauten repräsentiert werden. Im christlichen Selbstverständnis dominiert das Raumverständnis der Gemeinde als umgrenzter Parochie. Die Ortsgemeinde als Container-Raum bildet die Basis des kirchlichen Lebens. Der soziale bzw. caritativ-soziale Gedanke der Nächstenliebe ordnet sich diesen ekklesialen Strukturen unter. Mit der Gründung von Diakonie und Caritas als Träger der Wohlfahrtspflege lässt sich feststellen, dass sich neben der Kirchengemeinde eine eigenständige zweite Säule gebildet hat, die in das Gemeinwesen bzw. den Sozialraum durch Aktion und Interaktion hineinragt (sie bilden eine relationale Struktur im Gemeinwesen) und mit diesem verwoben ist. Insgesamt lassen sich in kirchlicher Hinsicht drei Formen feststellen, in denen die Raumdimension Bedeutung hat: – Das Kirchengebäude als Ort im Sozialraum – Die Ortsgemeinde als Strukturform des Gemeinwesens/Sozialraums
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– Caritas und Diakonie als soziale Institutionen/Organisationen im Gemeinwesen/Sozialraum. 4 Differenzierung der kirchlich-theologischen Konzepte Die Entwicklung des Sozialstaats nach 1945 machte es also notwendig, deutlicher über den Sozialbezug der Ortskirchengemeinde nachzudenken und zu neuen Verhältnisbestimmungen zwischen Parochie und lokalem Gemeinwesen/Sozialraum zu kommen. In der konfessionellen Perspektive katholischer bzw. evangelischer Provenienz begegnen die Begriffe von Sozialraum und Gemeinwesen in vielen Konzepten, die sich theologisch mit der Leitvorstellung der sozialen Verantwortung der Gemeinde als Parochie befassen. Der klassische Gemeinwesenarbeiter, wie er oben beschrieben wurde, ist im kirchlichen Kontext eher nicht vertreten – die Ideen und Prinzipien sind allerdings präsent. Während im katholischen Raum der Begriff „Sozialpastoral“ dominiert, wird auf der evangelischen Seite stärker der Begriff der „diakonischen Gemeinde“ verwendet (Zitt 2006, S. 207-226). Hinzu kommt nur wenige Zeit später der programmatische Ansatz einer – durchaus auch ökumenisch gedachten – „Gemeinwesendiakonie“ oder Stadtteildiakonie, der den Aspekt der diakonischen Gemeinde/Sozialpastoral mit dem Konzept des Sozialraums und der Gemeinwesenarbeit verbindet. Davon unterschieden sind vor allem in evangelischen Kontexten die Kirchenkreissozialarbeiter:innen, die ähnlich den Sozialsekretären der Kirchen im Zusammenhang einer Sozialberatung Sozialanwaltschaft für Einzelne und Gruppen übernimmt. Insgesamt kommt es bei den kirchlichen Ansätzen der Herstellung einer Beziehung zum Sozialraum zu einer Überlappung bzw. Durchdringung territorialer, theologischer und sozialer Dimensionen. Unabhängig davon werden Kirchengebäude selbst inzwischen auch als „Raum“ – durchaus auch mit sozialer bzw. diakonischer Dignität – deutlicher wahrgenommen (Sigrist 2014b). 4.1
Die Sozialpastoral
Ausgangspunkt für die Diskussion über die soziale Ausrichtung der Gemeinde in der katholischen Kirche bildete in den 1960er Jahren zunächst das Zweite Vatikanische Konzil, das in dem Dokument „Lumen gentium“ eine deutliche Hinwendung der Kirche zu den Armen fordert (Lumen gentium 8). Dieser theologische Ansatz wird vor allem seit den 1970er Jahren besonders durch die Befreiungstheologie Lateinamerikas deutlicher herausgestellt. Mit dem Schlagwort einer „Option für die Armen“ durch den befreiungstheologischen Ansatz erhält die soziale Dimension des Evangeliums eine inhaltliche Ausrichtung auf die Forderung einer Solidarität mit den Armen. Ein Vorläufer einer sozial ausgerichteten Kirche im städtischen Raum ist Harvey Cox, der in „Stadt ohne Gott“ von der diakonisch urbanen Kirche spricht und deutlich an die frühe Chicagoer Tradition von Saul D. Alinskis Projekt anknüpft (Cox 1966, S. 161–168).
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Vor diesem Hintergrund entsteht das Paradigma der Sozialpastoral, d.h. einem Ansatz von Gemeinwesenarbeit in der Kirche, mit einer andersartigen praktisch-theologischen Theoriebildung. Ganz in der Linie einer armutsorientierten Kirche fordert Herrmann Steinkamp, dass „Not und Armut, insbesondere das Massenelend, als wichtigste Herausforderung für die Praxis der Christen zu begreifen“ sind (Steinkamp 1985, S. 107). Das Stichwort einer Option für die Armen hat eine deutlich politische Ausrichtung, wird dann aber vor dem Hintergrund der Basisgemeinden zu einem Thema einer Ekklesiologie der Gemeinde. Nach Steinkamp war die Öffnung im Verständnis von Sozialpastoral zum gemeinwesenorientierten, und damit politisch-partizipativen Handeln im Sozialraum gewollt, gelingt indes in letzter Konsequenz nicht (Steinkamp 1991). Der Ansatz der Sozialpastoral versteht sich vor dem Hintergrund befreiungstheologischer Hermeneutik mehr als eine bloße „diakonische Gemeinde“, denn es geht um die Behebung der strukturellen Ursachen von Armut und der Verbesserung der Lebensbedingungen im lokalen Kontext. So ist Sozialpastoral politische Bewusstseinsbildung und Anstiftung zu kollektivem Handeln. Inzwischen ist das Modell einer sozialraumorientierten Sozialpastoral in einem etwas politisch abgeschwächten Modus im katholischen Raum etabliert, bleibt aber prinzipiell trotz Betonung der sozial-diakonischen Dimension dem binnenkirchlichen Raum verbunden, auch wenn Kirche sich heute mehr als eine zivilgesellschaftliche Akteurin der Gesellschaft darstellt. 4.2 Diakonische Gemeinde und Gemeinwesendiakonie In der diakonischen Literatur wird der Bezug zum sozialen Raum bzw. zur sozialen Umwelt in vielfältiger Weise und in der Traditionslinie Johann Hinrich Wicherns immer wieder hergestellt. Bereits Hans-Dietrich Wendland entwickelte in den 1960er Jahren den Gedanken der sozial-diakonischen Verantwortung der Kirche und stellt in das Zentrum seines Ansatzes den Gesellschaftsbezug der Diakonie. Die Diakonie der 1960er Jahre verharrt trotz alledem auf zwei Grundpositionen: a) Diakonie ist an die Kirche gewiesen und hat ihren Ort in der Gemeinde (Herbert Krimm). b) Diakonie findet ihren Ort zwischen Kirche und Welt (H.-D. Wendland) (Herrmann 2008, S. 233–244). Diese Positionen dominieren und die Kirche bleibt dem sektoral gedachten Modell („Zwei-Welten-Modell“) verbunden, das funktional die Bereiche trennt: Hier die Parochie als Zentrum der Gemeinde und Tangente des kommunalen Sozialraums – dort die verfasste Diakonie als Sozialarbeit im Verantwortungsbereich des Sozialstaates (Zitt 2006, S. 210). Dies birgt letztlich die Gefahr einer „Entdiakonisierung“ der Gemeinde in sich, sofern sie sich auf die parochialen Grundaufgabe von Seelsorge und Verkündigung beschränkt. (Götzelmann 2006, S. 280). Der Weg zu einer sozialethischen, und damit diakonisch verankerten Gemeinde verläuft in mehreren Etappen, bis der Begriff der diakonischen Gemeinde dann explizit ab 1990 konzeptionell ausgeführt wird. Von Diakoniegemeinde spricht indes bereits 1963 Paul Philippi, und die Anfänge der christlichen Ge-
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meinwesenarbeit reichen sogar noch weiter zurück in die Vergangenheit, wie Arnd Götzelmann im historischen Rückblick aufzeigt (Ruddat/Schäfer 2005, S. 211) Bereits 2006 stellt Arnd Götzelmann im Studienbuch Diakonik die unterschiedlichen Ansätze dar (Götzelmann 2006, S. 292). Allen Modellen ist bis hierhin zu eigen, dass sie trotz gedachter Verknüpfungen das Innen-Außen Verhältnis zwischen (diakonischer) Kirchengemeinde und der Umgebung des kommunalen bzw. regionalen Sozialraums eher eklektizistisch unter dem theologischen Gesichtspunkt der barmherzigen Nächstenliebe und Hilfe definieren. Diakonie auf der Ebene der Gemeinde ist primär Dienst am Nächsten und weniger aktiver Partner struktureller Weiterentwicklung des Gemeinwesens im Sinne der Gemeinwesenarbeit (GWA). Das kirchliche Modell ist – hierin analog zum katholischen Modell der Sozialpastoral – gekennzeichnet durch die Hinwendung zu den Armen in solidarischer Absicht und somit randgruppenorientiert (Benedict 2008). Um diesen impliziten Engführungen zu entkommen und das diakonische Profil der Gemeinde als Aufgabe zu schärfen, ist es von zentraler Bedeutung, die sozialen Potentiale der Gemeinde für das Gemeinwesen zu finden. Aus der gemeindepädagogischen Diskussion wurde daher der Ansatz eines „Diakonie-Lernens“ (Martin Ruhfuss) der Gemeinde aufgegriffen. In der Folge eines diakonischen Lernprozesses entwickelte sich das Modell einer diakonischen Gemeindepraxis, die sich deutlicher am Subjektstatus der Betroffenen orientieren will (Götzelmann 2006, S. 294). Das Konzept der christlichen Gemeinwesenarbeit bzw. Gemeinwesendiakonie, das sich inzwischen etabliert hat, strebt eine Zusammenführung der unterschiedlichen Modelle an, lehnt sich dabei eng an den Begriff der Gemeinwesenarbeit (GWA) an. Die neueren Ansätze verknüpfen damit diakonische Aspekte stärker mit der Gemeinwesenarbeit. Beeinflusst ist die jüngere Diskussion um christliche Gemeinwesenarbeit sowie Gemeinwesendiakonie – und dies betrifft ökumenisch die evangelische und katholische Diskussion gleichermaßen – seit 2007 durch die politische Diskussion um das Bund-Länder-Programm „Soziale Stadt“. Wie in der Gemeinwesenarbeit geht es unter den Bedingungen theologischdiakonischer Denkstrukturen darum, zusammen mit den Akteuren im Stadtteil die Lebenssituation kollektiv zu verbessern, wobei trotz allem die Perspektiven auf die sozialen Randgruppen dominierend bleiben und die soziale Gesamtheit in ihrer Milieudifferenzierung nur selten in den Blick kommt. Diakonisch ist nicht mehr primär der Einzelne mit den individuellen Notlagen im Blick, sondern es werden die Problemlagen von betroffenen Gruppen im Gemeinwesen in den Blick genommen. Der lebensweltliche Ansatz bildet inzwischen den Ausgangspunkt sozialdiakonischen Denkens. So verstehen Martin Horstmann und Elke Neuhausen unter Gemeinwesenarbeit eine diakonische Arbeit, die in den Kirchengemeinden ihren Ausgangspunkt nimmt, von Gemeinden und Kirchenkreisen getragen wird und mit Akteuren im Stadtteil kooperiert (Horstmann/Neuhausen 2010). Mit diesem Ansatz werden Diakonie, Gemeinde und der soziale Nahraum der Stadt miteinander verzahnt und greift
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die Erkenntnis Raum, dass sozialräumliches Denken und Handeln eine lokale Gemeinschaftsaufgabe sein müssen. Aus kirchlicher Sicht ist damit die Vorrangigkeit der Parochie als Handlungs- und Strukturebene gewahrt und zugleich deutlich gemacht, dass sich das sozialdiakonische Handeln der Gemeinde aus dem christlichen Identitätskern heraus begründen lässt. In dieser Hinsicht spielt der Wahrnehmungsbegriff eine zentrale Rolle, um soziale Problemlagen ausfindig machen zu können. Gerade aus dem Erkennen der konkreten sozialen Not resultiert diakonische Innovation. Die Konsequenz dieses Ansatzes der Gemeinwesendiakonie ist die Suche nach Projekten und Partnern. Letztlich muss im Rahmen der Zivilgesellschaft an die Stelle der traditionellen Versäulung eine Netzwerkarbeit von Akteuren treten. Der von Henk de Roest in dem zentralen Band „Wichern drei“ (Herrmann/Horstmann) eingeführte und verwendete Begriff der diakonischen Lokalisierung nach außen und nach innen scheint hier ein interessanter Weg. Hier wird die Raumkonzeption von Martina Löw konkret (Löw 2001), denn in der Sozialraumarbeit kommt es nun darauf an, von der eigenen Positionierung aus Beziehungen und Verbindungen zu anderen Akteuren im Netzwerk herzustellen. 5 Sozialraum und Gemeinwesen im Diskurs der Nachhaltigkeit und Ökonomie Nachbarschaft kann in der Pluralität der Raumtheorien heute nur als ein multioptionales und mehrdimensionales Konzept gedacht werden, in dem integrativ die Lebensräume als Alltagswelten so gestaltet werden, dass soziale, ökologische und ökonomische Aspekte mit in den traditionellen Begriff von Sozialraum bzw. Gemeinwesen integriert werden. Neben einer dazu notwendigen Netzwerkarbeit zählt letztlich in diesem Kontext auch die Forderung, dass Gemeinwesenarbeit deutlich über die Benachteiligungsdiskurse hinausgehen und eine klarere Milieu-Offenheit und Multiperspektivität einnehmen sollte. Während in der Linie des Community-Organizing primär politische Aspekte von Beteiligung und Partizipation im Vordergrund stehen, werden durch die konstruktivistische Perspektive auf den Sozialraum und den Mehrebenenansatz auch „blinde Flecken“ (Zippert 2013, S. 200) erkennbar, die die Möglichkeit auf eine Erweiterung des Sozialraumbegriffes über den primär „sozial“ gedachten Raum in Richtung eines pluralen Verwirklichungsraumes bieten. Interessant sind hierbei neuere Arbeiten und Ansätze, die Aspekte von Nachhaltigkeit und Ökonomie mehr in den Vordergrund des politischen und sozialräumlichen Diskurses rücken. Führend hierbei sind Überlegungen von Susanne Elsen, Dieter Oehlschlägel und Wolf-Dietrich Wendt geworden, die das Thema einer Ökonomie des Gemeinwesens profiliert und damit neue Akzente gesetzt haben. Hierauf soll abschließend kurz eingegangen werden. Letztlich liegt der Ausgangspunkt in einem Gedanken des Soziologen Ulrich Beck, der von einer Gleichzeitigkeit zwischen Globalisierung als Ausdehnung
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marktwirtschaftlicher Prozesse und der Lokalisierung, d.h. der Begrenztheit ökonomischer Aktivitäten sprach. Der Markt erfordert also das Gegengewicht „sozial eingebundenen Wirtschaftens im lokalen und regionalen Raum“ (Elsen 2007, S. 19). Regional rückgebundene Wirtschaftsprozesse knüpfen an lebensweltlichen Kontexten an oder gehen aus diesen hervor und bilden sog. „Komplementärökonomien“ (Elsen 2007, S. 45), deren Ausrichtung und Prinzipien in einem Doppelten liegen: Sie wollen Partizipation und generieren sich aus dem zivilgesellschaftlichen Motor einer Selbstorganisation der Betroffenen. Als ökonomisch ausgerichtete Projekte sind sie nur peripher an Gewinn orientiert, sondern richten sich am sozialen Mehrwert aus. Susanne Elsen spricht hierbei von einem Laboratorium, das Lernmöglichkeiten und Möglichkeitsräume zu gesellschaftlicher Problemlösung eröffnet mit dem Ziel einer „pluralen Ökonomie“, die sich in „nicht marktförmigen Ökonomien für soziale Zielsetzungen“ einsetzt (Elsen 2007, S. 56). Sozialraum und Gemeinwesen kommen in diesem Konzept wie bereits weiter oben beschrieben in einer zweifachen Verwendung vor: Während mit dem Terminus Gemeinwesen an die Bedeutungsebene der „Commons“, d.h. der politischen Zielebene des Wirtschaftens als einem Erwirtschaften zu Gunsten der gemeinsamen Belange angeknüpft wird, stellt der Sozialraum den Ort der Realisierung bzw. Umsetzung dieser Ideen dar und bietet eine Korrelation zwischen sozialem Handeln und ökonomischen sowie sozialen Strukturen im Sinne Martina Löws. Wirtschaften auf der Ebene des lokalen Raums richtet das Handeln neu an den Erfordernissen des Gemeinwesens aus und fragt nach der „erhaltenden Nutzung und der Schaffung dessen, was Menschen zum Leben und Zusammenleben brauchen“ (Elsen 2007, S. 112). Hier fließen Gemeinwesenarbeit, Ökologie und Ökonomie ineinander. Gleichzeitig werden damit Räume der Verwirklichung geschaffen. Subsistenzwirtschaft und NichtGewinnorientierung im Sinne der klassischen Gewinnmaximierung bieten andersgeartete Möglichkeiten sozialer und ökonomischer Teilhabe im Nahraum sowie alternativer beruflicher Lebensentwürfe. Inzwischen ist ein Markt gemeinwesenökonomischer Konzepte und Ideen entstanden, die ein Teil pluraler Gemeinwesenarbeit bzw. Gemeinwesendiakonie bilden. Sie treten in diversen Aggregatzuständen auf, die entweder feste oder lockere Formen von Selbstorganisation oder Netzwerkbildungen aufweisen und mit verschiedenen Trägersystemen (z.B. Wohlfahrtsverbände; Wohnungsbaugesellschaften; Wirtschaftsunternehmen) verbunden sind und die neben ihrer ökonomischen Bedeutung einerseits einen kulturellen Mehrwert im lokalen Raum aufweisen, als auch andererseits mittlerweile teilweise profilbildend für ganze städtische bzw. urbane Räume wirken. Quasi ursprünglich demokratisch in ihrer Struktur sind z.B. Tauschringe, die als „sharing economy“ mittlerweile teilweise marktförmig geworden sind. Dem Kollektivgedanken verbunden und auf Basis der Selbstorganisation sind lokale Garten- und Wohnprojekte (urban gardening). Hinzugetreten sind Lebensmittelkooperativen (foodCoops) und Netzwerkbildungen lokaler Produzenten. Alternative Geldkreisläufe wie z.B.
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Regionalwährungen ergänzen den gemeinwohlökonomischen Gedanken. Einen höheren Grad von Organisation weisen Genossenschaften auf, die in Sozialkäufhäusern ökonomische Nachhaltigkeit mit dem Armutsdiskurs verbinden. Deutlich von dieser Form zivilgesellschaftlicher Aktivität sind Sozialprojekte auf lokaler Ebene von Unternehmen (CSR) zu unterscheiden oder der Ansatz der Social Entrepreneure, die soziale Ziele durch unternehmerisches Handeln realisieren wollen. Kirche und Diakonie sowie die Soziale Arbeit haben auf diese Entwicklung mit der Bildung von Netzwerken und Projektpartnerschaften im lokalen Raum reagiert. Aber an dieser Stelle weist die Diskussion um Gemeinwesen und Sozialraum in die Zukunft, die noch offen ist. Jedenfalls ist moderne Gemeinwohlökonomie weit von dem Gedanken einer „Mitleidsökonomie“ entfernt, wie sie etwa Tafeln unterstellt wird. 6
Fazit
Die Begriffe Gemeinwesen und Sozialraum verkörpern mehrdimensionale Konzepte, die im zivilgesellschaftlichen Diskurs um eine offene, partizipative und teilhabeorientierte Gesellschaft verankert sind. Hierbei werden unterschiedliche Traditionslinien aus verschiedenen historischen Kontexten erkennbar, die gleichermaßen politische und religiös-kirchlich geprägte Denkmuster in sich vereinigen. Ihre gemeinsame Mitte liegt in dem Gedanken, dass sich die soziale Wirklichkeit von Menschen zu allererst in räumlichen Strukturen abspielt, die es zu verstehen und weiterzuentwickeln gilt. Dabei darf Gemeinwesenarbeit nicht milieuverengt in Armutsdiskursen stecken bleiben, sondern muss das eigene lokal und territorial gedachte Konzept zukunftsorientiert um ökologische und ökonomische Aspekte erweitern. Literatur Barta, S. (2017): „Gemeinwesen“ – ein Leitbegriff der Sozialen Arbeit? Eine kritische Auseinandersetzung von der staatsphilosophischen bis zur gesellschaftskritischen Perspektive. soziales kapital wissenschaftliches journal österreichischer fachhochschul-studiengänge soziale arbeit Nr. 17 / Rubrik „Sozialarbeitswissenschaft“. http://www.soziales-kapital.at/index.php/sozia leskapital/article/viewFile/507/913.pdf (Zugriff am 03.05.2021). Becker, M. (2014): Soziale Stadtentwicklung und Gemeinwesenarbeit in der Sozialen Arbeit. Stuttgart. Benedict, H.-J. (2008): Suchet der Stadt Bestes – Zur theologischen Grundlegung gemeinwesenorientierter Arbeit von Kirchengemeinden. In: Ders.: Barmherzigkeit und Diakonie. Von der rettenden Liebe zum gelingenden Leben (S. 204–218). Stuttgart. Bringt, F./Klose, B./Trube, M. (2016): Gemeinwesenarbeit und Demokratie. Mobile Beratung und Gemeinwesenarbeit als sozialräumliche Praxis einer
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27 Zivilgesellschaft und soziale Bewegungen Monika Treber
Im Herbst 2015 erlebt die deutsche Gesellschaft eine bis dahin nicht gesehene Zustimmung zur Aufnahme von Geflüchteten aus den Bürgerkriegsgebieten in den Staaten des Nahen und Mittleren Ostens in Deutschland. Sie manifestierte sich in einer Vielzahl von Aktivitäten zur Unterstützung und Erstversorgung der Geflüchteten, wesentlich getragen von freiwillig Engagierten. In dieser als „Sternstunde der Zivilgesellschaft“ bezeichneten Situation habe ein neuer Geist des Aufbruchs die Institutionen der Zivilgesellschaft erfasst, seien im Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat neue Aushandlungsprozesse angestoßen worden, habe „ein zeitweises Aufweichen und Zurückdrängen der Staatsräson durch zivilgesellschaftliche Vernunft“ (Schiffauer 2018, S. 11) stattgefunden. Das Engagement für die Aufnahme von Geflüchteten ist beispielhaft für die Strukturierung und Funktionen des Feldes der Zivilgesellschaft zwischen Staat, Wirtschaft und Privatsphäre. Zum einen werden der spezifische Charakter und die Qualitäten von zivilgesellschaftlichem Engagement erkennbar. Zum anderen verweist es auf die Bedingungen, unter denen dieses Engagement seine demokratiebefördernde und integrative Funktion und entfalten kann, aber auch seine Begrenzungen. Zugleich zeigt es exemplarisch die spezifischen Herausforderungen, Chancen und Schwierigkeiten für Soziale Arbeit und Diakonie im Zusammenwirken mit zivilgesellschaftlichem Engagement. Was kann von zivilgesellschaftlichem Engagement erwartet werden? Kann es tatsächlich ein gesellschaftlicher Reformmotor sein (vgl. Zimmer 2003, S. 74)? Unter welchen Voraussetzungen werden aus zivilgesellschaftlichen Initiativen soziale Bewegung, die die politischen Rahmenbedingungen kritisch hinterfragen und Veränderungen einfordern? Zur näheren Klärung dieser Fragen sollen im Folgenden die Bedingungen zivilgesellschaftlichen Engagements und sozialer Bewegungen unter Bezug auf ein Beispiel der jüngsten Vergangenheit diskutiert werden. Im ersten Schritt
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wird der Begriff der Zivilgesellschaft, deren Funktionszuschreibungen und ihre Akteur:innen näher bestimmt. Anschließend werden Bedingungen für zivilgesellschaftliches Engagement aufgezeigt. Bezogen auf das diakonische Handeln stellt sich sodann die Frage nach dem Zusammenwirken von zivilgesellschaftlichem Engagement und professionellem Handeln in der Erbringung sozialer Dienste. Schließlich wenden wir uns den dynamischen, ungebundenen Aktivitäten zu, die soziale Bewegung ausmachen und fragen nach deren seismografischer Funktion für die Weiterentwicklung von Sozialer Arbeit und diakonischem Handeln. 1
Zivilgesellschaft und zivilgesellschaftliches Engagement – Konturen und Funktionen
Im politikwissenschaftlichen Diskurs hat der Begriff der Zivilgesellschaft seit den 1980er Jahren Prominenz erlangt. Bürgerrechtler:innen in Mittel-Ost-Europa protestierten unter Bezug auf das Konzept Zivilgesellschaft gegen staatliche Gängelung und fehlende Meinungsfreiheit. Sie beförderten in den Sozialwissenschaften eine neue Auseinandersetzung mit einem klassischen Konzept, seinen normativen Grundlagen und deren Bedeutung für die Entwicklung demokratischer Praxis (vgl. Kocka 2003, S. 30). Auf das Konzept Zivilgesellschaft bezogen sich auch die „neuen Sozialen Bewegungen“, die in den westlichen Industriegesellschaften seit Mitte der 70er Jahre entstanden (Roth 1998, S. 54). Neue Aufmerksamkeit erhält das Konzept der Zivilgesellschaft darüber hinaus in dem Diskurs zu einer neuen Sozialpolitik, der in den 90er Jahren in einem marktliberalen Umbau des bisherigen wohlfahrtstaatlichen Systems mündet. Das von der rot-grünen Bundesregierung durchgesetzte Konzept des „aktivierenden Sozialstaats“ fordert mehr Eigenverantwortlichkeit der Bürger:innen bei der Erbringung öffentlicher Güter, bei gleichzeitiger Rücknahme staatlicher Sozialleistungen (vgl. Burmester/Wohlfahrt 2016, S. 40). Inwieweit auf das Engagement der Zivilgesellschaft jedoch zu setzen war, schien durchaus fraglich, beruht dieses doch auf spezifischen politischen, strukturellen und sozialmoralischen Voraussetzungen (vgl. Braun, 2001). Mit dem Auftrag, diese Leistungen des bürgerschaftlichen Engagements in der Zivilgesellschaft näher zu bestimmen und Maßnahmen zu seiner Förderung vorzulegen setzte der Deutsche Bundestag schließlich 1999 die Enquetekommission „Zukunft des Bürgerschaftlichen Engagements“ ein. Aus diesen Verweisen auf die differenten Verwendungszusammenhänge von Zivilgesellschaft lässt sich bereits die Spannung in deren Begriff erkennen. Im wissenschaftlichen Diskurs findet sich weitgehende Übereinstimmung hinsichtlich eines deskriptiven Begriffs von Zivilgesellschaft. Demnach umfasst Zivilgesellschaft den Bereich gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat, Markt und Privatsphäre, der von der „Gesamtheit der öffentlichen Asso-
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ziationen, Vereinigungen, Bewegungen und Verbände [...], in denen sich Bürger auf freiwilliger Basis versammeln“ (Pollack 2004, S. 27), getragen ist. Dazu gehören auch ungebundene Formen der Vereinigung, wie Demonstrationen, soziale Bewegungen und kurzfristige Initiativen. Die Zivilgesellschaft ist eine „gesellschaftliche Sphäre jenseits des Staates, aber nicht jenseits des Politischen“ (Pollack 2004, S. 27). Der Begriff Zivilgesellschaft, auf den sich die Bürgerbewegungen Mittel-Osteuropas bezogen, ist hingegen normativ bestimmt. Er knüpft an das Denken der Aufklärung an. In diesem Denken wird Zivilgesellschaft als Utopie des friedlichen Zusammenlebens mündiger Bürger unter der Herrschaft des Rechts entworfen, in Frontstellung zum absolutistischen Staat. Seine demokratietheoretische Fassung erhält das Konzept schließlich bei Tocqueville, der in den kleinen lokalen Vereinigungen die Bedingung gesellschaftlicher Selbstverwaltung sah (vgl. Kocka 2003, S. 29 f.). In der Tradition der normativen Bestimmung des Begriffs stehen handlungsbezogene Charakterisierungen der Zivilgesellschaft. Demnach ist der Bereich der Zivilgesellschaft ausgezeichnet durch: Freiwilligkeit, Gemeinschaftlichkeit, Öffentlichkeit, Gewaltfreiheit, Anerkennung von Pluralität und Gemeinwohlorientierung (vgl. Kocka 2003, S. 32). Von diesen Qualitäten wird auf eine positive Wirkung von zivilgesellschaftlichem Handeln für die Stabilisierung der Demokratie und auf demokratische Lernprozesse geschlossen. Ob diese Vermutung sich bestätigt oder sich als Idealisierung erweist und welche Bedingungen für zivilgesellschaftliches Handeln förderlich sind, ist Gegenstand ausgebreiteter Forschungstätigkeit der vergangenen dreißig Jahre. Zivilgesellschaft ist weiter durch ihre zwischen Staat und Bürger:innen vermittelnde Funktion bestimmt (vgl. Pollack 2004, S. 32). Dies geschieht sowohl in kritischer Zurückweisung von staatlichen Ansprüchen wie auch der Formulierung von gesellschaftlichen Problemstellungen, die staatliches Handeln erfordern. Im engeren Sinne werden der Zivilgesellschaft Integrations-, Partizipations- und Sozialisierungsfunktionen sowie die Funktion der Interessenartikulation in der Öffentlichkeit zugesprochen, zudem Dienstleistungsfunktionen für Politikimplementierung, insbesondere im sozialcaritativen Bereich. Wer sind nun die Akteur:innen der Zivilgesellschaft, auf die sich diese Erwartungen richten? Nehmen wir das eingangs erwähnte Beispiel der Flüchtlingshilfe wieder auf. Für diese Hilfe engagierten sich im Herbst 2015 spontane Bürgerinitiativen, Vereine für Flüchtlingshilfe, Sportvereine, Kirchengemeinden, NGOs, Wohlfahrtsverbände und Stiftungen.1 Manche der Bürgerinitiativen sind längst wieder zerfallen, andere haben sich als Vereine formalisiert. Gemäß ZiviZ-Survey 2017 entwickelten 24 % der gemeinnützigen Organisationen Angebote für Migranten oder Flüchtlinge. Neben den Hilfsorganisationen waren dies auch 10 % aller anderen Vereine. 1
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Das Beispiel zeigt: Zivilgesellschaft ist durch Vereinigungen und Organisationen von unterschiedlicher Stabilität, unterschiedlichen Rechtsformen und Ressourcenausstattungen, unterschiedlichen Aufgaben- und Zielbestimmungen strukturiert. Unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlichen Funktionszuweisung lassen sich diese Vereinigungen nach „Mitgliederorganisationen, Dienstleister[n], Interessenvertretungsorganisationen für Mitglieder, Interessensvertretungsorganisationen für Dritte sowie Stiftungen bzw. Unterstützung zur Verfügung stellende Organisationen“ (Zimmer 2003, S. 77) kategorisieren. Der weitaus größte Teil der ca. 600.000 eingetragenen Vereine, die zu 95 % die zivilgesellschaftlichen Organisationen ausmachen (vgl. Priemer u.a. 2019, S. 9) widmet sich sportlichen, künstlerischen, sozialpflegerischen, erzieherischen, religiösen und fördernden Aufgaben, insoweit der Förderung des Gemeinschaftslebens und der Integration im vorpolitischen Raum. Politiknah agieren hingegen die Interessenvertretungsorganisationen für Mitglieder (Parteien, gewerkschaftliche und berufsständische Zusammenschlüsse) sowie Interessenvertretungsorganisationen für Dritte, sog. Themenanwälte, z.B. im Umweltbereich, in der Menschenrechtsarbeit und Entwicklungshilfe. Eine besondere Politiknähe zeichnet die großen Wohlfahrtsverbände aus, die im Rahmen des dualen Systems soziale Dienstleistungen erbringen. Die Frage stellt sich, ob angesichts dieser Funktionsbestimmungen uneingeschränkt von der integrativen, Demokratie befördernden und emanzipatorischen Wirkung von zivilgesellschaftlichem Engagement ausgegangen werden kann? Schließlich haben sich im Sommer 2015 auch Bürgerinitiativen gegen die Aufnahme von Geflüchteten gegründet. Spätestens das Aufkommen rechtsradikaler, antidemokratischer und populistischer Vereinigungen verweist auf notwendige weitere Differenzierungen. Bereits 2004 spricht Roth von der „dunklen Seite der Zivilgesellschaft“ und stellt fest, nicht jedes freiwillige Engagement wirke sich politisch demokratieförderlich aus; der politische Mehrwert, der durch Beteiligung in einer Vereinigung gewonnen wird, lässt sich unterschiedlich einsetzen (vgl. Roth 2004, S. 45 ff.). Formal betrachtet gehören die rechtsradikalen und populistischen Vereinigungen dem Bereich der Zivilgesellschaft an. Handlungstheoretisch widersprechen sie mit ihren exkludierenden, auf homogene Gemeinschaften ausgerichteten Zielsetzungen den normativen Bestimmungen von Zivilgesellschaft: Anerkennung von Anderen, Inklusion, Pluralität und Toleranz. Damit werden Grenzen des Konzepts der Zivilgesellschaft deutlich. Diese sollen im Folgenden näher in den Blick genommen werden. 2
Zivilgesellschaftliches Engagement – Zugänge, Kontexte und Bedingungen
Gemäß der Definition der Enquetekommission zeichnet sich bürgerschaftliches Engagement durch das „Spenden von Ressourcen, Zeit, Geld, Know-
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how“ aus. Es geschieht freiwillig, kooperativ, ohne Gewinnerwartung, gemeinwohlorientiert und öffentlich. Mit dieser Definition setzte sich die Kommission bewusst von dem Verständnis von Ehrenamt ab, das im 19. Jhd. entstand und eine Zwangsverpflichtung durch den Staat bezeichnete (vgl. Zimmer 2005, S. 30). Demgegenüber steht das Verständnis von bürgerschaftlichem Engagement als Ausdruck eines selbstbewussten Bürgersinns, der staats- und regierungskritisch zur Geltung gebracht wird. Auf der Grundlage dieser weiten Definition lässt sich eine positive Entwicklung des bürgerschaftlichen Engagements feststellen. Gemäß Freiwilligen-Survey (FSW) 2014 sind in Deutschland 43,6 % der Bevölkerung ab 14 Jahren freiwillig engagiert. Seit dem Freiwilligen-Survey von 1999 stiegen die Zahlen kontinuierlichen an. Das bürgerschaftliche Engagement findet zu 96 % in einem der über 600.000 eingetragenen Vereine statt. 2 Jüngste Umfragedaten zeigen einen stabilen Mitgliederbestand an, aber auch die zunehmende Schwierigkeit von Vereinen, Mitglieder für die Übernahme von Leitungsaufgaben zu gewinnen und zu binden (vgl. Krimmer 2019, S. 59 ff.). Zudem deutet sich ein Trend zu einer digitalen Zivilgesellschaft an und die nachlassende Neigung, sich formell in einem Verein zu organisierten, ebenso die Zunahme von ungebundenen Formen des Engagements in Nachbarschaftsgruppen oder befristeten Initiativen. Gemäß Drittem Engagementbericht findet ein Viertel der befragten jungen Menschen den „Zugang“ zum Engagement über das Internet, und 43,2 % geben an, ihr Engagement teilweise, überwiegend oder vollständig über digitale Medien auszuüben (vgl. Dritter Engagementbericht 2020, S. 8 f.). Die Engagementquote, das zeigen die verschiedenen Surveys der letzten Jahre, wird von Lebensalter, Einkommensverhältnissen, Bildung, Geschlecht, Aufenthaltsstatus 3 und regionalen Gelegenheitsstrukturen beeinflusst. Ab dem 65. Lebensjahr sinkt die Quote derer, die sich engagieren und eine ehrenamtliche Funktion wahrnehmen deutlich. Die Engagementqoute von Frauen ist geringer als die der Männer und der Engagementbereich spiegelt die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (Kindergartenverein vs. Feuerwehr) wider. Eklatant sind die Unterschiede der Engagementquote hinsichtlich des Bildungs-, Erwerbsund Einkommensstatus. Gemäß FWS 2014 sind nur 26,1 % der von Arbeitslosigkeit Betroffenen freiwillig engagiert, gegenüber 46,7 % in Vollzeitbeschäftigung. Personen mit niedriger Bildung sind zu 28,3 % engagiert, dagegen Personen mit hoher Bildung zu 52,3 % (vgl. Kausmann u.a. 2019, S. 76 ff.). Zivilgesellschaft wird primär von Angehörigen der Mittelschicht getragen, die über die Mittel der „Zivilgesellschaftsfähigkeit“ (Kocka 2003, S. 36) verfügen:
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Davon sind rund 60 % kleine Vereine mit max. hundert Mitgliedern, die auf lokaler Ebene agieren und über wenig finanzielle Mittel verfügen. Vgl. Priemer u.a. 2019, S. 19. 3 Nach Zivi7 2017 gelingt es weniger als 10 % der Organisationen, mehr Menschen mit Migrationshintergrund zu gewinnen. Vgl. Priemer u.a. 2019, S. 35 f.
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Auskömmliches Einkommen, Bildung, Zeit und Kommunikationsfähigkeit. 4 Daran haben die diversen Programme der Engagementförderung der vergangenen 15 Jahre offenbar wenig ändern können. Das „Sozialkapital“, das sich im Engagement erwerben lässt, ist für viele Bürger:innen de facto nicht erreichbar, weil ihnen die materiellen und immateriellen Ressourcen für Beteiligung an zivilgesellschaftlichen Organisationen fehlen. Angesichts der zunehmenden sozialen Ungleichheit erweist sich die normativ behauptete Offenheit der Zivilgesellschaft als begrenzt (vgl. Braun 2002, S. 7). Nun sind die Organisationen der Zivilgesellschaft in ihrem Wirken in unterschiedlichem Maße vom freiwilligen unbezahlten Engagement abhängig. Dieses ist vor allem für jene kleinen Mitgliedervereine wichtig, die sich vorwiegend durch Mitgliedsbeiträge finanzieren, sowie für die Initiativen mit niedrigem Organisationsgrad. Weniger bedeutsam ist es für die Verbände im Wohlfahrtsbereich, die Leistungsentgelte beziehen und hauptamtliches Personal beschäftigen können. Organisationen, die im Advocacy-Bereich und im Bildungsbereich tätig sind, benötigen spezialisierte Mitarbeiter:innen und suchen daher zumeist über einen Mix aus Spenden, Mitgliedsbeiträgen, Unkostenzuschüssen und staatlichen Fördermitteln hauptamtliches Personal zu finanzieren. Zweifelsohne bestimmen die Ressourcenausstattung und ein gesicherter Rechtsrahmen für Bürgerbeteiligung wesentlich die Wirkungsmöglichkeiten von zivilgesellschaftlichen Vereinigungen im Verhältnis zum Staat. 5 Inwieweit allerdings die kritische Funktion, die von zivilgesellschaftlichem Engagement erwartet wird, tatsächlich reicht, ist in der Governance-Forschung strittig (vgl. Zimmer 2005, S. 30). Zwar kann den vielen Vereinen im Freizeitbereich eine integrative und sozialisierende Funktion nicht abgesprochen werden (Braun/Hansen 2004, S. 66 ff.), aber ein von ihnen ausgehender Schub für Demokratieentwicklung scheint fraglich. Die korporatistische Einbindung von Gewerkschaften und Berufsvereinigungen sowie der Wohlfahrtsverbände engt die Spielräume für fundamentale Kritik ein. Und Advocacy-Organisationen, die sich auf Förderprogramme einlassen, haben Schwierigkeiten, die selbstbehauptete Watchdog-Funktion durchzuhalten (vgl. Speth 2018, S. 11). 3
Zivilgesellschaft in Bewegung
Kommen wir an dieser Stelle erneut zurück auf das Engagement für die Aufnahme von Geflüchteten im „langen Sommer der Migration“ 2015. Dieses Engagement tritt in einer Situation der administrativen Überforderung der Struk4 Diese Mittelschicht-Bias bestätigen auch die Erhebungen zum Engagement in der Flüchtlingshilfe. Allerdings mit zwei Abweichungen: Es sind überdurchschnittlich mehr Frauen und mehr Menschen mit Migrationshintergrund beteiligt (vgl. Karakayali 2017, S. 18 f.). 5 Daneben sind historische, politische und kulturelle Rahmenbedingungen sowie religiöse Bindungen zentral für Entstehung und die Handlungsmöglichkeiten von zivilgesellschaftlichem Engagement.
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turen des Wohlfahrtssystems kompensatorisch ein. Wurden dadurch Korrekturen in der Integrationspolitik und im wohlfahrtsstaatlichen System in Gang gesetzt? Waren die Fluchtzuwanderung und das darauf reagierende zivilgesellschaftliche Engagement ein „Innovationsmotor für kommunale Integrationspolitik“ (Schammann 2020, S. 45)? In seiner 2018/19 durchgeführten Befragung von Verwaltungsmitarbeiter:innen und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen gelangt Schamann zu dem Ergebnis, dass die Aufnahme von Geflüchteten einen erheblichen Innovationsschub für die Kommunen bewirkte, sowohl auf der Ebene der Verwaltungsstrukturen als auch der inhaltlichen Auseinandersetzung mit Integrationskonzepten. Demnach wurden vielerorts Strukturen für die Koordination des zivilgesellschaftlichen Engagements und zur besseren Vernetzung verwaltungsinterner Abläufe geschaffen und dem bisher randständigen Feld der Integrationspolitik eine andere Bedeutung zugewiesen. Kommunale Verwaltungsstellen schätzen die lebensweltliche Kompetenz der Freiwilligen und sind andererseits von deren hohen Ansprüchen an die Verwaltung gestört (vgl. Daphi 2017, S. 36 ff.). Einige zivilgesellschaftlichen Akteur:innen begrüßen die neugeschaffenen Strukturen, z.B. die Einrichtung von Koordinationsstellen für das zivilgesellschaftliche Engagement, andere kritisieren diese Einrichtung als Versuch der Steuerung und Kontrolle und beklagen den Ausschluss von Entscheidungen sowie deren mangelnde Transparenz (vgl. Daphi 2017, S. 40). Leistungsverträge der kommunalen Politik mit den etablierten Wohlfahrtsverbänden, z.B. zur „entgeltlichen“ Betreuung von Gemeinschaftsunterkünften, spalten das Feld der Engagierten. Viele der freiwillig Engagierten bewerten die von ihnen unentgeltlich wahrgenommen Aufgabe als Ausgleich eines Mangels in der staatlichen Regelversorgung und als Ersatz für fehlende sozialpädagogische Begleitung. Ist das Engagement für die Aufnahme von Geflüchteten „politisch“? Kann gar von einer sozialen Bewegung der Flüchtlingshilfe gesprochen werden, wie dies einige Beobachter:innen tun? Vergewissern wir uns, was eine soziale Bewegung auszeichnet. Bewegungsforscher:innen bezeichnen als „soziale Bewegung [ ...] ein auf gewisse Dauer gestelltes und durch kollektive Identität abgestütztes Handlungssystem mobilisierter Netzwerke von Gruppen und Organisationen, welche sozialen Wandel mit Mitteln des Protests – notfalls bis hin zur Gewaltanwendung – herbeiführen, verhindern oder rückgängig machen wollen“ (Rucht 1994, S. 76 f.).
Soziale Bewegungen sind ein Phänomen der Zivilgesellschaft und der Reaktion auf Modernisierungsprozesse. Sie entstehen aufgrund von Unzufriedenheit mit sozialen Verhältnissen, für die ein Deutungsrahmen (Frame) angeboten wird, der von vielen Bürger:innen geteilt wird und mobilisierend wirkt (Kern 2008, S. 142 f.). Als kollektive Akteure umfassen soziale Bewegungen sowohl kooperative Akteure als auch individuelle ungebundene Akteure. Diese Mischung zeigt sich in der Unterstützung für die Aufnahme von Geflüchteten.
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Dort trafen spontan gebildete Bürgerinitiativen mit bereits länger existierenden Advocacy-Organisationen in der Flüchtlingshilfe zusammen und Vertreter:innen aus dem Spektrum linker antirassistischer Gruppen begegneten Helfer:innenkreisen aus Kirchengemeinden. Was berechtigt, von einer Bewegung zu sprechen? Die Situation im Jahr 2015 bewirkte eine hohe Mobilisierung in der Bevölkerung, die bis in die Mitte der Gesellschaft reichte 6 und große Medienaufmerksamkeit erfuhr. Allein eine eindeutige Rahmung dieser Mobilisierung durch politische Forderungen fehlte. Bei Befragungen geben die freiwillig Engagierten mehrheitlich an, aus „humanitärer Verpflichtung“ zu handeln und mit ihrem Handeln ein „Zeichen gegen Rassismus“ setzen zu wollen (über 90 %). Gleichzeitig verneinen viele Engagierte, ein explizit politisches Ziel zu verfolgen (vgl. Karakayali/Kleist 2016, S. 33 f.). Und doch lässt sich gerade das Bestehen auf einer humanitären Haltung angesichts der defizitären Bedingungen der Aufnahmesituation und der ebenfalls gegebenen Ablehnung von Teilen der Gesellschaft als politische Aktion deuten. Freilich nicht im Sinne der politischen Arbeit, die die bereits länger bestehende Flüchtlingsvereine leisten, wie z. B. offene Vertretung der Interessen geflüchteter Menschen und Öffentlichkeitsarbeit zum Themenfeld Flucht und Asyl. Freiwillig Engagierte setzen mit ihrem Handeln ein Zeichen gegen rechtspopulistische Stimmungsmache und suchen präventiv möglichen Konflikten im Dorf oder Stadtteil zuvorkommen. Die pragmatische Hilfeleistung der freiwillig Engagierten unterläuft die von Staats wegen geforderte Unterscheidung von „berechtigten“ und „nicht-berechtigten“ Geflüchteten, indem sie auf der Geltung der Menschenrechte besteht. Sie tragen zur interkulturellen Öffnung ihres Sozialraums und zur Etablierung des Themas Vielfalt in ihrer Kommune bei (vgl. Karakayali 2017, S. 21 ff.). Was sich zeigt, sind Spuren einer neuartigen sozialen Bewegung, die sich durch einen besonders starken Bezug zur lokalen Gemeinde und einer Wiederaneignung von Bürgergesellschaft auszeichnet, eine zivilgesellschaftliche „Infra-politik“ (Karakayali 2016, S. 23). Huke bewertet die Bewegung der Flüchtlingssolidarität als „pragmatisch-präfigurativ“ und im positiven Sinne naiv. Mit ihrer naiven Herangehensweise an Probleme habe sie einen utopischen Überschuss ermöglicht – „Teilhabe für alle“ – und verhindert, dass mögliche Handlungsoptionen von vornherein ausgeschlossen wurden (vgl. Huke 2019, S. 398). Und die Soziale Arbeit? Diakonie/Caritas und Soziale Arbeit berufen sich in ihrer historischen Entstehung auf Verbindungen zu sozialen Bewegungen. SoDie Allensbach Studie (2017) „Engagement in der Flüchtlingshilfe“ kommt zum Ergebnis, dass seit 2015 rund 55 % der deutschen Bevölkerung in irgendeiner Weise Flüchtlinge unterstützten.
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ziale Bewegungen waren für die Entwicklung und Etablierung von Sozialer Arbeit in Deutschland von entscheidender Bedeutung, insbesondere für die Frauenbewegung und die Jugendbewegung (vgl. Wagner 2009, S 9 ff.). Sie waren Impulsgeber für die Entstehung von Einrichtungen und übten Kritik an Aufgabenzuweisungen und den etablierten Praxisformen (z. B. in der Heimerziehung). Kritik erfuhr Soziale Arbeit vor allem hinsichtlich zu enger Verbündung mit institutionellen Machtapparaten, wegen mangelnder Kenntnisnahme der gesellschaftlichen Ursachen von Marginalisierung und zu willfähriger Übernahme von staatlich vorgegebenen Arbeitsaufträgen (Staub-Bernasconi 1995, S. 58 ff.). Auf Gesellschaftsveränderung zielende Impulse der sozialen Bewegungen stoßen in der sozialen Arbeit auf das Spannungsfeld von Hilfe und Kontrolle. Dieses Spannungsfeld offenbart sich im Verhältnis von Flüchtlingsbewegung und Sozialer Arbeit eindrücklich. Professionelle Soziale Arbeit zeigt sich gegenüber dem starken zivilgesellschaftlichen Engagement für Geflüchtete skeptisch, insbesondere als dieses über die Phase der Erstaufnahme der Geflüchteten hinausgeht. Die Einbindung von zivilgesellschaftlichem Engagement in die wohlfahrtsstaatlichen Versorgungsleistungen für Geflüchteten könnte mit DeProfessionalisierung und Privatisierung von Hilfe einhergehen. Diese Tendenz sei nicht nur in Bezug auf die Rechte der Geflüchteten auf qualifizierte Versorgungsstrukturen problematisch, sie stelle zudem eine Geringachtung Sozialer Arbeit als professioneller Tätigkeit dar (vgl. Graf 2017, S. 59 f.). Inzwischen hat eine partielle Integration von freiwilligem Engagement in die Flüchtlingshilfe der Wohlfahrtsverbände und der Kommunen stattgefunden. Es wird zu beobachten sein, ob dies nicht nur einer neoliberalen Strategie des Kostensparens geschuldet ist, sondern der Wertschätzung für die besonderen Qualitäten des zivilgesellschaftlichen Engagements, und ob aus der bürgerschaftlichen Bewegung Impulse für die Soziale Arbeit der freien Wohlfahrtsverbände erwachsen. Im hier diskutierten Beispiel der Flüchtlingshilfe würde das bedeuten, die im zivilgesellschaftlichen Engagement erkennbare Haltung einer Menschenrechtsorientierung, die die staatlichen Vorgaben von berechtigten und unberechtigten Hilfebedürftigen unterläuft, die bürokratiekritisch auftritt und die Selbstvertretungsansprüche der Betroffenen einfordert, als Hinweise für eine Überprüfung der Praxis der Wohlfahrtsverbände anzunehmen. Soziale Bewegungen haben eine seismographische Funktion. Das spontane bürgerschaftliche Engagement konfrontiert die Soziale Arbeit der Wohlfahrtsverbände mit ihrer Verstrickung in die exkludierende staatliche Flüchtlingspolitik und fordert sie zur Klärung ihres Selbstverständnisses wie auch ihrer Kooperation mit zivilgesellschaftlichem Engagement heraus.
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28 Digitale Transformation in Diakonie und Caritas Johannes Landstorfer und Roland Schöttler
1
Entwicklungslinien der Digitalisierung
Unter Digitalisierung wird der Wandel der Gesellschaft aufgrund digitaler Technologien verstanden, der in seiner Tragweite vergleichbar ist mit früheren technologieinduzierten umwälzenden Veränderungen. So deutet das allgegenwärtige „4.0“ in Industrie 4.0, Arbeit 4.0 oder auch Pflege 4.0 darauf hin, dass nach Mechanisierung durch die Dampfmaschine (1.0), Massenproduktion durch Fließbänder und die Nutzung elektrischer Energie (2.0) und die Automatisierung der industriellen Produktion durch programmierbare Steuerungen (3.0) nun die vierte industrielle Revolution hin zu einer datengetriebenen Autonomisierung der Systeme zu beobachten sei (vgl. Bauernhansl 2014, S. 5 ff.). Das heute übliche Verständnis von Digitalisierung reicht über eine schlicht regelbasierte, digitale Verarbeitung von ehemals manuellen, analogen Vorgängen hinaus (wie E-Mail oder statische Internetangebote). Es umfasst vielmehr Kombinationen verschiedener Technologien, die immer komplexere und autonomere Systeme ermöglichen. Dabei können zentrale Entwicklungslinien ausgemacht werden, in denen die wesentlichen Treiber der Digitalisierung der nächsten Jahre erwartet werden können (vgl. Klauß 2018, S. 18). – Die Vernetzung von Systemen und Menschen, sei es über digitale Plattformen, soziale Netzwerke oder das Internet-of-Things (IoT) lässt Alltagsdurchdringung, Echtzeitkommunikation und erzeugte Datenmengen (Big Data) gleichermaßen explodieren. – Künstliche Intelligenz kann mit diesen Daten zu immer komplexeren Systemen trainiert werden, die zunehmend Situationen und Zusammenhänge analysieren, bewerten, kommunizieren und (teil-)autonome Entscheidungen treffen, sei es in Form von KI-basierter Hautkrebsdiagnostik (Winkler 2020), „virtueller Anwälte“ (vgl. Wagner 2020) oder Chatbots in der Psychotherapie (vgl. Bendig et al. 2019).
Digitale Transformation
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– Virtual- bzw. Augmented Reality, in der z.B. Demenzerkrankte mithilfe einer VR-Brille in das „Krefeld der Wirtschaftswunderzeit“ eintauchen (vgl. Bering 2018) oder durch eine spezielle Brille, die virtuelle Inhalte in das Blickfeld des Trägers projiziert und ihn dadurch bei der Durchführung bestimmter Tätigkeiten unterstützt (vgl. Essig/Strenge/Schack 2018). – Durch Soziale Robotik, deren Anfänge in Chatbots, dem Roboter „Pepper“ oder der Robbe „Paro“ erkennbar sind, wird Technik selbst zum Interaktionspartner. War das wesentliche Merkmal klassischer IT die Automatisierung, so handelt diese erweiterte Digitalisierung von der zunehmenden Autonomisierung der Technologie und dem Verschwimmen der Grenzen zwischen Mensch und Maschine, physisch und virtuell, automatisch und autonom – und wird entsprechend auch nicht mehr nur von rein technischen Disziplinen gestaltet. 2
Handlungsfelder der Digitalisierung in Diakonie und Caritas
Durch diese Entwicklungen stehen Caritas und Diakonie vor neuen Herausforderungen. Während früherer Umbrüche sahen sie sich häufig in der Rolle eines Gegenpols, der versuchte, die sozialen Verwerfungen des technisch-ökonomischen Wandels in der Gesellschaft abzumildern. Dieses Selbstverständnis kann bis zur Entstehung von Diakonie und Caritas als Antwort auf den Pauperismus und die Soziale Frage des 19. Jahrhunderts als Folge der Industrialisierung zurückgeführt werden. Eine Abgrenzung zu neuen Technologien wie Dampfmaschine oder Fließband fiel in der Regel leicht, da es für sie als soziale Träger selbst nahezu keine Anwendung gab. In der Digitalisierung verhält sich dies jedoch anders. Mit ihr verändern sich nicht nur industrielle Produktionsabläufe, sondern Information und Wissen, Kommunikations- und Entscheidungsprozesse. Als Anbieter sozialer Dienstleistungen, deren Prozesse und Geschäftsmodelle stark auf Expertenwissen und Kommunikation beruhen, sind auch Caritas und Diakonie vom digitalen Wandel betroffen – positiv wie negativ. Zugleich verändert die Digitalisierung die Lebens- und Arbeitswelten der Adressatinnen Sozialer Arbeit, die in ihren jeweiligen Kontexten digitalen Technologien begegnen. Sie formulieren ebenso Erwartungen an die sozialen Träger wie die eigenen Mitarbeitenden und Anspruchsgruppen aus Gesellschaft, Politik und Verwaltung. In der Folge ergeben sich somit erweiterte Handlungsfelder für Caritas und Diakonie. a) Digitale Teilhabe: In einer Gesellschaft, in der Bereiche wie Bildung, Wirtschaft, Arbeit, Medien, Politik und Kultur immer stärker digitale Instrumente nutzen, entstehen neue Exklusionsrisiken, wenn Menschen nicht über die Möglichkeiten oder Fähigkeiten zur Nutzung dieser Instrumente verfügen. Teilhabe im 21. Jahrhundert ist daher zwingend auch digital (vgl. Deutscher Caritasverband 2018; Diakonie Deutschland 2021). Klienten erwarten von den Trägern zunehmend Zugang und Nutzung von digitalen
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Medien und Technologien, die wachsende Möglichkeiten der Selbstbestimmung sowie sozialer, wirtschaftlicher und kultureller Partizipation versprechen. Die Träger müssen Experten in der Überbrückung digitaler Klüfte sein (vgl. Pelka 2018, S. 59 f.). b) Digitalisierung sozialer Dienstleistungen: Mittlerweile entstehen eine Vielzahl digitaler oder digital angereicherter sozialer Dienstleistungen, u. a. Assistenzsysteme im ambulanten oder stationären Kontext, Beratungs- und Bildungsangebote oder Unterstützung in Entscheidungssituationen. Um die inhaltlichen, aber auch wirtschaftlichen Potenziale nutzen zu können, müssen soziale Träger in der Lage sein, diese Angebote kompetent und sicher bereitzustellen. Und da auch die Adressaten sozialer Hilfen große Teile ihrer Kommunikation digital gestalten, muss auch die Soziale Arbeit mit ihren Angeboten adäquat digital präsent sein, wenn sie weiterhin als Problemlösungspotenzial wahrgenommen werden möchte (vgl. Kreidenweis 2018, S. 21). c) Digitalisierung interner Prozesse: Dass in sozialen Organisationen trotz Verboten und berechtigten Datenschutzeinwänden WhatsApp & Co. genutzt werden, deutet auf unerfüllte Erwartungen und ungedeckte Bedarfe an geeigneten digitalen Werkzeugen unter Mitarbeitenden hin. Soziale Träger sind daher gefordert, geeignete Instrumente bereitzustellen. Dabei geht es neben vernetzter Kommunikation insbesondere um eine optimierte Informationsversorgung in arbeitsteiligen Prozessen und die Unterstützung in Entscheidungssituationen. Diese neue Vernetztheit und Informiertheit fordern jedoch die noch häufig hierarchischen Strukturen heraus, weshalb gelingende Beispiele der Digitalisierung interner Prozesse oft mit veränderten Organisationsstrukturen verbunden sind. d) Neue Anbieter und Geschäftsmodelle schieben sich auch im Sozialbereich zwischen Anbieter und Adressatinnen sozialer Dienstleistungen und verändern den Zugang zur eigenen Zielgruppe wie in anderen Branchen, z.B. Amazon, Uber oder airbnb (vgl. Kreidenweis 2018, S. 17 f.). Ob es private Plattformen oder Angebote der öffentlichen Hand (nicht nur Rahmen des Onlinezugangsgesetzes) sind – in beiden Fällen müssen freie Träger reagieren, sei es durch unabhängige Portale oder die platform-readiness der eigenen Angebote. Plattformen könnten dabei derart viele und private Daten sammeln, dass sie Problemlagen von Menschen besser analysieren können als die Caritas- und Diakonieverbände. Während erstere mit guten Daten vermutlich weniger anwaltschaftlich umgehen, sondern ihre Wirtschaftlichkeit optimieren würden, hätten zweitere in einer plattform-dominierten Welt nicht länger die besten Mittel, ihren anwaltschaftlichen Anspruch umzusetzen. Zudem konvergieren die Technologien für Menschen mit und ohne Assistenzbedarf (z.B. Sprach- und Bilderkennung, Smart-Home-Produkte, Navigationssysteme). Dadurch verschwimmen die Grenzen zwischen früher klar abgegrenzten Märkten, der Sozialmarkt wird für neue Anbieter zunehmend interessant, und Menschen können ihren Assistenzbedarf mit regulären Produkten decken.
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Herausforderungen
Wie es gelingt, mithilfe neuer Technologie zu einer menschlicheren Gesellschaft zu kommen, hängt weniger von den beschriebenen Technologien, sondern vielmehr davon ab, wie sie eingesetzt werden (vgl. Nothelle-Wildfeuer 2020). Die Art und Weise des Einsatzes in den o.g. Handlungsfeldern mitzugestalten, birgt die doppelte Aufgabe, einerseits digitale Kompetenzen aufzubauen und Möglichkeiten für ihren Auftrag zu nutzen und andererseits die Verwerfungen des Wandels zu mindern und eine menschliche Gesellschaft durch und mit dem digitalen Wandel zu gestalten (vgl. BAGFW 2018). Dabei sind drei Ebenen zu unterscheiden: Akteure und ihre Interaktionen (Mikroebene), Organisationen und Institutionen (Mesoebene), Gesellschaft und ihre Systeme (Makroebene). Auf der Mikroebene sind die Fach- und Führungskräfte sowie die Adressaten sozialer Dienstleistungen und deren Angehörige in ihren jeweiligen Lebensund Arbeitswelten verortet. Hier liegen die zentralen Herausforderungen im Aufbau einer personalen Handlungsfähigkeit, die Nutzung, Gestaltung und Selbstbestimmung auch im digitalisierten Umfeld ermöglicht (Digital und Data Literacy) sowie der Kompetenz von Führungskräften für einen strategischen Technologieeinsatz. Dieser muss sich dabei an den Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit orientieren, was insbesondere eine ethische Reflektion erfordert, die die Risiken ebenso wie das lebensdienliche Potenzial der Technik bewertet (vgl. Henne 2019). Auf der Mesoebene müssen die Organisationen der Caritas und Diakonie Veränderungsprozesse gestalten und dabei die notwendige Stabilität und Routine, die für die zuverlässige Erbringung der Angebote erforderlich ist, mit dem ebenso notwendigen Veränderungswillen verbinden, der Flexibilität erfordert und Unsicherheit mit sich bringt. Digitalisierung benötigt u. a. die Fähigkeit und Bereitschaft, einen systematischen Strategieentwicklungsprozess zu durchlaufen und einen hinreichenden Reifegrad von Prozessen und Organisation zu entwickeln (Kreidenweis 2018, S. 23 f.). Andernfalls bleibt „Mist, wenn er digitalisiert wird, trotzdem Mist […]. Digitalisierter Mist“ (Dopheide 2017, S. 124). Zugleich sind Sicherheit, Datenschutz, Privatheit, aber auch Gerechtigkeit für und Selbstbestimmung von Mitarbeitern und Adressatinnen in den Strukturen und Prozessen zu gewährleisten (vgl. Weber 2015). Auf der Makroebene der Gesellschaft wird die Digitalisierung zu neuen sozialen Verwerfungen mit neuen und alten Exklusionsrisiken führen. Caritas und Diakonie sind aufgerufen, den Wandel mitzugestalten, Exklusion zu mindern und Teilhabe und Inklusion auch auf neuen Feldern und mit neuen Mitteln zu fördern. Um das zu erreichen, müssen Verbände und ihre Einrichtungen die Aufgaben annehmen, sich als kompetente und starke Akteure in einer digitalen Gesellschaft zu etablieren (vgl. Pelka 2018, S. 74).
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Bearbeitungsstrategien und Praxisbeispiele
Ein häufiges Problem in Digitalisierungsprojekten ist die fehlende Einbettung in eine (Digital-) Strategie. Einerseits verfügt nicht jede Organisation über die notwendige Erfahrung, einen systematischen Strategieprozess zu durchlaufen; andererseits verändert der digitale Wandel die bisherige Routine so deutlich, dass es eher auf einen Innovationsprozess mit seinen Unwägbarkeiten und Unsicherheiten hinausläuft (vgl. Schöttler in diesem Band). Dies gilt sowohl für die Vorstände, denen zwar die Bedeutung in den letzten Jahren klar(er) geworden ist, aber oft die Erfahrung in digitalen Transformationsprozessen fehlt, als auch für die „Digitalbeauftragten“, deren eigene Fähigkeiten und vor allem ihre Position und damit Wirkung in der Organisation höchst unterschiedlich sind (vgl. Schaminée 2018). Aber auch Mitarbeiter und Klientinnen erheben zwar Ansprüche auf bessere digitale Unterstützung, benötigen jedoch zugleich Lern- und Erfahrungsräume, um sich mit den neuen Technologien auseinanderzusetzen. Daher kann selbst eine gute Digitalstrategie nur ein Baustein in einem kontinuierlichen Transformationsprozess sein. Im Folgenden werden Bearbeitungsstrategien und Beispiele aus der Praxis vorgestellt, die in diesen Spannungsfeldern den Versuch unternehmen, die digitale Transformation mitzugestalten. Praxisbeispiel 1: Personalentwicklungsprojekt Tandem 4.0 Im Projekt „Tandem 4.0 – Begleitung digitaler Transformationsprozesse“ (Laufzeit 2018–2021, Förderung durch den Europäischen Sozialfonds) schlossen sich sechs Diözesancaritasverbände und die Caritas Bundeszentrale für ein Personal- und Strukturentwicklungsprojekt zusammen, um mit Hilfe gemeinsamer Coaches digitale Kenntnisse und Fähigkeiten ihrer Mitarbeitenden auszubauen. Im Unterschied zu klassischen Fortbildungen gab es nur ein kleines, festes Kursprogramm, das die Mitarbeitenden „besuchen“ konnten. Die Coaches ermittelten stattdessen vor Ort zusammen mit den Mitarbeitenden, wo die Bedarfe lagen und welche Projekte Unterstützung im Arbeitsalltag bringen würden (z.B. Auswahl und Einführung einer neuen Klienten-Verwaltungssoftware). Diese wurden dann zu Lernorten und Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit digitalen Fragen. Wesentlich war die praktische Herangehensweise „Lernen durch Machen“, um nicht nur im Theoretischen zu bleiben und gleichzeitig den Gedanken der Gestaltbarkeit des Wandlungsprozesses einzubringen: Digitaler Wandel ist (auch), was wir daraus machen. Das birgt aber die Herausforderung, dass die Gestaltung „von unten“ zu anderen Ergebnissen kommen kann als die strategischen Überlegungen einer Führungskraft. Die Tandem-Coaches befanden sich als (auch noch außerhalb der Wohlfahrt gewonnene) Angestellte der Bundeszentrale, aber quasi Mitarbeitende der Diözesancaritasverbände in einer zu Projektbeginn durchaus unklaren und span-
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nungsvollen, im Projektverlauf aber gerade deswegen umso mehr brückenbildenden Funktion. Sie waren besonders wertvoll als externe Nachfrager, Analystinnen, Impulsgebende, Wissensquellen und Vernetzende zwischen den Verbänden. Das verbandsübergreifende Projekt wurde von den Verbandsleitungen mit initiiert und getragen. Das erzeugte sowohl eine zusammenhängende Struktur wie auch eine grundlegende Legitimierung und Orientierung für die Mitarbeitenden. Praxisbeispiel 2: Lernprozesse entlang einer Verbandsstrategie Die Entwicklung einer Digitalstrategie für einen großen Verband und seine Einrichtungen wurde auf Grund des Aufwands und der grundsätzlichen Art der Fragen auf Leitungsebene initiiert, wobei auf vorhandene strategische Fähigkeiten u. a. in Teams zur Verbandsentwicklung, Kommunikation und IT zurückgegriffen werden konnte. Um Kompetenzen zu bündeln und durch intensivere Zusammenarbeit in absehbarer Zeit konkrete Ergebnisse liefern zu können, wurde ein eigenes Projekt-Team gebildet. Ein hilfreiches Analyse-Instrument war der „digitale Reifegrad”: Muss ein Prozess noch „elektrifiziert”, müssen also digitale Instrumente erst noch eingeführt werden? Wie können Potentiale zur „Automatisierung” genutzt werden (z.B. auch, um weniger Aufwand mit Verwaltung und mehr Ressourcen für Angebote zu haben)? Wie und wo könnte ein Angebot von gezielter Datenanalyse und datenbasierten Entscheidungsformen profitieren (Reifegrad 3: Smart Analytics)? Und wo lassen sich neue Angebote durch Vernetzung entwickeln (Reifegrad 4)? Das Reifegrad-Modell wurde in der Organisation auf Basis bestehender Modelle von klassischen Unternehmensberatungen intern weiterentwickelt. Es half zu erkennen, welche Schritte noch vor ihr stehen, und zeigte auf, in welchem Bereich die Kräfte gebündelt werden müssen, um den Reifegrad zu erhöhen. Der Verband musste über die Jahre feststellen, dass auch definierte Ziele in einer dynamisch sich verändernden Welt nur kurzfristig Gültigkeit besitzen. Die Umsetzung in allen Einrichtungen ist so zeitaufwendig, dass sich währenddessen Umweltfaktoren ändern, Ziele sich verschieben können und bei den Mitarbeitenden damit stets „veraltete” Pläne ankommen. Darunter leidet die Akzeptanz, weshalb es sich anbietet, übergeordnete Ziele zu verwenden und für die Über- und Umsetzung die Kompetenz der Basis im Sinn von Selbststeuerung zu nutzen. Damit könnte man dem Dilemma klassischer Führung entkommen, in dem auf Leitungsebene für sehr unterschiedliche Themenfelder immer schneller wechselnde Parameter im Blick behalten und in Arbeitsvorgaben übersetzt werden müss(t)en. Eine Abteilung schlug erfolgreich den Weg zu mehr Selbstorganisation ein, blieb aber vorerst ein Exot. Die Hürde für die Gesamtorganisation schien (noch) zu groß, die Arbeitskultur auf die Anforderungen und Möglichkeiten einer vernetzten Welt auszurichten. Die weitere Entwicklung der Stra-
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tegie fokussierte anstelle genauer Vorgaben dann viel mehr auf die Entwicklung günstiger Bedingungen für die Umsetzung eines gemeinsamen Leitbilds. Praxisbeispiel 3: Arbeitsteiliges Programm zur Transformation der Freien Wohlfahrtspflege Bis 2017 war kein umfangreiches Programm der Wohlfahrtsverbände in Deutschland erkennbar, das auf die Möglichkeiten und Anforderungen des digitalen Wandels reagiert hätte. Die „Absichtserklärung”, die die Wohlfahrtsverbände mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend abschlossen, änderte nicht nur das, sondern enthielt gleichzeitig einen arbeitsteilig-kooperativen Modus: Jeder der sechs beteiligten Verbände fokussierte sich auf ein komplementäres Thema. Die Ergebnisse stellen sich die Verbände durch ein Begleitprogramm gegenseitig zur Verfügung (BAGFW 2018). Durch diese Kooperation sollten die umfangreichen und teils komplexen Aufgaben auf mehrere Schultern verteilt, Doppelarbeit vermieden und die Möglichkeiten und Erwartungen einer engeren Zusammenarbeit in der digitalen Transformation befördert werden. Die Diakonie Deutschland erarbeitet z.B. einen Strategieprozess und eine Datenbank, in der Software-Produkte für ihren Einsatz in der Wohlfahrt gesammelt und bewertet werden (Einsatzzweck, Datenschnittstellen, Datenschutz), während der Deutsche Caritasverband die Online-Beratung zu einer PlattformLösung weiterentwickelt („blended counseling“). Diese Lösung konnte zwischenzeitlich unter einer Open-Source-Lizenz veröffentlicht werden, so dass sie frei genutzt und weiterentwickelt werden kann. Die Beratungsangebote der Verbände unterscheiden sich; aber alle können von einer technischen Lösung für eine fachliche und bundesweit vernetzte Beratung profitieren. Um eine Vernetzung dieser Art weiter voranzutreiben, reicht eine ähnliche technische Basis jedoch nicht aus. Sollen z.B. Ratsuchende organisationsunabhängig den am schnellsten verfügbaren Termin angeboten bekommen können, muss die Kooperation zwischen den Verbänden und anderen (z.B. kommunalen) Beratungsangeboten auch (politisch) gewollt sein, damit die notwendigen Abstimmungen und die technischen Schnittstellen zustandekommen. 5
Fazit
Der digitale Wandel fordert Caritas und Diakonie heraus, ohne dass erprobtes Wissen den einzuschlagenden Weg weist. Vielmehr stehen sie mitten in einem langen Prozess, in dem Lernerfahrungen durch einzelne Projekte und mutige Schritte des „Lernens durch Machen“ möglichst durch ein strategisches Konzept gerahmt werden, das die Ziele, Werte und den Zweck der Organisation abbildet und kontinuierlich weiterentwickelt wird. Den Wandel aktiv mitzugestalten ist dabei Chance und Verpflichtung zugleich. Die Verbände der Freien Wohlfahrt müssen sprach- und anschlussfähig an den gesellschaftlichen Dis-
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kursen zur digitalen Transformation teilnehmen, angemessene politische Rahmenbedingungen, digitale Daseinsvorsorge und Inklusion einfordern und sozialpolitische Initiativen zur gerechteren Verteilung der Chancen und zur Abmilderung sozialer Risiken einbringen. Um das zu erreichen, dürfen sie sich nicht in eine analoge Nische zurückzuziehen, sondern müssen Subjekt, weniger Objekt der Gestaltung sein und werden. Sie müssen für möglichst viele Menschen Optionen eröffnen, den digitalen Wandel mitzugestalten ‒ insbesondere für die Menschen, die von Exklusion bedroht sind. Literatur BAGFW (2018): Digitale Transformation und gesellschaftlicher Zusammenhalt. https://www.bagfw.de/fileadmin/user_upload/Veroeffentlichungen/Pre ssemeldungen/PM_2017/Digitalisierung_9_2017_neu/strateg._Partnerschaf t_Digitalisierung_BAGFW_BMFSFJ_070917.pdf (Zugriff am 13.02.2021). Bauernhansl, T. (2014): Die Vierte Industrielle Revolution. Der Weg in ein wertschaffendes Produktionsparadigma. In: T. Bauernhansl/M. ten Hompel/B. Vogel-Heuser (Hg.): Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik (S. 5–35). Wiesbaden. Bendig, E./Erb, B./Schulze-Thuesing, L./Baumeister, H. (2019): Die nächste Generation. Chatbots in der klinischen Psychologie und Psychotherapie zur Förderung mentaler Gesundheit. Ein Scoping-Review. Verhaltenstherapie, 29 (4), 266–280. Bering, M. D. (2018): Virtual Reality für Senioren. Online verfügbar unter http://www.intelligente-technik-fuer-senioren.de/2018/03/21/virtual-realityfuer-senioren/ (Zugriff am 13.02.2021). Deutscher Caritasverband e.V. (2018): Sozial braucht digital. https://www.cari tas.de/cms/contents/caritas.de/medien/dokumente/kampagnen/2019/positio nen-flyer-god/sozialpolitische-pos/dcv_sozialpolitische_positionen_2019_ final_v2.pdf (Zugriff am 13.2.2021). Diakonie Deutschland (2021): Digitalisierung und Armut. https://www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Stellungna hmen_PDF/21-1-5_Digitalisierung_und_Armut_Thesen_Diakonie_CD.pdf (Zugriff am 13.2.2021). Dopheide, C. (2017): Zur Digitalisierung des Sozialen. Baden-Baden. Essig, K./Strenge, B./Schack, T. (2018): Die intelligente ADAMAAS-Datenbrille. Chancen und Risiken des Einsatzes mobiler Assistiver Technologien für die Inklusion. In: A. Burchardt/H. Uszkoreit (Hg.): IT für soziale Inklusion. Digitalisierung – Künstliche Intelligenz – Zukunft für alle (S. 33–40). Berlin. Henne, M. (2019): Technik, die begeistert!? Ethische Reflexion technischer Unterstützung in der Diakonie ausgehend vom Capabilities Approach nach Martha Nussbaum. Baden-Baden. Klauß, T. (2020): Digitale Transformation heute und morgen mit Blick auf den Gesundheits-, Sozialsektor und dessen Verbände. In: M. Vilain (Hg.): We-
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Kollektive Akteur:innen und Organisationsformen
29 Diakonie in der Ortsgemeinde Nina Behrendt-Raith und Gerhard K. Schäfer
1
Einleitung
Diakonie ist eine facettenreiche und pluriforme Wirklichkeit. Sie gewinnt hierzulande Gestalt auf unterschiedlichen kirchlichen Ebenen. Sie begegnet in unterschiedlichen Formen und Strukturen und wird von verschiedenen Subjekten und Akteuren getragen. Das Spektrum der Diakonie reicht von Konzernen bis hin zu Initiativgruppen, die z.B. Geflüchtete unterstützen. Entsprechend lässt sich der Begriff der Gemeinde auf unterschiedliche Sozialformen beziehen. Gemeinde im theologischen Sinne realisiert sich bzw. soll sich realisieren in Ortskirchengemeinden und daneben in Profil- und Personalgemeinden und Kommunitäten. Jeder Gemeindetypus ist mit spezifischen Ausprägungen von Diakonie und sozialen Handlungsmöglichkeiten verbunden. Es ist davon auszugehen, dass Prozesse der Diversifikation unter den Bedingungen der Spätmoderne fortschreiten und sich verstärkt in Gemeindebildungen jenseits der Ortsgemeinde niederschlagen. Gleichwohl wird die Ortsgemeinde als Kirche in Reichweite von besonderer Relevanz für die Kommunikation des Evangeliums und die Gestaltung des Christseins bleiben. Die Urteile über die diakonische Praxis der Ortsgemeinden und die Erwartungen an die Kirchengemeinden fallen höchst unterschiedlich, ja gegensätzlich aus. Oft ist konstatiert worden, dass Ortsgemeinden und die formal organisierte Diakonie bzw. die verbandliche Caritas gleichsam in verschiedenen Welten leben. Prozesse der Entfremdung zwischen Diakonie und Gemeinde im Sinne der Ortsgemeinde werden vielfach beklagt (Schäfer 1994). Immer wieder begegnet die These, die Diakonie sei aus den Gemeinden ausgewandert. Die These lässt sich am Beispiel der Sozialstationen veranschaulichen: Der Trend ging seit Mitte der 1970er Jahre in Richtung übergemeindlicher Einrichtungen, die wirtschaftlich lebensfähig sind. Die Gemeindeanbindung wurde im Zuge dieser Entwicklung geschwächt. Im Blick auf die Behauptung, die Diakonie sei aus den Gemeinden ausgewandert, muss allerdings auch gefragt werden, ob dabei nicht ein Verständnis leitend ist, das Diakonie mit formal organisiertem,
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professionellem Hilfehandeln in eins setzt. Ein solches u. E. verengtes Diakonieverständnis hätte zur Folge, dass informelle Zuwendung, spontane Hilfe und schwach organisiertes Handeln von Gruppen in der Gemeinde von vornherein ausgeblendet blieben. Gegen den Trend der Entkoppelung von Ortsgemeinde und formalisierter Diakonie richtet sich die Forderung nach der Diakonisierung der Gemeinde und der Gemeinwerdung der Diakonie (Moltmann 1984, S. 36). Postuliert werden eine heilende Gemeindebildung (Fuchs 1990, S. 185), die solidarische Gemeinde (Zellfelder-Held 2002; Steinkamp 1994), die armutssensible Gemeinde (Grosse 2015) und die inklusive Gemeinde (Kunz 2013). Solche visionären Ausblicke und Postulate sehen sich aber sogleich mit der Kritik konfrontiert, Gemeinde würde romantisiert und in ihren Potenzialen überschätzt (Ebertz 1997; Barrenstein 2016). Angesichts der konträren Urteile ist im Sinne einer Annäherung zu fragen, was in Kirchengemeinden in diakonischer Hinsicht real geschieht, und es gilt, die originären Chancen und Aufgaben gemeindlicher Diakonie und Caritas zu rekonstruieren. Der lokalen Gemeinden der beiden großen Kirchen in Deutschland sind nach dem Parochialprinzip organisiert. In der kirchlichen Sozialgestalt der Kirchengemeinde bzw. Pfarrgemeinde treffen unterschiedliche Handlungslogiken, Ziele und Erwartungen zusammen. Kirchengemeinden bzw. Pfarrgemeinden haben – erstens – eine institutionelle Dimension. Sie sind „Kirche vor Ort“. Als solche nehmen sie kirchliche Grundfunktionen in einem lokal definierten Einzugsbereich kontinuierlich wahr. Sie sind – zweitens – Organisationen, die in relativ eigener Verantwortung ihre Aufgaben wahrnehmen und zielgerichtet gestalten. Sie sind als Körperschaften des öffentlichen Rechts in der Lage, Funktionen verlässlich zu realisieren und stabile Verbindungen zur gesellschaftlichen Umwelt zu pflegen. Die Ortsgemeinde ist – drittens – eine Gemeinschaft bzw. eine Gemeinschaft von Gemeinschaften und Gruppen. Damit ist die Gemeinde als Netzwerk im Blick, das personale Beziehungen ermöglicht und dadurch Gestalt gewinnt. Theologisch gesehen dient die Sozialform der Ortsgemeinde dazu, dass sich Gemeinde als Praxis ereignet, in der sich Gottes Barmherzigkeit spiegelt. Menschen sollen durch Gottes Geist Anteil an der diakonischen Geschichte Jesu Christi gewinnen und damit eine spezifische Achtsamkeit für diejenigen, die Not leiden und an den Rand gedrängt werden. Die Ortsgemeinde basiert nicht wie z.B. eine Profilgemeinde auf Abgrenzungsmerkmalen, sondern will „prinzipiell eine Kirche für alle im Nahraum“ (Karle 2020, S. 119) sein. Die parochiale Gemeinde ist nicht auf eine homogene Zielgruppe hin ausgerichtet; zu einer Kirchengemeinde gehören vielmehr Menschen unterschiedlicher Herkunft, sozialer Gruppen und Altersstufen. Die territorial verfassten Kirchengemeinden sind strukturell auf einen bestimmten Nahraum bezogen und mit der alltäglichen Lebenswelt der Menschen verbun-
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den. Geboren werden und Sterben, Scheitern und Gelingen vollziehen sich in ihrem Bereich. Sie hat es mit Opfern der entfesselten Marktwirtschaft zu tun und ist konfrontiert mit denen, die der Beschleunigung aller Lebensverhältnisse nicht gewachsen sind und den Eindruck haben, „überflüssig“ zu sein. Gemeinde ist Teil des sozialen Nahraums mit seinen Konflikten und strukturellen Problemen. Der Nahraum ist insbesondere für die Kinder und Alten, die Nicht-Mobilen also, von spezifischer Bedeutung. Entscheidend ist, ob sich aus der objektiv gegebenen Nähe einer Kirchengemeinde zu den in ihr und in ihrem Umfeld lebenden Benachteiligten eine inhaltliche, tatsächliche Nähe ergibt – und das unter Bedingungen fortschreitender Säkularisierung, der Pluralisierung von Lebensformen und schwindender volkskirchlicher Selbstverständlichkeiten. Im Folgenden wird zunächst an elementare biblische Bezüge sowie an epochale Wandlungen im Verständnis und in der diakonischen Praxis von Ortsgemeinden erinnert. Gegenwärtige Debatten kommen ebenso in den Blick wie empirische Annäherungen an die Praxis von Ortsgemeinden. Schließlich werden exemplarisch Aufgaben und Entwicklungsschritte markiert. 2
Neutestamentliche Gesichtspunkte
Im Neuen Testament ist die lokale Gemeinde die grundlegende Erscheinungsform der Kirche. In ihr kommt das Wesen der Kirche, in der die vertikale Beziehung zu Gott mit der horizontalen Beziehung zu anderen Menschen gekoppelt ist, konkret zum Ausdruck. Dabei wird die diakonische Dimension der Gemeinde in unterschiedlicher Weise zur Geltung gebracht: Paulus beschreibt die Gemeinde als Leib Christi und hebt stark auf die innergemeindliche Beziehungsstruktur ab. Die örtliche Versammlung wird geformt durch die Tischgemeinschaft beim Herrenmahl. Dabei hat die Vorstellung von der Gemeinde als Leib ihre soziale Pointe darin, dass den geringsten Gliedern die größte Ehre zuteilwird (1Kor 12,12–31). Die Liebe, die höchste der Gaben, ist in der Gemeinde konzentriert, aber nicht auf sie beschränkt. Bei Matthäus hat die Ordnung der Gemeinde ihren Prüfstein in der Orientierung an den „Kleinen“ (Mt 18,10.14). Zugleich soll die Gemeinde missionarisch und diakonisch in die Welt hineinwirken. Sie gibt die ethische Verkündigung Jesu weiter. Das Gebot der Nächstenliebe, das die Feindesliebe einschließt, gilt universal. Lukas sieht die Gemeinde grundsätzlich dadurch bestimmt, dass Jesus als „Diakon“ in ihrer Mitte ist (vgl. Lk 22,27). Entsprechend werden in der Schilderung der Jerusalemer Gemeinde die überlieferten Merkmale Lehre der Apostel, Gemeinschaft, Brotbrechen und das Gebet so entfaltet, dass das Spezifikum der Gemeinschaft als Solidargemeinschaft hervortritt (Apg 2,44–46; 4,32). In der Apostelgeschichte deutet sich zugleich an, dass diakonische Aufgaben geordnet und auf Dauer gestellt werden (Apg 6,1 ff.). Bei Johannes liegt der Fokus darauf, dass im Leben einer durch die Bruderliebe völlig bestimmten Gruppe exemplarisch die neue Gesellschaft entsteht (vgl. Joh 15,12).
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Geschichtliche Entwicklungslinien
„Seht, wie sie einander lieben.“ Das war im Altertum ein geflügeltes Wort, mit dem das Auffällige christlicher Praxis zum Ausdruck kam. Diakonie stellte sich im 2. und 3. Jahrhundert als Gemeindediakonie und innergemeindliche Solidarität dar. In der Folgezeit wurde Gemeinde zunehmend zur Parochie im Sinne eines religiösen Versorgungsbezirks. Die Sozialform der lokalen Gemeinschaft blieb aber als regulative Idee erhalten, aus der sich immer wieder Reformbewegungen speisten. Im frühen Mittelalter wurde der Grundsatz leitend, jede Pfarrgemeinde auf dem Land solle selbständig für ihre Ortsarmen Sorge tragen. Die Parochien entwickelten sich seit der Karolingerzeit zur grundlegenden kirchlichen Verwaltungseinheit und Sozialform. Den religiösen Versorgungsbezirken wurde unter der Verantwortung des adligen Grundherrn die Armenfürsorge übertragen. Ein um 900 entstandenes Handbuch für die bischöfliche Visitation der Pfarreien ermöglicht Einblicke in das, was von Gemeinden in diakonischer Hinsicht zu erwarten war: Der Priester wurde gefragt, ob er die Kranken besucht und für Arme, Fremde und Waisen Sorge trägt. Die Verantwortung des Grundherrn für die Armen war ebenso Gegenstand der Visitation wie die Gastfreundschaft jedes Christen für Fremde und Pilger (Schäfer/Maaser 2020, S. 298). Damit waren elementare Aufgaben pfarrgemeindlicher Diakonie umrissen. Tragfähige diakonische Ordnungen bildeten sich jedoch nicht aus. Die Grundherren kamen ihrer Fürsorgeverpflichtung kaum nach. Der für die Armenfürsorge vorgesehene Anteil des Zehnten bot kein ausreichendes finanzielles Fundament für die Unterstützung der ortsansässigen Armen sowie der durchziehenden Fremden. Das christliche Leben in den Städten stand zunächst unter der Gesamtverantwortung des Bischofs. Nachdem sich um die Franziskaner und Dominikaner herum Kloster- und Personalgemeinden gebildet hatten, wurde das Parochialsystem allmählich auch in den Städten eingeführt. Mit den Pfarreien verknüpften sich Fürsorgeinitiativen: Üblich waren z.B. Sammlungen für die Bedürftigen während des Gottesdienstes. An bestimmten Sonn- oder kirchlichen Festtagen wurde Armen Brot gespendet. Bilder in den Kirchen trugen dazu bei, die Werke der Barmherzigkeit als Christenpflicht zu verinnerlichen. Von einer systematischen Gemeindearmenpflege lässt sich allerdings nicht sprechen. Für die Reformationszeit sind vier Entwicklungen kennzeichnend: Martin Luther suchte die Gemeinde und deren Diakonie zu erneuern. Er dachte der Parochie zu, Kirche am Ort als Gemeinde zu werden. Dabei sollte das die Gemeinde kennzeichnende Ethos der Barmherzigkeit auch in den verschiedenen Lebensgebieten zur Geltung gebracht werden. Dem wurde mit der Einrichtung der „Gemeinen Kästen“ Rechnung getragen. Im Luthertum kam es freilich nicht zur Bildung diakonisch handlungsfähiger Gemeinden. Der kirchlichen
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Gemeinde blieb lediglich der Status pfarramtlicher religiöser Versorgung, während der soziale Aufgabenkreis der weltlichen Obrigkeit zufiel. Johannes Calvin drang auf die Wiedereinführung des Diakonenamtes, in dem der Dienst der Kirche an Armen und Kranken verbindlichen Ausdruck finden sollte. Im Täufertum zeichnete sich das Modell einer Diakoniegemeinde im Sinne einer Kontrastgesellschaft ab. Der durch Gier und Gewalt charakterisierten „Welt“ sollte die heilige Gemeinde in der Nachfolge Jesu eine konsequente Praxis der Liebe entgegensetzen. Auf katholischer Seite hat das Konzil von Trient Impulse für eine Erneuerung der Caritas gesetzt. Dabei fanden zentralistische Tendenzen ihren Ausdruck in der Stärkung der Verantwortung des Bischofs. Zugleich wurden aber auch dezentrale Strukturen vitalisiert. In Pfarreien entstanden Hilfevereine, sog. Armenbretter, die Almosen und Kollekten sammelten, die an würdige Arme verteilt wurden. Die Bruderschaften bauten ihr karitatives Engagement aus. Daneben existierte weiterhin das Feld privater Mildtätigkeit. Vor dem Hintergrund des Pauperismus sowie der sozialen Folgen der Industrialisierung entfalteten sich seit den 1830er Jahren im evangelischen und katholischen Bereich neue karitative Initiativen. Sie wurden zumeist nicht von den Gemeinden als solchen, sondern von christlichen Vereinen getragen. Diese Vereine waren zwar personell eng mit dem Sozialsystem „Kirchengemeinde" bzw. „Pfarrei“ verflochten, besaßen aber in rechtlicher und finanzieller Hinsicht Eigenständigkeit. Johann Hinrich Wichern entwickelte die Innere Mission auf der Folie seiner Kritik an der Pastorenkirche und an den starren Parochien. Die in Vereinen organisierte Innere Mission sollten die Kirchengemeinden vitalisieren und ergänzen. Katholischerseits etablierten sich die Vinzenzund Elisabethvereine, die nach dem Pfarrprinzip gegliedert und überörtlich zusammengeschlossen waren. Das Engagement der Mitglieder zielte darauf, Not vor allem durch Besuche bei den Armen und die Verteilung von Spenden zu lindern. Bis heute sind Caritaskonferenzen in vielen Kirchengemeinden vitale Akteure, die freiwillige diakonische Arbeit anregen und bündeln. Sie sehen sich gegenwärtig mit neuen Herausforderungen konfrontiert, die insbesondere mit Veränderungen des Ehrenamts und der Etablierung pastoraler Räume zusammenhängen. Seit den 1830er Jahren entstanden mit den Kleinkinderschulen neuartige Erziehungseinrichtungen in den Kirchengemeinden. Kleinkinder – vor allem aus armen Familien – sollten Schutz vor Not und Verwahrlosung erfahren, individuell gefördert, zu sittlichem Verhalten angeleitet und religiös erzogen werden. Diakonissen und Ordensschwestern übernahmen in der Regel die Leitung der Einrichtungen. Zugleich etablierte sich die Gemeindekrankenpflege. Die evangelische Krankenpflege wurzelt in der Konzeption Theodor Fliedners, die sich bis in die 1960er Jahre als wirksam erwies. Fliedner nahm wesentliche Elemente der Gemeinschaft der Barmherzigen Schwestern auf, die von Louise de Marillac und Vinzenz von Paul ins Leben gerufen worden war, und machte sie für seine Wiederbelebung des Diakonissenamtes fruchtbar. Er wies der Gemeindediakonisse die Aufgabe der Krankenpflege zu, die sich mit Seelsor-
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ge, sittlicher Erziehung und Armenpflege verband. Für die Arbeit der Gemeindeschwestern wurde der Begriff Gemeindediakonie geprägt (Disselhoff 1889). Die Gemeindeschwester personifizierte bis in die 1960er Jahre hinein die Diakonie in evangelischen Gemeinden. Der Gedanke, dass die Vereine der Inneren Mission auch und gerade als Vehikel der Gemeindeerneuerung fungieren sollten, trat seit den 1860er Jahren deutlich zurück. Die IM und die verfasste Kirche mitsamt den Kirchengemeinden entwickeln sich zunehmend als zwei gesonderte Säulen. Vor diesem Hintergrund markieren die 1890er Jahre eine neue Phase der Diskussion um die Kirchengemeinde (vgl. Schäfer 1994, S. 122 ff.). Angesichts der sozialen Zerklüftung der Gesellschaft, des schwindenden kirchlichen Einflusses und der Massenparochien in Großstädten, die bis zu 60.000 Menschen umfassten, proklamierte Emil Sulze das Prinzip der „lebendigen Gemeinde“. Er entwickelte einen Plan, um die Massenparochien in überschaubare Seelsorgebezirke (= Gemeinden) mit nicht mehr als 3000–5000 Personen zu untergliedern. Gemeinde sollte zur handlungsfähigen Organisation werden und ein Netzwerk persönlicher Hilfen ausbilden, um so zur Versöhnung der Klassengegensätze beizutragen. Mit der Bildung seelsorglich-diakonischer Gemeinden verband Sulze auch die Zielsetzung, die Delegation der Liebestätigkeit an die Vereine der Inneren Mission zu überwinden. Sulzes Entwurf blieb umstritten. Gleichwohl gingen von ihm wichtige Impulse aus: Seine Richtzahl für die Größe einer Gemeinde wurde maßgeblich. Vereinsmäßige Arbeitsformen wurden in die Kirchengemeinden aufgenommen; so etablierten sich z.B. die Frauenhilfen als ehrenamtliche Basis gemeindlicher Diakonie. Während im evangelischen Raum die Frage nach der diakonischen Dimension der Kirchengemeinden angesichts der Ausweitung der Inneren Mission in den Fokus rückte, ging die Entwicklung auf katholischer Seite zunächst in die umgekehrte Richtung. 1897 wurde der „Charitas-Verband für das katholische Deutschland“ ins Leben gerufen. Die intendierte Durchstrukturierung des caritativen deutschen Katholizismus von der Pfarrei über die Diözese bis hin zur Reichsebene kam allerdings zunächst nicht zustande. Dies änderte sich nach dem Ersten Weltkrieg und mit der Weimarer Republik. Die Einbindung der konfessionellen Hilfeleistungen in die wohlfahrtstaatlichen Strukturen verband sich mit Prozessen der Professionalisierung und Bürokratisierung und trat damit in Spannung zu den Formen gemeindlicher Caritas und Diakonie, die ehrenamtlich organisiert und im Dienst der Diakonissen und Ordensschwestern durch den Zusammenhang von Berufung, Spiritualität und helfender Zuwendung geprägt waren. Während des „Dritten Reichs“ betrafen die Bestrebungen der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt, konfessionelles Engagement zu verdrängen, auch die von örtlichen Vereinen getragene Gemeindekrankenpflege und die Kindergärten. Rund ein Drittel der konfessionellen Kindergärten musste abgegeben wer-
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den. Vor diesem Hintergrund übernahmen nach 1945 evangelische und katholische Kirchengemeinden verstärkt die Rechtsträgerschaft von Kindergärten und Krankenpflegestationen. In der „Zusammenbruchgesellschaft“ kam es zur Aufwertung der Ortsgemeinden. Die verstärkte Verschränkung der verbandlichen Caritas mit den kirchlichen Strukturen fand ihren Ausdruck in dem Postulat, die Pfarrgemeinden sollten „rechte Liebesgemeinden“ (zit n. Frie 1997, S. 37) werden. Entsprechend drang das 1945 gegründete Evangelische Hilfswerk auf eine Vitalisierung gemeindlicher Diakonie. Die Gemeindeorientierung verdankte sich zum einen theologischen Neuansätzen und war zum anderen den Herausforderungen der Zeit geschuldet: Die Verteilung von Lebensmitteln und Kleidung sowie die Flüchtlingsfürsorge erforderten eine Organisation, die die Ortsebene umfasste. Mit dem Rückgang der Not verlor das Gemeindeprinzip bald wieder an Resonanz. Seit den 1960er Jahren wurde das Thema Gemeindediakonie unter veränderten Bedingungen erneut virulent. Im Horizont der expansiven sozialstaatlichen Entwicklung suchte Hans Christoph von Hase das spezifische Potential gemeindlicher Diakonie zu profilieren. Im Gegenüber zu fallbezogener Hilfe und technokratischer Dienstleistung betonte er das „Recht auf Liebe“ und die „Integration des Hilfsbedürftigen in den Kreis der benachbarten Christen“ (von Hase 1961, S. 36, 39f.). Das Modell der Diakoniegemeinde wurde dann von Paul Philippi theologisch fundiert (Philippi 1975). Dessen Ansatz liegt die These zugrunde, dass die Parochie durch den Einbau von Diakonie zur Gemeinde wird, die der Welt ein Beispiel gottgewollten Zusammenlebens zu bieten vermag. In eine andere Richtung wies hingegen das Paradigma Kirche für andere bzw. Kirche für die Welt, das in Aufnahme von Gedanken Dietrich Bonhoeffers (Bonhoeffer1977, S. 414 f.) entwickelt wurde. Im Vordergrund stand dabei gerade nicht die Eigengestalt der Gemeinde als Modell von Sozialität, sondern das Einwandern in die Welt und die solidarische Teilnahme an gesellschaftlichen Konflikten (Die Kirche für andere und Die Kirche für die Welt 1967). In der Praxis schlug sich diese Konzeption insbesondere in gemeinwesenorientierten Initiativen nieder. Wichtige Anstöße erhielten die katholische Theologie und Praxis durch das Zweite Vatikanische Konzil. Es konturierte die Kirche als „ecclesia caritatis“, als durch die Liebe des dreifaltigen Gottes begründete „Liebesgemeinschaft“, und als „Volk Gottes“, das lokal Gestalt gewinnt (Völk 1987). Der Begriff Gemeinde, der bis dahin überwiegend protestantisch konnotiert war, gewann programmatischen Charakter. Das „Prinzip Gemeinde“ (Klostermann 1965) fand Ausdruck in der Reformbewegung von der „versorgten Pfarrei“ zur „sorgenden Gemeinde“. Das Theorem der drei kirchlichen Grundfunktionen Verkündigung, Liturgie, Diakonie zielte – wie im evangelischen Raum – darauf, die Dignität diakonischen Handelns zu stärken und die Diakonie in die Gemeinde zu reintegrieren. Das Thema diakonische Gemeindepraxis wurde unter Rekurs auf die befreiungstheologische „Option für die Armen“ profiliert
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(Steinkamp 1994) und subjektorientiert in ökumenischer Perspektive weiterdekliniert (Bäumler/Mette 1987). 4
Gegenwärtige Debatten
Die Frage nach der Ortsgemeinde und ihrer sozialen Praxis ist Gegenstand verschiedener Stränge der Theoriebildung und wird im Zusammenhang gesellschaftlicher und kirchlicher Veränderungsprozesse neu virulent. Auf vier Diskursstränge sei hingewiesen: (1) In der katholischen Pastoraltheologie steht im Fokus, wie die nachkonziliare Entwicklung zu beurteilen ist. Dabei stehen sich zwei Positionen gegenüber: Norbert Mette sieht im Gemeindegedanken ein noch nicht wirklich eingelöstes Vermächtnis des II. Vatikanums, dem ein hohes emanzipatorisches Potenzial innewohne und das es in der radikalen Frage nach dem Auftrag der Kirche in der Perspektive des Reiches Gottes zu reflektieren gelte (Mette 2013). Was sich für Mette als allererst einzulösendes Erbe darstellt, bewertet Herbert Haslinger als Irrweg. Gemeinde – so Haslinger – sei theologisch zum Selbstzweck stilisiert worden. Die Vorstellung der „lebendigen Gemeinde“ habe zu einem unmenschlichen Druck der Engagementverpflichtung und Konformität geführt und sei daran zerbrochen. Diese Gemeinde-Idee passe nicht mehr zu den Lebensformen der Menschen unter den Bedingungen einer individualisierten bzw. pluralistischen Gesellschaft. Die überwiegende Mehrheit der Menschen verspüre keine Motivation, in engeren Kontakt mit der Kirchengemeinde zu kommen, die ihrerseits immer stärker in selbstbezogene Gemeinschaftspflege abdrifte. Haslinger plädiert für eine gnadentheologische Revision des Gemeindeverständnisses. Entgegen einem „gemeindepastoralen Pelagianismus“ (Haslinger 2005, S. 77), wonach jemand in der Gemeinde aktiv sein und etwas leisten müsse, um als Gemeindeglied und Christ anerkannt zu werden, sei die theologische Grundüberzeugung zur Geltung zu bringen, dass jeder Mensch aufgrund der bedingungslosen Gnade Gottes gewollt und angenommen ist. Haslinger konturiert die Ortsgemeinde als „Lebensort für alle“. Als territorial angelegte Größe signalisiere die Parochie, für alle in ihrem Bezirk lebenden Menschen da zu sein. Die Gemeinde als Sozialform rechtfertige sich allein durch ihre diakonische Verausgabung für die Menschen, insbesondere für die „Not leidenden und bedeutungslos gemachten“ (Haslinger 2005, S. 191). Theologisch ist instruktiv, dass Haslinger die Gemeinde gnaden- bzw. rechtfertigungstheologisch begründet, während bei Mette die Frage der Nachfolge Jesu in der Perspektive des Reiches Gottes im Fokus steht. Damit sind Pole genannt, die sich nicht mehr konfessionsspezifisch zuordnen lassen und die zu verbinden sind, damit Glaube und Liebe, Frei-
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heit und Nachfolge produktiv aufeinander bezogen bleiben. Inwieweit die Vorstellung der Ortsgemeinde als „Lebensort für alle“ mehr als eine regulative Idee sein kann, wie sie vor heilloser Überforderung bewahrt und wer die Akteur:innen einer Gemeinde sind, die sich diakonisch für andere verausgabt, bedarf weiterer Klärungen. (2) Die rechtfertigungstheologische Konturierung der Gemeinde als Ort, an dem jeder Mensch grenzenlos bejaht wird, hat im Zusammenhang des Themas Inklusion besonderes Gewicht gewonnen (Eurich/Lob-Hüdepohl 2011). Die Herausforderung, die durch die menschenrechtsbasierte UN-Behindertenrechtskonvention ihren Ausdruck gefunden hat, nötigt zu einer kritischen Aufarbeitung paternalistischer und segregierender kirchlich-diakonischer Denk- und Arbeitsformen. Sie ermöglicht zugleich eine spezifische Perspektivierung gemeindlicher Praxis, in der wechselseitige Anerkennung und Teilhabe sowie Assistenz zu einem Leben in kommunikativer Freiheit Leitprinzipien darstellen. Die Vorstellung des Leibes Christi wird dabei neu aktuell und lässt Gemeinde als Feld erscheinen, in der die Kunst des Zusammenlebens sehr verschiedener Menschen versucht und fragmentarisch erfahrbar wird. Die Inklusionsthematik gewinnt zunehmend praktisch-theologische Relevanz und sickert allmählich in ortsgemeindliche Verständigungs- und Planungsprozesse ein (Kunz 2013). Dies schließt in paradigmatischer Weise ein, die diakonische Lokalisierung nach innen und außen neu zu justieren. Nach innen gilt es, Räume und Angebote in qualifizierter Weise für „Andere“ zu öffnen und inklusiver zu gestalten. Nach außen geht es darum, Menschen in Notsituationen gezielt aufzusuchen, sie als Subjekte zur Verbesserung ihrer Lebensbedingungen wahrzunehmen und entsprechend zu stärken sowie Bündnispartner für die Förderung von Inklusionsprozessen im Gemeinwesen zu gewinnen (Evangelische Stiftung Alsterdorf/Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin 2010). (3) Die Frage nach der diakonischen Dimension der Ortsgemeinde ist verflochten mit den Diskursen um die Gestaltung des Sozialen. Die sozialräumliche Programmatik der Sozialpolitik bedeutet eine Verlagerung staatlicher Verantwortung auf lokale Settings. Sie intendiert eine Vernetzung professioneller und ehrenamtlicher Hilfe bzw. von bürgerschaftlichem Engagement, zivilgesellschaftlichen Vereinigungen und professioneller Sozialer Arbeit. Entsprechend ist Sozialraumorientierung als Integration der Ansätze der Lebensweltorientierung, des Empowerments und der Ressourcenorientierung zum neuen Leitbild Sozialer Arbeit geworden. Maßgeblich ist dabei die Idee des Sozialraums als Gemeinschaft, die durch die sorgende Verantwortung der in ihr lebenden Bürger:innen Gestalt gewinnt und für die Bürger:innen Sorge trägt. Spezifischen Ausdruck gefunden hat dies in der Leitvorstellung Sorgender Gemeinschaften (Caring Communities; vgl. Klie 2015). Die verbandliche Caritas und die Diakonie haben die strategische Zielsetzung der Sozialraumorientierung rezipiert und dabei herausgestellt, dass das Paradigma der Sozialraumorientierung
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neue Möglichkeiten für ein produktives Zusammenwirken verbandlicher und ortsgemeindlicher Diakonie eröffnet (vgl. z.B. Deutscher Caritasverband 2017; Baldas 2010). Dem sucht der im evangelischen Raum entwickelte Begriff „Gemeinwesendiakonie“ (Herrmann/Horstmann 2010) Rechnung zu tragen. Wichtige Impulse für den Diskurs über die Diakonie im Sozialraum gingen von dem ökumenischen Kooperationsprogramm „Kirche findet Stadt“ (2011–2017) aus. (4) Organisatorische Veränderungsprozesse in den beiden großen Kirchen haben dazu geführt, dass die Identifikation der Ortsgemeinden mit dem sozialen Nahraum neu dekliniert werden muss. Dies gilt für Fusionen von evangelischen Kirchengemeinden und mehr noch für die Bildung pastoraler Räume in den katholischen Bistümern. Die Erweiterung gemeindlicher und pastoraler Räume geht einher mit dem Plädoyer für eine Pluralität kirchlicher Orte und verschiedener Gemeindeformen. Strategisch stellt sich die Aufgabe, wie die Kirche trotz der Vergrößerung pastoraler Räume den Menschen nahe bleiben bzw. kommen kann und wie die unterschiedlichen Orte miteinander vernetzt werden können (Zimmer u. a. 2017). 5
Empirische Annäherungen
Die Diskussion um die Diakonie der Ortsgemeinde schwankt seit Jahrzehnten häufig zwischen der Behauptung, die Diakonie sei aus den Gemeinden ausgewandert, und dem Postulat der diakonischen Gemeinde. Empirische Studien bieten wichtige Sehhilfen. Sie können dazu beitragen, Visionen zu „erden“ und die Suchbewegung, die sich auf die Diakonie der Ortsgemeinde richtet, realitätsorientiert zu gestalten. Geller, Pankoke und Gabriel (2002) stellen in ihrer Untersuchung zum Organisationswandel evangelischer und katholischer Kirchengemeinden vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Modernisierungskrisen heraus, dass Gemeinden neue diakonische Initiativen entwickeln und zugleich das traditionell zentrale Handlungsfeld der ambulanten Krankenpflege zunehmend aufgegeben haben. Sie profilieren die besondere Rolle des oder der Pfarrer:in und markieren signifikante Veränderungen im Bereich der Ehrenamtlichkeit. Ortsgemeinden reagieren einerseits mit neuen Arbeitsformen und Projekten (Arbeit mit jungen Familien, Sterbebegleitung, Dritte-Welt-Gruppen etc.) auf die Herausforderungen in ihrem jeweiligen Umfeld und „widersetzen sich so ihrer sozialen Marginalisierung“ (S. 376). Andererseits haben sich die Sozialstationen in Trägerschaft der Diakonie und der Caritas und die Gemeinden weitgehend wechselseitig aus den Augen verloren. Dies weist darauf hin, „dass nach wie vor die kirchlich-pastorale bzw. ‚Erststruktur‘ und die kirchlich verbandliche ‚Zweitstruktur‘ keine angemessene Beziehung zueinander gefunden haben“ (S. 377 f.). Im Blick auf die Gemeinde als personales Beziehungsnetz zeigt
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sich, dass die Pfarrer die wichtigsten Knotenpunkte sind. Nach Geller, Pankoke und Gabriel schälen sich zwei unterschiedliche Typen von Ehrenamtlichen heraus, die mit unterschiedlichen Auffassungen von Gemeinde als Gemeinschaft korrelieren: Der Auffassung von Gemeinde als „Heimat“ ist das „alte“ Ehrenamt zugeordnet, das eine selbstverständliche Konsequenz des Eingebundenseins in die Gemeinde darstellt. Selbstbezogene Motive ehrenamtlichen Engagements verbinden sich hingegen mit der Vorstellung von Gemeinde als „Wahlheimat“. Im Blick auf die Ökumene wird schließlich konstatiert, es existiere zwar eine Pragmatik guter Nachbarschaft, gleichwohl versuche jede Gemeinde, ihre grundlegenden Probleme des Überlebens für sich selbst zu lösen. Während bei der Untersuchung von Geller u. a. Fragen des Organisationswandelns von Ortsgemeinden im Vordergrund stehen, zielt das Projekt Gemeindediakonie im Ruhrgebiet (Schäfer/Deterding/Montag/Zwingmann 2015; BehrendtRaith 2018) vor allem darauf ab, diakonische Aktivitäten von Gemeinden zu erheben, förderliche sowie hemmende Faktoren zu identifizieren und durch BestPractice-Beispiele zu zeigen, was möglich ist. Dem Projekt liegt die These zugrunde, dass eine zukunftsorientierte Gestaltung des Sozialen auf einen Mix unterschiedlicher Akteure, Kompetenzen und Arbeitsformen angewiesen ist. Die unmittelbare Zuwendung zu Einzelnen und Gruppen und ein personales Beziehungsnetz sind charakteristische Stärken gemeindediakonischer Aktivitäten. Im Rahmen des 2012–2014 durchgeführten Projekts „Gemeindediakonie im Ruhrgebiet“ zeigte sich eine hohe Vielfalt gemeindediakonischer Aktivitäten: Besuchsdienste, Aktivitäten in Bezug auf Familien und Kinder (Krabbelgruppen, Kindertagesstätten), Gottesdienste mit diakonischer Akzentuierung, Einebzw. Dritte-Welt-Arbeit sowie armutsspezifische Initiativen bilden Schwerpunkte gemeindlicher Diakonie. Für die Einbindung diakonischer Aktivitäten in die gemeindliche Leitungsstruktur sind Diakoniepresbyter:innen und Diakonieausschüsse, die es in fast allen Gemeinden gibt, von spezifischer Bedeutung. Der Stellenwert von Diakonie in Gemeinden hängt aber wesentlich vom Gemeindeverständnis der Pfarrer:innen ab. Als hemmend für die Entwicklung der Gemeindediakonie erweist sich, dass Aktivitäten, die sozial orientiert sind, nicht als Diakonie identifiziert werden und damit theologisch und gemeindestrategisch unterbestimmt bleiben. Zudem bilden Finanzierungsprobleme, fehlende hauptamtliche Mitarbeiter:innen sowie rasche Änderungen in den Stadtteilstrukturen signifikante Schwierigkeiten. Schließlich belasten häufig fehlendes Vertrauen und Voneinander-Wissen im Verhältnis zwischen Akteur:innen der Gemeinden und der verfassten bzw. verbandlichen Diakonie eine produktive Zusammenarbeit. Liegt ein Fokus des Projekts Gemeindediakonie im Ruhrgebiet auf der Innenansicht der Gemeindediakonie, so fragen andere empirische Studien dezidiert danach, wie sich Ortsgemeinden nach außen lokalisieren und von anderen wahrgenommen werden. Untersuchungen belegen, dass Kirchengemeinden ein hohes Potential für lebensräumliche Arbeit haben. Kooperative Gemeinwesen-
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Projekte „sind ein Ausdruck lebendiger Kirche, die es vermag, Hauptamtliche, freiwillig Engagierte und Nutzende in großer Zahl zu aktivieren“ (Dietz/Schröer/ Händel/Wegner 2019, S. 16.) Kirchengemeinden erweisen sich als „überraschend offen“, sich auf „ihr Umfeld, die dort lebenden Menschen und aktiven Gruppen jenseits der eigenen Mitglieder“ (Ohlendorf/Rebenstorf 2020, S. 255) einzulassen. Das Forschungsprojekt Diakonie im Lebensraum der Menschen wurde vom Deutschen Caritasverband und der Deutschen Bischofskonferenz in Auftrag gegeben. Dem Projekt liegen 353 Lebensraumprojekte in katholischen Kirchengemeinden zugrunde, von denen 22 für eine Analyse ausgewählt wurden. Die Auswertung belegt, dass die sozialräumlichen Projekte dazu beigetragen haben, die materielle und kommunikative Situation Benachteiligter zu verbessern. Die Einbeziehung ressourcenarmer Bewohner:innen gestaltete sich allerdings schwierig. Die Initiative für die Projekte ging in den meisten Fällen von Hauptamtlichen der Caritas oder der Gemeinde aus, die bereits in dem betreffenden Lebensraum tätig waren. Bei den beteiligten Ehrenamtlichen waren ein relativ hohes Bildungsniveau und eine ausgeprägte Sozialkompetenz festzustellen. Die Konfrontationen mit anderen Lebenswelten und den Sichtweisen der Bewohner:innen waren dabei „häufig überraschend und manchmal verstörend, sie eröffneten vielen Ehrenamtlichen aber eine andere Perspektive für das eigene Leben“ und wurden als „persönlicher Gewinn betrachtet“ (Schmälzle 2009, S. 478). In den beteiligten Pfarrgemeinden war im Bewusstsein der meisten Gläubigen eine Gleichrangigkeit von Liturgie und Diakonie nicht gegeben. Dies erschwerte die Integration der sozialräumlichen Projekte in den Alltag und die Entwicklung der Gemeinden. Bei den kooperativen Projekten trug die verbandliche Caritas den größten Teil der finanziellen Kosten. Die Kirchengemeinden waren kaum in der Lage, entsprechende Mittel einzusetzen und längerfristig zu gewährleisten. Schließlich hebt die Analyse hervor, dass „das Vorbildverhalten von Hauptamtlichen, Kaplänen und Pfarrern, die in der Gemeinde an der Spitze stehen“ (S. 543), entscheidende Bedeutung für das Zusammenwirken zwischen Pfarrgemeinden und verbandlicher Caritas hat. Die Studie Überraschend offen. Kirchengemeinden in der Zivilgesellschaft (Ohlendorf/Rebenstorf 2020) beruht auf Fallstudien in sechs evangelischen Kirchengemeinden in unterschiedlichen Sozialräumen in Deutschland. Die zunehmende Säkularisierung und Entkirchlichung führt – so die Studie – bei Kirchengemeinden im Sinne einer Reformstrategie dazu, aktiv über den kleiner werdenden Kreis der Kirchenmitglieder hinauszugehen. Es werden idealtypisch fünf zivilgesellschaftliche Funktionen von Kirchengemeinden identifiziert: (1) Kompensation, d.h. Defizite im Sozialraum werden ausgeglichen durch Räume und Gruppen, die „Heimat“ bieten. (2) Integration: Netzwerke tragen zum sozialen Zusammenhalt bei. (3) Intervention im Sinne aktiver Einmischung in gesellschaftspolitische Diskurse. (4) Moderation, d.h., die Gemeinde bietet eine Plattform für unterschiedliche Gruppen und das Austragen
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von Konflikten. (5) Sozialisation: Die Gemeinde eröffnet Gelegenheitsstrukturen zur Ausbildung von Civic Skills. Die Untersuchungen weisen zugleich auf Problemfelder und Grenzen gemeindlicher Diakonie hin: Das hohe Potenzial von Ortsgemeinden kann wegen unterschiedlicher Auffassungen zum „Kerngeschäft“ vielfach nicht zur Geltung kommen. Kirchengemeinden sind zudem häufig nicht in der Lage, Mittel für Projekte im lokalen Lebensraum sicherzustellen. Schließlich erhalten Gemeinden für ihr gesellschaftliches Engagement zwar große Wertschätzung; die Verbindung zwischen religiösen und sozialräumlichen Aufgaben erscheint in der Fremdwahrnehmung allerdings als problematisch (vgl. Ohlendorf/Rebenstorf 2020, S. 256). 6 6.1
Konkretionen und Aufgaben Wahrnehmen und Valorieren
Jesus lehrt eine „Mystik der offenen Augen und damit der unbedingten Wahrnehmungspflicht für fremdes Leid“. Er rechnet zugleich mit „unseren kreatürlichen Sehschwierigkeiten, mit unseren eingeborenen Narzissmen“ (Metz 2000, S. 16). Systematische Gemeinde- und Sozialraumanalysen können dazu beitragen, dass Sehimpulse des Glaubens zum Tragen kommen. Die systematische Zusammenstellung und Auswertung sozial wichtiger Daten in der Gemeinde sind das eine, Begegnungen zu inszenieren ist das andere. Im Zusammenspiel von diakonischen Einrichtungen und Kirchengemeinden können Begegnungen zwischen Menschen ermöglicht werden, die zumeist in unterschiedlichen Welten leben. Lernprozesse kommen so in Gang, in denen das Sehen mit den Augen des anderen möglich wird. Nach Reckwitz ist die spätmoderne Gesellschaft durch eine „singularisierte Lebensführung“ geprägt, die ein Streben nach Einzigartigkeit beinhaltet. Dabei stehen nicht nur Individuen, sondern ganze Milieus, Städte und Regionen unter dem Zwang, sich als etwas „besonderes“ zu präsentieren. Die Kehrseite dessen bilden Beurteilungen, in denen einzelne Menschen und deren Lebensstile, aber auch gesellschaftliche Gruppen und Städte wie Regionen als unattraktiv beurteilt und systematisch abgewertet werden (Reckwitz 2017). In diesem Kontext kommt Ortsgemeinden die Funktion zu, sich an dem kulturellen Valorisierungsprozess, der Unterscheidung von Wertvollem und Wertlosen, mit ihren Möglichkeiten zu beteiligen. Von ihrem geistlichen Zentrum her ist erwartbar, dass Gemeinden dem Perfektionierungswahn wie der grassierenden Abwertung von Menschen und Räumen als „unattraktiv“ und „abgehängt“ zumindest ansatzweise andere Momente entgegensetzen. In Verkündigung, Liturgie und Diakonie kann erfahrbar werden: „Ich bin gut, ich bin schön.“ Kirchengemeinden sind Orte, an denen ein Ethos der Solidarität kultiviert wird und soziale Haltungen mitgeprägt werden. Als religiöse Organisation kann die Kirchenge-
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meinde Glaubenskapital in das Gemeinwesen einbringen, das notwendig ist, wenn die Abwertung von Stadtteilen aufgehalten werden soll und sich Änderungen in der Perspektive einer „Caring Community“ vollziehen sollen (Wegner 2015). 6.2
Das Leben feiern und klagen
In der frühen Christenheit erwuchs Diakonie aus der Feier der Eucharistie. Es kommt heute darauf an, den spannungsvollen Zusammenhang von Gottesdienst, Verkündigung und Diakonie neu zur Geltung zu bringen. Liturgie heißt Feier des Lebens, Inszenierung der Hoffnung angesichts der Verletzlichkeit des Lebens. Zugleich erweist sich die diakonische Dimension des Gottesdienstes darin, dass Leidenserfahrungen zur Sprache kommen und Räume zur Klage eröffnet werden. Über basale diakonische Elemente hinaus, die das gottesdienstliche Geschehen prägen, sollten über das Jahr hinweg Gottesdienste regelmäßig gezielt diakonisch gestaltet werden. Erfahrungen mit Krankheit und Gesundheit lassen sich z.B. in thematischen Gottesdiensten aufnehmen, in die Betroffene, Mitarbeitende des Besuchsdienstes und der Sozialstation sowie Ärzt:innen einbezogen werden. 6.3
Handlungsfelder und Zielgruppen
Die Handlungsfelder und Zielgruppen kirchlich-diakonischen bzw. -caritativen Engagements sind vielfältig. Jede Ortsgemeinde sollte zumindest einen diakonischen Schwerpunkt haben. Einige Felder seien herausgegriffen, in denen sich Herausforderungen paradigmatisch zeigen: Die Basis der traditionellen Kirchengemeinden bildeten die Häuser, die Familien, in denen soziale Verantwortung wesentlich verortet war. Angesichts tiefgreifender Veränderungen gilt es wahrzunehmen, ausdrücklich zu würdigen und zu fördern, was an „elementarer“ Diakonie in den Familien geschieht – vor allem in der Erziehung und häuslichen Pflege. Damit verbinden sich die komplexen Aufgaben, die Vernetzung von Familien, Kindergärten und Ortsgemeinden qualifiziert weiterzuentwickeln und die Verbindung zwischen Kirchengemeinden und konfessionellen Sozialstationen zu rekonstruieren. Armutsbezogene Hilfen stellen ein besonders schwieriges und konfliktreiches Handlungsfeld dar. Schwierig ist dieses Feld vor allem dann, wenn es sich um verdeckte Armut handelt. Konfliktreich ist es, weil mit der Entscheidung, arme und armutsgefährdete Menschen in der Gemeinde willkommen zu heißen und entsprechende Angebote zu organisieren, eingespielte gemeindliche Alltagsroutinen und kulturelle Muster aufgesprengt und problematisiert werden. Armutsbezogene Gemeindearbeit in Kooperation mit anderen Akteur:innen bietet aber die Chance, Gottes Option für die Armen zu entsprechen. Cafés, Vesperkirchen, Kleiderkammern, Hausaufgabenhilfen und niedrigschwellige Kulturangebote sind Beispiele für gemeindliche Aktivitäten. Armutssensible Ge-
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meindearbeit kann vor allem dazu beitragen, das Selbstwertgefühl und die Eigenkräfte armer Menschen zu stärken. Es gibt Beispiele dafür: In einer Kirchengemeinde sind ALG II-Empfänger:innen in einem Projekt „Betroffene beraten Betroffene“ aktiv. In einer anderen Gemeinde kochen ehemalige Obdachlose mit anderen Ehrenamtlichen Mahlzeiten für Wohnungslose. Markante Entwicklungen vollziehen sich im Bereich der Behindertenhilfe. An die Stelle des Anstaltsparadigmas treten dezentrale Strukturen, die Inklusion ermöglichen sollen. Die Frage nach der Assistenz von Menschen mit Behinderungen und nach der Gemeinschaft von Behinderten und Nichtbehinderten stellt sich damit für Diakonie und Ortsgemeinde in neuer Weise. Ein in seiner jetzigen Ausprägung eher junges Handlungsfeld ist die Unterstützung für Geflüchtete. Seit Ende des 20. Jahrhunderts nahm die Zahl der Kirchengemeinden zu, die Schutzsuchenden Kirchenasyl gewährten, um angesichts einer drohenden Abschiebung eine erneute Prüfung des Verfahrens zu erwirken. Seit 2015 hat sich die Flüchtlingsarbeit stetig weiterentwickelt. Aus Notfallhilfen etablierten sich feste Anlaufpunkte und Strukturen, und auch inhaltlich verlagerten sich die Hilfestellungen: Längst geht es nicht mehr nur um akute Versorgung, sondern Aufgaben der langfristigen Integration gewinnen zunehmend an Bedeutung, z.B. die Vermittlung von Sprache, Arbeit und Wohnraum. Außerdem werden Geflüchtete auch selbst zu Freiwilligen und bringen ihre Fähigkeiten ein – z.B. als Dolmetscher:innen oder Ansprechpersonen etwa in Begegnungscafés (Institut für Kirche und Gesellschaft 2019). Gerade in diesem Feld hat sich gezeigt: Die Ortsgemeinde ist als „Kirche in Reichweite“ zu unbürokratischer und schneller Hilfe in der Lage. 6.4 Ehrenamtliche unterstützen Gemeindediakonie ist wesentlich ehrenamtlich. Ehrenamtlich Helfende zeichnen sich insbesondere durch eine situative Kompetenz aus. Sie verfügen über eine spezifische Nähe zu Betroffenen und investieren personale Zuwendung und Zeit zugunsten anderer. Nach den Daten des Freiwilligensurveys engagieren sich immer mehr Menschen in Deutschland ehrenamtlich. 43,6 % der Wohnbevölkerung ab 14 Jahren waren im Jahr 2014 freiwillig engagiert – knapp 10 % mehr als noch im Jahr 1999 (vgl. Simonson/Vogel/Tesch-Römer 2017, S. 15). Auch die Zahl der Menschen, die sich im kirchlichen Bereich engagieren, steigt. Dabei verändert sich das Engagement. Das „neue“ Ehrenamt zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass die Freiwilligen sich gezielt für bestimmte Aufgaben und Projekte engagieren – und zwar zeitlich begrenzt. Ist das Projekt abgeschlossen oder verändert sich die Lebenssituation der/des Freiwilligen, wird das Engagement unterbrochen oder beendet.
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Ehrenamtliche sind auf Unterstützung durch professionelle Kräfte angewiesen. Ehrenamtlich Helfende benötigen begleitende Reflexion, erfahrungsbezogene Weiterbildung und Räume, die persönliches Wachstum erschließen. 6.5
Selbsthilfegruppen Raum geben
Selbsthilfegruppen zeichnen sich dadurch aus, dass sich Menschen, die von einer Notlage betroffen oder mitbetroffen sind, selbst organisieren und einander unterstützen. Hilfe geschieht partnerschaftlich – in einer Form also, die für Diakonie grundlegend ist. Selbsthilfegruppen Raum zu geben, bedeutet zum einen, ihnen Räumlichkeiten zur Verfügung zu stellen. Zum anderen kann die Ortsgemeinde die Selbstorganisation Betroffener anregen. Dies geschieht zunehmend im Blick auf Trauernde und Menschen mit psychischen Problemen. Wichtig ist zudem, dass Gemeinden dazu beitragen, Anliegen von Selbsthilfegruppen zu verbreiten. 6.6
Leitungsverantwortung
Die diakonische Praxis der Gemeinde bedarf immer wieder der Überprüfung und Weiterentwicklung. Es ist insbesondere Sache der Pfarrer:innen sowie der gemeindeleitenden Gremien, die in Gruppen, Projekten und Einrichtungen sich entfaltende diakonische Arbeit zu begleiten, zu koordinieren und zu reflektieren sowie mit Initiativen und Einrichtungen des Sozialraums zu vernetzen. Dazu ist die fachliche Unterstützung durch die Kirchenkreise und Diözesen sowie die verbandliche Diakonie und Caritas notwendig. Die Mitglieder eines Presbyteriums, Pfarrgemeinderats, Gesamtpfarrgemeinderats bzw. diakonischen Ausschusses benötigen beispielsweise solide Kenntnisse sozial engagierter Gruppen und Hilfeinstitutionen im gemeindlichen Umfeld. Die Kommunikation zwischen Gemeinde und diakonischen Einrichtungen im Umfeld sollte institutionalisiert werden. Für die Finanzierung diakonischer Gemeindearbeit muss viel Energie und Phantasie aufgewandt werden. In den meisten Fällen ist eine Mischfinanzierung notwendig und sinnvoll. Erfahrungen zeigen, dass die Bereitschaft bei Kirchenmitgliedern und Bürger:innen relativ hoch ist, diakonische Projekte zu unterstützen. 6.7
Kultur des Zusammenwirkens
Die Frage nach der Qualität diakonischer Aktivitäten, der Mangel an Priestern und Pfarrer:innen sowie die Neustrukturierung kirchlicher Räume verlangen nach einer neuen Kultur des Zusammenwirkens. Dies beinhaltet drei Momente: Erstens bedarf es der Zusammenarbeit unterschiedlicher Professionen in Ortsgemeinden und kirchlichen Räumen, um komplexe Aufgaben wahrnehmen und diakonische Kompetenzen gezielt einzusetzen zu können.
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Neben den Pfarrpersonen sind Pastoralreferent:innen, Diakon:innen und Gemeindepädagog:innen für die diakonischen Belange einer Kirchengemeinde zuständig. Seit einiger Zeit sind „multi- bzw. interprofessionelle Teams“ kirchenübergreifend im Gespräch. Die Herausforderungen liegen dabei auf der Hand: Status- und Machtgefälle sowie Konkurrenzdenken sind hier zu nennen, denen begegnet werden muss. Außerdem kommen neue Berufsgruppen hinzu, z.B. Gemeindemanager:innen, und andere kommen zurück – die Gemeindeschwester. Die Tradition der Gemeindediakonisse wird z.B. in einem Pilotprojekt des Mutterhauses Witten aktualisiert. Die heutige Gemeindeschwester soll für Menschen im Bereich einer Kirchengemeinde eine Vertrauensperson darstellen, eine Gemeinde diakonisch sensibilisieren und Brücken ins Gemeinwesen schlagen. Notwendig sind – zweitens – Verbundsysteme zwischen institutioneller Zuständigkeit und situativer Betroffenheit. Als erforderlich erweisen sich Netzwerkbildungen zwischen Ehrenamtlichen und Hauptamtlichen, Ortsgemeinden, diakonischen Einrichtungen und zivilgesellschaftlichen Gruppen, in denen es in neuen Verknüpfungen von Kompetenzen und Hilfeformen darum geht, Hilfe in lebensräumlichen Kontexten zur Verfügung zu stellen und Sozialräume inklusiver und solidarischer zu gestalten. Dies schließt auch die Aufgabe ein, den Eigensinn gemeindlicher Zusammenschlüsse zur Geltung zu bringen – gegenüber einer sozialpolitischen Instrumentalisierung der Sozialraumorientierung, die die lokalen und regionalen Räume vor allem als kompensatorische Ressource wachsender Armutsprobleme und sozialer Gegensätze ins Spiel bringt (Wohlfahrt 2015). Drittens ist über die pragmatische Gestaltung guter Nachbarschaft hinaus die Ökumene vor Ort und im Sozialraum als wichtige Quelle für eine sachgerechte und zukunftsorientierte Gestaltung diakonischer Arbeit zu begreifen und weiterzuentwickeln. Die lokale und territoriale Entwicklung der diakonischen Kommunikation des Evangeliums wird wesentlich davon abhängen, ob geistliche, personelle und finanzielle Ressourcen ökumenisch gebündelt und in differenzierter Weise für eine Diakonie mit den Menschen fruchtbar gemacht werden. Literatur Bäumler, Chr./Mette, N. (Hg.) (1987): Gemeindepraxis in Grundbegriffen. Ökumenische Orientierungen und Perspektiven. München/Düsseldorf. Baldas, E. (Hg.) (2010): Community Organizing. Menschen gestalten ihren Sozialraum, Freiburg i.Br. Barrenstein, P. F. (2016): Vorwort. In: W. Nethöfel/H. Böckel/S. Merle (Hg.): Vielfältige Vernetzung. Hinauswachsen aus der Großkirche (S. 9 f.). Berlin.
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30 Initiativgruppen und karitative Gemeinschaften Christian Spieß
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Einleitung
Karitative Gemeinschaften wurzeln tief in der christlichen Tradition. Insbesondere viele Orden verstanden sich als christliche Gemeinschaften der Armenfürsorge, der kurativen Fürsorge und allgemein der barmherzigen Unterstützung benachteiligter bzw. bedürftiger Personen und Gruppen. Nachdem mit der Sozialen Frage des 19. Jahrhunderts zunehmend Forderungen einer strukturellen Stabilisierung prekärer Lebenssituationen, der sozialstaatlichen Absicherung gegen Lebensrisiken wie Erwerbsarbeitsunfähigkeit und Krankheit sowie nach und nach auch des Ausgleichs starker sozioökonomischer Ungleichheiten erhoben wurden, prägten sozialethische und sozialpolitische Fragen auch zunehmend die Diskurse in den christlichen Kontexten: Im Rahmen der pastoralen Praxis traten Arbeiterpriester auf, es entstanden Vereine und Verbände mit sozialpolitischer Programmatik, Caritas und Innere Mission erlebten einen beispielhaften Prozess der Professionalisierung in wohl nahezu allen Bereichen der sozialen Dienste, in den Theologien erhielten Fragen der Sozialethik, der Diakonie- bzw. Caritaswissenschaften sowie der Sozialen Arbeit nach und nach einen Platz in der wissenschaftlichen Reflexion und auch im Fächerkanon. Im Zuge der funktionalen Differenzierung kam es auch im Feld der Religion zu einer Ausdifferenzierung der Modi religiös-diakonischer Praxis. Jenseits der Tendenz zur Institutionalisierung und Professionalisierung bzw. der zunehmenden organisatorischen Ausdifferenzierung der karitativen Praxis geriet der Gesichtspunkt der Bewegung, verstanden als stark an einem bestimmten Problem – etwa der Armut oder der gesellschaftlichen Benachteiligung einer bestimmten Personengruppe – orientiertes und durch die Bekämpfung dieser Probleme motiviertes, dabei eher lose organisiertes soziales Kollektiv, in den Hintergrund (vgl. Grüggeler/Gabriel/Gebhardt 1999, S. 9–12). Es könnten sogar Zweifel an der angemessen ausgeprägten Konfessionalität der konfessionellen Wohlfahrtsverbände entstehen, weil diese unter dem Professionalisierungsdruck ihre religiöse Motivationsgrundlage vernachlässigten. Diese Tendenzen gibt es selbstverständlich auch im frühen 21. Jahrhundert noch, aber
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daneben tritt mit der zivilgesellschaftlichen Rolle karitativer und kirchlicher Akteurinnen eine Dimension, die angesichts von Säkularisierung und Entkirchlichung in der gegenwärtigen „reflexiven“ Phase der Säkularisierung Bedeutung gewinnt (2). Deshalb können religiöse Bewegungen auch noch einmal als jene Trägerinnen sinnstiftender Ressourcen verstanden werden, die ErnstWolfgang Böckenförde einst als unverzichtbar für den säkularen Verfassungsstaat bezeichnet hat (3). Eine Analyse dieser zivilgesellschaftlichen Rolle erlaubt dann eine Differenzierung verschiedener Dimensionen der Praxis von Initiativbewegungen und karitativen Gemeinschaften, nämlich als gesellschaftliche, politische und diakonische Praxis, sowie eine knappe normative Einordung unter den Gesichtspunkten der Solidarität und der Inklusion (4). Eine kurze Zusammenfassung schließt den Beitrag ab (5). 2 Von der Privatisierung zur zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit: Religiöse Initiativbewegungen als Phänomen der reflexiven Säkularisierung Mit dem nach und nach vollzogenen politischen Gewaltverzicht der christlichen Konfessionen in Europa ändert sich auch der Ort religiös geprägter Wohlfahrtsinitiativen in der Moderne. Religion wird aus der Sphäre der Politik und der politischen Öffentlichkeit zunächst grundsätzlich in die Privatheit verlagert bzw. gedrängt. Diese Privatisierungstendenz wird im Rahmen der Debatte um die Säkularisierung unterschiedlich beurteilt. Wenn auch grundsätzlich weiterhin von einer Privatisierungstendenz auszugehen ist, sind umgekehrt Prozesse der „‚Entprivatisierung‘ der Religion“ zu beobachten (Casanova 2000, S. 250). Die religiös geprägten Wohlfahrtsverbände spielten dabei in Deutschland und Österreich, teilweise auch in anderen westeuropäischen Ländern, eine Sonderrolle. Sie konnten sich in den nach dem Zweiten Weltkrieg entstehenden säkularen Demokratien in einem intermediären Bereich zwischen Staat bzw. Politik auf der einen Seite und dem privaten Spielraum der Bürger:innen bzw. Einwohner:innen des politischen Gemeinwesens als konstitutive (!) Akteure des Wohlfahrtsstaats etablieren. Dies gilt insbesondere für das von EspingAndersen einst als „konservativ“ charakterisierte Sozialmodell, wie wir es in Grundzügen in Deutschland und Österreich vorfinden, nicht aber zum Beispiel in der Schweiz, wo ein liberal-individualistisches Modell vorherrscht, und auch nicht in skandinavischen Ländern, wo sich ein „sozialdemokratisches“ Modell etabliert hat (vgl. Esping-Andersen 1990). Ob diese einflussreiche Unterscheidung dreier „Welten des Wohlfahrtskapitalismus“ (Lessenich/Ostner 1998) auch heute noch tragfähig ist und welche unterschiedlichen konfessionellen Orientierungen und innerkonfessionellen Pluralitäten für das „Europäische Sozialmodell“ in den einzelnen Nationalstaaten jeweils prägend waren, kann hier nicht erörtert werden (vgl. Manow 2005). Ein Konsens der Vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung dürfte aber darüber bestehen, dass die ausgeprägte Bedeutung der Freien Wohlfahrtspflege ein Kennzeichen des „Sozialen Kapitalismus“ (Kersbergen 1995) bzw. des „[k]orporatistische[n] Sozialversiche-
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rungsstaat[s] mit konfessioneller Prägung“ (Gabriel/Reuter 2013, S. 93) ist. Dabei ist zunächst zu konzedieren, dass die sozialen Dienste des Staates im Vergleich zu den Leistungen der Sozialversicherungen in diesem Wohlfahrtsstaatsmodell eine untergeordnete Rolle spielen (vgl. Kaufmann 2003, S. 290– 304). Aber mit der „Dominanz der Sozialversicherungen korrespondiert ein zweites Merkmal: die starke Stellung nichtstaatlicher, intermediärer Akteure im Bereich der sozialen Dienste. Unter ihnen spielen die kirchlichen, im Diakonischen Werk und im Deutschen Caritasverband organisierten Dienste eine hervorgehobene Rolle“ (Gabriel/Reuter 2013, S. 127). Diese sind keine rein privaten Initiativen im Sinne freiwilligen bürgerschaftlichen Engagements – sie basieren aber auf in der Bevölkerung nach wie vor mehr oder weniger solide verankerten weltanschaulichen Orientierungen und Motivationen, was beispielsweise durch eine starke Verschränkung von professioneller (Erwerbs-) Arbeit und ehrenamtlichem Engagement zum Ausdruck kommt. Sie sind aber auch nicht im engeren Sinne Leistungen des Staates – sie sind aber durch zahlreiche Regelungen etwa der Sozialgesetzbücher und nicht zuletzt durch umfangreiche Refinanzierungsarrangements relativ stabil in die Wohlfahrtsstaatlichkeit eingebunden, sind also prinzipiell rechtlich und finanziell abgesichert. Hinzu kommt allerdings in den letzten Jahrzehnten, dass „die sozialen Dienste für kommerzielle, privatwirtschaftlich agierende Anbieter geöffnet“ wurden und „von staatlicher Seite […] der Versuch erkennbar [ist], die korporatistischen Steuerungsdefizite durch den Einbau von Elementen des Wettbewerbs und der Marktsteuerung zu kompensieren“ (Gabriel/Reuter 2013, S. 127). Das führte zu einer durchaus massiven Verschiebung im deutschen Sozialmodell, denn der sogenannte „Wohlfahrtsmix zwischen staatlichen, kommunalen, verbandlichen und privatwirtschaftlichen Anbietern zeigt je nach sozialen Dienstleistungsfeldern eine unterschiedliche Ausprägung und ist bis in die Gegenwart hinein umkämpft bzw. im Fluss“ (Gabriel/Reuter 2013, S. 127). Die organisierten Wohlfahrtsverbände stehen mit ihren sozialen Diensten also in einem komplexen Spannungsfeld zwischen Staat, Gesellschaft und Markt. In diesem Spannungsfeld müssen sie die beiden ihrerseits ebenfalls in Spannung stehenden Aufgaben der politischen Einflussnahme einerseits und der professionellen Dienstleistung andererseits erfüllen, was üblicherweise mit der berühmten Formulierung „Anwaltschaftlichkeit und Dienstleistung“ zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Lehner/Manderscheid 2001). Für weniger stark in die Struktur des Sozialstaats eingebundenen Initiativbewegungen und karitativen Gemeinschaften eröffnet sich aber gewissermaßen „diesseits“ der organisierten Wohlfahrtsstaatlichkeit ein Raum gesellschaftlicher und politischer Partizipation. Dabei kommt das Konzept der Zivilgesellschaft ins Spiel. In einer sehr allgemeinen Definition ist die Zivilgesellschaft ein Raum zwischen privater Sphäre und staatlicher Politik. Schon die Frage aber, ob bzw. wie dieser auch gegenüber der Wirtschaft abgegrenzt ist, bleibt strittig. Die präzise Bestimmung der gesellschaftlichen Öffentlichkeit als Zivilgesellschaft oder zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit, die Abgrenzungen gegenüber Wirtschaft einerseits und Politik oder politischer Öffentlichkeit andererseits, unterschiedli-
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che Begriffe der Öffentlichkeit etc. sind Gegenstand verzweigter und kontroverser Debatten (vgl. Adloff 2005; Gabriel 2003). Für die Frage der Verortung von Initiativbewegungen und karitativen Gemeinschaften kann hier nur ein möglicher Definitionsvorschlag der Zivilgesellschaft skizziert werden, der freilich normativ etwas voraussetzungsreich ist (vgl. Spieß 2016, S. 170–179). Der Vorschlag geht davon aus, dass sich in der Zivilgesellschaft ein von der Wirtschaft getrennter Bereich der freien Kooperation von Personen, Initiativgruppen und Bewegungen etc. etabliert. In dieser Kooperation sind die Akteure nicht in erster Linie durch die Verfolgung von Eigeninteressen bewegt, sondern verfolgen Überzeugungen, Ideale, Werte etc. Häufig sind zivilgesellschaftliche Aktivitäten also normativ aufgeladen (etwa Kapitalismuskritik, Solidarität mit benachteiligten Personen etc.). Nicht nur in dieser Hinsicht implizieren zivilgesellschaftliche Interaktionen auch einen politischen Bezug, ohne freilich Teil der politischen Öffentlichkeit bzw. des politischen Systems zu sein (vgl. Große Kracht 2003). Es handelt sich also um Einstellungen und Aktivitäten, die typischerweise mit sozialen Bewegungen verbunden sind, wenn man diese als „mobilisierende kollektive Akteure“ versteht, „die mit einer gewissen Kontinuität auf der Grundlage hoher symbolischer Integration und geringer Rollenspezifität mittels variabler Organisations- und Aktionsformen das Ziel verfolgen, einen grundlegenden Wandel der Verhältnisse herbeizuführen, zu verhindern oder rückgängig zu machen“ (Krüggeler/Gabriel/Gebhardt 1999, S. 19, im Anschluss an Raschke 1985, S. 77).
Nicht zuletzt auf einer religiösen Weltanschauung basierende Initiativgruppen und karitative Gemeinschaften können auf diese Weise ihre semantischen Potentiale in das politische Gemeinwesen einspeisen. „Die Zivilgesellschaft ist auf im Privatbereich wurzelnde moralische Ressourcen und kulturelle Traditionen angewiesen, die ein Interesse und eine Orientierung am Allgemeinwohl hervorbringen. Religiöse Traditionen können entsprechend – aus dem privaten Bereich heraustretend – ihre Vorstellungen von Gemeinwohl, Gerechtigkeit, Solidarität und gutem Leben in den öffentlichen Diskurs einbringen“ (Gabriel 2008, S. 18).
Damit bietet die Zivilgesellschaft eine Sphäre, in der sich die Pluralität unterschiedlicher weltanschaulicher und politischer Überzeugungen entfalten kann, ohne dass etwa religiöse Geltungsansprüche in problematischer Weise unmittelbar in den Bereich der Politik hineinragen. Im Sinne einer politisch-liberalen Idee des öffentlichen Vernunftgebrauchs korrespondiert dieses Verständnis der Zivilgesellschaft mit einem relativ weit gefassten Begriff der diskursiven Öffentlichkeit. Dieser Vorschlag rechnet damit, dass es eine Sphäre der Deliberation rationaler Argumente oder Geltungsansprüche gibt, in der Personen und Gruppen verständigungsorientiert kommunizieren. Das schließt verschiedene andere (etwa ökonomische oder massenmediale) Dynamiken nicht von vornherein aus. Die diskursive Öffentlichkeit spielt aber in demokratietheoretischer
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Hinsicht eine wichtige Rolle im liberalen Modell. Sie ist der Ort des Meinungsaustauschs, auch der anwaltschaftlichen Stellungnahme und politischer Interessenvertretung, mithin genau jener gesellschaftliche Raum, in dem Initiativbewegungen und karitative Gemeinschaften ihre Standpunkte und ihre assistierende bzw. sorgende Praxis einbringen können. Nicht für alle religiösen Organisationen ist der Ort in der Zivilgesellschaft so genau und problemlos zu bestimmen – und das betrifft durchaus auch die Kirchen bzw. kirchliche Organisationen. Aber einige große „Konsultationsprozesse“ der vergangenen Jahrzehnte deuten auf eine zunehmende zivilgesellschaftliche Verortung der Kirche(n) hin. Dem Wirtschaftshirtenbrief der katholischen Bischöfe der USA Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle (1986) ist ein sechs Jahre andauernder Reflexions- und Konsultationsprozess vorausgegangen. Dieser Prozess war sowohl für den österreichischen Sozialhirtenbrief (1990) als auch für den ökumenischen Konsultationsprozess in Deutschland, der zum „Sozialwort“ Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (1997) geführt hat, Vorbild. Alle drei Dokumente haben bis heute bleibende Bedeutung für das Selbstverständnis der beteiligten Kirchen. Auch die religiös geprägten konfessionellen Wohlfahrtsverbände sind durchaus ein Sonderfall der Zivilgesellschaft. Sie agieren zwar einerseits teilweise als zivilgesellschaftliche Akteure, sind andererseits jedoch durch Finanzierungsvereinbarungen und staatliche Mandatierungen stark in das Sozialstaatsarrangement eingebunden. Allerdings weisen sie eine differenzierte Struktur auf, die von Angeboten im Erziehungs- und Bildungsbereich über das Gesundheitssystem und die Pflege im häuslichen wie im stationären Bereich bis zur Versorgung bedürftiger Menschen und zur Flüchtlingshilfe reicht. Initiativgruppen bilden sich nicht zuletzt im unmittelbaren Umfeld der Wohlfahrtsverbände bzw. an deren ehrenamtlich geprägter Peripherie. Gerade in den zuletzt genannten Bereichen handelt es sich zweifellos um typische Beispiele für zivilgesellschaftliches Engagement. Dies passt zudem zu einem revidierten Verständnis der Ausdifferenzierung religiöser Einstellungen und Praxisformen im Kontext der Säkularisierung, das zwar eine Reduzierung der Bedeutung und Verbreitung von Religion und Religiosität nicht gänzlich ausschließt, aber doch auch auf das Phänomen einer religiösen und solidarischen „öffentlichen Religion“ hinweist (Casanova 2008; 2000). 3
Initiativbewegungen und karitative Gemeinschaften als Träger moralischer Ressourcen und homogenitätsbildende Kräfte: Ein Rückblick auf das „Böckenförde-Theorem“
Eine grundsätzlich positive – oder jedenfalls nicht pauschal ablehnende – Haltung gegenüber dem Phänomen Religion vorausgesetzt, gehört der Hinweis auf die Sinnressourcen, die die religiösen Gruppen und Bewegungen bzw. Religionsgemeinschaften bereitstellen können, zum Standardrepertoir in der De-
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batte um die Bedeutung religiöser Orientierungen im säkularen Verfassungsstaat. Religion ist in dieser Denkfigur nicht Bedrohung oder Fremdkörper, sondern Stabilisator moderner Gesellschaften oder sogar die Ermöglichungsbedingung des säkularen Staates schlechthin. Das führt unweigerlich zur „meistzitierten Bekenntnisformel der politischen Kultur der Bundesrepublik“ (Große Kracht 2014, S. 155), zum „Böckenförde-Theorem“: „Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Das ist das große Wagnis, das er, um der Freiheit willen, eingegangen ist. Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Andererseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat“ (Böckenförde 1976, S. 60).
Ernst-Wolfgang Böckenfördes Formel hat im Kontext der in diesem Beitrag erörterten Fragen eine besondere Bedeutung, weil sie in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem politischen Gewaltverzicht religiöser Traditionen steht. Als Verfassungsjurist beteiligte er sich intensiv an den zeitgenössischen – also rund um das Konzil stattfindenden – Debatten um die Neupositionierung der katholischen Kirche. Schon während des Konzils publizierte er seine verfassungsrechtliche Sicht auf die Entwicklungen des katholischen Lehramts (vgl. Gabriel/Spieß 2014). Die Stoßrichtung seiner Argumentation war dabei eindeutig im Sinne der Wende vom „Recht der Wahrheit“ zum „Recht der Person“. „Wie niemand sonst im deutschen Katholizismus hat Ernst-Wolfgang Böckenförde deshalb die staats- und demokratietheoretischen Umbrüche des II. Vatikanischen Konzils, vor allem der Erklärung Dignitatis humanae über die Religionsfreiheit, emphatisch begrüßt“ (Große Kracht 2014, S. 157).
Das Böckenförde-Diktum ist auch ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Frage, wie das Verhältnis von Kirche/Religion und Staat/Politik zu bestimmen ist. Die Grundlage für die Anerkennung der Religionsfreiheit war nach Böckenfördes Auffassung der Nachvollzug der Trennung von Moral und Recht, also das Einschwenken der politischen Ethik der katholischen Kirche auf den zentralen Entwicklungsschritt der modernen (politischen) Philosophie. Er bekennt sich nachdrücklich zum modernen Individualismus der Menschenrechte, der zur Emanzipation von einer einheitsstiftenden, an einem Begriff des Volkes orientierten Idee der Nation und zur Emanzipation von der Religion geführt habe (Böckenförde 1976, S. 60). Es handelt sich also um eine klar konturierte liberale Position, die völlig vorbehaltlos die Trennung von Religion und Politik sowie einen säkularen Verfassungsstaat anerkennt.
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Auch für die Bürger:innen – und erst recht für religiöse Bürger:innen – gilt eine ähnliche Ambiguität wie für den säkularen Verfassungsstaat. Auch der Weg des Christentums bzw. der christlichen Gemeinschaften führe in Bezug auf den Staat von der natürlichen bzw. religiösen Wahrheitsordnung zu einer vernunftbestimmten weltlichen Ordnung. Für die einzelnen Christ:innen führe dieser Weg „zum Selbstbewusstsein ihrer Freiheit“ (Böckenförde 1976, S. 58). Das eröffnet aber zugleich die Möglichkeit, dass der christliche Glaube, vermittelt durch das persönliche Bekenntnis des Einzelnen, formuliert von gesellschaftlichen Bewegungen und Gemeinschaften, als „gesellschaftliche (und insofern auch politische) Kraft“ wirksam werde. Auf diese Weise werden auch dem weltlichen Staat die durch religiöse Bürger vermittelten „inneren Antriebe und Bindungskräfte“ bereitgestellt. Der freiheitliche und säkulare Staat verfügt per definitionem über keine moralischen oder sittlichen Ressourcen und kann diese auch nicht mit den Mitteln des Rechts generieren und garantieren. Auf diese „Angewiesenheit“ des modernen Staates auf moralische Ressourcen dürfe allerdings nicht in der Weise reagiert werden, dass der Staat „zum ‚christlichen‘ Staat zurückgebildet wird, sondern in der Weise, daß die Christen diesen Staat in seiner Weltlichkeit nicht länger als etwas Fremdes, ihrem Glauben Feindliches erkennen, sondern als die Chance der Freiheit, die zu erhalten und zu realisieren auch ihre Aufgabe ist“ (Böckenförde 1976, S. 61).
Mag sein, dass das Böckenförde-Theorem ob seiner inflationären Inanspruchnahme etwas verbraucht ist. Auch ist es keineswegs die einzige Möglichkeit, das Verhältnis von weltanschaulich neutralem und säkularem Verfassungsstaat einerseits und moralischen Überzeugungen und partikularen Wertvorstellungen auf der anderen Seite zu bestimmen. Es bietet aber die Möglichkeit, ein weites legitimes Feld weltanschaulich basierter Praxis von Bewegungen mit den Standards des modernen Staatverständnisses nicht nur widerspruchsfrei zu vereinbaren, sondern auch in ein produktives Zusammenspiel zu setzen. Dabei muss die Rezeption des Böckenförde-Theorems mit der Anerkennung der Trennung von Religion und Politik bzw. von religiösen Organisationen und Staat einhergehen. Der starke Bezug zum christlichen Glauben ist dem Kontext und der geschichtlichen Situation sowie dem konkreten Anlass geschuldet. In Varianten späterer Jahre ist zuerst allgemeiner von „geistig-sittlichen Grundhaltungen, Orientierung an sittlichem Grundgefühl“ die Rede (Böckenförde 1978, S. 36) und dann auch, teilweise in Interviews, wieder konkreter davon, dass es nicht um eine bestimmte Kraft gehe, keineswegs jedenfalls nur um die Kirchen, sondern um Organisationen und Bewegungen mit unterschiedlichem weltanschaulichem Hintergrund, die sich ergänzen und nebeneinander bestehen können (vgl. Große Kracht 2014, S. 173). Böckenfördes Formel legt zum einen eine vorbehaltlose Trennung von Religion und Politik nahe, und zwar auch in dem Sinne, dass es grundsätzlich keine Bevorzugungen der einen oder anderen Religion geben darf. Das schließt historisch gewachsene Dominanzen nicht aus, wenn etwa eine Konfession in ei-
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nem bestimmten Gebiet ein besonderes quantitatives Gewicht hat. Es sensibilisiert aber dafür, dass religiöse Initiativen und Gemeinschaften politisch stets nach Maßgabe der gleichen Freiheit behandelt werden müssen und Ungleichbehandlungen stets rechtfertigungsbedürftig sind (vgl. Spieß 2018; 2016, S. 118–132; 2020a). Insoweit erscheint es wünschenswert, Initiativgruppen und karitative Gemeinschaften jener weltanschaulichen und religiösen Orientierungen zu fördern, die in einem politischen Gemeinwesen präsent sind oder aufgrund demografischer Veränderungen an Bedeutung gewinnen. Das ist etwa durch die hohe Zahl von Zuwandernden der Fall, die der Religionsgemeinschaft bzw. verschiedenen religiösen Denomination des Islam angehören. Zum anderen intendiert das Böckenförde-Theorem eine zivilgesellschaftliche Rolle der Religionsgemeinschaften. Weil religiöse Initiativen und Gemeinschaften – wie manche anderen weltanschaulichen Akteure auch – in der Zivilgesellschaft einen wichtigen Beitrag für die Reproduktion semantischer Potenziale leisten, sind sie in einem gewissen Rahmen politisch zu fördern, jedenfalls sind die Spielräume für ihr zivilgesellschaftliches Engagement abzusichern. Die Zivilgesellschaft, das könnte eine der wichtigen Hinweise des Böckenförde-Theorems bleiben, darf dem Staat nicht egal sein, weil er auf die in ihr generierten Sinnstiftungen angewiesen ist – eben als Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann. Gewiss dürfen die zivilgesellschaftlichen Verständigungsprozesse in die politische Öffentlichkeit, sofern diese als von der staatlichen Politik getrennt verstanden wird, hineinragen. Gerade etwa das solidarische politische Engagement für benachteiligte Menschen ist typisch für religiöse Initiativen und karitative Gemeinschaften. Und für dieses Engagement muss es einen rechtlich gesicherten Rahmen geben. Ohne dass an dieser Stelle die Frage beantwortet werden muss, ob aus der Sicht des ursprünglichen Böckenförde-Theorems der christlichen Religion eine besondere Rolle zugewiesen war, gilt die Offenheit für religiöse Sinnerzählungen auch in Bezug auf nichtchristliche religiöse Traditionen. So hat sich Böckenförde wiederholt zugunsten einer weiten Auslegung der Religionsfreiheit für Angehörige des Islam ausgesprochen, beispielsweise auch in der Frage des „Kopftuchverbots“ für muslimische Lehrerinnen. Wenn gläubige Menschen ihre religiösen Überzeugungen als Sinnressourcen in der Gesellschaft artikulieren dürfen, dann gilt das zum einen grundsätzlich für alle religiösen Initiativen und zum anderen für den ganzen Menschen. Es wäre abwegig, von gläubigen Menschen einerseits zu erwarten, dass sie mit ihren religiösen Potentialen zur sittlichen Reproduktion der Gesellschaft und damit des säkularen Staates beitragen, ihnen andererseits aber von Seiten des säkularen Staates zu verbieten, ihr Leben gemäß ihrer religiösen Überzeugung zu führen (Spieß 2016, S. 99–158). Dabei tritt dann doch relativ deutlich eine systematisch zwingende religionspolitische Pointe des Böckenförde-Theorems hervor: Es nimmt Religionen und religiöse Menschen ernst, und zwar sowohl als Staatsbürger:innen, die bei der gesellschaftlichen Meinungs- und demokratischen Willensbildung mitwirken, als auch als Gläubige, die ihre Religion nach ihren Überzeugungen praktizieren – oder eben schlicht als auch religiöse Staatsbürger:innen. Daraus resultie-
Initiativgruppen und karitative Gemeinschaften
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ren nicht nur weite Spielräume der Bekenntnisfreiheit und der religiösen Praxis im Sinne von Verkündigung und Liturgie, sondern auch des gesellschaftlichen Engagements, der sozialpolitischen Initiative und der diakonischen Praxis. Das Böckenförde-Theorem ist also religionspolitisch keineswegs neutral, sondern betont die wichtige Rolle religiöser Bewegungen und karitativer Gemeinschaften in der Zivilgesellschaft sowie, mehr noch, ihre konstitutive Bedeutung für die Existenz und Stabilität säkularer Verfassungsdemokratien. 4
Soziales und karitatives Engagement als gesellschaftliche, politische und karitative Praxis
Das Engagement in Initiativgruppen und karitativen Gemeinschaften ist zugleich gesellschaftliche, politische und diakonische Praxis (vgl. Spieß 2020b, S. 2–5). (a) Als gesellschaftliche Praxis entwickelt sich dieses Engagement im Gefüge sozialer Interaktionen, die sich zwischen Individuen und kollektiven Akteuren auf der Basis freiwilliger Kommunikation und Kooperation entwickeln. Das Steuerungsmedium von an dieser gesellschaftlichen Praxis beteiligten Personen und Kollektiven ist weder der Markt-Preis-Mechanismus der Ökonomie noch der bürokratische Mechanismus der staatlichen Politik, sondern die Solidarität. Initiativbewegungen und karitative Gemeinschaften gehen in ihrer gesellschaftlichen Praxis von reziproken Abhängigkeitsverhältnissen in arbeitsteiligen und funktional differenzierten Gesellschaften aus (solidarité de fait). Sie verbinden aber diese „faktische Solidarität“ normativ mit einer „gesollten Solidarität“ (solidarité devoir), also mit dem solidarischen bzw. eigentlich solidaristischen Grundsatz, dass die Glieder einer Gesellschaft einander gegenseitig Unterstützung schulden (vgl. Spieß 2020c, S. 67–71). (b) Als politische Praxis bezieht sich das Engagement vor allem von Initiativbewegungen, aber auch von anwaltschaftlich agierenden karitativen Gemeinschaften auf die politische Rahmenordnung, in der dieses Engagement stattfindet. Die politische Rahmenordnung bestimmt die Spielräume für soziales und karitatives Engagement, indem etwa bestimmte gesellschaftliche Handlungsformen verboten sind oder indem bestimmte Leistungen durch den Staat erbracht oder auch nicht erbracht werden. Vor allem die zweite Variante führt zu dem – für die Bewertung sozialen Engagements zentralen – Problem, dass soziales Engagement als politisches Handeln häufig nicht eindeutig interpretierbar ist. Ein markantes Beispiel dafür ist die rasante Ausbreitung der sogenannten Tafeln bzw. der Tafelbewegung, die Nahrungsmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs an bedürftige Personen weitergibt. Diese Güter werden in der Regel vom (Lebensmittel-)Einzelhandel an die Tafeln abgegeben, die sie dann kostenlos oder zu einem sehr günstigen Preis weitergibt. Diese Bewegung kann im Sinne politischer Praxis als kritisches Statement zum Sozialabbau verstan-
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den werden: „Wir müssen Grundnahrungsmittel an Bedürftige verteilen, weil der Staat den sozialen Anspruchsrechten seiner Bürger:innen nicht hinreichend gerecht wird.“ Vor allem in kritischer Betrachtung kann die Tafelbewegung aber auch als Substitution sozialstaatlicher Leistungen interpretiert werden: „Die Tafelbewegung ersetzt mit der Verteilung von Grundnahrungsmitteln Leistungen, die eigentlich zu den basalen Mindeststandards eines Wohlfahrtsstaats gehören. Sie fällt damit den politischen Bemühungen um eine armutsfeste soziale Sicherung aller Bürger:innen in den Rücken.“ Oder möglicherweise auch aus der Perspektive der Tafelbewegung selbst: „Wir tun dies, weil der Staat nicht alles leisten kann, weil wir auch mal fragen müssen, was wir für den Staat tun können, und nicht nur, was der Staat für uns tun kann.“ Zwischen diesen bewussten politischen Positionierungen kann es sich natürlich auch um eine mehr oder weniger spontane Praxis handeln, deren Zusammenhang mit oder Auswirkung auf das Sozialstaatsgefüge nicht weiter reflektiert wird: „Wir möchten einfach nur bedürftigen Menschen helfen und außerdem Lebensmittel, die sonst vernichtet werden würden, einer sinnvollen Verwendung zuführen.“ Das Beispiel zeigt die Unübersichtlichkeit der Motive und Effekte des Handelns von Initiativbewegungen (vgl. Selke 2011). Zugleich zeigt sich die kaum klar zu bestimmende Trennung zwischen Organisation und Bewegung, zumal die Tafelinitiativen gerade im näheren ehrenamtlichen Umfeld der Kirchen und Wohlfahrtsverbände entstanden sind. Auf diese Weise kommt es zu der ungewöhnlichen Situation, dass Caritas und Diakonie einerseits zu den wichtigsten Trägern der Tafelbewegung, andererseits aber auch zu deren schärfsten Kritikern geworden sind (vgl. Diakonisches Werk EKD 2010; Caritas in NRW 2011). (c) Als diakonische Praxis schließlich stellt sich soziales Engagement in einen religiösen Zusammenhang, versteht sich als religiös motiviert und steht in der Regel auch im sozialen Zusammenhang einer Religionsgemeinschaft. Die – organisatorische und motivationale – Intensität dieser Zusammenhänge kann variieren. Aus Sicht katholischer wie evangelischer Ekklesiologie realisiert sich in der diakonischen Praxis ein „Grundvollzug des Glaubens“; es geht also nicht um ein Handeln, das der Glaube irgendwie nahelegt, sondern unmittelbar um den Kern des Glaubensvollzugs als solchen, um eine Variante religiösen Handelns. So wenig, wie die Kirche ohne Ritus, Gottesdienst, Liturgie vorstellbar ist, und so wenig, wie sie ohne die Verkündigung des Wortes Gottes denkbar ist, so wenig kann sie auch ohne diakonische Praxis als Vollzug der Gottes- und Nächstenliebe existieren. Religiöse Praxis erschöpft sich demnach nicht in kirchlicher Selbstbezogenheit, sondern wendet sich den Menschen zu. Ein Beispiel in doppelter Hinsicht ist hierfür die „Flüchtlingshilfe“ – also die vielfältigen Formen der Unterstützung und Assistenz von Menschen auf der Flucht – in den Jahren 2015 und 2016 (und teilweise darüber hinaus). Nicht selten waren Initiativen und Aktivist:innen religiös motiviert (vgl. Nagel/El-Menouar 2019), und es gab eine beträchtliche Vernetzung zwischen bürgerschaftli-
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cher Initiativbewegungen, Wohlfahrtsorganisationen, Religionsgemeinschaften und staatlicher Politik bzw. Kommunalpolitik (vgl. Schroeder/ Kiepe 2019). Umgekehrt verweist diese diakonische Dimension in besonderer Weise auf den Beitrag, den religiös motivierte Initiativbewegungen und karitative Gemeinschaften für die Regeneration des säkularen Verfassungsstaates leisten können. Als diakonische, gesellschaftliche und politische Praxis lässt sich das soziale Handeln von Initiativgruppen und karitativen Gemeinschaften auch normativ einordnen. Ohne an dieser Stelle die jeweiligen konfessionell und politischphilosophischen Begründungen und Varianten der Begriffe ausführlich erörtern zu können, kann von solidarischem und inklusivem Handeln die Rede sein. Solidarität berücksichtigt zunächst die faktischen reziproken Abhängigkeitsverhältnisse von Akteur:innen in modernen, ausdifferenzierten und arbeitsteiligen Gesellschaften, übersetzt sie aber normativ in eine Verpflichtung zu gegenseitiger Rücksichtnahme und Unterstützung. Diese werden sowohl (und primär) im Rahmen rechts- und sozialstaatlicher Strukturen realisiert; es bedarf aber darüber hinaus auch einer Entschlossenheit bzw. Gesinnung, gesellschaftliche Interaktionen unter allseitiger Interessenberücksichtigung zu gestalten. Jürgen Habermas betont, dass das „Recht seine sozialintegrative Kraft letztlich aus den Quellen der gesellschaftlichen Solidarität“ (Habermas 1992, S. 59) speist, wobei die in rechtlichen Strukturen aufbewahrte Solidarität „die eigentlich gefährdete Ressource“ und deshalb laufend regenerationsbedürftig sei (Habermas 1992, S. 12). Genau dies leisten Initiativgruppen im Modus ihrer gesellschaftlichen Praxis, während ihre politische Praxis auf die strukturellrechtliche Ebene zielt, also auf die Herstellung solidarischer Strukturen. Solidarität im Sinne diakonischer Praxis schließlich berücksichtigt in besonderer Weise benachteiligte Personen und Gruppen der Gesellschaft. Inklusion intendieren bzw. inklusiv handeln karitative Bewegungen, wenn sie die Frage stellen, wie die gesellschaftlichen Umgebungen so verändert werden können, dass Menschen mit ihren je unterschiedlichen Konstitutionen gut in dieser Gesellschaft leben können. Das impliziert, dass nicht mehr ein mehr oder weniger separates Fürsorgesystem sich „betroffener Personen“ annimmt, wie es das Konzept der Integration vorsah, sondern dass es in der Gesellschaft Lebensräume für Menschen mit unterschiedlichen Eigenschaften gibt, dass Zugangschancen verbessert und Barrieren verschiedenster Art abgebaut werden. Der wesentliche Unterschied zwischen Integration und Inklusion besteht „darin, dass Integration das Einbeziehen von etwas Außenstehendem in ein Bestehendes meint, das erst durch dieses Außenstehende zu einem einheitlichen Größeren und Ganzen verschmilzt. Inklusion dagegen steht – hier wird die ursprüngliche Herkunft aus der Mineralogie deutlich – für das Einschließen eines anderen (‚fremden‘) Materials, das im Unterschied zum Prozess der Integration nicht mit dem Größeren zu einer neuen einheitlichen Ganzheit amalgamiert und verschmilzt, sondern in seiner Eigenart
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als Anderes bestehen bleibt und dennoch konstitutiver Teil des Ganzen wird“ (LobHüdepohl/Kurzke-Maasmeier 2010, S. 59).
Das bedeutet insbesondere eine Veränderung der bestehenden Gesellschaft in zwei Hinsichten: Zum einen muss sie sich – als Voraussetzung von Inklusion – so verändern, dass alle Menschen die Möglichkeit haben, in ihrer Unterschiedlichkeit zu leben; zum anderen wird sie sich – als Folge von Inklusion – verändern, weil sie durch die unterschiedlichen Lebensformen, Perspektiven, Erwartungen etc. auch jener Menschen geprägt wird, die bisher in besonderer Weise unter einem Normalisierungsdruck stehen. Insofern handelt es sich um gesellschaftliche Praxis, die – als politische Praxis – auch auf strukturelle Veränderung zielt, wobei wiederum – im Sinne diakonischer Praxis – die Situation strukturell benachteiligter Personen und Gruppen im Zentrum der Handlungsintentionen stehen (vgl. Möhring-Hesse 2007). 5
Zusammenfassung
1. Initiativgruppen und karitative Gemeinschaften sind als soziale Bewegungen mobilisierende kollektive Akteure, deren Handeln – bei variablen Organisations- und Arbeitsformen – das Ziel verfolgt, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse nach Maßgabe ihrer je eigenen normativen Orientierung zu verändern. 2. Gesellschaftliche, politische und diakonische Praxis verschmelzen dabei zum charakteristischen Praxismodus dieser sozialen Bewegungen, der normativ durch Solidarität und Inklusion bestimmt werden kann. 3. In den Einstellungen und Handlungsweisen von Initiativgruppen und karitativen Gemeinschaften entwickeln sich – als gegenläufige Tendenz oder auch Folge der Privatisierung und Entkirchlichung religiöser Praxis – Formen öffentlicher Religion und Religiosität in der Gesellschaft. 4. Initiativgruppen und karitative Gemeinschaften partizipieren als zivilgesellschaftliche Akteure an der weltanschaulichen Pluralität der Zivilgesellschaft, die einen Ort der Entfaltung und der Aktivität, der Kooperation sowie des solidarischen und inklusiven Handelns bietet. 5. „Nach der Privatisierung“ finden Religionen in der Zivilgesellschaft einen „öffentlichen Ort“, der zwar auch für politisches Engagement offen ist, gegenüber der Politik aber begrenzt ist. Damit können Initiativgruppen und karitative Bewegungen auch sinnstiftende Ressourcen ihrer religiösen Traditionen bereitstellen, von dem die Qualität des Gemeinwesens profitieren kann.
Initiativgruppen und karitative Gemeinschaften
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Um einem anderen Menschen z.B. in einer Notlage helfen zu können, bedarf es nicht nur einer inneren Bereitschaft und entsprechender Handlungskompetenzen, sondern auch der nötigen Mittel. Bereits im Neuen Testament wird in der Erzählung vom Barmherzigen Samariter (Lk 10, 25-37) berichtet, dass der helfende Samariter einem Wirt für die Pflege des von Räubern verwundeten Menschen einen Geldbetrag zur Verfügung stellt. Aus der spontanen Hilfe des sich auf einer Reise befindenden Samariters wird die organisierte Hilfe eines Herbergsbesitzers, der den Verwundeten besser und nachhaltiger pflegen kann. Die dafür notwendigen Mittel müssen berechnet und aufgebracht werden. Auf diesen grundsätzlichen Zusammenhang, der auch christliches Hilfehandeln seit seinem Beginn durchzieht, weist Thorsten Moos hin: „Die ökonomische Gestaltung des Helfens ist so alt wie die Organisation des Helfens selbst“ (Moos 2017, S. 29). Nach Moos setzt das Helfen eine innere Rationalisierungsdynamik frei, die dem Eigensinn des Helfens auch darin entspricht, „die angesichts des Umfangs der Notlagen immer knappen Güter, die für die Hilfe zur Verfügung stehen, möglichst effizient einzusetzen, also eine Ökonomie des Helfens zu errichten“ (Moos 2017, S. 28). Formen der Organisation des Helfens gehen also einher mit Fragen der Finanzierung der Hilfe und haben unterschiedliche historische Antworten hervorgebracht. Im Mittelalter war das Stiftungswesen sehr verbreitet (Borgolte 2014), während Vorläufer sozialunternehmerischen Handelns in der Zeit der Aufklärung und des Pietismus gefunden werden können (Lepsius 1996). Die entscheidende Phase für die Herausbildung der neueren Diakonie fand im 19. Jahrhundert statt, als sich vielzählige Initiativen zur Bekämpfung sozialer Not bildeten. Dieser formativen Phase wenden wir uns im ersten Punkt zu, um anschließend in einem zweiten Schritt Kennzeichen diakonischen Unternehmertums heute zu beschreiben (der Begriff Diakonie ist im katholischen Bereich ebenso eingeführt und wird im Folgenden auch für Organisationen der Caritas verwendet). Drittens wird im Ausblick kurz auf die Entwicklung zum Wohlfahrtsmix eingegangen.
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Unternehmerisches Handeln der Diakonie im 19. Jahrhundert
Als im 19. Jahrhundert die Industrialisierung auch zu einem immensen sozialen und gesellschaftlichen Umbruch führte, war die Verelendung großer Bevölkerungskreise die Folge. Die Auflösung traditioneller Arbeits- bzw. Knechtschaftsverhältnisse führte zu einer drastischen Zunahme von Tagelöhner-Beschäftigungen, wirtschaftlicher Not vieler Familien und einem weit verbreiteten Pauperismus. Unterernährung, Krankheiten, Alkoholismus, Gewalt, häufiger Kindstod usw. kennzeichneten die gesundheitliche und soziale Not vieler Menschen. Die christlichen Kirchen, insbesondere im Bereich des Protestantismus, waren eng mit der Obrigkeit verflochten und reagierten nur wenig auf die sozialen Missstände. Es waren überwiegend einzelne Christenmenschen, vor allem aus dem Adel, dem Großbürgertum und dem geistlichen Stand bzw. auf katholischer Seite Priester oder Ordensangehörige, welche die Initiative ergriffen und jenseits bestehender kirchlicher Strukturen Hilfsinitiativen, Rettungshäuser, Vereine usw. gründeten. Mit ihrem privaten Besitz und/ oder eingeworbenen Spenden wurden sie mit tatkräftiger Unterstützung weiterer Menschen unternehmerisch tätig in dem Sinn, dass sie etwas gegen die Not ihrer Mitmenschen unternahmen. Diakonische und caritative Verbände wurde dann erst im Laufe des Jahrhunderts gegründet: Im Jahr 1848 gab der Theologe Johann Hinrich Wichern auf dem Evangelischen Kirchentag in Wittenberg in seiner berühmten Stegreifrede den Impuls zur Gründung des Central-Ausschusses für die Innere Mission, die dann im Januar 1849 erfolgte, während auf katholischer Seite der deutsche Caritas-Verband erst relativ spät, nämlich 1897, auf Betreiben Lorenz Werthmanns gegründet wurde, um die vielen, längst bestehenden katholischen Hilfsinitiativen und Anstalten unter einem Dach zu versammeln. Diese Zusammenschlüsse waren anfangs jedoch keine straff durchorganisierten Verbände, sondern bildeten einen lockeren Überbau über die oftmals nur lose miteinander verbundenen diakonischen Vereine und Anstalten. Wie innovativ das unternehmerische Handeln der Gründerpersönlichkeiten aus dem kirchlichen Umfeld damals ausgerichtet war, soll exemplarisch kurz angerissen werden: 1. Der Verein war eine junge Rechtsform des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794, die mit der Industrialisierung weite Verbreitung gefunden hat. Denn die starren ständischen Korporationen konnten erst mit den bereits genannten sozialen Entwicklungen infolge der Industrialisierung aufgebrochen und standesübergreifend in Vereinen zu neuen sozialen Zwecken formiert werden. In den Evangelischen Kirchen wurden die Vereine überwiegend außerhalb der verfassten Kirchen gegründet; in der Katholischen Kirche gab es neben den lokalen Caritaskreisen auch die überörtlichen Vinzenzvereine und deren weibliches Pendant, die Elisabethvereine (Frie 1997). 2. Wilhelm Raiffeisen ist als Wegbereiter der Genossenschaftsidee in Deutschland in die Geschichtsbücher eingegangen (Klein 1999; 2018). Ausgehend von Aspekten eines christlichen Menschenbildes gründete er während des Hungerwinters 1846/47 den Weyerbuscher „Brodverein“; eine Initiative,
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die die gemeinschaftliche Selbstversorgung mit Lebensmitteln mit solidarischem wirtschaftlichem Handeln verband. Ziel war die Überwindung von Armut durch eine neue Formation gemeinsamen Handelns, die später durch den verpflichtenden Erwerb von Geschäftsanteilen weiterentwickelt wurde und so die Kreditnehmer von Almosenempfängern zu Partnern machten (Schubert 1989). Als eingetragene Genossenschaft war eine neue Rechtsform für den gemeinschaftlichen Geschäftsbetrieb entstanden. 3. Die Gründung von Fabriken zur Linderung der sozialen Not von Arbeitern stellte einen weiteren innovativen Ansatz dar. So gründete der evangelische Theologe Gustav Werner Maschinenfabriken sowie eine Papierfabrik, um armen Menschen Ausbildung und Einkommen zu ermöglichen (Bauer/Schmidt/Eurich 2015). Der Pfarrer Johann Friedrich Oberlin, der als einer der Väter des Kindergartens gilt, gründete bereits Ende des 18. Jahrhunderts mehrere Industriebetriebe einschließlich einer Leih- und Kreditanstalt sowie landwirtschaftliche Vereine, in denen er moderne Saat- und Anbaumethoden einführte (Dienst 1993; Chalmel 2012). Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. förderte dezentrale wirtschaftliche Arbeitsbereiche in der „Evangelischen Heil- und Pflegeanstalt für Epileptische“ in Bielefeld. 1885 gründete er dort die erste deutsche Bausparkasse, deren Name, Bausparkasse für Jedermann, die soziale Zielsetzung anzeigte. Weiterhin entwickelte er Ideen, die man heute im Fundraising wiederfinden kann und z.B. Spender zu dauerhaften Förderern machen sollte (Bautz 1990; Schmuhl, 2005). 4. Auch wenn auf katholischer Seite caritative Anstalten ihre Wurzeln zum Teil weit vor dem 19. Jahrhundert haben, sind besonders die neuen Orden zu nennen, die im Lauf des 19. Jahrhunderts gegründet wurden und in den folgenden Jahrzehnten stark expandierten und neuartige Anstalten initiierten (Frie 1997, S. 22 f.). Die heute zum Teil zu großen Trägerverbünden zusammengeschlossenen caritativen Organisationen müssen den Rückgang an Brüdern und Schwestern ideenreich kompensieren. Auf evangelischer Seite entwickelte der Pfarrer Theodor Fliedner das Konzept des Dienstes als Diakonisse und gründete in Kaiserswerth das erste Diakonissen-Mutterhaus, dem bald viele weitere folgten und die zum Wachstum der Anstalten ebenso beitrugen, heute allerdings kaum noch Zulauf haben. Diese Initiativen zeigen zum einen, dass soziale Umbrüche in einer Gesellschaft neue Antworten erfordern, die damals in der Entwicklung neuer rechtlicher und wirtschaftlicher Formen wie Vereinen und Genossenschaften gefunden wurden. Andere Ansätze wie christliche Fabriken erwiesen sich nicht als nachhaltig. Zum anderen lassen sich im Rückblick auch deutlich Einseitigkeiten des damaligen (auch wirtschaftlichen) Engagements identifizieren, etwa die Positionierung gegen die als gottlos bezeichnete Arbeiterbewegung oder das mangelnde Engagement gegen die strukturellen Ursachen sozialer Not. Zugleich wird bei diesem Rückblick auch deutlich, dass die Diakonie nicht einfach nur ein passives Element in der ökonomischen Gestaltung des Helfens ist, sondern in der Organisationsgeschichte des sozialen Handelns eine mitbestimmende Größe auch in der ökonomischen Rationalisierung des Helfens dar-
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stellt: „Es ist also ebenso ethisch wie historisch unzureichend, die Rationalisierung des Helfens – und innerhalb ihrer auch die Ökonomisierung – als das Andere des Helfens diesem gegenüberzustellen“ (Moos 2017, S. 29f). Vielmehr geht es darum, ökonomische Erfordernisse mit (professions-)ethischen Prinzipien und christlichen Grundlagen in einem Spannungsgleichgewicht auszutarieren. Welche Ansätze dazu insbesondere nach der Einführung wettbewerblicher Rahmenbedingungen seit den 1990er Jahren entwickelt wurden, wird im folgenden Kapitel dargestellt. 2
Diakonische Unternehmen im Sozialmarkt
Mit der „Vermarktlichung des Sozialstaats“ (Nullmeier 2004) wird die organisierte Hilfe einem warenförmigen Austauschverfahren unterworfen, welches spezifische Funktionen übernehmen kann: „Die Möglichkeit, mit Helfen Geld zu verdienen, erlaubt es, die Verfolgung fremden Wohls gleichzeitig als Verfolgung eigenen Wohls zu verstehen und das Helfen somit mindestens partiell von altruistischen Motivationslagen abzukoppeln und auf Dauer zu stellen. Ein effizienter Umgang mit knappen Mitteln wird potentiell befördert, wobei Instrumente moderner Ökonomik sich als günstig erweisen können. Ein sozialer Markt als Mechanismus der Allokation von Hilfe kann als Instrument der Förderung von Verteilungsgerechtigkeit wie auch individueller Wahlfreiheit (persönliches Budget) fungieren. Auch können Fragen nach der Qualität des Hilfehandelns anders operationalisiert werden“ (Moos 2017, S. 30 f.) Im Blick auf die Diakonie bedeutet dies: War sie im 19. Jahrhundert zur Bekämpfung der Folgen wirtschaftlicher Modernisierung angetreten, so tritt sie nun im Sozialmarkt selbst unter die Bedingungen dieser Modernisierung (Moos 2017). Diese Bedingungen und ihre Auswirkungen auf organisierte Hilfe sind bereits ausführlich diskutiert worden (Eurich/Maaser 2013), so dass an dieser Stelle einige Verweise genügen sollen: 1. Auf der Ebene der Hilfeleistung an sich wird Hilfe im Marktgeschehen in Form einer Ware zwischen Hilfeleistenden und Hilfeempfängern vertraglich vereinbart und als personenbezogene soziale Dienstleistung abgerechnet. Die Dienstleistung muss dazu standardisiert, in kleinteilige Kostenformate unterteilt, mit einem Preis versehen und qualitativ kontrolliert werden. Ein Unterschied zur Sachgüterproduktion besteht bei einer personenbezogenen sozialen Dienstleistung jedoch im Kernelement Vertrauen. „Stehen bei Marktbeziehungen allein sachliche Aspekte im Vordergrund, so spielen bei der Produktion von Pflege die menschlichen Beziehungen zwischen Pflegenden und Patienten eine wesentliche Rolle. Sind Marktbeziehungen ihrem Wesen nach anonym, so sind persönliche Beziehungen in der Pflege konstitutiv“ (Gabriel 2007, S. 225). Dem entsprechend kann die Dienstleistung nur unter Mitwirkung des oder der Klient:in produziert werden, weshalb man bei Vertrauensgütern von Co-Produktion spricht (Finis-Siegler 1997). Als Kritik an der Vermarktlichung sozialer Dienstleistungen wurde moniert: „Damit verliert die Hilfebeziehung potenziell ihren persönlichen, zwei Individuen in
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einer spezifischen Interaktion verbindenden Status. Diese Entpersönlichung ist als ‚Abschied vom barmherzigen Samariter‘ (Boeßenecker 2004) bezeichnet worden. Zudem können Bedürfnisse ungedeckt bleiben, die nicht in die standardisierten Schemata der Leistungskomplexe passen und zu deren Deckung keine Ressourcen zur Verfügung stehen. Das Vertragsverhältnis droht darüber hinaus die Asymmetrie der Hilfebeziehung zu verschleiern: Viele Hilfsbedürftige sind nicht in der Lage, als souveräne Kunden aufzutreten“ (Moos 2017, S. 32). 2. Auf betrieblicher Ebene befindet sich die Diakonie „in einer Gemengelage von sozialer Dienstleistungsorientierung, organisatorischer Verbetrieblichung, zivilgesellschaftlicher Rollenzuschreibung und kirchlichem Selbstverständnis. Mit der gestiegenen Anwendung von zweckrationalen Ansätzen auf die Gestaltung von Non-Profit-Organisationen treten [...] zugleich klassische Ziele diakonischer Organisationen im Blick auf soziale Hilfeleistungen wie das Motiv der Sozialanwaltschaft oder die sozialpolitische Mitgestaltung zurück“ (Eurich 2013a, S. 163). Damit ist die Spannungslage benannt, in der diakonische Unternehmen agieren: Die ökonomische Steuerung bedingt, dass das Ziel unternehmerischen Handelns, nämlich Erlöse zu erwirtschaften, alle Prozesse im Unternehmen mittelbar oder unmittelbar dominiert. Im Einzelnen „(z)u nennen sind hier die Selektion lukrativer ‚Fälle‘, umfassende Pflichten der Dokumentation, ein betriebswirtschaftliches Controlling, ein Kostendruck auf Beschäftigte bis hin zur Ausgliederung in Subunternehmen mit niedrigeren Entgelten, Prozesse der Fusionierung und Konzentration auf bestimmte ‚lohnende‘ Betätigungsfelder, Beschleunigung und Arbeitsverdichtung und schließlich der Wechsel der Führungseliten hin zu Managern und Betriebswirten“ (Moos 2017, S. 32). Ungewollte Neben-Folgen dieses Prozesses können im Creaming-Up (wirtschaftlicher Risikoselektion) des Angebots, erhöhtem Kosten- und Arbeitsdruck bis hin zur Demotivation des Personals und zur Deprofessionalisierung von Tätigkeiten führen (Moos 2017; Manzeschke 2006). Unter Druck gerät dabei die anwaltschaftliche Funktion, die auch deshalb schwierig auf der Unternehmensebene umzusetzen ist, weil die unternehmerische Positionierung im Sozialmarkt „nicht ohne weiteres mit gleichzeitig artikulierten Ambitionen, im Sinne spezifischer Wertbindungen (z.B. christliches oder humanistisches Menschenbild) anwaltschaftlich zu agieren“ (Bode 2009, S. 92), in Übereinstimmung gebracht werden kann. Starke Kritik hat auch das Outsourcing bestimmter Tätigkeiten in neu gegründete Tochtergesellschaften, die nicht den Bestimmungen des sog. Dritten Weges unterliegen, hervorgerufen. Insgesamt ist der Dritte Weg zur Diskussion gestellt worden bis hin zum alternativen Abschluss von Tarifverträgen. 3. Auf politischer Ebene ist die Vermarktlichung des Sozialstaats als beabsichtigte Folge politischer Entscheidungen, die unter Rückgriff auf neoliberale 1 Ansätze die Modernisierung des Sozialstaats betrieben haben (Butter1 Mit dem Begriff „neoliberal“ wird auf solche Ansätze Bezug genommen, die sozialstaatliche Interventionen lediglich als Basisversorgung zur Deckung elementarer Bedürfnisse vorsehen
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wegge/Lösch/Ptak 2007; Hengsbach 2001), beschrieben worden. Der Markt wird nicht mehr als Gegenüber des Staates bestimmt, sondern erscheint als dessen Vorbild, was zur Folge hat, dass marktliche Prinzipien nun auf den Bereich des Staates selbst – etwa im Rahmen von New Public Management – angewandt werden. Die Rolle des Sozialstaats besteht nun nicht mehr in der Adressierung und Steuerung gesellschaftlicher Problemlagen, sondern in der Moderation des Wettbewerbs zwischen den Akteuren im Sozialmarkt. Schäper folgert: „Die ethischen Prinzipien und Kulturmuster, die den Sozialstaat legitimiert und geprägt haben – soziale Verantwortung, Gleichheit, Solidarität, Gerechtigkeit –, werden dekonstruiert und funktionalisiert […]. Die Maximierung des Eigennutzes wird zur ethischen Norm, Konkurrenz und Wettbewerb zum bestmöglichen Weg der Zielerreichung“ (Schäper 2006, S. 73). Eine der Folgen ist die Entwicklung hin zu immer größeren Trägerverbünden: Diese gewinnen in manchen Regionen eine beherrschende Marktmacht, was die Einschränkung des Wunsch- und Wahlrechts der Klient:innen bedeutet. Nun sind diakonische Unternehmen nicht nur als Wirtschaftsunternehmen zu beschreiben, die auf einem Markt agieren. Das macht schon deren Rechtsform deutlich, die als gemeinnütziger Verein (e.V.), gemeinnützige Gesellschaft mit beschränkter Haftung (gGmbh), gemeinnützige Aktiengesellschaft (gAG) o.ä. auf eine soziale Zwecksetzung des Unternehmens verweist, die nicht ausschließlich gewinnorientiert verfolgt werden darf (Salamon/Anheier 1996). Daher können diakonische Unternehmen auch weder eindeutig dem Markt noch dem Staat zugeordnet werden, sondern werden heute eher in der intermediären Sphäre zwischen Staat, Markt und Zivilgesellschaft verortet (DiMaggio/Anheier 1990; Kramer 2000). Zu deren Kennzeichnung bietet sich das Modell eines Hybrids an, das die unterschiedlich strukturierten (und zugleich nicht immer kompatiblen) Einflüsse der drei Basisinstitutionen Staat, Markt und Zivilgesellschaft auf diakonische Unternehmen aufnimmt und in Beziehung zu einander setzt (Evers/Ewert 2010; Eurich 2012). Die Aufgabe für diakonische Unternehmen „besteht somit in der Vermittlung unterschiedlicher Orientierungen (z.B. staats- und assoziationsbezogener Orientierungen), der Herstellung von Einheit unter Wahrung der Vielfalt (z.B. organisationale Einheit und Vielfalt an Stakeholdern), der Balancierung unterschiedlicher Steuerungslogiken (z.B. ökonomische Rationalität und wertebasierte – bei der Diakonie: theologische – Programmatik) und der Herstellung und Erhaltung von Gemeinschaft bzw. der Emanzipation aus deren Bindungen (vgl. die Diskussion um die Loyalitätsrichtlinie in Diakonie und Kirche)“ (Eurich 2013b, S. 242). In der Praxis wird dazu auf Diakoniemanagement-Ansätze rekurriert, deren bekanntester auf das St. Galler-Managementmodell zurück geht (Rüegg-Stürm und daher die Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums im Rahmen eines Wohlfahrtsstaates beschränken möchten (Rose 2002).
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2003). Bei der Übertragung auf diakonische Unternehmen wurde besonders die Unterscheidung von normativem, strategischem und operativem Management aufgenommen (Haas 2006). Weit verbreitet sind auch einzelne Instrumente wie Leitbilder oder die Balanced-Score-Card bis hin zu aktuellen Konzeptionen der Unternehmenskultur (Maelicke 2009; Hofmann 2020; Moos 2018). Einen weiteren Ansatz stellen Wertemanagementsysteme dar, durch welche die in Leitbildern und Unternehmensstandards artikulierten Werte gemeinsam bearbeitet werden sollen (Wieland 2004). 3
Ausblick: Wohlfahrtsmix
Die Öffnung der Anbieterlandschaft innerhalb des Sozialstaats hin zu einem breiteren Wohlfahrts-Mix hat auch in Deutschland in den vergangenen Jahren eingesetzt (Grohs/Schneiders/Heinze 2014). Hintergrund sind unterschiedliche Treiber des gesellschaftlichen Wandels wie der demographische Umbruch, Globalisierung, Migration, Folgen des Klimawandels etc., welche die einzelnen Wohlfahrtsstaaten vor große Herausforderungen stellen und transnationale Lösungen erfordern. Sie zeigen zugleich an, dass man zu kurz greift, wenn man die Ökonomisierung sozialer Dienste als ursächlich für die Transformation des Sozialstaats ansieht – sie ist letztlich nur ein (umstrittener) Ansatz zur Bewältigung der Herausforderungen der sozialen Sicherung infolge des gesellschaftlichen Wandels. Eine politische Strategie dabei ist, soziales Unternehmertum (Heinze/Schneiders/Grohs 2011) zu stärken und die Entwicklung sozialer Innovationen zu fördern (Eurich/Glatz-Schmallegger/Parpan-Blaser 2018) sowie mehr privates Kapital für soziale Zwecke zu mobilisieren (Social Impact Bonds 2014). Social Start-Ups haben den Anspruch, durch die Entwicklung sozialer Innovationen spezifische Bedürfnisse von Menschen oder bestimmte Aspekte sozialer Dienstleistungen besser als bislang gestalten zu können – und dies zum Teil auch noch günstiger für die öffentliche Hand. Soziale Innovationen werden jedoch nicht nur von Social Start-Ups, sondern auch von den etablierten Wohlfahrtsverbänden bzw. deren diakonischen Unternehmen generiert (Eurich/Glatz-Schmallegger 2019). Insgesamt ist es notwendig, die sich abzeichnenden Prozesse in der Weiterentwicklung des sozialen Dienstleistungssektors anhand ethischer Prinzipien mitzugestalten, um die Dominanz ökonomischer Zwecke über nicht-ökonomische Zwecke aufzufangen (Moos 2017, S. 37). Ein Kriterium dabei ist die Beantwortung solcher sozialen Bedürfnisse, die weder durch den Markt noch durch den öffentlichen Sektor ausreichend aufgegriffen werden; ein anderes, ob das Dienstleistungsangebot die Selbstbestimmung und Partizipation der unterschiedlichen Akteure (Nutzer, Beschäftigte, Freiwillige etc.) befördert; ein weiteres, wie effizient die vorhandenen Mittel eingesetzt werden und nicht zuletzt, wie passgenau eine Dienstleistung auf den betroffenen Menschen zugeschnitten ist. Schließlich soll immer der einzelne Mensch im Fokus stehen, dessen soziale Notlage in der Sozialökonomie angemessen beantwortet werden soll.
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32 Spitzenverbände als politische Akteure: Grundlagen und Herausforderungen der politischen Arbeit der (konfessionellen) Wohlfahrtsverbände Eva Welskop-Deffaa
„Unser Ziel ist nicht, feuchte Wände mit caritativer Tapete zu bekleben.“ Carl Sonnenschein, Caritaspflicht. Rede auf dem 66. Deutschen Katholikentag (1927)
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Selbstverständnis und Auftrag (konfessioneller) Wohlfahrtsverbände
„Caritas wird konkret, sobald Menschen die Notlage anderer wahrnehmen und gemeinsam helfen. Das geht insofern über Nächstenliebe als persönliche Tugend hinaus, als es gemeinsam geschieht“ (Puschmann 2016). Diakonisches Handeln braucht die gemeinsame Anstrengung, so wie der barmherzige Samariter in der Gleichniserzählung des Evangeliums ein Gasthaus zur Unterstützung braucht, „weil er es momentan nicht allein schaffen konnte.“ Es bedarf der vereinten Kräfte, „die die Institutionen einer organisierten, freien und kreativen Gesellschaft schaffen können“ (Fratelli Tutti 2020, RdNr. 165). Die Institutionengeschichte und das Selbstverständnis der konfessionellen Wohlfahrtsverbände sind geprägt von der Überzeugung, dass die Hilfe für Arme und die Überwindung von Ausgrenzung gemeinschaftlich erfolgreicher gelingen. 1 Jenseits anderer Formen gemeinschaftlichen Engagements von Christen 1 Constantin Noppel warb in der Denkschrift von 1915, in der er die Anerkennung des Deutschen Caritasverbandes durch die Deutsche Bischofskonferenz vorbereitete, für die Notwendig-
Spitzenverbände als politische Akteure
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und Christinnen gegen Armut und Not zeichnen sich die Wohlfahrtsverbände als „Sozialleistungsverbände“ (Schmid/Mansour 2007, S. 244), durch die für sie identitätsstiftende Verknüpfung dreier Funktionen aus: Es geht um die organisatorische Integration der (zur Ausführung von Sozialleistungen erforderlichen) sozialen Dienste und Einrichtungen und um die advokatorische Vertretung der Interessen derer, die – in besonderer Notlage – ihre Interessen nicht selbst wirksam vertreten können. Im wohlfahrtsverbandlichen Spannungsdreieck (Welskop-Deffaa 2019, S. 25) kommt ihnen darüber hinaus die Aufgabe zu, Möglichkeitsräume freiwilligen Engagements zu schaffen und zu Bündnissen der Solidarität anzustiften. Aus der programmatischen Verknüpfung dieser drei Grundfunktionen entstehen Besonderheiten des Wohlfahrtsverbandes, die seine politische Arbeit von der Arbeit anderer Sozialverbände oder Hilfsorganisationen unterscheiden. Ausdrücklich ist bei Spitzenverbänden der Freien Wohlfahrtspflege davon auszugehen, dass sie „nicht nur einzelne Arbeitszweige betreiben“, sondern sich räumlich und fachlich umfassend auf dem gesamten Gebiet der Wohlfahrtspflege betätigen, was „eine gewisse Schwerpunktbildung nicht ausschließt“ (Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege 1985, S. 12). Die politische Arbeit der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ist also geprägt vom Charakter eines „Mehrspartenhilfswerk mit Schwerpunkten“ (Altermatt 2002, S. 30), was die Instrumente, Erfolgsbedingungen und Herausforderungen ihrer politischen Interessenvertretung bestimmt. „Wider die Paradoxie sich gegenseitig (scheinbar) ausschließender Anliegen in einer Welt voller komplexer Gleichzeitigkeiten geht es um die Verbesserung von Teilhabechancen durch Überwindung von Grenzen aller Art – durch anwaltschaftliches Reden und solidarisches Handeln, durch Engagement und Empowerment“ (Deutscher Caritasverband 2020, S. 27). Was für alle Wohlfahrtsverbände grundsätzlich ähnlich gilt – die Ausrichtung am wohlfahrtsverbandlichen Spannungsdreieck (s. Abb.1) – ist für Diakonie und Caritas durch die ethisch-religiöse Begründung ihrer Arbeit in besonderer Weise motiviert: „Unser Glaube spricht durch Taten“, heißt es im Leitbild der Diakonie von 1997 (Maaser/Schäfer 2016, S. 588). Ein Netz von Diensten sozialer Infrastruktur selbst ausspannen zu können und/oder für seinen Ausbau durch Dritte zu sorgen, steht im Mittelpunkt der politischen Arbeit.
keit, die „in kleine Vereine zersplitterte und in Harmlosigkeit nach alten Rezepten arbeitende katholische Armen-, Kinder- und Jugendpflege“ so zusammen zu führen, dass sie den „neuen schweren“ Aufgaben gewachsen ist (Noppel, 1915, S. 9).
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Abbildung 1: Das wohlfahrtsverbandliche Spannungsdreieck
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Subsidiarität – Zur politischen Geschichte der Spitzenverbände von Caritas und Diakonie
Im deutschen Sozialstaatsverständnis werden Leistungen der sozialen Infrastruktur nicht allein von öffentlichen Stellen, sondern im Zusammenspiel von öffentlichen und privaten Leistungserbringern vorgehalten. Ihr Verhältnis zueinander und ihr (gemeinsames) Verständnis von Subsidiarität sind immer wieder neu auszuhandeln. Der deutsche Sonderweg starker Sozialleistungsverbände beruht dabei „auf politischen, sozialen und historischen Voraussetzungen, die die Formierung und das Fortbestehen der Wohlfahrtsverbände und ihres Zusammenspiels mit öffentlichen Partnern erst ermöglicht haben. Den konfessionellen Wohlfahrtsverbänden kam dabei eine Pionierrolle zu, auch indem sie die Rahmenbedingungen für die Freie Wohlfahrtpflege in der Weimarer Republik politisch systematisch mit gestalt(et)en. Die im Kaiserreich deutliche Konkurrenz zwischen Caritas und Innerer Mission einerseits und das Misstrauen gegenüber „Monopolbestrebungen der öffentlichen Wohlfahrtspflege“ andererseits (Noppel 2015, S. 3) wurden seit dem Ersten Weltkrieg zugunsten der pragmatischen Nutzung von Mitgestaltungsoptionen zurückgestellt. Der in Freiburg beheimatete Deutsche Caritasverband errichtete 1918/19 unter Leitung des späteren Caritas-Präsidenten Benedikt Kreutz eine Geschäftsstelle in Berlin, die er für den Aufbau eines politischen Netzes in die Ministerien nutzte. 1921 folgte in der Reichshauptstadt auf Initiative der konfessionellen Wohlfahrtsverbände die Gründung der Reichsgemeinschaft von Hauptverbänden der freien Wohlfahrtspflege (seit 1924 als „Deutsche Liga der freien Wohlfahrts-
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pflege“). Mit ihr erreichten die Spitzenverbände eine erhebliche Stärkung ihrer Position und die organisatorische Voraussetzung produktiver Partnerschaft mit der öffentlichen Wohlfahrtspflege (Deutscher Caritasverband 1972, S. 90). Trotz unterschiedlicher Haltungen und Erfahrungen der Akteure der Freien Wohlfahrtspflege während des Nationalsozialismus gelang es bald nach dem Zweiten Weltkrieg in der Bundesarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege an die in der Weimarer Republik erprobten Formen der politischen Zusammenarbeit anzuknüpfen. Treiber waren die konfessionellen Wohlfahrtsverbände, die im Neuaufbau eines demokratischen Sozialstaates den Autonomieraum für ihre soziale und politische Arbeit abzusichern suchten; Abhängigkeitsgefahren, die durch einseitige Finanzierung aus öffentlichen oder kirchlichen Haushalten drohen könnten, sollten gleichermaßen gebannt werden. Parallel wurden intern für die politische Arbeit erfolgskritische Fragen geklärt im Caritasverband zum Zusammenwirken von Zentrale und Diözesenverbänden, auf evangelischer Seite zum Miteinander von Centralausschuss für die Innere Mission und Evangelischem Hilfswerk (Hammerschmidt 2005, S. 113 ff). 3
Instrumente und Adressat:innen politischen Handelns der Spitzenverbände
Adressat:innen der politischen Arbeit der Spitzenverbände sind in erster Linie Bundestag und Bundesrat und Entscheidungsträger:innen in den öffentlichen Verwaltungen des Bundes – in den Ministerien, Sozialversicherungen und nachgeordneten Behörden (wie z.B. im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge). Adressat:innen sind aber auch die politische Öffentlichkeit, über die Meinungsbildung im politischen Raum vorbereitet wird und Gerichte, namentlich das Bundessozialgericht und das Bundesverfassungsgericht. Sie konkretisieren mit ihren Entscheidungen die Auslegung von sozialpolitisch einschlägigen Gesetzen und sind damit für das Verwaltungshandeln orientierend. Sie initiieren darüber hinaus ganz unmittelbar die Weiterentwicklung der Gesetzgebung, indem sie Nachbesserungsbedarfe anmelden (prominent das Urteil des BVerfG zum menschenwürdigen Existenzminimum vom 9. Februar 2010 mit kurzer Nachbesserungsfrist bis Jahresende 2010). Im Vergleich zur Gründungszeit der Bundesrepublik hat sich die Zahl der für die politische Arbeit der Wohlfahrtsverbände relevanten Adressaten erheblich vervielfältigt, nicht zuletzt, weil neben der nationalen die europäische Ebene unabdingbar mit zu adressieren ist. Zugleich ist das Zusammenspiel der Ressorts in ihren Egoismen und Verschränkungen ein virtuos vibrierendes Entscheidungs-Netz, in dem drängende Fragen häufig parallel in (Enquete-) Kommissionen des Bundestags, Stäben einzelner Ministerien, Spezial-Kabinetten unter Federführung des Kanzleramts und Beiräten/Berichtsaufträgen bearbeitet werden. Die gleichzeitige Wahrnehmung von Einladungen in alle Runden Tische und Konzertierten Aktionen ist mit begrenzten Ressourcen von den Wohlfahrtsverbänden nicht zu leisten (Jahrbuch für Christliche Sozialwissen-
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schaften 2013, S. 36). Neben den zahlreicher werdenden „Beauftragten“ und Gipfeltreffen der Bundesregierung entfalteten Stiftungen (z.B. Stiftung digitale Chancen, Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration, Deutsche Stiftung für Engagement und Ehrenamt) eigene AgendasettingMacht, so dass sie als potenzielle Verstärker von den Wohlfahrtsverbänden nicht übergangen werden können. Die Instrumente, mit denen sich die Spitzenverbände in dieser AdressatenLandschaft Gehör verschaffen, sind passgenau einzusetzen. Dabei ist vor allem zu beachten, dass in für die Wohlfahrtspflege wichtigen Sachfragen in der föderalen Demokratie die Verantwortlichkeiten aufgeteilt bzw. nur im Zusammenspiel verschiedener Ebenen wahrzunehmen sind. Eine erfolgreiche MitGestaltung der politischen Rahmenbedingungen der wohlfahrtsverbandlichen Arbeit macht ein abgestimmtes Vorgehen auf Bundes- und Landesebene (z.B. über Bundesrat und Fachministerkonferenzen) unbedingt erforderlich. Die während der Corona-Pandemie so deutlich sichtbar gewordene und vielfach kritisierte Praxis „koordinierten Regierens“, die eine intergouvernementale Koordination zwischen Bund und Ländern mit Machtverschiebungen zugunsten der Exekutive impliziert, ist schon länger „eher die Normalität“ (Benz 2020, S. 333). Die Parteien sind im Vergleich dazu in ihrer Rolle des Interessenausgleichs geschwächt (Benz 2020, S. 336 und Jahrbuch der Christlichen Sozialwissenschaften 2013, S. 27). Die Ansprache der Vertreter:innen der kommunalen Partner (über den Deutschen Verein als Forum sozialpolitischen Austauschs und über direkte Kontakte zu den kommunalen Spitzenverbänden) hingegen ist für viele Anliegen der Wohlfahrtsverbände von großer, gelegentlich unterschätzter Bedeutung. Thematische Priorisierung, Identifikation wichtiger Ansprechpartner:innen und konzentrierte Abstimmung zwischen den Wohlfahrtsverbänden – dies sind Grundvoraussetzungen erfolgreicher politischer Arbeit für die Wohlfahrtsverbände. Für die wirksame Übermittlung der entscheidenden Botschaften in einem hektischen politischen Betrieb sind das persönliche Gespräch, das gemeinsame Vorverständnis und das Vertrauen in gleichgerichtete Werte unabdingbar. Diese Voraussetzungen lassen sich nur durch kontinuierliche Präsenz aufbauen. Die Erfahrungen der Corona-Monate, die im Berliner Betrieb zu einem brüsken Ende der parlamentarischen Abende, politischen Frühstücke, Sommerfeste und Podiumsgespräche geführt haben, haben die Bedeutung der dort in den letzten Jahren ausgetauschten Handynummern unübersehbar unterstrichen. Die wichtigen langfristigen Investitionen in Beziehungen und Vertrauen müssen im alltäglichen politischen Geschäft durch hyperkurzfristige Reaktionsfähigkeit flankiert werden, wenn sie sich für die politische Arbeit der freien Wohlfahrtspflege auszahlen sollen. Nur wer der zuständigen Referatsleiter:in übers Wochenende die gesetzestauglichen Formulierungsalternative übermitteln und wer innerhalb von Tagesfrist Zahlen belastbar korrigieren kann, auf denen irrige Vorschläge fußten, hat Aussicht, nachhaltig wirksam zu sein.
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Auch die gegenseitige Durchlässigkeit von verbandlichen und politischen Führungsämtern bietet für das Gelingen eines vertrauens- und kenntnisbasierten Miteinanders Chancen. Was zu Agnes Neuhaus oder Helene Weber 2 in ihrer Parlamentarierinnen-Laufbahn als glückliche Vernetzung von politischen und Verbandsämtern beschrieben wird (Muschiol/Welskop-Deffaa 2014, S. 80), wird knapp hundert Jahre später den handelnden Akteur:innen allerdings nicht automatisch positiv angerechnet. Je stärker Freie Wohlfahrtspflege – als „Sozialwirtschaft“ apostrophiert – als Vertreterin eigener ökonomischer Interessen wahrgenommen wird und nicht mehr als „Feuerwehr des Sozialen“, umso mehr werden personelle Verbindungen unter Compliance-Gesichtspunkten misstrauisch beobachtet. Unabdingbar wichtig ist es, bei der politischen Kontaktpflege transparent und spielregelkonform vorzugehen, soll das Vertrauen in die Begründetheit der Nähe von Politik und Freier Wohlfahrtspflege nicht zerstört werden. Vertrautheit mit den und Verständnis für die Aufgaben der Freien Wohlfahrtspflege können wirkungsvoll durch Verzahnung von Fachgesprächen auf der Berliner Bühne mit der Ansprache von Abgeordneten im Wahlkreis (durch den örtlichen Caritasverband/diakonischen Träger) erreicht werden. Eine Hospitation in einer Hospizeinrichtung vor Ort wird die Haltung eines Bundestagsabgeordneten zu Fragen assistierten Suizids unter Umständen intensiver beeinflussen als ein Kongress in der Hauptstadt. Es geht – grundsätzlich formuliert – um die ebenenübergreifende Orchestrierung der politischen Arbeit der Wohlfahrtsverbände. Innerverbandliche Information und Kommunikation ist im Wissen um die skizzierten Zusammenhänge wichtiger Teil der (nach außen zielenden) politischen Arbeit: Es wird die Leiterin der Altenhilfeeinrichtung umso eher Gespür für die strategische Bedeutung des Abgeordnetenbesuchs haben, je umfassender sie über die politische Agenda ihres Spitzenverbands intern informiert ist. Und es wird die Pressereferent:in des Spitzenverbandes umso schneller eine Praktiker:in für ein Hintergrundgespräch finden, je aufmerksamer der Spitzenverband bei der Formulierung politischer Forderungen das Ohr an den Bedarfen der Praxis hat. Innerverbandliche Partizipation und Vernetzung sind entscheidende Voraussetzungen ebenenübergreifend abgestimmter politischer Arbeit. Beide konfessionelle Wohlfahrtsverbände haben dabei sehr gute Erfahrungen mit ihren (Jahres/Mehrjahres-)Kampagnen gemacht. Sie unterstützen ein verbandliches „Gemeinschaftswissen“ von dem, was dringlich in die Öffentlichkeit und in die Politik zu tragen ist. Was beim Deutschen Caritasverband 2018 die Wohnungspolitik und 2019 die Kampagne „sozial braucht digital“ (Welskop-Deffaa 2020b, S. 26 f.), war für die Diakonie 2017 die Kampagne „Türen öffnen“ zum Reformationsjubiläum und im Folgejahr die Kampagne „UnerAgnes Neuhaus war Gründerin des Sozialdienstes Katholischer Frauen, Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und des Reichtags; Helene Weber war u.a. Vorsitzende des Verbandes der katholischen Sozialbeamtinnen und sowohl Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und des Parlamentarischen Rates als auch des Dt. Bundestags.
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hört“ gegen Ausgrenzung und Gleichgültigkeit. Um auf den Aufmerksamkeitsmärkten (Reckwitz 2017, S. 109) der Mediendemokratie mit Grundüberzeugungen in der Breite durchzudringen, haben sich verbandliche Kampagnen mit ihren Mitmachangeboten an die örtlichen Gliederungen und Mitglieder bewährt. Eventartige Aktionen – wie die Badewanne auf der Domplatte, mit der die Caritas in vielen Städten auf die Wohnungsnot aufmerksam machte – erzielen Presseöffentlichkeit und erzeugen optimistische SelbstwirksamkeitsStimmung bei den Mitwirkenden (Haupt- und Ehrenamtlichen ebenso wie Betroffenen). Die Kampagnen der Spitzenverbände werden typischerweise von den Soziallotterien finanziell unterstützt, die so zu strategischen Partnerinnen werden. Reden und Handeln müssen für nachhaltig erfolgreiche politische Arbeit auf allen Ebenen wohlfahrtsverbandlicher Aktivitäten zusammenpassen. Jeder Anschein ungerechtfertigter Bereicherung oder sonstigen Fehlverhaltens kann weit über den (regionalen) Verantwortungsbereich hinaus vertrauensschädigende Wellen erzeugen. Die große Kluft zwischen Reden und Handeln, die die Glaubwürdigkeit von Kirchen und Klerus durch die „Missbrauchsskandale“ nicht enden wollend erschüttert, bleibt dabei nicht ohne Auswirkungen auf die Vertrauenswürdigkeit der konfessionellen Wohlfahrtsverbände. Anforderungen an politische Arbeit der Spitzenverbände lassen sich auch fachlich gewichten und beschreiben: Die schlüssige Darstellung belastbarer Daten und Fakten aus dem Fachgebiet, um dessen politische Regelung es geht, hat herausragende Bedeutung. Datenkompetenz ist elementare Voraussetzung erfolgreicher politischer Aktion. Die Organisation der Daten aus der operativen wohlfahrtsverbandlichen Arbeit – wie viele Beratungsstunden wann zu welchem Thema für wen? – muss modernen Standards genügen (Welskop-Deffaa 2020b, S. 36). Was in der Gründungszeit der Verbände die Sorge um geeignete Statistik und eine zuverlässige Bibliothek (Deutscher Caritasverband 1972, S. 12), ist heute die Notwendigkeit einer gemeinwohlorientierten Datennutzung und digital gestützten Datenverarbeitung. Die Anforderung an Datenkompetenz zielt aber nicht nur auf das eigene verbandliche Datenmanagement, sie richtet sich auch als Forderung an die Politik. Um in einem sozialen Handlungsfeld nachhaltig politischen Handlungswillen zu erzeugen, muss die Generierung der Daten, die den sozialen Handlungsbedarf sichtbar machen, politisch durchgesetzt werden: Wenn die Verbände eine bundeseinheitliche Wohnungslosenstatistik fordern, dann um mit diesem Instrument anschließend konkrete Handlungsbedarfe für Wohnungslose besser begründen zu können. Sukzessive wird diese zweite Datendimension überlagert durch eine dritte: Die „Quantifizierung des Sozialen“ hat in Zeiten von Big Data und KI das Potenzial, ein „Regime der Ungleichheit“ hervorzubringen, in dem Menschen immerfort bewertet und mit anderen verglichen werden (Mau 2017, S. 286). Sozialpolitik der Freien Wohlfahrtspflege muss daher kritische Datenpolitik sein, die sich einer ungebremsten Vermessung der Welt mindestens dann kompetent
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widersetzt, wenn diese die Grundlagen der Solidarität in Frage stellt (Allmendinger 2020, S. 73). Fachliche Qualität politischer Arbeit endet nicht bei der Aufbereitung und kritischen Befragung von Daten. Kreativität und Qualität der juristisch-fachlichen Auseinandersetzung gehören gleichermaßen zu dem, was politische Arbeit der (konfessionellen) Spitzenverbände auszeichnet. Das gilt für Stellungnahmen in Gesetzgebungsverfahren und ggf. noch stärker für Stellungnahmen, die vor obersten Bundesgerichten abgegeben werden. Für die Durchsetzung eines sozialrechtlichen Existenzminimum-Konzepts, das mit dem Menschenwürdeverständnis der konfessionellen Wohlfahrtsverbände zusammenpasst, waren die Positionierungen vor dem Bundesverfassungsgericht nach Einschätzung derer, die 2010 dabei waren, mindestens ebenso wichtig wie mancher Brief an Bundesminister und Abgeordnete. Der Caritasverband verfügt – jenseits der skizzierten Instrumente, die alle Spitzenverbände in ähnlicher Weise nutzen – über ein weiteres satzungsmäßiges Instrument: den alle drei Jahre stattfindenden Caritaskongress (Lüttig/ Welskop-Deffaa 2019, S. 67). In einer Zeit, in der Gesellschaft und Politik nicht mehr automatisch wissen, was ein Wohlfahrtsverband ist und inwiefern die gemeinnützige Leistungserbringung spezifisch dazu beiträgt, ein Netz sozialer Infrastruktur verfügbar zu halten, das solidarisch trägt, kann dieses Wissen auch in der Mitarbeiterschaft nicht schlicht vorausgesetzt werden. Als Familientreffen, das sich als Austauschort guter Ideen versteht, ist der Caritaskongress ein Kaleidoskop verbandlicher Leistungsfähigkeit. 4
Politische Interessenvertretung der konfessionellen Wohlfahrtsverbände im Zusammenspiel mit Partnern und Betroffenen
Caritas und Diakonie können, so Georg Hüssler, Präsident des Deutschen Caritasverbandes, anlässlich des 75. Geburtstags des Verbandes, „keine Not ausschließen und niemanden einer helfenden oder gar rettenden Zuwendung berauben.“ Es bedürfe einer Ökonomie der Liebe, „die nicht in Versuchung kommen darf, noch einmal zu tun, was schon vorhanden“ ist (Deutscher Caritasverband 1972, S. 18). Kooperationen und, Absprachen sind elementar für das politische Verständnis einer solchen „Ökonomie freier Liebestätigkeit“. Ihr Funktionieren ist mit dem wenig glanzvollen Korporatismus-Begriff bezeichnet worden (Ceylan/Kiefer 2017, S. 213 f.) und hat mit der Verwettbewerblichung sozialer Dienste und Einrichtungen in den 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts einen Bruch erfahren. Der Modernisierungsschub, der der Wohlfahrtspflege mit der Ökonomisierung ihrer Dienste verpasst wurde, befreite sie von einem paternalistischen Selbstverständnis, besser als die betroffenen Notleidenden zu wissen, was ihnen guttun werde. Möglichkeiten und Grenzen advokatorisch-stellvertretenden politischen Redens wurden kritisch reflektiert; dem Empowerment der Betroffenen zur eigen-mächtigen Interessenvertretung
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wurde schrittweise der Stellenwert zugestanden, der einem befähigenden Verständnis sozialer Arbeit entspricht (Welskop-Deffaa 2020a, S. 176 f.). Die Gründung der Nationalen Armutskonferenz 1991 (durch Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften und Selbsthilfeorganisationen) und das von ihr 2006 erstmals organisierte Treffen von Menschen mit Armutserfahrung sind Ausdruck dieser Neuorientierung (www.nationale-armutskonferenz.de). Ein ressourcensparsames Netz sozialer Infrastruktur profitiert von der verlässlichen Kooperation der gemeinwohlorientierten Akteure. Neben der grundlegenden Zusammenarbeit in der BAGFW und im Deutschen Verein sind andere, neue Bündnisse in einzelnen Sach- und Fachfragen unentbehrlich. Die für die politische Arbeit entscheidende Bündnisstärke der konfessionellen Wohlfahrtsverbände beginnt bei der Zusammenarbeit mit den eigenen Fachverbänden. Die Wertschätzung politischer Stellungnahmen der Wohlfahrtsverbände gründet sich u.a. darauf, dass diese eine spartenübergreifende Kompromisssuche leisten. Auf diesen Pfad schwenken politische Entscheider:innen – selbst auf der Suche nach tragfähigen Kompromissen – gerne ein. Es stärkt darüber hinaus ihr wohlfahrtsverbandliches Gewicht, dass sich Hilfe in Not für sie nicht auf die Not im Inland beschränkt. Bei der Gestaltung einer solidarischen Flüchtlingspolitik etwa, in der Fluchtursachenbekämpfung, Rückkehrberatung und Resettlement-Abkommen ihren Platz haben, sind Caritas und Diakonie als Wohlfahrtsverbände mit ihren internationalen Hilfswerken wertgeschätzte Partner. Auch das (ökumenische) Miteinander der beiden konfessionellen Spitzenverbände mit katholischem Büro und evangelischem Bevollmächtigten gehört zu jenen Partnerschaften in der politischen Arbeit, die – allen dramatischen kirchlichen Krisen zum Trotz – das Gewicht der Argumente für eine soziale Agenda erhöhen. Neue schlagkräftige Partnerschaften auf Zeit und Bündnisse für besondere Anliegen zu initiieren, zählt zu den politischen Aufgaben, die in den nächsten Jahren zu intensivieren sind. Dies ist nicht gegen oder ohne die BAGFW zu denken, aber als überzeugend choreographierte Ergänzung. Ein glückliches Beispiel aus der jüngsten Zeit stellt das von Diakonie-Vorständin Maria Loheide initiierte Pflegegipfelbündnis dar. Auf ihr gemeinsames Schreiben hin sprach Kanzlerin Angela Merkel im Oktober 2020 eine Einladung an das Dachgremium der Konzertierten Aktion Pflege aus und warb dort für eine Pflegereform (noch in der laufenden Legislaturperiode). Ein anderes Beispiel ist die Beteiligung der Wohlfahrtsverbände an der Initiative „Digital für alle“ (angestoßen durch den Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommunikation und neue Medien Bitkom e.V./digitaltag.eu).
Spitzenverbände als politische Akteure
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Politik des Vertrauens - #DasMachenWirGemeinsam 3
Tatsächlich ist die Digitalisierung die nächste Herausforderung, die die Wohlfahrtsverbände zu bestehen haben. Sie verändert die Möglichkeiten und Methoden politischer Arbeit (Online-Petitionen, social-media-Kampagnen), sie verändert die eigene operative Leistungserbringung (Stichwort: Online-Beratung) und sie beeinflusst die Themen der politischen Agenda. Digitalisierung verstärkt herausfordernd Dynamiken gesellschaftlicher In- und Exklusion. Wesentlich verändert sich mit der Digitalisierung der öffentlichen Verwaltung auch das subsidiäre Verhältnis von öffentlicher und Freier Wohlfahrtspflege (vor allem über die mit dem Online-Zugangsgesetz initiierte Plattformisierung sozialer Verwaltungsleistungen; s. Welskop-Deffaa 2019, S. 29). Es geht für die Wohlfahrtsverbände darum, 1. Solidaritätsstifterin und politische Seismographin in der Plattformökonomie zu bleiben und 2. eine Politik des Vertrauens zu unterstützen.
Abbildung 2: Das wohlfahrtsverbandliche Spannungsdreieck in der digitalen Transformation
#DasMachenWirGemeinsam ist der Claim der Jubiläumskampagne 2021/22 des Deutschen Caritasverbandes. Im Zuge der Kampagne werden Fragen vorangegangener Kampagnen fortgeführt und das tradierte sozialpolitische Verständnis des „Akteursnetzwerks Wohlfahrtsverband“ einer Prüfung unterzogen.
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Zu 1.: Digitalisierung verstärkt einen bereits mit der Verwettbewerblichung sozialer Dienste eingeleiteten Prozess: Es wird immer schwerer, die drei Funktionsbereiche wohlfahrtsverbandlichen Seins – Anwältin für Menschen in Not, Möglichkeitsraum ehrenamtlichen Engagements und Anbieterin von sozialen Diensten – in ihrem Zusammenhang erfahrbar zu halten: Der „seismographische Kern“ schrumpft (Welskop-Deffaa 2019, S. 25). Eine Nach-Hinten-Verteidigung wird angesichts der Dynamiken der Plattformwelten nicht funktionieren. Stattdessen muss die politische Arbeit der Spitzenverbände darauf gerichtet sein, das Verhältnis der drei Grunddimensionen neu zu bestimmen (vgl. Abb. 2) und durch aktive Mitgestaltung der Spielregeln öffentlicher und privater Online-Plattformen den gemeinsamen Fokuspunkt des Spannungsdreiecks sichtbar zu halten. Konnektivität – Anschlussfähigkeit, Erreichbarkeit – wird sich als Anforderung an wohlfahrtsverbandliche Angebote auf Märkten, die von digitalen Plattformen geprägt sind, nur einlösen lassen, wenn die politische Mitgestaltung dieses „Neulands“ als Verbandsentwicklungsprojekt ernst genommen wird. Zu 2.: Die Zukunft des Sozialstaats und die Möglichkeiten solidaritätsstiftender Politik sind von Voraussetzungen abhängig, die die politisch Verantwortlichen alleine nicht schaffen können. Es braucht Vertrauen in die Demokratie. Dieses setzt eine Kultur des Vertrauens voraus, die über das „kleine Wir“ in Familien und Freundeskreisen hinausreicht. Jutta Allmendinger hat beim Caritaskongress 2019 die Zusammenhänge nachdrücklich hervorgehoben: Neben den Sphären des Privaten und der Arbeit sind „dritte Orte“ als öffentliche Orte der Vertrauensbildung von Bedeutung, an denen Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen und Einstellungen im Alltag miteinander in Kontakt kommen. Wer „von Armut in ihren vielen Formen betroffen ist, wird von wesentlichen Chancen der Gestaltung des eigenen wie des gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen. Das Ergebnis ist Vertrauensarmut“ (Allmendinger, Wetzel 2020, S. 75). Ihr ist entschlossen entgegen zu wirken, damit Demokratie nicht ihrerseits verarmt. Verteilungspolitik, Bildungspolitik und das Eintreten für den Erhalt der sozialen Infrastruktur („gleichwertige Lebensverhältnisse“) sind in einer „Politik des Vertrauens“ eng miteinander verbunden. Kirchen, Pfarrbüchereien und Jugendheime waren (und sind) Orte der Begegnung von Ungleichen, Bausteine einer Infrastruktur des Alltags, die es zu erhalten und zu beleben gilt. Auch Bahnhöfe! (Lutz/Nikles/Sattler 2013, S. 91 ff.) Attraktive Möglichkeitsräume ehrenamtlichen Engagements für einkommensarme Jugendliche und/oder für Migrant:innen mit abgeknickter Bildungsbiographie zu schaffen, wird in diesem Verständnis zu einem politischen Projekt: Brückenkapital gegen Vertrauensarmut, Arbeit an der Zukunft der Demokratie. Diesen Teil ihrer politischen Arbeit sollen und wollen die konfessionellen Wohlfahrtsverbände nicht vernachlässigen.
Spitzenverbände als politische Akteure
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E. Welskop-Deffa
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Leiten und Gestalten
33 Führung und Organisationsentwicklung Petra Mund
Führung und Organisationsentwicklungen sind auch in Organisationen, Einrichtungen und Diensten von Caritas und Diakonie von besonderer Bedeutung. Unterstützende Führungs- und Organisationsstrukturen sind sowohl im Zusammenhang mit dem Fachkräftemangel im sozialen Bereich als auch im Wettbewerb mit anderen sozialen Trägern erforderlich. Vor der Auseinandersetzung mit Fragestellungen der Führung und Organisationsentwicklung stehen einige grundlegende Bemerkungen zur sozialstaatlichen Eingebundenheit und den gleichzeitig bei Organisationen, Einrichtungen und Diensten von Caritas und Diakonie bestehenden Besonderheiten gegenüber anderen sozialen Trägern. 1
Einführung
Generell werden in Deutschland die vielfältigen Leistungen und Angebote der Sozialen Arbeit bzw. des sozialen Sektors durch öffentliche, freigemeinnützige und privatgewerbliche Träger erbracht. Zu den freigemeinnützigen Trägern der Sozialen Arbeit zählen neben zahlreichen eigenständigen Organisationen, Jugendverbänden, Selbsthilfe- und Initiativgruppen auch die großen Wohlfahrtsverbände, die Kirchen und die Religionsgemeinschaften des öffentlichen Rechts. Diese Gesamtheit der nicht-staatlichen gemeinnützigen Träger wird als Freie Wohlfahrtspflege bezeichnet (Bieker 2011). Inhaltlich wie rechtlich sind die Organisationen der Freien Wohlfahrtspflege teilweise sehr different. Ihr verbindendes Merkmal ist, dass sie im Unterschied zu den gewerblichen Organisationen nicht gewinnorientiert, sondern am Gemeinwohl orientiert arbeiten und als gemeinnützig anerkannt sind (Mund 2019). Caritas und Diakonie, als die sozialen Dienste der katholischen bzw. evangelischen Kirche, sind zentrale Bestandteile der Freien Wohlfahrtspflege. Als katholischer (Caritas) bzw. evangelischer Wohlfahrtsverband (Diakonie) bieten sie mit ihren zahlreichen eng mit der katholischen bzw. evangelischen Kirche verwobenen Organisationen, Einrichtungen und Diensten – wie z.B. Kindertageseinrichtungen, Pflegedienste, Beratungsstellen, Wohnheime für Menschen mit Behinderungen, Kranken-
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häuser, Obdachloseneinrichtungen oder Frauenhäuser – vielfältige soziale Leistungen an. Daneben setzen sich Caritas und Diakonie gemeinsam mit den anderen Wohlfahrtsverbänden auf kommunaler, Landes- und Bundesebene in Ligen und Arbeitsgemeinschaften für die Belange ihrer Zielgruppen ein. Damit leisten Caritas und Diakonie – und mit ihnen die Freie Wohlfahrtspflege insgesamt – einen wichtigen Beitrag zur sozialen Sicherung. Dabei unterscheiden sich jedoch Caritas und Diakonie in ihrem Selbstverständnis von anderen freigemeinnützigen sozialen Organisationen. Als Einrichtungen und Dienste der katholischen bzw. evangelischen Kirche leisten Caritas und Diakonie einerseits soziale Dienste für Menschen und übernehmen dadurch sozialstaatliche Aufgaben. Andererseits verkörpern sie mit diesen Leistungen gleichermaßen auch eine christliche Grundhaltung gegenüber den Menschen und dem Leben. Sie stehen damit für die christlichen Werte der katholischen bzw. evangelischen Kirche. Die sozial-caritativen bzw. diakonischen Einrichtungen und Dienste, verstanden als Dienste der Liebe, sind, wie die Verkündigung Gottes und die Feier der Sakramente, ein unverzichtbarer Wesensausdruck der Kirche (Benedictus PP XVI). Aus dieser, für die Organisationen, Einrichtungen und Dienste kirchlicher Wohlfahrtsverbände konstitutiven Gleichzeitigkeit von sozialstaatlicher Leistungserbringung und kirchlichem Auftrag ergibt sich für die Auseinandersetzung mit Fragen der Führung und Organisationsentwicklung keine grundsätzlich andere oder spezifische Betrachtungsweise. Gleichwohl gilt es, sich diese Besonderheit, durch die sich die Organisationen, Einrichtungen und Dienste von Caritas und Diakonie gegenüber anderen freigemeinnützigen Organisationen auszeichnen, gerade auch im Kontext von Führung und Organisationsentwicklung bewusst zu machen. Nur eine Berücksichtigung dieser Spezifika garantiert die ganzheitliche Betrachtungsweise von Fragestellungen rund um Führung und Organisationsentwicklung in kirchlichen Wohlfahrtsorganisationen. Vor einer Auseinandersetzung mit zentralen Aspekten zu den Themen Führung und Organisationsentwicklung im Kontext von Organisationen, Einrichtungen und Diensten von Caritas und Diakonie steht daher eine Skizzierung der historischen Wurzeln sowie der aktuellen Verfasstheit von Caritas und Diakonie. 2
Caritas und Diakonie – kirchliche Wohlfahrtsverbände mit Tradition
Der Deutsche Caritasverband (DCV) wurde am 9. November 1897 durch Lorenz Werthmann gegründet. Leitend für die Arbeit der Caritas und Ausdruck des christlichen Gebots der Nächstenliebe ist das Motto „Not sehen und handeln“. Der DCV ist dezentral strukturiert. Entsprechend der Aufteilung des katholischen Deutschlands gliedert er sich in 27 Diözesan-Caritasverbände mit 539 Regional- und Orts-Caritasverbänden. Dem DCV sind zum Stichtag 31.12.2018 rund 25.000 Einrichtungen mit über einer Million Betten bzw.
Führung und Organisationsentwicklung
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Plätzen in allen Feldern der Sozialen Arbeit bzw. des Gesundheitsbereichs angeschlossen. Knapp 700.000 Menschen arbeiten hauptberuflich in den Einrichtungen und sozialen Diensten der Caritas. Sie werden von rund 500.000 Ehrenamtlichen unterstützt (Zentralstatistik des Deutschen Caritasverbandes e.V. 2020). Ergänzend gibt es im DCV 17 Fachverbände. In den sieben Einrichtungsverbänden (Bundesverband katholischer Einrichtungen und Dienste der Erziehungshilfe – BvkE, Bundesverband Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie – CBP, Caritas Bundesverband Kinder- und Jugendreha – CKR, Katholischer Arbeitskreis für Familienerholung – KAFE, Katholischer Krankenhausverband Deutschland – KKVD, Verband katholischer Tageseinrichtungen für Kinder – KTK, Verband katholischer Altenhilfe in Deutschland – VKAD) haben sich die Träger von caritativen Einrichtungen mit der gleichen Fachrichtung zusammengeschlossen. Dadurch soll die Lobbyarbeit für die von ihnen betreuten Zielgruppen gebündelt und intensiviert werden. Die zehn Personalfachverbände (Caritaskonferenzen Deutschland CKD, Familien-Ferien-Werk, Verband für Mädchen und Frauensozialarbeit Deutschland – IN VIA, Verband katholische Jugendfürsorge e.V. – VKJF, Kreuzbund, Malteser Hilfsdienst, Raphaelswerk, Sozialdienst katholischer Frauen SkF, SKM Bundesverband – SKM, Gemeinschaft der Vinzenz-Konferenzen Deutschland – VKD) sind mit ihrer präventiven, aufsuchenden, nachgehenden und stationären Sozialarbeit auf bestimmte Schwerpunktthemen und Personengruppen ausgerichtet. Ähnlich wie der DCV sind sie föderal organisiert und sowohl in einzelnen Diözesen als auch auf der Bundesebene vertreten. Die Diakonie Deutschland – Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung – geht in ihrer heutigen Form auf Johann Hinrich Wichern und die Gründung des „Central-Ausschusses für die Innere Mission der Deutschen Evangelischen Kirche“ im Jahr 1848 zurück. Auch heute hilft, begleitet und unterstützt die Diakonie aus christlicher Motivation heraus Menschen in Not und sozial ungerechten Verhältnissen. Mitglieder der Diakonie sind die 17 Diakonischen Werke der Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), elf Freikirchen und über 65 Fachverbände aus den unterschiedlichen Bereichen der Sozialen Arbeit und des Gesundheitswesens (wie z.B. Bundesfachverband evangelischer Behindertenhilfe e.V., Bundesvereinigung Evangelischer Tageseinrichtungen für Kinder e.V. oder Evangelischer Fachverband für Frauengesundheit e.V.). Die unter dem Dach der Diakonie zusammengeschlossenen Organisationen repräsentieren über 30.000 ambulante und stationäre Einrichtungen bzw. Dienste mit knapp 600.000 Mitarbeiter:innen sowie rund 700.000 ehrenamtlich Engagierte (Diakonie Deutschland 2019). Dieser kurze Blick in die Historie von Caritas und Diakonie und ihre aktuelle Verfasstheit zeigt deutlich: Bei beiden handelt es sich um traditionsreiche
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P. Mund
kirchliche Wohlfahrtsorganisationen, die sich durch eine große innerorganisatorische Bandbreite auszeichnen, institutionell eigenständig und gleichzeitig von jeher eng mit der katholischen bzw. evangelischen Kirche verbunden sind. Dabei haben Caritas und Diakonie, wie auch andere freigemeinnützige Wohlfahrtsorganisationen, lange Jahre eine Vorrangstellung gegenüber privatgewerblichen Trägern genossen. Vor dem Hintergrund der verstärkten Einführung von Marktelementen in allen sozialen Bereichen schwindet diese Vorrangstellung zunehmend und Caritas und Diakonie als Organisationen der freien Wohlfahrts stehen immer öfter in einem Wettbewerb, sowohl mit den privatgewerblichen Trägern als auch untereinander. Dieser Wettbewerb wird durch die zunehmende Finanzknappheit, durch die sich die öffentlichen Haushalte gerade auch im Sozialbereich auszeichnen, noch weiter verschärft. Insgesamt wandeln sich gerade in den letzten Jahren die Rahmen- und Umweltbedingungen, vor deren Hintergrund Caritas und Diakonie ihre Einrichtungen und Dienste betreiben, in einem rasanten Ausmaß. Bei der erforderlichen Suche nach Antworten auf diese Entwicklungen spielen Führung, Führungskräfte und Organisationsentwicklung eine besondere Rolle. 3
Führung in Organisationen, Einrichtungen und Diensten von Caritas und Diakonie
Im Kontext von Fragestellungen der Führung in Organisationen, Einrichtungen und Diensten von Caritas und Diakonie ist zunächst noch auf eine weitere für kirchliche Wohlfahrtsorganisationen konstitutive Besonderheit hinzuweisen: das kirchliche Arbeitsrecht. In Deutschland besteht für die Kirchen ein gem. Artikel 4 Abs. 1 und 2 sowie Artikel 140 Grundgesetz (GG) i.V.m. Artikel 136 ff. der Weimarer Reichsverfassung (WRV) abgesichertes Selbstbestimmungsrecht zur autonomen Regelung ihrer Angelegenheiten. Dazu zählt auch die rechtliche Ausgestaltung der kirchlichen Dienst- und Arbeitsverhältnisse. Dadurch verlieren die Regelungen des weltlichen Arbeitsrechts, wie sie beispielsweise im BGB oder Arbeitszeitgesetz festgeschrieben sind, zwar nicht ihre Gültigkeit. Gleichzeitig gilt jedoch für Caritas und Diakonie ein jeweils eigenes kirchliches Arbeitsrecht. Dabei wirkt sich das Selbstbestimmungsrecht der katholischen bzw. evangelischen Kirche im Arbeitsrecht insbesondere in den Bereichen der betrieblichen bzw. überbetrieblichen Mitbestimmung und hinsichtlich der Loyalitätsverpflichtungen ihrer Mitarbeiter:innen aus. Basierend auf der Grundordnung des kirchlichen Dienstes im Rahmen kirchlicher Arbeitsverhältnisse sind für die Einrichtungen und Dienste der Caritas die Richtlinien für Arbeitsverträge in den Einrichtungen des Deutschen Caritasverbandes (AVR) maßgeblich. Für die Einrichtungen und Dienste der Diakonie sind die Arbeitsvertragsrichtlinien (abgekürzt ebenfalls AVR) entscheidend. Insgesamt bilden weltliches und jeweiliges kirchliches Arbeitsrecht den Rahmen, den es in Caritas und Diakonie zu beachten gilt.
Führung und Organisationsentwicklung
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Wie eingangs skizziert, erfüllen die katholische bzw. evangelische Kirche mit ihren caritativen bzw. diakonischen Einrichtungen und Diensten sozialstaatliche und seelsorgliche Aufgaben gleichermaßen. Dabei ist die Qualität der Leistungen und Angebote von Caritas und Diakonie in einem hohen Maße von der Motivation und Qualifikation der Mitarbeitenden abhängig, da diese wie alle sozialen Leistungen weitestgehend als personenbezogene soziale Dienstleistungen erbracht werden (Mund 2019). Darüber hinaus stehen Caritas und Diakonie bei der Erbringung ihrer Leistungen und Dienste auch vor der Herausforderung, ihr spezifisches Werteprofil und ihren damit verbundenen christlichen Auftrag gegenüber den anderen Wohlfahrtsorganisationen zu behaupten (Nass 2014). In Organisationen, Einrichtungen und Diensten von Caritas und Diakonie müssen daher im Kontext sozialer Dienstleistungen neben Qualitätsüberlegungen immer auch seelsorgliche Aspekte Beachtung finden. Bei den damit verbundenen Aufgaben sind sowohl Führungs- als auch Fachkräfte gefordert. Eine besondere Rolle kommt jedoch Führungskräften zu. Diese übernehmen Vorbildfunktion und haben qua ihrer Rolle die Verantwortung, dass die Aufgaben in ihrem jeweiligen Zuständigkeitsbereich gleichermaßen zielorientiert, kompetent und auf der Basis des christlichen Werteprofils realisiert werden. Bevor nun die mit Führung verbundenen Frage- und Aufgabenstellungen sowie die erforderlichen Kompetenzen von Führungskräften reflektiert werden, ist zunächst zu klären, auf welchem grundlegenden Verständnis von Führung diese aufsetzen. Grundsätzlich ist Führung ein viel diskutierter Begriff, zu dem sich in der Literatur viele Definitionen finden. In dieser begrifflichen Vielfalt spiegeln sich auch die Heterogenität und Breite der Theorien der Führungsforschung wider. In den aktuellen Definitionen zur Führung lassen sich folgende Gemeinsamkeiten identifizieren (Walenta/Kirchler 2010): – Führung findet im Kontext einer Gruppe statt und beinhaltet die Interaktion zwischen zwei oder mehreren Personen, – Führung ist ein Prozess und hat die Absicht, Ziele durch Kommunikation zu erreichen, – Führung ist eine intentionale Einflussnahme und zielt auf die Steuerung und Gestaltung des Handelns anderer Personen. Im Kontext von sozialen Organisationen wird oftmals synonym auch von Leitung gesprochen. Auf Führungs- bzw. Leitungspositionen laufen definierte Verantwortlichkeiten und Steuerungsanforderungen zusammen. Die mit Führungspositionen grundsätzlich verbundenen Aufgaben können mit Merchel (2015) wie folgt charakterisiert werden: entscheiden, gestalten, Reflexion fördern und verbinden. Diese Aufgaben gilt es von Führungskräften sowohl intern, bezogen auf die jeweilige Organisation, Einrichtung oder Dienst, als auch extern, in Bezug auf die jeweilige Umwelt, zu bewältigen. Demensprechend haben Füh-
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rungskräfte in sozialen Einrichtungen und Diensten insbesondere folgende Funktionen (Merchel 2010): – Sie sollen Sorge dafür tragen, dass die jeweiligen Aufgaben, beispielsweise ein Beratungsangebot oder eine stationäre Unterbringung in der Kinder- und Jugendhilfe, verlässlich und kompetent realisiert werden. Führungskräfte müssen darauf achten, dass die Aufgaben mit Hilfe klarer und gleichzeitig – hinsichtlich der Besonderheiten des Einzelfalls – flexibler Abläufe umgesetzt werden. Entscheidend ist dabei, dass Verlässlichkeit und Kompetenz nicht von personellen Zufälligkeiten abhängen dürfen. – Damit diese kompetente Aufgabenerfüllung gelingt, sollen Führungskräfte in der Organisation personelle Grundlagen (insbesondere Qualifikation der Mitarbeitenden und ihre Motivation, entsprechende quantitative Ausstattung) und organisationale Grundlagen (insbesondere Arbeitsteilung, Ablaufvorgaben, Kommunikationsräume) schaffen. – Um die Weiterentwicklung der Einrichtungen und Dienste kontinuierlich zu fördern, sollen Führungskräfte die Reflexion der Arbeit und ihrer Rahmenbedingungen ermöglichen. – Führungskräfte sollen darauf achten, dass die Außenbezüge zur relevanten Umwelt der Einrichtungen und Dienste permanent beobachtet werden und aktiv gestaltet werden. In Einrichtungen und Diensten von Caritas und Diakonie tragen Führungskräften darüber hinaus auch dafür Sorge, dass die spezifische Grundhaltung gegenüber Menschen und die christlichen Werte im Arbeitsalltag mit Leben gefüllt werden und spürbar sind. Dieser spezifische Sinn und Zweck von Organisationen werden zusammengenommen häufig als Mission Statement (kurz Mission) bezeichnet. Das Mission Statement stellt kurz und prägnant die Aufgaben der Organisation dar und unterstreicht dadurch die Daseinsberechtigung der Organisation (Grunwald 2013). Ergänzt wird die Mission durch die Vision der Organisation. Die Vision hat einen richtungsweisenden und in die Zukunft gerichteten Charakter. Mission und Vision werden oftmals in einem Leitbild konkretisiert. Ein Leitbild beinhaltet allgemeine Vorstellungen über das Wertesystem und die angestrebten Visionen, Ziele und Verhaltensweisen. Im Arbeitsalltag eröffnen organisationale Leitbilder allen Mitarbeitenden und darüber hinaus auch außerhalb der Organisation stehenden Personen einen Orientierungsrahmen. Viele Einrichtungen und Dienste von Caritas und Diakonie haben zudem in Bezug auf Führung neben Leitbildern Führungsleitlinien entwickelt, in denen das Grundverständnis von Führung und Leitung definiert ist. 4
Organisationsentwicklung in Caritas und Diakonie
Im vorangegangenen Abschnitt wurde beschrieben, dass neben der bewussten organisationsbezogenen Steuerung auch die Weiterentwicklung der jeweiligen Einrichtungen und Dienste zum Aufgabenspektrum von Führungskräften ge-
Führung und Organisationsentwicklung
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hört. In diesem Zusammenhang spielt die Organisationsentwicklung, verstanden als geplanter organisationaler Wandel, eine immer bedeutsamere Rolle. Insgesamt sehen sich Caritas und Diakonie, wie die anderen Wohlfahrtsorganisationen auch, mit einem permanenten Wandel konfrontiert. Kontinuierlich kommt es in ihrer Umwelt zu gesetzlich, fachlich und/oder fiskalisch motivierten Veränderungen, die konzeptionelle und/oder organisationale Diskrepanzen erzeugen. Vor diesem Hintergrund kann Organisationsentwicklung nicht mehr als Sonderfall – im Sinne des von Kurt Lewin geprägten Dreischrittes von unfreeze-move-freeze (Schiersmann/Thiel 2011) – verstanden werden, sondern wird vielmehr zum organisationalen Normalfall (Mund 2018). Dabei verfolgen Organisationsentwicklungsprozesse generell das Ziel, eine organisationsbezogene Weiterentwicklung, beispielsweise durch Veränderungen bzw. Anpassungen der Angebote, Strukturen und Abläufe, zu initiieren (Merchel 2015). Auf diesem Wege soll eine bessere Passung zwischen den Anforderungen in und aus der Umwelt und den organisationalen Antworten erzielt werden. Insgesamt lassen sich Organisationsentwicklungsprozesse, zumal wenn sie sich an dem Paradigma des dauerhaften Wandels orientieren, nur in einem begrenzten Maße im Voraus planen und vorstrukturieren. Gleichwohl sollten zur Qualifizierung der Ergebnisse bei der Konzipierung einer konkreten Prozessarchitektur immer auch allgemeine Prinzipien der Organisationsentwicklung beachtet werden. Dabei ist zunächst die Berücksichtigung der jeweils spezifischen und in der Regel mehrdimensionalen Bedingungen der Organisation und in ihrer Umwelt zu nennen (Schiersmann/Thiel 2011), wie z.B. ihre Größe, die jeweiligen Erfahrungen der Organisation in Bezug auf Veränderungsprozesse und in Bezug auf Caritas und Diakonie auch der sozialstaatliche und seelsorgliche Auftrag der Einrichtungen und Dienste. Da die Organisationskultur für erfolgreiche Prozesse der Organisationsentwicklung eine wesentliche Rolle spielt (Schiersmann/Thiel 2011) sollten vorab bzw. zu Beginn einerseits die formalen Strukturen und Regeln, mit denen die Organisation das Handeln der Organisationsmitglieder nach innen wie nach außen (vor-)strukturieren und vorhersehbar machen möchte (Schreyögg 2012) erhoben und hinsichtlich ihrer objektiven Aufgabe und subjektiven Bedeutung für die Mitarbeitenden reflektiert werden. Andererseits sollte auch eine Annäherung, im Sinne eines intersubjektiven Verstehens, mit der in der Organisation herrschenden spezifische Kultur, insbesondere in Bezug auf Veränderungsprozesse erfolgen. An diese Analyse schließen sich dann Überlegungen zum Verlauf und Struktur des Organisationsentwicklungsprozesses an. Dabei ist in diesem frühen Stadium auch die Frage des Hinzuziehens von externer Beratungskompetenz zu beantworten. Das Hinzuziehen externer Berater:innen ist generell möglich. In Abhängigkeit zu der jeweiligen Kultur und den Erfahrungen der Organisation mit Veränderungsprozessen ist dies jedoch nicht immer erforderlich bzw. sinnvoll. Es kann also durchaus auch die alleinige Installierung einer temporären Arbeitsgruppe, die mit der Steuerung des Gesamtpro-
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zesses beauftragt wird, geboten sein. Gleich welcher Weg gewählt wird: Ausschlaggebend für den Erfolg ist es, auf eine gute Kommunikation zwischen den für die Steuerung des Prozesses Verantwortlichen und den Mitarbeiter:innen zu achten. Dies beinhaltet auch den wechselseitigen Transfer beispielsweise von Zwischenergebnissen einerseits und Erwartungen/Befürchtungen andererseits (Mund 2018). 5
Ausblick
Caritas und Diakonie leisten mit ihren zahlreichen Organisationen, Einrichtungen und Diensten wichtige sozialstaatliche und seelsorgliche Aufgaben gleichermaßen. Aus ihrer christlichen Verantwortung unterstützen, beraten und begleiten sie mit ihren Leistungen und Angeboten Menschen in allen Lebenslagen. Als Wohlfahrtsverbände der katholischen bzw. evangelischen Kirche wirken Caritas und Diakonie sowohl an der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse als auch an der Gestaltung des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens mit. Damit sie diese Aufgaben auch weiterhin kompetent ausüben können, werden zukünftig insbesondere die Gewinnung von motivierten Fachkräften und die Gestaltung der Einrichtungen und Dienste als attraktive Arbeitsorte eine besondere Rolle spielen. Führungskräfte sind in diesem Zusammenhang gefordert, offen für Impulse aus der Umwelt zu sein und in den Organisationen eine Kultur zu fördern, die dem Wandel und der Entwicklung aufgeschlossen gegenübersteht. Literatur Benedictus XVI (2005): Enzyklika Deus Caritas est: An die Bischöfe, an die Priester und Diakone, an die gottgeweihten Personen und an alle Christgläubigen über die christliche Liebe. 25. Dezember 2005. Rom. Bieker, R. (2011): Trägerstrukturen in der Sozialen Arbeit – ein Überblick. In: R. Bieker/P. Floerecke (Hg.): Träger, Arbeitsfelder und Zielgruppen der Sozialen Arbeit (S. 13–43). Stuttgart. Diakonie Deutschland Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V. (2019): Einrichtungsstatistik 2018. Statistik der Diakonie Deutschland – Stand 01.01.2018. Berlin. Grunwald, K. (2013): Leitbild. In: K. Grunwald/G. Horcher/B. Maelicke (Hg.): Lexikon der Sozialwirtschaft (2. Aufl.; S. 623–628). Baden-Baden. Merchel, J. (2015): Management in Organisationen der Sozialen Arbeit. Eine Einführung. Weinheim/Basel. Merchel, J. (2010): Leiten in Einrichtungen der Sozialen Arbeit. München/ Basel. Mund, P. (2019): Grundkurs Organisation(en) in der Sozialen Arbeit. München.
Führung und Organisationsentwicklung
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Mund, P. (2018): Beteiligung und Beschwerden: Motoren der Organisationsentwicklung. In: C. Equit (Hg.): Beteiligung und Beschwerde in der Heimerziehung (S. 12–125). Frankfurt a.M. Nass, E. (2014): Christliche Personalführung. Ein Führungsmodell (nicht nur) für Diakonie und Caritas. Zeitschrift für Marktwirtschaft und Ethik, 2 (2), 3–21. Schiersmann, C./Thiel, H.-U. (2011): Organisationsentwicklung. Prinzipien und Strategien von Veränderungsprozessen (3. Aufl.). Wiesbaden. Walenta, C./Kirchler. E. (2011): Führung. Wien. Zentralstatistik des Deutschen Caritasverbandes. Stichtag 31.12.2018. Freiburg i.Br.
34 Kirchliches Arbeitsrecht Jacob Joussen
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Einleitung
Diakonie und diakonisches Arbeiten ist immer auch Arbeiten innerhalb eines bestimmten Rechtsrahmens. Jedes Tätigwerden in der Gesellschaft, und damit auch jedes Tätigwerden in einem diakonischen Umfeld, ist in rechtliche Rahmenbedingungen eingebettet, die es zu beachten gilt und die das Arbeiten determinieren. Das gilt allgemein für die rechtlichen Rahmenbedingungen, das gilt aber besonders auch für arbeitsrechtliche Kontexte. Wer diakonisch arbeitet und dies als „normaler“ Arbeitnehmer 1 in einer Pflegeeinrichtung oder in einem Krankenhaus oder einer sonstigen diakonischen Einrichtung tut, erbringt seine Arbeit auf der Grundlage eines „Arbeitsvertrags“. Er ist nicht ehrenamtlich tätig. Die Beschäftigte wird ihre Tätigkeit in der Einrichtung (auch) deshalb erbringen, weil sie damit ihren Lebensunterhalt verdient. Damit hat sie unwillkürlich Berührung mit dem „kirchlichen Arbeitsrecht“. Mit dem „kirchlichen Arbeitsrecht“ sind die arbeitsrechtlichen Regelungen gemeint, die diejenigen betreffen, die in einem Arbeitsverhältnis zu einer der großen Kirchen oder ihrer Wohlfahrtsverbände (also der Diakonie bzw. Caritas) stehen. Und das sind, je nach Schätzung, rund 1,5 Millionen Menschen. Nach dem Staat bzw. den staatlichen Einrichtungen sind „die“ Kirchen damit Deutschlands zweitgrößter Arbeitgeber. Was aber meint nun genau „kirchliches Arbeitsrecht“? Gibt es Besonderheiten, die dazu führen, dass Arbeitsverhältnisse zwischen einem kirchlichen Arbeitgeber und seinen Arbeitnehmerinnen in einem anderen Licht erscheinen als diejenigen zu einem weltlichen Arbeitgeber? Gibt es dort ein „anderes“ Arbeitsrecht? Diese einfachen Fragen kann man nicht einfach mit „ja“ oder „nein“ beantworten. Daher sollen nachfolgend die Grundzüge des „kirchlichen Arbeitsrechts“ vorgestellt werden.
1 Im Sinne einer gendersensiblen Sprache werden die männliche und weibliche Form in zufälliger Folge verwendet, wobei sich bitte alle mitgemeint fühlen mögen.
Kirchliches Arbeitsrecht
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Die Ausführungen werden sich auf die wesentlichen Aspekte beschränken müssen. Zu Beginn steht ein einleitender Teil, der zum einen die verfassungsrechtlichen Gründe dafür aufzeigt, warum die Kirchen überhaupt eigene Rechtsvorstellungen verfolgen können, und der zum anderen darlegt, wer diese Besonderheiten in Anspruch nehmen kann. Schließlich wird einer der Schlüsselbegriffe des kirchlichen Arbeitsrechts kurz vorgestellt, auf den man in diesem Zusammenhang immer wieder trifft, derjenige der „Dienstgemeinschaft“. In einem zweiten Teil wird es um die wesentlichen Grundzüge des Individualarbeitsrechts all derjenigen gehen, die bei einem kirchlichen Arbeitgeber beschäftigt sind. Schließlich wird drittens das sog. kollektive Arbeitsrecht in den Kirchen thematisiert. Als Individualarbeitsrecht ist dabei dasjenige Recht gemeint, was im einzelnen Arbeitsverhältnis gilt. Kollektives Arbeitsrecht ist die Gesamtheit der Normen, die die Beschäftigten als Gruppe betreffen, etwa das kirchliche Betriebsverfassungs-, also Mitarbeitervertretungsrecht oder das System kirchlicher Tarifsetzungen. 2
Grundlagen
Dass die Kirchen ein eigenes Arbeitsrecht für sich reklamieren können, hat seinen Ursprung im Grundgesetz. Das dort enthaltene Selbstbestimmungsrecht führt dazu, dass sie auch bei der Beschäftigung ihrer Mitarbeiterinnen ein eigenes Rechtssystem etablieren können (nicht müssen!). Das haben sie zum Teil auch getan, zum Teil bedienen sie sich des weltlichen Arbeitsrechts (vgl. Joussen 2016). 2.1
Verfassungsrechtliche Grundlage
Verfassungsrechtliche Grundlage für das kirchliche Arbeitsrecht ist die Entscheidung des parlamentarischen Rats über Art. 140 GG, die für die Begründung und Gestaltung von Dienstverhältnissen maßgebliche Bestimmung in der Weimarer Reichsverfassung in die Verfassungswirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland zu überführen. In Art. 140 GG heißt es: „Die Bestimmungen der Art. 136, 137, 138, 139 und 141 der Deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.“ Der somit weiterhin geltende Art. 137 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) hat in Absatz 3 den Wortlaut: „Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes. Sie verleiht ihr Ämter ohne Mitwirkung des Staates oder der bürgerlichen Gemeinde.“
Aus dieser Norm wird zunächst die kirchliche Freiheit geschlussfolgert, ein System des öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses zu schaffen, also ein eigenes kirchliches Beamtenrecht. Auf dieser Grundlage werden beispielsweise meist Pfarrer und Pfarrerinnen beschäftigt, aber auch Kirchenbeamte in den Kirchenverwaltungen. Darüber hinaus wird dieser Freiheit, die in dieser Norm
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enthalten ist, entnommen, dass die Kirchen auch eine verfassungsrechtlich garantierte Freiheit bei der Gestaltung der privatrechtlichen Arbeitsverhältnisse in Anspruch nehmen können. Sie können also, wie jeder weltliche Arbeitgeber, „Arbeitsverträge“ abschließen. Dazu haben sich beide großen Kirchen entschieden. Das bedeutet: Arbeitsverhältnisse in der Kirche beruhen auf einem privatrechtlichen Arbeitsvertrag, für den grundsätzlich die Regelungen des weltlichen Arbeitsrechts gelten. Allerdings wird mit Abschluss derartiger Verträge die verfassungsrechtlich geschützte Eigenart des kirchlichen Dienstes, das spezifisch Kirchliche, nicht in Frage gestellt. Das führt dazu, dass kirchliche Arbeitgeber besondere Anforderungen an ihre Beschäftigten stellen können – darauf wird im Einzelnen noch zurückzukommen sein. Die Verfassungsgarantie des Selbstbestimmungsrechts bleibt somit für die Gestaltung dieser Arbeitsverhältnisse wesentlich. Das hat Auswirkungen auf bestimmte Felder der Arbeitsvertragsbeziehungen, etwa im Hinblick auf Anforderungen, die ein kirchlicher Arbeitgeber an die Loyalität seiner Beschäftigten stellen kann. Es steht den Kirchen insbesondere frei, das Leitbild der in ihr auf vertraglicher Grundlage erbrachten Dienste festzulegen. 2.2
Die Dienstgemeinschaft
Beherrscht wird das kirchliche Arbeitsrecht unverändert von dem Begriff der Dienstgemeinschaft (vgl. Joussen 2007). Dabei handelt es sich um eine Wortschöpfung der Kirchen, die sich auf ein Gemeinschaftsverhältnis zwischen der Leitung und der Mitarbeiterschaft kirchlicher Einrichtungen bezieht und auf die religiöse Bindung des Auftrags kirchlicher Einrichtungen gerichtet ist (vgl. Lührs 2010, S. 115; Fey 2012a). Sie bringt zum Ausdruck, dass der Auftrag Jesu Christi, ihm im Dienst der Versöhnung zu folgen, sich nicht auf die dienende Nachfolge des Einzelnen beschränkt, sondern auf ein Zusammenstehen vieler „in einer Gemeinschaft des Dienstes“ (Richardi 2020, S. 40). Durch die Dienstgemeinschaft sind alle Mitarbeiter dem kirchlichen Auftrag verpflichtet – unabhängig von der Frage, ob sie selbst der jeweiligen Kirche angehören. Nach dem kirchlichen Selbstverständnis existiert im kirchlichen Dienst kein „auftragsfreier Raum“. „Dienstgemeinschaft“ darf aber nicht falsch verstanden werden. Denn auch im kirchlichen Dienst existieren die Konflikte, die im Rahmen abhängiger Erwerbsarbeit immer auftreten. Doch ist aus dem übergeordneten Leitbild der Dienstgemeinschaft abzuleiten, dass die Art der Konfliktaustragung und -lösung in Respekt vor dem Partner fair erfolgt. An diesem Begriff wird trotz immer wieder geäußerter Kritik (vgl. Nell-Breuning 1977) zu Recht festgehalten (vgl. Joussen 2012a, S. 55 ff.; Fey 2012a). Denn er macht deutlich, dass das Tätigwerden etwa in einem kirchlichen Krankenhaus vor einem anderen Horizont erfolgt als in einem nichtkirchlichen Krankenhaus: In beiden Häusern
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werden Kranke – hoffentlich gleich gut – gepflegt und betreut, aber nur im christlichen Krankenhaus steht dahinter der angesprochene kirchliche Auftrag. 2.3
Die Anwendbarkeit kirchlichen Arbeitsrechts
Das Selbstbestimmungsrecht aus Art. 137 Abs. 3 WRV gilt entsprechend seinem Wortlaut zugunsten „jeder Religionsgesellschaft“. Es gilt aber auch über die verfasste Kirche hinaus für die Kirche in ihrem rechtstheologischen Verständnis, also in ihrem strukturellen, rechtlich und theologisch fundierten Aufbau. Vom kirchlichen Selbstbestimmungsrecht sind also auch ihre karitativen und diakonischen Einrichtungen (BVerfG 1977, S. 85) erfasst, weil es den Kirchen selbst überlassen ist zu entscheiden, wie und in welcher Organisationsform sie ihre Aufgabe erfüllen (BVerfG 1980, S. 401). Ob eine Einrichtung, etwa ein Pflegeheim, im Einzelfall am kirchlichen Selbstbestimmungsrecht partizipiert, ist abhängig davon, ob es sich bei der konkreten Einrichtung um eine solche „der Kirche“ handelt. Dies ist eine Frage der Zuordnung einer Einrichtung zur Kirche (vgl. Dütz 2007). Diese Zuordnung bestimmt sich danach, ob sie „nach kirchlichem Selbstverständnis ihrem Zweck und ihrer Aufgabe entsprechend berufen [ist], ein Stück Auftrag der Kirche in dieser Welt wahrzunehmen und zu erfüllen“, so der Leitsatz des BVerfG in seiner wichtigen Entscheidung aus dem Jahr 1977 (BVerfG 1977, S. 73). Es kommt insofern für eine Zuordnung auf drei Kriterien an. Die Einrichtung muss der Kirche erstens so nahestehen, dass sie an einer Verwirklichung eines Stücks des Auftrags der Kirche im Geist christlicher Religiosität teilhat. Der Zweck der Einrichtung muss also als anerkannte Grundfunktion der Kirche angesehen werden können. Die Einrichtung muss zweitens in Einklang mit dem Bekenntnis der Kirche stehen. Hier wird gelegentlich auf das Erfordernis einer Anerkennung durch die verfasste Kirche verwiesen. Schließlich muss drittens eine (gewisse) Verbindung zu den Amtsträgern dieser Kirche bestehen (vgl. Richardi 2020, S. 33 f.). Diese ist beispielsweise gegeben, wenn eine ordinierte Pfarrperson als Teil der verfassten Kirche Mitglied im Leitungs- und Aufsichtsgremium der Einrichtung ist. Entscheidend bleibt, dass es ausschließlich auf die Kirche ankommt: Sie allein kann beantworten, ob das, was die Einrichtung tut, kirchlich ist. Anhand des von ihr festgelegten Maßstabs ist zu entscheiden, ob eine Einrichtung eine kirchliche Grundfunktion erfüllt (vgl. Richardi 2020, S. 32). 3
Das Individualarbeitsrecht der Kirchen
Vor dem Hintergrund des Art. 137 Abs. 3 WRV haben sich die Kirchen grundsätzlich für die Anwendung des zivilrechtlichen Ordnungssystems im Individualarbeitsrecht entschieden. Das heißt, sie schließen mit ihren Mitarbeitenden, sofern es sich nicht um Kirchenbeamte bzw. Pfarrer handelt, reguläre Ar-
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beitsverträge ab. Der Abschluss des Arbeitsvertrages folgt den gleichen Regeln wie in einem Arbeitsverhältnis mit einem nichtkirchlichen Arbeitgeber, d. h. nach den Regeln des Bürgerlichen Gesetzbuchs (§ 611a BGB). Gleiches gilt für die Beurteilung seiner Unwirksamkeit sowie für die Anwendung sämtlicher öffentlich-rechtlicher Arbeitsschutznormen. Damit ordnen sich die Kirchen (freiwillig) in das säkulare Arbeitsrechtssystem ein. Daraus folgt dann generell: „Bedienen sich die Kirchen wie jedermann der Privatautonomie zur Begründung von Arbeitsverhältnissen, so findet auf diese das staatliche Arbeitsrecht Anwendung. Das ist die schlichte Folge einer Rechtswahl“ (BVerfG 1985). Doch steht den Kirchen gleichwohl frei, im Individualarbeitsrecht das ihnen verfassungsrechtlich garantierte Selbstbestimmungsrecht umzusetzen. Was bedeutet das konkret? Im Vordergrund stehen das Diskriminierungs- sowie das Loyalitätsrecht. Darf ein kirchlicher Arbeitgeber die Zugehörigkeit zu seiner Kirche als Auswahlkriterium verlangen oder verstößt dies gegen die diskriminierungsrechtlichen Bestimmungen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG)? Und welches Maß an Loyalität darf ein kirchlicher Arbeitgeber in Anspruch nehmen, darf er verlangen, dass seine Arbeitnehmer sich an seinen Moralvorstellungen ausrichten? Ist eine Kündigung wegen einer Wiederverheiratung zulässig? 3.1
Religionszugehörigkeit als Auswahlkriterium
Für den Dienst in kirchlichen Einrichtungen war über lange Jahre hinweg die Zugehörigkeit zu der jeweiligen oder zumindest zu einer christlichen Kirche Einstellungsvoraussetzung. Damit unterschieden sich die Kirchen von allen anderen Arbeitgebern. Denn diese dürfen die Religionszugehörigkeit aus diskriminierungsrechtlichen Gründen nicht zur Voraussetzung für eine Beschäftigung machen. Die Kirchen konnten daher in Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechtes weitgehend darüber entscheiden, für welche Tätigkeiten die Kirchenzugehörigkeit Voraussetzung für die Einstellung oder für die Übernahme von Leitungsaufgaben war. Die Differenzierung nach der Religion durfte dabei nie willkürlich erfolgen oder sittenwidrig sein (vgl. Fey 2012b, S. 183). Doch hat sich seit einigen Jahren eine Veränderung in der Rechtsprechung ergeben. Diese legt das Diskriminierungsrecht aufgrund seiner europäischen Wurzeln mittlerweile enger aus und möchte die Möglichkeit der Kirchen, bei einer Beschäftigung nach der Religionszugehörigkeit zu unterscheiden, eingrenzen und nur noch dort zulassen, wo diese Zugehörigkeit eine wesentliche Voraussetzung für die Arbeit ist (BAG 2019 [25.10. 2018], S. 463). Unklar ist unverändert, wann diese Voraussetzung vorliegt. Die Einzelheiten sind derzeit im Fluss. Sicher kann man sich etwa bei katechetischen Aufgaben sein, auch bei Tätigkeiten in der Verkündigung selbst. Doch schon bei allgemeinen Referatstätigkeiten im Kirchenamt ist die Frage nicht geklärt. Gegen diese Einschränkung, die auch vom Europäischen Gerichtshof vorgenommen worden
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ist, ist noch eine Verfassungsbeschwerde anhängig. Die Rechtslage ist also noch offen. 3.2
Loyalitätspflichten
Auch im sog. Loyalitätsrecht wirkt es sich aus, dass ein Arbeitsverhältnis mit einem kirchlichen Arbeitgeber geschlossen worden ist. Zwar darf ein Arbeitgeber schon im weltlichen Arbeitsrecht von seinen Arbeitnehmern ein bestimmtes Maß an Loyalität erwarten. Das gilt in besonderer Weise für den kirchlichen Dienstgeber. Die Verletzung dieser Pflichten kann zu Sanktionen führen, insbesondere ist in diesen Fällen eine Kündigung möglich. Denn hierbei handelt es sich um eine vertragliche Nebenpflichtverletzung. Doch ist die Möglichkeit, „Loyalität“ als Nebenpflicht einzufordern, in einem kirchlichen Arbeitsverhältnis ungleich größer – weil Kirchen ihr Selbstbestimmungsrecht in das zivilrechtliche Vertragsverhältnis einfließen lassen können. Beide große Kirchen verlangen zwar ein besonderes Maß an Loyalität von ihren Mitarbeitenden. Entscheidend ist aber, dass die katholische Kirche die Lebensführung ihrer Mitglieder vor allem in den Bereichen Ehe und Sexualität stärker normiert als die evangelische Kirche und bestimmte moralische Anforderungen enger mit dem Arbeitsrecht verbindet. Nur in der katholischen Kirche gilt etwa die Wiederverheiratung als ein Loyalitätsverstoß. Sind Loyalitätsverletzungen festzustellen, hat also etwa der Arbeitnehmer in einer katholischen Einrichtung sich wiederverheiratet, kann der kirchliche Arbeitgeber, wie jeder Arbeitgeber bei einer Verletzung von Nebenpflichten, mit vertraglichen Sanktionen gegen den Arbeitnehmer vorgehen. Als letzte Maßnahme ist, nach Abwägung der Umstände des Einzelfalles, eine außerordentliche Kündigung denkbar. Doch ist besonders hier von zentraler Bedeutung, dass das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen nicht dazu verwendet werden darf und nicht dazu führen kann, dass der kirchliche Arbeitgeber seine Vorstellungen uneingeschränkt durchsetzen könnte. Vielmehr muss auch in einem Arbeitsverhältnis im Rechtsraum des „kirchlichen Arbeitsrechts“ der Arbeitnehmer seine Grundrechte ebenfalls in Anspruch nehmen können. Es kommt daher zu einem Aufeinandertreffen zweier Grundrechtspositionen, die im Wege der sog. praktischen Konkordanz in einen Ausgleich zu bringen sind. Das bedeutet, dass versucht werden muss, beiden Positionen möglichst viel Wirkung einzuräumen. Wie bei der Frage, ob die Kirchen die Kirchenzugehörigkeit verlangen dürfen, ist auch die Frage der Loyalität Gegenstand einer bemerkenswerten Rechtsentwicklung seit Beginn dieses Jahrtausends. Auch hier tendiert die Rechtsprechung mittlerweile dazu, sehr viel strenger zu werden als noch vor einigen Jahren. Die Kirchen können etwa ihre Moralvorstellungen nicht undifferenziert in jedem Arbeitsverhältnis einverlangen. Auch hier kommt es entscheidend darauf an, mit welcher Tätigkeit und in welcher Position der betreffende Mitarbeiter tätig ist. Das ist in eine Abwägung mit einzubeziehen, wenn es da-
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rum geht zu entscheiden, ob sich der Mitarbeiter den Loyalitätsanforderungen der Kirche beugen muss oder nicht. Ist etwa eine Beschäftigte in leitender Position betroffen, die repräsentative Ausstrahlungswirkung für die Einrichtung hat? Oder geht es um eine Tätigkeit, die nach außen hin nicht derart wahrgenommen wird? Das kann, nach der jüngsten Rechtsprechung (BAG 2019b), dazu führen, dass die Frage, ob das Befolgen kirchlicher Moralvorstellungen nötig ist, unterschiedlich beantwortet werden muss. Der Beschäftigte im reinen Innendienst etwa wird dann an anderen Maßstäben zu messen sein als derjenige, der als Geschäftsführer oder Sprecher eine Einrichtung nach außen hin repräsentiert und damit deutlich stärker mit der Einrichtung identifiziert wird. 4 Das kollektive Arbeitsrecht der Kirchen Das kollektive Arbeitsrecht ist wesentlicher Bestandteil des Arbeitsrechts insgesamt. Die im sog. kollektiven Arbeitsrecht enthaltenen Bestimmungen dienen im Wesentlichen dazu, ein fehlendes Gleichgewicht zwischen den Arbeitsvertragsparteien auszugleichen, das als Grundtatbestand des Arbeitsrechts angesehen wird. So führen vor allem die ungleiche Verteilung der Macht und Einflussmöglichkeiten sowie die häufig vorhandene mangelnde Gestaltungskraft des einzelnen Arbeitnehmers gegenüber seinem Vertragspartner dazu, dass der individuelle Arbeitsvertrag zwar nicht verdrängt oder ersetzt wird, doch eine weitere, kollektive Ordnung hinzutritt. Das kollektive Arbeitsrecht soll dann einen Ausgleich zum vorhandenen Marktungleichgewicht bilden. Das erfolgt auf einer betrieblichen und einer überbetrieblichen, d.h. tariflichen Ebene. Die bereits angesprochene Verfassungsgarantie des Art. 137 Abs. 3 WRV eröffnet den Kirchen jedoch gerade auch auf diesem Feld die Möglichkeit einer eigenen Gestaltung. Diese haben sie – anders als im Individualarbeitsrecht – weitgehend genutzt. Das geschieht zum einen durch die Schaffung eines eigenen „Mitarbeitervertretungsrechts“, das das Betriebsverfassungsrecht im kirchlichen Bereich ablöst. Das geschieht zum anderen und besonders auch durch die Inanspruchnahme eines eigenen Modells der kollektiven Arbeitsrechtssetzung. Statt des Tarifwegs, den man auch als „Zweiten Weg“ bezeichnet, wird weitgehend der sog. Dritte Weg beschritten. Generell abgelehnt wird es von den Kirchen, für alle geltende Arbeitsbedingungen einseitig nur durch den Arbeitgeber festsetzen zu lassen, also der sog. Erste Weg. 4.1
Das Mitarbeitervertretungsrecht als kirchliche Betriebsverfassung
Das Mitarbeitervertretungsrecht stellt das kircheneigene Betriebsverfassungsrecht dar, welches sich die Kirchen auf der Grundlage ihrer Kirchenautonomie gegeben haben. Kodifiziert ist es auf der Ebene der Evangelischen Kirche in Deutschland im Mitarbeitervertretungsgesetz (MVG-EKD), im katholischen Bereich in der Mitarbeitervertretungsordnung (MAVO). Die staatliche Rechtsordnung selbst hat die Kirchen und ihre karitativen bzw. diakonischen Einrich-
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tungen aus dem Geltungsbereich des BetrVG herausgenommen, wie aus § 118 Abs. 2 BetrVG deutlich wird. Dies war verfassungsrechtlich nicht unumstritten, ist aber heute weitgehend als Konsequenz des Selbstbestimmungsrechts anerkannt (vgl. Joussen 2012b, S. 58 ff.). In beiden Kirchen bestehen daher keine Betriebsräte, sondern Mitarbeitervertretungen, die aber im Prinzip sehr vergleichbar arbeiten, auch ihre Mitbestimmungsrechte sind in vielerlei Hinsicht vergleichbar systematisiert. Unterschiede bestehen gleichwohl. In kirchlichen Einrichtungen muss etwa eine Vertretung gewählt werden, es ist nicht freiwillig wie nach dem BetrVG. Bestimmte Mitbestimmungstatbestände sind unterschiedlich geregelt. Doch wird das kirchliche Mitarbeitervertretungsrecht als eigenständige Normengruppe heutzutage nicht ernsthaft in Frage gestellt. Es handelt sich vielmehr um die Ausformung der betrieblichen Mitbestimmung in einem eigenen Regelungsweg, wie dies etwa im öffentlichen Dienst mit dem Personalvertretungsrecht auch der Fall ist (vgl. Joussen 2011). 4.2 Das kirchliche „Tarifrecht“: Der Dritte Weg Ebenfalls einen eigenen Weg gehen die katholische und die meisten evangelischen Kirchen im Bereich der kollektiven Arbeitsrechtsetzung. Diese erfolgt im weltlichen Raum durch Tarifverträge nach dem Tarifvertragsgesetz (TVG). Tarifverträge enthalten kollektive Normen, die für alle Tarifgebundenen normativ wirken. Für die Kirchen war dieser „Zweite“ Weg lange Zeit nicht gangbar, genau so wenig wie der bereits angesprochene „Erste Weg“. 4.2.1 Begründung Hinter diesem „Dritten Weg“ steht die Überzeugung, dass nach dem Selbstverständnis der Kirche jede Arbeitsleistung ein Stück kirchlichen Auftrags in der Welt verwirklicht, der gemeinsam von Dienstgeberinnen und Mitarbeiterinnen erfüllt wird, die in der Dienstgemeinschaft vereint sind (vgl. Joussen 2007). Deshalb soll die Dienstgemeinschaft auch in den Verfahrensstrukturen einer Arbeitnehmerbeteiligung an der Gestaltung der Arbeitsbedingungen zum Ausdruck kommen. Durch ein besonderes kollektives Regelungsverfahren werden die von der Dienstgemeinschaft gebotenen Grundsätze der Partnerschaft gewahrt, das heißt Kooperation, nicht Konfrontation beim Ausgleich unterschiedlicher Interessen. Zudem wird das Gebot der Parität umgesetzt, das heißt die Anerkennung der Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung von Dienstgebern und Dienstnehmern (vgl. Briza 1987, S. 144 f.). Die Ablehnung des Zweiten Wegs beruht dabei nicht nur auf der abstrakten Vorstellung, dass das Tarifsystem auf Interessengegensätzen beruht, die die Dienstgemeinschaft so nicht kennt, sondern zum einen darauf, dass im Dritten Weg die Verhandlungen von denjenigen geführt werden, die von den Ergebnissen betroffen sind – sie werden nicht an eine Gewerkschaft ausgelagert. Sie verbleiben innerhalb der „Dienstgemeinschaft“. Zum anderen wird angeführt,
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dass das Tarifmodell systemnotwendig mit der Möglichkeit des Kampfes verbunden ist und nur funktionieren kann, wenn die Verhandlungsparteien zur Not Kampfmittel, also vor allem Streik und Aussperrung, nutzen können. Diese Kampfmöglichkeit widerspreche aber den Grundsätzen der „Dienstgemeinschaft“ fundamental. Die kirchliche Auffassung geht daher unverändert davon aus, dass Arbeitskampfmaßnahmen in kirchlichen Einrichtungen nicht zulässig seien (vgl. z.B. Richardi 2020, S. 134 m.w.N.). Infolgedessen begehen die meisten evangelischen Kirchen wie die katholische Kirche den Dritten Weg. Der Dritte Weg stellt auch nach Ansicht der Rechtsprechung ein sachgerechtes Beteiligungsmodell dar, bei dem die verfassungsrechtlichen Vorgaben zum Ausgleich des Interessengegensatzes in einer dem Tarifvertragssystem vergleichbaren Weise umgesetzt werden. Die kircheneigenen Regelungen nehmen daher aus Sicht des staatlichen Rechts eine den tariflichen Regelungen vergleichbare Funktion wahr (BAG 2013a, S. 437; 443 f.; BAG 2013b, S. 448; 463 f.; Richardi 2020, S. 164–165). 4.2.2 Funktionsweise des Dritten Weges Normiert in den jeweiligen Arbeitsrechtsregelungsgesetzen werden von einer Arbeitsrechtlichen Kommission Regelungen vereinbart. Die Kommission ist aus Vertretern der Dienstgeber und Mitarbeiter paritätisch zusammengesetzt, die Gewerkschaften sind in den Kommissionen in unterschiedlicher Art und Weise beteiligt. Bei einer nicht erfolgenden Einigung finden unterschiedliche Schlichtungsmechanismen Anwendung. Im Unterschied zum Tarifvertrag, der kraft gesetzlicher Anordnung im TVG normativ auf die Arbeitsverträge einwirkt, sind die von den Arbeitsrechtlichen Kommissionen vereinbarten Arbeitsvertragsregelungen etwa über die Lohnhöhe oder sonstige Arbeitsbedingungen nach überwiegender Ansicht keine Rechtsnormen. Die Beschlüsse der Arbeitsrechtlichen Kommissionen wirken, wie das BAG immer wieder bestätigt hat (vgl. BAG 2006, S. 872; 874), nicht normativ, sondern nur durch eine Inbezugnahme seitens der Arbeitsvertragsparteien (Joussen 2012a). 4.2.3 Entwicklungen Dieser Dritte Weg ist von der Rechtsprechung der deutschen Gerichte als ein dem Tarifweg gleichwertiges Modell anerkannt worden. In zwei Entscheidungen vom 20. November 2012 (BAG 2013a; BAG 2013b) hat das Bundesarbeitsgericht bestätigt, dass die Kirchen sich für dieses Verfahren der Arbeitsrechtsetzung entscheiden können und dass darin keine unverhältnismäßige Einschränkung der Gewerkschaftsrechte zu sehen ist, die in diesem System nicht zu einem Arbeitskampf aufrufen dürfen. Das ist jedenfalls dann so, wenn sich die Gewerkschaften auch in diesem System ausreichend beteiligen können. Was das genau bedeutet, hat das Gericht offengelassen, die kirchlichen Gesetzgeber haben aber, katholisch wie evangelisch, den Gewerkschaften ein Beteiligungsrecht eingeräumt.
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Doch gibt es auch andere Wege: Zum Teil greifen evangelische Landeskirchen auf das Tarifmodell zurück, verlangen dann aber von den Gewerkschaften einen Arbeitskampfverzicht. Auch dies ist vom BAG gebilligt worden. Literatur BAG (2006): 17.11.2005: Rückzahlung von Weiterbildungskosten nach AVRCaritas. Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 23 (15), 872–875. BAG (2013a): 20.11.2012: Arbeitskampf in kirchlichen Einrichtungen – Zweiter Weg. Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 30 (8), 437–448. BAG (2013b): 20.11.2012: Arbeitskampf in kirchlichen Einrichtungen – Dritter Weg. Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 30 (8), 448–467. BAG (2019a): 25.10.2018: Diskriminierung wegen der Religion – Berufliche Anforderung einer Kirchenmitgliedschaft. Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 36 (7), 455–470. BAG (2019b): 20.2.2019: Loyalitätspflichten kirchlicher Arbeitnehmer – Kündigung eines katholischen Chefarztes wegen Wiederheirat. Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht, 36 (13), 901–914. Briza, K. (1987): „Tarifvertrag“ und „Dritter Weg“. Arbeitsrechtsverfahren der Kirchen. Regensburg. BVerfG (1977): 11.10.1977: Betriebsratsarbeit im katholischen Krankenhaus. BVerfGE 46, 73–96. BVerfG (1980): 25.3.1980: Konfessionelles Krankenhaus. BVerfGE 53, 366– 420. BVerfG (1985): 4.6.1985: Kirchliches Kündigungsrecht, Loyalitätspflicht. BVerfGE 70, 138–173. Dütz, W. (2007): Die Kirchlichkeit von Einrichtungen auf dem Prüfstand. Zeitschrift für Mitarbeitervertretung-Sonderheft, 9–13. Fey, D. (2012a): Dienstgemeinschaft. In: Ders./J. Joussen/M.-O. Steuernagel (Hg.): Das Arbeits- und Tarifrecht der Evangelischen Kirche. Praxishandbuch für Kirche und Diakonie (S. 101–102). München. Fey, D. (2012b): Kirchenzugehörigkeit. In: Ders./J. Joussen/M.-O. Steuernagel (Hg.): Das Arbeits- und Tarifrecht der Evangelischen Kirche. Praxishandbuch für Kirche und Diakonie (S. 183–185). München. Joussen, J. (2007): „Ut unum sint“ – Betriebsgemeinschaft und Dienstgemeinschaft im Arbeitsrecht. Recht der Arbeit, 60, 328–335. Joussen, J. (2011): Wandel durch Annäherung an das weltliche Vorbild – Von Luxus und Notwendigkeit eines kirchlichen Mitarbeitervertretungsrechts. Zukunftsfähigkeit des kirchlichen Arbeitsrechts? Zeitschrift für Mitarbeitervertretungen-Sonderheft zur Fachtagung in Eichstätt, 20–28. Joussen, J. (2012a): Dritter Weg. In: D. Fey/J. Joussen/M.-O. Steuernagel, M.O. (2012): Das Arbeits- und Tarifrecht der Evangelischen Kirche. Praxishandbuch für Kirche und Diakonie (S. 111–115). München. Joussen, J. (2012b): Grundlagen, Entwicklungen und Perspektiven des kollektiven Arbeitsrechts der Kirchen. In: B. Kämper/H.-W. Thönnes (Hg.):
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Das kirchliche Arbeitsrecht vor neuen Herausforderungen – Essener Gespräche – Band 46 (S. 53–107). Münster. Joussen, J. (2016): § 7. Das Arbeitsrecht in der Kirche. In: H. U. Anke/H. de Wall/ H. M. Heinig (Hg.): Handbuch des evangelischen Kirchenrechts (S. 276– 341). Tübingen. Lührs, H. (2010): Die Zukunft der Arbeitsrechtlichen Kommissionen. Arbeitsbeziehungen in den Kirchen und ihren Wohlfahrtsverbänden Diakonie und Caritas zwischen Kontinuität, Wandel und Umbruch (Wirtschafts- und Sozialpolitik 2). Baden-Baden. v. Nell-Breuning, O. (1977): Kirchliche Dienstgemeinschaft. Stimmen der Zeit, 195, 705–710. Richardi, R. (2020): Arbeitsrecht in der Kirche (8. Aufl.). München.
35 Finanzen und Finanzierung1 Christian Bernzen
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Einleitung
„Die sozialen Dienste und Einrichtungen der Caritas finanzieren sich ganz unterschiedlich. Meist ist es eine Mischung aus öffentlichen Mitteln, Geld aus den sozialen Sicherungssystemen (z.B. den Krankenkassen und Pflegekassen), der Kirchensteuer, Spenden und Eigenmitteln.“ So schreibt es der Deutsche Caritasverband als Selbstauskunft auf FAQ auf seiner Internetseite (DCV FAQ). Diese „Mischung“ beschreibt das wirtschaftliche Ergebnis einer im Folgenden darzustellenden Entwicklung und kann und muss inzwischen in weiten Teilen der Sozialen Arbeit als die Summe der durch Leistungsberechtigte an ihre Dienstleister aus dem Bereich der Caritas und Diakonie gezahlten und vermittelten Entgelte angesehen werden. Soziale Arbeit ist damit in ihren ganz wesentlichen Bereichen aus einer mildtätigen Zuwendung zu Bedürftigen zu einer bezahlten Dienstleistung geworden. Caritas und Diakonie sehen sich damit auch einem modifizierten Verständnis von Subsidiarität ausgesetzt. Nach dem Prinzip der Subsidiarität, das auch über den Grundsatz der Menschenwürde, die verfassungsrechtlich geschützte Vereinigungsfreiheit und das Sozialstaatsprinzip Teil der gesellschaftlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland geworden ist (vgl. Bernzen 1966, S. 55 ff.), gibt es kompetenzrechtlich einen Vorrang kleinerer Handlungseinheiten und zugleich eine Pflicht, diese im Sinnen einer Hilfe zur Selbsthilfe zu unterstützen. In der gegenwärtigen Verfassung des Sozialstaats stehen insbesondere Leistungserbringer, also z.B. Strukturen aus dem Bereich der Caritas und Diakonie, vor der Herausforderung, sich selbst zwar im Verhältnis zum Staat als „kleinere“, aber vor allem im Verhältnis zu leistungsberechtigten Bürgerinnen und Bürgern „größere“ Einheiten neu zu verorten.
Der Text ist Professor Dr. Uwe Bernzen gewidmet, dessen Denken über Subsidiarität Ausgangspunkt meines Nachdenkens zu diesem Thema ist. Er basiert auch wesentlich auf Darstellungen bei Bernzen/Grube/Sitzler 2018.
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Historische Entwicklung der Finanzierung Sozialer Arbeit
Das, was heute mit dem Begriff "Soziale Arbeit" umschrieben wird – also Dienstleistungen zum Beispiel für Menschen mit Behinderungen, für Eltern, die mit ihrer Erziehungsverantwortung überfordert sind, oder für andere Menschen mit besonderen Schwierigkeiten, Bedürfnissen und Bedarfen – ist in der europäischen Tradition ein seit jeher staatsfernes Geschehen. Gesellschaftliche Gruppen, Zusammenschlüsse, Vereine, Verbände, Gewerkschaften, Bruderschaften und Orden haben sich dieser Aufgaben angenommen und sie außerhalb des wirtschaftlichen Bereiches gehalten, des Bereiches, der mit Gewinnstreben verbunden ist. Ihre Motive waren die Gedanken der christlichen Nächstenliebe und der Solidarität. So motiviert haben Menschen ihre Fähigkeiten, ihre Zeit und auch ihr Geld alleine und in Gruppen im Bereich der sozialen Arbeit zur Verfügung gestellt und tun dies auch heute noch. Die staatliche Gemeinschaft hat diese Engagements meistens geachtet und meist fast stets in ihre Pläne einbezogen. Vielfach hat sie diese Aktivitäten auch gefördert. Traditionell wird unter Förderung die finanzielle Förderung der freien Träger verstanden (vgl. Jans/Happe/Saurbier/Maas 2020, § 4, Rn 44; Witte: In: Möller 2017, § 74, Rn 6). Förderung geschah aber auch durch Empfehlungen und Belobigungen (vgl. auch can. 298 § 2, can. 299 § 2 CIC). Zu den finanziellen Zuwendungen gehören auch Zuschüsse zu Investitions-, Personal- und Maßnahmekosten. Daneben sind als Zuwendungen auch Dienstleistungen, das Zur-Verfügung-Stellen von Liegenschaften oder das Stellen von Bürgschaften anzusehen (vgl. § 5 Abs. 3 SGB XII; Mrozynski 2009, § 74, Rn. 2). Denn geldwerte Vorteile kann ein öffentlicher Träger einem freien Träger auch in anderer Weise als durch die Auszahlung von Geld gewähren (vgl. Bernzen 1993, S. 52). 3
Erste (haushalts-)rechtliche Regelungen
Wie es für Zuwendungen typisch ist, hat es einen Anspruch auf sie nicht gegeben; lange war das Zuwendungswesen im Handeln der öffentlichen Verwaltung ein Raum frei von gesetzlichen Ansprüchen. In Deutschland haben sich erste Verrechtlichungen des Zuwendungswesens unter dem Gesichtspunkt des Haushaltsrechtes auf der Basis der Reichshaushaltsordnung von 1922 ergeben. In Haushaltsordnungen wurde geregelt, wann der Staat das Geld seiner Bürgerinnen und Bürger an Stellen außerhalb der Verwaltung geben durfte. Damit waren Bedingungen für rechtmäßige Zuwendungen geschaffen, Gründe für die Gewährung von Zuwendungen aber erst angedeutet. Im Recht der Organisation sozialer Arbeit fanden sich – korrespondierend zur grundsätzlichen Freiwilligkeit von Zuwendungen – auch lediglich eher Andeutungen zuwendungs- und förderrechtlicher Regelungen (vgl. § 10 BSHG, § 4 RJWG, §§ 5, 7–9 JWG).
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Sozialrechtliche Finanzierungsregeln
Dieses wurde insbesondere in denjenigen Fällen als unbefriedigend empfunden, in denen freie Träger Leistungen erbrachten, auf die Bürgerinnen und Bürger im Verhältnis zu öffentlichen Trägern einen Rechtsanspruch hatten. In diesen Bereichen entwickelten sich Rechtsfiguren, die darauf zielten, den freien Trägern zum Ersatz ihrer Aufwendungen zu verhelfen. Es entstand das Kostenerstattungs- und Pflegesatzrecht. Mit ihm wurde das Verhältnis zwischen ko-finanzierendem Staat und den freien Trägern so geordnet, dass diese sich in ihren wesentlichen Ausgabenpositionen auf ein staatsanaloges System festlegten, insbesondere ihr Personal im Wesentlichen nach einem bei staatlichen Stellen üblichen Tarifwerk bezahlten und dafür vom Staat finanziell praktisch so behandelt wurden, als seien ihre Einrichtungen öffentliche. Dies hatte in Zeiten, in denen es um einen Ausbau von Einrichtungen der Jugendund Sozialhilfe ging, großen Nutzen für beide Seiten: Es wurde ein finanzieller Gleichlauf der Systeme gesichert, der Elemente der Konkurrenz nur bei einem Wettstreit von inhaltlichen Konzepten vorsah. Das Pflegesatzwesen hatte aber auch eine wesentliche Schwäche: Es enthielt keinen Impuls zur Beschränkung der Ausgaben, alle genehmigten oder anerkennungsfähigen Ausgaben konnten (und sollten) vorgenommen werden, unabhängig von der Frage, ob z.B. auch ein guter Kaufmann Geld für diesen Zweck eingesetzt hätte. So kam es bei den Angeboten der freien wie der öffentlichen Träger immer wieder zu Kostensteigerungen, die innerhalb eines Pflegesatzsystems nicht zu vermeiden waren. Die kommunalen Spitzenverbände versuchten deshalb pauschale Kostenbeschränkungen innerhalb des bestehenden Systems (sog. „Deckelungen") und den Wechsel auf ein anderes Finanzierungssystem durchzusetzen (vgl. Wabnitz 1999; Struck 1997). Hierfür boten sich im Krankenversicherungsrecht erprobte Elemente an, die auch im Pflegeversicherungsrecht eingeführt worden waren. Dieses System ist marktnäher als das Pflegesatzsystem ausgerichtet, weil es statt der Erstattung anerkennungsfähiger Kosten prospektiv kalkulierte Entgelte vorsieht: Leistungserbringer in der sozialen Arbeit sollten nun im Voraus einen Preis für ihre Arbeit verhandeln. Von einem marktwirtschaftlichen System unterscheidet es sich aber wesentlich dadurch, dass in ihm keine „Kunden“ mit voller Kundenautonomie vorgesehen sind: Weiter sollen gesetzlich bestimmte Sozialleistungen erbracht werden, über deren Bewilligung öffentliche Stellen entscheiden. Dieses System wurde Mitte bzw. Ende der neunziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts auch in der stationären Sozial- und Jugendhilfe eingeführt. Die zentralen Elemente der gesetzlichen Neuregelung sollten eine Dämpfung der Kostenentwicklung erreichen, stärkere Transparenz schaffen und die Effizienz der Sozialen Arbeit maximieren (vgl. Baltz 1998; Wabnitz 2005).
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Aktuelle Regelungssituation
In gewisser Abweichung von dem Bereich der Altenhilfe hat der Gesetzgeber in den für den Bereich der Caritas und der Diakonie besonders wichtigen Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe und Eingliederungshilfe also zwei unterschiedliche Finanzierungswege vorgesehen (vgl. Wiesner 1999, S. 80): – Zum einen gibt es die Möglichkeit der Förderung der Arbeit der freien Träger durch die öffentlichen Träger. Diese Förderung kann auf der Basis des § 74 SGB VIII bzw. § 5 Abs. 3 SGB XII entweder durch einen Förderbescheid gewährt oder in einem öffentlich-rechtlichen Fördervertrag vereinbart werden. – Zum anderen bestehen die Möglichkeiten der Kostenübernahme nach § 77 SGB VIII oder der Entgeltzahlung nach den §§ 78 a ff. SGB VIII, 123 ff SGB IX und nach den 75 ff. SGB XII. Damit besteht in diesen Bereichen eine Kombination traditioneller Finanzierungsverfahren und neuerer marktähnlicher Finanzierungsregeln. Für die stationären und teilstationären Bereiche der Jugendhilfe, insbesondere aus dem Bereich der Hilfen zur Erziehung, sehen die §§ 78 a ff. SGB VIII in ähnlicher Form wie im Pflegeversicherungsrecht in den §§ 71 SGB XI den Abschluss von Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen vor. Die einzelnen Leistungsbereiche, für die diese Vereinbarungen abzuschließen sind, sind in § 78 a Abs. 1 SGB VIII abschließend aufgezählt; allerdings lässt Abs. 2 der Vorschrift auch landesrechtliche Zuweisungen weiterer Leistungsbereiche zu. Entsprechendes gilt für teilstationäre und stationäre Formen der Eingliederungshilfe nach den §§ 123 ff. SGB IX. Ein notwendiges Element im System der Leistungs- und Entgeltvereinbarungen wird in den Vereinbarungen im Kinder- und Jugendhilferecht sichtbar. Nach den §§ 78 a ff. SGB VIII ist Beschränkung des Wunsch- und Wahlrechts nach § 5 Abs. 2 SGB VIII angeordnet: Leistungen nach § 78 a SGB VIII dürfen grundsätzlich nur in Einrichtungen gewählt werden, für die alle Vereinbarungen nach § 78 b Abs. 1 SGB VIII abgeschlossen worden sind. Soll die Hilfe in einer Einrichtung erbracht werden, mit der keine der oben beschriebenen Vereinbarungen abgeschlossen wurden, so kann die Hilfe nur dann gewährt werden, wenn sie nach Maßgabe des Hilfeplans nach § 36 SGB VIII oder aufgrund einer Einzelfallentscheidung geboten erscheint. 5.1
Wirksamkeit als zentraler Bezugspunkt der Finanzierung
Die Finanzierung von Sozialleistungen, die nicht durch öffentliche Stellen erbracht werden, unterliegt also einem Paradigmenwechsel: Lange Zeit war sie bestimmt durch den Gedanken der öffentlichen Zuwendung zu einer freigemeinnützigen Aktivität und in der Höhe durch das Selbstkostenprinzip begrenzt. Inzwischen aber hat – wie dargestellt – in fast allen stationären und
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teilstationären Bereichen der öffentlich mitfinanzierten Sozialen Arbeit der Gedanke prospektiver Entgelte Einzug gehalten; zunächst im Bereich der sozialen Pflege und der Sozial- und Eingliederungshilfe, dann auch in der Jugendhilfe. Eine Umsteuerung zu Finanzierungsregelungen, die diesem Prinzip folgen, leidet darunter, dass kaum konkrete Vorstellungen oder Modelle existieren, die die Wirksamkeit oder, anders gesagt, Ergebnisse der Arbeit eines Anbieters zum Bezugspunkt der Finanzierung seiner Arbeit machen. Deshalb bleibt es im Ergebnis oft bei einer Finanzierung, die dem Selbstkostenprinzip folgt, auch wenn formal prospektive Entgelte vereinbart werden. Dieses führt nicht selten zu besonderen Schwierigkeiten, weil die gesetzlichen Regeln und die Praxis nur begrenzt zueinander passen. Nun steht die Umsetzung des Konzeptes nach dem Inkrafttreten des Bundesteilhabegesetzes (BTHG) vor einer neuen Etappe. Der Gestaltungsraum für die Vereinbarungspraxis wird dabei zentral durch Landesrahmenverträge bestimmt. Sie stellen die Verbindung zwischen den gesetzlichen Regelungen und der Verhandlungs- und Vertragspraxis dar und wirken intensiv, in konkreten Verhandlungen sind sie nicht selten von größerer Bedeutung als die gesetzlichen Regelungen. 5.2
Leistungsberechtigte als zentrale Akteure im sozialrechtlichen Dreieck
Mit dem neuen Teilhaberecht gerät aber auch eine Beziehung in den Blick, die bisher in der sozialpolitischen und auch sozialrechtlichen Gestaltung eher von untergeordneter Bedeutung war, nämlich die auch juristisch gestalteten Beziehungen zwischen Leistungserbringern und Leistungsberechtigten. Diese Beziehungen zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und freien Trägern und anderen Leistungsanbietern der Kinder- und Jugendhilfe oder auch der Eingliederungshilfe andererseits sind nicht öffentlich-rechtlicher Natur; sie beruhen regelmäßig auf zivilrechtlichen Verträgen. Deren Inhalt ist allerdings weitgehend öffentlich-rechtlich, nämlich durch das SGB VIII, XI und XII, vorgeprägt. Auch verbraucherschützende Regelungen aus dem Bereich des Zivilrechts, insbesondere das Wohn- und Betreuungsvertragsgesetz (WBVG), entfalten Einfluss auf die vertraglichen Regelungen. Entsprechend allgemeinen zivilrechtlichen Vorstellungen wird bei diesen Verträgen zwischen den Hauptpflichten, in der Regel der Leistungspflicht des freien Trägers und einer eventuellen Entgeltpflicht des Bürgers, und Nebenpflichten unterschieden. Zu solchen Nebenpflichten gehören beispielsweise Auskunftspflichten, die Einhaltung der Datenschutzbestimmungen des SGB VIII und/oder X durch die freien Träger und die Gewährung von Mitwirkungsrechten, z.B. in Elternvertretungen in Kindertageseinrichtungen. Sowohl die Verletzung von Hauptpflichten wie auch die Verletzung von Nebenpflichten können Schadenersatzansprüche auslösen, die auf dem Zivilrechtsweg verfolgt werden müssen.
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5.3
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Freier Marktzugang im sozialrechtlichen Dreieck
Der Synchronisation der öffentlich-rechtlichen Sozialleistungsansprüche der Bürgerinnen und Bürger gegen öffentliche Stellen und der privatrechtlichen Vereinbarungen zwischen Bürgerinnen und Bürgern und Leistungsanbietern dienen die Vereinbarungen nach den §§ 123 ff SGB IX oder 78a ff SGB VIII. Sie eröffnen den Leistungsanbietern den Marktzugang. Zugleich prägen sie das tatsächliche Leistungsangebot und die Preise auf einem regulierten Dienstleistungsmarkt. Damit stellen sie eine Situation her, die als sozialrechtliches Dreiecksverhältnis beschrieben wird. Vor diesem Hintergrund ist das Verhältnis der vertragsrechtlichen Regelungen des SGB VIII, IX, XI und XII zu den leistungsrechtlichen Regelungen zu verstehen. Führend in einer sozialrechtlichen Sicht sind die leistungsrechtlichen Bestimmungen. Sie konkretisieren den im SGB I formulierten Auftrag, soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit herzustellen, und stellen damit eine einfachgesetzliche Ausformung der Regelungen der Art. 1 und 20 GG dar. Demgegenüber handelt es sich bei den vertragsrechtlichen Regelungen um nachgeordnete Regelungen, die einen wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Charakter tragen und der Marktordnung und Marktregulierung dienen. Praktisch bedeutsam wird dies bei der Klärung der Frage, wie mit den offenen Hilfekatalogen der Eingliederungshilfe und der Kinder- und Jugendhilfe angesichts der den Marktzugang beschränkenden vertragsrechtlichen Regelungen umgegangen werden kann. Faktisch wirken die vertragsrechtrechtlichen Regelungen nicht selten leistungsbeschränkend: Eine Leistung, die tatsächlich nicht angeboten wird, kann nicht gewählt werden. In der Realität von Verhandlungen über Leistungs- und Entgeltverhandlungen kann immer wieder beobachtet werden, dass der Abschluss der den Marktzugang eröffnenden Vereinbarungen verhindert oder verzögert wird. Auf der Leistungsanbieterseite kann dann der Eindruck entstehen, dass eine Leistungsbeschränkung angestrebt wird. Juristisch geboten ist dagegen dieser Umgang mit den Regelungen: Alle angebotenen Leistungen, die wirksam, zweckmäßig und wirtschaftlich sein können, ist der Marktzugang zu ermöglichen. Die Klärung der Frage, ob sie im Einzelfall zu erbringen sind, ist öffentlich-rechtlich in den Prozessen in der Hilfeplanung nach § 36 SGB VIII bzw. der Teilhabe- und Gesamtplanung nach dem SGB IX und dem konkreten Hilfebewilligungsgeschehen nachzugehen. Zivilrechtlich ist sie im Rahmen der zivilrechtlichen Vereinbarungssituation zu reflektieren. 5.4
Sachleistungsverschaffung als Recht der Leistungsberechtigten
Der Leistungsanspruch der Bürgerinnen und Bürger richtet sich gegen die öffentlichen Träger der Kinder- und Jugendhilfe (vgl. § 3 Abs. 2 SGB VIII), der Pflege, Sozialhilfe oder auch der Eingliederungshilfe. Diese Ansprüche stellen die Grundlage und damit das Grundverhältnis des Hilfegeschehens dar (vgl. Pattar 2012). Die öffentlichen Träger können die gegen sie bestehenden An-
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sprüche entweder selbst erfüllen oder dadurch realisieren, dass sie die Möglichkeit zur Verschaffung der geschuldeten Leistungen eröffnen. Diese Form der Anspruchserfüllung wird als Sozialleistungsverschaffung, der auf sie gerichtete Anspruch als Sozialleistungsverschaffungsanspruch bezeichnet (vgl. BSG, 28.10.2008 – B 8 SO 22/07 R, BSGE 102, 1, Rn. 15). Die konkreten Dienstleistungsansprüche von Bürgerinnen und Bürger gegen nichtstaatliche Leistungserbringer ergeben sich – wie bereits oben bemerkt – jedoch nicht aus dem öffentlichen Recht. Sie sind zivilrechtlicher Natur und müssen damit eigenständig zivilrechtlich begründet werden. Regelmäßig geschieht dies durch Verträge, die insbesondere bei der Verbindung von Wohnraumüberlassung und Fachleistung schriftlich abzuschließen sind (vgl. § 6 Abs. 1 WBVG). Mündliche Vereinbarungen sind im Bereich ambulanter Fachleistungen, insbesondere sog. niedrigschwelliger Art, etwa in dem Bereich der Beratungsleistungen, üblich. Aber auch hier finden die Leistungen ihre Grundlage in einer zivilrechtlichen Relation zwischen Bürgerinnen und Bürgern einerseits und Leistungserbringern andererseits. 5.5
Zahlungsansprüche von Caritas und Diakonie und deren Erfüllung
Folgerichtig im Sinne der Ausführungen zuvor ist es, dass sich ein Zahlungsanspruch der Leistungserbringer gegen ihre Auftraggeber, nämlich die Bürgerinnen und Bürger, richtet. Dieses Ergebnis bedarf jedoch einer Korrektur, weil es auf das sozialrechtliche Grundverhältnis hin angepasst werden muss. Der Aspekt der sozialrechtlichen Sachleistungsverschaffung muss also in die zivilrechtliche Konstruktion eines Zahlungsanspruches transportiert werden. Dieses geschieht dadurch, dass der zur Sachleistung – genauer: zur Sachleistungsverschaffung – verpflichtete öffentliche Träger der zivilrechtlichen Schuld der Bürgerinnen und Bürger beitritt. Er übernimmt die Kosten der Hilfe. Diese „Übernahme“ der Hilfekosten bedeutet im Verhältnis zwischen Bürgerinnen und Bürgern und öffentlichen Trägern eine Schuldübernahme durch Verwaltungsakt mit Drittwirkung in der Form eines Schuldbeitritts, die sich zivilrechtlich als kumulative Schuldübernahme darstellt. Dieser Schuldbeitritt hat zum einen den unmittelbaren Zahlungsanspruch der Leistungserbringer gegen die öffentlichen Träger, zum anderen einen Anspruch der Bürgerinnen und Bürger gegen die öffentlichen Träger auf Zahlung an die Leistungserbringer zur Folge. Die öffentlichen Träger treten auf diese Weise als Gesamtschuldner in Höhe der bewilligten Leistungen an die Seite der Bürgerinnen und Bürger (vgl. BSG, 28.10.2008 – B 8 SO 22/07 R, BSGE 102, 1, Rn. 25). 5.6 Einzelvereinbarungen und Selbstbeschaffungen als Notfallstrategien im sozialrechtlichen Dreieck Der Gesetzgeber hat die Möglichkeit gesehen, dass sozialrechtliche Leistungsansprüche bestehen, ohne dass vertragsrechtlich Leistungen vorgesehen sind, die diese Leistungsansprüche decken. Er hat zur Regulierung dieser Situatio-
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nen zwei Instrumente zur Verfügung gestellt. Dies sind einerseits die Möglichkeit der Einzelvereinbarung und andererseits die Möglichkeit der Selbstbeschaffung. Mit der Einzelvereinbarung wird die Eröffnung der Leistungserbringung zum Vertragsrecht gewissermaßen auf den Einzelfall hin verkleinert. Ein vertragsrechtlicher Marktzugang wird nur auf einen Einzelfall hin geschaffen (vgl. §§ 78b Abs. 3 SGB VIII, 123 Abs. 5 SGB IX, 75 Abs. 4 SGB XII). Kinder- und jugendhilferechtlich wird der Zugang zu einer Einzelvereinbarung an Feststellungen in dem Hilfeplan nach § 36 SGB VIII geknüpft (Vgl. § 78 b Abs. 3 SGB VIII). Eingliederungshilferechtlich wird der Zugang durch einen Bezug auf vergleichbare Angebote reguliert (vgl. §§ 123 Abs. 5 SGB IX, 75 Abs. 4 SGB XII). Mit der Möglichkeit der Selbstbeschaffung wird der Vorrang der leistungsrechtlichen Regelungen auch in den Fällen sichergestellt, in denen die benötige Leistung weder auf dem regulär vertragsrechtlich eröffneten Weg noch im Rahmen einer Einzelvereinbarung zu erlangen ist. Dabei kann es dahinstehen, ob die Hindernisse tatsächlicher oder rechtlicher Art sind. In diesem Fall kommt es zunächst und ohne jede vertragsrechtliche Regelung zu einem zivilrechtlichen Beschaffungsvorgang durch den Hilfeempfänger selbst. War dieser leistungsrechtlich erforderlich und war dem Hilfeempfänger eine Hilfe innerhalb des konventionell vorgesehenen Szenarios nicht möglich, kann er im Rahmen gesetzlich geregelter Voraussetzungen (vgl. §§ 36a Abs. 3 SGB VIII, 18 SGB IX) eine Kostenerstattung durch öffentliche Stellen erlangen und damit so gestellt werden, als sei sein leistungsrechtlicher Anspruch im Rahmen funktionierender vertragsrechtlicher Relationen befriedigt worden. 6 Ausblick: Klientinnen und Klienten als Finanziers der Sozialen Arbeit Caritas und Diakonie kommen aus der Tradition spendenfinanzierter, in heutiger Sprache: zivilgesellschaftlicher Aktivität. Sie sind heute in weiten Teilen funktional notwendiger Bestandteil eines komplexen Systems öffentlich garantierter Sozialleistungen. Sie unterliegen darin vielfältigen zivil- und öffentlichrechtlichen Regelungen. Die zentrale Herausforderung in der Gestaltung dieser Beziehungen liegt darin, eine Personenzentrierung, also eine klare Orientierung an den individuellen Anforderungen der Leistungsberechtigten, zu erreichen. Die gegenwärtige Rechtslage ermöglicht dies und macht zugleich eine praktische Neujustierung erforderlich. Werden die Leistungsberechtigten als Finanziers der Sozialen Arbeit verstanden, ergibt sich zugleich eine neue Perspektive auf die Anforderungen an die Transparenz von Finanzierungen: Zentral notwendig wird, dass die Leistungsberechtigten das von ihnen zu zahlende oder durch sie vermittelte Entgelt für ihre Dienstleistungen als vernünftig ansehen. Ist das der Fall, tritt die Frage in
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den Hintergrund, was die Leistungserbringer mit dem Geld machen, das ihnen angemessener Weise zusteht. Sie werden auch unter dieser Rücksicht anderen Dienstleistungsstrukturen vergleichbarer. Literatur Baltz (1998): Leistungsentgelte in der Kinder- und Jugendhilfe, NDV, 78 (12), 369–378. Bernzen, C./Grube, C. /Sitzler, R. (2018): Leistungs- und Entgeltvereinbarungen in der Sozialwirtschaft. Baden-Baden. Bernzen, C. (1993): Die rechtliche Stellung der freien Jugendhilfe. Köln. Bernzen, U. (1966): Das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip des deutschen Staatsrechts. Düsseldorf. DCV, FAQ: https://www.caritas.de/diecaritas/wir-ueber-uns/transparenz/finan zierung/faq (Zugriff am 1.2.2021). Jans, K.-W./Happe, G./Saurbier, H./Maas, U. (2020): Kinder- und Jugendhilferecht. Loseblattsammlung (3. Aufl.; Stand Juli 2020) Suttgart. Krämer E. (1990): Die Abgrenzung des haushaltsrechtlichen Zuwendungsbegriffs und ihre Bedeutung, DÖV, 546–552. Möller W. (Hg.) (2017): Praxiskommentar SGB VIII (2. Aufl.). Köln. Mrozynski, P. (2009): Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) (5. Aufl.). München. Pattar A. K. (2012): Sozialhilferechtliches Dreiecksverhältnis – Rechtsbeziehungen zwischen Hilfebedürftigen, Sozialhilfeträgern und Einrichtungsträgern, SRA, 85–99. Struck N. (1997): Sozialrechtliche Qualitätsbestimmungen und die Diskussion des Qualitätsthemas in der Jugendhilfe, ZfJ, 84 (5), 153–157. Wiesner R. (1999): Zur Neuregelung der Entgeltfinanzierung in der Kinderund Jugendhilfe, ZfJ, 86 (3), 79–85. Wabnitz R. J. (1999): Qualitätsentwicklung als gesetzliche Aufgabe, ZfJ, 86 (4), 123–128. Wabnitz R. J. (2005): Rechtsansprüche gegenüber Trägern der öffentlichen Kinder- und Jugendhilfe nach dem Achten Buch Sozialgesetzbuch (SGB VIII). Berlin.
36 Ethische Beratung und Supervision Norbert Steinkamp
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Von der Ethikberatung zur ethischen Fallbesprechung
Ethische Beratung in Einrichtungen des Gesundheits- und Sozialwesens wird in europäischen Ländern vornehmlich in Form moderierter ethischer Fallbesprechung durchgeführt. Die ethische Fallbesprechung ist ein Teamgespräch über eine konkrete moralische Fragestellung bei der Behandlung, Pflege oder Versorgung einer Patientin, eines Bewohners oder einer Klientin. Der äußeren Form und der kommunikativen Prozesse nach hat die ethische Fallbesprechung Berührungspunkte mit der Teamsupervision. Beide Formen moderierter Reflexion unterscheiden sich jedoch insofern, als bei einer ethischen Fallbesprechung der Austausch über moralische Aspekte des Handelns im Vordergrund steht. Diese Ebene kann auch bei einer Teamsupervision eine Rolle spielen, stellt jedoch nicht in gleicher Weise das Hauptaugenmerk dar. Eine in manchen Situationen noch stets angewandte Vorläuferform der heutigen ethischen Fallbesprechung im Team ist die Ethikberatung durch eine in ethischer Reflexion und Argumentation kundige Person. Diese wurde als ethics consultation seit Beginn der 1970er Jahre in Kliniken der USA eingeführt und nach und nach in eine partizipative Richtung weiterentwickelt. Fox, Myers und Pearlman (2007) beschreiben Aufgaben und Tätigkeit der Ethikberatung dahingehend, dass auf Anfrage argumentativ begründeter Rat erteilt werden kann. Dies schließt eine Intervention in Entscheidungsprozesse ein, wenn Fachkräfte von Ethikberater: innen Ratschläge und Begründungen bezüglich konkreter Handlungsweisen erwarten. Seit 1995 tragen die periodisch weiterentwickelten Core Competencies for Healthcare Ethics Consultation (Kernkompetenzen für Ethikberatung im Gesundheitswesen) der American Association for Bioethics and Humanities (Tarzian/ASBH Core Competencies Update Task Force 1 2013) zur Vielfalt ethischer Beratung, zur Entwicklung partizipativer Ansätze der ethischen Beratung, zur Konturierung des Berufsbildes ethischer Berater:innen und Modera-
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tor:innen sowie auch zur Erkundung dessen bei, was in diesem Bereich unter spezifisch ethischer Expertise zu verstehen sei (Steinkamp/Gordijn/ten Have 2021). In Deutschland spiegelt sich die Entwicklung hin zur Ausbildung einer beruflichen Expertise ethischer Beratung beispielsweise in der Zertifizierung von Ethikberater:innen und Moderator:innen durch die Akademie für Ethik in der Medizin wieder (AEM Akademie für Ethik in der Medizin). In der Fallbesprechung im Team ist die ethische Reflexion auf das (eigene) Handeln nicht nur die Aufgabe von Ethiker:innen. Vielmehr stehen hier die Fachkräfte selbst und zunehmend auch die Adressat:innen ihres professionellen Handelns, also die Patientinnen, Bewohner und Klientinnen im Mittelpunkt (Kooperationskreis Ethik 2019). Sie sind die Subjekte dessen, was nun vornehmlich ethische Beratschlagung oder, mit einem Fachwort, auch Deliberation genannt wird. Die Ethikberatung verändert sich vom fachlichen Ratschlag „von außen“ hin zur Moderation partizipativer Reflexionsprozesse. Die ethische Fachkraft unterstützt nun die Handelnden durch eine ethische Fallbesprechung bei ihrem Bemühen und begleitet sie in ihrem Prozess, selbst zu vertretbaren und gut begründeten Handlungsoptionen oder zu einem vertieften Verständnis der zu stellenden Fragen zu kommen. Die hierfür nötige Expertise wird nicht mehr in Analogie zur fachärztlichen Expertise, sondern als Wissen und Fähigkeit verstanden, deliberative Prozesse zu gestalten (eine ethische Fallbesprechung zu moderieren oder Instrumente ethischer Reflexion auf Organisationsebene zu implementieren) und die Reflexionskompetenz aller in moralischen Fragen zu stärken. Die genannten Veränderungen zielen darauf ab, sowohl die Eigenständigkeit der Professionen in der Zusammenarbeit in multiprofessionellen Teams als auch die Adressat:innen professionellen Handelns im Sinne des Empowerment zu stärken. Pragmatisch können Formen teilhabeorientierter ethischer Beratschlagung sowohl die Akzeptanz der durch sie generierten Überlegungen und Schlussfolgerungen als auch aktives Lernen von Fachkräften und Organisationen fördern (Steinkamp/Gordijn 2010, S. 311–325). 2
Moderierte ethische Fallbesprechung in Organisationen des Gesundheitsund Sozialwesens
Im Blick auf die hohe Arbeitsbelastung in Organisationen des Gesundheitsund Sozialwesens erweist sich eine Unterscheidung zwischen formeller und informeller ethischer Beratschlagung als hilfreich. Informell ist eine solche Beratschlagung dort, wo im Arbeitsablauf und in bestehenden Besprechungsformaten (beispielsweise in Übergabegesprächen) moralische Fragen angesprochen und ethisch reflektiert werden (Lob-Hüdepohl 2017, S. 4). Die bei formellen ethischen Fallbesprechungen angewandten Überlegungen und Abläufe
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lassen sich dabei, durchaus auch in verkürzter Form, so in den Alltag integrieren, dass sie von jedem und jeder Einzelnen allein oder im Team genutzt werden können, ohne hierfür gesonderte Besprechungsformate in Anspruch zu nehmen. In einer formellen ethischen Fallbesprechung wird eine konkrete Frage moralisch richtigen oder guten Handelns bei der Behandlung, Pflege oder Versorgung einer Person mit allen verantwortlich involvierten Fachkräften im Team unter Anleitung einer Moderatorin besprochen. Die Moderation orientiert sich an einem zuvor ausgearbeiteten Ablauf. Hierbei hat sich die Unterscheidung zwischen normativ begründenden (überwiegend prospektiven) und interpretativ verstehenden (eher retrospektiven) Methoden der Gesprächsleitung als hilfreich erwiesen (Steinkamp/Gordijn 2010, S. 253). Ist die Bestimmung der moralischen Fragestellung relativ klar und deutlich möglich, liegt eine normativ begründende Herangehensweise nahe. Das Ziel einer solchen Besprechung ist, innerhalb einer begrenzten Zeit (in der Regel wird etwa eine Stunde veranschlagt) eine – wie immer vorläufig – begründete Antwort auf eine spezifische Handlungsfrage zu finden. In Situationen dagegen, in denen nicht eine handlungsbezogene moralische Frage, sondern zunächst einmal die Frage des Verstehens einer als erzählter Geschichte aufgefassten Handlungssituation im Vordergrund steht, erscheint der Gebrauch einer zu Interpretation und Verstehen anleitenden, gegebenenfalls zu retrospektiver Sichtweise einladenden Methode sinnvoller. 3
Methoden formeller ethischer Fallbesprechung
Methoden ethischer Fallbesprechung helfen bei der Strukturierung des Prozesses der Deliberation. Sie bestehen aus einer kleineren Anzahl von Schritten, mittels derer interprofessionelle Teambesprechungen in aufeinanderfolgende Phasen unterteilt werden. Sie orientieren sich an allgemeinen Regeln der Argumentation und verknüpfen ethische mit fachlichen (z.B. ärztlichen, pflegerischen, sozialprofessionellen) Argumentationsweisen. Ihre Grundstruktur kann in Protokollen für unterschiedliche Praxiszusammenhänge weiter ausgearbeitet werden. Das Protokoll einer ethischen Fallbesprechung kann eine Fragenliste sein, in welcher die Grundstruktur durch spezifische Fragen stationärer oder ambulanter Kontexte ergänzt wird. Manschot und van Dartel (2009) schlagen vor, ähnlich der Differenzierung zwischen normativ und auf Verstehen ausgerichteten, problemorientierte von haltungsorientierten Methoden zu unterscheiden. Mithilfe problemorientierter Methoden wird eine möglichst große Klarheit darüber angestrebt, welche Aspekte eines Problems mittels welcher theoretischen und praktischen Annahmen analysiert werden können. Ziel ist, durch argumentative Klärung Wege zu einer verantworteten Entscheidung aufzuzeigen.
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Ethische Beratung und Supervision
Mithilfe haltungsorientierter Methoden wird das Gespräch im Sinne interpretativ-verstehenden Denkens angeleitet mit dem Ziel, das Problem bzw. Teile des Problems besser verstehen und in den Gesamtzusammenhang des Handelns einordnen zu können. Problemorientierte beziehungsweise auf Begründung ausgerichtete Methoden sind direkt handlungsorientierend, haltungsorientierte oder auf Interpretation und Verstehen ausgerichtete Methoden sind indirekt handlungsorientierend. Beispiele für problemorientierte Fallbesprechungsmethoden (Steinkamp/Gordijn 2003) sind: – der klinische Pragmatismus (Fins/Bacchetta/Miller 2021) für die Intervention in klinischen Entscheidungssituationen, vornehmlich bei hohem Handlungsdruck, – die Nimwegener Methode der ethischen Fallbesprechung als Instrument interprofessioneller Teambesprechungen (Steinkamp 2020), – das Berliner Modell der Ethikberatung im sozialprofessionellen Handeln (Lob-Hüdepohl 2017). Beispiele für haltungsorientierte Methoden sind: – das hermeneutische Gespräch zur (retrospektiven) Analyse von Narrativen (Durand 1999), – die Sokratische Methode (Birnbacher/Krohn 2002) zur vertiefenden Reflexion über den Einzelfall hinausgehender Fragen. Welche Methode jeweils den Vorzug bekommt, hängt von der Situation, der in der Besprechung eingenommenen Perspektive sowie von den vereinbarten Besprechungszielen ab: Tabelle 1: Verschiedene methodische Wege der ethischen Fallbesprechung Klinischer Pragmatismus Nimwegener Methoden Hermeneutische Methode Sokratische Methode
Situation Moralischer Konflikt, Entscheidungssituation Moralisches Problem in der Entscheidungsfindung Moralisches Unbehagen, Reue, unerledigte Fragen Begriffliche oder normative Unklarheit
Perspektive Primär prospektiv Primär prospektiv
Ziel Konsens, Handlung
Primär retrospektiv
Interpretation, Verstehen, Haltung(sklärung) Begriffsklärung, Haltung
Primär retrospektiv
Begründung, Argumente, Handlung
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N. Steinkamp
Die Nimwegener Methode als Beispiel prospektiver, handlungsorientierter ethischer Fallbesprechung Die Nimwegener Methode ist ein vierstufiges Modell der prospektiven ethischen Falldiskussion, das ursprünglich vom Bochumer Medizinethischen Arbeitsbogen (Viefhues/Sass 1987) abgeleitet wurde. Entwickelt wurde sie vornehmlich für die Fallbesprechung in interprofessionellen Teams in Organisationen des Gesundheitswesens. Eine solche Strukturierung von Teambesprechungen ist – wie das Berliner Modell für Ethikberatung in sozialprofessionellen Berufen oder im Caritasverband Rottenburg-Stuttgart diskutierte Modelle zeigen (Riese/Strube 2019, S. 78-79) – über Gesundheitsorganisationen hinaus adaptierbar an die Realität von Organisation des Sozialwesens. Tabelle 2: Phasen der Nimwegener Methode für ethische Fallbesprechung Gesprächsphase Problembestimmung Inventarisieren und Verstehen der Situation Ethische Bewertung
Beschlussfassung
Fragen Was ist der Anlass der Besprechung? Wie lautet das moralische Problem? Ist das, was wir tun, das moralisch Richtige bzw. Gute? Welche medizinischen, pflegerischen, sozialprofessionellen, lebensanschaulichen und organisatorischen Aspekte sind relevant und wie sind sie zu verstehen? Was entspricht am besten dem Wohl und Willen der betreffenden Personen? Wie lassen sich diesbezüglich die jeweilige Verantwortung von Ärzt:innen, Pflegenden, Sozialprofessionellen und anderen sowie auch deren Interessen und Ansprüche definieren? Hat sich die Ausgangsfrage geändert? Welche Schlussfolgerungen und Entscheidungen lassen sich aus dem zuvor Besprochenen ableiten? Welches sind die wichtigsten Argumente?
Nicht immer ist gleich zu Beginn deutlich, worin das moralische Problem in einer Situation besteht. Dann hilft es, die Gesprächsteilnehmer:innen zunächst um Nennung des konkreten Anlasses der Besprechung zu bitten. Es kommt also anfangs darauf an, einen konkreten Bezug zu den beteiligten Personen sowie zu den im Team wahrgenommenen moralischen Fragen herzustellen. Werden im ersten Anlauf mehrere moralische Probleme genannt, können diese zunächst gesammelt und sodann nach Dringlichkeit oder Bedeutung geordnet werden. Schließlich einigen sich die Teilnehmenden auf eine in der konkreten Situation als vorrangig wahrgenommene Frage und formulieren diese so konkret und klar wie möglich. Diese Vorgehensweise beruht auf zwei Annahmen: Erstens zeigen sowohl Fallbesprechungen als auch die Arbeit von Ethikkomitees, dass beim Fehlen einer klar eingrenzbaren Fragestellung die Deliberation nach problemorientierten Methoden weniger gut zu einem Ergebnis führt (Steinkamp et al. 2010). In einer Situation, in der vor allem das moralische
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Unbehagen oder die Reue über Versäumnisse und Fehlentscheidungen im Vordergrund stehen, kann eine andere, haltungsorientierte Methode der Fallbesprechung, eventuell auch zur Ergänzung, herangezogen werden. Zweitens stellen und erschließen sich moralische Fragen nicht selten auf einer intuitiven Ebene. Es kann deshalb hilfreich sein, sich mit der eigenen, intuitiven Situationswahrnehmung auseinanderzusetzen, bevor detailliertere Situationsbeschreibungen unter Verwendung von Fachterminologie besprochen und ethische Argumente ausgearbeitet werden. In Bezug auf die Bedeutung von Intuitionen erschließen sich bereits nach Thomas von Aquin (1225–1274) Alltagsmoral sowie moralische Sensibilität einer Person über das, was wir Gewissen nennen. Gewissensurteile enthalten so bereits Ansatzpunkte vernunftgeleiteter ethischer Argumentation. Sie sind auf Gefühle bezogen, nicht aber eine reine Gefühlssache. Diese Einsicht hat sich, auf anderen Wegen, Krause (2008, S. 200–203) eigen gemacht, die deshalb vorschlägt, den für die partizipative ethische Beratung zentralen Begriff der Deliberation auf diese Ebene hin zu erweitern. Entsprechend können Gesprächsteilnehmer:innen darin unterstützt werden, sich ihrer intuitiven moralischen Urteile bewusst zu werden und diese genauer zu untersuchen. Ausgehend von der Erfahrung wird die weitere Argumentation entwickelt und fortlaufend auf ihren Bezug zur Ausgangssituation überprüft. Auf die Problembestimmung (Phase 1) folgt ein fachlicher Austausch über Einzelheiten der Handlungssituation; Wünsche und Bedürfnisse der betroffenen Person werden einbezogen und interpretiert (Phase 2). Sodann werden Güter miteinander abgewogen sowie Werte und Normen identifiziert (Phase 3). Schließlich entwickeln die Gesprächsteilnehmer:innen eine Schlussfolgerung und begründen das weitere Vorgehen (Phase 4). In der Praxis der ethischen Fallbesprechung erweist sich insbesondere die zweite, inventarisierende und interpretierende Phase des Gesprächs als wichtiger Moment, in dem sowohl den unterschiedlichen Sichtweisen der beteiligten Berufsgruppen als auch ihrer interdisziplinären Zusammenarbeit besondere Aufmerksamkeit zukommt. Eine Deliberation mit dem Blick auf Aktivitäten des täglichen Lebens, lebensweltliche Ressourcen sowie auf die Bedeutung von Erfahrungen vervollständigt das Verständnis einer Handlungssituation. Über die Bestandsaufnahme und fachliche Analyse hinaus kann man in den Folgeschritten Einzelheiten im Blick auf ihre Bedeutung für das Handeln interpretieren. Im Übergang zur ethischen Analyse kann von dieser Methode eine normative Vorstrukturierung nach einer auf sogenannten mittleren Prinzipien – Respekt vor Autonomie, Gutes tun, Nicht-Schaden und Gerechtigkeit – beruhenden angewandten Ethik ins Spiel gebracht werden (Banks 2012). Diese werden nicht als vollständig und exklusiv, sondern als Anregung zur Reflexion und zur weiteren Exploration aufgefasst. Demgegenüber wird eine supervisorisch ausge-
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richtete Teambesprechung auf vergleichbare normative Vorgaben weitgehend verzichten. Vertrautheit mit dem jeweiligen Praxisfeld sowie eine gewisse Distanz und Unabhängigkeit von Abteilungshierarchien unterstützen die Gesprächsleitung, die allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern, möglichst unabhängig von ihrer hierarchischen Position, in dem Bemühen unterstützen soll, sich während der Fallbesprechung auf ihre jeweilige professionelle Verantwortung zu konzentrieren. 4
Verstehen und Argumentieren: das hermeneutische Gespräch
In Situationen, in denen nicht die Entscheidungsfindung, sondern das Verstehen im Vordergrund steht, liegt es nahe, auf eine Methode zurückzugreifen, die auf Interpretation sowie Begriffsklärung ausgerichtet ist. Beispiele einer solchen Methode sind das hermeneutische Gespräch und das sokratische Gespräch. Einen Überblick über die Grundstruktur einer hermeneutischen Fallbesprechung liefert die folgende Tabelle: Tabelle 3: Grundstruktur einer hermeneutischen Fallbesprechungsmethode Elemente Einen ersten Blick auf die Situation vornehmen Erzählperspektiven der Beteiligten bestimmen Erzählungen analysieren Erzählelemente herausarbeiten Die Rückkoppelung zum vorliegenden Fall vornehmen
Inhalte Erste Intuitionen hinsichtlich des vorliegenden Falls Perspektive und Stil Struktur der Erzählungen Inhalt der Erzählungen Schlüsselbegriffe Ethische Theorien Bedeutung der vorangehenden Überlegungen für den Fall Unterschiede der Schlussfolgerungen im Vergleich zu den Anfangsintuitionen
Das Gespräch beginnt mit einer Bestandsaufnahme intuitiver Reaktionen auf die besprochene Situation. Die dabei geäußerten moralischen Intuitionen sind im Erzählten „eingebettet“. Um Verstehen zu unterstützen, wird die Fallbeschreibung aus unterschiedlichen Perspektiven in der Ich-Form nacherzählt, um diese als eine von einer bestimmten Perspektive aus erzählter Geschichte zu begreifen. Das Verstandene wird in mehreren Schritten analysiert und am Ende mit den zu Beginn geäußerten ersten Intuitionen verglichen, um sich so des Lernergebnisses der Fallbesprechung zu vergewissern.
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Eine interessante praktische Umsetzung dieser Vorgehensweise besteht darin, Situationen, die in interprofessionellen Besprechungen behandelt oder auch in Fort- oder Weiterbildungen ausführlicher analysiert werden, stets mindestens aus zwei Perspektiven zu präsentieren: (a) aus der Perspektive der Patient:in, Bewohner:in oder Klient:in sowie (b) aus einer fachlichen Perspektive. Ein gelungenes Beispiel hierfür findet sich in einer Sammlung von Lernfällen bei Bischkopf et al. (2017, S. 323–420). Die Hermeneutik – wörtlich übersetzt die Lehre oder Kunst des Interpretierens und Verstehens – erleichtert den Zugang zu einer zentralen Intention problemorientierter Fallbesprechungsmethoden und verleiht ihnen eine vertiefte Bedeutung: Im Organisationszusammenhang werden Räume des Nachdenkens eröffnet, die – zumindest vorübergehend – nicht in erster Linie ergebnisorientiert sind. Nicht nur das, was zu tun ist, nicht nur möglichst große Effizienz des Handelns stehen im Vordergrund, sondern auch das, was zum Verstehen der gegenwärtigen Situation und ihrer Bedeutung beitragen kann. 5
Ethische Fallbesprechung und Supervision als Teamkommunikation
Die ethische Fallbesprechung steht, gleich ob sie prospektiv Handlungsorientierung generieren oder retrospektiv das Verstehen vertiefen und Bedeutung erschließen soll, unter einem ethischen Deliberations- und letztlich Begründungsvorbehalt. Dies gilt auch dort, wo Beratungssituationen unter den Bedingungen zeitlicher und räumlicher Begrenzung nicht bis zur Ebene letzter Begründung und Gewissheit moralischer Urteile ergründet werden können. Wohl aber kann eine solche Besprechung zu situationsangemessener und in diesem Sinne vorläufiger Rechtfertigung ihrer Entscheidungen führen. Auf einer prinzipiellen Ebene müssen wir davon ausgehen, dass die Teilnehmer:innen und Leiter:innen einer ethischen Fallbesprechung unterstellen, dass sich rationale Argumente für Handlungen rekonstruieren lassen, dass also eine rationale Begründung ihres Handelns möglich ist. Eine ethische Fallbesprechung ist darum erstens mehr als ein konsensgenerierendes Verfahren. Vielmehr zielt sie darauf, Kohärenz herzustellen zwischen den Grundüberzeugungen der Teilnehmer:innen, den zu entscheidenden Fragen innerhalb komplexer Handlungssituationen sowie den moralischen Grundsätzen und Regeln, welche dabei zur Anwendung kommen. Hieraus ergibt sich zweitens, dass eine ethische Fallbesprechung sich nicht auf die Auseinandersetzung mit den Kommunikationsprozessen selbst beschränken kann. Dies aber bedeutet umgekehrt keineswegs, dass eben diese Auseinandersetzung mit der Teamkommunikation eine geringe Bedeutung hätte. Die Supervision hingehen richtet sich in stärkerem Maße auf eben diese Kommunikation und thematisiert diese. Sie ist eine professionelle Form der Beratung, welche, in Bezug auf eine spezifische Umwelt und im Rahmen eines
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N. Steinkamp
möglichst deutlich umschriebenen Vertrags, meist in beruflichen Zusammenhängen die Beziehungen zwischen Person, Rolle, Organisation und Kundinnen, Klienten, Mitarbeitenden zu klären und zu optimalisieren sucht (DGSv o.J.). Man kann in diesem Sinne von einer Komplementarität der Supervision – als einer Form fachlich moderierter Reflexion auf die kommunikativen Aspekte des professionellen Handelns – und der ethischen Beratschlagung sprechen. Supervision ergänzt ethische Beratung insofern, als sie kommunikative Wirklichkeit offenlegt, Störungen und Verzerrungen bearbeitet und damit Voraussetzungen dafür schafft, dass Beteiligte eine ethische Fallbesprechung nicht als Tribunal empfinden, sondern sie als Chance zur partizipativen Klärung und moralischen Begründung des eigenen (Zusammen-)Handelns wertschätzen lernen. In diesem Handeln weiß sich die Supervision ihrerseits auf einen ethischen Handlungskodex verpflichtet. Ethische Beratung kann ihrerseits die Supervision ergänzen, indem sie in ihr offengelegte moralische Implikationen aufgreift, in Form gelingender ethischer Fallbesprechungen weiterführt und so die Ebene ethischer Handlungsreflexion in die Teamkommunikation sozusagen einspeist. 6
Zusammenfassung: die Bedeutung einer offenen, respektvollen deliberativen Haltung
In Organisationen des Gesundheits- und Sozialwesens stellen sich moralische Probleme, in denen eine ethische Fallbesprechung für Beteiligte und Betroffene hilfreich sein kann. Entscheidungen müssen gefällt werden; der Umgang mit moralischem Unbehagen, Verunsicherungen, Reue will eingeübt sein. Einsicht und Klarheit in grundsätzliche Fragen fördern die Handlungskompetenz. Die in diesem Kapitel vorgestellten Überlegungen sollen dazu anregen, sich diesen Fragen je nach Situation zu stellen und dabei verschiedene Herangehensweisen auszuprobieren. Prospektiv-entscheidungsorientierte Methoden lassen sich recht gut in bereits bestehenden interprofessionellen Besprechungen anwenden und leiten dazu an, eine ethische Handlungsfrage in den Mittelpunkt zu stellen. Reflexiv-verstehende Methoden ermöglichen einen gewissen Abstand von der Lösungsorientierung. Sie eignen sich für Besprechungen, in denen es, auch retrospektiv, um die Reflexion moralischer Verunsicherung geht. Aus der Annahme, dass der Gebrauch verschiedener Teamgesprächsformen bei der ethischen Fallbesprechung sich förderlich auf die Bewältigung moralischer Fragen der Praxis auswirken kann, lässt sich ableiten, dass eine im Gesundheits- oder Sozialwesen tätige Ethikfachperson über Kenntnisse und Fertigkeiten einer Auswahl dieser Methoden verfügen und sie in der Prozessgestaltung und Moderation in den Herausforderungen des Arbeitsalltags auf angemessene Weise anzuwenden wissen sollte.
Ethische Beratung und Supervision
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Ebenso wichtig wie Methodenbeherrschung erscheint jedoch die Kultivierung einer offenen und respektvollen deliberativen Gesprächshaltung. In Fällen verzerrter Kommunikation kann das Instrument der Supervision dazu beitragen, Voraussetzungen dafür zu schaffen. Ethische Fallbesprechungen können ihrerseits auch die dabei offengelegten moralischen Fragen genauer untersuchen und verstehen helfen. Literatur AEM Akademie für Ethik in der Medizin: Ethikberatung im Gesundheitswesen. https://www.aem-online.de/index.php?id=16 (Zugriff am 15.06.2021). Banks, S. (2012): Ethics and Values in Social Work (4th Edition). London. Biller-Andorno, N./Monteverde, S./Krones, T./Eichinger, T. (Hg.) (2021): Medizinethik. Wiesbaden. Birnbacher, D./Krohn, D. (2002): Das Sokratische Gespräch. Stuttgart. Bischkopf, J./Deimel, D./Walther, C./Zimmermann, R.-B. (Hg.) (2017): Soziale Arbeit in der Psychiatrie (Neuausgabe, 1. Aufl.). Köln. DGSv (Deutsche Gesellschaft für Supervision und Coaching) (o.J.): Supervision/Coaching, Konzept. https://www.dgsv.de/dgsv/supervision/konzept/ (Zugriff am 15.06.2021). Durand, G. (1999): Introduction Générale à la Bioéthique. Histoire, concepts et Outils. Montréal. Fins, J.J./Bacchetta, M.D./Miller, F.G. (2021): Klinischer Pragmatismus: eine Methode moralischer Problemlösung. In: N. Biller-Andorno/S. Monteverde/T. Krones/T. Eichinger (Hg.): Medizinethik (S. 111–129). Wiesbaden. Fox, E./Myers, S./Pearlman, R.A. (2007): Ethics consultation in United States Hospitals: A National Survey. American Journal of Bioethics, 7 (2), S. 13–25. Kooperationskreis Ethik (Hg.) (2019): Ethik in Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Freiburg i.Br. Krause, S.R. (2008): Civil Passions. Moral Sentiment and Democratic Deliberation. Princeton/Oxford. Lob-Hüdepohl, A. (2017): Erkunden – Rechtfertigen – Gestalten – Organisieren: Das Berliner Modell sozialprofessioneller Ethikberatung B:ERGO. EthikJournal, 4 (1), S. 1–23. Download unter: https://www.ethikjournal.de/ fileadmin/user_upload/ethikjournal/Texte_Ausgabe_1_06-2017/Lob-Huede pohl_BERGO_EthikJournal_4_2017_1.pdf (Zugriff am 15.06.2021). Manschot, H./van Dartel, H. (Hg.) (2009): In gesprek over goede zorg. Overlegmethoden voor ethiek in de praktijk (4. Aufl.). Amsterdam. Monteverde, S. (Hg.) (2020): Handbuch Pflegeethik. Ethisch denken und handeln in den Praxisfeldern der Pflege (2., erweiterte und überarbeitete Aufl.). Stuttgart. Riese C., Strube, W. (2019): Vom Treffpunkt Ethik zur WERTvollen Caritas. Ethische Kompetenzen im Diözesancaritasverband stärken. In: Kooperationskreis Ethik (Hg.) (2019): Ethik in Einrichtungen der Sozialen Arbeit (S. 77–94). Freiburg i.Br.
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37 Wirkungsbemessung und Qualitätsentwicklung Johannes Eurich
Zwar ist die Qualität diakonischer Arbeit bereits in zurückliegenden Zeiten, etwa beim evangelischen Sozialreformer Johann Hinrich Wichern (Wichern 1958, S. 97–114), ein Thema gewesen, jedoch ist ein systematisches Qualitätsmanagement mit den Aspekten der Qualitätsentwicklung und Wirkungsbemessung erst seit Einführung wettbewerblicher Rahmenbedingungen in sozialen Handlungsfeldern zu einem vordringlichen Topos im Management wie im Professionsverständnis Sozialer Arbeit geworden (Burmester/Wohlfahrt 2021, S. 87– 106). Denn mit der ökonomischen Modellierung personenbezogener sozialer Dienstleistungen treten die altruistischen Motivationslagen von Hilfe in den Hintergrund zugunsten der effizienten Operationalisierung der Hilfe (FinisSiegler 1997). Dabei spielen die ökonomischen Kriterien der Effizienz, Effektivität und des Outputs eine wichtige Rolle. Die einzelne Hilfeleistung wird in kleinteilige Kostenformate unterteilt und dokumentiert, um so leichter abrechenbar, aber auch überprüfbar zu sein. Das Ergebnis der Dienstleistung wird anhand der Dokumentation und weiterer Indikatoren kontrolliert und der gesamte Prozess der Dienstleistungserstellung durch das Qualitätsmanagement fortwährend beobachtet und weiterentwickelt. Dadurch soll die Produktsicherheit gewährleistet und Verbraucherschutz erfüllt werden, zugleich wird die Bürokratisierung der sozialen Interaktion „Hilfe“ intensiviert und die Standardisierung sozialer Dienste vorangetrieben. Hierbei spielt die Orientierung an der Wirkung einer Intervention eine bedeutende Rolle, denn über wissenschaftlich-statistische Verfahren ermitteltes Wissen soll zur evidenzbasierten Steuerung gesundheitlicher und sozialer Arbeit eingesetzt werden: „Evidenzbasierte Praxis (EBP) ist ein Konzept, das mit der Absicht entwickelt wurde, Fachkräfte Sozialer Arbeit darin zu unterstützen, effizient und wirkungsvoll zu arbeiten und sich dabei die in unserem Informations- und Globalisierungszeitalter entwickelten Technologien zunutze zu machen, die uns schon heute in die Lage versetzen, unsere Entscheidungen über die verfügbaren Leistungsangebote sachlich fundierter und besser informiert zu treffen“ (Mullen/Bellamy/Bledsoe 2007, S. 10). Zu klären ist daher nicht nur, worin die Wirkung einer sozialarbeiteri-
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schen Intervention besteht, sondern auch, wer die Qualität der Leistungserbringung definiert, wie sich Qualität messen und wodurch sie sich steuern lässt. 1
Qualitätsentwicklung
Die Merkmalsausprägungen oder Eigenschaften eines Produkts oder einer Dienstleistung bilden dessen bzw. deren Qualität. Nach Donabedian werden Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität unterschieden (Donabedian 2009, S. 75–95); neuere Ansätze ergänzen als vierte Qualitätsdimension die Planungsqualität (Ruckstuhl 2009, S. 75–95). Die Qualitätsentwicklung ist eine der Kernaufgaben des Qualitätsmanagements, welches die Funktion hat, alle Maßnahmen einer Organisation zur Verbesserung der Qualität ihrer Produkte und Dienstleistungen zu steuern. Qualitätsentwicklung bedeutet demnach „die Förderung von strukturellen Bedingungen, Prozessen und Konzeptionen, die zur Entwicklung von Qualität notwendig sind. Qualitätsentwicklung impliziert also eine gezielte, schrittweise Entwicklung zu mehr Qualität (kontinuierliche Qualitätsverbesserung)“ (Kolip 2017). Als übergreifendes Qualitätsziel in der caritativen bzw. diakonischen Arbeit kann die Steigerung der lebensdienlichen Wirkungen von Interventionsmaßnahmen und in der Folge auch des subjektiven Nutzens (Effektivität) unter Vermeidung unnötiger Kosten (Effizienz) bestimmt werden (Kolip 2017). Um dies zu erreichen, wird Qualitätsentwicklung als ein Lernzyklus konzipiert, der zunächst danach fragt, „ob Bedarf und Bedürfnisse ermittelt, wissenschaftliche Grundlagen aufbereitet, Vorerfahrungen aus anderen Projekten einbezogen und Ziele wie Zielgruppen präzise definiert wurden“ (Kolip 2017) (Planungs- oder Konzeptqualität). Als nächster Schritt legt die Strukturqualität den Fokus auf die organisatorischen und institutionellen Voraussetzungen, während die Durchführung der Intervention in der Prozessqualität abgebildet und schließlich die Wirkung der Intervention in der Ergebnisqualität erfasst werden. Auf diese Weise wird eine Entscheidung über eine eventuell notwendige Anpassung der Intervention ermöglicht, sodass ein neuer Qualitätszyklus auf einem höheren Qualitätsniveau mit gesteigertem Wirkungsgrad angestrebt werden kann. Im Qualitätsmanagement wurden eine Vielzahl von Verfahren und Instrumenten entwickelt, die auch in caritativen und diakonischen Organisationen zur Qualitätssicherung und Qualitätsentwicklung angewandt werden, wie z.B. DIN EN ISO 9001 oder Total-Quality-Management der EFQM (European Foundation for Quality Management), das Qualität als Systemziel fasst (Petrick/Graichen 2012; Schnauber/Schuster 2012; Töpfer/Mehdorn 1994; Schildknecht 1992). Daneben gibt es eine Reihe weiterer Instrumente, die sich auf einzelne Handlungsfelder (Landesinstitut für Gesundheit und Arbeit des Landes Nordrhein-Westfalen 2011) oder einzelne Handlungsphasen einer Intervention beziehen und in ihrem Anspruch und ihrer Reichweite variieren (Ackermann/ Studer/Ruckstuhl 2009; Bahrs 2009; Töppich/Lehmann 2009). Dem entsprechend sind Qualitätsmanagement-Verfahren komplexer geworden und wurden
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vom Gesetzgeber inzwischen auch in einigen Handlungsfeldern (z.B. bei der gesundheitlichen Prävention) gesetzlich verankert. Die gestiegenen Anforderungen an Instrumente und Verfahren der Qualitätsentwicklung ziehen in der Anwendung der Instrumente oftmals den Einsatz erheblicher Ressourcen nach sich, sodass hier das Verhältnis zum entstehenden Nutzen abzuwägen ist. Daraus ergibt sich ein erhöhter Informationsbedarf mit spezifischen Fragestellungen – hier exemplarisch bezogen auf die Qualitätsentwicklung in der Gesundheitsförderung und Prävention: „Welche Verfahren wurden von wem, für welche Zwecke (Ziele) konzipiert? Welche wissenschaftliche Grundlage haben sie, und welche Evidenz liegt vor, dass sie konzeptionell in der Lage sind, Stärken und Schwächen präventiver Angebote zu identifizieren und auf dieser Grundlage Empfehlungen für die Verbesserung ihrer Wirksamkeit zu geben? Wie werden sie eingesetzt, seit wann und wie oft? Gibt es Belege, dass ihre Anwendung tatsächlich zur Steigerung der Leistungsfähigkeit von Gesundheitsförderung und Prävention führt? Wie fließen die Kenntnisse über Stärken und Schwächen in die Weiterentwicklung der Verfahren ein? Ist ihr Einsatz wirtschaftlich vertretbar?“ (Kolip 2017).
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Wirkungsbemessung
Die Wirkungsmessung soll dazu dienen, sozialpolitische Entscheidungen in der Steuerung des Handlungsfeldes und der darin tätigen kollektiven Akteur:innen treffen und somit die finanzielle Mittelverteilung als auch die Ausrichtung von Interventionen beeinflussen zu können. Dies erfolgt vor dem Hintergrund erhöhter Transparenzanforderungen für die Verwendung öffentlicher Mittel, deren zielgerichteter und wirksamer Einsatz nachgewiesen werden muss. Für diesen Zweck werden soziale Dienstleistungen in aufeinander aufbauenden Phasen modelliert, die dann wissenschaftlich analysiert werden können (Then/ Kehl/Rauscher/Grünhaus 2021). Nach dem Controlling-Modell für Non-ProfitOrganisationen werden vier Wirkungsebenen unterschieden (International Group of Controlling 2010, S. 29 f.): 1. Der Output bezeichnet das mengenmäßige Produktionsergebnis der Organisation und stellt als quantitative Leistungsmenge die Basis für qualitative Wirkungseffekte dar (Impact, Outcome, Effect). 2. Unter Outcome werden die gesellschaftlichen Wirkungen der sozialen Dienstleistungen im Sinne einer objektiven kollektiven Effektivität verstanden. Es geht also um die weiteren Wirkungen der Leistungen auf unterschiedliche Stakeholdergruppen oder auf das Gemeinwohl. 3. Die unmittelbare, nachweisbare und objektiv ersichtliche Wirkung der Dienstleistung auf einzelne Stakeholder wird als Effect bezeichnet, wobei die Wirkung zugleich unabhängig von der Wahrnehmung und Deutung der Zielgruppe bestehen muss.
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4. Der Impact erfasst die subjektiv erlebte Wirkung des Stakeholders oder Leistungsempfängers. Gemessen werden subjektive Einstellungen, Urteile, Zufriedenheitswerte sowie die Änderung oder Stabilisierung von Verhaltensweisen des Leistungsempfängers als Reaktion auf den Output bzw. auf die Effects der Dienstleistung. Im wirkungsorientierten Controlling werden nun diejenigen Wirkungsziele, die sowohl den zentralen Wirkungserwartungen der Stakeholder entsprechen als auch von dem Dienstleister bereitgestellt und durchgeführt werden können, in Form von Kennzahlen abgebildet (Halfar 2013, S. 10). Die subjektiven Wirkungen scheinen leichter messbar zu sein. Um auch die gesellschaftliche Wertschöpfung erfassen zu können, wird eine wirkungsorientierte soziale Investitionsrechnung nach dem methodischen Ansatz des Social Return on Investment (SROI) in fünf Schritten durchgeführt (Halfar 2013, S. 10; Then/ Schober/Rauscher/Kehl 2015). Neben der institutionellen Perspektive (SROI 1) werden personenbezogene Sozialleistungen (SROI 2), Dienstleistungsalternativen (SROI 3) und die regionalökonomische Wirkung (SROI 4) erhoben. Mehrdimensionale Operationalisierungen von Lebensqualitätssteigerungen, Bildungseffekten oder Kompetenzzuwächsen werden im SROI 5 ermittelt, wobei verschiedene Instrumente wie die „Personal Outcome Scale“ (Bernshausen 2021; Van Lohn/Buchenau/Löbler/Bernshausen 2012; Hödebeck-Stuntebeck/ Soyer 2021) oder das EVAS- bzw. das „Wimes“-Verfahren (Tornow 2008, S. 109) eingesetzt werden können. 3
Professionalitäts- und handlungstheoretische Anfragen
Durch Wirkungsorientierung soll ein Mehr an Lebensqualität für die Leistungsempfänger entstehen. „Soziale Einrichtungen und Dienste produzieren unterschiedliche Lebensqualitätseffekte, die aufgrund der Skalenkonstruktion eben nicht durch die Klientenproblematik erklärt werden können, sondern nur durch die sozialpädagogische Produktivität der jeweiligen Einrichtung“ (Halfar 2013, S. 13). Trotzdem ist die Orientierung an der messbaren Wirkung von sozialarbeiterischen Maßnahmen seit ihrer Einführung umstritten (Burmester/Wohlfahrt 2018): „In solchen auf statistische Wahrscheinlichkeiten fundierenden Modellen einer evidenzbasierten Praxis erscheinen professionelle Wirklichkeitsannahmen als unzuverlässig und nicht effizient. Denn am Ende soll durch eine angestrebte Replizierbarkeit der wirksamen Interventionsstrategien ein möglichst detailliertes und in sich geschlossenes Handlungsprogramm produziert werden, das bruchlos in ausführliche ‚PraxisGuidelines‘ übersetzt werden kann“ (Liebig 2013, S. 74).
Diese sozialpolitische Intention widerspreche aus unterschiedlichen Gründen jedoch dem Charakter Sozialer Arbeit: (1) Implizit scheint bei der Wirkungsorientierung die Vorstellung zugrunde zu liegen, „dass Soziale Arbeit ‚quasi-
Wirkungsbemessung und Qualitätsentwicklung
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technische‘ Problemlagen bearbeitet, die mehr oder weniger eindeutig wissenschaftlich-empirisch auflösbar sind“ (Otto/Polutta/Ziegler 2010, S. 18). Grundsätzlich wird daher am Begriff von Wirkung problematisiert, dass dieser „das regelmäßige Zusammentreffen von unmittelbar beobachtbaren Ereignissen fokussiert,“ wohingegen „sich soziale Wirklichkeit nicht auf beobachtbare Eigenschaften von Objekten und Ereignissen reduzieren lässt“ (Otto/Polutta/Ziegler 2010, S. 21). (2) Entsprechend kritisch wird die sozialpolitisch forcierte wirkungsorientierte Steuerung hinterfragt, denn sozialarbeiterische Professionalität beziehe ein generalisiertes Reflexions- und Erklärungswissen in der Handlungssteuerung auf die spezifische individuelle Situation des Leistungsempfängers und entwerfe daher nur gering standardisierte Handlungsstrategien. Dagegen fokussiere die wirkungsorientierte Steuerung eher auf Kategorien von Risikogruppen und lasse die besonderen Fälle tendenziell außer Acht (Otto/Albus/Polutta/Schröder/Ziegler 2007). (3) Soziale Problemlagen seien zudem oftmals politisch und moralisch umkämpft und somit in hohem Maße durch Ambiguitäten gekennzeichnet. Sowohl diagnostisch als auch in Durchführung ihrer Leistungen habe Soziale Arbeit somit „einer (häufig konfliktbehaften) Pluralität von Haltungen, Auffassungen und Lebensentwürfen Rechnung zu tragen. Bei der Bearbeitung solcher Ambiguitäten erscheint neben dem Kriterium statistisch messbarer Wirksamkeit vor allem das nicht manualisierbare Kriterium der fall- und situationsbezogenen Angemessenheit wesentlich“ (Otto/Polutta/Ziegler 2010, S. 18). Inzwischen gehen neuere sozialwissenschaftliche Konzeptionen jedoch nicht mehr von rein statistischen Zusammenhängen aus, sondern von einem mechanismischen bzw. generativen Wirkungsbegriff. „Da ein Wirkungsmechanismus unterschiedliche Effekte erzeugen kann und umgekehrt einem bestimmten Effekt verschiedene generative Ursachen zugrunde liegen können, erschließt sich der Zusammenhang von Wirkungsmechanismen und Effekten darüber hinaus erst im Zusammenspiel mit spezifischen sozialen Kontextbedingungen“ (Otto/Polutta/Ziegler 2010, S. 21).
Dementsprechend wird eine Form der Wirkungsforschung gefordert, „die darauf zielt, Verursachungsprozesse und -mechanismen in ihrem Kontext zu analysieren und erklärende Deutungsangebote über Wirkungszusammenhänge zu machen“ (Otto/Polutta/Ziegler 2010, S. 21). Es gehe bei der Evidenzbasierung Sozialer Arbeit daher „um nichts anderes als die wissenschaftstheoretische und empirische Fundierung des wirklichkeitswissenschaftlichen Aspekts des Professionswissens [...] und genau nicht um eine technologische Anleitung professioneller Praxis“ (Otto/Polutta/Ziegler 2010, S. 21). Damit sind die unterschiedlichen Positionen im Diskurs zur Wirkungsorientierung markiert: Die einen kritisieren Wirkungsorientierung im Zusammenhang der New Public Management-Steuerung als Vereinnahmung Sozialer Arbeit durch neue technologische Machbarkeiten und wissenschaftliche Berechen-
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barkeit und deuten dies als Ende der Profession, während andere darin den Weg zur notwendigen neuen Professionalisierung erkennen (Polutta 2010, S. 47). Es wird entscheidend darauf ankommen, wie stark in der Steuerung der unterschiedlichen Handlungsfelder Sozialer Arbeit eine managerielle Standardisierung und Technologisierung der Praxis vorangetrieben wird, „die hinter dem tatsächlichen Potenzial der Sozialen Arbeit zurückfällt, fallspezifisch angemessene und lebensweltlich nachhaltige Leistungen bringen zu können“ (Otto/Polutta/Ziegler 2010, S. 22). In dieser Entwicklung ist somit auch die Gefahr angelegt, dass der Leistungsempfänger unter der Hand wieder zum Objekt sozialprofessionell-technologischer Expertise gemacht wird, indem ihm die Chance auf seine eigene Lebensgestaltung auf Grundlage seiner Lösungskompetenz – wie auch immer beschädigt diese sein mag – durch die professionell-technologische Lösungsstrategie, die standardisierte Lösungen einfordert, welche nicht zwangsläufig der Lebensbiografie der betroffenen Person entsprechen, genommen wird: „Schritt für Schritt droht sie die Einmaligkeit ihres Lebensentwurfes zugunsten einer expertokratisch verordneten, funktionalen Zweckrationalität preiszugeben und sich darin in ihrem authentischen Selbst zu verlieren“ (Lob-Hüdepohl 2021, S. 80). Insofern muss Wirkungsorientierung in der Steuerung Sozialer Arbeit fortwährend kritisch reflektiert und dann entschieden Einspruch erhoben werden, wenn dadurch eine einseitige Dominanz instrumentell-funktionaler Kriterien festgelegt und Soziale Arbeit auf ein funktionales technologisches Handeln reduziert werden soll (Lob-Hüdepohl 2021, S. 78). Literatur Ackermann, G./Studer, H./Ruckstuhl, B. (2009): Quint-Essenz: Ein Instrument zur Qualitätsentwicklung in Gesundheitsförderung und Prävention. In: P. Kolip/V.E. Müller (Hg.): Qualität von Gesundheitsförderung und Prävention (S. 137–156). Bern. Bahrs, O. (2009): Qualitätszirkel als Instrument der Qualitätsentwicklung. In: P. Kolip/V.E. Müller (Hg.): Qualität von Gesundheitsförderung und Prävention (S. 201–221). Bern. Bernshausen, G. (2021): Wirkung messen – Ergebnisqualität sichtbar machen: das Instrument Personal Outcomes Scales (POS). In: J. Eurich/A. Lob-Hüdepohl (Hg.): Gute Assistenz für Menschen in Behinderungen. Wirkungskontrolle und die Frage nach dem gelingenden Leben (Behinderung – Theologie – Kirche 14) (S. 235–245). Stuttgart. Burmester, M./Wohlfahrt, N. (2021): Wozu die Wirkung Sozialer Arbeit messen? Sozialpolitische Implikationen der Wirkungskontrolle. In: J. Eurich/A. ob-Hüdepohl (Hg.): Gute Assistenz für Menschen in Behinderungen. Wirkungskontrolle und die Frage nach dem gelingenden Leben (Behinderung – Theologie – Kirche 14) (S. 87–106). Stuttgart. Burmester, M./Wohlfahrt, N. (2018): Wozu die Wirkung Sozialer Arbeit messen? Eine Spurensicherung. Berlin.
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38 Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit Paul Dalby
Fundraising und Öffentlichkeitsarbeit sind Geschwister. Wer war zuerst da und ist wichtiger? – Darüber streiten sich die Verfechter 1, je nachdem, aus welchem Lager sie stammen. Die Abfolge in diesem Artikel ist nur dem Alphabet geschuldet und ließe sich umdrehen. Jede gemeinnützige Organisation betreibt gewollt oder ungewollt Öffentlichkeitsarbeit, da sie ein Teil von ihr ist. Niemand kann, nach Paul Watzlawick, nicht kommunizieren. Doch längst nicht jede Organisation betreibt Fundraising. Als Profession ist Fundraising jünger als z.B. der Beruf des Journalisten, von der Sache her, archäologisch gesehen, wohl deutlich älter. Öffentlichkeitsarbeit ohne Fundraising ist gut denkbar, solange eine Organisation anderweitig auskömmlich finanziert wird. Doch welche gemeinnützige Organisation wird das schon? – Fundraising ohne Öffentlichkeitsarbeit kann, auch wenn es aus Bedarfsgründen dringend notwendig ist, nur geringen Erfolg haben, weil Wissen und Vertrauen in der Öffentlichkeit fehlen. Die Geschwister brauchen einander, zukünftig umso mehr. 1 1.1
Fundraising Was ist Fundraising (Urselmann 2018, S. 1–13; Fundraising Akademie 2016, S. 77–90)?
Der Begriff Fundraising stammt aus dem englischen Sprachraum. Dort wurden bereits sehr früh und sehr viel intensiver als in Deutschland Spenden zur Erfüllung gemeinnütziger Aufgaben gesammelt. Deshalb werden in diesem Bereich häufig englische Fachbegriffe benutzt. Historisch gesehen lässt sich viel tiefer graben. Erste Hinweise auf freiwillige Gaben lassen sich in Opferriten der Jungsteinzeit finden. Opferstätten antiker Gesellschaften sammelten materielle Gaben zur Finanzierung des Kultbetriebes und zur Weitergabe an Bedürftige. 1 Ich verwende im Text in zufälliger Folge die männliche und weibliche Form. Im Sinne der gendersensiblen Sprache mögen sich bitte alle mitgemeint fühlen.
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Im Alten wie Neuen Testament finden sich Spendenaufrufe, Kollektensammlungen (2Kor 8 f.) und Hinweise auf die theologische Verzahnung von Gottesglaube und tätiger Nächstenliebe. Wichtige Meilensteine in Deutschland setzten August Hermann Francke in Halle mit der Gründung der Franckeschen Stiftungen 1698, dann Theodor Flieder ab 1822 in Kaiserswerth bei Düsseldorf und ab den 1870ern Friedrich von Bodelschwingh bei Bielefeld - alle drei mit diakonisch orientiertem und organisiertem Fundraising. Im katholischen Bereich ist z.B. Lorentz Werthmann in Köln zu nennen mit der Gründung des Caritasverbandes für das katholische Deutschland 1897 und dem Dreisatz „Organisieren, Studieren, Publizieren“ als Antwort auf den Umgang mit sozialer Not. Erste soziologische Studien der Neuzeit finden sich bei Marcel Mauss und haben in ihren Grundzügen immer noch Geltung: Geben und Entgegennehmen sind anthropologische Grundkonstanten, die Beziehungen zwischen Einzelnen wie Gruppen schaffen und erhalten. Nach Mauss hat die Gabe eine wechselseitige, friedensstiftende und freiwillige, wenn auch ritualisierte Funktion, mit dem Dreiklang: zu geben, zu nehmen und zu erwidern. Ohne freiwilligen Austausch sind tragfähige Beziehungen in Klein- wie Großgruppen auf Dauer nicht denkbar. Die vor allem im frankoromanischen Raum gewonnenen soziologischen Erkenntnisse sind inzwischen durch psychologische, biologische und jüngst neurowissenschaftliche Forschungen vertieft und bestätigt. Der Begriff Fundraising geht auf die beiden Wörter Fund (= Fonds, Kapital, Geldmittel) und to raise (= erhöhen, beschaffen, etwas wachsen lassen) zurück. Fundraising, inzwischen mangels einer deutschen Entsprechung eingedeutscht und im Duden aufgenommen, bedeutet also Mittelbeschaffung. Allerdings geht es im Fundraising im Unterschied zu wirtschaftlichen Unternehmungen und zu gesetzlich geregelten Finanzierungen der öffentlichen Hand immer um die spezielle Mittelbeschaffung von gemeinnützigen Organisationen und um freiwillige Zuwendungen von privaten und juristischen Personen: „Fundraising ist die systematische Analyse, Planung, Durchführung und Kontrolle sämtlicher Aktivitäten einer gemeinwohlorientierten Organisation, welche darauf abzielen, alle benötigten Ressourcen (Geld-, Sach- und Dienstleistungen) durch eine konsequente Ausrichtung an den Bedürfnissen der Ressourcenbereitsteller (Privatpersonen, Unternehmen, Stiftungen, öffentliche Institutionen) zu möglichst geringen Kosten zu beschaffen” (Michael Urselmann 2018, S. 1).
Es geht um die Beschaffung von Ressourcen – aus verschiedenen Märkten – mit Zielgruppen (Staat, Privatpersonen, Stiftungen, Unternehmen) – aus unterschiedlichen Quellen (Geld, Ehrenamt, Sachmittel, Wissenstransfer) – zugunsten gemeinnütziger Zwecke – nach Austauschprinzipien in Bindungsprozessen. Im Mittelpunkt des Fundraisings steht das Beschaffen von Spenden. Untrennbar damit verbunden sind der Aufbau und die Pflege menschlicher Beziehungen zur Förderung eines gemeinsamen Anliegens. Der zwischenmenschliche
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Beziehungsaufbau zu potenziellen Förderern ist ohne Kommunikation, Vertrauen und Sympathie nicht möglich. Zum Schluss: Vom Spenden deutlich zu unterscheiden ist das Sponsoring, auch wenn es zum Fundraising gehört. Beim Sponsoring steht der Leistung des Gebenden eine definierte und in der Regel vertraglich vereinbarte Gegenleistung des Nehmenden gegenüber. Dadurch unterscheiden sich Sponsoren von Spendenden, die ihre Gabe freiwillig und ohne die Erwartung einer Gegenleistung geben. Sponsoring unterliegt damit der Steuergesetzgebung, da es sich um gegenseitigen Handel und nicht um eine freiwillige Gabe handelt. Sponsoringgelder sind in der Regel Einnahmen und als solche vom Empfangenden zu versteuern. 1.2 Welche Bedeutung, welches Volumen hat Fundraising? In den letzten 20 Jahren hat sich in Deutschland der Spendenmarkt rasant entwickelt. Leider gibt es nach wie vor keine amtliche Spendenstatistik und damit keine wirklich verlässlichen und vergleichbaren Daten für Geldspenden. Es gibt nur wenige öffentlich zugängliche Umfrageergebnisse sowie die zeitverzögerten Angaben in der Einkommensteuerstatistik. Guten Informationsgehalt bietet der deutsche Spendenrat mit dem Charity Scope der Gesellschaft für Konsumforschung. Das aktuelle Spendenmarktvolumen wird auf rund sechs bis acht Mrd. Euro für Deutschland geschätzt. Nicht enthalten sind bar geleistete Spenden und solche, die nicht steuerlich geltend gemacht werden. Der Anteil der Menschen, die spenden, liegt bei rund einem Drittel mit sinkender Tendenz. Die Durchschnittsspende liegt bei ca. 35 Euro. Menschen über siebzig Jahren haben weiterhin den größten Anteil am Spendenaufkommen. Die jährlichen Spenden-Ausgaben eines bundesdeutschen Durchschnittshaushalts liegen zwischen 130 und 250 Euro. Sponsoringkooperationen sind in der Gesamtsumme nicht berücksichtigt. Bemerkenswert ist, dass die unterste Einkommensklasse (0–20.000 Euro) im Vergleich zu allen anderen Einkommensklassen den größten Anteil ihrer Einkünfte (rund drei Prozent) spendet. Die mittleren Einkommensklassen zwischen 50.000 Euro und 500.000 Euro Jahreseinkommen kommen hier lediglich auf einen Spendenanteil von durchschnittlich 0,8 Prozent ihrer Einkünfte. Nach wie vor gehören Dauerspenden und Fördermitgliedschaften neben Spendenbriefen zu den wichtigsten Einnahmequellen. Gerade für kleine und mittlere Organisationen gewinnen Social Media- und Online-Spendenkanäle rasant an Bedeutung. Den Spendenmitteln stehen rund 630.000 Non-Profit-Organisationen gegenüber, von denen ca. 400.000 aktiv nach Spenderinnen oder Sponsoren suchen. Rund zwei Drittel davon verfügen über ein jährliches Budget von weniger als 20.000 Euro. In der Summe fließt der Großteil des Geldspendenaufkommens an Zehntausende kleiner Nonprofits. Interessant ist dabei: Freiwilliges Engagement und Spendenbereitschaft hängen zusammen. Personen, die Geld gespendet haben, engagieren sich deutlich
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häufiger mit freiwilliger Tätigkeit als Nichtspender. Umgekehrt lässt sich schlussfolgern: Wer Zeit spendet, spendet auch Geld. Auch im Sponsoring ist das Gesamtvolumen in den letzten Jahren kontinuierlich gewachsen. Jedoch gehen mehr als neunzig Prozent der Ausgaben in den Sport. Von den geschätzten 4,8 Milliarden Euro entfielen z.B. 2016 nur 500 Millionen Euro auf die Förderung von öffentlichen Institutionen, wissenschaftlichen Einrichtungen und sozialen Projekten. Der Stiftungsbereich verzeichnet seit vielen Jahren einen dynamischen Zuwachs. Jahr für Jahr werden zwischen 500 und 800 Stiftungen gegründet, insgesamt sind es mehr als 25.000 Stiftungen des bürgerlichen Rechts. Hinzu kommen Stiftungen in der Rechtsform einer GmbH, eines Vereins, privaten oder öffentlichen Rechts. Sowohl Unternehmen als auch vermögende Privatpersonen sind die Initiatoren der Stiftungsgründungen. Da viele Stiftungen fördernd tätig sind, ergeben sich ständig neue Möglichkeiten, Ressourcen zu beschaffen. 1.3
Welche Chancen und Grenzen gibt es im Fundraising?
Die Bedeutung des Fundraisings als professionelle Beschaffung freiwillig gegebener Mittel in Deutschland zeigt sich in der wachsenden Anzahl von Buchveröffentlichungen, Fach-Zeitschriften, Tagungen und Fortbildungen und im steten Wachstum des Branchenverbandes DFRV, Deutscher Fundraisingverband. Auch die Methoden und Instrumente, mit denen Organisationen heute um materielle Zuwendungen werben, werden immer professioneller und differenzierter: unterschiedliche Angebote an Klein-, Groß- und Dauerspenderinnen durch Spendenbriefe, Emails oder Telefonanrufe, Gesprächsangebote, Broschüren für potenzielle Erblasser, Aktionen mit Medien und Prominenten, Lotterien, Internet-Auktionen, Patenschaften, Haustürwerbung oder Ansprache an öffentlichen Orten, Sponsoringaktionen und vieles mehr. Es gilt: Konkurrenz belebt das Geschäft. Die große Herausforderung ist nicht ob, sondern wie Organisationen in diesen Konkurrenzkampf eintreten. Fundraisingerfolg setzt voraus: – ein positives und der Zielgruppe bekanntes Image, – ein effektives Netzwerk, je nach Organisation lokal, regional und medial, – eine aktive Öffentlichkeitsarbeit, die Medienpräsenz und dadurch Bekanntheit sichert. Fundraising kann: – Aufmerksamkeit schaffen, – Beziehungen aufbauen, – Menschen begeistern und motivieren, – Ressourcen wie Dienstleistungen, Sach- oder Finanzmittel beschaffen.
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Fundraising kann nicht: – kurzfristig finanzielle oder strukturelle Defizite ausgleichen, – gegen ein schlechtes Image gewinnen, – ohne Investition an Zeit, Wissen oder Finanzmitteln Erfolg haben. 1.4 Theologie und Ethik im Fundraising Fundraising im kirchlichen, diakonischen, karitativen Kontext ist eng mit den Inhalten, Werten und Zielen des christlichen Glaubens verbunden. Grundlage für das Handeln der Kirche ist die Botschaft von der Liebe Gottes in Jesus Christus. Diese Liebe befreit zur Verantwortung vor Gott und zur Hinwendung zum Mitmenschen (Luk 3,10 f,; 6,36). Die Kirche folgt diesem Auftrag in Gottesdienst und Verkündigung, in Seelsorge und tätiger Nächstenliebe (Gal 6,2). Alles Handeln im Fundraising dient diesem Auftrag von Kirche, Caritas und Diakonie. Folgerichtig lassen sich ethische Grundregeln formulieren wie u.a. die Einhaltung aller einschlägigen rechtlichen Regelungen, insbesondere des Datenschutzes, der Schutz der Würde aller Beteiligten, der Verzicht auf jedwede Manipulation, wahrheitsgemäße Kommunikation, transparente und zweckgebundene Mittelverwendung. Kritisch ist anzufragen, ob die bisher entwickelten Regelwerke eher den Spender im Blick haben, um seine Spendenbereitschaft nicht zu gefährden, als die Destinatärin, für die um eine Spende gebeten wird (Apg 20,35). 1.5 Welche Herausforderungen zeichnen sich im Fundraising ab? Das Fundraising gemeinnütziger Organisationen erlebt seit etwa 2010 eine starke Veränderung bis hin zu einem radikalen Umbruch. Stichworte sind demografischer Wandel, Digitalisierung und Globalisierung. Die bisher verlässlich Engagierten der Nachkriegsgeneration brechen weg. Die darauffolgenden Baby Boomer erwarten mehr, spenden weniger und verweilen kürzer. Die Zunahme an digitalen Möglichkeiten verlangt den Aufbau unterschiedlicher, passgenauer Kommunikationswege, der für kleine Organisationen schwer zu leisten ist. Hinzu kommt die Entwicklung digitaler Spendenplattformen, die sich als Türhüter verstehen und somit gemeinnützigen Organisationen den Weg zu einem größeren Publikum eröffnen, wie auch verschließen können. Große international agierende Nonprofits erweitern ihre Basis, indem sie in interessante Märkte hineingehen und so kleineren zur Konkurrenz werden. Der Kampf um Marktanteile wird zwischen großen, finanzkräftigen und kleinen, lokal verwurzelten Organisationen zu Lasten mittelgroßer entschieden werden.
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Öffentlichkeitsarbeit Was ist Öffentlichkeitsarbeit?
Professionelle Öffentlichkeitsarbeit organisiert und steuert die öffentliche Kommunikation einer Organisation gegenüber ihren Anspruchsgruppen, also Teilöffentlichkeiten, und der allgemeinen Öffentlichkeit. Die Deutsche Public Relations Gesellschaft (DPRG) nennt es Management von Kommunikation. Öffentlichkeitsarbeit betreiben u.a. Unternehmen und Behörden, mittlerweile auch Non-Profit-Organisationen und Parteien. Ziel ist, den Absender der Kommunikation positiv in der Öffentlichkeit darzustellen und langfristig erst Aufmerksamkeit, dann Verständnis, Sympathie und schließlich Vertrauen aufzubauen. Hierzu werden Angebote, Leistungen und Erfolge in geeigneter Weise kommuniziert. Die speziell deutsche Bezeichnung Öffentlichkeitsarbeit ist, anders als oft behauptet, keine Erfindung von Albrecht Oeckl in den 1960er Jahren, um das englische und als Begriff sehr viel weiter verbreitete Public Relations zu vermeiden, sondern geht auf evangelische Kreise zurück. August Hinderer und Ferdinand Katsch verwendeten es zum ersten Mal 1917. Beide Bezeichnungen werden synonym verwendet. Unter Public Relations, wie also auch unter Öffentlichkeitsarbeit, lassen sich der Begriffsinhalt wie auch die entsprechende Organisationseinheit fassen. Besonders in neueren Publikationen wird Öffentlichkeitsarbeit als Teilbereich einer übergeordneten Organisationskommunikation verstanden. Carl Hundhausen verwendete zum ersten Mal 1937 den Begriff Public Relations für „die Kunst, durch das gesprochene oder gedruckte Wort, durch Handlungen oder durch sichtbare Symbole für die eigene Firma, deren Produkt oder Dienstleistung eine günstige öffentliche Meinung zu schaffen“ (zit. nach Marinova 2009, S. 3). Soziokulturelle Entwicklungen wie auch die beiden Diktaturen des zwanzigsten Jahrhunderts hatten, bei ansonsten internationaler Vergleichbarkeit, in Deutschland erheblichen Einfluss auf die Entwicklung. Eine noch gängige Public Relations Definition aus dem Jahr 1984 lautet nach James Grunig und Todd Hunt: „management of communication between an organization and its publics” (= Public Relations sind das Management von Kommunikation von Organisationen mit deren Bezugsgruppen) (Grunig/Hunt 1984, S. 6). Historisch gesehen ist Öffentlichkeitsarbeit – wenn auch nicht unter dieser begrifflichen Bezeichnung – auch in der Kirche sehr viel älter. August Herrmann Francke oder Johann Hinrich Wichern waren große Kommunikatoren und wirkten sehr bewusst auf die Öffentlichkeit ein, um Vertrauen und Finanzierungsbereitschaft zu schaffen. Berufsgeschichtlich teilt sie mit dem Journalismus die Wurzeln. Je differenzierter die Gesellschaft, je größer die handelnden Organisationen und je verbreiteter (Massen-)Medien wurden, desto mehr und feiner entwickelte sich die Öffentlichkeitsarbeit.
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Welche Bedeutung und welchen Umfang hat Öffentlichkeitsarbeit?
Öffentlichkeitsarbeit richtet sich nach außen und innen. Nach außen geht es ähnlich wie im Fundraising um den strategisch geplanten Aufbau von verlässlichen Beziehungen zwischen Organisation einerseits und externen Stakeholdern andererseits. Je nach Ziel variieren die Zielgruppen. So können z. B. (alphabetisch geordnet) die Allgemeinheit, Anteilseigner, Arbeitnehmende, Ehrenamtliche, Entscheider, Journalistinnen, Kunden, Lieferanten, Mitglieder, Nachbarn, Politikerinnen, Spenderinnen, User, Wähler, Wettbewerber angesprochen werden. Ein weiteres Ziel externer Öffentlichkeitsarbeit ist die Steigerung des eigenen Bekanntheitsgrads. Nach innen geht es um die Stärkung der Organisationskultur; hier sind die Mitarbeitenden und besonders die Leitungspersonen im Blick. Die Aufgaben der Öffentlichkeitsarbeit umfassen damit die Steuerung und Gestaltung des Informationsflusses, Meinungsbeobachtung und Meinungsanalyse, Zielgruppendefinitionen und -analysen, Entwicklung von Kommunikationsstrategien und -konzepten, Auswahl und Implementierung geeigneter PRMaßnahmen, Einsatz eines Krisenkommunikationsplanes bei Notwendigkeit, PR-Budgetplanung, Erfolgskontrolle, Optimierung der Kommunikationsstrategie, Netzwerkpflege. 2.3 Welche Chancen und Grenzen liegen in der Öffentlichkeitsarbeit? Öffentlichkeitsarbeit zielt auf die Bildung von Verständnis und Vertrauen, indem sie die Meinungsbildung beeinflusst. So stärkt sie das Image der Organisation. Dazu werden unterschiedliche Medien und Kanäle genutzt, wie das klassische Inserat, Plakate, Pressemitteilungen, Radio- und TV-Spots und zunehmend Social Media. Sie zielt auf langfristige Wirkung und arbeitet deshalb im Vergleich zum Marketing oft indirekt. Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Insbesondere in Zeiten von internen und erst recht externen Konflikten einer Organisation zeigt sich, ob die bisher aufgebauten Public Relations halten, der Konsens mit der Öffentlichkeit oder zumindest Teilöffentlichkeiten trägt und Glaubwürdigkeit weiterhin transportiert werden kann. Barbara Baerns konnte ab den 1970er Jahren zeigen, dass große Anteile von durch Public Relations vermittelten Inhalten direkt in journalistische Formate übernommen werden. Public Relations nutzt also erfolgreich journalistische Denk- und Arbeitsweisen, um Zeitpunkte und Themen zu setzen, ohne selbst Journalismus zu betreiben. Anders als Marketingkommunikation/Werbung zielt Öffentlichkeitsarbeit nicht auf einzelne Handlungen, wie etwa eine Bestellung oder einen Kauf, sondern auf einen guten Ruf. Öffentlichkeitsarbeit und Werbung unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ziele, der Zielgruppen und durch ihre Argumentation. Werbung steigert den Absatz, Öffentlichkeitsarbeit das Image. Sie erfordert also langfristigen Aufbau und Finanzierung ohne direkt sichtbaren Ertrag. Wir-
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kungsmessung ist deshalb eine wachsende Notwendigkeit, um in einer Zeit kürzerer Zyklen den eigenen Stellenwert zu erhalten. 2.4
Ethik in der Öffentlichkeitsarbeit
Öffentlichkeitsarbeit setzt ein ethisch einwandfreies Verhalten für den Aufbau von Glaubwürdigkeit voraus. Daher grenzt sie sich deutlich von manipulativer Propaganda ab. So kann dauerhaft Vertrauen entstehen. Schon früh wurden auf internationaler Verbandsebene Kodizes entwickelt, um den nationalen Verbandsmitgliedern Richtlinie zu sein. Auf internationaler Ebene sind das der Code d’Athènes (1965) als Moral- und der Code de Lisbonne (1978) als Verhaltenskodex. Der IPRA Code of Conduct von 2011 fasst in 18 Punkten eine Reihe früherer Kodizes zusammen (www.ipra.org; IPRA Code of Conduct 2011). Unter Berufung auf die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte werden u.a. Wahrhaftigkeit, Transparenz, der Verzicht auf Irreführung und die persönliche Integrität der Verbandsmitglieder gefordert. 2.5
Welche Herausforderungen zeichnen sich in der Öffentlichkeitsarbeit ab?
Einrichtungen der Caritas und Diakonie und mit ihnen die Abteilungen für Öffentlichkeitsarbeit, Marketing oder Kommunikation haben in den letzten zwanzig Jahren einen rasanten Wandel erlebt. Das Nutzungsverhalten von Medienkonsumenten hat sich verändert. Schnell konsumierbare Inhalte auf unterschiedlichen Kanälen werden immer gefragter, insbesondere Audio- und Videobeiträge wachsen, während klassische Printprodukte wie Zeitungen und Magazine schrumpfen. Social-Media und Messengerdienste nehmen immer größeren Raum ein. Damit vervielfältigen sich mit den Kanälen auch die Zielgruppen, also die Teil-Öffentlichkeiten, die passgenau angesprochen werden wollen. Die zunehmende Digitalisierung verlangt permanente Anpassung, d.h. Offenheit, Flexibilität und Schnelligkeit. Hinzu tritt ein bedauerlicher Mangel an Fachkräften in der Kommunikations-branche insgesamt aufgrund schwieriger Arbeitsbedingungen bei häufig geringer Vergütung. Die klassische Öffentlichkeitsarbeit entwickelt sich bei weiterhin bestehender Abgrenzung zu Marketing und Werbung immer mehr in Richtung Kommunikation, d.h. einer intensiveren Gesprächsbeziehung mit der jeweiligen Öffentlichkeit. Das Ziel Vertrauensbildung kann erreicht werden – allerdings nur bei steigenden Kosten. Umso notwendiger wird der Beleg erbrachter Wirkung durch Messungen wie z.B. Medienresonanzanalysen. Literatur Ebner, M. et al. (Hg.) (2007): Gott und Geld. Neukirchen-Vluyn. Förg, B. (2004): Moral und Ethik der PR: Grundlagen - theoretische und empirische Analysen – Perspektiven. Wiesbaden.
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Fundraising Akademie (Hg.) (2016): Fundraising (5. Aufl.). Wiesbaden. Gerhardt, J./Matthis, K. (2008): Öffentlichkeitsarbeit praktisch in Kirche und Gemeinde. Göttingen. Gertz, R. (2006): Öffentlichkeitsarbeit. Gütersloh. Gonser, N./Rußmann, U. (Hg.) (2017): Verschwimmende Grenzen zwischen Journalismus, Public Relations, Werbung und Marketing. Berlin. Grunig, J. E./Hunt, T. (1984): Managing Public Relations. New York. International Public Relations Association IPRA, www.ipra.org (Zugriff am 15.01.2021). Marinova, B. (2009): Das Modell von Carl Hundhausen. München. Ruisinger, D. (2016): Die digitale Kommunikationsstrategie (2. Aufl.). Stuttgart. Schmidbauer, K./Jorzik, O. (2017): Wirksame Kommunikation – mit Konzept. Berlin. Urselmann, M. (2018): Fundraising (7. Aufl.). Wiesbaden. www.wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/fundraising-36017 (Zugriff am 15.01.2021). www.wirtschaftslexikon.gabler.de/definition/oeffentlichkeitsarbeit - 46437 (Zugriff am 15.01.2021).
39 Soziale Innovation in Diakonie und Caritas Roland Schöttler
Der Begriff der Sozialen Innovation beschreibt soziale Neuerungen in Gruppen, Organisationen oder der Gesellschaft insgesamt, die neue Lösungen für soziale Probleme und Herausforderungen zum Ziel haben. Im Kontext von Caritas und Diakonie sind soziale Innovationen daher eng mit dem sozialen Auftrag, der eigenen Geschichte und aktuellen Veränderungsdynamiken verknüpft. Im Folgenden soll nach einer kurzen geschichtlichen Einordnung auf die Bedeutung und die damit verbundenen Herausforderungen sowie auf die Ressourcen und Fähigkeiten eingegangen werden, die zur erfolgreichen Gestaltung sozialer Innovationsprozesse in Organisationen der Diakonie und Caritas erforderlich sind (vgl. Schöttler 2020). 1
Hintergrund eines sozialen Innovationsbegriffs
Zu allen Zeiten gab es Innovation, gerade auch in kirchlichen Kontexten. Man denke nur an die Klöster des Mittelalters, in denen „Naturerkenntnis und ihre Anwendung in der Technik […] den Menschen zum cooperator Dei“ machten, wie Krolzik es formuliert (1993, S. 52). Und die reformatio in melius, die „Erneuerung zum Besseren“, das Wissen darum, dass zwischen Anfang und Ende der Welt eine Entwicklung stattfinden musste, war Legitimation des Neuen und Druck auf die Gegenwart zugleich (vgl. S. 37). Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfolgte im Zuge des technischen Forstschritts im Kontext von Industrialisierung und Kapitalismus eine Reduzierung und semantische Umdeutung: Innovationen waren nunmehr technische Erfindungen zum Zwecke der wirtschaftlichen Entwicklung (vgl. Schumpeter 1912), nicht länger die „Erneuerung zum Besseren“ der Welt. In der Folge setzte sich ein bis heute vorherrschendes technisch-ökonomisch reduziertes Paradigma durch und das Konzept der Innovation wurde für soziale Kontexte und insbesondere soziale Organisationen zunächst inkompatibel.
Soziale Innovation
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Jüngere Beiträge zur sozialen Innovation versuchen, diese Verkürzungen zu überwinden. So plädiert Rammert für einen Innovationsbegriff, in dem die Relationen (der Wesenskerns einer Innovation) von den Referenzen (den Wirkungskontexten) unterschieden werden. Soziale Innovationen sind dann solche mit sozialer Referenz, müssen also „auf das Zusammenleben in Gemeinschaften und der Gesellschaft bezogen werden und meinen neuen Formen von Teilhabe und sozialer Integration, von Interessenausgleich und sozialer Gerechtigkeit und von Individualität sowie Solidarität“ (Rammert 2010, S. 43). In ihren Relationen können soziale Innovationen dabei u. a. technologischen, architektonischen, ökonomischen, sozialen oder rechtlichen Ursprungs sein. Entscheidend ist nicht ihre Herkunft in der Sache, sondern ihr Beitrag zur „Erneuerung zum Besseren“, worin eine Rückbesinnung auf die Legitimation des Neuen in früheren Zeiten erkennbar wird. In diesem Verständnis sozialer Innovation können sich auch Caritas und Diakonie leicht wiederfinden und erkennen zunehmend deren Relevanz. So können seit geraumer Zeit einschlägige Stellungnahmen, Absichtserklärungen und Eckpunktpapiere gefunden werden (z.B. Deutscher Caritasverband 2012) und entsprechend gibt es auch dort und andernorts ständig neue Ideen und Projekte. Doch nicht alles Neue und jedes Projekt ist auch gleich eine Innovation. Dazu bedarf es einer nachhaltigen Differenz zwischen alt und neu, gleichartig und neuartig, normal und abweichend (vgl. Rammert 2010, S. 29 ff.). Eine systematische Förderung solch nachhaltiger Innovationen lässt sich in sozialen Organisationen noch zu selten beobachten. Obwohl potenziell ideale Orte sozialer Innovation, ist das Wissen um die Notwendigkeit, die Herausforderungen und funktionierende Methoden sozialer Innovationsprozesse häufig nicht gegeben oder mündet nicht in zielgerichtetes Handeln: Der Riese schläft (vgl. Schellberg 2020). Um ihn zu wecken und den sozialen Wandel mitzugestalten, müssten soziale Organisationen selbst stärker in einen Modus der Innovation wechseln, der sich jedoch von anderen organisationalen Handlungsweisen mitunter deutlich unterscheidet. 2
Innovation als organisationaler Modus
Die Existenzberechtigung sozialer Organisationen hängt nicht zuletzt davon ab, ob sie auf die sich ständig verändernden sozialen Herausforderungen eine strategische Antwort formulieren können, um nutzbringende Lösungen für gesellschaftliche Problemlagen anzubieten und benötigte Ressourcen zu gewinnen. In diesem Bemühen können drei mögliche Modi identifiziert werden, um als Organisation mit der Umwelt zu interagieren und auf Veränderungen zu reagieren. a) In Phasen oder Bereichen relativer Stabilität ist eine Organisation in der Lage, eine ebenso stabile Routine auszubilden, mit der die alltäglichen Aufgaben abgearbeitet werden können. Hierzu gehören z.B. die Erbringung
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von Dienstleistungen, die Aufnahme von Klient:innen oder auch die Einstellung von Mitarbeitenden. Diese Abläufe sind von geringer Unsicherheit geprägt, da die Beteiligten wissen, was das Ziel ist, was zu tun ist und was dafür benötigt wird. Natürlich gibt es auch in Zeiten relativer Stabilität immer wieder Veränderungen, auf die reagiert werden muss. Jedoch sind diese für die meisten sozialen Organisationen mit Hilfe inkrementeller, d.h. kleinschrittiger und aufeinander aufbauender Anpassungen handhabbar. b) Der organisationale Modus, der für solche inkrementellen Anpassungen von Bedeutung ist, kann als Optimierung bezeichnet werden (vgl. RüeggStürm & Grand 2019, S. 99). Während das Instrument der Routine die Prozesse einer Organisation sind, finden sich im Modus der Optimierung ihre Projekte. Mittel und Wege sind in Projekten von einer deutlich höheren Unsicherheit geprägt als dies in der Routine der Fall ist. Dennoch bewegt sich die Organisation nach wie vor in weitgehend bekannten Gewässern. Solange die Änderungsgeschwindigkeit der Umwelt nicht zu groß ist, reichen diese inkrementellen Anpassungen aus, um die Organisation und ihre Angebote in relativer Nähe zur Umwelt zu halten. Anders verhält es sich, wenn die Veränderungsgeschwindigkeit deutlich zunimmt. In diesem Fall sind die bisherigen organisationalen Modi Routine und Optimierung nicht geeignet, um die Organisation schnell genug auf die Veränderungen einzustellen oder diese gar mitzugestalten. c) Diese Betrachtung führt uns schließlich zum dritten organisationalen Modus: Innovation. Sie ist spätestens dann notwendig, wenn auf Grund einer hohen Dynamik der Umwelt die Methoden und Angebote der Vergangenheit in der Zukunft nicht länger hinreichend funktionieren werden. Routine als geronnenes Wissen der Vergangenheit besitzt dann nur noch unzureichend Aussagekraft darüber, was in Zukunft zu tun ist. Unschwer lässt sich die These aufstellen, dass auf lokaler, regionaler und globaler Ebene die Änderungsgeschwindigkeit in den letzten Jahren dramatisch zugenommen hat und weiter zunehmen wird: Klimawandel, Digitalisierung, Demographie, Polarisierung und Pandemien sind mächtige Treiber, die Exklusionsrisiken wachsen lassen. Diese Entwicklung führt zu einer Zunahme der Unsicherheit und zur Notwendigkeit sozialer Innovationen, die die Richtung des sozialen Wandels verändern und Exklusion mindern. 3
Paradoxien in sozialen Innovationsprozessen
Im Unterschied zu Routine und Optimierung bewegt sich Innovation somit in einem Bereich größerer Unsicherheit, da letztlich weder das konkrete Ziel noch die benötigten Mittel oder Wege bekannt sind. Wie Ortmann schreibt, soll Innovation „etwas Neues, noch Unbekanntes hervorbringen […], von dem man eben deshalb nicht wissen kann, wo und wie es zu finden ist“ (1999, S. 249). Eine weitere Unsicherheit besteht darin, nicht zu wissen, wie das Neue auf das Bestehende wirken wird. Ist in Routineprozessen und Projekten das Ergebnis im Wesentlichen bekannt und können somit hinreichend genaue
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Annahmen darüber getroffen werden, welche Auswirkungen das Ergebnis auf die Organisation, die Mitarbeitenden, die Kunden oder Klientinnen hat, ist dies bei Innovationen nicht in gleichem Maße gegeben (vgl. Collingridge 1980). Diese Unsicherheiten – es wird etwas gesucht, von dem man nicht weiß, was es ist; es wird etwas beabsichtigt, von dem man nicht weiß, wie es sich auswirkt – sind die klassischen Paradoxien in jedem Innovationsgeschehen. Für soziale Organisationen kann eine weitere Paradoxie ausgemacht werden. Als hybride Organisationen treffen in ihnen eine Vielzahl unterschiedlicher Professionen und Handlungslogiken aufeinander: Theologie, Ökonomie, Sozialprofessionen, Psychologie, Medizin, aber auch Verwaltungsfachleute, Juristen oder möglicherweise Ingenieurinnen. Diese Vielfalt und der damit verbundene interdisziplinäre Wissenskorpus sind einerseits ein fruchtbarer Boden, da die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung des Neuen an oder auf den Grenzen zwischen Professionen und Logiken besonders hoch ist (vgl. Stark 2009). Andererseits kann eben diese Komplexität zu Konflikten führen, die das Scheitern von Innovationsprozessen zur Folge haben können. Schedler und Rüegg-Stürm beobachten, dass nicht selten zwischen den verschiedenen Professionen und Logiken in hybriden Organisationen ein Widerstreit existiert, aus dem „hochgradig wertgeladene und emotionale Debatten entstehen [können]“ (2013, S. 77), so dass „die widersprüchlichen Anforderungen an eine Organisation gemeinschaftliches Handeln und Entscheiden zu blockieren drohen“ (RüeggStürm, Schedler & Schumacher 2015, S. 6). Die Innovationsparadoxie sozialer Organisationen ist somit darin begründet, dass wesentliche Bedingungen für Innovationen in dieser Vielfalt und Komplexität den gleichen Ursprung haben wie die Bedingungen ihres Scheiterns (vgl. Schöttler 2017). 4
Ressourcen und Fähigkeiten in sozialen Innovationsprozessen
Die Herausforderungen, denen sich soziale Organisationen in Innovationsprozessen gegenübersehen, können auf diese drei Paradoxien zurückgeführt werden. Soziale Innovationsfähigkeit ist daher zu wesentlichen Teilen die Fähigkeit, diese Paradoxien konstruktiv zu bearbeiten. Eine solche Bearbeitung ist nur jenseits von Routine und Optimierung möglich und bedarf besonderer Räume, in denen eine Organisation die vorhandene Unsicherheit aushalten, mit ihr experimentieren und sich von ihr inspirieren und irritieren lassen kann. Analytisch können in diesen Räumen drei relevante Fähigkeiten unterschieden werden: – Resonanzfähigkeit erlaubt es der Organisation, ihre Umwelt jenseits der Routine zu beobachten und die dadurch entstehenden Irritationen konstruktiv zu nutzen. Innovative Organisationen nehmen ein breites Spektrum möglicher Umwelten und Perspektiven mit ihren jeweiligen Trends und Entwicklungen in den Blick und suchen auf vielfältige Weise und in ganz unterschiedlichen Kontexten nach Inspiration. Daher ist es eine Managementaufgabe, die Organisation angemessen mit Irritation und Unsicherheit zu
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versorgen, um innovativer zu werden. Wird hingegen versucht, jegliche Unsicherheit durch Routine zu absorbieren, sinkt die Wahrscheinlichkeit für Innovation. Entsprechend lässt sich in fast allen Innovationsprozessen ein Konflikt zwischen Innovation und Routine beobachten, der nicht selten zu Gunsten der Routine entschieden wird – denn wer will schon Unsicherheit? – Diskursfähigkeit dient zur Bearbeitung der Spannungen entlang der Konfliktlinien zwischen den unterschiedlichen Professionen, Logiken und Zielen in hybriden Organisationen und ihren Anspruchsgruppen. Neue Ideen erzeugen vor diesem Hintergrund häufig reflexhafte Abwehr. Einem neuen Beratungskonzept wird unmittelbar Unwirtschaftlichkeit bescheinigt, dem Einsatz neuer Technologien sofort Menschenfeindlichkeit oder einem sozialpolitischen Konzept fachliche Unzulänglichkeit. Für erfolgreiche Innovationsprozesse ist es dabei nicht von Bedeutung, dass es gegen jede Idee durchaus auch Sachargumente gibt. Von Bedeutung ist vielmehr, ob die Spannungen zur Blockade oder zu einem konstruktiven Diskurs führen. Um das zu erreichen, werden geeignete Diskursräume benötigt, in denen die Organisation mit sich und ihren Anspruchsgruppen ins Gespräch kommen kann. Jede im Diskurs nicht hinreichend berücksichtigte Logik wird mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem späteren Zeitpunkt Innovationsbarrieren produzieren. – Schließlich bedarf es der Integrationsfähigkeit, um das Bestehende sinnvoll mit dem Neuen verknüpfen, ergänzen oder ersetzen zu können. Hierfür sind Kompetenzen im Veränderungsmanagement hilfreich sowie die Einbindung aller relevanter Anspruchsgruppen, die noch nicht zu einem früheren Zeitpunkt im Innovationsprozess involviert waren (insbesondere Kunden und Klientinnen). Zudem bedarf es geeigneter Experimentier- und Erfahrungsräume, die mit den notwendigen Ressourcen auszustatten sind und in denen das notwendige neue Wissen entwickelt wird, damit Innovationen erfolgreich in die Praxis integriert werden können. Um die genannten Fähigkeiten zu entwickeln und entsprechende Innovationsräume aufzubauen, werden spezifische Kompetenzen und Ressourcen benötigt. In diesem Zusammenhang ist festzustellen, dass der Sozialbereich aufgrund seiner Rahmenbedingungen unter einem chronischen Mangel an Innovationsmitteln leidet. Die Sozialgesetzgebung sieht keine angemessenen Innovationsbudgets vor und das Nachfragemonopol der öffentlichen Hand führt zu großen Innovationsbarrieren, wenn diese keine entsprechende Finanzierungszusage gibt. Entsprechend finden weite Teile der Innovationsprozesse sozialer Organisationen in Nischen statt, die auf Eigenmittel, Spenden, Forschungs- und Fördergelder zurückgreifen (vgl. Schellberg 2020, S. 20 ff.). So bedauerlich die mangelnde Unterstützung und Nutzung der Innovationskraft sozialer Organisationen durch die Politik ist, so wenig sollte sie als Begründung für die eigene Innovationsschwäche verwendet werden. Denn einerseits können trotzdem viele innovative Beispiele in Organisationen der Diakonie und Caritas beobachtet werden, andererseits macht Geld allein noch lange
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nicht innovativ. Auch mit begrenzten Mitteln können Organisationen an ihrer Innovationsfähigkeit arbeiten. Die Strukturen und Prozesse, die Kultur und die Mitarbeitenden, die Kompetenzen und Methoden einer Organisation können weitgehend unabhängig der finanziellen Ausstattung entlang der Fähigkeiten von Resonanz, Diskurs und Integration innovativ entwickelt werden – oder eben nicht. Folgt man dieser These, dann können drei Beobachtungen gemacht werden, die einige Hinweise auf die Gestaltung von Innovationsprozessen geben können: – Scheitern und Nicht-Funktionieren sind in Innovationsprozessen kein Versagen, sondern notwendige Erfahrungen. Wie eine Organisation mit solcher Erfahrung umgeht, wird wesentlich von den vorherrschenden Kulturen der Organisation bestimmt. Vertrauen und Fehlertoleranz helfen, Misstrauen und Versagensängste nicht. Dabei zeigt sich, dass starre und stark hierarchische Organisationen eher zu Letzterem tendieren, während flexiblere und selbstorganisiertere Formen Ersteres befördern. Die klassische Linienorganisation ist wesentliches Merkmal der Routine, die in der Regel widerständig auf Neuerungen reagiert. Je größer und damit bedrohlicher das Neue einerseits erscheint und je hierarchischer und starrer die Organisation andererseits agiert, desto mehr Widerstand ist zu erwarten. – In jeder Organisation gibt es Menschen, denen z.B. auf Grund ihrer Biografie, Kreativität oder ihres Charismas eine besondere Energie und Offenheit für das Neue zu eigen ist. Gerade im Sozialbereich, in dem viele Mitarbeitende intrinsisch motiviert sind, spielen diese Personen eine große Rolle in Innovationsprozessen. Sie bringen ein besonderes Innovationspotenzial ein, das in einer Organisation nun entweder aktiviert oder gebremst, hervorgehoben oder ausgeblendet werden kann. Wie mit diesem Potenzial umgegangen wird, hängt insbesondere von den Kommunikations- und Entscheidungsprozessen ab. Gelangen also Ideen und Beiträge solcher Innovationsträger in die Kommunikation der Organisation und werden sie in Entscheidungsprozessen berücksichtigt, oder werden sie ignoriert und abgewehrt? – Im Gegensatz zu früheren Vorstellungen von Innovationsprozessen, in denen es erst Forschung, dann Entwicklung, Produktion und Vertrieb gab, gehen aktuelle Modelle von zirkulären, iterativen und rückgekoppelten Abläufen im Innovationsgeschehen aus. Beispiele hierfür sind u. a. die DesignThinking-Methode (vgl. Brown/Katz 2009) oder agile (Projekt-)Management-Methoden. Die Idee ist, möglichst früh mit kleinen, gangbaren und konkreten Schritten zu beginnen und die so gewonnenen Erkenntnisse in den nächsten Zyklus einzuspeisen. Dadurch werden langwierige, ressourcenintensive und doch an der Realität vorbeigehende Projekte vermieden und Lerneffekte schnell in den Innovationsprozess integriert. Vorteile sind u. a. weniger Überforderung durch kleinere Schritte, weniger Ressourcenaufwand am Anfang und zügiges Erkennen, was auf Resonanz trifft und wo in der Organisation Energie entsteht, die zur Befeuerung der weiteren Entwicklung genutzt werden kann.
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R. Schöttler
Zusammenfassung
Voraussetzungen und Ablauf sozialer Innovationsprozesse können vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen angelehnt an die Prozessphasen sozialer Innovationen zusammengefasst werden (vgl. Murray/Caulier-Grice/Mulgan 2010, S. 11 ff.). a) Der Aufbau sozialer Innovationsfähigkeit ist eine strategische Entscheidung mit dem Ziel, gangbare Schritte hin zu innovativeren Strukturen, Prozessen und Kulturen zu gehen. Das Management muss Ressourcen umlenken und insbesondere glaubhaft kommunizieren, dass Innovation erwünscht ist und auf welche Art und Weise man innovativ sein möchte, z.B. wo es in der Organisation Orte der Resonanz, des Diskurses und der Integration geben soll, die von der Routine entkoppelt sind und diese hinterfragen, irritieren und herausfordern dürfen. b) Soziale Innovationsprozesse beginnen mit der Wahrnehmung von Herausforderungen, die mit den Methoden der Vergangenheit nicht lösbar erscheinen und somit neuer Anregungen und Ansätze bedürfen. Diese können von einzelnen Personen eingebracht oder in geeigneten Räumen entwickelt werden, z.B. in Design-Thinking-Workshops oder durch ein funktionierendes Ideen- und Innovationsmanagement, wie es z.B. die Caritas Wien etabliert hat (vgl. Fasching 2017). c) Vielversprechende neue Ideen sollten weiterentwickelt und Schlüsselelemente so früh wie möglich in einem Piloten- oder Prototyp in der Praxis getestet werden. Der Prozess des Verfeinerns und Testens von Ideen ist in der Sozialwirtschaft besonders wichtig, da durch Iteration, Versuch und Irrtum auch Koalitionen gestärkt werden (z.B. die Verbindung von Nutzer:innen und Fachleuten oder Leistungserbringer und Kostenträger) und Konflikte gelöst werden (einschließlich Kämpfe zwischen verschiedenen Logiken). In dieser sowie der nächsten Phase können Innovationslabore helfen, z.B. das INTRA-Lab (intra-lab.de) oder die Social Impact Labs (socialimpact.eu), in denen Innovationsteams durch Coaches, Mentorinnen, Methoden und Ressourcen unterstützt werden. d) Im weiteren Verlauf ist die Tragfähigkeit zu prüfen, um die Idee zu verstetigen. Konzeptionen sind zu schärfen, Strukturen zu schaffen und langfristige Einkommensströme zu identifizieren. Es stellt sich somit die Frage nach dem zu Grunde liegenden Geschäftsmodell. Ein solches kann z.B. mit Hilfe eines Business Model Canvas (einem Instrument des strategischen Managements, vgl. Osterwalder/Pigneur 2010) entwickelt und analysiert werden. Dabei sollten gegebenenfalls auch Optionen jenseits einer klassischen Refinanzierung und einer Strategie des „Gemacht wird, was bezahlt wird“ in Erwägung gezogen werden. e) Erfolgreiche Ideen sollten Verbreitung finden, innerhalb wie auch über die Grenzen der eigenen Organisationen hinaus. Leider findet eine solche Diffusion guter Ideen innerhalb des Sozialbereichs noch viel zu selten statt. Ob es am AGABU-Syndrom („Alles-ganz-anders-bei-uns“), dem Not-Invented-Here-Syndrom („wenn es nicht von uns kommt, taugt es nichts“), feh-
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lenden Austauschstrukturen auf Verbandsebene oder dem Wahrnehmen von Konkurrenz an der falschen Stelle liegt, ist dabei unerheblich. Im Ergebnis werden weiterreichende „Erneuerungen zum Besseren“ versäumt, die mitunter das Potenzial zur systemischen Veränderung haben könnten, wenn sie denn Verbreitung fänden. Abschließend ist festzuhalten, dass Caritas und Diakonie über eine genuine Innovationskraft verfügen, die in ihrer Geschichte, ihren Grundsätzen und einer von Vielfalt geprägten Struktur eingeschrieben ist. Diese mehr und mutiger zu nutzen, ist in Zeiten großer Veränderungen mehr denn je von Nöten. Literatur Brown, T./Katz, B. (2009): Change by design. How design thinking transforms organizations and inspires innovation. New York. Collingridge, D. (1980): The social control of technology. New York. Deutscher Caritasverband (2012): Eckpunkte Soziale Innovationen. https://www.caritas.de/cms/contents/caritasde/medien/dokumente/stellungn ahmen/sozialinnovationen/soziale_innovationen_caritas_eckpunktepap ier.pdf (Zugriff am 15.04.2021). Fasching, P. (2017): Innovationsmanagement in der Praxis am Beispiel der Caritas der Erzdiözese Wien. In: Kongress der Sozialwirtschaft e.V. (Hg.): Der Zukunftskongress der Sozialwirtschaft: Die vernetzte Gesellschaft sozial gestalten (S. 171–182). Baden-Baden. Krolzik, U. (1993): Zur theologischen Legitimierung von Innovationen vom 12. bis 16. Jahrhundert. In: W. Haug/B. Wachinger (Hg.): Innovation und Originalität (S. 35–52). Tübingen. Murray, R./Caulier-Grice, J./Mulgan, G. (2010): The Open Book of Social Innovation. http://youngfoundation.org/wp-content/uploads/2012/10/The-Ope n-Book-of-Social-Innovationg. pdf (Zugriff am 05.02.2021). Ortmann, G. (1999): Innovation als Paradoxieentfaltung. Eine Schlußbemerkung. In: D. Sauer/C. Lang (Hg.): Paradoxien der Innovation (S. 249–262). Frankfurt a.M. Osterwalder, A./Pigneur, Y. (2010): Business Model Generation. Weinheim. Rammert, W. (2010): Die Innovationen der Gesellschaft. In: J. Howaldt/H. Jacobson (Hg.): Soziale Innovation (S. 21–51). Wiesbaden. Rüegg-Stürm, J./Grand, S. (2019): Das St. Galler Management-Modell. Stuttgart. Rüegg-Stürm, J./Schedler, K./Schumacher, T. (2015): Multirationales Management. Fünf Bearbeitungsformen für sich widersprechende Rationalitäten in Organisationen. OrganisationsEntwicklung, 2, 4–11. Schedler, K./Rüegg-Stürm, J. (2013): Multirationales Management. Bern. Schellberg, K. (2020): Die Innovationsbedingungen in der Sozialwirtschaft. Warum der Riese so schwer aufwacht. In: P. Brandl/T. Prinz (Hg.): Innovationen bei sozialen Dienstleistungen (S. 19–37). Regensburg.
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R. Schöttler
Schöttler, R. (2017): Die Innovationsparadoxie der Sozialwirtschaft. Göttingen. Schöttler, R. (2020): Grundkategorien der Innovationsfähigkeit sozialer Organisationen. In: J. Rausch/M. Heubes (Hg.): Gesellschaft in Verantwortung (S. 177–198). Borsdorf. Schumpeter, J. (1912): Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung. Leipzig. Stark, D. (2009): The sense of dissonance. Accounts of Worth in Economic life. Princeton.
Adressat:innen und Aufgabenfelder
40 Alter Andreas Kruse
Die Lebensphase „Alter“ gewinnt für Einrichtungen der Caritas und der Diakonie zunehmend an Bedeutung. Zum einen ist diese Entwicklung dem demografischen Wandel mit einer besonderen Wachstumsdynamik in den höchsten Altersgruppen (80 Jahre und älter) geschuldet. Zum anderen steigt die Anzahl jener alten Menschen an, bei denen chronisch-progrediente Erkrankungen des Körpers und des Gehirns vorliegen und die aus diesem Grunde auf eine umfassende ambulante oder stationäre Pflege angewiesen sind. Dabei wäre es allerdings falsch, würde man die Arbeit von Caritas und Diakonie allein auf die Pflege reduzieren. Deren Aufgabenspektrum umfasst auch die psychosoziale Intervention mit dem Ziel der Förderung und Erhaltung von sozialer Teilhabe, Kompetenz und Autonomie. Dabei ist zu konstatieren, dass die Arbeit mit alten Menschen mehr und mehr einem potenzial- und kompetenzorientierten Ansatz folgt, der differenziert auf die in allen Entwicklungsdimensionen gegebene Heterogenität des Alters antwortet (grundlegend Pohlmann 2011; Bäcker/ Heinze 2013; Naegele et al. 2016) und berücksichtigt, dass diese Heterogenität auch auf die sozioökonomischen Rahmenbedingungen zurückzuführen ist, die in früheren Lebensabschnitten bestanden haben bzw. im Alter bestehen. Damit ist auch die soziale Ungleichheit angesprochen, die sich im Alter nicht diminuiert, sondern sogar verschärft. Ein wesentliches, differenzierendes Merkmal der Arbeit in ambulanten und stationären Einrichtungen der Caritas und Diakonie bildet die seelsorgerische Begleitung. Diese darf in ihrer Bedeutung für die Lebensqualität, für das Erleben von Stimmigkeit und für die (innere wie äußere) Verarbeitung von Verletzlichkeit nicht unterschätzt werden. Auf der seelsorgerischen Begleitung liegt im Folgenden der Akzent, denn diese bildet das momentum specificum der Einrichtungen von Caritas und Diakonie – und sollte auch als solches wahrgenommen und nach außen artikuliert werden.
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A. Kruse
Individuelle Zugänge zu Spiritualität und Religiosität
Ein Bereich, in dem sich die Einzigartigkeit (Individualität) eines alten Menschen auch zeigt, bildet die Spiritualität bzw. die Religiosität. Spiritualität sei hier im weitesten Sinne definiert als transzendentale Selbst- und Welterfahrung, das heißt als Verbundenheit mit der Welt und dem Umgreifenden, die einhergeht mit einer Offenheit der Person gegenüber Prozessen innerhalb des eigenen Selbst (als Kern der Person) und der Bewusstwerdung persönlich bedeutsamer Werte. Religiosität sei hier im weitesten Sinne definiert als die Erfahrung des Getragenseins durch das Göttliche (oder durch Gott) bzw. das Geborgensein in dem Göttlichen (oder in Gott), wobei zugleich die Identifikation mit bestimmten Glaubensgemeinschaften, Ritualen und Praktiken konstitutiv für die religiöse Identität ist. Die biografische Analyse von Erleben und Verhalten im Interview wie auch in persönlich bedeutsamen biografischen „Stories“ (grundlegend: Ritschl/Jones 1976) vermittelt den Eindruck zunehmender Individualisierung von Transzendenzerfahrungen im Alternsprozess; dies gilt auch dann, wenn sich Menschen mit spezifischen Glaubensgemeinschaften identifizieren bzw. deren Rituale und Praktiken teilen. Alte Menschen heben, wenn sie um eine tiefergehende Reflexion ihrer Transzendenz- und Glaubenserfahrungen gebeten werden, vielfach hervor, dass sie mehr und mehr zu einer ganz eigenen, in der Biografie gewachsenen Haltung gegenüber dem Transzendenten oder dem Göttlichen gefunden, dass sie eine ganz eigene Beziehung zu Gott aufgebaut hätten. Aus dieser Individualisierung ergeben sich spezifische Anforderungen und Chancen für eine christliche Seelsorge. Die Anforderungen liegen darin, die Verkündigung mit sehr unterschiedlichen Lebenswelten alter Menschen zu verknüpfen, wobei die Ressourcen („Kräfte“) genauso wie die Verletzlichkeit der Person angesprochen werden müssen (Springhart 2016), deren innere und äußere Aktivität genauso wie deren Passivität. Die Chancen liegen nicht nur in der Vielfalt der Biografien und Lebenswelten, sondern auch in der Vielfalt der persönlichen Zugänge zu Transzendenz, zum Göttlichen, zu Gott (Coors 2020), die der christlichen Seelsorge eine außerordentliche Reichhaltigkeit zu geben vermag; hier gewinnt auch die von Robert Butler (1980) in einer grundlegenden Arbeit über den Lebensrückblick im Alter getroffene Aussage, wonach dieser Rückblick als eine „unentdeckte (und damit noch zu hebende) Goldgrube“ (englisch: bonanza) zu verstehen sei, besondere Bedeutung. 2
Introversion, Introspektion und Sorge
Wie aber kann diese noch zu hebende Goldgrube so veranschaulicht werden, dass eine möglichst große Ähnlichkeit zum Erleben alter Menschen hergestellt wird? Was wird in dem Lebensrückblick alter Menschen, der als eine Grundlage des Glaubensgesprächs zu deuten ist, thematisch? Wie kann die Seelsorge darauf antworten?
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Dieser Frage sei unter Rückgriff auf ein Quartett des Dichters Thomas Stearns Eliot (1888–1965) zu beantworten versucht, das im Jahre 1943 erschienen ist. Dieses zweite von insgesamt vier Quartetten trägt den Namen East Coker. East Coker ist ein Dorf im Bezirk South Somerset in Somerset, UK. Eliot besuchte im Jahre 1937 East Coker. Dieses Dorf besaß für ihn besondere Bedeutung, da ein Vorfahr, Andrew Eliot, im Jahre 1669 von dort nach Amerika aufbrach. Das Urnengrab des Thomas Stearns Eliots befindet sich neben der St. Michaels Kirche in East Coker. Das Quartett East Coker beginnt mit der Aussage: „In my beginning is my end.“ Und es endet mit der Aussage: „In my end is my beginning“. Damit ist die Integration von „Anfang“ und „Ende“ betont, mithin die Biografie als Ganzes. Eine für das Verständnis dieser Integration wie auch der Transzendenzerfahrungen im Alter zentrale Aussage aus East Coker lautet: „Alte Menschen sollten Entdecker sein; hier oder dort: das ist nicht wichtig. Wir müssen still sein und uns weiterhin bewegen: In eine andere Intensität, zu einer umfassenderen Einheit, zu einer tieferen Gemeinschaft. Durch die dunkle Kälte und die leere Trostlosigkeit; der Wellenschrei, der Windschrei, das weite Wasser vom Sturmvogel und vom Schweinswal: In meinem Ende ist mein Anfang.“ (Übersetzung d. Verfassers)
„Hier oder dort: das ist nicht wichtig“: Wir sind „diesseitig“ oder „jenseitig“ Suchende; eine Umschreibung von Transzendenz, die empirischen Befunden zufolge enge Bezüge zur Transzendenzerfahrung aufweist, die alte Menschen schildern (Kruse/Schmitt 2021). „In eine andere Intensität“: eine Umschreibung von Entwicklungspotenzialen in Richtung auf eine Verschmelzung von Emotion und Kognition im hohen Alter (Labouvie-Vief et al., 2010). „Zu einer umfassenderen Einheit, zu einer tieferen Gemeinschaft“: eine Umschreibung der vertieften Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst („Introversion“), die mit wachsender Selbstreflexion („Introspektion“) einhergeht (Kruse 2017); zudem eine Umschreibung der vermehrten Identifikation („Sorge“) alter Menschen mit jungen Menschen sowie des Fortlebens in nachfolgenden Generationen (Kruse 2016). „Durch die dunkle Kälte und die leere Trostlosigkeit“: Durchschreiten des Dunkels und der Verlassenheit, womit die Grenzsituationen im Alter umschrieben werden (Eurich 2020). „In meinem Ende ist mein Anfang“: In diesen Grenzsituationen finde ich zu meinen Wurzeln, zu meinem Anfang: Umschreibung von Existenzerhellung im Sinne der Philosophie Karl Jaspers‘ (1932/1973). – Welche Perspektiven für eine Seelsorge mit und am alten Menschen! 3
Lebensrückblick und Ich-Integrität
Der Lebensrückblick bildet den Dreh- und Angelpunkt dieser Seelsorge, weil er für die Ich-Integrität im Alter wichtig ist, die nur dann erreicht werden kann, wenn sich das Individuum der (aus seiner Sicht) positiven wie negativen Er-
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A. Kruse
fahrungen, der gelungenen wie nicht gelungenen Handlungen bewusst ist. Positive Erfahrungen und gelungene Handlungen spiegeln sich (auch) rückblickend in Stimmigkeits- und Sinnerleben wider; negative Erfahrungen und nicht gelungene Handlungen in Trauer, Schuld und Reue (Erikson 1998). Die Schuld wird dabei möglicherweise nicht nur gegenüber anderen Menschen, sondern auch gegenüber sich selbst, wenn nicht sogar gegenüber dem Schöpfer erfahren: Dies ist vor allem dann der Fall, wenn bestimmte Seiten des Lebens nicht gelebt wurden – dies nicht aus bewusstem Verzicht oder weil einem die Möglichkeit nicht gegeben war, sondern aus einem nachlässigen Umgang mit den gegebenen Möglichkeiten und der bemessenen Zeit (Fuchs 2019). Der rechte Umgang mit Trauer, Schulderleben und Reue ist, so Erik H. Erikson, für die Herstellung von Ich-Integrität wichtig; das Scheitern dieser inneren Auseinandersetzung kann hingegen zur Verzweiflung (despair) führen. Hier kann eine Seelsorge, die dem Menschen in seiner Suche nach Vergebung und Neuorientierung beisteht, einen überaus wichtigen Dienst leisten. Die IchIntegrität wird auch als Grundlage für Transzendenzerfahrungen alter Menschen beschrieben; so zum Beispiel in den Arbeiten von Robert Peck (1977). Ihm zufolge stellt das Alter zunächst die Aufgabe, sich vom früheren beruflichen und sozialen Status zu lösen und sich auf sich selbst wie auch auf jene An- und Zugehörigen zu konzentrieren, an die man besonders gebunden ist. Im weiteren Alternsprozess steht das Individuum vor der Herausforderung, die Identifikation mit dem Körper aufzugeben und sich vermehrt auf seelischgeistige Prozesse einzustellen („Introversion“). Und schließlich ist, folgt man Robert Peck, die Transzendierung des eigenen Ichs gefordert. Dieser aus psychologischer Sicht beschriebene Entwicklungsprozess lässt sich auch aus Sicht der Seelsorge deuten. Es seien nachfolgend zwei Deutungen versucht, die gerade für das vertiefte Verständnis der existenziellen Situation im hohen Alter hilfreich erscheinen. 4
Memento mori-Struktur des Erlebens und Verhaltens
Die erste Deutung verdankt sich der Predigt 53 aus den Deutschen Predigten des Meister Eckhart (1260–1327): „Wenn ich predige, pflege ich zu sprechen: von Abgeschiedenheit und dass der Mensch seiner selbst und aller Dinge ledig werde. Zum zweiten von Wiedergeburt in das einfaltige Gut, das Gott ist. Zum dritten vom hohen Adel, den Gott in die Seele gelegt. Zum vierten von Lauterkeit der göttlichen Natur: wie rein und durchsichtig sie ist, das ist unaussagbar“ (Meister Eckhart 1988). Die in der psychologischen Fachliteratur beschriebene „memento mori“-Struktur des Erlebens und Verhaltens im hohen Alter (Kruse 2017) wie auch in der Nähe des Todes (Brandtstädter 2014) kommt der von Meister Eckhart gewählten Charakterisierung der Psyche sehr nahe. Die begrenzte Lebenszeit, vor allem aber die erlebte zeitliche Nähe zum Tod stößt eine umfassendere Weltsicht und eine damit einhergehende Ausweitung des persönlich bedeutsamen Themenspektrums an, weiterhin eine gelas-
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senere Lebenseinstellung, begleitet von einer abnehmenden Intensität von Emotionen wie Ärger, Trauer, Reue und Freude. Zudem treten Spiritualität, Altruismus und Dankbarkeit stärker in das Zentrum des Erlebens. In eigenen Studien, in denen eine ausführliche Analyse der daseinsthematischen Struktur im hohen Alter (Kruse/Schmitt 2021) wie auch am Ende des Lebens (Kruse 2021) vorgenommen wurde, konnten wir zum einen zahlreiche Hinweise auf diese memento mori-Struktur finden, zum anderen wurde diese von alten bzw. schwerstkranken Menschen selbst als eine bedeutende Form der Transzendenzerfahrung umschrieben (Kruse/Schmitt 2018). Es ist übrigens von großer Bedeutung, diese Struktur des Erlebens und Verhaltens bei allen Überlegungen, Entscheidungen und Planungen zu berücksichtigen, gegebenenfalls auch gezielt anzusprechen, die sich auf die gewünschte medizinisch-pflegerische Versorgung am Ende des Lebens beziehen; hier findet sich in der Literatur die gelungene Umschreibung des „gelassenen Gestaltens“ (Lob-Hüdepohl 2019). Eine bedeutende Aufgabe der Seelsorge ist darin zu sehen, in dieser memento mori-Struktur des Erlebens und Verhaltens eine Form von Transzendenz zu erkennen, diese anzusprechen und – sofern es die gegebene Situation erlaubt – Verbindung zu zentralen christlich-theologischen Glaubensaussagen herzustellen, die nicht im Sinne eines Oktrois, sondern vielmehr im Sinne eines Angebots verstanden werden müssen. Das in tiefem Respekt bzw. in Demut vor dem Umgreifenden, Göttlichen und Gott gemeinsam gesprochene Gebet sollte dabei als eine mögliche Verbindung zwischen persönlichen Transzendenzerfahrungen und christlich-theologischen Glaubensaussagen verstanden werden, und dies im Sinne des von Thomas von Aquin (1225–1274) verfassten Gebetes „Adoro Te“: „Ich bete an und beuge, Gottheit, mich vor Dir: Du, der Tiefgeheime, bist in Zeichen hier; all mein Wesen neigt sich, gibt sich ganz dahin, weil ich, Dich betrachtend, nichts als Armut bin“, wie auch im Sinne der von Karl Rahner vorgenommenen Deutung eines Gebetes: „Denn alle abstrakte Theologie liefe schließlich doch ins Leere, wenn sie sich nicht selber aufheben würde aus Worten über die Sache in ein Gebet hinein, in dem vielleicht doch geschehen könnte, worüber nur geredet wurde“ (Rahner 2009, S. 686). 5
Verantwortungsbezüge
Die zweite Deutung verdankt sich Martin Luthers (1483–1546) Schrift: Von der Freiheit eines Christenmenschen, in der zu lesen ist: „Zum ersten. Damit wir gründlich erkennen, was ein Christenmensch ist und wie es mit der Freiheit steht, die ihm Christus erworben und gegeben hat, wovon Paulus viel schreibt, will ich diese zwei Sätze aufstellen: Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“ (Luther 1520/2017). Hier wird die Verantwortung des Menschen zum Thema gemacht: die Verantwortung für bzw. vor sich selbst („Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemand untertan“) sowie die Verantwortung für andere bzw. vor anderen Menschen („Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller
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Dinge und jedermann untertan“). Das Alter aus der Perspektive von Verantwortungsbezügen (im Sinne einer coram-Struktur von Verantwortung) zu interpretieren (Kruse 2017), weist nicht nur eine große Nähe zum subjektiven Alterserleben, sondern auch zum Transzendenzerleben im Alter auf, das sich sowohl auf die Schöpfung, auf das Göttliche oder auf Gott als auch auf andere Menschen (vor allem der jungen Generation; hier erscheinen die Konstrukte der „Generativität“ und der „symbolischen Immortalität“ passend) bezieht (Tornstam 2005): Damit vereint die coram-Struktur neben der Selbstverantwortung die Mitverantwortung, die Gemeinwohlverantwortung und die Schöpfungsverantwortung. Ein empirisches Beispiel der drei letztgenannten Verantwortungsbezüge bildet eine Untersuchung zu den Spätfolgen des Holocaust, in denen die in verschiedenen Ländern der Welt interviewten ehemaligen Lagerhäftlinge und Emigrantinnen bzw. Emigranten nicht nur über die im hohen Alter deutlich an Intensität gewinnenden Erinnerungen an Lagerhaft und Emigration berichteten, sondern vielfach auch über ein stark ausgeprägtes Verantwortungsmotiv: Nämlich junge Menschen dafür zu sensibilisieren, sich für das „hohe Gut“ der Demokratie einzusetzen, Verantwortung für sich selbst, für andere Menschen und für das Gemeinwohl zu übernehmen (Kruse/Schmitt 2000). In diesem erlebten und gelebten Verantwortungsmotiv drückte sich für nicht wenige Überlebende des Holocaust ihr Transzendenzerleben aus; und sie wollten ausdrücklich in diesem Erleben wahrgenommen und angesprochen werden. In einem umfassenderen Sinne kann von der Sorge des Menschen für Andere und um Andere gesprochen werden (Kruse 2016), wobei sich hier enge Bezüge zu einer christlich-theologischen Sorgeethik (Lob-Hüdepohl 2014) und Gemeinwohlorientierung ergeben (Coenen-Marx 2021). Eine seelsorgerische Ansprache alter Menschen auf dem Wege der unterschiedlichen Verantwortungsbezüge darf in ihren Potenzialen für eine umfassende Deutung der menschlichen Existenz gerade in ihren transzendenten Bezügen nicht unterschätzt werden; sie wird von vielen Menschen ausdrücklich auch gesucht. Dabei ist aber immer das „Gebot“ des Respekts vor der hohen Individualität von Spiritualität und Religiosität zu beachten. 6
Heilung
Die Bedeutung des transzendentalen Selbstverständnisses für den Prozess der Gesundung nach Auftreten einer schweren Krankheit wird von Sulmasy (2002) in einem theoretisch-konzeptuellen Beitrag zum „Wesen der Krankheit“ thematisiert. Seinem Verständnis zufolge ist Krankheit nicht allein mit Schädigungen des Organismus und den daraus hervorgehenden Symptomen und Funktionseinschränkungen gleichzusetzen. Vielmehr ist Krankheit im Sinne von gestörten Beziehungen innerhalb und außerhalb der Person zu verstehen. Dabei differenziert Sulmasy zwischen vier verschiedenen Beziehungen – nämlich jenen zwischen: 1. verschiedenen Organsystemen, 2. Seele/Geist und Körper, 3. Individuum und Umwelt sowie 4. Individuum und Transzendenz. Vor dem Hintergrund dieser Differenzierung zwischen verschiedenen Beziehungsformen
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beschreibt der Prozess der „Heilung“ die Wiederherstellung von Beziehungen, wobei in Bezug auf die beiden letztgenannten Beziehungsformen nur dann von Wiederherstellung gesprochen werden kann, wenn der Patient diese als persönlich bedeutsam und sinnstiftend erfährt. Sulmasy hebt hervor, dass sich Heilung somit nicht allein auf die Aufhebung oder Linderung organischer Störungen beschränkt. Ein holistischer Heilungsansatz schließt auch die Konzentration auf mögliche Störungen zwischen Seele/Geist einerseits und dem Körper andererseits („Ich fühle mich in meinem Körper fremd“, „Ich fühle mich als Gefangener meines Körpers“), zwischen Individuum und Umwelt („Ich kann mich in der gegebenen räumlichen Umwelt nicht mehr selbstständig bewegen“, „Ich fühle mich meinen Familienangehörigen gegenüber unterlegen“) sowie zwischen Individuum und Transzendenz („Ich finde nichts mehr, was mein Leben trägt“, „Mein Glauben droht mir abhanden zu kommen“) ein. Literatur Bäcker, G./Heinze, R. (Hg.) (2013): Soziale Gerontologie in gesellschaftlicher Verantwortung. Wiesbaden. Brandtstädter, J. (2014): Lebenszeit, Weisheit und Selbsttranszendenz. Aufgang – Jahrbuch für Denken, Dichten, Musik, 11, 136–149. Butler, R. (1980): The life review: An unrecognized bonanza. International Journal of Aging and Human Development, 12, 35–38. Coenen-Marx, C. (2021): Die Neuentdeckung der Gemeinschaft. Chancen und Herausforderungen für Kirche, Quartier und Diakonie. Göttingen. Coors, M. (2020): Altern und Lebenszeit. Phänomenologische und theologische Studien zu Anthropologie und Ethik des Alterns. Tübingen. Erikson, E. H. (1998): The Life Cycle Completed. Extended Version with New Chapters on the Ninth Stage by Joan M. Erikson. New York. Eurich, J. (2020): Learning to care for the whole person. In: M. Welker/J. Witten/S. Pickard (Hg.): The Impact of Religion on Character Formation, Ethical Education, and the Communication of Values in Late Modern Pluralistic Societies (S. 237–244). Leipzig. Fuchs, T. (2019): Versöhnung mit dem Ungelebten – Zum Gelingen des Lebens im Sterben. In: O. Mitscherlich-Schönherr (Hg.): Gelingendes Sterben. Zeitgenössische Theorien im interdisziplinären Dialog (S. 85–100). Berlin. Jaspers, K. (1932/1973): Philosophie. Bd. I: Philosophische Weltorientierung. Bd. II: Existenzerhellung. Bd. III: Metaphysik. (4. Aufl.). Heidelberg/Berlin. Kruse, A. (2016): Benefactors or burden? The social role of the old. In: G. Scarre (Hg.): The Palgrave Handbook of Philosophy of Aging (S. 401– 424). London. Kruse, A. (2017): Lebensphase hohes Alter. Verletzlichkeit und Reife. Heidelberg.
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A. Kruse
Kruse, A. (2021): Vom Leben und Sterben im hohen Alter. Wie wir das Lebensende gestalten können. Stuttgart. Kruse, A./Schmitt, E. (2000): Wir haben uns als Deutsche gefühlt. Lebensrückblick und Lebenssituation jüdischer Emigranten und Lagerhäftlinge. Darmstadt. Kruse, A./Schmitt, E. (Hg.) (2021): „… der Augenblick ist mein und nehm ich den in Acht.“ Daseinsthemen und Lebenskontexte alter Menschen. Heidelberg. Labouvie-Vief, G./Grühn, D./Studer, J. (2010): Dynamic integration of emotion and cognition: Equilibrium regulation in development and aging. In: R. M. Lerner/M.E. Lamb/A.M. Freund (Hg.): The Handbook of Life-Span Development: Vol. 2. Social and Emotional Development (S. 79–115). Hoboken. Lob-Hüdepohl, A. (2014): Sorgeethik. Skizze zur Gegenstandskonstitution. Kriteriologie und Methode einer ‚inwendigen‘ Ethik Sozialer Arbeit. In: M. Zichy/J. Ostheimer/H. Grimm (Hg.): Was ist ein moralisches Problem? Zur Frage des Gegenstandes angewandter Ethik (2. Aufl., S. 383–411). Freiburg i.Br. Lob-Hüdepohl, A. (2019): Gelassen. Gestalten. Moraltheologische Erkundungen zum Advance Care Planning. In: W. Höfling/T. Otten/J. in der Schmitten (Hg.): Advance Care Planning / Behandlung im Voraus Planen: Konzept zur Förderung einer patientenzentrierten Gesundheitsversorgung (S. 109–129). Baden-Baden. Luther (1520/2017): 500 Jahre Reformation. Am Anfang war das Wort. Lutherschrift Von der Freiheit eines Christenmenschen. https://www.luther 2017.de/martin-luther/texte-quellen (Zugriff am 13.09.2021). Meister Eckhart (1988): Deutsche Werke, Band 2: Predigten. Herausgegeben von Josef Quint. Stuttgart. Naegele, G./Olbermann, E./Kuhlmann, A. (Hg.) (2016): Teilhabe im Alter gestalten. Wiesbaden. Peck, R. (1977): Psychologische Entwicklung in der zweiten Lebenshälfte. In: H. Thomae/U. Lehr (Hg.): Altern – Probleme und Tatsachen (S. 376–384). Wiesbaden. Pohlmann, S. (2011): Sozialgerontologie. München. Rahner, K. (2009): Beiträge zur Fundamentaltheologie und Dogmatik (Sämtliche Werke, Band 30: Anstöße systematischer Theologie). Freiburg i.Br. Ritschl, D./Jones, H.O. (1976): „Story“ als Rohmaterial der Theologie. München. Springhart, H. (2016): Der verwundbare Mensch. Tübingen. Sulmasy, D.P. (2002): A biopsychosocial-spiritual model for the care of patients at the end of life. The Gerontologist, 42, Special Issue III, 24–33. Tornstam, L. (2005): Gerotranscendence: A Developmental Theory of Positive Aging. New York.
41 Hilfen für arbeitslose Menschen Traugott Jähnichen
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Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit als fundamentale Krise moderner Gesellschaften
Die Zahl der offiziell registrierten Arbeitslosen in Deutschland ist in den 2010er Jahren deutlich gesunken: Waren es in den 1990er und frühen 2000er Jahren teilweise mehr als fünf Millionen und im Durchschnitt mehr als vier Millionen Menschen, wurden im Januar 2021 – trotz einer Zunahme von knapp 500.000 arbeitslos Gemeldeten im Vergleich zum Januar 2020, vorrangig durch den Wegfall geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse auf Grund der Corona-Pandemie – mit 2,9 Millionen (6,3 % Arbeitslosenquote) deutlich weniger Arbeitslose registriert. Allerdings sind die Zahlen immer noch hoch. Besonders problematisch ist die Verfestigung der Arbeitslosigkeit bei Langzeitarbeitslosen. Im Dezember 2018 waren rund eine Millionen Menschen weniger als ein Jahr, rund 2, 2 Millionen länger als ein Jahr arbeitslos gemeldet. Von der Gruppe der Letztgenannten bezogen ca. 41 % länger als vier Jahre Leistungen der Grundsicherung. Da eine gewisse Fluktuation am Arbeitsmarkt stets zu verzeichnen ist und man dementsprechend von einer sog. „natürlichen“ Arbeitslosenquote von 2–3 % spricht, bedeutet die sich zuspitzende Situation von Langzeitarbeitslosen eine der größten sozialpolitischen Herausforderungen. Die millionenfache Ausgrenzung von Menschen durch Arbeitslosigkeit führt zu einer vertieften sozialen Spaltung der Gesellschaft, indem sie die Arbeitslosen in vielfacher Hinsicht von einer Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausschließt. Zusätzlich zu den teilweise gravierenden Einkommensverlusten verweigert man ihnen Leistungsbeiträge zur Erwirtschaftung der gesellschaftlichen Wohlfahrt, oft mit dramatischen Identitätskrisen der Betroffenen (vgl. EKD/DBK 1997; EKD 2006). Arbeitslosigkeit bedeutet eine gravierende Krise der auf Erwerbsarbeit beruhenden modernen Gesellschaften (vgl. Arendt 1960), denn die Normalbiogra-
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phie einer überwiegenden Mehrheit der Menschen ist grundlegend von Erwerbsarbeit bestimmt: Das Bildungssystem und die grundlegenden sozialen Sicherungssysteme sind auf die Erwerbsarbeit bezogen, indem sie erstens für die Erwerbsarbeit qualifizieren, zweitens Friktionen im Arbeitsleben (Unfall, Krankheit und Arbeitslosigkeit) überbrücken helfen und drittens durch aus Erwerbsarbeit erworbene Anrechte auf Rentenzahlungen den Übergang in den Ruhestand regeln. Erwerbsarbeit ist somit die Grundlage des bürgerlichen Lebens, auf welcher der-soziale und demokratische Rechtsstaat gründet. Für den Einzelnen leiten sich aus dem Erwerbsarbeitsplatz nicht allein die Höhe des Einkommens ab, sondern wesentlich auch die Zeitstruktur des alltäglichen Lebens, Aufstiegschancen, grundlegende Partizipationsmöglichkeiten und damit Anerkennung und Stellung in der Gesellschaft (vgl. Meireis 2008). Arbeitslosigkeit, insbesondere Langzeitarbeitslosigkeit, ist verweigerte Teilhabe. Auch wenn die einseitige Würdigung der Erwerbsarbeit aus feministischer und zivilgesellschaftlicher Perspektive durch den Hinweis auf die hohe Bedeutung der zumeist von Frauen geleisteten Familien- und Erziehungsarbeit sowie die vielfältigen Formen des Ehrenamtes und der Eigenarbeit zu hinterfragen bleibt (vgl. Conradi/Plonz 2000), ist die Integration in die Erwerbsarbeit, wie es die regelmäßig durchgeführten Studien des Jugendwerks der Deutschen Shell AG belegen, die grundlegende Lebensperspektive nahezu aller jungen Frauen und Männer. Arbeitslosigkeit wird als das Fehlen von Erwerbsarbeitsplätzen für Beschäftigung suchende Erwerbspersonen bezeichnet. Neben den bei den Arbeitsämtern offiziell registrierten Arbeitslosen ist die geschätzte Zahl derjenigen hinzuzurechnen, die sich resigniert vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben, weil sie mit der Möglichkeit einer Arbeitsvermittlung nicht mehr rechnen und keinen Anspruch auf Lohnersatzleistungen haben, die sogenannte stille Reserve. Nach Schätzungen beträgt ihre Zahl mindestens 30 % der offiziell arbeitslos Gemeldeten. Formen der Massen- oder Langzeitarbeitslosigkeit, wie sie seit nunmehr vier Jahrzehnten für die Bundesrepublik kennzeichnend sind, verursachen eine tiefe Krise der auf der Erwerbsarbeit beruhenden Leistungsgesellschaft. Der wichtigste Grund für Arbeitslosigkeit ist – neben kurzfristigen saisonalen und konjunkturellen Auswirkungen – ein tiefgreifender ökonomischer Strukturwandel, wie er in Deutschland insbesondere in den neuen Bundesländern und in den ehemaligen Montanregionen zu verzeichnen ist. 2
Soziale Absicherungen für arbeitslose Menschen
Eine eigenständige allgemeine Arbeitslosenversicherung existiert in Deutschland seit dem Gesetz für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 1. Oktober 1927. Vorher waren Arbeitslose auf die Armenfürsorge der Gemeinden angewiesen. Seit 1927 wurde das Fürsorgeprinzip durch das Versicherungsprinzip abgelöst. Nach dem geltenden Recht sind grundsätzlich alle
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Personen beitragsberechtigt, die gegen Arbeitsentgelt oder zu ihrer Berufsausbildung beschäftigt sind. Die Beiträge werden zu gleichen Teilen von Arbeitgebenden und Arbeitnehmer:innen getragen. Die Beitragshöhe hat sich auf Grund der positiven Arbeitsmarktentwicklung seit 2005 mehr als halbiert und beläuft sich seit dem 1.1.2020 auf 2,4 % des Bruttoentgelts bis zu einer bestimmten, jährlich der Lohnentwicklung angepassten Bemessungsobergrenze. Für etwaige Defizite der Arbeitslosenversicherung haftet der Bund. Der Anspruch auf Arbeitslosengeld (ALG I, geregelt im SGB III) setzt voraus, dass der Antragsteller in den letzten 24 Monaten mindesten zwölf Monate sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, kein Beschäftigungsverhältnis ausübt, das 15 oder mehr Stunden pro Woche umfasst, arbeitsfähig ist, der Agentur für Arbeit für Arbeitsvermittlungen zur Verfügung steht, aktiv eine Beschäftigung sucht, sich arbeitslos gemeldet und Arbeitslosengeld beantragt hat. Die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld bei Erfüllung der Anwartschaftszeit beträgt in der Regel zwölf Monate. Das Arbeitslosengeld umfasst, je nach Familiensituation, 60 % bis 67 % des Bruttogehalts im letzten Beschäftigungsjahr, sofern diese Leistung das sozio-kulturelle Existenzminimum absichert. Andernfalls steht den Bezugsempfänger:innen eine entsprechende Aufstockung zu. Nach Ablauf eines Jahres in der Arbeitslosigkeit erhalten längerfristig Arbeitslose eine Grundsicherung: ALG II, so geregelt im SGB II seit den Arbeitsmarktreformen des Jahres 2003, in der Alltagssprache oft als „Hartz IV“ bezeichnet. Die Grundsicherung, die – anders als die vor 2003 gewährte Arbeitslosenhilfe – auf der Grundlage einer Bedarfsprüfung, bei der eigene Ersparnisse bzw. Vermögen oder auch die Einkünfte von Partner:innen berücksichtigt werden, gewährt wird, beträgt seit 2021 446 Euro für Alleinstehende und 401 Euro pro Person für in Partnerschaften Lebende. Hinzu kommen angemessene Kostenübernahmen für Miete, Heizung und Betriebskosten sowie gestaffelte Leistungen für Kinder. Die Regelbedarfsermittlungen beruhen auf der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS), wobei als Berechnungsgrundlage die Durchschnittswerte der 15 % Einpersonenhaushalte und 20 % Familienhaushalte der unteren Einkommensgruppe herangezogen wird. Dies führt, da es sich in dieser Stichprobe in höherem Maße um Rentner:innen handelt, zu gewissen Verzerrungen, weshalb die Regelbedarfsermittlung von Sozialverbänden, den Gewerkschaften und auch den Kirchen als problematisch kritisiert wird. In diesem Sinn hat auch das Bundesverfassungsgericht im Jahr 2010 die seinerzeitigen Leistungen als unzureichend bezeichnet. Eine weitere Verschlechterung der Rechtslage von Arbeitslosen, speziell von Langzeitarbeitslosen, die nunmehr von den sog. Jobcentern betreut werden, betrifft die im Zuge der „Hartz-Reformen“ verschärften Zumutbarkeitsbedingen für die Aufnahme von angebotenen Beschäftigungen. Sowohl reguläre Beschäftigungen wie auch Fördermaßnahmen sind ggf. deutlich unter dem Niveau der vorherigen Arbeitsverhältnisse, u. a. mit Blick auf Qualifikationsan-
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forderungen, Arbeitsbedingungen und vor allem Gehalt, aufzunehmen. Bei ALG II-Beziehenden gibt es diesbezüglich praktisch keine Einschränkungen. Die Ablehnung von angebotenen Beschäftigungen, die Verweigerung sowie der Abbruch von Eingliederungsmaßnahmen oder auch das mehrfache Versäumen von Beratungsterminen in den Jobcentern werden mit Leistungskürzungen sanktioniert. Die Bedingungen sowie die Richtlinien der Sanktionierungen sind im Lauf der letzten Jahre im Vergleich zur Gesetzgebung von 2003 verschiedentlich leicht gemildert worden; gegenwärtig schlägt das Bundesarbeitsministerium das gänzliche Aufheben von Sanktionen vor. Auf der anderen Seite werden Anreize für eine schnelle Wiedereingliederung in den Arbeitsmarkt gesetzt. Auch die Arbeit der Arbeitsagenturen sowie der Jobcenter wird vorrangig auf Grund möglichst schnell erfolgender Vermittlungen bewertet. Dies führt dazu, dass häufig in kurzfristige und weniger teure Maßnahmen, wie die Ein-Euro-Jobs, vermittelt wird, oft ohne dass sich daraus längerfristige Perspektiven oder Qualifikationschancen für die Betroffenen ergeben. Um diese Defizite zu beheben, ist zum 1.1.2019 das Teilhabechancengesetz in Kraft getreten, durch das zwei neue Förderungsmöglichkeiten im SGB II („Eingliederung von Langzeitarbeitslosen“ [§ 16e SGB II]) und „Teilhabe am Arbeitsmarkt“ [§ 16i SGB II]) zur Eröffnung von Arbeitsmöglichkeiten für Langzeitarbeitslose auf dem allgemeinen und dem sozialen Arbeitsmarkt durch Lohnkostenzuschüsse geschaffen worden sind. Eine Förderung ist für einen Zeitraum bis zu fünf Jahren möglich. Bei den Arbeitsmöglichkeiten entfällt das sonst für öffentliche Beschäftigungen geltende Kriterium der Zusätzlichkeit. Dadurch sollen Langzeitarbeitslose eine Perspektive auf dem Arbeitsmarkt erhalten, was z.B. durch eine intensive Betreuung, individuelle Beratung oder Weiterbildungsmöglichkeiten unterstützt wird. Ziel ist der Übergang in eine ungeförderte Beschäftigung. Zu diesem Zweck erhalten die Job-Center bis zum Jahr 2022 vier Milliarden Euro zusätzlich im Eingliederungstitel des SGB II. Bis Ende Dezember 2020 wurden etwas mehr als 56.000 Menschen durch diese beiden neuen Regelinstrumente gefördert, von denen mehr als 50 % über keine abgeschlossene Berufsausbildung verfügten. 3
Die ökonomische und psychosoziale Lebenslage von Arbeitslosen
Seit der klassischen soziographischen Studie über „Die Arbeitslosen von Marienthal“ (vgl. Jagoda/Lazarsfeld/Zeisel 1933/1978) ist bekannt, dass alle ökonomischen, sozialen und psychischen Dimensionen der Lebenslage durch Arbeitslosigkeit erheblich negativ beeinträchtigt werden. Insbesondere bei jungen Familien und bei Alleinerziehenden, deren finanzielle Situation durch den Aufbau des Familienhaushalts und durch Kinder zumeist ohnehin angespannt ist, können die Einkommenseinbußen durch Arbeitslosigkeit existenzbedrohend wirken. Trotz der skizzierten Sicherungssysteme zeigen die Nationalen
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Armuts- und Reichtumsberichte der Bundesregierung sowie die Armutsberichterstattung der Sozialverbände, dass Arbeitslosigkeit, speziell Langzeitarbeitslosigkeit, nach wie das größte Armutsrisiko in Deutschland ist. Darüber hinaus führt Arbeitslosigkeit zu starken psychischen Belastungen, häufig sogar zu psychosozialen Störungen. Erfahrungen beruflichen Abstiegs und sozialer Exklusion bewirken zumeist einen Verlust an Selbstvertrauen und Selbstachtung, woraus Formen der Apathie und der Verbitterung bis hin zu gravierenden Identitätsstörungen folgen können. Empirische Untersuchungen belegen, dass sich in nahezu allen Gesellschaften die Häufung von Alkoholismus, psychischen Erkrankungen, Kriminalität und Suiziden in einer signifikanten Parallelität zu einem Anstieg der Arbeitslosenquote entwickelt. In der Öffentlichkeit wird Arbeitslosigkeit häufig als individuelles Versagen bewertet und damit in falscher Weise individualisiert. Dies kann auch durch das sog. „Profiling“ der Jobcenter gestützt werden, das oft im Sinn einer defizitorientierten Prognose der Arbeitsfähigkeiten der Betroffenen angelegt ist. Eine solche Bewertung wird durch weitere problematische Verknüpfung von individuellen und gesellschaftlichen Faktoren scheinbar gestützt. Die mit den psychischen Belastungen von Arbeitslosen bis hin zu Formen der Depressivität teilweise einhergehende Passivität kann dazu führen, dass Arbeitslose als wenig leistungsmotiviert wahrgenommen werden, die nur schwer Arbeit finden und schließlich auch keine mehr suchen. Eine Negativspirale von Rückzugstendenzen, Ohnmachtserfahrungen und dem Verlust sozialer Bindungen lässt sich beobachten. Vor diesem Hintergrund ist auch zu erklären, dass es Arbeitslosen bisher nicht in nennenswerter Form gelungen ist, durch eine Organisation ihrer Interessen in der Öffentlichkeit als einflussreicher politischer Faktor wahrgenommen zu werden. Eher tendieren Arbeitslose zu einem individuellen Rückzug, teilweise auch zu irrationalen politischen Positionen. Arbeitslose und auch Menschen, die sich von Arbeitslosigkeit massiv bedroht fühlen, dienen als ein Reservoir für populistische, oft fremdenfeindliche politische Bewegungen, die den Betroffenen häufig Minderheiten oder Randgruppen als Sündenböcke für ihre desolate Lebenslage präsentieren. Neben diesen seit der Marienthal-Studie häufig bestätigten negativen Befunden ist aber auch erwiesen, dass zumindest eine beträchtliche Zahl von Arbeitslosen als „good copers“ ihrer Situation zu bezeichnen sind (vgl. bereits Fryer/Payne 1984). In der sozialpsychologischen Forschung wird davon ausgehend nach protektiven Faktoren gesucht, welche eine gute Bewältigung der Arbeitslosigkeit mit guten Chancen der Rückkehr in reguläre Beschäftigungsverhältnisse ermöglichen. Solche Faktoren – genannt werden Unterstützung durch ein intaktes soziales Umfeld, finanzielle Ressourcen, Selbstvertrauen und ein Arbeitsmarktoptimismus – können helfen, die in der empirischen Ge-
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samtbilanz überwiegenden negativen Veränderungen des Befindens durch Arbeitslosigkeit zu begrenzen. 4
Kirchliche Stellungnahmen
Die Kirchen haben sich seit der Mitte der 1970er Jahre kontinuierlich-mit der Herausforderung der Massenarbeitslosigkeit befasst und diese als grundlegende gesellschaftliche Krise problematisiert. In Anknüpfung an Traditionen der christlichen Arbeitsethik ist in verschiedenen Studien und Stellungnahmen die Bedeutung der Erwerbsarbeit für die Wahrung der Humanität und für die Integration in die Gesellschaft nachdrücklich aufgezeigt worden. Auch wenn Tendenzen der Übersteigerung von Arbeit in Industriegesellschaften mit der für die Neuzeit charakteristischen Annahme, der Mensch werde wesentlich durch seine Arbeit zum Menschen, entschieden zu widersprechen ist, vollzieht sich die Beauftragung des Menschen als Ebenbild Gottes zur Weltgestaltung unter den Bedingungen moderner Gesellschaften vorrangig im Rahmen der Erwerbsarbeit. Aus christlicher Sicht begründet die Gottebenbildlichkeit die unverlierbare Würde des Menschen, die vor aller eigenen Leistung gilt und den Menschen zugleich zur Weltgestaltung aufruft. Somit begründet die Arbeit nicht die Identität des Menschseins; sie ist allerdings ein Grundfaktum menschlicher Existenz und als solche fundamental für das Wohl des Menschen. Daher ist allen arbeitsfähigen Menschen in der Gesellschaft die Möglichkeit einzuräumen, die Mittel für eine selbstbestimmte Lebensführung durch Erwerbsarbeit zu sichern und sich an der Bereitstellung der Güter des gemeinsamen Lebens als mitverantwortliche Personen zu beteiligen. Es ist aus theologisch-ethischer Sicht nicht hinnehmbar, wenn eine hohe Zahl von Menschen langfristig aus dem Arbeitsprozess ausgeschlossen bleibt: „Gemeinsame Verantwortung heißt, eine breite Beteiligung an Erwerbsarbeit als wichtigen Ausdruck gesellschaftlicher Teilhabe ermöglichen“ (EKD/DBK 2014, These 8). Die in der Gottebenbildlichkeit des Menschen begründete Beauftragung zur Arbeit impliziert sozialethisch somit die Forderung nach entschiedener wirtschafts- und sozialpolitischer Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, wie es in verschiedenen Stellungnahmen – insbesondere in: „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“ (EKD/DBK 1997), „Das Soziale neu denken“ (DBK 2003), „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ (EKD/ DBK 2014) und zuletzt in: „Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt“ (EKD 2015) – nachdrücklich zum Ausdruck gebracht worden ist. Arbeitslosigkeit wird von den Kirchen als ernste Bedrohung der Humanität bezeichnet, wobei insbesondere Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit mit den durch sie ausgelösten materiellen und psychischen Verarmungsprozessen das Leitbild einer solidarischen und gerechten Gesellschaft in Frage stellen. Um
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das in ethischer Perspektive begründete Menschenrecht auf Arbeit pragmatisch umzusetzen, fordern beide große Kirchen ein Bündel unterschiedlicher arbeitsmarktpolitischer Maßnahmen, vor allem mehr „Ausbildungs- und Qualifizierungsangebote“ (DBK 2003, 12), eine Senkung der Lohnnebenkosten für Geringverdienende, die Förderung von Teilzeitarbeit oder die verlässliche Etablierung eines sog. „zweiten Arbeitsmarktes“ für Langzeitarbeitslose mit dem Ziel „einer nachhaltigen Arbeitsmarktintegration […] durch Qualifizierung und pädagogische Begleitung“ (EKD 2015, S. 117). Auf diese Weise werden die Sozialparteien und der Staat in die Pflicht und zur Kooperation aufgerufen. Generell wird in den kirchlichen Verlautbarungen ein hoher Beschäftigungsstand als öffentliches Gut bewertet, das in die Verantwortung der Gesellschaft gestellt ist. Als zusätzliches Problem der Arbeitsmarktentwicklung hat sich im letzten Jahrzehnt der „auf hohem Niveau verharrende Niedriglohnsektor“ erwiesen, der im Blick auf die Armutsbekämpfung „eine große politische Herausforderung“ (EKD 2015, S. 107) darstellt. Dadurch konnte offensichtlich die Arbeitslosigkeit vor allem bei gering Qualifizierten deutlich verringert werden, ohne dass jedoch das Armutsrisiko gesunken ist. Der seit 2015 eingeführte gesetzliche Mindestlohn hat diesbezüglich zu graduellen Verbesserungen geführt. 5
Diakonisches Handeln gegen Arbeitslosigkeit
Die Diakonie hat im Sinn einer unterstützenden Konkretisierung der kirchlichen Stellungnahmen das Motto „Arbeitslosen Hoffnung geben“ (EKD 1998, S. 21) geprägt, entsprechende Handlungsstrukturen aufgebaut und setzt sich anwaltschaftlich in der Öffentlichkeit für die Belange arbeitsloser Menschen ein. Seit dem Ende der 1970er Jahre ist ein weit verzweigtes Netz von diakonischen Handlungsfeldern entstanden, mit dem auf die Herausforderungen der Massen- und insbesondere der Langzeitarbeitslosigkeit reagiert wird. Ein wesentliches Ziel ist dabei die Aktivierung der Betroffenen (vgl. EKD/DBK 2014, These 8). Zugleich sehen sich Caritas und Diakonie als Dienstgeberinnen in einer „Verantwortung für die Beschäftigung“ und wollen „eigene Beiträge zu mehr Beschäftigung leisten und […] neue Beschäftigungsmodelle erproben“ (EKD 1998, S. 22). Auf der lokalen und regionalen Ebene sind im Rahmen unterschiedlicher Trägerschaften – häufig durch Caritas und Diakonie, vereinzelt auch durch Kirchengemeinden oder Dienststellen der kirchlichen Industrie- und Sozialarbeit – umfassende Beratungsangebote für Arbeitslose entwickelt worden. Neben einer Rechtsberatung liegt der Schwerpunkt dieses Arbeitszweiges darin, die proaktiven Faktoren für eine Bewältigung der Situation der Arbeitslosigkeit zu stärken (vgl. Tobler 2004). Darüber hinaus prägen individuell seelsorgliche, aber auch unmittelbar diakonische Hilfen für den Einzelnen diese Arbeit. Besondere Hilfen von Caritas und Diakonie sind auf die Situation von Langzeitarbeitslosen abgestimmt.
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Eine weitere Herausforderung stellt die Jugendarbeitslosigkeit dar, auf die insbesondere mit sozialpädagogischen Projekten zu reagieren versucht wird. Im Rahmen der beratenden wie auch der sozialpädagogischen Arbeit spielt ferner das Bemühen um die Bildung von Selbsthilfegruppen von Arbeitslosen eine zentrale Rolle, einerseits um einen Austausch mit anderen Betroffenen gegen die drohende Isolation zu organisieren und andererseits um Impulse für eine öffentlich wahrnehmbare Vertretung und Artikulation der Anliegen von Arbeitslosen zu schaffen. Das vermutlich wichtigste Handlungsfeld von Caritas und Diakonie – mancherorts auch der verfassten Kirchen – ist das vielfältige Engagement als Trägerinstitutionen im Bereich des öffentlich geförderten Arbeitsmarktes. Nachdem die „Innere Mission“ bereits im 19. Jahrhundert für besondere Problemgruppen sowie Caritas und IM zu Beginn der 1930er Jahre speziell für jugendliche Arbeitslose Beschäftigungsmöglichkeiten schufen, haben die kirchlichen Sozialverbände erneut seit dem Ende der 1970er Jahre eine Vielzahl von differenzierten Arbeitsangeboten für benachteiligte Menschen am Arbeitsmarkt entwickelt. Zu solchen Initiativen zählen vorrangig Arbeitslosenfirmen wie Werkstätten, Sanierungs-, Reparatur- und Recyclingprojekte. In diesen Einrichtungen von Caritas und Diakonie werden in der Regel Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen – nach Möglichkeit auch bei Ein-Euro-Jobs – verknüpft. Ergänzend zur Vermittlung fachlicher Qualifikationen wird auf die Einübung allgemeiner Schlüsselqualifikationen (Belastbarkeit, Zuverlässigkeit, Motivation u. a.) großen Wert gelegt. Durch besondere Trainingsprogramme, die vor allem für viele jugendliche Arbeitslose wichtig sind, erhalten die Betroffenen oft erstmals die Gelegenheit, positive Erfahrungen in einer geregelten Arbeits- und Lebensstruktur zu entwickeln. Neben diesen wichtigen, vorrangig sozialpädagogisch-begleitend ausgerichteten Beschäftigungs- und Qualifizierungsmaßnahmen sind die Angebote öffentlich geförderter Arbeit speziell für Langzeitarbeitslose, gering Qualifizierte, aber auch in strukturschwachen Regionen unerlässlich, da das sozialethisch begründete Menschenrecht auf Arbeit vielfach nur auf diese Weise gesichert werden kann. In diesem Sinn hat die Diakonie Deutschland in Verbindung mit dem Fachverband Arbeit und Soziale Integration zuletzt im April 2018 mit Bezug auf die Koalitionsvereinbarung der Bundesregierung eine nachhaltige Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit gefordert und Positionen vertreten, die in vielen Aspekten in das Teilhabechancengesetz eingegangen sind. Darüber hinaus sprach sich das Positionspapier für ein verbessertes „Coaching“ angesichts der individuellen Situation von Langzeitarbeitslosen, erhöhte Regelsätze und eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der Jobcenter aus. Diakonisch-caritative Hilfen für arbeitslose Menschen sind angesichts der Entwicklungen des Arbeitsmarktes, die gegenwärtig von einer quantitativen Entspannung und zugleich qualitativen Verschärfung im Blick auf Langzeitarbeitslose gekennzeichnet sind, nach wie vor ein zentraler Beitrag zur gesell-
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schaftlichen Integration und verbesserten Teilhabe. Angesichts der hohen sozialethischen Bedeutung der Erwerbsarbeit engagieren sich Kirchen und Caritas wie Diakonie in der Öffentlichkeit gegen das Hinnehmen von Massen- und Langzeitarbeitslosigkeit und treten anwaltschaftlich für die Rechte der Betroffenen ein. Literatur Arendt, H. (1960): Vita activa oder vom tätigen Leben. Stuttgart. Conradi, E./Plonz, S. (Hg.) (2000): Tätiges Leben. Pluralität und Arbeit im politischen Denken Hannah Arendts. Bochum. Deutsche Bischofskonferenz (DBK) (Hg.) (2003): Die deutschen Bischöfe. Kommission für gesellschaftliche und soziale Fragen. Das Soziale neu denken. Für eine langfristig angelegte Reformpolitik. Bonn. Fryer, David/Payne, R. (1984): Proactive behavior in unemployment: findings and implications. Leisure Studies, 3, 273–295. Jagoda, M./Lazarsfeld, P./Zeisel, H. (1978): Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch über die Wirkungen langanhaltender Arbeitslosigkeit (1933, 2. Aufl. 1978). Frankfurt a.M. Meireis, T. (2008): Tätigkeit und Erfüllung. Protestantische Ethik im Umbruch der Arbeitsgesellschaft. Tübingen. Rat der EKD (EKD) (Hg.) (1998): Herz und Mund und Tat und Leben. Grundlagen, Aufgaben und Zukunftsperspektiven der Diakonie. Gütersloh. Rat der EKD (Hg.) (2006): Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität. Eine Denkschrift des Rates der EKD zur Armut in Deutschland. Gütersloh. Rat der EKD (Hg.) (2015): Solidarität und Selbstbestimmung im Wandel der Arbeitswelt. Eine Denkschrift. Gütersloh. Rat der EKD/Deutsche Bischofskonferenz (Hg.) (1997): Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (Gemeinsame Texte 9). Hannover/Bonn. Rat der EKD/Deutsche Bischofskonferenz (Hg.) (2014): Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft. Initiative des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz für eine erneuerte Wirtschafts- und Sozialordnung (Gemeinsame Texte 22). Hannover/Bonn. Tobler, S. (2004): Arbeitslose beraten unter Perspektiven der Hoffnung. Lösungsorientierte Kurzberatung in beruflichen Übergangsprozessen (PTHe 67). Stuttgart.
42 Hospizbewegung und Palliativversorgung: Ansätze zur Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen und zur Trauerbegleitung Maria Wasner
Lange wurden die Themen Sterben und Tod im gesellschaftlichen Diskurs und auch in der Medizin weitgehend ausgeklammert. Sterben und Tod fanden seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend in stationären Einrichtungen wie Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen statt und kaum mehr im häuslichen Umfeld. Damit wurde Sterben „unsichtbar“, Sterbende und ihre Familien fühlten sich oft stigmatisiert und ausgegrenzt. Die moderne Hospizbewegung versucht dem entgegenzuwirken, sie entspricht damit ihrem Selbstverständnis, dass es bei der Begleitung des Sterbens nicht nur um eine praktizierte Idee und ein karitatives Engagement geht, sondern vor allem auch darum, das Sterben zu enttabuisieren und wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Aus der Hospizbewegung entwickelte sich auch das Konzept von Palliative Care. Im Folgenden wird die geschichtliche Entwicklung von Hospizbewegung und Palliativversorgung skizziert. Nach der Klärung der Begriffe werden kurz die wichtigsten Organisationsformen in Deutschland vorgestellt und danach aktuelle herausfordernde Entwicklungen angerissen. 1 1.1
Entwicklung von Hospizbewegung und Palliativversorgung Die Wurzeln
Schon im vierten und fünften Jahrhundert n. Chr. gab es in Europa Hospize oder sog. Xenodochien, die sich der Betreuung Kranker und Sterbender widmeten. Im elften Jahrhundert kam es im Rahmen der Kreuzzüge zur Gründung verschiedener christlicher Orden wie beispielsweise der Malteser- oder der Hospitaliterorden. Diese errichteten im Mittelalter zahlreiche Hospize und Hospitäler vor allem entlang der Pilgerrouten ins gelobte Land, und zwar nicht
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nur als Herberge für Pilgerreisende, sondern auch für die Pflege und Sterbebegleitung von schwerkranken Menschen. Erst nach und nach entstanden daraus Krankenanstalten, die die Versorgung von Kranken und Alten übernahmen. Ab dem 19. Jahrhundert wurde der Begriff des Hospizes nur noch für Einrichtungen zur Betreuung Sterbender verwendet, wobei diese hauptsächlich bedürftige und obdachlose Menschen aufnahmen, die sich eine ärztliche oder häusliche Betreuung nicht leisten konnten, so wie das 1879 von der Nonne Mary Aikenhead gegründete Our Lady’s Hospice in Dublin (Müller-Busch 2014). Auch der Begriff palliativ wurde bereits in der vormodernen Medizin (ca. 1500–1850) verwendet. Im Mittelalter gab es eine intensive Diskussion zur Cura palliativa, die als Alternative zu einer kurativen Behandlung angesehen wurde. Ebenso wurde es aber auch zur Bezeichnung einer Maßnahme benutzt, die die Unfähigkeit des Heilkundigen, wirksam zu behandeln, verbergen sollte (Stolberg 2007). 1.2 Entwicklung der modernen Hospizbewegung und Palliativversorgung Die Gründung des St. Christopher Hospice in London durch Cicely Saunders im Jahre 1967 gilt gemeinhin als der Beginn der modernen Hospizbewegung. Die Sozialarbeiterin, Pflegende und Ärztin Cicely Saunders griff den mittelalterlichen Hospizgedanken auf und entwickelte ihn weiter. In ihrem beruflichen Alltag erlebte sie das entfremdete Sterben in einem Krankenhaus mit Schmerzen, Ängsten und unerfüllten Bedürfnissen als große Herausforderung. Sie postulierte aufgrund ihrer Erfahrungen, dass es sich bei Schmerzen bzw. Leiden immer um ein multidimensionales Phänomen handele (körperliches, psychisches, soziales und spirituelles Leid; „total pain“-Konzept), das entsprechend behandelt werden müsse (Clark 1999). Vom St. Christopher Hospice aus verbreitete sich der Hospizgedanke nach und nach über ganz Europa. 1971 wurde im deutschen Fernsehen ein Dokumentarfilm über das St. Christopher Hospice gezeigt mit dem Titel „Noch 16 Tage … eine Sterbeklinik in London“. Der Film führte zu sehr unterschiedlichen Reaktionen und es entspannen sich heftige Kontroversen. Nachdem einige deutsche Ärzte das St. Christopher Hospice aufgesucht und dort den Hospizansatz kennen gelernt hatten, versuchten sie diesen auch in Deutschland zu realisieren. Leider lehnten vor allem die Kirchen die Errichtung spezieller Sterbeeinrichtungen in Deutschland anfangs rigoros ab. Noch 1978 hieß es von offiziell katholischer Seite auf eine Anfrage des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit: „Mit der Einlieferung in eine Sterbeklinik oder in ein Sterbeheim wird dem Schwerkranken jede Hoffnung abgesprochen und genommen. [...] In der öffentlichen Diskussion wird die Einrichtung von Sterbekliniken jetzt schon als ein Schritt hin zur Euthanasie gedeutet. [...] Zusammenfassend möchten wir die von Ihnen gestellte Frage dahin beantworten, dass wir die Einrichtung besonderer Sterbekliniken ablehnen, weil solche Einrichtungen aus vielerlei
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Gründen das Sterben nicht menschenwürdiger, sondern unmenschlich machen“ (zit. nach Godzik 1993). Aufgrund der vielen Widerstände verzögerte sich in Deutschland die Entwicklung der Hospizbewegung und Palliativversorgung im Vergleich zu anderen europäischen Ländern. Die Wiedereinführung des Begriffs „palliativ“ in die moderne Medizin ist auf den kanadischen Arzt Balfour Mount zurückzuführen. Er hatte das St. Christopher Hospice in London besucht und beschlossen, etwas Vergleichbares in seiner Heimat aufzubauen. So begründete er in Montreal (französischsprachiger Teil Kanadas) im Jahre 1973 die erste moderne Palliativstation, die sich speziell der Behandlung schwerstkranker und sterbender Menschen widmete. Da das Wort hospice im Französischen für Einrichtungen zur Pflege alter und sterbender Menschen negativ besetzt war, suchte Balfour Mount nach einem anderen Begriff und entschied sich für das damals in der Medizin nur selten gebrauchte und kaum bekannte Wort palliativ und nutzte die positive Konnotation des Wortes, um damit darauf hinzuweisen, dass es sich dabei um ein umfassendes Betreuungskonzept handelt. Inzwischen haben sich Hospizbewegung und Palliative Care weltweit etabliert. Die Ansätze wurden fortlaufend weiterentwickelt und ihre Konzepte immer weiter ausdifferenziert, und zwar im Hinblick auf Aufgaben, Strukturen, Zielgruppen und qualitative Merkmale. In Deutschland wurden 2007 Gesetzesregelungen zur spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) verabschiedet. Demnach haben Menschen mit einer nicht heilbaren, fortschreitenden und weit fortgeschrittenen Erkrankung bei einer zugleich begrenzten Lebenserwartung, die eine besonders aufwändige Versorgung benötigen, Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung. Seit 2009 ist an den Universitäten Palliativmedizin ein Pflicht-, Lehrund Prüfungsfach. 2010 wurde die „Charta zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland“ verabschiedet, deren Handlungsempfehlungen in eine nationale Strategie eingeflossen sind. 2015 wurde das Hospizund Palliativgesetz verabschiedet, durch das eine Verbesserung der Versorgung und Begleitung von schwerstkranken und sterbenden Menschen und ihrer Angehörigen erreicht werden soll. Als dies führte dazu, dass in den letzten Jahrzehnten in Deutschland immer mehr ambulante Hospizdienste, Tageshospize, stationäre Hospize und Palliativstationen entstanden – besonders auch durch die organisatorische und finanzielle Unterstützung der großen christlichen Kirchen. 2
Begriffsklärungen und Konzepte
Palliative Care und Hospizarbeit haben sich aus den gleichen Wurzeln entwickelt und sind wie zwei Seiten einer Medaille zu sehen, die sich gegenseitig ergänzen: Während Palliative Care eher die professionellen Aufgaben umfasst,
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kann die Hospizbewegung mehr als Idee und Engagement verstanden werden, das Sterben wieder in das gesellschaftliche Leben und Miteinander zu integrieren. 2.1
Hospizarbeit
Der Begriff Hospiz stammt vom lateinischen „hospitium“, Herberge. Die moderne Hospizbewegung ist eine Bürgerbewegung und basiert auf der gemeinsamen Arbeit geschulter ehrenamtlicher Kräfte mit Hauptamtlichen. Die Hospizarbeit verfolgt das Ziel, sterbenden Menschen ein würdiges und selbstbestimmtes Leben bis zum Ende zu ermöglichen und auf deren Wünsche und Bedürfnisse einzugehen. Der Schwerpunkt der Hospizarbeit liegt dabei in der psychosozialen wie spirituellen Begleitung der Betroffenen sowie ihrer Anund Zugehörigen. Sterben wird dabei als Teil des Lebens angesehen, das weder hinausgezögert noch beschleunigt werden sollte. Darüber hinaus wird auch Öffentlichkeitsarbeit geleistet, um die Thematik wieder in den gesellschaftlichen Diskurs einzuspeisen und zu enttabuisieren (vgl. dazu Deutscher Hospizund Palliativverband o.J.a). 2.2 Palliative Care Der Begriff palliativ wird auf das lateinische Wort „pallium“ (Mantel, Umhang) bzw. palliare (bedecken, tarnen, lindern) zurückgeführt. Nach der Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ist Palliative Care ein „Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und ihren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, welche mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen. Dies geschieht durch Vorbeugen und Lindern von Leiden durch frühzeitige Erkennung, sorgfältige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen Problemen körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art“ (World Health Organization 2002). Die Grundsätze von Palliative Care sind ganz ähnlich denen der Hospizbewegung: Es geht nicht um eine Lebensverlängerung um jeden Preis, sondern das Ziel ist eine Verbesserung der Lebensqualität in der verbleibenden Lebenszeit. Zum Selbstverständnis von Palliative Care gehört eine personale Herangehensweise, die den kranken Menschen mit seinen Besonderheiten und sozialen Bezügen in den Mittelpunkt stellt. Dieser Ansatz geht über das an der Wiederherstellung von Funktionen orientierte Heilungsverständnis der Medizin hinaus und kann entsprechend auch nur im Rahmen einer interprofessionellen Zusammenarbeit gelingen. Die verschiedenen Ebenen und Aspekte des englischen care, das im Deutschen sowohl Sorge, Kümmern, Fürsorge, Pflege wie auch Behandlung bedeutet, lassen sich nur teilweise ins Deutsche übertragen. Palliative Care kann vielleicht am besten mit palliativer Sorge oder Palliativversorgung übersetzt werden.
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Organisationsformen
In Deutschland haben sich in den letzten Jahrzehnten die Hospizbewegung und Palliativversorgung sehr dynamisch entwickelt und sind mittlerweile in Gesellschaft und Politik weithin anerkannt. Im Folgenden werden die häufigsten spezialisierten Hospiz- und Palliativangebote kurz vorgestellt. Die darin genannten Zahlen stammen alle von der Homepage des Deutschen Hospiz- und Palliativverbands (Deutscher Hospiz- und Palliativverband o.J.b). 3.1
Hospizliche Angebote
Zu den zentralen Einrichtungen, die von der Hospizbewegung initiiert wurden, zählen ambulante Hospizdienste und stationäre Hospize. Ambulante Hospizdienste Wesentliches Merkmal der ambulanten Hospizarbeit ist neben dem Einsatz von hauptamtlichen Kräften (häufig aus Pflege und Sozialer Arbeit) der Dienst ehrenamtlicher Mitarbeiter:innen. Sie besuchen die Schwerstkranken und Sterbenden Zuhause. Die hauptamtlichen Kräfte beraten die Betroffenen, aber auch die An- und Zugehörigen, behandelnde Ärzt:innen und andere involvierte Dienste wie beispielsweise Pflegedienste zu unterschiedlichen Fragestellungen (z.B. Hilfsmittel, sozialrechtliche Fragen). In der psychosozialen Begleitung übernehmen die Ehrenamtlichen vielfältige Aufgaben und leisten damit einen unverzichtbaren Beitrag in der Sterbebegleitung. Hospizdienste sind dabei als Ergänzung und nicht als Ersatz der bereits involvierten Dienste zu sehen. Die Begleitung endet nicht mit dem Tod, sondern es werden oft auch Trauerberatungen oder Trauergruppen durchgeführt. Zudem bieten Hospizdienste in der Regel auch Beratungen und Informationsveranstaltungen zu den Themen Sterben, Tod und Trauer an. Momentan gibt es ca. 1.500 ambulante Hospizdienste, einschließlich von ca. 150 Diensten für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Stationäre Hospize Erwachsene schwerstkranke Menschen, die nur noch begrenzte Zeit zu leben haben und eine Betreuung rund um die Uhr benötigen, die zu Hause oder im Heim nicht gewährleistet werden kann, können in ein stationäres Hospiz aufgenommen werden und werden bis zu ihrem Tod dort begleitet. Das betreuende Team besteht aus Pflegenden und Hauswirtschaftskräften, die ärztliche Versorgung übernehmen erfahrene Palliativmediziner:innen oder auch Hausärzt:innen. Das Team wird ergänzt durch Therapeut:innen, Sozialarbeiter:innen, Seelsorger:innen und ehrenamtliche Helfer:innen. In einem stationären Kinderhospiz kann die ganze Familie ab der Diagnosestellung einer lebensverkürzenden Erkrankung bei einem ihrer Kinder bis zu
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28 Tage pro Jahr verbringen, und nicht erst in der Sterbephase. Es ist eher selten, dass Kinder dort versterben. Die Pflege des erkrankten Kindes wird durch das Pflegepersonal übernommen, weitere Mitarbeiter:innen (aus Heilerziehungspflege, Pädagogik, Seelsorge, Sozialer Arbeit, Verwaltung, Hauswirtschaft, therapeutischen Professionen sowie ehrenamtliche Helfer:innen) ergänzen sie je nach Bedarf. Die erkrankten Kinder, Eltern und Geschwister haben zudem die Möglichkeit, sich mit anderen Familien in ähnlichen Situationen auszutauschen und gegenseitig zu unterstützen. Aktuell existieren 250 stationäre Hospize für Erwachsene sowie 18 stationäre Hospize für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. 3.2
Palliative Angebote
Spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) Durch die SAPV soll es Schwerstkranken und Sterbenden ermöglicht werden, bis zu ihrem Tod in ihrer gewohnten Umgebung zu verbleiben. Voraussetzung für dieses Angebot ist, dass die Intensität oder Komplexität der krankheitsbedingten Probleme den Einsatz eines spezialisierten Palliativteams notwendig machen. Diese Versorgung beinhaltet die spezialisierte palliativärztliche und palliativpflegerische Beratung und/oder (Teil-)Versorgung, einschließlich der Koordination von notwendigen Versorgungsleistungen bis hin zu einem umfassenden, individuellen Unterstützungsmanagement. Heute gibt es 361 Teams der Spezialisierten ambulanten Palliativversorgung, 34 davon für Kinder und Jugendliche. Palliativstationen Palliativstationen in Krankenhäusern sind eigenständige, in ein Krankenhaus integrierte spezialisierte Einrichtungen zur Versorgung schwerstkranker und sterbender Menschen, die einer Krankenhausbehandlung bedürfen. Ziele der Behandlung sind eine Verbesserung oder Stabilisierung der jeweiligen Krankheitssituation sowie die anschließende Entlassung nach Hause. Palliativstationen zeichnen sich durch einen ganzheitlichen, multiprofessionellen Betreuungsansatz aus: Neben ärztlicher und pflegerischer Betreuung erfolgt eine enge Zusammenarbeit mit anderen Berufsgruppen wie Seelsorger:innen, Sozialarbeiter:innen oder Psycholog:innen. Es existieren ca. 330 Palliativstationen, drei davon für Kinder- und Jugendliche.
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4 4.1
M. Wasner
Neue Herausforderungen Versorgung von hochbetagten, dementiell erkrankten Menschen
Eine besondere Bedeutung werden Hospizarbeit und Palliativversorgung in den nächsten Jahrzehnten aufgrund der demografischen Entwicklung bei der Begleitung hochbetagter und dementer Menschen haben. Die Altersstruktur verschiebt sich immer mehr zugunsten der älteren und hochbetagten Altersgruppen. Etwa 50 % der Menschen über 90 Jahre sind pflegebedürftig. 60 % der über 80-jährigen haben chronische Schmerzen, je 20 % haben eine Depression oder eine Demenz (Kuhlmey und Schaeffer 2008). Zudem verfügt gerade dieser Personenkreis häufig über wenig soziale Ressourcen (Familie, Freunde, ...). Ganz praktische Fragen zur Versorgung dieser Menschen, aber auch ethische Fragestellungen werden die Gesundheitsversorgung in den nächsten Jahren wesentlich bestimmen. Der ganzheitliche Ansatz von Hospizarbeit und Palliative Care kann dabei eine wichtige Ressource darstellen. Zudem übernehmen neben den An- und Zugehörigen und den Pflegenden die Seelsorger:innen, die in fast allen Einrichtungen der stationären Altenhilfe präsent sind, eine wichtige Rolle in der spirituellen und psychosozialen Begleitung der Bewohner:innen. 4.2
Sterbebegleitung in der Gesellschaft mit zunehmender (kultureller) Diversität
Unsere Gesellschaft wird aber nicht nur zunehmend älter, sondern auch diverser. Zuwander:innen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen leben und sterben in Deutschland – mit unterschiedlichen Sprachen, Religionen und Wertvorstellungen. Daneben existieren auch viele Subkulturen innerhalb unserer Gesellschaft. Man denke nur an Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten oder mit besonderen Bedürfnissen, wie beispielsweise wohnungslose Menschen. Bis dato sind all diese Gruppen unterrepräsentiert in der Hospiz- und Palliativversorgung. Ziel muss es daher zum einen sein, dass alle Menschen gleichermaßen Zugang zu Hospiz- und Palliativangeboten haben. Dazu müssen Informationen zu den Angeboten breiter gestreut werden (in verschiedenen Sprachen), Kontakt zu Multiplikatoren in den einzelnen Communities sollte aufgebaut und Barrieren, die den Zugang erschweren, sollten abgebaut werden. Zum anderen müssen die existierenden Angebote so modifiziert und weiterentwickelt werden, dass sie auch den jeweiligen Bedürfnissen entsprechen. 4.3
Aktueller Diskurs zum assistierten Suizid
Seit 2015 verbot ein Gesetz die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“. Dagegen haben Betroffene, Ärzte und Sterbehilfe-Vereine geklagt. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hat im Februar 2020 entschieden, dass das Verbot verfassungswidrig ist. Es gibt wie vor dem Verbot keinerlei gesetz-
Hospizbewegung und Palliativversorgung
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lichen Rahmen für die Suizidhilfe, an dem sich Angehörige von Sterbewilligen oder Ärzt:innen orientieren könnten. Dies löste in der Politik, innerhalb der Ärzt:innenschaft und auch in der Gesellschaft insgesamt einen intensiven Diskurs über eine neue gesetzliche Regelung des ärztlich assistierten Suizids aus. Die aktuelle Diskussion ist stark geprägt von den Begriffen der Selbstbestimmung und des selbstbestimmten Sterbens. Eine schwere Krankheitssituation, die in den Augen vieler häufig wenig mit Selbstbestimmung zu tun hat, dafür aber viel mit Kontrollverlust und Hilflosigkeit, ist für die Betroffenen oft schwer zu ertragen. In verschiedenen Forschungsarbeiten wurde gezeigt, dass der Todeswunsch bei Palliativpatient:innen eine Reaktion auf körperliches, psychisches, soziales und/oder existentielles Leiden ist, immer in Verbindung mit einem mangelndem Gefühl von Selbstwert, Würde und Sinn (Rodriguez et al. 2017). Aus diesem Grund ist es von zentraler Bedeutung, diese Menschen in ihrer Not nicht allein zu lassen, sondern sie zu begleiten. Auf dem 124. Ärztetag forderte die Bundesärztekammer daher den Gesetzgeber auf, die Suizidprävention in Deutschland in den Fokus zu nehmen und auszubauen. Zudem betonte sie ihre Haltung, dass die Hilfe zur Selbsttötung nicht als ärztliche Aufgabe angesehen wird (Bundesärztekammer 2021). Auch in der katholischen und der evangelischen Kirche wird intensiv über den ärztlich assistierten Suizid diskutiert und um eine einheitliche Position gerungen. Dabei sind gerade Seelsorger:innen geradezu prädestiniert, um mit ihren Kernkompetenzen in der Suizidprävention tätig zu werden; z.B. indem sie diese Menschen bei ihrer Sinnsuche unterstützen. Um allen Menschen gerecht zu werden, brauchen die Seelsorger:innen ein weites Verständnis von Spiritualität – so wie es die Arbeitsgruppe psychosoziale und spirituelle Versorgung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (o.J.) definiert: „Spiritualität ist bewusst oder nicht bewusst, auch unabhängig von (institutioneller) Religion oder Weltanschauung, eine Dimension des menschlichen Lebens. Sinnsuche, Sinn- und Transzendenzerfahrung manifestiert sich in Menschen in ihrer je eigenen Weise. Diese lebenslange Suche und Erfahrung ist immer wieder Veränderungen unterworfen. Spiritualität umfasst den Bereich der existentiellen Fragen, der persönlichen Wertvorstellungen und der spirituell/religiösen Vorstellungen und Praktiken.“
Es bleibt zu hoffen, dass – unabhängig davon, ob es eine neue gesetzliche Regelung geben und wie diese gegebenenfalls aussehen wird – die Vertreter:innen der Kirchen sich ihrer Verantwortung stellen und den Menschen weiter zur Seite stehen, und sie und ihre Familien in ihrer existentiellen Not zuverlässig und kompetent begleiten.
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5
M. Wasner
Fazit
Seit den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts haben sich die Hospizbewegung und die Palliativversorgung in Deutschland rasant ausgebreitet und weiterentwickelt, mittlerweile hat sich dieses Verständnis einer ganzheitlichen, würdevollen Sterbebegleitung in Gesellschaft und Politik weitgehend durchgesetzt. Auch wenn sich die Rahmenbedingungen für ein würdevolles Sterben deutlich verbessert haben und viele hilfreiche Strukturen geschaffen wurden, so müssen trotzdem alle, die in der Sterbebegleitung tätig sind, sich den neuen Herausforderungen stellen und bestehende Konzepte entsprechend modifizieren und weiterentwickeln. Gerade die christlichen Kirchen, die mit ihrer spirituellen Begleitung von Sterbenden und ihren Zugehörigen schon immer einen wichtigen Beitrag in der Sterbebegleitung geleistet haben, sind aufgefordert, noch aktiver in diesem Feld tätig zu werden. Literatur Arbeitsgruppe psychosoziale und spirituelle Versorgung der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (o.J.): Definition der Begriffe „Psychosozial“ und „Spiritualität“ im hospizlich-palliativen Kontext – Positionspapier. https://www.dgpalliativmedizin.de/images/Positionspapier_DGP_AG _Psychosoziale_Spirituelle_Begleitung.pdf (Zugriff am 22.07.2021). Bundesärztekammer (2021): Pressemitteilung „124. Deutscher Ärztetag. Striktes Verbot der Suizidhilfe aus (Muster-)Berufsordnung gestrichen. Ärzteparlament sieht Hilfe zur Selbsttötung weiterhin nicht als ärztliche Aufgabe“ vom 05.05.2021. https://www.presseportal.de/pm/9062/4907872 (Zugriff am 02.06.2021). Clark, D. (1999): Total pain. Disciplinary power and the body in the work of Cicely Saunders 1958–1967. Social Science & Medicine, 49, 727–736. Deutscher Hospiz- und Palliativverband (o.J.a): Die Hospizbewegung. https://www.dhpv.de/themen_hospizbewegung.html (Zugriff am 20.07.2021). Deutscher Hospiz- und Palliativverband (o.J.b): Service: Zahlen und Fakten. https://www.dhpv.de/service_zahlen-fakten.html (Zugriff am 20.07.2021). Godzik, P. (1993): Die Hospizbewegung in Deutschland – Stand und Perspektiven. In: Akademie Sankelmark (Hg.): Nordische Hospiztage. Internationale Fachtagung vom 1.–5. März 1993 (S. 27–36). Sankelmark. Kuhlmey A./Schaeffer D. (2008): Alter, Gesundheit und Krankheit – Handbuch Gesundheitswissenschaften. Bern. Müller-Busch, H. C. (2014): Kurze Geschichte der Palliativmedizin. In: M. W. Schnell/C. Schulz (Hg.): Basiswissen Palliativmedizin. (2. Aufl., S. 3–9). Berlin/Heidelberg. Rodríguez-Prat, A./Balaguer, A./Booth, A./Monforte-Royo, C. (2017): Understanding patients’ experiences of the wish to hasten death: an updated and
Hospizbewegung und Palliativversorgung
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expanded systematic review and meta-ethnography. BMJ Open 7:e016659. doi:10.1136/bmjopen-2017-016659. Stolberg, M. (2007): „Cura palliativa“. Begriff und Diskussion der palliativen Krankheitsbehandlung in der vormodernen Medizin (ca. 1500–1850). Medizinhistorisches Journal, 42, 7–29. Wasner, M./Pankofer, S. (Hg.) (2021): Soziale Arbeit in Palliative Care. Ein Handbuch für Studium und Praxis. (2. aktualisierte und erweiterte Aufl.). Stuttgart. World Health Organization (WHO) (Hg.) (2002d): WHO Definition of Palliative Care 2002. https://www.dgpalliativmedizin.de/images/stories/WHO_ Definition_2002_Palliative_Care_englisch-deutsch.pdf (Zugriff am 20.07.2021).
43 Armutsbedrohte und Verarmte Jan Bertram und Ernst-Ulrich Huster
1
Armut als Herausforderung christlichen Glaubens und Handelns
Die Fürsorge für Arme durchzieht die Geschichte des Orients, sie ist also ein Erbe, das auch in die jüdische bzw. später christliche Ethik eingegangen ist. Hierbei geht es zum einen um die Wahrung der aus der Ebenbildlichkeit des Menschen abgeleiteten Würde jedes Einzelnen (Gen 1,27) und zum anderen um Fragen der gerechten Ausgestaltung der Gemeinschaft. Die Geschichte jüdischen wie die Anfänge christlichen Lebens verweisen auf zahlreiche konkrete Hilfestellungen für Verarmte und von Armut Bedrohte, zugleich aber auch darauf, dass eben dieser ethischen Zielsetzung – sowohl bezogen auf Einzelpersonen als auch bezogen auf die Gemeinschaft – nicht entsprochen wurde. Diese Spannweite zwischen Gebot und widersprüchlicher Wirklichkeit durchzieht auch das spätere christliche Schrifttum bis in die Gegenwart (Schäfer 2018). Die Hilfe für Arme bestand in den jeweiligen Umbruchzeiten zunächst in der Sicherung des Überlebens. Aber darüber hinaus hat die christliche Armenfürsorge auch das Ziel verfolgt, Hilfe zur Selbsthilfe zu leisten. Es geht um Hilfestellungen, die Elemente von Sozialisation und von Persönlichkeitsbildung ebenso umfassen wie Schritte hin zur sozialen Integration. Daneben werden stationäre Hilfen angeboten. Es sind große christliche Einrichtungen und Verbände entstanden. Es besteht ein Spannungsfeld zwischen personenbezogener Hilfestellung und der Forderung nach sozial gerechteren Strukturen in der Gesellschaft. Es geht um auf den Einzelnen bezogene Diakonie bzw. Caritas und um soziale Diakonie bzw. Caritas (Huster 2018). 2
Armutsdefinitionen und empirischer Umfang
Die Aufforderung des Psalmisten „schaffet Recht dem Armen“ (Ps 82,3) legt nicht fest, wer denn als arm zu bezeichnen ist. Der biblische Umgang mit Armut bezieht sich weitgehend auf diejenigen, die an der Grenze der menschli-
Armutsbedrohte und Verarmte
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chen Existenz leben. Dieser Zustand wird in der Armutsforschung als absolute Armut bezeichnet und ist heute vor allem noch in weiten Teilen des Globalen Südens anzutreffen. Als Grenzwert hat die Weltbank das Unterschreiten des materiellen Spielraums von 1,90 Dollar pro Tag festgelegt. Dieser Schwellenwert reicht allerdings in den größeren Wirtschaftsnationen nicht zum Überleben. In Grenzfällen gibt es auch hier noch absolute Armut, doch spricht man eher von strenger Armut, also einem Leben an oder knapp über dieser Grenze existenzminimaler Versorgung. Sozialstaatliche Strukturen und sozialarbeiterische Interventionen auch von Diakonie und Caritas versuchen, diesen Personenkreis zu erreichen, allerdings nicht immer mit Erfolg. In der aktuellen Armutsdiskussion in den wirtschaftlich prosperierenden Ländern hat sich die Vorstellung von relativer Armut etabliert. Dieses Verständnis von Armut unterstellt, dass beim Unterschreiten einer Mindesthöhe an Einkommen in Relation zum Durchschnitt der Bevölkerung die Lebensbedingungen materiell, aber auch immateriell so stark beeinträchtigt werden, dass die soziale Teilhabe erheblich eingeschränkt ist. In der Europäischen Union und auch in der deutschen Armutsdiskussion gilt als relative Armutsrisikoschwelle ein Wert, der nach Haushaltsgröße gewichtet unterhalb von 60 Prozent des jeweiligen nationalen Median-Einkommens liegt (Hauser 2018). Diese quantitativen Risikoschwellen für Armut bzw. von Armut Bedrohte können durch qualitative Kriterien ergänzt werden. Empirische Studien belegen, dass die Spielräume bei der Lebensführung mit sinkenden Haushaltseinkommen immer weiter eingeschränkt werden. Dieses hat Auswirkungen auf andere, auch immaterielle Lebensbereiche. Vor allem der Lebenslageansatz hat die Handlungsspielräume in den unterschiedlichen sozialen Abstufungen zum Gegenstand (Hübinger und Glatzer 1990). Die Europäische Union hat diesen sehr komplexen Ansatz auf einen mehrdimensionalen Armutsansatz mit den Bereichen Einkommen, Arbeit, Bildung, Gesundheit und Wohnen reduziert, der zudem für eine Armutsbekämpfung eher operationalisierbar ist. Während diese eher auf soziale Umverteilung ausgerichteten Ansätze die Vorstellungen von Gerechtigkeit über eine höhere materielle und soziale Teilhabe umzusetzen suchen, greifen neuere Ansätze auf den liberalen Grundsatz von Chancengleichheit zurück: Aufgabe der Politik sei es, Chancengleichheit herzustellen, indem etwa Blockaden überwunden und Entwicklungsmöglichkeiten eröffnet würden (Sen 2005). Die einzelnen Konzepte unterscheiden sich allerdings darin, ob nicht und inwieweit das Gemeinwesen Vorleistungen erbringen muss, so dass der bzw. die Einzelne überhaupt in die Lage versetzt wird, seine bzw. ihre Misere zu überwinden (etwa Nussbaum 1999). Diese Sichtweise schließt an das eher weitgefasste Konzept von Subsidiarität eines Oswald von Nell-Breuning (1990) an. Ein christliches Armutsverständnis zielt auf die gesamte Lebenslage und alle damit verbundenen Beschränkungen des Menschen. Dass der Mensch auch im
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J. Bertram und E.-U. Huster
Zustand der Hilflosigkeit letztlich Träger einer ihm von Gott verliehenen Würde ist, erfordert Beachtung auch im Hilfeprozess selbst. Dieser Grundgedanke aus dem thomistischen Naturrecht findet sein Pendant in dem evangelischen, von der Rechtfertigungslehre geprägten Menschenbild: Die Rechtfertigung allein aus Gnade verbietet es, diesen so erwählten Menschen in Abhängigkeit und Fremdbestimmung zu belassen. Der Umfang – relativer – Armut und dessen Entwicklung lassen sich sozialstatistisch erfassen, wenngleich die verwendeten Systeme aufgrund von Fallzahlen und Erfassungsmethoden leicht voneinander abweichen. In Deutschland waren im Jahr 2019 laut Mikrozensus 15,9 % der Bevölkerung von Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht. Dabei sind einzelne soziale Gruppen besonders betroffen, am stärksten die Gruppe der Alleinerziehenden (42,7 %), Menschen mit Migrationshintergrund (27,8 %), junge Erwachsene zwischen 18 und 25 Jahren (25,8 %) sowie Kinder- und Jugendliche unter 18 Jahren (20,5 %). Altersarmut war lange Zeit deutlich geringer ausgeprägt als die durchschnittliche Armut, doch hat sich dieser Wert inzwischen stark dem Durchschnitt der Gesamtbevölkerung angenähert. Bei Personen im Alter von 65 Jahren und darüber hinaus beträgt die Quote 15,7 % (Mikrozensus 2020). Daneben gibt es sozialstatistische Belege, dass materielle Armut gerade bei Kindern und Jugendlichen Auswirkungen auf deren Gesamtentwicklung, insbesondere auf den Gebieten Gesundheit, Bildung, soziale Einbindung und die kulturelle Entwicklung hat. Dieses wird etwa von der Gesundheitsberichterstattung des Bundes sowie von international vergleichenden Bildungsstudien belegt (Haverkamp 2018; Kuhlmann 2018; Groh-Samberg 2018). 3
„Arme habt ihr allezeit bei euch“ (Mt 26,11)
Diese Aussage Jesu hat sich in der Geschichte bestätigt. Ebenso richtig aber ist, dass die Hinweise aus dem „Weltgericht“ (Mt 25,31 ff.) Christinnen und Christen immer wieder bewogen haben, eben dieser Armut entgegenzutreten. Waren dies im Urchristentum und nachfolgend im Mittelalter eher spontane Hilfeleistungen bzw. Aufgabe besonderer kirchlicher Einrichtungen (Diakone, Klöster etc.), wird diese Hilfestellung mit dem Beginn der Neuzeit systematisiert. Dabei geht es immer auch darum zu bestimmen, wer arm und hilfebedürftig ist und wer nicht. Diese Unterscheidung ist zwar so alt wie die Sorge um Arme, aber sie erfährt mit Beginn der Neuzeit sowohl im evangelischen als auch im katholischen Denken eine neue Akzentuierung. Die Verstädterung und der Übergang zu neuen Wirtschaftsformen bindet die sich entfaltende Armenfürsorge an die Überprüfung der Arbeitsbereitschaft. Unterstützungsberechtigt sind nur die „rechten“ Armen, d.h. diejenigen Einheimischen, die nicht in der Lage sind zu arbeiten. Diesen wird systematisch geholfen. So beteiligt sich auf evangelischer Seite Martin Luther an der Formulierung von Ordnungen der of-
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fenen Armenfürsorge und richtet den sog. Gemeinen Kasten ein, einen Fonds zur Unterstützung Bedürftiger. In Genf hat Johannes Calvin versucht, Diakonie als Zuwendung zu den Armen verbindlich in den Strukturen der Kirche zu verankern und zugleich ein Zusammenwirken mit der kommunalen Armenfürsorge („Hôpital général“) zu gewährleisten. Denjenigen, die trotz ihrer Arbeitsfähigkeit nicht am Erwerb ihres Einkommens mitwirken, wird dagegen vorgeworfen, sich ihrer Verpflichtung als Mit-Schöpfer zu entziehen. Beide Reformatoren binden eine Hilfestellung für Verarmte bzw. von Armut Bedrohte an eine Bedürftigkeitsprüfung. Auch auf katholischer Seite entstehen außerhalb der Klöster neue Hilfsangebote, die ebenfalls einen engen Bezug zur Erwerbstätigkeit aufweisen (Boeckh et al. 2022). Mit Luther teilt der katholische Humanist Juan Luis Vives die Auffassung, es sei eine Schande für die Christenheit, dass Menschen betteln müssen. Wie die Reformatoren verbindet er das Recht auf Hilfe mit der Pflicht zur Arbeit. Industrialisierung, die massive Land-Stadt-Flucht, die große Wohnungsnot und schließlich die Rechtlosigkeit der Industriearbeiter und –arbeiterinnen führen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer breiten Verarmung. Hier setzen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts sowohl in katholischen als auch in evangelischen Kreisen Persönlichkeiten und dann bald neue Organisationsformen der „institutionalisierten Nächstenliebe“ an, theologisch begründet und gebunden an erste Formen professioneller Sozialer Arbeit. Mit der Enzyklika „Rerum novarum“ von 1891 wird der Fürsorgegedanken des thomistischen Naturrechts auf die industrielle Gesellschaft übertragen. Parallel haben sich evangelische Kreise u. a. im Evangelisch-sozialen Kongress von 1890 theologisch auf die neuen Herausforderungen der Industriegesellschaft ausgerichtet. Mit Namen wie Johann Hinrich Wichern, Theodor Fliedner, Bischof Wilhelm Emmanuel von Ketteler und Adolf Kolping verbinden sich neue systematische christliche Hilfeangebote, teils stationär, teils ambulant, die durchgängig – in moderner Sprache – Krisenintervention mit strukturell angelegten Hilfeangeboten zu verbinden suchen. Wichern beispielsweise bietet im Rauhen Haus in Hamburg nicht nur Beköstigung und Wohnen für die dort untergebrachten (Sozial-)Waisen, sondern auch Bildung und Berufsausbildung. Kolping gründet Heimstätten für wandernde Jugendliche, damit eine örtliche Unterkunft als Voraussetzung für das Erreichen eines Berufsabschlusses. Arbeiterpriester etwa im Ruhrgebiet leisten neben geistlicher Begleitung konkrete Hilfestellungen für in Not geratene Familien. Zugleich haben diese Gründer neuer diakonischer bzw. caritativer Ansätze und Einrichtungen erfolgreich für eine Institutionalisierung der christlichen Armenfürsorge gekämpft. Parallel dazu kann die christliche Armenfürsorge auch als Schrittmacher erstens der Spezialisierung und zweitens der Professionalisierung im Umgang mit Armut bezeichnet werden. Dass etwa die Jugendfürsorge aus der allgemeinen Armenfürsorge herausgenommen und sozialpädagogisch ausgestaltet wurde, hat seine Vorläufer in der christlichen Armenfürsorge schon
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J. Bertram und E.-U. Huster
bei Wichern. Und ebenfalls Wichern wie auch Fliedner stehen für eine Qualifizierung des Personals, sei es in den stationären, sei es in den ambulanten Diensten. Das bei Wichern wiederbelebte männliche und von Fliedner erneut ins Leben gerufene weibliche Diakonat war an diese Qualifizierung ebenso gebunden wie die Ausbildung in Ordensgemeinschaften der katholischen Kirche. Der Staat bestätigt die entwickelten Parallelstrukturen zwischen öffentlich-rechtlichen und Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege im Jugendwohlfahrtsgesetz von 1922/24. Dieses Nebeneinander wird in einem – auf institutionelle Fragen verkürzten – Verständnis des Subsidiaritätsbegriffes gefasst, zugleich eine Refinanzierung freier Träger durch die öffentlichen Hände ermöglicht. 4
Neue Herausforderungen
Auch wenn Armut eine Begleiterscheinung durch weite Phasen der Menschheitsgeschichte ist, unterscheiden sich gleichwohl Formen und Intensität erheblich. Es bedarf stets von Neuem eines Blicks auf das, was Armut konkret bedeutet und welche Anforderungen sich gerade stellen. Für Deutschland und weite Teile Europas zeichnen sind folgende neue Herausforderungen ab: 4.1 Zunehmende soziale Spaltung und neue Formen von Armut Der Prozess sozialer Ausgrenzung ist keineswegs neu; doch entwickeln sich die Einkommenssegmente in den letzten Jahrzehnten in Deutschland immer stärker auseinander. Einen stetigen Zuwachs hat das oberste Zehntel in der Einkommensschichtung, ihr Anteil am Gesamteinkommen ist zwischen 1991 und 2016 von 20,5 % auf 23,3 % gestiegen. Die drei darunter liegenden Zehntel weisen nur eine geringfügig positive Entwicklung von 14,3 % auf 15,5 % auf. Der Anteil, den das unterste Zehntel am Einkommenskuchen beanspruchen konnte, ist hingegen in diesem Zeitraum von 4,2 % auf 3,2 % gesunken. Auch die darüber liegenden Zehntel weisen ein Minus auf (Grabka/Goebel/Liebig 2019). Stärker noch als bei den Einkommen spitzt sich die Verteilungsschieflage bei den Vermögen weiter zu: Das oberste Zehntel der Einkommensbezieherinnen und -bezieher verfügt über mehr als die Hälfte der gesamten Vermögen. Je nach Berechnungsmodell schwankt ihr Anteil am Nettogesamtvermögen zwischen 57 % und 69 % (Schröder/Bartels/Göbler/Grabka/König 2020). Diese Entwicklung setzt sich aktuell fort (Grabka 2021). Die Teilhabe am ökonomischen, sozialen und kulturellen Kapital spiegelt Erfolg bzw. Misserfolg in einer vom Leistungsprinzip bestimmten Gesellschaft wider. Dieses hat keineswegs bloß Auswirkungen auf die finanzielle Einkommensseite, sondern setzt sich fort in anderen Lebensbereichen: so vor allem bei Bildung/Ausbildung, im Bereich Gesundheit, Wohnen, Freizeit u. a. m. Auf allen Gebieten kann man von einer sozialen Spaltung sprechen, weil es immer schwieriger für die unteren sozialen Schichten wird, ihre jeweilige soziale Stellung zu verbessern. Armutslagen haben sich inzwischen in weiten Teilen
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Europas und darüber hinaus verfestigt, sie werden – mit Pierre Bourdieu – „sozial vererbt“, also intergenerativ weitergegeben (Bourdieu 1993; Schütte 2013, S. 40 ff.): Und die Kinder merken dieses und stellen sich darauf ein, wie die AWO-ISS-Kinderarmutsstudie gezeigt hat (Holz/Puhlmann 2005, S. 74 ff.). Armut verfestigt sich. Das Programm der Europäischen Union, sog. NEETs zu fördern, also Jugendliche und junge Erwachsene, die sich Not in Education, Training or Employment befinden, zeigt, dass sich der Anteil sozial ausgegrenzter Jugendlicher und junger Erwachsener in Europa im Durchschnitt bei über 10 % der Alterskohorte beläuft, dabei allerdings zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten differierend (Bertram 2021). Und schließlich nimmt die sogenannte Armutsökonomie zu: Menschen versuchen, sich durch Einsammeln von Flaschen, Aussortieren von recycelbaren Rohstoffen, Gelegenheitsarbeiten „über Wasser“ zu halten. Viele sind auf Hilfen in sogenannten „Tafeln“ angewiesen. Teile von ihnen werden von den sozialen Diensten gar nicht mehr erreicht und rutschen in die absolute Armut (vgl. Benz 2018). 4.2
Migration
Der in den 1970er Jahren verstärkt in den Blick geratene Nord-Süd-Konflikt hat mit der Auflösung der Ost-West-Konfrontation eine neue Brisanz bekommen. Dieses schlägt sich u. a. in weltweiten Migrationsbewegungen nieder. Die schlechten Lebensbedingungen und Konfliktlagen in den Herkunftsländern führen dazu, die mitunter lebensgefährliche Flucht aus der absoluten in die relative Armut anzutreten. Dagegen sucht sich u. a. die Wohlstandsfestung Europa zu „schützen“. Trotzdem gelangen immer wieder Flüchtlinge nach Europa. Doch die mangelnde Bereitschaft in einzelnen Mitgliedstaaten der EU, diese Flüchtlinge aufzunehmen, behindern notwendige Solidarstrukturen innerhalb der Union und damit einen Integrationsprozess. Diejenigen Geflüchteten, die es in die EU schaffen, benötigen Hilfe von einer Erstversorgung über Beratung zur Klärung des Rechtsstatus bis hin zur Integration in das Alltagsleben, ggf. auch bis zur Zusammenführung getrennter Familien. Zugleich gilt es, auch in der Aufnahmegesellschaft multiethnisch und interreligiös Integrationsarbeit zu leisten. Gerade christliche Institutionen sind gefordert, dem Flüchtling beizustehen: „denn ihr seid auch Flüchtlinge gewesen in Ägyptenland“ (Lev 19,34). 5
Herausforderungen und Antworten von DW und Caritas
Dieser Prozess wird immer durch eine Aktualisierung theologischer Aussagen begleitet, die in unterschiedlicher Weise das Armutsspektrum zu umfassen suchen. Beide Einrichtungen sind Teil der jeweiligen verfassten Kirche, zugleich haben sie eine spezielle Ausrichtung, die den helfenden Charakter in den Vordergrund stellt. Dabei geht es um die Durchsetzung eines Gerechtigkeitsbe-
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J. Bertram und E.-U. Huster
griffs, der Differenzierung zulässt, aber soziale Teilhabe gleichwohl aller aus ihrem jeweiligen Menschenverständnis heraus einfordert (Schäfer 2011). In diesem Sinne formuliert das Diakonische Werk der EKD als Zielvorstellung: „Wir verstehen unseren Auftrag als gelebte Nächstenliebe und setzen uns für Menschen ein, die am Rande der Gesellschaft stehen, die auf Hilfe angewiesen oder benachteiligt sind. Neben dieser Hilfe verstehen wir uns als Anwältin der Schwachen und benennen öffentlich die Ursachen von sozialer Not gegenüber Politik und Gesellschaft“ (Diakonie Deutschland o.J.).
In ähnlicher Weise formuliert der Deutsche Caritasverband: „Die Caritas versteht sich als Anwältin und Partnerin für Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens sind: Sie verschafft ihren Anliegen und Nöten Gehör und unterstützt sie bei der Wahrnehmung ihrer Rechte. Zugleich tritt sie gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen entgegen, die zu Benachteiligung oder Ausgrenzung führen. Angesichts populistischer Strömungen und Egoismen hat diese anwaltschaftliche Funktion gerade heute großes Gewicht. Die Caritas setzt sich öffentlich für eine solidarische Welt ein, in der die Würde jedes und jeder Einzelnen geachtet wird. Sie erarbeitet Modelle für eine gerechte Sozialpolitik und bringt diese in die politische Diskussion ein“ (DCV 2020).
Mit ihrem Anspruch, sowohl Institution als auch Vertreterin einer Lebenshaltung zu sein, bieten beide Organisationen ein Doppeltes an: Auf der einen Seite halten sie ein professionalisiertes Hilfesystem für Armutsbedrohte und Ausgegrenzte vor, das sich über die konkrete Hilfestellung in Notfällen hinaus auch um den Ausbau von Projekten bemüht, die eine Rück- bzw. Hinführung in das allgemeine soziale Leben ermöglichen sollen. Dabei sind sie auch auf eine Refinanzierung durch öffentlich-rechtliche Stellen angewiesen, da sie Aufgaben übernehmen, die ansonsten dem politischen Gemeinwesen zufallen würden. Auf der anderen Seite setzen sie kirchliche Mittel ‒ auch Spendengelder ‒ ein, um Spielraum für ihr am christlichen Menschenbild orientierten Hilfeansatz durch zusätzliche personelle und sächliche Zuwendungen zu unterstreichen. Dieses betrifft u. a. kirchliche bzw. von Diakonie oder Caritas getragene Einrichtungen der Erstausbildung und Weiterbildung von Fachkräften (z.B. Hochschulen, Erzieherinnen- und Pflegeausbildung). Auch im konkreten Hilfeprozess findet diese christliche Ausrichtung ihren Niederschlag, etwa bei einer allgemeinen Lebensberatung und dem längerfristigen Aufbau von Bindungen. Doch weil sowohl die materielle Lage als auch die gesamten Lebensumstände gesellschaftlich und politisch mitbestimmt werden, verstehen sich beide Organisationen auch als anwaltliche Vertretung gegenüber staatlichen Stellen. Letzterem dienen öffentliche Stellungnahmen, Beteiligung an Gesetzgebungswerken, die regelmäßige Mitarbeit in öffentlich-rechtlichen Gremien. Grundsatzpositionen werden in ausführlichen Denkschriften an die Kirchen und die kirchlichen Hilfsorganisationen gerichtet, zugleich zielen sie auf eine Rezeption im
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politischen Raum (Becker 2011). Das Diakonische Werk und der Caritasverband sind zwar auf Bundesebene organisiert, die konkrete Arbeit erfolgt jedoch dezentral auf landeskirchlicher Ebene bzw. der von Diözesen und deren jeweiligen Substrukturen. Wohlfahrtsverbände haben neben der allgemeinen Krisenintervention, speziellen Hilfestellungen und langfristig angelegten Programmen noch eine wichtige Bedeutung als soziales Frühwarnsystem. Die oben genannten Herausforderungen werden oftmals in ihrer Brisanz und Tragweite von den Anlaufstellen für allgemeine Hilfen wahrgenommen, dort analysiert und in neue Hilfsangebote eingebracht. Zugleich nehmen sie ein Wächteramt für diese neuen Herausforderungen gegenüber Kommune und Staat wahr. Allerdings zeigt sich, dass die finanziellen Mittel, die den kirchlichen Werken zur Verfügung stehen, Grenzen setzen: Diakonie und Caritas organisieren eben auch Erwerbsarbeit, die eine angemessene Entlohnung fordert. So können denn auch soziale Risiken nur dann perspektivisch bearbeitet werden, wenn eine Finanzierung gegeben ist. In Deutschland erhalten jedes Jahr etwa 10 Millionen Menschen durch die Diakonie Unterstützung in den Bereichen Betreuung, Beratung, Pflege und medizinische Versorgung. Für diesen Auftrag sind bundesweit knapp 600.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in etwa 31.000 Einrichtungen tätig. Hilfeleistungen werden dabei nicht nur von professionellen Kräften erbracht, sondern auch das Ehrenamt spielt eine herausragende Bedeutung. So unterstützen etwa 700.000 Ehrenamtliche die Arbeit der Diakonie. Die Diakonie unterhält auch ambulante und stationäre Einrichtungen, so im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe (etwa 625.000 Betreuungsplätze), der Altenhilfe (etwa 191.000 Plätze) und in der Behindertenhilfe (etwa 192.000 Plätze) (https://www.diakonie. de/die-diakonie-in-zahlen). Darüber hinaus engagiert sie sich für Wohnungslose, Flüchtlinge, Straffällige, überschuldete Menschen u. a. m. Beratend ist die Diakonie neben anderem auch bei Schwangerschaft, häuslicher Gewalt und Erziehungsfragen tätig. Die Caritas pflegt, begleitet oder unterstützt etwa 13 Millionen Menschen jährlich. Dazu greift sie auf knapp 700.000 Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zurück, die in etwa 25.000 Einrichtungen und Diensten arbeiten. Hinzu kommen auch bei der Caritas mehrere hunderttausend Ehrenamtliche. Wie auch bei der Diakonie stellt die Caritas die meisten ambulanten und stationären Plätze im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe zur Verfügung (etwa 700.000), gefolgt von der Altenhilfe (etwa 135.000) und der Gesundheitshilfe (etwa 103.000) (https:// www.caritas.de/diecaritas/wir-ueber-uns/die-caritas-in-zahlen/statistik). Hinzu kommen auch hier viele weitere soziale Hilfen etwa in den oben bei der Diakonie aufgeführten Bereichen. Das Tätigkeitsfeld beider Wohlfahrtsverbände ist nicht statisch festgelegt. Bei neuen Herausforderungen suchen sie nach Lösungen und dazu passenden Organisationsformen. Dieses zeigt sich etwa in der sich zuspitzenden Migrati-
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onsbewegung ab 2015. Caritas und Diakonie sind die größten Arbeitgeber in Deutschland und verfügen nicht nur im Bereich der Sozialpolitik über ein erhebliches gesellschaftliches und politisches Gewicht, das sie immer wieder auch dafür nutzen, auf Spaltungs- und Ausgrenzungsprozesse innerhalb der Gesellschaft – nicht nur durch ihre unmittelbaren Hilfsangebote, sondern auch politisch – einzuwirken. Literatur Becker, U. (Hg.) (2011): Perspektiven der Diakonie im gesellschaftlichen Wandel. Eine Expertise im Auftrag der Diakonischen Konferenz des Diakonischen Werks der Evangelischen Kirche in Deutschland. Neukirchen-Vluyn. Benz, B. (2018): Von „Sozialhilfefrauen“, „Kirchenasylen“ und „Tafelkunden“. Hilfe unter Protest in den Niederlanden (1987–2014), Österreich (seit 1997) und Deutschland (seit 2005). In: D. Franke-Meyer u.a. (Hg.): Soziale Bewegungen und Soziale Arbeit. Von der Kindergartenbewegung zur Homosexuellenbewegung (S. 251–263). Wiesbaden. Bertram, J. (2021): „Denen fehlt ein richtiger Anker im Leben.“ Ansätze sozialer Integration für junge Menschen im europäischen Mehrebenensystem. Berlin. Boeckh, J./Huster, E.-U./Benz, B./Schütte, J. D. (2022): Sozialpolitik in Deutschland. Eine systematische Einführung (5. Aufl.). Wiesbaden. Böhnke, P./Dittmann, J./Goebel, J. (Hg.) (2018): Handbuch Armut. Ursachen, Trends, Maßnahmen. Opladen/Toronto. Bourdieu, P. (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg. DCV – Deutscher Caritasverband: Die Caritas in Deutschland und weltweit. https://www.caritas.de/diecaritas/wir-ueber-uns/wofuerwirstehen/wofuer wirstehen (Zugriff am 7.11.2020). DCV – Deutscher Caritasverband: Millionenfache Hilfe – Die Caritas in Zahlen. https://www.ca ritas.de/diecaritas/wir-ueber-uns/die-caritas-in-zahlen/ statistik (Zugriff am 25.11.2020). DCV – Deutscher Caritasverband (2020): Wofür wir stehen. https://www. caritas.de/diecaritas/wir-ueber-uns/wofuerwirstehen/not-sehen-und-handeln (Zugriff am 28.09.2021). Diakonie Deutschland (o.J.): Auf einen Blick. https://www.diakonie.de/aufeinen-blick (Zugriff am 28.09.2021). Diakonisches Werk: Über uns: Die Diakonie stellt sich vor. https://www.diako nie.de/auf-einen-blick (Zugriff am 7.11.2020). Diakonisches Werk: Die Diakonie in Zahlen. https://www.diakonie.de/die-diak onie-in-zahlen (Zugriff am 25.11.2020). Franke-Meyer, D./Kuhlmann, C. (Hg.) (2018): Soziale Bewegungen und Soziale Arbeit. Von der Kindergartenbewegung zur Homosexuellenbewegung. Wiesbaden. Glatzer, W./Hübinger, W. (1990): Lebenslagen und Armut. In: D. Döring/W. Hanesch/E.-U. Huster (Hg.): Armut im Wohlstand (S. 31–55). Frankfurt a.M.
Armutsbedrohte und Verarmte
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44 Ehe, Partnerschaften und Familien Bettina Zenner
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Einführung
Ehe-, Familien- und Lebensberatung hat eine lange Tradition. Bereits kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden angesichts der Kriegstraumata und ihrer Auswirkungen auf Paar- und Familienbeziehungen erste Beratungsangebote. Die Initiative ging von Einzelpersonen aus dem Kreis von Ärzt:innen und Seelsorger:innen aus, an die sich Menschen wandten, die aufgrund ihrer eigenen oder der traumatischen Erfahrungen von Partnerinnen und Partnern in ihren Paar- und Familienbeziehungen nicht mehr zurechtkamen. In den 1970er Jahren ging die Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland in einem Synodenbeschluss auf die Situation von Ehe und Familie ein und anerkannte deren größere Verletzlichkeit durch den Verlust von Stützen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ordnung. Zu den notwendigen Hilfen für gefährdete Ehen zählte sie ein ausreichendes Angebot an Eheberatungsstellen mit qualifizierten Mitarbeitenden. Gleichzeitig wurde auf eine intensive Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit der zuständigen gesellschaftlichen und kirchlichen Institutionen hingewiesen mit dem Ziel, Paare in Ehekrisen zu ermutigen, professionelle Hilfe so früh wie möglich in Anspruch zu nehmen. Die Beratung in evangelischen Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen wurde bereits vor der Wiedervereinigung in West- wie Ostdeutschland angeboten. Daher war es direkt nach 1989 möglich, bundesweit gemeinsame Standards psychologischer Beratungsarbeit zu setzen. Die Ehe-, Familien- und Lebensberatung steht seit jeher im Spannungsfeld, ihr Angebot den gesellschaftlichen Veränderungen und dem Beratungsbedarf der Ratsuchenden kontinuierlich anzupassen und dabei hohe Qualitätsstandards einzuhalten. Diese Standards fachlich qualifizierter Beratung sind nicht selbstverständlich und in der Regel mit kontinuierlichen Investitionen zum Beispiel in die fachliche Weiterqualifizierung von Berater:innen verbunden. Verknappen sich Ressourcen, sind bei Trägern von Beratungseinrichtungen immer wieder Tendenzen zu beobachten, Einsparungen zunächst bei Supervision und
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Fortbildung vorzunehmen. Angesichts rückläufiger Einnahmen von Kirchensteuermitteln (Gutmann/Peters 2019) ist die Finanzierung dieses Angebots eine der besonderen Herausforderungen, denen sich Beratungsstellen und ihre Träger stellen müssen. 2
Grundlagen und institutionelle Rahmenbedingungen
Die Kirchen wollen mit der institutionellen Beratung von Einzelpersonen, Paaren und Familien in Krisensituationen und schwierigen Veränderungsprozessen ein offenes Angebot bereithalten, das niedrigschwellig und unabhängig von Nationalität, ethnischer Zugehörigkeit, sexueller Orientierung, Familienstand und Konfession in Anspruch genommen werden kann. Mit der Professionalisierung von Beratung wurden institutionelle Rahmenbedingungen entwickelt und standardisiert, um Beratungsqualität zu erhalten und weiter zu entwickeln. Eine Reihe von erprobten Instrumenten steht zur Verfügung, die systematisch eingesetzt dazu beitragen können, die Qualität von Beratung zu sichern. Dennoch verlangt die Komplexität heutiger Lebensverhältnisse ein neues Herangehen an Fragen der Qualität von Beratung auf verschiedenen Ebenen. Eine Reihe von Essentials und Standards für die institutionelle Beratung wurden und werden im „Deutscher Arbeitskreis für Jugend-, Ehe- und Familienberatung“ erarbeitet, dem verschiedene Verbände der psychosozialen Beratung angehören. 1 Sie teilen ein gemeinsames Verständnis institutioneller Beratung: „Beratungsarbeit ist gerichtet auf zwischenmenschliche Beziehungen und deren Möglichkeiten und Konflikte, auf Lebensgeschichte und -entwürfe, auf Lebens- und Entwicklungsbedingungen […]“ (DKAJEF 1993, S. 6). Dabei werden Krisen im menschlichen Lebenszyklus sowohl in ihrem belastenden Charakter als auch in ihrer Möglichkeit zu Weiterentwicklung gesehen. „Das Erleben solcher Krisen und Beeinträchtigungen und die Art und Weise ihrer Verarbeitung sind der primäre Ansatzpunkt für Beratung“ (DKAJEF 1993, S. 6). Konstitutiv für die institutionelle Beratung ist die Beziehung zwischen Beratenden und Ratsuchenden. „Im Schutz einer durch Vertrauen und ganzheitliche Wahrnehmung geprägten Beziehung kann der bzw. die Ratsuchende neue gedankliche, emotionale und Sinnzusammenhänge erkennen und neue Verhaltensmöglichkeiten entwickeln und erproben“ (DAKJEF 1993, S. 6).
1 „Bundeskonferenz für Erziehungsberatung e.V. (bke), Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugend- und Eheberatung e.V. (DAJEB), Evangelische Konferenz für Familien- und Lebensberatung e.V., Fachverband für Psychologische Beratung und Supervision (EKFuL), Katholische Bundesarbeitsgemeinschaft für Ehe-, Familien- und Lebensberatung, Telefonseelsorge und Offene Tür e.V. (Kath. BAG), pro familia – Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung e.V. – Bundesverband.
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Das christliche Menschenbild in der Beratung Auf die Frage, welcher Mehrwert entsteht, wenn Beratung theologisch reflektiert und durch die Folie eines christlichen Menschenbildes betrachtet wird, findet sich bei Baumgartner eine plausible Antwort. Die theologische Reflexion über die Beratung „erweitert ihren Horizont, fragt nach ihrem Grundverständnis, ihren expliziten und impliziten Zielen, ihren Interessen und Leitbildern. Theologie stellt die Menschenbilder von Beratungskonzepten auf den Prüfstand und fragt, wie sich christliches Lebenswissen mit den praktizierten Methoden verträgt. Sie bietet den Beraterinnen und Beratern einen Rahmen, ihre Einstellungen und Motive in der Beratung zu überprüfen“ (Baumgartner 2017, S. 12 f). Wenn Beratende in den kirchlichen Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen ihre Haltung und ihr Handeln an einem christlichen Menschenbild orientieren, dann verstehen sie den Menschen als ambivalentes Geschöpf. Einerseits ist der Mensch eingebunden in den ewigen Kreislauf von Werden und Vergehen, unausweichlich konfrontiert mit Leid, Krankheit und Tod. Andererseits ist er als Gottes Abbild geschaffen und kann auf seine Zusage vertrauen, in seinem So-Sein mit all seinen Widersprüchlichkeiten angenommen zu sein. Diese liebevolle Verbindung Gottes mit den Menschen und seine vorbehaltlose Bejahung insbesondere in Leid und Not können Ratsuchende in den kirchlichen Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen konkret in der Präsenz und im Mitgefühl von fachlich kompetenten und spirituell ausgerichteten Berater:innen erfahren. Sie können darauf vertrauen, auf Berater:innen zu treffen, die ihnen in der Vielschichtigkeit ihrer Existenz mit all ihren Ambivalenzen begegnen und diese mit ihnen aushalten. Sie können die heilsame Erfahrung machen, dass Berater:innen Gesprächs- und Begegnungsräume öffnen, in denen Ratsuchende in ihrer individuellen Lebenssituation gesehen und in der individuellen Wahrnehmung ihrer Not ernst genommen, ohne einen Aspekt ihres Daseins ausgrenzen oder verbergen zu müssen. Berater:innen setzen mit dieser Haltung das christliche Menschenbild und den Auftrag Jesu in der Praxis um: zu lieben, zu heilen, zu vergeben, zu trösten, zu ermutigen und zu befreien. Krockauer (2010) sieht daher die Beratungsarbeit in ihrer „ursprunghaften Originalität der Jesusnachfolge“. In den biblischen Erzählungen setzt Jesus in seinem heilsamen Handeln Markierungen, die heute in wesentliche Koordinaten professioneller Beratung einfließen. Wie in der Beratung, in der Ratsuchende als Expert:innen ihres Lebens gesehen werden, die den Kurs angeben, stellt Jesus den versehrten Menschen in die Mitte: den verletzten, verstummten, kranken, armen, den schuldigen und den ausgegrenzten. Bevor er handelt, fragt er oftmals nach: „Was ist es, das ich dir tun soll?“ (Lk 18,41). Es ist dies die wesentliche Frage zum Beginn jedes Beratungsprozesses: Wo willst du hin? Zu welchem Ziel kann ich dich als Berater:in begleiten? Es gibt viele Beispiele des heilenden Jesus, die erkennen lassen, dass er auf die Ressourcen von Menschen baut, wesentlich auf ihren Glauben, ohne die sein Handeln fruchtlos bliebe (z.B. Mt 9,22).
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Beratungswissenschaft Zur profunden spirituellen Ausrichtung sind Erkenntnisse aus den Beratungswissenschaften grundlegend für die Beratungspraxis. Zwicker-Pelzer und Hoff (2015) nähern sich in ihrem Kompendium der Beratung als zunehmend eigenständiger Fachdisziplin und Wissenschaft. Sie sei in ihrem Kern nur interdisziplinär verstehbar und erfordere ein neues, multidisziplinäres Wissenschaftsverständnis. Die Autorinnen untersuchen verschiedene definitorische Ansätze von Beratung und verweisen auf Modelle, in denen bereichs-, schulen-, format- und methodenübergreifend Umfang und Inhalte einer Beratungswissenschaft dargestellt sind. Ende der 1990er Jahre begann ein akademischer Profilierungsprozess der Beratungswissenschaft. Ihre Hybridität findet sich nach Zwicker-Pelzer und Hoff (2015) „nicht nur in den multi- und transdisziplinären Grundlagen und Anwendungsperspektiven, sondern auch Schulenvielfalt, die sich in einem beratungswissenschaftlichen Verständnis wiederfinden sollte“ (S. 23). Lackner (2009) erkennt gerade in der Beibehaltung der Vielfalt einer akademisch verankerten Beratungswissenschaft die Möglichkeit, eine Metatheorie der Beratung zu entwickeln. Die Ehe-, Familien- und Lebensberatung integriert seit jeher verschiedene schulenspezifische Zugänge zu Beratung, die häufig von therapeutischen Modellen abgeleitet sind. Angesichts der oben skizzierten Entwicklungen können Beratungs- und Weiterbildungskonzepte in der Ehe-, Familien- und Lebensberatung künftig stärker von den Erkenntnissen aus der Beratungsforschung und den Weiterentwicklungen einer Beratungswissenschaft profitieren und zu einer Profilierung dieses Handlungsfeldes beitragen. Fachliche Standards Die Qualität der Beratung soll durch fachliche Standards garantiert werden, wie sie der Deutsche Arbeitskreis für Jugend-, Ehe- und Familienberatung (DAKJEF) explizit für die Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen definiert hat (DAKJEF 2003). So wird beispielweise die Freiwilligkeit von Ratsuchenden, sich aus eigener Einsicht und Motivation auf ein Arbeitsbündnis mit Beratenden einzulassen, grundsätzlich als Voraussetzung für eine wirksame Beratung gesehen. Gleichwohl ermöglichen spezifische Beratungsansätze auch unter Zwangsbedingungen (Conen/Cecchin 2007) eine durchaus fruchtbare Zusammenarbeit. Neben einem freiwilligen sollte ein niedrigschwelliger Zugang zur Beratung gewährleistet sein. Dazu gehören beispielsweise ein Zugang zur Beratung ohne Überweisung, bei akuten Problemen ein möglichst zeitnahes Erstgespräch, bedarfsgerechte Öffnungszeiten, telefonische oder digitale Beratung etc. Ferner zählen multiprofessionelle Teams ebenso zu den Standards institutioneller Beratung wie Vertraulichkeit und Verschwiegenheitspflicht sowie regelmäßige Fortbildung und Supervision der Berater:innen. Im Sinne ethischer Standards ist der Umgang mit Beschwerden von Ratsuchenden sowie das Vorgehen bei Grenzverletzungen durch Mitarbeitende klar geregelt. Angesichts der Diskussion um sexualisierte Gewalt auch in kirchlichen Institutionen wurden die ethischen Standards in der institutionellen Bera-
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tung überarbeitet und aktuell von den im DAKJEF organisierten Verbänden gemeinsam verabschiedet (DAKJEF 2011). Multiprofessionelle Teams Ein Gütekriterium institutioneller Ehe-, Familien- und Lebensberatung ist die professionsübergreifende Kooperation in multidisziplinären Teams (DAKJEF 2013). Die Besetzung von Teams mit Mitarbeitenden verschiedener Fachrichtungen und Ausbildung gewährleistet, dass Problemlagen von Ratsuchenden unter verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden und unterschiedliche Verstehenszugänge möglich sind (DAKJEF 1993). Die Herausforderung besteht künftig darin, bestimmte Berufsgruppen, wie z.B. Psycholog:innen, über entsprechende Weiterbildungsformate für die Mitarbeit in den Fachteams zu gewinnen. Qualifizierung von Beratenden Die Begleitung von Einzelpersonen, Paaren und Familien in Krisensituationen und konflikthaften Veränderungsprozessen erfordert von den Beratenden eine hohe personale wie fachliche Kompetenz. Zur personalen Kompetenz gehören unter anderen die Fähigkeit und Bereitschaft, sich auf Ratsuchende mit unterschiedlichen Fragen und Problemlagen einzustellen, in der Beratung authentisch, verbindlich und empathisch zu sein, die eigene Beratungsarbeit konzeptionell einzuschätzen und die verschiedenen Konzepte hinsichtlich ihrer Bedeutung für das eigene Beratungshandeln bewerten zu können. Fachlich kompetente Berater:innen in der institutionellen Beratung sind unter anderem mit verschiedenen Konzepten von Beratung und Therapie vertraut und können menschliches Erleben und Verhalten in seiner Entwicklung, Aufrechterhaltung und Veränderbarkeit verstehen und analysieren. Auf dieser Grundlage können sie Veränderungsprozesse anregen und begleiten. Zur kontinuierlichen Weiterentwicklung der professionellen Handlungskompetenz werden bundesweit Fortbildungen angeboten, die für Teilnehmende aus den evangelischen und katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen zentral organisiert sind. Gleiches gilt für die Weiterbildung in Ehe-, Familien- und Lebensberatung des „Evangelische Zentralinstitut für Familienberatung“ für angehende Berater:innen in evangelischen Beratungsstellen. Auf katholischer Seite sind die Weiterbildungen in Ehe-, Familien- und Lebensberatung dezentral durch die (Erz-)Bistümer organisiert. Jedoch sind mittlerweile die beruflichen Qualifizierungen von Interessierten für die Mitarbeit als Berater:innen in einer Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstelle so heterogen, dass ein entsprechend differenziertes Weiterbildungsportfolio notwendig ist, das aus Ressourcengründen nicht von jedem einzelnen (Erz-)Bistum oder Landeskirche in Deutschland vorgehalten werden kann. Der „Deutsche Qualifikationsrahmen für lebenslanges Lernen“ (DQR) als Instrument zur Vergleichbarkeit erworbener Qualifikationen hat auch für den Bereich der katholischen und evangelischen Weiterbildungen in Ehe-, Fami-
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lien- und Lebensberatung orientierenden Charakter. Wie weiter oben beschrieben, sind für die Gestaltung der Beziehung zu den Ratsuchenden neben fachlichen auch personale Kompetenzen notwendig. Daher beschränkt sich die Weiterbildung in Ehe-, Familien- und Lebensberatung nicht allein auf die Vermittlung von Wissen und Fertigkeiten (Fachkompetenz nach DQR) zur Anwendung von Beratungsmethoden. Vielmehr wird in der Selbsterfahrung als integralem Bestandteil der Weiterbildungen die besondere Sensibilität, Empathieund Reflexionsfähigkeit der Berater:innenpersönlichkeit gefördert. Finanzierung Den Großteil der Finanzierung der Ehe-, Familien- und Lebensberatung übernehmen die beiden Kirchen in freiwilliger Verantwortung. Es gibt von staatlicher Seite Zuschüsse für Fortbildungsprogramme sowie projektbezogene Förderung. Die Beteiligung von Kommunen und Landkreisen sowie der Bundesländer an der Finanzierung dieses Beratungsangebots ist uneinheitlich und nicht gesetzlich geregelt. 2 3
Partnerschaft und Familie im Kontext sozialer Wandlungsprozesse
Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs hat die skeptische Generation (Schelsky 1957) auch unter dem Einfluss traumatischer Erfahrungen in der Familie aufgrund von Flucht, Tod und Vertreibung das traditionelle Familienmodell der Industriegesellschaft wiederaufgelegt. Allerdings wurde es in den 1950er Jahren häufig unter anderen Vorzeichen gelebt. Während in der Epoche der Industrialisierung die Schichtarbeit in den Fabriken die Arbeitsteilung zwischen Frauen und Männern in vielen Familien zwangsläufig vorgab, trugen in den Wirtschaftswunderjahren eine Reihe von Veränderungen dazu bei, dass die Aufteilung zwischen Männern in der Rolle des Haupternährers der Familie und Frauen in der Rolle von Hausfrau und Mutter zweckmäßig wurde. Die materielle Absicherung durch den Mann eröffnete vielen Frauen die Möglichkeit, sich auf die Privatsphäre der Familie zu konzentrieren und für stabile Bindungserfahrungen der Kinder und deren qualifizierte schulische und berufliche Entwicklung zu sorgen. Untersuchungen von Pfeil (1961) belegen allerdings, dass Frauen im Golden Age of Marriage nicht allein die „Hausfrauenehe“ praktizierten, sondern ein nicht geringer Anteil von Frauen berufstätig war. Ab den 1970er Jahren wurde diese von Hochschild (1995) als warm-traditional bezeichnete Rollenaufteilung in Familien abgelöst durch Modelle, in denen sich die Rollen der Erwachsenen vermehrt durch partnerschaftliche Aushandlungsprozesse zwischen den Erwachsenen modulierten. Zu dieser Veränderung trugen Entwicklungen in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bei, z.B. S. Zweiter Abschnitt SGB VIII: Förderung der Erziehung in der Familie. Der Gesetzesentwurf zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen war zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Beitrages noch nicht verabschiedet.
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die Einführung elektrischer Haushaltsgeräte infolge technischen Fortschritts, die steigende Lebenserwartung infolge verbesserter medizinscher Versorgung, die Zulassung der Antibabypille, der Zugang zu schulischer und beruflicher Bildung etc. Infolge dieses grundlegenden gesellschaftlichen Wandels der Individualisierung und Differenzierung in allen Lebensbereichen wurde das tradierte biografische Muster, wonach Berufsausbildung, Heirat und Familiengründung aufeinander folgten, abgelöst durch die Möglichkeit, aus einer Reihe von Optionen zu wählen und die eigene Biografie individuell im Sinne einer „Bastelexistenz“ (Hitzler/Honer 1994, S. 311) zu erschaffen. Für Partnerschaft und Familie brachte diese Entwicklung mit sich, dass neue Formen des Zusammenlebens entstanden, die stärker die individuellen Lebensentwürfe und Berufsbiografien von Frauen und Männern berücksichtigten. Mit dem Wandel von der Industrie- zur Wissensgesellschaft vollzog sich die sogenannte Stille Revolution. Unter dem Einfluss weiterer transformativer Strömungen wie der Globalisierung und Digitalisierung differenzierten sich Lebens- und Arbeitsformen weiter aus und eröffnen bis heute neue Möglichkeiten, unter relativ stabilen ökonomischen Bedingungen die eigene Biografie zu gestalten. Dabei spielen personale Bindungen eine zentrale Rolle, weshalb Hochschild von einem „warm-modern model of care“ (Hochschild 1995, S. 341) spricht. Es ist modern, weil ein Teil der Fürsorge und Betreuung öffentlichen Einrichtungen übertragen wird und warm, weil Männer und Frauen in der Familie Fürsorge als wichtige Arbeit verstehen und einen Teil dieser Aufgaben selbst übernehmen. So wesentlich das Engagement für stabile und positive Bindungserfahrungen sowohl für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen als auch in der Fürsorge und Pflege von betreuungsbedürftigen älteren Menschen ist, so wenig sind die damit verbundenen Aufgaben und die Eigendynamik in Beziehungen mit den leistungsbezogenen ökonomischen Strukturen und Bedarfen der Arbeitswelt kompatibel. Das bedeutet, die gegenwärtige Generation kann zwar grundsätzlich aus einer Fülle von Lebens- und Beziehungsoptionen wählen. Aber für den Bereich der Arbeit geht mit dieser Multioptionalität nicht automatisch schon eine klare berufliche Perspektive einher. Zeitlich befristete Arbeitsverträge, die Ausweitung des Niedriglohnsektors oder unsichere bzw. fehlende berufliche Aufstiegschancen in akademischen Berufen erlauben häufig nicht, ein hinreichend stabiles ökonomisches Fundament für die Sicherung der eigenen Existenz und die Gründung einer Familie zu schaffen. Bertram und Deuflhard (2015) sprechen vor dem Hintergrund dieser gesellschaftlichen Entwicklung von der überforderten Generation, der bislang ein entsprechendes Modell fehlt, wie sie die Pflege personaler Bindungen in familiären und außerfamiliären Beziehungen mit den leistungsbetonten und volatilen Bedingungen einer global operierenden Arbeitswelt in Einklang bringen ließe.
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Implikationen des sozialen Wandels für die Ehe-, Familien- und Lebensberatung
Die hier nur skizzierten Prozesse des sozialen Wandels bringen auch für die Ehe-, Familien- und Lebensberatung eine Reihe von Herausforderungen mit sich. Die genannten Entwicklungen verlangen nach einer konsequenten Auseinandersetzung mit dem Thema Diversität, damit Berater:innen so unvoreingenommen wie möglich der Vielfalt von Lebensformen in Partnerschaft und Familie gerecht werden. Tradierte Bilder von Paar- und Familienbeziehungen sind zu reflektieren, Beratungskonzepte zu modifizieren und das Angebot den unterschiedlichen Bedarfen von Paaren und Familien in der Vielfalt ihrer Lebens- und Beziehungskonstellationen anzupassen. Dabei können Befunde aus der Paarforschung (Roesler 2018) herangezogen werden, die sowohl für einen Ausbau präventiver Angebote zur Stärkung von Paarbeziehungen plädieren, als auch für die Umsetzung neuer Konzepte in der Beratung von belasteten Paaren (Job/Bodenmann/Baucom/Hahlweg 2014). Trotz aller gegenläufigen Erfahrungen des Scheiterns von Beziehungen gehören neben guten Freunden eine vertrauensvolle Partnerschaft und ein gutes Familienleben für die Mehrheit der Jugendlichen zu den wichtigsten Werten (Shell Jugendstudie 2019). Daher sind präventive Konzepte notwendig, um junge Menschen in ihrer Beziehungskompetenz zu fördern und ihnen bei Krisen und Konflikten in der Partnerschaft einen frühen Zugang zu professioneller Hilfe zu eröffnen. Evidenzbasierte Konzepte zur Begleitung hochkonflikthafter Trennungsfamilien (Walper/Fichtner/Normann 2013) sollten noch stärker Einzug in die Beratungspraxis nehmen, um insbesondere für Entlastung und den Schutz betroffener Kinder zu sorgen. Der tiefgreifende technologische, soziokulturelle und ökonomische Wandel birgt neben den vielfältigen Chancen auch Gefährdungen für Menschen. Die Freiheit und Verantwortung für individuelle Selbstund Lebensentwürfe kann zu Verunsicherung und wachsender Überforderung führen. Vielfalt und Komplexität der Lebensverhältnisse erscheinen unübersichtlich, provozieren Orientierungslosigkeit und den Wunsch nach Sicherheit und Zugehörigkeit. Die Expertise der Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen als profilierte kirchliche Einrichtungen wird künftig eine noch bedeutsamere Rolle spielen, um Menschen auf ihrer Suche nach sinnhaftem Leben, nach Halt und Gemeinschaft zu begleiten. Obgleich bereits Projekte (Evangelische Landeskirche in Baden 2019; Malteser 2020) auf den Bedarf von alleinstehenden und alleinlebenden Menschen jenseits des 65. Lebensjahres reagieren, bedarf es weiterer verstärkter Anstrengungen auch im Sektor der Ehe-, Familien- und Lebensberatung, um Phänomenen wie wachsender Vereinsamung und sozialer Isolierung wirksam zu begegnen. Solange in unserer Wohlstandsgesellschaft bestimmte Bevölkerungsgruppen wie Kinder und Jugendliche, arbeitslose, alleinerziehende, niedrig qualifizierte
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und Menschen mit Migrationshintergrund einem erhöhten Armutsrisiko (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017) ausgesetzt sind, muss Ehe-, Familien- und Lebensberatung den Betroffenen einen niedrigschwelligen Zugang zu Beratung ermöglichen und, wo immer möglich, ein kostenloses Angebot bleiben. Die Abwanderung junger Menschen aus strukturschwachen, oft ländlichen Regionen in der Phase der Berufsausbildung, des Berufseinstiegs oder zur Gründung einer Familie, bringt für die Ehe-, Familien- und Lebensberatung mit sich, im Einzugsbereich der Beratungsstellen insbesondere im ländlichen Raum, ihre Beratungs- und Unterstützungsangebote anzupassen, beispielsweise mit der Einrichtung von Außenstellen oder mobiler Beratung. Ehe-, Familien- und Lebensberatung sollte auch auf den besonderen Unterstützungsbedarf der Sandwich-Generation mit adäquaten Angeboten reagieren, da diese durch Mehrfachbelastungen aufgrund von Berufstätigkeit, Kindererziehung und der Fürsorge für hilfsbedürftige Eltern belastet sind. Diese Anforderungen führen zusammen mit der Organisation des Alltags zu einem konstant hohen Stresspegel in Familien. Inzwischen ist wissenschaftlich hinlänglich belegt, dass anhaltender Stress die Zufriedenheit und Stabilität von Paarbeziehungen gefährdet und zu Entwicklungsstörungen bei Kindern führen kann (Zemp/Bodenmann 2015). Die zunehmende Verknüpfung von Alltagshandlungen mit digitalen Technologien bedeutet für den Beratungssektor, dass Menschen selbstverständlicher im Internet nach Informationen über Beratung suchen und bereit sind, digitale Beratungsangebote zu nutzen. Daher sind digitale Formate (Blended Counseling) in der Ehe-, Familien- und Lebensformate notwendig, um angemessen flexibel auf Bedürfnisse von Ratsuchenden einzugehen. Dabei hat die CoronaPandemie das Angebot von Videoberatung, textbasiertem Chat und E-MailBeratung forciert. Wenn es um die Wirkung digitaler Beratung auf die Beziehung zwischen Beratenden und Ratsuchenden geht, spiegeln bislang vorliegende Forschungsbefunde (Eichenberg/Aden 2014) einen positiven Effekt wider. Ob und ggf. wie sich die Beratungsbeziehung unter dem Einfluss des Blendend Counseling verändert, wird noch empirisch zu untersuchen sein. Angesichts ungleicher Chancen, Informations- und Kommunikationstechnologie zu nutzen, ist für die Ehe-, Familie- und Lebensberatung zu postulieren, dass sie ihre Angebote variabel und gerade für benachteiligte gesellschaftliche Gruppierungen offenhält. Trotz der Vorteile der digitalen Versorgung von Ratsuchenden braucht es auch künftig weiterhin Orte des Zuhörens, wie sie z.B. in offenen Sprechstunden in der Offenen Tür und der Citypastoral angeboten werden. Eine Forschungslücke besteht bislang noch im Bereich der Lebensberatung. Hier bedarf es entsprechender Studien, die die Wirkung der Beratung von Einzelpersonen untersuchen.
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Ausblick
Für Paare und Familien bedeuten diese gesellschaftlichen Veränderungsprozesse unter anderem, dass sie eine dauerhafte Grundspannung zu meistern haben zwischen dem Bedürfnis nach Bindung, Sicherheit, Beständigkeit, Treue, Intimität und Geborgenheit, das mit den Bedürfnissen nach individueller Unabhängigkeit und Selbstverwirklichung konkurriert. Welche Spuren die 2020 ausgebrochene Corona-Pandemie in unserer Gesellschaft und insbesondere im Lebens- und Beziehungsalltag von Menschen hinterlassen wird, bleibt abzuwarten. Seit Beginn der Pandemie analysiert eine Studie der Universität Innsbruck 3 die Faktoren, die sich auf die Beziehungsdynamik bei Paaren in stressbeladenen oder außergewöhnlichen Situationen auswirken. An der Befragung haben sich über 3000 Personen aus 63 Nationen beteiligt, die sich mehrheitlich in einer festen Beziehung befinden. Es konnte eine Reihe von positiven bzw. negativen Faktoren ermittelt werden, die zu Beginn der Pandemie auf Beziehungszufriedenheit und sexuelle Zufriedenheit Einfluss genommen haben. Erste vorläufige Ergebnisse zeigen, dass sich bei zusammenlebenden Paaren die gemeinsam verbrachte Zeit und gemeinsame Aktivitäten positiv auswirkten, während bei nicht-zusammenlebenden Paaren Beziehungszufriedenheit und sexuelle Zufriedenheit zurückgingen. Die Analyse der Daten zu weiteren Messzeitpunkten wird ergeben, welche präventiven Angebote und Maßnahmen Paare gezielt in ihrer Resilienz unterstützen können. Insgesamt ist anzunehmen, dass die Corona-Pandemie die skizzierten Transformationsprozesse gravierend beeinflussen wird, teils positiv, wie sich im Bereich der Digitalisierung bereits abzeichnet. Gleichzeitig wird der gesellschaftliche Wandel vermutlich durch die anhaltende Erfahrung einer globalen Ausnahmesituation gestört werden, für die keine bereits bewährten Bewältigungsstrategien zur Verfügung stehen. Wie sich die in den individuellen Handlungsspielraum eingreifenden, teils sanktionierten Normen (vgl. Diekmann, 2020) auf das soziale Miteinander auswirken werden, wird im weiteren Verlauf der Pandemie sichtbar werden. Verordnete Hygieneregeln, Maskenpflicht und Abstandsgebote bei Kontakten, Mobilitätseinschränkungen und Quarantäneauflagen, Versammlungsverbote, Schließung von Kindertageseinrichtungen und Schulen sowie die Nachverfolgung von Infektionsketten erfolgen angesichts einer kollektiven Bedrohung, in deren Zentrum das Individuum als potenzielle Gefahrenquelle steht. Die Aufgabe für die Ehe-, Familie- und Lebensberatung wird auch künftig darin bestehen, die gesellschaftlichen Veränderungsprozesse, insbesondere unter dem Einfluss der Pandemie, in ihrer Wirkung auf die Lebensrealität von RatInstitut für Psychologie | Fachgruppe Persönlichkeit, Emotion & Musik. https://www.uibk.ac.at/psychologie/fachbereiche/pdd/personality_assessment/research/love-intimes-of-corona/ (Zugriff am 01.04.2021).
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Ehe, Partnerschaft und Familien
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suchenden kontinuierlich zu reflektieren, spezifische Beratungsbedarfe zu analysieren, entsprechend Beratungskonzepte weiterzuentwickeln und Beratungsangebote anzupassen. Aufgrund stark rückläufiger Mitgliederzahlen in den beiden Kirchen bedarf es künftig gemeinsamer Anstrengungen von Kirche und Staat, um die Existenz der über 650 evangelischen und katholischen Ehe-, Familien- und Lebensberatungsstellen zu sichern. Literatur Albert, M./Hurrelmann, K./Quenzel, G./Schneekloth, U./Leven, I./Utzmann, H./Wolfert, S. (2019): Jugend 2019. Eine Generation meldet sich zu Wort. Weinheim. Baumgartner, I. (2007): Menschen in Lebenskrisen seelsorglich begleiten. In: M. Belok/U. Kopač (Hg.): Seelsorge in Lebenskrisen. Pastoralpsychologische, humanwissenschaftliche und theologische Impulse (S. 11–28). Zürich. Bertram, H./Deuflhard, C. (2015). Die überforderte Generation. Arbeit und Familie in der Wissensgesellschaft. Opladen/Berlin/Toronto. Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2017): Lebenslagen in Deutschland. Der Fünfte Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. https://www.armuts-und-reichtumsbericht.de/SharedDocs/Downloads/Be richte/5-arb-kurzfassung.pdf?__blob=publicationFile&v=4 (Zugriff am 26.03.2021). Conen, M.-L./Ceccin, G. (2007): Wie kann ich Ihnen helfen, mich wieder loszuwerden? Therapie und Beratung in Zwangskontexten. Heidelberg. Diekmann, A. (2020): Entstehung und Befolgung neuer sozialer Normen. Zeitschrift für Soziologie, 49 (4), 236–248. DAKJEF (1993): Institutionelle Beratung im Bereich der Erziehungsberatung, Ehe-, Familien- und Lebensberatung, Partnerschafts- und Sexualberatung. http://www.dakjef.de/pdf/institutionelle_beratung.pdf (Zugriff am 01.04.2021). DAKJEF (2001): Fachliche Standards von Ehe-, Familien- und Lebensbratungsstel-len. http://www.dakjef.de/index.html?p=publications (Zugriff am 15.03.2021). DAKJEF (2011): Psychosoziale Beratung von Erwachsenen und Paaren im Kontext sexueller Grenzverletzungen und sexualisierter Gewalt. http://www.dakjef.de/index.html?p=publications (Zugriff am 15.03.2021). DAKJEF (2013): Die Zukunft des multidisziplinären Teams. http://www.dak jef.de/pdf/Zukunft_Multidisz_Team.pdf (Zugriff am 01.04.2021). Eichenberg, Chr./Aden, J. (2014): Online-Beratung bei Partnerschaftskonflikten: Positive Beziehungsqualität. Deutsches Ärzteblatt PP, 12 (9), 418–20. https://www.aerzteblatt.de/archiv/161493/Online-Beratung-bei-Partner schaftskonflikten-Positive-Beziehungsqualitaet (Zugriff am 29.03.2021).
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B. Zenner
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Einleitung
Migration stellt nicht per se ein soziales Problem dar, das zwangsläufig zum Gegenstand der Sozialen Arbeit wird. Migrationsbezogene Soziale Arbeit wird erst dann relevant, wenn die gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Migrationsgeschichte nicht ausreichend gegeben ist und gesellschaftliche Entwicklungen sowie politische Bedingungen zu problematischen Lebensumständen für Menschen in Migrationsgesellschaften führen. Dies trifft insbesondere auf Menschen zu, die geflüchtet sind und sich noch im Asylverfahren befinden. Aus diesem Grund fokussiert der vorliegende Beitrag die Lebenssituation dieser Bevölkerungsgruppe und skizziert die Bedeutung der christlichen Sozialen Arbeit in diesem Feld. Hierfür werden politische (Kapitel 2), theologische (Kapitel 3) und fachwissenschaftliche Überlegungen zur Sozialen Arbeit (Kapitel 4) zusammengetragen und im Zusammenspiel reflektiert (Kapitel 5). 2
Fluchtmigration nach Deutschland
Seit 1953 stellten bis einschließlich Januar 2021 circa 6,1 Millionen Menschen in Deutschland einen Asylantrag. Von 1953 bis 1989 waren es rund 0,9 Millionen – überwiegend aus osteuropäischen Ländern stammend – und von 1990 bis 2021 waren es rund 5, 1 Millionen. Nachdem die Zahl der Asylerstanträge Ende der 1990er Jahre auf 138.319 pro Jahr zurückgegangen war und bis 2008 auf unter 28.018 weiter abnahm, stieg sie von 2009 bis 2016 kontinuierlich an. So belief sich die Zahl Erst- und Folgeanträge auf Asyl 2013 nach einem größeren quantitativen Sprung auf 127.023 und in 2014 auf 202.834. Im Jahr 2015 verdoppelte sich die Zahl auf 476.649 und stieg im Jahr 2016 nochmals eklatant auf 745.545 Anträge an (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2021, S. 5). Die Hauptherkunftsländer richteten sich immer nach den Kriegsherden und Krisenzentren der Welt. In Deutschland waren im Jahr 2021 – wie in den
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Jahren zuvor – Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und dem Irak am stärksten vertreten (ebd., S. 3). Weltweit betrachtet war im Jahr 2017 jeder 110. Mensch von Flucht und Vertreibung betroffen. Im Verantwortungsbereich des UNHCR gab es Ende 2017 39,1 Millionen Binnenvertriebene, 19,9 Millionen Flüchtlinge, 4,9 Millionen Rückkehrer:innen, 3,1 Millionen Asylbewerber:innen und 2,8 Millionen Staatenlose. 2017 entfiel im internationalen Vergleich jeder siebte Asylantrag auf Deutschland, so dass Deutschland zum zweitgrößten Aufnahmeland wurde. Im weltweiten Vergleich leben mit 3,8 Millionen Menschen die meisten Geflüchteten in der Türkei, gefolgt von Pakistan mit 1,4 Millionen und Deutschland mit ebenfalls 1,4 Millionen (Bundeszentrale für politische Bildung 2018). Vergleicht man die Anzahl der Erst- und Folgeanträge auf Asyl in Deutschland in den vergangenen Jahren, so ist seit 2017 ein sehr deutlicher Rückgang zu verzeichnen. Waren es 2016 noch 745.545 Anträge, so sank die Zahl in 2017 auf 222.683, in 2018 auf 185.853, 2019 auf 165.938 und in 2020 auf 122.107 (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2021, S. 5). Die Quote der positiv beschiedenen Asylanträge (Anerkennung als Flüchtling, subsidiärer Schutz, Abschiebeverbot) lag in diesen Jahren zwischen 43,1 % (2020), 38,2 % (2019), 35 % (2018) und 44 % (2017). In den übrigen Fällen wurden so genannte formelle Entscheidungen getroffen, in denen bspw. ein Verfahren eingestellt, ein Antrag zurückgezogen oder eine Überstellung in ein anderes europäisches Land beantragt wurde (Dublin-Verfahren) (2020: 25 %, 2019: 32 %, 2018: 30 %, 2017: 18 %). Bei den restlichen Fällen handelt es sich um Ablehnungen der Asylanträge (2020: 32 %, 2019: 29 %, 2018: 35 %, 2017: 38 %) (Bundeszentrale für politische Bildung 2021). Gründe für den Rückgang der Asylanträge sind u. a. die Abschottung an den europäischen Außengrenzen sowie die restriktive Asylpolitik Deutschlands. Ein Beispiel hierfür ist das 2016 beschlossene Asylpaket II, das von Menschrechts- und Flüchtlingsorganisationen, aber auch von den christlichen Kirchen und ihren Verbänden und Organisationen kritisiert wurde. Zentraler Kritikpunkt sind die beschleunigten Verfahren (§ 30a AsylG), in denen Asylanträge bestimmter Personengruppen innerhalb einer Woche geprüft werden. Diese gelten beispielsweise für Personen aus so genannten „sicheren Herkunftsstaaten“. Auch Schutzsuchende ohne Ausweisdokumente durchlaufen ein solches beschleunigtes Verfahren, das aus der Sicht von Kritiker:innen von einer fairen und sorgfältigen Prüfung absieht. Darüber hinaus wurde in diesem Asylpaket der Familiennachzug für subsidiär Geschützte stark eingeschränkt (§ 29 AufenthG), was ebenfalls scharf kritisiert wurde. Die Kernaussagen der kritischen Stellungnahmen hierzu – u. a. durch die Caritas, die Diakonie und den Jesuiten-Flüchtlingsdienst – hat ProAsyl (2016) zusammengestellt. Unter der Überschrift „Für den Fortbestand des Zugangs zum individuellen Asylrecht in Europa“ veröffentlichten wiederum der Deutsche Caritasverband,
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die Diakonie Deutschland, der Jesuiten Flüchtlingsdienst und andere Organisationen anlässlich der Verhandlungen über das geplante Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) im Jahr 2018 erneut eine Stellungnahme. Hier werden die Vorschläge der EU-Kommission kritisiert, die eine Verlagerung des Flüchtlingsschutzes auf Drittstaaten außerhalb der Europäischen Union durch Ausweitung des Konzepts der so genannten sicheren Drittstaaten vorsieht. Die Möglichkeiten, Schutzsuchende ohne Prüfung eines Asylantrags in Dritt- und Herkunftsstaaten zurückzuweisen, würden demnach deutlich ausgeweitet (Bündnis für den Fortbestand des Zugangs zum individuellen Asylrecht in Europa 2018). Ein weiteres Exempel restriktiver asylpolitischer Entscheidungen ist das im Juni 2019 in Kraft getretene „Zweite Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht“. Es sieht Auflagen für Menschen mit noch ungeklärter Identität vor, die, so die Kritik, so restriktiv sind, dass ein menschenwürdiges Leben verhindert wird. Ferner werden die Möglichkeiten, Personen in Abschiebungshaft zu nehmen, deutlich ausgeweitet, und die Weitergabe von Informationen über angeordnete Abschiebungen wird unter Strafe gestellt. Eine kritische Stellungnahme zu diesem Gesetz veröffentlichte die Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit (Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit 2019). Aus der Sicht von Fachwissenschaftler:innen ist diese Form der Kriminalisierung der Fachkräfte, die in der Sozialen Arbeit tätig sind, absolut inakzeptabel. Geflüchtete über eine angeordnete Abschiebung in Kenntnis zu setzen, wird in einem Positionspapier zu den Standards der Sozialen Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften überdies von einer Initiative Hochschullehrender als berufsethische Verpflichtung angesehen. Geflüchtete Menschen sollten von Fachkräften der Sozialen Arbeit, so die Autor:innen, über drohende aufenthaltsbeendende Maßnahmen aufgeklärt werden, um eine informierte Entscheidung zu treffen, ob sie bspw. weiteren rechtlichen Beistand zu Rate ziehen oder nicht (Initiative Hochschullehrender zu Sozialer Arbeit in Gemeinschaftsunterkünften 2016). Auch die Residenzpflicht, die Unterbringung in Sammelunterkünften bzw. Lagern, das fehlende Recht auf Familienzusammenführung, der eingeschränkte Zugang zu Bildung, professionellen Deutschkursen und Arbeitserlaubnissen sowie die eingeschränkte gesundheitliche Versorgung während des Asylverfahrens werden aus fachwissenschaftlicher Perspektive aufs Schärfste kritisiert. Das stillschweigende Hinnehmen oder gar Mitwirken an diesen strukturellen Bedingungen wird aus der Sicht der Sozialen Arbeit, die sich auf die Menschenrechte beruft, als mandatswidrig und berufsethisch inakzeptabel zurückgewiesen (Prasad 2018, S. 16–26). 3
Die Bibel als Buch über Migration und die Positionen der christlichen Kirchen und ihrer Spitzenverbände
Die Bibel als Buch über Migration zu bezeichnen, ist in Anbetracht der Fülle an Einzelerzählungen, die diesen Themenkomplex berühren, nicht übertrieben.
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So stellt Döhling heraus, dass das Motiv der Bewegung, des Exils, der Vertreibung und der Wanderschaft die Bibel durchzieht: Es beginnt mit der Vertreibung aus der Gottesnähe des Edengartens (Gen 3,23–24; 4,16; 11,2.8) und reicht bis zur Herabkunft des himmlischen Jerusalems und dem Ruf nach dem Kommen Jesu in der Offenbarung des Johannes (1,9; 22,20) (Döhling 2016, S. 51). So ist bspw. bereits die Geschichte des alten Israels und des frühen Judentums durchzogen von Vertreibungen und Exilierungen (ebd., S. 54). In biblischen Texten werden diese konkreten Migrationserfahrungen verdichtet und „als prägende und identitätsstiftende Erfahrung mit Gott gedeutet, bewahrt und weiterentwickelt“ (S. 55). Im Erzählen werden diese Erlebnisse „in Geschichten des Gelingens, der Rettung, des Weiter- und Zusammenlebens verwandelt“ (ebd., S. 56). Im Kern geht es – so führt es Behloul weiter aus – um die Entstehung des christlichen Gottes- und Menschenverständnis an sich (Behloul 2018, S. 42 ff.). Im biblischen Grundverständnis wird der Mensch als Gast auf dieser Erde verstanden. Die Erde sei eine Leihgabe Gottes an den Menschen auf seiner Pilgerschaft, die in das Reich Gottes zurückführt. Die Praxis der Offenheit gegenüber Menschen unterschiedlicher Herkunft ist vor diesem Hintergrund nicht mehr bloß ein Akt der Barmherzigkeit, sondern „eine glaubenslogische Konsequenz“ (ebd., S. 51). Weiter gedacht ergeben sich Konkretisierungen, die im Kontext aktueller Migrationsdebatten sowohl von der katholischen als auch der evangelischen Kirche zur Geltung gebracht werden. Dabei wird vor allem auf Jesu Rede vom Weltgericht (Mt 25,35–36) rekurriert: „Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben; ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich aufgenommen“ (Mt 25,35). Nicht nur hier wird Jesus als Fremder dargestellt. Die Erzählungen in den Evangelien über Jesu Leben und Wirken porträtieren einen Menschen auf der Durchreise. Behloul beschreibt ihn als „heimatlosen Fremdling par excellence“ (ebd., S. 47). Jesus scheut sich nicht davor, die sozialen und religiös-kulturellen Konventionen und Selbstverständlichkeiten zu brechen, was ihn zum Fremden sowohl innerhalb der eigenen Gesellschaft als auch in der eigenen Familie und Verwandtschaft macht. Neben diesem Zitat aus dem Neuen Testament liefert auch ein Motiv aus dem Alten Testament eine sozialethische Botschaft im Kontext von Migration: „Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen. Ich bin der HERR, euer Gott“ (Lev 19,33–34).
Hier wird die Einsicht entwickelt, dass nicht nur Zugewanderte Fremde sind, sondern auch die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft (van der Ven 1999, S. 79).
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Diese beiden Bibelstellen wurden in verschiedenen Migrationsdebatten zur Fluchtmigration nach Deutschland als Grundlage politischer Positionen und Erklärungen der christlichen Kirchen gewählt. So griff zunächst in den 1990er Jahren eine gemeinsame Erklärung der Kirchen das Motiv bei Levitikus auf. Vor dem Hintergrund der damals aktuellen politischen Auseinandersetzungen über eine Begrenzung der angestiegenen Asylbewerber:innenzahlen haben die Deutsche Bischofskonferenz und der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland in Verbindung mit weiteren christlichen Kirchen 1997 eine Erklärung zur Aufnahme von geflüchteten Menschen und zum Asylrecht an die politisch verantwortlichen Kräfte in Bund, Ländern und Gemeinden gerichtet. Ihr Appell forderte, „eine Asyl- und Flüchtlingspolitik in die Wege zu leiten, die das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte schützt“ (Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1997, S. 3). Die Erklärung betont die Wichtigkeit einer europäischen Lösung. Nur durch gemeinsame Anstrengungen der EU-Mitgliedsstaaten könne die Zuwanderung in gute Bahnen gebracht werden, in denen „menschenrechtliche und humanitäre Aspekte noch stärker berücksichtigt werden“ (ebd., S. 65). Angelehnt an das Matthäusevangelium hat die Kammer für Migration und Integration der EKD 2017 unter dem Titel „…und ihr habt mich aufgenommen.“ zehn Überzeugungen zu Flucht und Migration veröffentlicht. Hier heißt es u. a.: „Gott hat alle Menschen nach seinem Bild geschaffen und ihnen so eine unantastbare Würde gegeben. Niemand muss sich diese Würde verdienen. […] Die Würde von Menschen ist nicht verhandelbar. Deshalb muss auch das individuelle Recht auf Asyl gewahrt bleiben. Für Schutzsuchende muss es sichere Fluchtwege geben“ (Evangelische Kirche in Deutschland 2017, S. 5). Auch hier wird für eine europäische Lösung plädiert: „Die Europäische Union braucht außerdem ein Einwanderungsrecht, das in einem angemessenen Maß legale Wege nach Europa bietet. Neben Flüchtlingen bedürfen auch subsidiär Geschützte, wie z.B. Bürgerkriegsflüchtlinge, besonderen Schutzes. Christus steht an der Seite derjenigen, deren Würde verletzt oder in Frage gestellt wird“ (ebd.). Entsprechend hat das Zentralkomitee der deutschen Katholiken im Jahr 2017 eine Stellungnahme unter der Überschrift „Eine menschenwürdige Asylpolitik als Gemeinschaftsaufgabe der Europäischen Union“ verabschiedet (Zentralkomitee der deutschen Katholiken 2017). Mit seinen jährlichen Botschaften zum so genannten „Welttag des Migranten und des Flüchtlings“ veröffentlichte auch Papst Franziskus seine Positionen zu den Themenspektren „Migration und Flucht“. Hier wendet er sich von einer problemorientierten Sichtweise ab: „Es geht also darum, dass wir […] im Migranten und im Flüchtling nicht nur ein Problem sehen, das bewältigt werden muss, sondern einen Bruder und eine Schwester, die aufgenommen, geachtet und geliebt werden müssen – eine Gelegenheit, welche die Vorsehung uns bietet, um zum Aufbau einer gerechteren Gesellschaft, einer vollkommeneren Demokratie, eines solidarischeren Landes, einer brüderlicheren Welt und ei-
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ner offeneren christlichen Gemeinschaft entsprechend dem Evangelium beizutragen“ (Papst Franziskus 2019, S. 4).
Gott rufe uns auf, „uns vom Exklusivismus, der Gleichgültigkeit und der Wegwerfmentalität zu befreien“ (ebd.). Es mache nicht ärmer, sich zu öffnen, sondern es bereichere, „denn es hilft, menschlicher zu sein: sich als aktiven Teil eines größeren Ganzen zu erkennen und das Leben als ein Geschenk für die anderen zu verstehen; als Ziel, nicht die eigenen Interessen zu betrachten, sondern das Wohl der Menschheit“ (ebd., S. 3).
Die dargestellten Positionen der christlichen Kirchen werden auch durch die evangelischen und die katholischen Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege, Diakonie und Caritas, in die Praxis eingebracht. Sie bieten nicht nur soziale Dienste an, sondern beziehen auch Position und begründen darauf ihre politische Lobbyarbeit im Bereich Migration. So beschreibt der Deutsche Caritasverband bspw. das Überschreiten nationaler und ethnischer Grenzen und die Begegnung mit Menschen „anderer Kulturen“ als „Kernbestandteile der christlichen Identität“ (Deutscher Caritasverband 2020). Den biblischen Auftrag, Schutz zu gewähren und Solidarität zu üben, versteht die Caritas als Verpflichtung. Das erklärte politische Ziel ist dabei, „dass in Deutschland Menschenrechte garantiert, humanitäre Standards umgesetzt, Schutzsuchenden menschenwürdige Aufnahme gewährt sowie allen Migrant:innen Perspektiven in Würde und Sicherheit eröffnet werden“. Die Diakonie setzt sich in ihrer politischen Arbeit dafür ein, Schutzsuchenden einen legalen Zugang in die EU zu ermöglichen und dabei auch die Wünsche von Geflüchteten bei der Wahl des Zufluchtsortes zu berücksichtigen. Ziel ist es, die gesellschaftliche Teilhabe, die Wohnsituation, die gesundheitliche Versorgung sowie den Bildungs- und Arbeitsmarktzugang zu verbessern. Um dies zu erreichen, steht die Diakonie für eine qualifizierte Beratung und Begleitung und spricht sich gegen Asylrechtsverschärfungen, besonders bei den Sozialleistungen als Instrument der Migrationspolitik, aus (Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V./Brot für die Welt/Diakonie Deutschland/Diakonie Katastrophenhilfe 2017, S. 8). Die skizzierten Positionen stoßen innerkirchlich nicht ausschließlich auf Zustimmung, sondern haben – vor allem im evangelischen Bereich – eine kontroverse Diskussion ausgelöst. So hat u. a. Ulrich Körtner die These vertreten, es handele sich bei der Position der Kirchen, der Diakonie und der Caritas um eine ausschließlich gesinnungsethische Haltung, die die mittel- und langfristigen Folgen der Zuwanderung zu wenig in den Blick nehme. Gefragter sei jedoch eine verantwortungsethische Haltung, die die Risiken und v.a. die Frage der Begrenzung der Aufnahmekapazitäten stärker fokussiere (Körtner 2016, S. 66– 81). Wolf-Dieter Just hat Körtners Ansatz einer Kritik unterzogen: Er hält den Spannungsbogen von Gesinnungs- und Verantwortungsethik im Blick auf globale Flüchtlingsfrage für ungeeignet, da sie lediglich die Perspektive der Regierenden, aber nicht die der Geflüchteten zur Geltung bringe. Just nimmt Be-
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zug auf die universale biblische „Option für die Armen“ und die Menschenrechte und buchstabiert ethisch verantwortbare Möglichkeiten, die Zuwanderung zu begrenzen: Bekämpfung von Fluchtursachen, Stärkung ortsnaher Hilfe, faire Verteilung von Flüchtlingen unter den Mitgliedsstaaten der EU (Just 2017). 4
Strategien und Methoden der konfessionellen (und nicht-konfessionellen) Sozialen Arbeit mit Geflüchteten
Die im vorangegangenen Kapitel dargelegten Positionen der katholischen und der evangelischen Kirchen und ihrer Wohlfahrtsverbände konkretisieren sich in verschiedenen Handlungsfeldern fluchtbezogener christlicher Sozialer Arbeit. Weitere Grundlagen sind die wissenschaftlichen Theorien und professionsspezifischen Methoden der Sozialen Arbeit, die neben der konkreten Hilfe für Individuen und der Stärkung ihrer Autonomie und Selbstbestimmung vor allem auch Strukturen in den Blick nehmen und sie einbinden (Fachbereichstag Soziale Arbeit/Deutscher Berufsverband für Soziale Arbeit 2016, S. 2). Die Dienste sind vielfältig und eine trennscharfe Systematisierung ist kaum möglich. Sie bewegen sich in den Bereichen Beratung, Begleitung, Bildung, Wohnen, Unterstützung von Selbstorganisation sowie politische Lobbyarbeit. Viele Dienste bieten aus diesem Spektrum verschiedene Angebote in Kombination an. So sind Beratungsangebote, wie sie beispielsweise die Flüchtlingsberatungsstellen, die Migrationsberatung für Erwachsene (MBE) und die Jugendmigrationsdienste (JMD) leisten, zu nennen. Hier werden neben den Beratungsangeboten auch Begleitung, bspw. zu Behörden, und Bildungsmaßnahmen durchgeführt. Dasselbe gilt u. a. für Hilfen, die sich an geflüchtete Menschen im Rahmen der Erstaufnahme richten und neben einer Erstaufnahmeeinrichtung als ersten Wohnsitz für geflüchtete Menschen darüber hinaus gehende Unterstützung bereitstellen. Auch Selbstorganisation und politische Lobbyarbeit sind in solchen Institutionen nicht ausgeschlossen, ja sogar sehr sinnvoll. Ein weiterer relevanter Dienst für Geflüchtete und andere Menschen, denen Ausgrenzung und Benachteiligung widerfährt, sind Antidiskriminierungsstellen. Sie richten sich an Menschen, die Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, und bieten ihnen Beratung und Unterstützung an, indem sie Ratsuchenden bei konkreten Schritten zur Einforderung ihres Rechts auf Gleichbehandlung und Respekt begleiten. Dabei werden psycho-soziale, rechtliche, politische und sozialwissenschaftliche Aspekte einbezogen. Darüber hinaus geben Antidiskriminierungsstellen Impulse für institutionelle und strukturelle Veränderungen. Diskriminierende Praxen werden thematisiert, Sensibilisierungs- und Veränderungsprozesse in Unternehmen, Organisationen und Verwaltungen werden begleitet.
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Migrations- und fluchtbezogene Themen sind selbstverständlich auch in allen Diensten bedeutsam, die zu den Regelangeboten der Sozialen Arbeit gehören. So werden im Bereich der Jugendsozialarbeit migrationssensible und vor allem auch rassismuskritische Ansätze relevant. Ein hoher Anteil der Teilnehmenden ist aufgrund eigener Migrationsgeschichten von rassistischen Ressentiments auf dem Arbeitsmarkt betroffen und/oder sucht Antworten auf migrationsbezogene Fragestellungen (Landesarbeitsgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit Nordrhein-Westfalen e. V., 2019). Auch Jugendbildungsarbeit ist gefordert, migrationssensibel und rassismuskritisch zu agieren, und dies nicht nur dann, wenn es explizit darum geht, politische Bildungsangebote zur Prävention von Rechtsextremismus durchzuführen. Schulsozialarbeit ist ebenfalls verpflichtet, migrationsbezogene Themen am Lebens- und Lernort Schule adäquat aufzugreifen und Diskriminierungen entgegenzuwirken. Ein weiteres Handlungsfeld ist das der sozialraumorientierten Arbeit sowie der Förderung sozialen und bürgerschaftlichen Engagements. Bei diesen Ansätzen stehen gleichermaßen die Eigeninitiative und Selbsthilfe im Vordergrund, indem die Ressourcen der Menschen im Sozialraum vernetzt werden. Dazu gehören konkret die Stadtteil- oder Quartiersarbeit sowie die Begleitung von ehrenamtlichen Initiativen. Insbesondere Organisationen, die geflüchtete Menschen gegründet haben, um andere Geflüchtete zu unterstützen, sind dafür prädestiniert, Selbsthilferessourcen zu aktivieren. Dabei gilt es, Migrant:innen, die sich ehrenamtlich engagieren, durch Soziale Arbeit solidarisch zu begleiten. Aber auch das ehrenamtliche Engagement vonseiten der Aufnahmegesellschaft bedarf der Unterstützung, Qualifizierung und Begleitung durch Fachkräfte der Sozialen Arbeit. Das von vielen kirchlichen Gemeinden und Gruppen getragene ehrenamtliche Engagement reicht von Kirchenasylen über die unmittelbare Unterstützung für Geflüchtete bis hin zu gemeinwesenorientierten Initiativen und neuen inklusiven Gemeindeformen. Die politische Lobbyarbeit zählt zu einer weiteren zentralen Aufgabe der konfessionellen (und nicht-konfessionellen) Sozialen Arbeit in der Migrationsgesellschaft. Ob sich die Kirche selbst als normatives Fundament der konfessionellen Sozialen Arbeit in weltliche Migrations- und Asylpolitik einmischen und Position beziehen soll oder nicht, stößt jedoch nicht unbedingt auf Einigkeit. Doch die evangelische und katholische Kirche mischte sich in den 1990er Jahren und auch seit 2015/2016 in die Debatten um den Umgang mit geflüchteten Menschen ein. Welchen Einfluss aber haben die Kirchen auf die deutsche Politik? Lange war die These verbreitet, dass in einer zunehmend säkularen Gesellschaft Kirchenvertreter:innen bei politischen Fragen immer weniger Gehör bekommen. In einem Artikel des Deutschlandfunks wird hierzu der Jesuit Dieter Müller zitiert. Er sieht mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingsfrage allerdings eher einen entgegengesetzten Trend: „Auf einer ethischen, moralischen Ebene, glaube ich, ist der Einfluss durchaus gestiegen. Nicht zuletzt durch Papst Franziskus und die Stimme der Bischöfe, die Positionen
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vertreten wie der Papst. Vielleicht ist das auch in Zukunft noch stärker gefragt von den Kirchen: Nicht konkrete politische Lösungen anzubieten, sondern bestimmte Werte zu verteidigen, die dann entsprechende Lösungen brauchen, die dann durch die Politik gefunden werden müssen“ (Müller, zit. nach Schäfers 2016).
Zur Frage, ob die Kirche sich auf allgemeine Forderungen beschränken solle oder ob es auch ihre Aufgabe sei, konkretere Forderungen zu formulieren, äußerten sich bspw. Wolfgang Schäuble und Jens Spahn (Schäuble 2016, S. 44 ff.; Spahn 2017). Ihrer Ansicht nach ist es explizit nicht die Aufgabe der Kirchen, sich zu konkret und kleinteilig in die Arbeit von Regierung und Parlament einzumischen. Vertreter:innen der politischen Theologie vertreten hier eine andere Position. Ihrer Ansicht nach entsteht aus der Theologie die Verantwortung, sich aktiv in das gesellschaftliche und politische Geschehen einzubringen. „Denn wo es um Gott geht, geht es immer auch um den Menschen, um Gesellschaft und Politik“ (Kroth 2020, S. 291). Hier sind nicht nur die Kirchen selbst gefragt. Insbesondere auch die Verantwortlichen in der christlichen Sozialen Arbeit sind aufgrund ihrer Profession berufsethisch dazu verpflichtet, politisch zu sein. Nimmt man die Überlegungen zur kritischen Sozialen Arbeit als Grundlage, so wird hier für die Soziale Arbeit politisches Handeln als zentrale Aufgabe definiert. Um marginalisierte Menschen nachhaltig zu unterstützen, ist es notwendig, Macht- und Ungleichheitsverhältnisse sowie Strategien und Prozesse, die diese Verhältnisse kontinuierlich reproduzieren, zu thematisieren und zu skandalisieren. Dabei versteht sich die Soziale Arbeit als „politische Akteurin“ (Bettinger 2013, S. 101), die an der politischen Gestaltung des Sozialen selbst mitwirkt und den Bürger:innen eine Einmischung in Politik und Mitwirkung an der Gestaltung des Sozialen ermöglicht. 5
Fazit
Im vorliegenden Beitrag ist deutlich geworden, dass die deutsche Flüchtlingspolitik so restriktiv ist, dass sich seit 2015/2016 zahlreiche Institutionen, u. a. auch Kirchen und Verbände, dazu aufgerufen sahen, deutlich Kritik zu äußern. Kritisiert wird der Umstand, dass faire Asylverfahren zunehmend eingeschränkt und teilweise an Flughäfen oder auch in Massenlagern an den europäischen Außengrenzen systematisch verhindert werden. Eine sorgfältige Prüfung des Einzelfalls ist für viele geflüchtete Menschen auf diese Weise nicht mehr möglich. Es kommt hinzu, dass die Lebensbedingungen von Geflüchteten, die sich noch im Asylverfahren befinden, äußerst diskriminierend sind. Fach- und Führungskräfte, die in der (christlichen) Sozialen Arbeit tätig sind, sammeln in ihrer täglichen Arbeit Erfahrungen und Kenntnisse zur Lebenssituation von geflüchteten und weiteren Personen, denen aufgrund ihres Migrationshintergrundes Marginalisierung widerfährt. Sie bieten Hilfen an, die ihre Adressat:innen in ihrer Autonomie und Selbstbestimmung bestärken. Sie nehmen aber auch das persönliche, sozialräumliche, gesellschaftliche und politische Umfeld in den Blick. Strukturelle Benachteiligungen werden dabei hin-
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terfragt und skandalisiert. Fach- und Führungskräfte der Sozialen Arbeit sind Sprachrohr ihrer Adressat:innen und unterstützen sie dabei, auch selbst für ihre Rechte zu kämpfen. Gleichzeitig haben sie auch ein Mandat für die Aufnahmegesellschaft und wirken an der konstruktiven Gestaltung des Zusammenlebens in der Migrationsgesellschaft durch die unterschiedlichsten Institutionen und Organisationen der Sozialen Arbeit mit. Die christliche Soziale Arbeit basiert dabei auf mehreren Grundlagen: Dies sind zum einen ihre theologischen Grundlagen sowie die entsprechenden Positionen der christlichen Kirchen. Aber auch fachwissenschaftliche und zivilgesellschaftliche Positionen, die sich auf die Menschenrechte berufen, stellen einen Bezugspunkt dar. Aus diesem Grund sollte konfessionelle Soziale Arbeit daher nie ausschließlich jenen Denkansätzen folgen, die sich lediglich auf die individuelle Ebene beziehen, sondern sollte immer politisch sein. Solange Menschen aufgrund ihres rechtlichen Status marginalisiert und ausgegrenzt werden, ihnen also die gesellschaftliche Teilhabe, Wohlergehen und Privatsphäre, das Recht auf Familie und innerstaatliche Freizügigkeit, das Recht auf Bildung und Arbeit eingeschränkt werden, muss eine christlich orientierte Soziale Arbeit politisch sein. Diese Positionen können und sollten auch ganz konkrete und detaillierte Vorschläge beinhalten, die die Lebenssituation ihrer Adressat:innen verbessert. Dabei ist selbstverständlich auch das Leben aller Mitglieder in der Migrationsgesellschaft in den Blick zu nehmen. Dies ist eine komplexe Herausforderung, bei der eine Polarisierung vermeintlicher gesinnungs- versus verantwortungsethischer Positionen sicher nicht weiterhilft. Vor dem Hintergrund christlicher Werte sollte es doch eher darum gehen, auf der Grundlage einer soliden Diskursethik in einer kritischen und differenzierten Weise gute Argumente zusammenzutragen und konstruktive Vorschläge zu erarbeiten, in der verschiedene Perspektiven ausreichend berücksichtigt werden – die der Zugewanderten und die der aufnehmenden Gesellschaft. Die Politik ist dann gefragt, diese Positionen in den Blick zu nehmen, sie zu verhandeln und in demokratischen Prozessen gut durchdachte Entscheidungen zu treffen. Polarisierungen helfen hier gewiss nicht weiter, auch wenn es immer Streitpunkte in diesem Feld geben wird. Literatur Behloul, S. M. (2018): Gastfreundschaft im Christentum und im Islam. Zwei Religionen mit „Migrationshintergrund“ in ihrem Umgang mit Fremdheit. In: H.-P. von Däniken/M. Kamm (Hg.): Gastfreundschaft und Gastrecht. Eine universelle kulturelle Tradition in der aktuellen Migrationsdebatte (S. 39–60). Zürich. Bettinger, F. (2013): Kritik sozialer Arbeit – Kritische Soziale Arbeit. In: B. Hünersdorf (Hg.): Was ist und wozu betreiben wir Kritik in der Sozialen Arbeit. Disziplinäre und interdisziplinäre Diskurse (S. 87–107). Wiesbaden.
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46 Menschen mit Behinderungserfahrungen Sabine Schäper
1
Einleitung
Die Sorge für und Pastoral mit Menschen mit Behinderungen hat in den christlichen Kirchen eine lange Tradition. Dabei steht jedoch einem breiten diakonischen Engagement eine Sprach- und Ortlosigkeit sowohl auf der Seite der Gemeinden als auch in der Theologie gegenüber. Zunächst: Unter den Dächern des Diakonischen Werkes der Evangelischen Kirche in Deutschland und des Deutschen Caritasverbandverbandes versammeln sich zahlreiche Träger von Einrichtungen und Diensten der sog. Behindertenhilfe: Die Zentralstatistik des Deutschen Caritasverbandes weist für das Jahr 2018 im Handlungsfeld Behindertenhilfe/Psychiatrie 2.308 Einrichtungen und Dienste mit 117.441 Plätzen nur im stationären und teilstationären Bereich aus. Hinzu kommt eine Vielzahl von Adressat:innen offener Beratungsangebote und ambulanter Betreuungsformen im Bereich Wohnen. Die Einrichtungen und Dienste der Caritas im Feld Behindertenhilfe/Psychiatrie beschäftigen 83.118 hauptamtlich Mitarbeitende (DCV 2020, S. 4). Das Diakonische Werk hielt im Jahr 2018 in Deutschland 192.343 Plätze in der sog. Behindertenhilfe vor (Diakonie Deutschland 2019, S. 4). Zusammengenommen befanden sich zu Beginn der 2000er Jahre etwa 66 % der von Wohlfahrtsverbänden getragenen Einrichtungen und Dienste der sog. Behindertenhilfe in kirchlicher Trägerschaft (Boeßenecker 2005, S. 58). Auch wenn die Zahl privater Anbieter im sozialen Sektor in den letzten 20 Jahren zugenommen hat, kann davon ausgegangen werden, dass die Kirchen nach wie vor zu den größten Anbietern in der sog. Behindertenhilfe gehören. In der pastoralen Wirklichkeit der Gemeinden spielen jedoch Menschen mit Behinderungserfahrungen weiterhin eher eine randständige Rolle. Die diakonischen Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen sind gerade nicht aus den Gemeinden heraus gegründet worden, sondern außerhalb, durch engagierte Einzelpersonen, häufig durch Pfarrer oder durch Ordensgemeinschaften. Sie
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haben damit aber sekundär zur „Auswanderung“ der Diakonie als kirchliche „Zweitstruktur“ aus den Gemeinden beigetragen. In der Sozialgeschichte der letzten 250 Jahre spiegelt sich die Ambivalenz zwischen der Sorge für Menschen mit Behinderungen und ihrer Be-sonderung in der Gründung der Vielzahl von Anstalten und Komplexeinrichtungen, wie sie bis heute die Landschaft der sog. Behindertenhilfe prägt. Das im Jahr 2018 verabschiedete Bundesteilhabegesetz (BTHG) stellt die Personenzentrierung der Hilfen gegenüber der traditionellen Institutionsorientierung in den Vordergrund – dies allerdings bei gleichzeitiger mehrfacher Betonung der Notwendigkeit einer „Begrenzung der Ausgabendynamik“ in der Gesetzesbegründung. 1 Dass damit die Widersprüche keineswegs aufgehoben sind, wird im letzten Absatz dieses Beitrags zu problematisieren sein, der aktuelle Herausforderungen skizziert. Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2 markiert eine Wende von einem individualistisch verkürzten Behinderungsbegriff hin zu einem bio-psycho-sozialen Modell von Behinderung und stellt Menschen mit Behinderungen als handlungsfähige Rechtssubjekte ins Zentrum, die über ihr Leben selbst bestimmen. Die Vertragsstaaten verpflichten sich zu weitgehenden politischen und rechtlichen Vorkehrungen mit dem Ziel der „vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft“ (Präambel der UN-Behindertenrechtskonvention). Die UN-BRK hat im theologischen und kirchlichen Raum in den letzten 15 Jahren zu einer stärkeren Beschäftigung mit Fragen von Behinderung und den Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen beigetragen. 2
Behinderungsbilder und Behinderungserfahrungen: historische Entwicklungslinien
Die Geschichte der Kirchen im Blick auf Menschen mit Behinderungen ist durch ein äußerst ambivalentes Nebeneinander von barmherzigem Engagement für Menschen mit Behinderungen einerseits und der mehr oder minder aktiven Beteiligung an Exklusionsmechanismen und entwertenden Praktiken andererseits geprägt. Auch kirchliches Handeln stand immer unter dem Einfluss der jeweiligen Kultur- und Geistesgeschichte seiner Zeit (vgl. Schäfer 2016). Im Mittelalter galten Menschen mit sichtbaren Beeinträchtigungen als göttliches Mahnzeichen (lat. „monere“, mahnen) oder Hinweis auf das Wirken Gottes (lat. „monstrare“, zeigen) – der Begriff des „Monstrums“ hat hier seinen Ursprung. Die Figur der „Wechselbälge“, Kinder mit „Missbildungen“, die den Müttern vom Teufel untergeschoben wurden, steht für die weit ver1 Vgl. die Begründung zum Gesetzesentwurf zum Bundesteilhabegesetz, Bundestagsdrucksache 18/9522 (18. Wahlperiode, 05.09.2016), S. 199. https://dip21.bundestag.de/dip21/btd/18/095/ 1809522. pdf (Zugriff am 12.12.2020). 2 Die UN-Behindertenrechtskonvention trat am 03.05.2008 in Kraft. Deutschland hat die UNBRK am 24.02.2009 ratifiziert, damit ist sie für Deutschland seit dem 23.03.2009 rechtsverbindlich.
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breitete moralisierende Schuldzuweisung vor allem an die Mütter als Erklärungsmodell für das Vorkommen sichtbarer Beeinträchtigungen. Im Spätmittelalter und Übergang zur Neuzeit wächst das Interesse an Erklärungsmodellen. In den ersten Versuchen medizinischer Erklärungen im Zeitalter der Aufklärung lebt allerdings der Grundimpuls des Exorzismus fort: Auch der Medizin geht es um „das Austreiben von Etwas (seiʼs ein böser Geist oder ein Bazillus) mittels auf diesen hin zugerüsteter Antidota (seiʼs Weihwasser oder Penicillin) unter weitestgehender Ausschaltung des Subjekts“ (Kobi 1980, S. 73). Die Faszination, die medizinische Erklärungen im Zuge der Verwissenschaftlichung des Verständnisses von Behinderung auslösten, findet ihre menschenverachtende Kehrseite in den Ideologien von Sozialdarwinismus und Eugenik, die als Wegbereiter der Massenvernichtung von Menschen mit Behinderungen in den sog. „Euthanasie“-Verbrechen des Nationalsozialismus gelten. Die Kirchen waren auch hier nicht nur auf der Seite der Opfer: Neben öffentlichen Protesten von Amtsträgern, unter denen die Predigten Kardinal von Galens im Sommer 1941 wohl am bekanntesten sein dürften, haben Vertreter:innen der Kirchen Grundgedanken der Eugenik auch befürwortet und kirchliche Einrichtungen mit dem Regime kollaboriert, und zwar aus schlichtem Eigeninteresse, um die Institution zu schützen und/oder die Arbeit in den kirchlich getragenen Anstalten fortführen zu können. Eine eindeutige und einhellige gemeinsame politische Positionierung gegen die „Euthanasie“-Verbrechen blieb aus, aktiver Widerstand gegen die Tötung oder die Transporte in Tötungsanstalten blieb die Ausnahme. 3 Die Nähe vieler kirchlicher Akteure zur rassistischen und „eugenischen“ Ideologie des Nationalsozialismus fand hier oftmals unheilvolle Kontinuität (Lob-Hüdepohl/ Eurich 2018, S. 11) bis hin zur Mittäterschaft an den Verbrechen der „Euthanasie“ (S. 15). So war das Schicksal von Menschen mit Behinderungen auch in kirchlich getragenen Anstalten im Ergebnis in hohem Maße von der individuellen Haltung der Leitungsverantwortlichen, politisch-strategischen Überlegungen und regionalen Bedingungen abhängig. Die Nachkriegsjahrzehnte waren durch eine zunehmende Inkorporation der weitergeführten bzw. wiederaufgenommenen Arbeit der Einrichtungen in die staatliche Wohlfahrtspolitik geprägt. Durchaus zu beiderseitigem Vorteil erlebte die Institutionalisierung des Engagements der Kirchen für Menschen mit Behinderungen unter wohlfahrtsstaatlicher Unterstützung eine erhebliche Ausweitung. Im Innern der Einrichtungen zeigten sich aber die gewaltförmigen VerhältnisDie Arbeit von Nowak (1980) stellt die widersprüchlichen Tendenzen kirchlichen Handelns in der Auseinandersetzung mit den Verbrechen der NS-Diktatur dar, während Wittmann (2019) eher positiv aufzeigen will, „inwieweit Bekenntnis, Verhalten und Protest kirchlicher Amtsträger in Zusammenhang standen, wie Protest, wenn er stattgefunden hat, geäußert wurde und was er bewirkte“ (Wittmann 2019, S. 99). Klee hat zahlreiche Originaldokumente zu den „Euthanasie“-Verbrechen zusammengetragen, die sowohl das lange (öffentliche) Schweigen, die Mittäterschaft in Form theologischer Legitimationen als auch Beispiele gelungener Strategien zum Schutz von Bewohner:innen zeigen. Er betont die Bedeutung des Protestes der Kirchen, insofern „die kirchlichen Stellen der einzige Machtfaktor sind, den die Nazis bei der Euthanasie fürchten“ (Klee 1985, S. 145).
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se, die Goffman (1972) als Wirkungen „totaler Institutionen“ dechiffrierte und die im Zuge der Antipsychiatrie-Bewegung der 1970er Jahre auch öffentlich sichtbar wurden. Verbunden mit einem stärkeren Bewusstsein für die sozialen Bedingungsfaktoren von Behinderung begann ein Prozess der Enthospitalisierung und Deinstitutionalisierung, durch den aus „Anstalten“ mehr und mehr „Wohnstätten“ wurden. Die Träger setzten den Gedanken der Deinstitutionalisierung unterschiedlich konsequent um: Während einige ihre Anstaltsförmigkeit durch Auflösung von Zentralgebäuden und den Abschied von einem zentralen Anstaltsgelände konsequent beendeten, 4 blieben die Reformen bei anderen begrenzt. Dabei ist der komplexe Prozess des Deinstitutionalisierens mit der Notwendigkeit verbunden, in permanenter kritischer Selbstreflexion Strukturen und professionelle Beziehungen immer wieder insbesondere auf die darin fortlebenden Machtverhältnisse hin zu analysieren und zu verändern. 5 Fachlich flankiert wurden Prozesse der Deinstitutionalisierung durch die Abkehr von der reinen Verwahrung von Menschen hin zu Konzepten von pädagogischer Förderung und Therapie (Kaminsky 2016, S. 43). Weiterhin dominierten dabei jedoch noch lange das medizinische Modell von Behinderung und das Rehabilitationsparadigma. Zu einer breiten Auseinandersetzung mit den Gewaltphänomenen der Nachkriegsjahrzehnte auch in kirchlichen Einrichtungen kam es erst mehr als 50 Jahre später. Einen wichtigen Anstoß dazu bildete die menschenrechtliche Perspektive der UN-Behindertenrechtskonvention, die mit ihrer Betonung unveräußerlicher Rechte auch Impulse zur kritischen Selbstreflexion der kirchlichen Trägerverbände in Bezug auf die eigene Geschichte setzte (vgl. u.a. Siebert/Arnold/Kramer 2016). 3
Denkfiguren (theologisch-)anthropologischen Nachdenkens über Behinderung
Nicht zufällig sind es Theolog:innen, die selbst mit einer Behinderung leben, die die christliche Anthropologie am deutlichsten mit der Tendenz zum Paternalismus konfrontierten, indem sie Gott selbst als „behindert“ zu denken wagten und eine „Befreiungstheologie der Behinderung“ formulierten. 6 In Deutschland steht vor allem der evangelische Theologe Ulrich Bach, der viele Jahre als Pfarrer in einer diakonischen Anstalt tätig war, für eine differenzierte und engagierte (Sprach-) Kritik an der Ausgrenzung und Entwertung von Menschen Als Beispiel kann die Diakonische Stiftung Alsterdorf, ehemals „Alsterdorfer Anstalten“ in Hamburg gelten, die in den 1980er und 1990er Jahren das Anstaltsgelände auflöste und den Gedanken der Gemeinweseneinbindung konsequent verfolgte – ein Prozess, der bis heute nicht abgeschlossen ist. 5 So das Ergebnis der Analyse von Deinstitutionalisierungsprozessen in der sog. Behindertenhilfe bei Glasenapp, der die damit verbundene Herausforderung im Ausbalancieren des Spannungsfeldes „von Sicherheit und Freiheit“ sieht (Glasenapp 2010, S. 291). 6 Liedke (2009) hat Grundlinien einer theologischen Anthropologie der „Behinderung“ seit den 1980er Jahren historisch differenziert nachgezeichnet und auf der Basis eine relationale und inklusive theologische Anthropologie „für Menschen mit und ohne Behinderung“ entwickelt. 4
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mit Behinderungen als ein „Apartheitsdenken“, das vielfach auch theologisch legitimiert werde (Bach 2006, S. 21). Er plädiert für eine „Theologie nach Hadamar“, die sich der historischen Schuld der sog. „Euthanasie-Verbrechen“ stellt und als kontextuelle Theologie im Sinne eines theologischen Nachdenkens in einem bestimmten – hier: von Behinderungserfahrung geprägten – Kontext und auf einen bestimmten – hier: Exklusionserfahrungen in der Gesellschaft – Kontext hin. Dabei spielt die kritische Auseinandersetzung mit einer weit verbreiteten Spielart der Rezeption der Wundererzählungen im Neuen Testament eine wichtige Rolle. So kann etwa die Aufforderung, „Arme, Krüppel, Lahme und Blinde“ einzuladen, die der Evangelist Lukas Jesus von Nazareth in den Mund gelegt hat (Lk 14,13), sowohl als Aufforderung zur Solidarität als auch als Betonung der Differenz zwischen „Freunden und Brüdern“ und den „Anderen“ gelesen werden, in der Menschen mit Beeinträchtigungen für das Seelenheil der Angesprochenen instrumentalisiert werden (Schiefer Ferrari 2012, S. 14). Als eigentliche Pointe der Wundererzählungen kann indes die Verwandlung, die bei den Umstehenden initiiert werden soll, betrachtet werden: „Jesus entgrenzt bestehende Gemeinschaften, indem er mit dem Ausgegrenzten gemeinsame Sache macht. Er tut dies mit der Zumutung an das bestehende Kollektiv, sich entsprechend zu verändern“ (Fuchs 2012, S. 24). Die zentrale Veränderung, das „Wunder“, findet in dieser Lesart eher bei den scheinbar Unbeteiligten statt – mindestens aber im kommunikativen Raum zwischen den „Betroffenen“ und den scheinbar „Nicht-Betroffenen“. Das Buch „Der behinderte Gott“ von Nancy Eiesland wurde im deutschsprachigen Raum lange kaum wahrgenommen und erst 2018 vollständig ins Deutsche übersetzt (Eiesland 2018). Auch sie kritisiert die vielen Spielarten einer „behindernden Theologie“ (Eiesland 2018, S. 87), die körperliche Beeinträchtigung mit kultischer Unreinheit gleichsetzt, das geduldige Ertragen zur tugendhaften Auszeichnung behinderten Lebens erklärt und die vermeintlich Nicht-Behinderten zu einem barmherzigen Herabneigen ermuntert. Dem stellt sie das Bild des am Kreuz gebrochenen Leibes Christi als Verkörperung des „behinderten Gottes“ gegenüber, das es erlaubt, „Menschen mit Behinderungen als theologische Subjekte und Akteure“ wahrzunehmen (Eiesland 2018, S. 113). Es führt sowohl zu politischen Transformationen als auch zu Resymbolisierungen als „Dekonstruktion von vorherrschenden symbolischen Bedeutungen und eine Einführung von Symbolen, die eine befreiende Wirkung für die marginalisierte Gruppe und eine verunsichernde für die herrschende Gruppe haben“ (Eiesland 2018, S. 123). Das soziale Modell von Behinderung wird hier wie bei anderen Theoretiker:innen der sog. Disability Studies zu einem kulturellen Modell weiterentwickelt (Waldschmidt 2005). Es richtet den Fokus auf Sinnstrukturen und Zuschreibungen von disability und ability und sucht eine ontologisierende Differenzierung zwischen „uns“ (Menschen ohne Behinderungen) und „den anderen“
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(Menschen mit Behinderungen), die sich auch in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Phänomen Behinderung spiegelt, zu überwinden. Demgegenüber gilt es, körperliche Differenz als weit verbreitete Lebenserfahrung zu begreifen und sich verstärkt mit den Wirkungen von Behinderung als Differenzkategorie und den daraus resultierenden Differenzlinien zu beschäftigen. 4
Aktuelle kirchliche Positionen
Die Deutsche Bischofskonferenz hat im Jahr 2003 – auf ein Urteil des Bundesgerichtshofes (18.06.2002) antwortend, das die Geburt eines Kindes mit körperlichen Fehlbildungen als „Schadensfall“ wertet – nicht nur das unbedingte Lebensrecht von Menschen ungeachtet jeder Beeinträchtigung reklamiert, sondern sich mit dem Bischofswort „unbehindert Leben und Glauben teilen“ für eine Stärkung der ethischen Kompetenz „für ein lebensförderndes Zusammenleben“ aller Menschen eingesetzt (DBK 2003, S. 8). „Jeder Mensch ist mit seiner je einmaligen Lebensgeschichte eine Bereicherung für alle, die ihm als mitmenschliches Du begegnen und mit ihm die Freude, aber auch Nöte und Sorgen des Lebens teilen […]. Jeder Mensch ist ein Geschenk Gottes. Dies gilt für behinderte und nichtbehinderte Menschen. Ihnen allen kommt eine absolut gleiche, unverlierbare Würde zu“ (DBK 2003, S. 17).
Eine Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland betont die Würde des Menschen als „unverlierbare Gabe Gottes, nicht abhängig von Eigenschaften oder Lebensbedingungen“ (EKD 2014, S. 39). Diese Aussagen markieren inzwischen einen breiten Konsens innerhalb kirchlicher Stellungnahmen beider Konfessionen. Die Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz aus dem Jahr 2019 folgt einer biografischen Perspektive und beschreibt die Auseinandersetzung mit Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen und ihren Familien von der vorgeburtlichen Zeit bis zur Begleitung am Lebensende als Aufgabe kirchlicher Pastoral „im Zusammenwirken von Menschen mit und ohne Behinderungen“ (DBK 2019). Die Kirchen haben den Auftrag, „inklusive Kirche“ zu sein, zumindest proklamatorisch aufgenommen und in konkrete Arbeitshilfen übersetzt (DBK 2019; EKiR 2013). Es braucht indes noch vielfältige Bemühungen und Aktivitäten, um diesem Anspruch umfassend auch in der eigenen Praxis gerecht zu werden. 5
Inklusion als Leitidee für diakonisches Handeln
Im gesellschaftlichen Diskurs um Inklusion spiegelt sich die Spannung zwischen dem unhintergehbaren Anspruch auf gleichberechtigte Teilhabe aller an allen gesellschaftlichen Gütern und der Notwendigkeit, an individuelle Bedarfe angepasste – und damit latent be-sondernde – Unterstützungsarrangements sicherzustellen. Wichtig ist die Unterscheidung zwischen einem normativ (zu-
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weilen auch normativ aufgeladenen) und einem analytischen Inklusionsbegriff, der zur Beschreibung von Inklusions- und Exklusionsmechanismen dient. Dabei weisen sowohl systemtheoretische als auch strukturtheoretische Überlegungen im Anschluss an Bourdieu und Foucault auf den Widerspruch hin, dass inklusive Verhältnisse so zu gestalten sind, dass sie zugleich der Heterogenität gerecht werden. Anders gesagt: Inklusion bedeutet, Gleichheit und Differenz zugleich zu denken und ein Zusammenleben in Gleichheit und Differenz zu gestalten. Inklusion ist damit notwendig prozessual zu denken und an ein hohes Maß an kritischer Selbstreflexivität gebunden, um strukturelles „making dis/ability“ und interaktives „doing dis/ability“ (Waldschmidt 2008, S. 5808) zu überwinden. Liedke (2018) skizziert ein (sozial-) ethisches Verständnis von Inklusion als „kommunikative Freiheit“ aus einer Haltung der Anerkennung der/des Anderen in ihrer/seiner Andersheit heraus. Eine Anerkennung, die von Gerechtigkeit getragen ist, geht über Diversitätssensibilität hinaus, indem sie Heterogenität ausdrücklich wertschätzt, einschließlich der Achtung moralischer Diversität in einer pluralistischen Gesellschaft. Dieses Inklusionsverständnis führt prozedural in eine diskursethische Perspektive: Was aus der Leitidee Inklusion jeweils für das konkrete Handeln abzuleiten ist, lässt sich erst in kommunikativer Verständigung der jeweils Beteiligten bestimmen und diskursiv aushandeln. Dieses Verständnis von Inklusion ist in hohem Maße anschlussfähig an die Aussagen der UN-Behindertenrechtskonvention, die nicht bestimmte Verhältnisse vorschreibt, sondern die Staaten zu Vorkehrungen verpflichtet, die Wahlmöglichkeiten und Optionen offenhält, die jeweils in der Situation von den Menschen selbst gewählt werden können: Jeder Mensch soll u.a. frei wählen können, wo und mit wem er wohnen möchte, und niemand darf gezwungen werden, in einer besonderen Wohnform zu leben (Artikel 19 UN-BRK). Und jeder Mensch soll lebenslang gleichberechtigten Zugang zu allen Bildungsangeboten (Art. 24 UN-BRK) und zu umfassender gesundheitlicher Versorgung haben (Art. 25 UN-BRK). Aufgabe des Staates ist es, Vorkehrungen für solche Wahlmöglichkeiten zu treffen. 6
Diakonie-theoretische Perspektiven: Diakonisches Handeln als Handeln unter Widersprüchen
Ambivalenzen und Spannungsfelder durchziehen die bisherige Praxis der Auseinandersetzung der Kirchen mit dem Phänomen Behinderung. Die Überlegungen zeigen, dass diesen Ambivalenzen nicht zu entkommen ist; es gilt vielmehr, die Spannungsfelder differenziert zu verstehen und in ihnen handlungsund entscheidungsfähig zu bleiben. Diakonisches Handeln bleibt notwendig Handeln unter Widersprüchen, indem es
Menschen mit Behinderungserfahrungen
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– die Spannung von Gleichheit und Differenz theologisch-anthropologisch durchdringt und jede irreführende Mystifizierung von Behinderung vermeidet, – Mechanismen der Reproduktion von Be-hinderung und Be-sonderung im eigenen Handeln permanent kritisch reflektiert, – selbst ent-hindernde Strukturen schafft und befördert, in denen Menschen mit Behinderungserfahrung gleichberechtigt an allen Vollzügen kirchlichen und gemeindlichen Lebens teilhaben, – die „verborgene Geschichte“ der Behinderung und der Menschen mit Behinderungen in der Kirche (Eiesland 2018, S. 124) in den Mittelpunkt der eigenen Aufmerksamkeit rückt, – eine kontextuelle Theologie stark macht, die Begrenztheit und Beeinträchtigung als Merkmal allen menschlichen Lebens und damit Behinderungserfahrung achtet und auf dieser Grundlage an einer Umgestaltung und Weiterentwicklung kirchlicher Praxis als inklusive Kirche arbeitet. Literatur Bach, U. (2006): Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar. Neukirchen-Vluyn. Boeßenecker, K.-H. (2005): Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege. Weinheim/München. DBK (Deutsche Bischofskonferenz) (2003): unBehindert Leben und Glauben teilen. Wort der deutschen Bischöfe zur Situation der Menschen mit Behinderungen (12.03.2003). https://www.dbk.de/fileadmin/redaktion/veroeffent lichungen/deutsche-bischoefe/DB70.pdf (Zugriff am 15.09.2021). DBK (Deutsche Bischofskonferenz) (2019): Leben und Glauben gemeinsam gestalten. Kirchliche Pastoral im Zusammenwirken von Menschen mit und ohne Behinderungen. Bonn. DCV (Deutscher Caritasverband e.V.) (2020): Die katholischen sozialen Einrichtungen und Dienste der Caritas (Einrichtungsstatistik Stichtag 31.12.2018). https://www2.caritas-statistik.de/startseite-statistik/zentralstati tik/ (Zugriff am 14.02.2021). Diakonie Deutschland (2019): Einrichtungsstatistik 2018. https://www.diakon ie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Statistiken_PDF/09_2019_Ein richtungsstatistik_2019_Web.pdf (Zugriff am 12.12.2020). Eiesland, N. (2018): Der behinderte Gott. Anstöße zu einer Befreiungstheologie der Behinderung. Würzburg (engl. Originalausgabe [1994]: The Disabled God. Toward a Liberatory Theology of Disability. Nashville). EKD (Evangelische Kirche in Deutschland) (Hg.) (2014): Es ist normal verschieden zu sein. Inklusion leben in Kirche und Gesellschaft. Eine Orientierungshilfe des Rates der EKD. Gütersloh. EKiR (Evangelische Kirche im Rheinland) (2013): Da kann ja jede(r) kommen – Inklusion und kirchliche Praxis. Eine Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche im Rheinland. Düsseldorf.
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S. Schäper
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47 Psychiatrie-Erfahrene Sigrid Graumann
1 1.1
Arbeit mit Psychiatrie-Erfahrenen Selbsthilfe und politische Interessensvertretung
„Psychiatrie-Erfahrene“ ist eine Selbstbezeichnung von Personen, die in psychiatrischer Behandlung sind oder waren; sie wird bewusst der medizinischpsychiatrischen Sicht auf Patient:innen gegenübergestellt. „Gerade wir – und nur wir mit unseren Erfahrungen! – können unsere Bedürfnisse und Interessen artikulieren“, heißt es in einer Selbstdarstellung (Heuchemer 2016, S. 5). Mit der Verwendung des Begriffs in diesem Beitrag soll dem Anspruch der gleichberechtigten Zusammenarbeit mit Psychiatrie-Erfahrenen in Psychiatrie und Sozialpsychiatrie Ausdruck verliehen werden. Mit der Gründung der Deutschen Gesellschaft für soziale Psychiatrie (DGSP) und der Aktion Psychisch Kranke e.V. Anfang der 1970er Jahre entstanden politische Interessensvertretungen, die sich für eine grundlegende Reform der psychiatrischen Unterstützungsstruktur einsetzten. In der Aktion Psychisch Kranke e.V. waren Vertreter aller Interessensgruppen, insbesondere auch Psychiatrie-Erfahrene und Angehörige, vertreten (Kumbier/Haack/Hoff 2013, S. 40 f.). Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener, der 1992 gegründet wurde, ist der größte Dachverband ehemaliger und aktueller Psychatriepatient:innen. Er ist sowohl politische Interessenvertretung als auch Selbsthilfeorganisation. Sein Anliegen ist es, die „eigenen Sichtweisen und Erfahrungen mit der Psychiatrie in all ihren Formen zum Ausdruck zu bringen, eigene Ziele und Forderungen in der Öffentlichkeit zu formulieren und ihre Interessen durchzusetzen“ (Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V.). Dieses dezidiert politische Selbstverständnis ist in der historischen Erfahrung von Missachtung, Entmündigung und Entrechtung begründet und prägt das Selbstverständnis der PsychiatrieErfahrenen-Bewegung bis heute.
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„Wir pochen darauf, dass wir in unserer Andersartigkeit oder während einer Krise nicht auf Symptome reduziert, sondern als Menschen mit all unseren Bürgerrechten respektiert werden. Und wir möchten zeigen, dass Anderssein oft mit wertvollen Fähigkeiten und besonders ausgeprägter Sensibilität einhergeht“ (Heuchemer 2016, S. 5).
Psychiatrie-Erfahrene bieten Peer-Beratung an, vermitteln als Patientenfürsprecher:innen zwischen Patient:innen und Behandler:innen und wirken als Mitglieder in sogenannten Besuchskommissionen mit, die prüfen, ob gesetzliche Regelungen der Psychisch-Kranken-Gesetze der Länder (PsychKG) in psychiatrischen Kliniken eingehalten werden. 1.2
Leben mit einer psychischen Erkrankung
Psychische Erkrankungen können Wahrnehmen, Denken, Fühlen, Antrieb und Verhalten verändern. Das macht Angst – den davon betroffenen Personen, den Personen in ihrer familiären und sozialen Umgebung, aber auch den professionell Unterstützenden (Dörner/Plog/Teller/Wendt 2002, S. 35 f.). „Wer als Patient oder als Angehöriger schon mal mit einer Erkrankung wie Depression zu tun hatte, der weiß: Es geht nicht nur um belastende Symptome, sondern es geht um alles. Um die Arbeit, Familie, Liebe. Das ganze Leben“ (Kraske 2020, S. 21).
In vielen Fällen erlebt sich die betroffene Person als krank, sucht und findet medizinische Hilfe. Es kommt aber auch vor, dass die betroffene Person die Wirklichkeit anders wahrnimmt als die Menschen in ihrer Umgebung; ihr wird zugeschrieben, keine Einsicht in die eigene Erkrankung zu zeigen, sich selbst oder andere mit ihrem Verhalten zu schädigen und dabei Schwierigkeiten zu haben, Hilfe und Unterstützung anzunehmen. Wenn es in solchen Konstellationen zu Zwangsunterbringung oder -behandlung kommt, ist dies mit Grundrechtseingriffen verbunden, für deren Rechtfertigung zunehmend strengere Voraussetzungen gelten (Brosey/Osterfeld 2015). Viele Psychiatrie-Erfahrene sind vom Verlust von Arbeit, Wohnung und des sozialen Umfelds bedroht oder betroffen. Viele haben – oft traumatische – Erfahrungen mit Zwangseinweisungen und Zwangsbehandlungen gemacht. Sozialpsychiatrische Angebote zielen darauf, soziale Ausgrenzung von PsychiatrieErfahrenen zu verhindern, dem Einsatz von Zwangsmaßnahmen vorzubeugen und sie bei ihrer Wiedereingliederung in die Gesellschaft zu unterstützen. 1.3
Angebote für Psychiatrie-Erfahrene in Caritas und Diakonie
Die Aufgaben sozialpsychiatrischer Unterstützungen gehen weit über die medizinische, somatische und psychotherapeutische Behandlung hinaus und umfassen vielfältige soziale Dienste wie Begegnungsstätten, Beratungsangebote, betreute Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten. Es bedarf eines angemessenen Verständnisses der Lebenswelten, aber auch des Leids von Psychiatrie-Erfahre-
Psychiatrie-Erfahrene
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nen, um solche Angebote bedarfsgerecht zu gestalten. Ohne multidisziplinäre Perspektiven unter direktem Einbezug der Psychiatrie-Erfahrenen ist das kaum möglich (Clausen/Eichenbrenner 2016, S. 11 f.). Die Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie e.V. (CBP) begleitet mit 1.100 Mitgliedseinrichtungen und ca. 94.000 Mitarbeitenden rund 200.000 Menschen mit Behinderungen und Psychiatrie-Erfahrungen (https://www.cbp.caritas.de/). Der Bundesverband evangelischer Behindertenhilfe (BEB) hält mit 600 Mitgliedseinrichtungen und mehr als 80.000 Mitarbeitenden Dienste und Angebote für mehr als 100.000 Menschen mit Behinderung oder psychischer Erkrankung aller Altersstufen und Behinderungsgrade vor (https://beb-ev.de/). Die Dachverbände haben Angehörigenbeiräte, der BEB hat zusätzlich auch einen Beirat der Menschen mit Behinderung und psychischer Erkrankung. Beide Verbände vertreten heute eine personenzentrierte Sichtweise und beziehen Psychiatrie-Erfahrene aktiv in ihre Gremienarbeit ein. Bis sich dies durchsetzen konnte, war es jedoch ein langer Weg. 2
Psychiatriegeschichte, -kritik und -reform
2.1 Geschichte der Anstaltspsychiatrie Im christlichen Mittelalter wurde die Ursache psychischer Auffälligkeiten auf das Wirken von Dämonen und teuflischen Kräften zurückgeführt. Dass die Seele krank sein könnte, hätte dem Glauben an deren Unsterblichkeit widersprochen. Zuständig für die Versorgung der „Wahnsinnigen“ war grundsätzlich die Familie. Wer freilich nicht mit familiärer Solidarität rechnen konnte und dazu noch als gefährlich galt, wurde zunehmend ausgesondert. Seit dem 14. Jahrhundert entwickelten Städte besondere Einrichtungen, die der Absonderung der „Irren“ dienten. So wurden als aggressiv und gefährlich geltende Geisteskranke beispielsweise in Doren- und Tollkisten eingesperrt. Daneben konnte alleinstehenden, mittellosen Personen die Verbannung drohen, wenn sie nicht in Klöstern, zu deren Aufgaben die mildtätige Sorge für Bedürftige gehörte, aufgenommen wurden (Brückner 2020, S. 27 f.). Im Spätmittelalter entstanden in einigen christlichen Spitälern Abteilungen für „Wahnsinnige“. In der Reformationszeit wurden etwa im evangelischen Hessen mit den Hohen Hospitälern neue Fürsorgeeinrichtungen gegründet. „Es war von epochaler Bedeutung, dass relativ gute Bedingungen für Arme geschaffen und psychisch Kranke sowie Menschen mit körperlicher wie geistiger Behinderung ausdrücklich in die Versorgung einbezogen wurden. Seelsorge und – nachrangig – medizinische Versorgung, gute Ernährung, warme Kleidung, ein eigenes Bett und gemeinschaftliche Aktivitäten prägten das Leben in den Einrichtungen“ (Schäfer 2021, S. 211). Ideen vom „Kranksein des Geistes“ gehen auf die Renaissancemedizin zurück, konnten sich in der Breite aber erst im 19. Jahrhundert durchsetzen. Naturwis-
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senschaftlich-medizinische und philosophisch-psychologische Erklärungen psychischer Erkrankungen standen in Konkurrenz zu einander (Dörner 1984, S. 251). Die Zahl psychisch-kranker und verelendeter Menschen in den Städten nahm zu und der Staat begann „die öffentliche Fürsorge für die Irren der Gesellschaft systematisch zu betreiben“ (Dörner 1984, S. 263). Es wurden zahlreiche psychiatrische Heil- und Pflegeanstalten gegründet – nur ein kleinerer Teil davon, regional unterschiedlich, in kirchlicher Trägerschaft. Die Anstalten übernahmen nicht nur einen medizinischen und sozialen, sondern auch einen disziplinierenden und ordnungspolitischen Auftrag. Mehrheitlich waren sie nicht auf die Behandlung, sondern auf die Verwahrung von geistig behinderten und psychisch kranken Menschen angelegt (Clausen/Eichenbrenner 2016, S. 16 ff.). Die Auseinandersetzung mit Verantwortung und Schuld an der NS-Euthanasie, in deren Rahmen 1939–1945 etwa 200.000 Menschen ermordet wurden, die als unheilbar geisteskrank oder behindert galten, ist bis heute nicht abgeschlossen. Vereinzelter Widerstand dagegen war überwiegend nicht rechtstaatlich oder säkular-humanistisch, sondern konservativ-christlich begründet (Aly 2013, S. 37 f.). Festzuhalten ist aber auch, dass insbesondere die Innere Mission an Idee und Konzepten der Eugenik aktiv mitwirkte. Die NS-Praxen der Zwangssterilisationen und Euthanasie wurde in den kirchlichen Anstalten zumindest verhalten kritisch gesehen. Dies gilt stärker für die Caritas mit ihrem geschlossen katholischen Weltbild als für die Innere Mission, die eine geringere Distanz zum NS-Staat hatte (Hammerschmidt 1999, S. 561). In den Anstalten gab es allenfalls individuellen Widerstand gegen die NS-Euthanasie, der etwa im vereinzelten Schutz von Anstaltsbewohner:innen Ausdruck fand. Eine konzertierte Weigerung, am Meldewesen und den „Verlegungen“ zu den Tötungsorten mitzuwirken, gab es weder von katholischer noch von evangelischer Seite. Das staatliche Mordprogramm „Aktion T 4“ wurde nach den kritischen Predigten des katholischen Bischofs von Münster, Clemens August Graf von Galen, im August 1941 offiziell beendet; die Krankenmorde gingen jedoch mit anderen Mitteln weiter (Aly 2013, S. 174 f.). In der Nachkriegszeit behielten die psychiatrischen Anstalten in beiden deutschen Staaten zunächst den Charakter von Verwahrinstitutionen. Sozialpsychiatrische Reformbestrebungen wurden mit den Rodewischer Thesen (1963) zuerst in der DDR formuliert. Diese zeigten allerdings nur begrenzte Wirkung, auch weil „an der dominierenden Stellung des Krankenhauses und am naturwissenschaftlich-medizinischen Krankheitsverständnis“ festgehalten wurde (Richter 2001). In der BRD war die Kritik der unmenschlichen Zustände in der Psychiatrie nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit der NS-Geschichte ein wichtiges Thema der 68er Bewegung (Bühring 2001).
Psychiatrie-Erfahrene
2.2
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Psychiatrie-Enquete
1971 setzte der Bundestag die Psychiatrie-Enquete ein, die 1975 ihren Abschlussbericht vorlegte. Schwerwiegende Mängel in der Versorgung psychisch kranker Menschen und teils skandalöse Zustände in den Anstalten wurden darin detailliert beschrieben. Dies betraf auch kirchliche Einrichtungen, die integrale Bestandteile des Versorgungssystems waren. Chronisch psychisch kranke und geistig behinderte Menschen waren häufig dauerhaft in Anstalten und Heimen in diakonischer oder caritativer Trägerschaft untergebracht, die in „funktioneller Verbindung zu Landeskrankenhäusern, aus denen die Heime vorwiegend ihre Klienten beziehen“, standen (Deutscher Bundestag 1975, S. 161). Der Enquete-Bericht führte zum Anfang der Auflösung der Anstaltspsychiatrie in der BRD (nach der Wende auch in der DDR). Reformvorschläge sahen vor, die Versorgung von Menschen mit psychischen Erkrankungen und Menschen mit geistigen Behinderungen zu trennen, die psychiatrische Behandlung in die allgemeine medizinische Versorgung einzugliedern sowie komplementäre, insbesondere ambulante Dienste auf- und auszubauen, um unnötige Hospitalisierung zu vermeiden und hospitalisierte Psychiatrie-Erfahrene wieder in die Gesellschaft einzugliedern (Deutscher Bundestag 1975, S. 408 f.). Auch die Förderung von Beratungsdiensten und Selbsthilfegruppen war integraler Teil der Reformvorschläge (Deutscher Bundestag 1975, S. 16). Neben dem Betreiben einiger konfessioneller psychiatrischer Kliniken – meist dort, wo vormals die kirchlichen Anstalten angesiedelt waren – engagieren sich Caritas und Diakonie seitdem insbesondere in den komplementären sozialpsychiatrischen Feldern. Ihre Hauptzielgruppe sind Menschen mit schweren und chronischen psychischen Erkrankungen. 2.3
UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung
Durch die Verabschiedung der UN-Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderung 2006 wurden die Rechte von Psychiatrie-Erfahrenen nachhaltig gestärkt. Psychiatrie-Erfahrene gelten demzufolge „nicht mehr länger [als] Objekte medizinischer Behandlungen und psychosozialer Maßnahmen, sondern [als] selbstbestimmt agierende Subjekte“ (Prestin 2000, S. 4). Diese Entwicklung ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass Psychiatrie-Erfahrene zusammen mit anderen behinderten Menschen integraler Teil der Verhandlungsteams waren; ihre Sichtweisen und Erfahrungen konnten so den Konventionstext prägen. Die Rechte von Psychiatrie-Erfahrenen werden zum einen konkret durch verschiedene Vorschriften gestärkt, die Fremdbestimmung, Bevormundung und Zwang verhindern sollen sowie die Ermöglichung politischer Partizipation vorschreiben. Für Psychiatrie-Erfahrene heißt das, dass gesetzliche Betreuer:innen nicht über ihren Kopf hinweg entscheiden dürfen, sondern sich als Assisten:in-
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nen verstehen sollen, die ihrem Willen zum Ausdruck verhelfen. Zwangsunterbringung und -behandlung sind mit der UN-BRK nur als ultima ratio unter eng umrissenen Bedingungen vereinbar; damit verbunden ist die staatliche Verpflichtung, möglichen Missbrauch psychiatrischer Zwangsmaßnahmen zu verhindern (Deutscher Ethikrat 2018, S. 104). Zum anderen sind die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte auf die Ermöglichung eines selbstbestimmten Lebens inmitten der Gesellschaft ausgerichtet. Das betrifft Entscheidungen über Wohnform und Arbeitsplatz ebenso wie die Teilhabe an Sport und Kultur. Darüber hinaus verpflichtet die UN-BRK dazu, das gesellschaftliche Bewusstsein für die Würde und die Rechte behinderter Menschen zu fördern und allen Formen von Diskriminierung und Stigmatisierung entgegenzuwirken (Graumann 2012, S. 63 f.). 2.4
Rolle und Selbstverständnis kirchlicher Träger
Die Kirchen haben den historisch-kulturellen Wandel des Umgangs mit psychischen Erkrankungen maßgeblich geprägt. Die Wurzeln liegen in den mittelalterlich-theologischen Deutungen des „Wahnsinns“, der Tradition barmherziger Sorge für bedürftige und marginalisierte Menschen, aber auch der Kirche als Ordnungsmacht. Die Deutungshoheit psychischer Auffälligkeiten wurde im Zuge der Aufklärung an die moderne Medizin abgegeben, die Ordnungsverantwortung an den Staat. Die kirchlichen Anstalten konzentrierten sich vor allem auf die Fürsorge für unheilbar Kranke; dabei wurden staatliche ordnungsund bevölkerungspolitische Ziele mitgetragen. Heute sind die Unterstützungsangebote von CBP und BEB nicht mehr an barmherziger Wohltätigkeit, sondern an der Würde und den Rechten von Psychiatrie-Erfahrenen ausgerichtet; sie zielen auf eine selbstbestimmte und gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe ab (Tilly 2000). Die kritisch-historische Reflexion, die dahin geführt hat, verlief zum Teil zögerlich und war schmerzhaft. 3 3.1
Sozialpsychiatrie Konzepte der Sozial- und Gemeindepsychiatrie
Die Begriffe „soziale Psychiatrie“ und „Sozialpsychiatrie“, deren Ursprünge im 19. Jahrhundert liegen, sind mehrdeutig. „Sozial“ wurde und wird zum einen deskriptiv verwendet, um auf die gesellschaftliche Dimension psychischer Erkrankungen hinzuweisen (Wilhelm Griesinger 1817-1868); damit waren sowohl die Bedeutung der Lebensumstände für Entstehung und Verlauf psychischer Erkrankungen – was den Kern der heutigen Sozialpsychiatrie ausmacht – als auch das sozial-eugenische Ziel, die Gesellschaft durch die Reduktion kranker und behinderter Menschen zu entlasten, gemeint. Zum anderen wird „sozial“ bis heute aber auch normativ im Sinne einer sozialen Medizin
Psychiatrie-Erfahrene
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(Rudolf Virchow 1821–1902) verwendet (Rössler 2013; Kumbier/Haack/Hoff 2013). Mit dem Konzept der „Gemeindepsychiatrie“ ist der Anspruch verbunden, die (sozial-)psychiatrische Versorgung in die Gemeinde zu bringen und so weit wie möglich am persönlichen Lebensumfeld von Psychiatrie-Erfahrenen zu orientieren. Unterstützung soll nach Möglichkeit dort geleistet werden, wo die Person lebt (Schulte-Kemna 2015). 3.2
Biopsychosoziales Modell
Der Sozialpsychiatrie liegt konzeptionell das biopsychosoziale Modell psychischer Erkrankungen zu Grunde, welches von eindimensionalen Erklärungen psychischer Störungen etwa neurowissenschaftlicher Art abgrenzt wird (Hoff 2013). Es ist heute unstrittig, dass soziale Faktoren Entstehung und Verlauf von psychischen Erkrankungen wesentlich beeinflussen. Für Psychosen wurde gezeigt, dass sie durch psychische Belastungen und traumatische Erlebnisse begünstigt werden; die Entwicklung und Prognose schwerer Depressionen sind nachweislich gesellschaftlich ungleich verteilt (Weinmann/Becker 2019). Für die Entstehung und Entwicklung psychischer Erkrankungen hat sich das Vulnerabilitäts-Stress-Modell durchgesetzt. Demzufolge sind psychische Erkrankungen meist die Folge komplexer Wechselwirkungen zwischen biologischen, psychischen und sozialen Faktoren (Hammer/Plößl 2012, S. 15). Daran setzt die sozialpsychiatrische Versorgung als multiprofessionelle Praxis an, die stationäre und ambulante Pharmaka- und Psychotherapie ebenso umfasst, wie (gemeindepsychiatrische) Angebote von Prävention, Krisenintervention und langfristiger Begleitung. 3.3
Trialogisches Arbeiten
Das Konzept des Trialogs ist aus den sogenannten Psychose-Seminaren heraus entstanden, die 1989 in Hamburg als Gesprächskreise von Psychiatrie-Erfahrenen, Angehörigen und Psychiatriemitarbeitenden gegründet wurden (Bock 2020). Der Begriff Trialog bezeichnet in der (sozial-)psychiatrischen Versorgung das gleichberechtigte Gespräch zwischen Psychiatrie-Erfahrenden, Angehörigen und Professionellen. Es steht für eine inklusive Sicht psychiatrischen Denkens und Handelns (DGPPN 2020, S. 3). „Der Trialog ist keine ergänzende oder alternative Herangehensweise an die Versorgung von Menschen mit Krisenerfahrungen. Die Einbeziehung der Erfahrenden und Angehörigen in die Entwicklung und Durchführung von Therapiemöglichkeiten ist unabdingbar“ (Bock 2020).
Mit dem direkten Einbezug von Psychiatrie-Erfahrenen als Expert:innen konnten erhebliche Verbesserungen von Therapie- und Versorgungsangeboten auf
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institutioneller Ebene, aber auch von Krankheitsverläufen auf individueller Ebene erreicht werden. Mittlerweile sind Ausbildungen zur Ex-In-Genesungsbegleitung entstanden, in denen Psychiatrie-Erfahrene lernen, wie sie akut kranke Patient:innen begleiten und unterstützen können. Zum Teil wurden Arbeitsplätze für Ex-In-Genesungsbegleiter:innen in der stationären und ambulanten (sozial-)psychiatrischen Versorgung geschaffen (Tilly 2000). 3.4
(Sozial-)psychiatrische Versorgungslandschaft
„Die Psychiatrie hat sich in den letzten Jahrzehnten in immer differenziertere Funktionsbereiche gegliedert: der medizinischen Therapie und Behandlung, der Arbeit, des Wohnens und der soziokulturellen Teilhabe, die sich mit ihren jeweils eigenen Logiken voneinander abgrenzen“ (Armbruster/Dieterich/Hahn/Ratzke 2015, S. 22).
Die psychiatrisch-therapeutische Versorgung wird in erster Linie von psychiatrischen Abteilungen in Krankenhäusern, psychiatrischen Kliniken und RehaKliniken sowie niedergelassenen Psychiatern und Psychotherapeuten erbracht. Insbesondere bei schweren psychischen Erkrankungen dominiert die schulmedizinische Behandlung mit Psychopharmaka, die seit ihrer Entwicklung in den 1950er Jahren die Lebensaussichten vieler Psychiatrie-Erfahrener erheblich verbessert haben, aber auch mit belastenden Nebenwirkungen verbunden sind. Obwohl psychotherapeutische Angebote den Verlauf und den Umgang mit psychischen Erkrankungen und ihren psychosozialen Folgen nachweislich positiv beeinflussen können, gibt es viel zu wenige psychotherapeutische Angebote für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen (von Haebler 2020). Sozialpsychiatrische Dienste sind Angebote des öffentlichen Gesundheitssystems, die es in allen 400 Landkreisen und kreisfreien Städten Deutschlands gibt. Sie beraten Personen, die auf Grund von Symptomen einer psychischen Erkrankung Hilfe suchen, aber auch Personen aus deren familiärem und sozialem Umfeld. Ihre Aufgabe ist die Sicherstellung der Versorgung auf kommunaler Ebene; dabei nehmen sie auch ordnungspolitische Aufgaben wahr. Allerdings sind sie, einer aktuellen Studie zufolge, personell nicht gut genug ausgestattet (Elgeti 2019, S. 167 f.). Von BEB und CBP und anderen Trägern der freien Wohlfahrtspflege werden eine Vielzahl von gemeindespsychiatrisch orientierten Begegnungsstätten, Beratungsangeboten sowie betreuten Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten angeboten. Trotz eines ausdifferenzierten Systems ambulanter und stationärer, medizinischer und sozialer Angebote bekommen viele Menschen mit psychischen Erkrankungen nicht die Behandlung, Hilfe und Unterstützung, die sie brauchen: „Besonders bei Menschen mit schweren oder chronischen psychischen Erkrankungen ist häufig eine Unter- und Fehlversorgung festzustellen“ (DGPPN 2020, S. 32). Außerdem besteht bei der Umsetzung der UN-BRK noch erheblicher Handlungsbedarf. Dies gilt sowohl für die gesellschaftliche Inklusion von Psychiatrie-Erfahrenen als auch für ein konsequentes trialogi-
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sches Arbeiten in der (Sozial-) Psychiatrie. Die Träger unter dem Dach des Bundesverbands evangelischer Behindertenhilfe (BEB) und Caritas Behindertenhilfe und Psychiatrie (CBP) können dazu einen wichtigen Beitrag leisten. 1 Literatur Aly, G. (2013): Die Belasteten. „Euthanasie“ 1939–1945. Eine Gesellschaftsgeschichte. Bonn. Armbruster, J./Dieterich, A./Hahn, D./Ratzke, K. (2015): Wo stehen wir heute? In: dies. (Hg.): 40 Jahre Psychiatrie-Enquete (S. 16–38). Köln. Bock, T. (2020): Vom Psychoseseminar zum „mobilen Recovery-College“. Kerbe, 4, 7–9. Brosey, D./Osterfeld, M. (2015): Der Menschenrechtsdiskurs in der Psychiatrie. In: J. Armbruster/A. Dieterich/D. Hahn/K. Ratzke (Hg.): 40 Jahre Psychiatrie-Enquete (S. 376–388). Köln. Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener e.V. Satzung. https://bpe-online.de/ satzung/ (Zugriff am 06.03.2021). Brückner, B. (2010): Geschichte der Psychiatrie. Köln. Bühring, P. (2001): Psychiatrie-Geschichte. Wendepunkt 1968. Deutsches Ärzteblatt, 98 (51/52), A3435–A3436. Clausen, J./Eichenbrenner, I. (2016): Soziale Psychiatrie. Stuttgart. Deutscher Bundestag (1975): Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland – zur psychiatrischen und psychotherapeutischen/ psychosomatischen Versorgung der Bevölkerung. Drucksache 7/4200. Deutscher Ethikrat (2018): Hilfe durch Zwang? Berlin. DGPPN, Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde e. V. (2020): Dossier – Psychische Erkrankungen in Deutschland: Trialogische Perspektiven. Berlin. Dörner, K. (1984): Bürger und Irre (2. Aufl.). Frankfurt a.M. Dörner, K./Plog, U./Teller, C./Wendt, F. (2012): Irren ist menschlich. Bonn. Elgeti, H. (2019): Wohin treibt die Sozialpsychiatrie? Köln. Graumann, S. (2012): Assistierte Freiheit. Frankfurt a.M. Hammer, M./Plößl, I. (2012): Irre verständlich. Menschen mit psychischer Erkrankung wirksam unterstützen. Bonn. Hammerschmidt, P. (1999): Die Wohlfahrtsverbände im NS-Staat. Opladen. Heuchemer, P. (2016): Mehr Teilhabe für psychisch erkrankte Menschen durch Selbsthilfe in seelischen Krisen. Dachverband Gemeindepsychiatrie e.V. Köln. Hoff, P. (2013): Ethik in der Sozialpsychiatrie. In: W. Rössler/W. Kawohl (Hg.): Soziale Psychiatrie (S. 395–413). Stuttgart.
Mein Dank für ausführliche Gespräche über die sozialpsychiatrische Arbeit und das Selbstverständnis der Verbände gilt Barbara Heuerding, Geschäftsführerin des BEB, sowie Wilfried Gaul-Canjé, langjähriges Mitglied im Vorstand des CBP.
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48 TelefonSeelsorge Bernd Blömeke
TelefonSeelsorge (TS) ist Kommunikation. Sie lässt sich gemäß der Systemtheorie Niklas Luhmanns unterscheiden in: 1. situative Interaktionssysteme mit der aktuellen Präsenz der Beteiligten in einem Telefonkontakt, 2. adressable und identifizierbare Organisationssysteme in Form von TS-Stellen und TS-Bundesverbänden und 3. ihre gesellschaftliche Funktion als Antwort auf ein Problem, das die funktional differenzierte Gesellschaft aufwirft. 1
TelefonSeelsorge als situatives Interaktionssystem
Der Kern der TS ist das konkrete Telefongespräch hier und jetzt zwischen einer Anrufenden und der TS. Als Interaktionssystem lebt es von der aktuellen Präsenz beider Beteiligten, sobald der Hörer aufgelegt wird, endet es, d.h., es ist flüchtig. Die Interaktion beschränkt sich darauf, zu sprechen und einander zu hören – bzw. zu schreiben und Geschriebenes zu lesen (in der Chat- und Mail-Seelsorge). Die beiden Gesprächspartner:innen kennen einander nicht, sie haben keine gemeinsame Geschichte – dennoch (oder gerade deshalb) bringen Ratsuchende höchst persönliche, intime, beschämende Erfahrungen in das Gespräch ein. Das Fremde, der Andere sind konstitutiv für TS. Immer haben es die Telefonseelsorger:innen mit Fremdem zu tun – mit fremden Menschen, fremden Themen und Verhaltensweisen. Im Telefonat prägen sich, je länger das Gespräch geführt wird bzw. je häufiger es bei regelmäßig Anrufenden zu Kontakten mit den Mitarbeitenden der TS kommt, Kommunikationsroutinen aus, die zu blinden Flecken in der Wahrnehmung der Beteiligten führen. Daher ist Beobachtung zweiter Ordnung z.B. in Form von Supervision erforderlich. Was lässt ein Seelsorgegespräch bei so reduzierten Voraussetzungen wider Erwarten dennoch gelingen? Chad Varah, der Gründer der „Samaritans“ in Großbritannien (1953), benennt als Grundvoraussetzung von TS, einem Men-
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schen eine Zeit lang ein Freund zu sein (1966, 20 ff.). Und er entdeckt, wie gerade Laien, d.h. Non-Professionelle, auf der Basis dieser zwischenmenschlichen Qualität hilfreich sind. Eberhard Hauschildt benennt Merkmale, die ehrenamtliche Seelsorger:innen besonders auszeichnen: Sie sind „die glaubwürdigsten Vertreterinnen und Vertreter der Kirche“ und „entwickeln ein überdurchschnittlich hohes Vertrauen, eine positive Grundeinstellung in der Begegnung mit anderen Menschen“, das gilt „gegenüber Menschen in der Gesellschaft überhaupt, gegenüber Fremden und Andersartigen“ (Hauschildt 2013, S. 12). „Sie bringen zudem Kompetenzen aus ihren jeweiligen Lebenslagen und Berufen ein, über die Hauptamtliche nicht verfügen“ (Hauschildt 2016b, S. 65). Peter Fuchs greift die von Varah benannte Qualität als „Amicalität“ auf und versteht Freundlichkeit/Freundschaft, „die ein Gespräch lang dauert und sich stabil halten lässt auch bei interaktivem ‚Gegenwind‘“ (Fuchs 2016, S. 27) 1, als Medium, das die Hemmnisse für ein vertrauensvolles Telefongespräch überbrücken kann. 2
TelefonSeelsorge als adressables Organisationssystem
Wie erreichen Anrufer:innen die TS, wie kommt es zu einem Gespräch? Anders gefragt: Wie ist TS adressabel? Auf der Hand liegt: Indem man die Telefonnummer 0800-1110111 oder 0800-1110222 wählt. Jedoch gäbe es „keinen Anschluss unter dieser Nummer“, wenn nicht eine Organisation bereitstünde, die das Angebot zur Verfügung stellt. Dazu bedarf es der Entscheidung einiger Engagierter vor Ort, ein solches Angebot vorzuhalten und die dazu nötigen Mitarbeitenden sowie die erforderliche Infrastruktur bereit zu stellen. Es braucht Regeln und Vereinbarungen zur Besetzung der Dienste und darüber, was von Seiten der TS in den Seelsorge-Kontakten wichtig und was zu unterlassen ist. Das sind Merkmale einer Organisation: Sie beruht auf Entscheidungen (eine Stelle vor Ort zu gründen, als Ehrenamtliche in der TS mitzuarbeiten usw.) und auf Mitgliedschaft (der Träger stellt Hauptamtliche ein und spricht die Beauftragung der Ehrenamtlichen zum Dienst aus oder schließt im Konfliktfall jemanden vom Dienst aus). Sie gibt sich Regeln (wie Satzung, Dienstvereinbarungen, Ausbildungs- bzw. Fortbildungscurricula usw.) und hat funktional eine Hierarchie (Träger – Stellenleitung – Ehrenamtliche). Hinter all dem steht ein Leitbild von TelefonSeelsorge, das nach innen hin orientiert und nach außen hin kommuniziert, wofür TS steht – und wofür nicht. In der 65-jährigen Geschichte der TS in Deutschland wurden wichtige Bestimmungsstücke der Organisation – wie die Identität von TS, Regeln, Macht – bis 1 „Amicalität“ beschreibt er genauer in einem Interview: „Ein funktionales Äquivalent für Liebe in Inklusionssystemen muss ein de-sexualisiertes Medium sein, das wechselseitige Komplettbetreuung und Hochrelevanz ermöglicht, und das ist die Freundschaft oder Amicalität, bei der idealerweise Menschen füreinander uneigennützig große Bedeutung haben [...]. Ein weiterer Grund, diesen Begriff zu erproben, liegt darin, dass Freundschaft wie die Liebe nicht verlangbar und nicht bezahlbar ist“ (Fuchs 2011, S. 5).
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weit in die neunziger Jahre vor allem auf der Ebene der Stellen definiert, die eigenständig und unabhängig arbeiteten – und der Zusammenarbeit auf stellenübergreifender Ebene bis dahin allenfalls informelle Bedeutung zumaßen. Inzwischen sind gewichtige Bestimmungsstücke auf die Verbandsebene gewechselt. Nachdem die einzelnen Stellen unter dem inzwischen markenrechtlich geschützten Namen „TelefonSeelsorge®“, mit einheitlichen Rufnummern und im Anrufrouting vernetzt arbeiten, ist die Frage nach dem Selbstverständnis und der Identität nur noch gemeinsam zu beantworten. Die Form der Organisation ist notwendig, weil sich ohne Organisation Kommunikation nicht so stringent, wie für ein bundesweites Angebot „TelefonSeelsorge“ erforderlich, konzentrieren ließe. Andererseits bleiben Identität, Regeln, Hierarchie kontingent – d.h. sie beruhen auf Entscheidungen, sie sind so, können aber auch anders aussehen. Die Organisationsregeln stehen und fallen damit, inwieweit die Mitglieder ihnen Geltung zubilligen, sich auf die Spielregeln einlassen – und sie nicht offen oder subversiv unterlaufen. Der Preis für die konstituierte Eindeutigkeit in Selbstverständnis, Regeln, Hierarchie ist der Verlust an Alternativität und das Unsichtbarmachen der Erkenntnis, dass das System Organisation nicht einfach nach dem Modell „Input-Output“ steuerbar ist, sondern „autopoietisch“, nach eigener Gesetzmäßigkeit funktioniert. Die Organisation TS braucht daher die Beobachtung zweiter Ordnung von außen – sei es in Form von wissenschaftlichen Untersuchungen zu Aspekten der TS-Arbeit, sei es in Form von externer Organisationsberatung. TelefonSeelsorge ist Kirche zwischen den (konfessionell und organisatorisch verfassten) Kirchen am Nicht-Ort medientechnisch ermöglichter Kommunikation. Sie überschreitet in mehrfacher Hinsicht gewohnte Innen-/Außen-Grenzen und findet sich damit im Transitbereich zwischen Kirche und Welt vor. In den Anrufenden wie Mitarbeitenden trifft sie auf Menschen, die kirchlich engagiert, aber auch kirchlich entfremdet und distanziert oder ganz unerfahren sind – und bringt sie miteinander ins Gespräch. In den Telefonaten, den Mailund Chat-Kontakten wird sie an Orte, in Situationen gerufen, die der geläufigen pastoralen Praxis eher fremd sind – mitten hinein in den Ehestreit, in die aktuelle Niedergeschlagenheit, Wut oder Verzweiflung. Schon Bonhoeffer beschrieb diesen neuen Ort: „Kirche weiß wohl um ihre eigene Ortlosigkeit […]. Wo Gott die Kirche den Ort finden lässt, ist Kirchenort! […] Eigentlicher Ort der Kirche ist [die] ‚kritische Mitte der Welt‘“ (Bonhoeffer 2015b, S. 248). TelefonSeelsorge lässt sich als Gemeinde verstehen, der sowohl Anrufende wie Telefonseelsorger:innen angehören. Nicht nur für Ratsuchende, sondern auch für Ehrenamtliche ist TS ein Anders-Ort, alternativ zu der ihnen geläufigen Form von Gemeinde und Kirche. Vielfach machen die Mitarbeitenden die Erfahrung, in der TS einen Ort zu finden, an dem sie in Kontakt mit sich selbst, mit dem/der Nächsten und auf neue Art mit Gott treten können. Hermann Steinkamp spricht hier von TelefonSeelsorge als „diakonaler Gemeinde“ – im Unterschied zur „liturgischen Gemeinde“ – und vom „Gottesdienst der
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Nächstenliebe“, wo „Gott ein Tätigkeitswort“ (Steinkamp 2006, o. S.) ist. Das Selbstverständnis als Gemeinde kann die Unterscheidung zwischen Anrufenden und Telefonseelsorger:innen, zwischen Ehren- und Hauptamtlichen relativieren, auch wenn eine temporär begrenzte und funktional begründete Asymmetrie im Seelsorgekontakt zwischen Ratsuchendem und Telefonseelsorgerin besteht. 3
TelefonSeelsorge in ihrer gesellschaftlichen Funktion
Oben ist von den recht flüchtigen Bedingungen zu lesen, die ein TS-Gespräch als Interaktionssystem kennzeichnen und die eine Inanspruchnahme eigentlich eher unwahrscheinlich machen. Die Systemtheorie beobachtet die gesellschaftliche Kommunikation der/zur TelefonSeelsorge und stellt fest, dass die TS seit nunmehr 65 Jahren kontinuierlich und in großem Umfang Gespräche führt – im Jahr 2020 waren es etwa 1,2 Millionen. „TelefonSeelsorge“ ist eine Information, die der Gesellschaft mitgeteilt wird und die die Gesellschaft versteht. Auch als Organisationssystem hätte TS nicht die Jahrzehnte überdauert, wenn es nicht einen gesellschaftlichen Bedarf gäbe. Das lange Bestehen und die große Zahl an Anrufen berechtigen zu der Frage: Für welches Problem der Gesellschaft ist TelefonSeelsorge eine Antwort, eine Lösung? Welche Funktion nimmt sie in ihr wahr? Dabei wird die Funktion aus der gesellschaftlichen, also aus einer der TS externen Sicht beschrieben, weshalb sie von einer Selbstbeschreibung zu unterscheiden ist. Verstünde man TS nur als Erste-Hilfe-Station in einer Gesellschaft, die verstärkt einen Bedarf nach Beratung und Orientierung sowie danach, seelisch aufgefangen und unterstützt zu werden, hervorbringt, würde sie zwar ein Stück weit eine temporäre Entlastung ermöglichen, aber um den Preis, so die gesellschaftlichen vulnerablen Bedingungen zu stabilisieren. Zugespitzt formuliert würde die TS an den belastenden Umständen prosperieren. Eine solche Funktionalisierung bedarf eines kritischen Blicks. TelefonSeelsorge – und somit Kirche – steht unabhängig vom aktuellen Gespräch in der Gesellschaft für eine Kommunikationsofferte (vgl. Hauschild 2016a, S. 45): „TS ist für dich erreichbar – jederzeit, kostenfrei, von überall her“. Schon aus ihrem schweigenden Bereitstehen, ihrem Warten ergibt sich der Sinn von TS, nicht allein aus den stattgefundenen Gesprächen, Chats und Mailwechseln – und aus ihrer Haltung des Hörens, die so oft für die fehlenden Worte steht, von denen auch Bonhoeffer spricht: „Zuhören kann ich, aber sagen kann ich fast nie etwas“ (Bonhoeffer 2015a, S. 310). Funktion der TelefonSeelsorge ist es, Erreichbarkeit für jedermann ohne Zugangshürden zu sichern – Erreichbarkeit im technischen, im organisatorischen (Dienstplanbesetzung) Sinn, aber vor allem als Zusage der unbedingten Relevanz des Anderen, die eben nicht in dieser oder jener Hinsicht gilt, sondern ohne Vorgaben. Mit dieser Zusage wird das Unbestimmbare der Zusage Gottes bestimmbar, kommt Transzendenz in Immanenz zum Ausdruck. Diese Zusage
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findet in Gott glaubhaft ihren Rückhalt. Der Code des Religionssystems ist einerseits Unbestimmbares in Bestimmbares zu überführen und andererseits Bestimmtes wieder in Unbestimmbares aufzulösen. Die Zusage der unbedingten Relevanz (Transzendenz) wird konkret im Hier und Jetzt des Kontaktes (Immanenz). Diese unbedingte Relevanz gilt der Person, nicht jedem Thema, darum wird bezüglich des Gesprächsinhalts unterschieden zwischen „dem Auftrag der TS entsprechend/nicht entsprechend“. Ein Kontakt entspricht dann dem Auftrag der TelefonSeelsorge, „wenn er einen tröstenden, ermutigenden, entwickelnden, stärkenden, Krisen begleitenden oder Konflikt lösenden Charakter hat und dem Menschen in der Beziehung zu sich selbst oder anderen weiterhelfen kann“ (Handbuch 2014, S. 29). Aber auch wenn ein Gespräch seitens der TS beendet wird, weil das Anliegen nicht mit dem Auftrag der TS vereinbar ist, ist eine solche Grenze mit dem unbedingten Respekt vor der Person des Ratsuchenden zu ziehen. Gänzlich unvereinbar mit dem Selbstverständnis von TS ist es, einer ratsuchenden Person zu vermitteln, „du bist irrelevant“. Auf die Frage, wie die Wahrscheinlichkeit erhöht werden kann, dass Kommunikation gelingt, trotz einiger erschwerender Bedingungen, wurde oben als Antwort schon die Amicalität benannt. Sie kennzeichnet eine Grundhaltung, mit der TS in den Kontakt geht. Zu ihren Konstitutionsbedingungen gehören aber auch ihre zeitliche Begrenzung – sowie eine Ambiguität aus der Intimität einer Zweierbeziehung und der Distanz wahrenden Anonymität. Ein wichtiges systemtheoretisches Bestimmungsstück ist der symbiotische Mechanismus. Damit ist eine körperliche Ausdrucksform gemeint, die besonders dann aktiviert wird, wenn die Kommunikation in eine Krise gerät. Die Stimme und deren jeweilige Modulation sind für die telefonische Kommunikation von großer Bedeutung, und sie können gerade dann, wenn die Kommunikation in eine Krise gerät oder abzubrechen droht, intensiviert werden. Schließlich gilt ein Selbstbefriedigungsverbot, d.h. TelefonSeelsorge tut grundsätzlich nichts nur um ihrer selbst willen. Für TS fällt unter das Selbstbefriedigungsverbot zum einen Voyeurismus und zum anderen Missionieren. Voyeurismus wäre es, wenn ein Telefonseelsorger aus Langeweile im eigenen Leben in der TS-Arbeit Einblicke in das Leben anderer Menschen, ihre Sexualpraktiken und andere ungewöhnliche Lebensweisen sucht. Unter das Selbstbefriedigungsverbot fiele es auch, wenn die TS-Organisation nur um ihrer Bestandssicherung willen, z.B. durch entsprechende Öffentlichkeitsarbeit, immer neue Anrufe generieren wollte. Von Anfang an wird Missionieren abgelehnt: „Bekehrungsversuche sind streng verboten“ (Varah 1966, S. 36). Die Mitarbeitenden am Telefon verpflichten sich, Anrufende weder weltanschaulich noch religiös noch politisch zu beeinflussen (vgl. Wieners 1995, S. 248). Schließlich gehören zu den systemtheoretisch beschreibbaren Merkmalen noch Programme, die den Code in Alltagshandeln umsetzen. Programme sind änderbar und nicht identitätsbestimmend. In der TS gehören z.B. Kostenfreiheit und Anonymität zu den Programmen,
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ebenso die Aus- und Fortbildungskonzepte sowie die Supervisions- und Suizidpräventionskonzepte. TelefonSeelsorge ist religiöse Kommunikation. Kommunikation setzt sich systemtheoretisch betrachtet zusammen aus Information (Was), Mitteilung (Wie) und Verstehen (wie der Andere daran anschließt). Religiös ist diese Kommunikation zu nennen, insofern sie sich gemäß dem oben beschriebenen Code Unbestimmtheit/Bestimmtes organisiert. Wie findet sich diese systemtheoretische Beschreibung in der TelefonSeelsorge wieder? Information: Das Gespräch wird nicht erst durch einen expliziten Transzendenzbezug (miteinander beten, über Glauben sprechen) zur Seelsorge. Vielmehr zeigt sich religiöse Kommunikation auch dort, wo sie völlig ohne religiöse Inhalte im eigentlichen Sinne auskommt und die Gesprächspartner:in doch als Seelsorger:in erlebt wird, weil sie Unbestimmtheit bestimmt aushält, d.h. „Unbestimmtheit unmittelbar zum Thema machen“ (Nassehi 2009, S. 448) kann. „Es ist wohl schon diese Möglichkeit, Unbestimmtheit bestimmt aushalten zu können, das Unerklärliche, ambivalent Bleibende nicht als Ende möglicher Kommunikation anzusehen, sondern gerade als Kommunikationsangebot“ (Nassehi 2009, S. 448).
Zur religiösen Kommunikation der TS gehören nicht nur Gespräche, sondern auch die „Schweigeanrufe“, d.h. ein Mensch ruft an, ohne irgendetwas zu sagen. Manchmal ist ein Atmen, ein Weinen, ein Seufzen zu hören, Geräusche im Raum wie das Ticken einer Uhr. Jemand nimmt Kontakt auf, ohne etwas zu sagen, ohne auf einladende Worte einzugehen, ohne dass ein anderes Anliegen erkennbar würde, als jetzt hier in Kontakt zu bleiben. Im Jahr 2020 kam es zu ca. 17.000 solcher Schweigeanrufe. Hier bedeutet Seelsorge, die vom Anrufenden her bleibende Unbestimmtheit bestimmt auszuhalten in Form des miteinander Schweigens und des offenhaltenden Beziehungsangebots. Mitteilung: Damit zeichnet sich als ein Merkmal religiöser Kommunikation ab, dass da, wo der religiöse Inhalt (die Information) schwierig in Worte zu fassen ist, prekär wird, es zu einer Forcierung der Mitteilungskomponente kommt, d.h. die Art, wie jemand spricht (z.B. durch Intensivieren der Stimme), wie überzeugt und überzeugend die/der Gesprächspartner:in sich in den Kontakt einbringt, lässt ihre Kommunikation authentisch werden (vgl. Nassehi 2009, S. 338 f.) Diese Bedeutung der Authentizität trifft sich mit dem, was oben zur besonderen Qualität Ehrenamtlicher gesagt worden ist. Wenn kein Rat greift, kein Hilfsangebot angenommen werden kann und kein Mitgehen die Tiefe der Untröstlichkeit zu verringern vermag, aber doch glaubhaft im Gespräch erfahrbar wird, dass mein Gegenüber jetzt mir zugewandt da ist, dann erfüllt das die Funktion von TelefonSeelsorge (vgl. Hauschild 2016b, S. 58). Verstehen: TS als religiöse Kommunikation kommt auch darin zum Ausdruck, wie Anrufende an die Offerte TelefonSeelsorge verstehend anschließen. Das
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Angebot wird seit 65 Jahren unter dieser Bezeichnung in der Öffentlichkeit kommuniziert und hat so einen hohen Bekanntheitsgrad erlangt. Während in den ersten Jahrzehnten nach der Gründung der TS 1956 nur sehr wenige niedrigschwellige Beratungs- und Hilfsangebote zur Verfügung standen, haben Menschen heute eine unüberschaubare und stark ausdifferenzierte Palette an Hilfe-Hotlines, Beratungsangeboten (online und im face-to-face-Kontakt) – und entscheiden sich dennoch nach wie vor bewusst sehr häufig für eine Kontaktaufnahme mit der TS. Anrufende wenden sich ausdrücklich an die TelefonSeelsorge, sie wenden sich nicht an Herrn X bzw. Frau Y. Damit ist als Kontext jeden Kontaktes immer ein – mal diffuser, mal konkret bewusster – religiöser Bezug gegeben, auch wenn dessen Implikationen nicht weiter thematisiertet werden. „Auch Menschen, die keine religiöse Sozialisation haben, die über keinerlei Bildungsinhalte zu Religiösem oder Erfahrungen religiöser Natur verfügen, können religiöse Kommunikation entziffern“ (Nassehi 2009, S. 449). Noch immer aktiviert die Bezeichnung „Seelsorge“ eine wenn auch noch so rudimentäre und verschwommene Verbindung zu Religion und Kirche. Dass der kirchliche Kontext der TS – und ein damit verbundener Anspruch – den Anrufenden bewusst ist, lässt sich Rückmeldungen immer wieder entnehmen. Seele: Als Seelsorge bezieht sich TS auf den Anderen als Seele, sozusagen als Adresse religiöser Kommunikation. Seele meint diesen ganz individuellen Menschen einerseits mit seiner ihn prägenden Geschichte, seinen Erfahrungen und Widerfahrnissen, seiner Frage nach Sinn, seinen Entscheidungen sowie seinem Scheitern und Schuldigwerden. Andererseits versteht sie ihn in seinem VonGott-her-/Auf-Gott-hin-Sein. Ein solch relationales Verständnis von „Seele“ drückt mit anderen Worten aus, was „Zusage der unbedingten Relevanz“ meint. Der Mensch als Seele ist „Dialogpartner Gottes“ (Ratzinger 1986, S. 308). In diesem konstitutiven Gottesbezug gründet ihre Unsterblichkeit (vgl. Hoff 2005, S. 136). Sorge: Dieser Bestandteil des Namens TelefonSeelsorge hält bewusst, dass der Bezug auf Transzendenz keine Verflüchtigung in große theologische Begriffe erlaubt, „sondern unser Verhältnis zu Gott ist ein neues Leben im ‚Dasein-fürandere‘ […]. Nicht die unendlichen, unerreichbaren Aufgaben, sondern der jeweils gegebene erreichbare Nächste ist das Transzendente“ (Bonhoeffer 2015a, S. 558). Es geht in dieser „Sorge“ nicht um eine Befindlichkeit, sondern um die Verantwortung, in die Gott den Menschen mit seinen ersten Fragen stellt: „Adam (Mensch), wo bist du?“ und „wo ist dein Bruder?“ (Gen 3,9 und 4,9). Diese Verantwortung findet in der TS als „Amicalität“ Ausdruck. „‚Was muss man tun?‘ […] Mit ‚Man‘ geht es zu Ende. „Wer aber die Frage stellt: […] ‚Was habe ich zu tun?‘, den nehmen Gefährten bei der Hand, die er nicht kannte und die ihm alsbald vertraut werden, und die antworten: […] ‚Du sollst dich nicht vorenthalten‘“ (Buber 1953, S. 290).
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49 Kranke Menschen in ambulanter und stationärer Versorgung Barbara Städtler-Mach
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Historische Entwicklungslinien
Die Versorgung kranker Menschen zählt von Anfang an zu den zentralen diakonischen Tätigkeiten der Kirche. Sie verdankt sich biblischen Grundlagen, die als wesentliche Texte in die Verkündigung und Liturgie eingegangen sind und denen auch in der christlichen Kunst große Bedeutung zukommt. Dazu zählen insbesondere die Erwähnung der Kranken in der Endzeitrede Jesu (Mt 25,31–46) sowie die Fußwaschung Jesu (Joh 13,1–16). In beiden Textstellen bezieht Jesus die diakonische Sorge für andere direkt auf sich selbst, indem er sich an die Stelle der Notleidenden und Kranken setzt. Diese Rede und Zeichenhandlung Jesu werden dabei häufig als biblischer Auftrag, den Jesus direkt erteilt, verstanden und deshalb mit einer hohen Priorität versehen: Kranke zu versorgen stellt ein unverzichtbares Merkmal der Christen(gemeinden) dar. Eine bedeutende Entwicklungsstufe der so verstandenen Pflege ist die Versorgung von Kranken in Klöstern. Bereits ab dem 8. Jahrhundert zeichnen sich die Klöster durch eigene Krankenstationen aus. Klösterliche Fürsorge für Kranke fördert als Vorbild die Aktivitäten an verschiedenen Stellen. Nicht nur Nonnen und Klosterbrüder sehen sich zur Versorgung von Kranken verpflichtet. Es bilden sich eigene Orden, deren Ziel die Krankenpflege ist, wie auch Stiftungen und einzelne Gruppen, wie beispielsweise die Beginen. Klöster und Orden pflegen Kranke in ihren eigenen Räumlichkeiten, bilden also eine Vorstufe stationärer Krankenversorgung, während Beginen ohne eigene Krankenstationen die ambulante Versorgung in Häusern wahrnehmen. Bis zum Beginn der Neuzeit gilt die Versorgung der Kranken als Werk der Barmherzigkeit, das von Gott gerne gesehen und entsprechend belohnt und als charakteristisches positives Kennzeichen christlicher Gemeinschaften wahrgenommen wird. Durch Martin Luthers Kritik an den Klöstern wird in den evan-
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gelischen Gemeinden die Versorgung der Kranken durch die Gemeindekrankenpflege vorgenommen, die im Rahmen der Armenfürsorge erfolgt. Für die Zeit vom 16.–18. Jahrhundert existieren die Versorgung der Kranken durch Klöster und Krankenpflegeorden im katholischen Bereich und die Versorgung durch Gemeindeglieder in evangelischen Gemeinden parallel nebeneinander. Einen Aufschwung der stationären Krankenversorgung bringt die Entwicklung der Medizin mit sich, die durch die naturwissenschaftliche Sichtweise der Aufklärungszeit befördert wird. Es entstehen erste Krankenanstalten, also Häuser, die eigens für die Versorgung, vor allem auch für die Behandlung der Kranken, gedacht sind. Die Betonung der medizinischen Versorgung geht mit einer Vernachlässigung der Pflege einher. Pflege von Kranken wird außerhalb der klösterlichen Gebäude nicht als sozial wichtige Aufgabe gesehen. Sie verliert an gesellschaftlichem Ansehen und verkommt schließlich zu einer gering geschätzten Hilfstätigkeit ungelernter Frauen. Das 19. Jahrhundert wird deshalb als „dunkles Jahrhundert“ der Pflege bezeichnet. Entscheidend wird nun der Neueinsatz kirchlicher Krankenpflege durch die Bildung von Diakonissen-Mutterhäusern (erstmals 1836 in Kaiserswerth durch Theodor Fliedner gegründet), die eine sehr stark religiöse und gleichzeitig auch eine bildungsbezogene Ausrichtung haben. Weitere bis heute bedeutsame Gründungen sind die Diakonissenanstalt Neuendettelsau durch Wilhelm Löhe (1854) sowie zahlreiche Diakonissengründungen in der Frömmigkeitstradition der Gemeinschaftsbewegung. In der Folge entstehen zahlreiche Pflegeorganisationen in diakonischer Trägerschaft. Das Spektrum reicht von den Aktivitäten einzelner Krankenpflegevereine bis hin zu Schwesternverbänden wie beispielsweise dem Evangelischen Diakonieverein Berlin-Zehlendorf, der durch Friedrich Zimmer 1894 ins Leben gerufen wurde und heute der Träger der größten evangelischen Schwesternschaft ist. Sowohl das Tragen einer Tracht – ursprünglich für die Diakonissen als gleichwertiges Aussehen neben der Bürgersfrau entworfen – als auch die Bezeichnung „Schwester“ – die Bezeichnung der Diakonissen untereinander – wurden schon Ende des 19. Jahrhunderts zu Erkennungsmerkmalen von Krankenpflegerinnen im diakonischen und darüber hinaus auch im säkularen Bereich. Zeitgleich zur Gründung und Ausweitung von Diakonissen-Mutterhäusern erfolgte in der katholischen Kirche die Rezeption von Anstößen zur Pflege in französischen katholischen Gemeinschaften. An dieser Stelle sind insbesondere die Orden der Vinzentinerinnen und Borromäerinnen zu nennen, die auch Krankenhäuser führten.
Ambulante und stationäre Versorgung
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Bis in die 1950er Jahre wuchsen die Schwesternschaften der DiakonissenMutterhäuser beträchtlich an. Daneben entstanden auch säkulare Dienstgemeinschaften, die sich der Krankenversorgung widmeten. Die kirchlichen Schwestern – Ordensfrauen wie Diakonissen – führten zu einer weitreichenden Identifizierung der Krankenpflege mit christlichen Gemeinschaften. Historisch gesehen unterlag diese Prägung des Pflegeberufs seit den 1980er Jahren einem Prozess, der als Professionalisierung beschrieben wird: Aus der Berufung wird ein Beruf, aus dem Dienst die Dienstleistung, aus dem Krankenhaus als Ort der Zuwendung die Gesundheitseinrichtung, die der modernen Medizin und damit einer an ihr ausgerichteten Gesundheitsversorgung dient. Professionelle Pflege wird als Sozialberuf gesehen, für den aus-, fort- und weitergebildet wird, ohne dass christliche oder gar kirchliche Bezüge erforderlich sind. Der Rückgang von Mitgliedern kirchlicher Schwesternschaften seit diesen Jahren ist erheblich. Von Ordensleuten und Diakonissen getragene Pflegeeinrichtungen setzen zunehmend auf Pflegefachkräfte, die keiner (kirchlichen) Schwestern- oder Dienstgemeinschaft angehören. Die Professionalisierung wird durch die Akademisierung der Pflege verstärkt. Während in nahezu allen westlich geprägten Ländern die Pflegeausbildung in Form eines Studiums erfolgt, herrscht in Deutschland ein hoher Nachholbedarf, ist doch die Pflege mit mittlerem Bildungsabschluss zu erlernen. Seit den 1990er Jahren entstehen vorrangig an kirchlichen Hochschulen für Angewandte Wissenschaften (vorher: Fachhochschulen) Studienangebote. Pflege kann seitdem studiert werden, sowohl in dualen und primärqualifizierenden Studiengängen als auch in Weiterbildungsstudiengängen für Pflegemanagement und Pflegepädagogik. 2
Neue Herausforderungen
Ein wesentlicher Impuls für die Pflege stellt die Entwicklung der Pflegewissenschaft als wissenschaftlicher Disziplin an Universitäten und Hochschulen dar. Dadurch ergibt sich ein Paradigmenwechsel im Pflegeverständnis: Die Pflegewissenschaft beschreibt die pflegerische Tätigkeit mit Hilfe von Pflegemodellen und -konzepten sowie der Definition von Pflegeprozessen. Das Professionsverständnis der Pflegenden verändert sich in diesem Kontext gravierend. Verstand sich Pflege lange Zeit als medizinischer Assistenzberuf, so gestaltet die professionelle Pflege heute ein eigenes Profil in der Behandlung von Kranken und Pflegebedürftigen. Dabei stehen nicht medizinische Diagnosen im Vordergrund, sondern der von Pflegenden erhobene Pflegebedarf. Selbstverständlich folgen auch die Ausbildungsstätten konfessioneller Träger diesem Pflegeverständnis bzw. gestalten die Ausbildungsinhalte nach diesen Standards. Von großer Bedeutung sind auch eigene Forschungsansätze der Pflegewissenschaft. Ergebnisse von Forschungsprojekten der Pflegewissenschaft beeinflussen die konkrete Pflege und intensivieren bestimmte Ausrichtungen in
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der Behandlung. So wird beispielsweise der Fokus auf die eigenen Ressourcen der Pflegebedürftigen gelegt, was bedeutet, dass sich die Pflege an den jeweiligen Möglichkeiten und Bedürfnissen der einzelnen Pflegebedürftigen ausrichtet. Wie die gesamte diakonische und caritative Arbeit so ist auch die Pflege seit den 1980er Jahren zunehmend von der Entwicklung eines wirtschaftlichen Marktes betroffen. Die Dienstleistung der ambulanten und stationären Krankenversorgung wird neben den kirchlichen und kommunalen Anbietern auch zum Geschäftsfeld privatwirtschaftlich arbeitender Unternehmen. Insbesondere in der ambulanten Pflege etablieren sich zahlreiche private Pflegedienste, die sich als Konkurrenz zu den traditionellen Anbietern verstehen. Durch den demografischen Wandel der Gesellschaft und die gleichzeitig anwachsende Technisierung der Krankenhäuser verlagert sich die Pflege stark in den ambulanten Bereich. Die Zunahme alter und hochbetagter Menschen führt zu einer erhöhten Zahl von Pflegebedürftigen, die überwiegend in der eigenen Häuslichkeit versorgt werden wollen. In den Krankenhäusern wird zugleich die Verweildauer der Patient:innen verkürzt, so dass die pflegerische Tätigkeit ihren Charakter deutlich verändert. Die größte Herausforderung für die diakonische und caritative Versorgung von Kranken sind die Rahmenbedingungen, unter denen Pflege geschieht: Arbeiten im Schichtdienst, Notfalleinsätze in der entsprechenden Dienstgruppe sowie minutenorientierte Verrichtung der Pflege. Dadurch entstehen für die Pflegenden zeitlicher Druck sowie persönlicher Stress, mit dem Kranke gepflegt werden (müssen). Vielfach ist die tägliche Arbeit mit dem Grundgefühl des Ausgebrannt-Seins verbunden, das auf lange Zeit die eigene Gesundheit und die Freude an der Arbeit beschädigt. Viele Pflegende, die mit hoher Motivation und Freude am Umgang mit Menschen in den Beruf eingestiegen sind, werden nach wenigen Jahren erschöpft und frustriert, teilweise in einem Ausmaß, das ihnen den Ausstieg aus dem Beruf nahelegt. Jahrelang stand deshalb die Forderung nach besserer Bezahlung im Vordergrund, die inzwischen im Großen und Ganzen als angemessen erscheint, auch wenn sie – bedingt durch die Finanzierung auf Länderebene innerhalb der Bundesrepublik Deutschland – nach wie vor uneinheitlich ausfällt. Seit den 2000er Jahren verlassen viele Pflegende lange vor dem Erreichen des Rentenalters ihren erlernten Beruf, während der Bedarf an Pflege weiterhin steigt und der Nachwuchs an Pflegekräften zurück geht. Dadurch kommt es in vielen Krankenhäusern und Pflegediensten immer wieder zu Engpässen. Die Bezeichnung „Pflegekräfte-Mangel“ charakterisiert einen Zustand, der nicht zuletzt durch die Versorgung in der CoronaPandemie 2020/21 weithin öffentlich sichtbar wurde. Im Blick auf die Gesamtgesellschaft lässt sich ein Mangel an gesellschaftlicher Wertschätzung des Pflegeberufs konstatieren. Während viele Menschen die Tätigkeit der Pflege für ihre eigenen Angehörigen und sich selbst mit hohen Ansprüchen versehen, sind Pflegende häufig mit einer Geringschätzung ihrer
Ambulante und stationäre Versorgung
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beruflichen Tätigkeit konfrontiert. An dieser Stelle reiht sich die Pflege in eine allgemeine Tendenz der Marginalisierung sozialer und gesundheitsbezogener Berufe (mit Ausnahme des Arzt-Berufes) ein. Wohl wird deren Bedeutung nicht grundsätzlich in Frage gestellt; eine explizite Wertschätzung, die auch zu einer öffentlichen Anerkennung führt, lässt sich gesamtgesellschaftlich aber nicht ausmachen. Die soziale und individuelle Relevanz von Pflege ist unbestritten: jedoch existiert eine kaum aufzulösende Spannung zwischen den Ansprüchen an die Pflegenden und der mangelnden Würdigung. Häufig sind die Herausforderungen, denen sich die Pflegenden gegenübersehen, schwer vermittelbar. In gewisser Weise hat die Corona-Pandemie in den Jahren 2020/21 für eine kurzzeitige Verbesserung im Hinblick auf die mangelnde Wertschätzung gesorgt. Sowohl in zahlreichen Ansprachen verantwortlicher Politiker:innen als auch in finanziellen Sonderzuwendungen für Pflegende war die gesellschaftliche Bedeutung der Pflege – in diesen Monaten als „systemrelevante Tätigkeit“ tituliert – im Blick, nicht zuletzt durch tägliche Darstellung der Leistungen der Pflegenden. Inwiefern sich dieser Umstand langfristig erhält und vor allem nachhaltig zu der verdienten Würdigung beiträgt, bleibt offen. 3
Bearbeitungsstrategien: Christliches Profil gestalten
Konfessionelle Träger sind in der diversen Versorgungslandschaft ambulanter und stationärer Dienste gefordert, ihre eigenständige, dem biblischen Auftrag und Menschenbild verpflichtete Ausrichtung zu verdeutlichen und zu leben. In der zunehmend säkularisierten Gesellschaft kann nicht (mehr) von einer allgemein vorhandenen Kenntnis von Diakonie und Caritas ausgegangen werden. Das betrifft die Mitarbeitenden ebenso wie die Leistungsempfänger diakonischer und caritativer Pflegedienste. Wer sich für eine Versorgung von Kranken entscheidet, kann in der Regel aus einem Spektrum von Angeboten wählen, die miteinander in Konkurrenz stehen. Möglicherweise wird konfessionellen Anbietern eine grundlegende, auf guten Erfahrungen beruhende Wertschätzung entgegengebracht, möglicherweise wird das Angebot auch lediglich nach Kostengesichtspunkten gewählt. In diesem Markt sind die Träger diakonischer und caritativer Pflegedienste und Pflegeeinrichtungen zum einen Arbeitgeber, zum anderen Anbieter von Leistungen, die im Rahmen des Sozialstaates erbracht und finanziert werden. Als Arbeitgeber werden die Einrichtungen von den Mitarbeitenden unter dem Aspekt von Rahmenbedingungen der Arbeit (Arbeitszeitgestaltung, Personalentwicklung, Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten etc.) als auch von Bezahlung (Tarifverträge) bzw. Kosten (Gestaltung der Behandlungsverträge, Leistungen im Vergleich mit anderen Anbietern) gesehen, verglichen und beurteilt. Bei den Patient:innen und ihren Angehörigen stehen sowohl die Qualität der
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Leistung als auch die Kosten für diese Leistung im Fokus. Auch hier unterliegen konfessionelle Anbieter dem Vergleich mit anderen Anbietern auf dem Gesundheits- und Pflegemarkt. Sowohl bei Mitarbeitenden wie bei Patient:innen sind nach wie vor Vorstellungen von einer besonderen Ausrichtung der diakonischen und caritativen Anbieter vorhanden. Von einer Einrichtung mit Kronen- oder Flammenkreuz wird erwartet, dass sie nicht nur die übliche (Pflege-)Leistung, sondern auch einen „christlichen“ Mehrwert erbringt. Inwiefern sich dieser Mehrwert wahrnehmen, abrufen und bewerten lässt, wird für die Pflegedienste zur Herausforderung. Seit dem Bestehen christlicher Krankenpflege wird die christliche Ausrichtung an den Mitarbeitenden festgemacht. Sie sollen durch ihre Person und die Qualität ihrer Arbeit gewährleisten, was der Name der Pflegeinrichtung oder des Pflegedienstes verspricht. Dieser Herausforderung stellen sich die entsprechenden Einrichtungen seit Jahren. Die konfessionellen Träger von Pflegediensten und Krankenhäusern arbeiten seit den 1980er Jahren an der Schärfung des christlichen Profils, das im Rahmen einer hohen Qualität ihrer Pflegeleistung erkennbar sein soll. Das Ausformulieren und ständige Aktualisieren von Leitbildern und Grundsätzen – generell auch öffentlich durch Internet-Auftritte, Flyer, Informationstage etc. zugänglich – stellt die Ausrichtung der Arbeit dar. In besonderer Weise sind für die konkrete Umsetzung dieser Grundsätze die Mitarbeitenden verantwortlich, die seit jeher die „Gesichter“ diakonischer und caritativer Pflege sind. In den Ausbildungen, vor allem auch in Fort- und Weiterbildungen, liegt ein Schwerpunkt auf der fortwährenden Auseinandersetzung mit dem christlichen Anspruch sowie einer immer wieder aktualisierten Ausrichtung der eigenen Spiritualität, die für die zu Pflegenden und ihre Angehörigen erkennbar werden soll. Konfessionelle Träger bieten kontinuierlich Fortbildungsangebote für die religiöse, heute oft als spirituell bezeichnete Dimension der Pflege an. Dabei wird reflektiert, wie die eigene Haltung zum Beruf mit dem persönlichen Glauben und einer Praxis gelebter Frömmigkeit in Einklang gebracht und weiterentwickelt werden kann. Konkrete Hilfestellungen für den Umgang mit Kranken und Sterbenden sind ebenso Inhalt wie die Auseinandersetzung mit der Gestaltung von Andachten, Besinnungstagen und persönlicher Unterstützung für die Mitarbeitenden in existentiellen Fragen. Ein weiterer Schwerpunkt in der Profilbildung stellt die Qualifikation im Umgang mit ethischen Entscheidungen dar. An dieser Stelle sind in den vergangenen Jahren neue Herausforderungen entstanden, zum einen durch die Komplexität pflegerischen Handelns (vor allem im modernen Krankenhaus), zum anderen auch durch die Diversität der Pflegemitarbeiter:innen, bei denen – anders als in früheren Jahrhunderten – eben keine einheitliche Glaubenshaltung mit entsprechenden ethischen Leitlinien vorausgesetzt werden kann. Zahlrei-
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che Fragen am Anfang und vor allem am Ende des Lebens sind von ethischer Bedeutung: Wie lange wird eine Behandlung aufrechterhalten? Welche Kriterien gelten beim Beenden einer Therapie? Nach welchen Kriterien wird in einer Einrichtung der Diakonie oder der Caritas Sterbebegleitung und/ oder Sterbehilfe geübt? Die Qualifizierung zu ethischer Kompetenz bedeutet für Pflegende vor allem die Fähigkeit, die ethische Sichtweise der Pflegenden in den interdisziplinären und interprofessionellen Austausch mit einzubringen. Gegenüber Ärzt:innen, Ökonomen und Vertreter:innen der Leistungserbringer die pflegerische Sicht ethischer Entscheidungen zur Sprache zu bringen und in einem Diskurs die entsprechende Position vertreten zu können, zählt aktuell zu den unabdingbaren Kompetenzen von Pflegenden. Dabei geht es zum einen darum, ethische Grundlagen zu kennen, beispielsweise bei der Entstehung ethischer Urteile in systematischer und reflektierter Weise vorzugehen. Zum anderen werden Pflegende durch die Qualifikation in Ethikberatung und ethischer FallgruppenBesprechung in die Lage versetzt, in einem ethischen Diskurs auch die eigene Meinung und die entsprechende Verantwortung zum Ausdruck zu bringen. Für Pflegende, die im Sinne der christlichen Trägerschaft ihrer Einrichtung oder ihres Pflegedienstes ihre Verantwortung wahrnehmen, ist deshalb auch die ständige Reflexion des christlichen Menschenbildes und eines biblisch begründeten Pflegeverständnisses von Bedeutung: Jeden Menschen als Geschöpf Gottes zu sehen, die Grenzen des menschlichen Lebens anzuerkennen, gleichzeitig die – nach wie vor gültige – biblische Aufforderung zur Pflege von Kranken umzusetzen, kennzeichnen wünschenswerte Qualifikationen in diesem Bereich. Besondere Bedeutung kommt dabei sowohl dem Management in den entsprechenden Organisationen und Pflegediensten wie auch der Aus-, Fort- und Weiterbildung zu. Die Zunahme von entsprechenden Qualifikationsangeboten als Studiengänge wie auch im Weiterbildungsbereich markiert die hohe Bereitschaft, sich den Entwicklungen zu stellen. Zur Umsetzung dieser Profilgestaltung tragen neben den Bildungseinrichtungen auch die verschiedenen Verbände von Pflegenden im evangelischen und katholischen Bereich bei. Zwar sind Krankenpflegeorden und Mutterhäuser in der Gestaltung der Pflege von Kranken aufgrund ihres Nachwuchsmangels mehr und mehr auf dem Rückzug. Die Grundidee, dass der christliche Glaube wesentlich zur Versorgung von Kranken Impulse gibt, wird aber durch unterschiedliche Pflegeverbände weitervermittelt und gelebt. Gleichwohl bleibt die Situation, an vielen Orten nicht mehr alle Arbeitsstellen in konfessionellen Pflegeorganisationen und Pflegediensten mit Mitarbeitenden der entsprechenden oder überhaupt einer kirchlichen Gemeinschaft besetzen zu können, eine Herausforderung. So engagieren sich Verantwortliche in Pflegediensten kirchlicher Provenienz an vielen Stellen gleichzeitig: Die diakonische und caritative Qualifikation der
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Mitarbeitenden ist ebenso im Blick wie die Gestaltung pflegerischer Situationen, wie sie die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen erleben und wahrnehmen. Zur Unterstützung der Lobbyarbeit im politischen Bereich, z.B. bei der Gesetzgebung, wird christlich verstandene Pflege durch die Wohlfahrtsverbände Diakonie und Caritas auf Bundes- und Landes- bzw. Diözesanebene vertreten. Grundsätzliche Einschätzungen zur Pflege kranker Menschen und Forderungen zur Organisation der Rahmenbedingungen der Krankenversorgung werden durch Berichte und Statements für die Medien regelmäßig veröffentlicht. Die Anliegen der Pflege sowohl in berufspolitischer Sicht als auch aus der Perspektive von Pflegeeinrichtungen in konfessioneller Trägerschaft werden durch die jeweiligen Verbände – Deutscher Evangelischer Krankenhausverband (https://dekv.de/) und Katholischer Krankenhausverband (https://kkvd.de/) – strategisch und in konkreten Situationen unterstützt. Sowohl durch das Engagement aller einzelnen Pflegenden als auch durch die Strukturen von Einrichtungen, Diensten und den entsprechenden Verbänden wird die Kontinuität christlich verstandener Pflege kranker Menschen auch in der weitgehend säkularen Gesellschaft gewährleistet. Literatur Bleyer, B. (2019): Pragmatische Urteile in der unmittelbaren Patientenversorgung. Moraltheorie an den Anfängen klinischer Ethikberatung (= Gesundheit und Medizin im interdisziplinären Diskurs). Berlin. Brandenburg, H./Dorschner, S. (2020): Pflegewissenschaft 1 (4. Aufl.). Göttingen. Diakonie Deutschland – Evangelischer Bundesverband/Stockmeier, J./Giebel, A./Lubatsch, H. (Hg.) (2013): Geistesgegenwärtig pflegen. Existenzielle Kommunikation und spirituelle Ressourcen im Pflegeberuf, Band 1 und 2. Neukirchen-Vluyn. Seidler, E./Leven, K.-H. (2003): Geschichte der Medizin und der Krankenpflege (7. überarbeitete u. erweiterte Aufl.). Stuttgart. Städtler-Mach, B. (2012): Zukunft des Helfens und der Dienstleistung, in: H. Schmidt/K. D. Hildemann (Hg.): Nächstenliebe und Organisation (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 37) (S. 349– 365). Leipzig. Sticker, A. (1960): Die Entstehung der neuzeitlichen Krankenpflege. Stuttgart.
50 Pflege und Pflegebedürftigkeit Hartmut Remmers
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Pflege – conditio humana
Auch wenn beim Gebrauch anthropologischer Kategorien Vorsicht geboten sein sollte: Pflege, verstanden im weitesten Sinne als Care, lässt sich als eine Aktivität charakterisieren, die den Menschen substanziell als ein auf Gemeinschaft angelegtes Wesen (zoon politikon echon) auszeichnet. Menschen sind, lebensgeschichtlich in variierendem Maße, auf Hilfe und Unterstützung ihrer unmittelbaren Bezugspersonen angewiesen: zunächst im Zuge des frühen Aufbaus von Fähigkeiten, sodann im Zuge des Alterns bei zunehmendem Verlust. Über diese Transitionsphasen im Lebenszyklus hinaus gibt es nicht selten akzidentelle, kritische Lebensereignisse (wie Unfall, Erkrankung), die sowohl risiko- als auch entwicklungsförderndes Potential beinhalten können (Filipp 1990) und in denen Pflege als informelles (z.B. familiales) oder als professionelles Hilfesysteme benötigt wird. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch das Selbstverständnis der beruflichen Pflege klären. In einer international bis in die 1950er Jahre 1 zurückreichenden, noch stark am Medizinsystem orientierten Professionalisierungsphase werden als Pflege all jene Handlungen verstanden, die an Grundbedürfnissen von Patienten und Patientinnen ausgerichtet sind und zu ihrer Gesundheit oder deren Wiedererlangung beitragen (Henderson 1963). Doch erst die WHO (1994) formuliert einen erweiterten, nämlich „gesellschaftlichen Auftrag der Pflege“, die als Unterstützung bei der Verwirklichung physischer, psychischer und sozialer Potenziale des Menschen im Kontext ihrer Lebens- und Arbeitswelt verstanden wird (vgl. auch Bartholomeyczik 2010, S. 136 f.). Damit versteht sich Pflege als jene in anthropologisch tiefsitzenden Strukturen des Lebens und seiner Vollzüge verankerte, gleichwohl geschichtlich sich wandelnde soziale Aktivität des Menschen. Auslöser war die als „Brown Report“ 1948 veröffentlichte Studie „Nursing for the Future“ in den USA.
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Zur Geschichte der beruflichen Pflege
Die historische Entwicklung der beruflichen Pflege ist Teil eines widersprüchlichen Prozesses gesellschaftlicher Modernisierungen. Von der Frühzeit (ca. 3000 v. Chr.) bis ins Mittelalter (ca. 500–1400 n. Chr.) genossen heilkundige „weise“ Frauen, seinerzeitige Repräsentantinnen der Pflege, hohes Ansehen. Dies änderte sich gravierend im Zeitalter des europäischen Rationalismus mit einer ärztlich zunehmend monopolisierten Heilkunde, die auf der anderen Seite eine als Werk christlicher Barmherzigkeit verstandene und solchermaßen vorrangig in Hospizen geleistete Pflege vorantrieb. Ihren Höhepunkt erreicht die kirchlich organisierte Pflege im 19. Jahrhundert, gerät dabei aber im Zuge der Verwissenschaftlichung der Medizin unter einen Säkularisierungsdruck und später, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, unter einen durch staatliche Steuerungseingriffe sanktionierten Ökonomisierungsdruck. Beide ineinander verflochtene Entwicklungstypen haben (zumindest indirekte) Auswirkungen auch auf die Sinnhaftigkeit beruflichen Handelns als eine entscheidende motivationale Antriebsressource sowohl der Berufswahl als auch des Verbleibs im Beruf. Auch wenn sich der kirchlich-karitative Kontext der institutionalisierten Pflege lockert, so scheint jener ehedem aus religiösen Quellen gespeiste, in einer Alltagsmoral solidarischer Verbundenheit verankerte, als berufliche Tugend kultivierte Altruismus zu den bestandswichtigen affektiv-motivationalen Grundlagen pflegerischen Handelns zu gehören. 2 Dass diese sinnhaften Quellen zunehmend in den Sog einer einseitig auf Vermarktlichung und Kommerzialisierung ausgerichteten Modernisierung des Versorgungssystems geraten sind (Bauer 2007), hat seit geraumer Zeit auch zu einer Krise des Pflegeberufs geführt (Remmers 2018). 3
Gesellschaftlicher Strukturwandel der Pflege
Die derzeitig angespannte pflegerische Versorgungslage erklärt sich vor dem Hintergrund zum einen erheblicher soziodemografischer Veränderungen (proportionale Zunahme des Anteils älterer Menschen bei kontinuierlich steigender Lebenserwartung und sich verringerndem Anteil nachwachsender Generationen sowie Erosion herkömmlicher Hilfestrukturen), zum anderen epidemiologischer Veränderungen (Zunahme chronischer Krankheiten mit z.T. neurode2 Sich von der Hilfebedürftigkeit eines Anderen affizieren zu lassen, gehört zu den evolutionären Vorteilen der Entwicklung von homo sapiens und erhöht seine Überlebenschancen in Gruppen (Hunt 1992, S. 160). Dass Gesellschaften nur Bestand haben, wenn Menschen auch bereit sind, Opfer füreinander zu erbringen, freilich ohne Verlust einer Balance mit Selbsterhaltungsinteressen, gehört zu den elementaren Einsichten der soziologischen Klassik (siehe Émile Durkheim 1992). Bei der Rolle des Opfers darf freilich nicht die konkurrenzbezogene Konflikthaftigkeit moderner Gesellschaften vergessen werden. Im Übrigen kann Altruismus sehr wohl auch mit Formen des Hedonismus, allerdings eher als eine erwünschte emotionale Handlungsfolge, verbunden sein.
Pflege und Pflegebedürftigkeit
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generativen Abbauprozessen sowie Multimorbidität), die in zunehmenden Pflegebedarf münden. Doch bereits in den 1950er und 60er Jahren bahnte sich ein Strukturwandel der Pflege an, der v.a. zwei Auslöser hatte: (1) technischinstrumentelle Modernisierung des Medizinsystems (mit latenten Problemen der Depersonalisation) bei zunehmender Reduzierung der Pflege auf ärztlich assistierende Funktionen zulasten persönlicher Zuwendung; (2) einseitig auf Vermarktlichung und Kommerzialisierung ausgerichteten Modernisierung des Versorgungssystems (Bauer 2007), an dessen Endpunkt die Einführung von Fallpauschalen (DRG-System) im Krankenhauswesen bei gleichzeitiger Reduzierung pflegerische Leistungen auf standardisierte Prozeduren steht. In der Langzeitpflege haben sich ebenso ökonomische Rationalisierungstendenzen durchgesetzt, beruhend auf einem auf zeitlich messbare Verrichtungen reduzierten Pflegeverständnis, von dem zwar mit dem Zweiten Pflegestärkungsgesetz (PSG II) offiziell Abschied genommen wurde, ohne dass sich an den schon Jahre zuvor beklagten begrenzten „Zeitbudgets“ etwas geändert hätte (Slotala 2010) 3. Für beide Sektoren der Akut- wie auch der Langzeitpflege gilt ein Primat der „Effizienzsteigerung der Organisation“, der als moralischer Druck zu freiwilliger, nicht entgoltener Mehrarbeit erlebt wird (Manzeschke 2010, S. 177). 4
Qualifikatorische und berufsstrukturelle Besonderheiten
Obwohl hier ein potenzieller Verfassungskonflikt vorliegt, erfolgt, gestützt auf einen grundgesetzlichen Vorbehalt (Art. 74, Abs. 19 GG), die Ausbildung der Pflegeberufe nicht gemäß Berufsbildungsgesetz (BBiG) 4. Wie viele andere typische Frauenberufe hat auch der Pflegeberuf bis heute einen Sonderstatus im beruflichen Bildungssystem. Nach zahlreichen Reformbemühungen wurde 2017 mit Verabschiedung eines neuen Pflegeberufereformgesetzes (PflBRefG) eine Ausbildungs-und Prüfungsverordnung für die Pflegeberufe (PflAPrV) erlassen, welche lediglich zum Führen einer Berufsbezeichnung berechtigt. Eine gesetzlich verankerte Berufsordnung existiert nicht. 5 Einen bemerkenswerten Schritt zu größerer beruflicher Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit
3 Mit dem PSG III entfielen für Menschen mit Sozialhilfeanspruch bestimmte Leistungen bei geringfügigem Hilfebedarf (ehemals Pflegestufe 0). 4 Zunächst einmal kollidiert die vorrangige Gesetzgebungskompetenz des Bundes mit der Kultushoheit der Länder dann, wenn aus ihr eine Regelungskompetenz in Ausbildungsfragen abgeleitet wird. Dieser Konflikt wird dadurch umgangen, dass eine Vielzahl sogenannter nichtärztlicher Heilberufe durch Berufszulassungsgesetze (man könnte auch sagen: Schutzgesetze zum Führen einer Berufsbezeichnung) geregelt ist, obwohl diese sehr detaillierte Ausbildungsbestimmungen enthalten. Bislang war umstritten, ob es Möglichkeiten des Bundes gibt, durch Erlass von Rechtsverordnungen eine Anwendung des BBiG zu eröffnen. Der entsprechende § 107 BBiG wurde nach Reform des Gesetzes gestrichen. 5 Ansprüche an eine echte Berufsordnung werden auch mit den in § 5 PflBRefG formulierten „vorbehaltenen Tätigkeiten“ nicht erfüllt.
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stellt der mit der Sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) geregelte praktische Geltungsbereich der Pflege dar. Seit mehr als zwei Jahrzehnten werden Hochschulstudiengänge nicht nur als pflegewissenschaftliche Weiterbildungsstudiengänge, sondern auch mit dem Ziel der akademischen beruflichen Erstqualifikation angeboten. Inwieweit auf diesem Wege vorrangig eine Professionalisierung des Pflegeberufs erreicht werden kann, ist umstritten, da Professionen keineswegs bloß durch Status, sondern vor allem durch bestimmte Merkmale (z.B. Fallarbeit) mit entsprechenden Qualifikationsanforderungen definiert sind (Haupeltshofer 2020; dazu in diesem Band Städtler-Mach). Es gibt keine gültige, das gesamte Berufsfeld Pflege differenziert abbildende Berufsstatistik (Simon 2012). Schwierigkeiten, die gesamte Beschäftigungslage zu erfassen, machen sich besonders bemerkbar hinsichtlich des zunehmend beklagten Mangels an Fachpersonal. Durch Zusammenführung von Daten heterogener Basisstatistiken konnte ein Personalzuwachs im Bereich der ambulanten und der stationären Langzeitpflege, eine Schrumpfung dagegen in der akutstationären Pflege gezeigt werden (Simon 2012). Die sich ausweitende Teilzeitbeschäftigung (v.a. aus Gründen der Flexibilisierung von Personaleinsätzen) und zunehmende Arbeitsbelastung sind Faktoren eines wachsenden Personalmangels v.a. in der Altenpflege. Ob dieser durch Ausweitung von Vollzeitbeschäftigung bei gleichzeitigem Abbau zahlreicher Arbeitsstressoren gemildert werden kann, ist fraglich angesichts eines kontinuierlich versiegenden Fachkräfte-Nachwuchses. Bereits während ihrer pflegeberuflichen Ausbildung erwägen 20–30 % der befragten Schüler und Schülerinnen max. fünf Jahre oder gar nicht in ihrem Ausbildungsberuf weiter tätig zu sein (Golombek/Fleßa 2011). Auf Grundlage einer Status-quo-Prognose errechnen Ehrentraut/Hackmann/ Krämer/Schmutz (2015) unter der Annahme sich fortsetzender demografischer Entwicklungen, weiterer Auswirkungen des Pflegestärkungsgesetzes II sowie eines zusätzlichen Ersatzbedarfs wegen eines sich verringernden Anteils informeller Pflege für 2030 eine Lücke von 517.000 VZÄ. Ihre Annahme einer proportional zur altersgleichen Bevölkerung konstanten Ausbildungsquote wird sich wegen der hohen Zahl an Ausbildungsabbrüchen nicht halten lassen. Zu leicht abweichenden Ergebnissen kommt Pohl (2011) unter Berücksichtigung möglicher Produktivitätsfaktoren wie: besserer qualifikationsbezogener Personalmix, Verbesserung der Organisation und Abläufe, neue Versorgungs- und Wohnformen sowie Einsatz neuer Technologien (siehe unten). 5
Pflege und Pflegebedürftigkeit
Prognosen zur Zahl pflegebedürftiger Personen und Möglichkeiten ihrer Versorgung sind mit erheblichen Unwägbarkeiten verbunden. Das Potenzial inner-
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Pflege und Pflegebedürftigkeit
familial geleisteter Pflege wird sich wegen sozialstruktureller Veränderungen verringern. Eine Verlangsamung des demografisch bedingten Anstiegs von Pflegebedürftigkeit aufgrund wachsender Gesundheitspotenziale im Alter (sog. Kompressionsthese) ist unsicher (Geyer 2015). Die Entwicklung der Zahl pflegebedürftiger Menschen in Deutschland ist nachstehender Tabelle zu entnehmen, wobei der sehr starke Anstieg für das Jahr 2019 auf einem neuen Begutachtungsinstrument gem. Pflegestärkungsgesetz I und II (2015) beruht. Tabelle 1: Entwicklung der Pflegebedürftigkeit (Quelle: Statistisches Bundesamt (2020): Pflegestatistik 2019: Personal in der stationären und ambulanten Pflege 2001–2019 nach Beschäftigungsverhältnissen) Jahr
Pflegebedürftige insgesamt
Häusliche Versorgung ohne und mit ambulanten Diensten
Versorgung im Heim vollstationär
2007
2,25 Mio.
1,54 Mio. (68 %)
709.000 (32 %)
2013
2,6 Mio.
1,86 Mio. (71 %)
764.000 (29 %)
2019
4,1 Mio.
3,31 Mio. (80 %)
818.000 (20 %)
Pflegebedürftigkeit wird gem. § 14 SGB XI geregelt, die Anspruchsberechtigung in Abhängigkeit von fünf Pflegegraden mit unterschiedlicher Schwere der Pflegebedürftigkeit auf Grundlage eines neuen Begutachtungsinstruments nach § 15 SGB XI. Die Begutachtung erfolgt am Leitfaden von sechs Modulen: Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, Selbstversorgung, Bewältigung von und selbständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Dem neuen Begutachtungsinstrument liegt eine Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs zugrunde. Demnach sollten statt einer zu starken Ausrichtung der Pflegebedürftigkeit an Einbußen der Fähigkeit zu Alltagsverrichtungen in stärkerem Maße Bedürfnisse pflegebedürftiger Personen (insbesondere mit Demenz) berücksichtigt werden. Die Entwicklung und Erprobung eines neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffes im Auftrag der Spitzenverbände der Pflegekassen (Wingenfeld/Büscher/Schaeffer 2007) nahm fast ein Jahrzehnt in Anspruch, auch wegen politischer Widerstände aus Gründen mangelnder Finanzierbarkeit. Mit dem seit 01.01.2017 geltenden neuen Begutachtungsassessment (NBA) auf Grundlage von sechs pflegerelevanten Lebensbereichen (Modulen) sollte ein „Paradigmenwechsel“ durch Ausrichtung auf Fähigkeiten und vorhandene Selbständigkeit eingeleitet werden. Allerdings stellt jedes Assessment nur eine Momentaufnahme dar. Auch werden damit häufig entwürdigende Bedingungen der Prüfsituation für Betroffene nicht vermieden. Mit weiteren gesetzgebe-
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rischen Maßnahmen sollte die Leistungsfähigkeit der ambulanten Pflege verbessert und auf einen veränderten Bedarf pflegebedürftiger Menschen flexibel reagiert werden. Verbindlich vorgeschrieben wurde die Einführung von Personalbemessungssystemen für Pflegeeinrichtungen und eine Weiterentwicklung der Qualitätssicherung (und zwar unabhängig von beschränkt aussagefähiger Pflegedokumentation). Stärker berücksichtigt werden soll beim Assessment der Bereich psychosozialer Unterstützung (bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, schwierigen Verhaltensweisen, psychischen Problemlagen durch bessere Kommunikation und Tagesgestaltung). Familien mit pflegebedürftigen Kindern werden deutlich mehr Leistungen nutzen können. Auch Menschen mit geringer Pflegebedürftigkeit erhalten zukünftig Leistungen im Sinne der Prävention. Der Begutachtung von Pflegebedürftigkeit liegt allerdings weiterhin eine taxonomisch zweifelhafte Struktur zugrunde. Pflegerische Interventionen erfolgen als kompensatorische Eingriffe mit zeitlich bemessenem Leistungsaufwand. An der Bedürfnisnatur pflegebedürftiger Personen gehen, entgegen gehaltvollen Anforderungen der Pflegediagnostik, parametrisch standardisierte Abfragen vollends vorbei (Berger/Mosebach/Wieteck 2008). Erkenntnistheoretisch unterliegt das Verfahren einem kruden objektivistischen Schein personaler Bedürftigkeit. Letztlich durchgesetzt hat sich ökonomisches Denken, ein sachlich unangemessener Anspruch, qualitative Einschätzungen und Bewertungen (z.B. gute Pflege, Wohlbefinden, Vertrauen) in einem letztlich betriebswirtschaftlich verrechenbaren Kennzahlensystem quantifizieren und bewerten zu können. Pflegewissenschaftlich auf der Strecke geblieben sind zudem methodisch anerkannte Verfahren bspw. einer „verstehenden Diagnostik“ (Schrems 2008). 6
Herausforderungen und Belastungen der Pflege als „subjektivierendes Handeln“
Der Kern pflegerischer Arbeit ist Beziehungsarbeit im Medium leiblicher sowie geistig-seelischer Zuwendung. Sie findet unter nicht-symmetrischen Interaktionsbedingungen statt im Bemühen um bestmögliches Wohlergehen und affektive Balance und setzt hohes professionelles Wahrnehmungs- und Ausdrucksvermögen voraus. Belastungen bestehen u.a. in der Synchronisierung verschiedener Tätigkeiten, die gleichzeitig erbracht und konsumiert werden (uno actu-Prinzip) (Remmers 2020). Unter günstigen Arbeitsbedingungen werden pflegerische Tätigkeiten als interessant, abwechslungsreich und dem persönlichen Wachstum dienlich empfunden (Braun et al. 2004, S 10). Unter schlechten Arbeitsbedingungen, v.a. nach Einführung des DRG-Systems (gem. § 17b Krankenhausfinanzierungsgesetz [KHG]), steigen berufliche Belastungen signifikant: als wachsender Zeitdruck (65,1 %), überbordende administrative Aufgaben auch im Zusammenhang mit technischen Neuerungen (49,8 %) und wiederkehrende Störungen des Arbeitsflusses (36,4 %). Hinzukommen unter verschärften pandemischen Bedingungen intensivmedizinischer Versor-
Pflege und Pflegebedürftigkeit
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gung: außergewöhnliche Zunahme schwerkranker Patienten, lange Verweildauer, pflegerisch-organisatorische Herausforderungen bei Nebendiagnosen wie bspw. Adipositas. In Pflegeberufen überwiegt der Anteil von Frauen erheblich (ca. 75 %). Eine Trennung von Berufsarbeit und Privatleben, das häufig kompensatorische Funktionen erfüllt, findet selten statt. Dafür scheint es möglicherweise zwei Gründe zu geben: Pflegearbeit weist nicht unwesentlich auch haushaltsnahe Tätigkeitseigenschaften auf (Dunkel 2005, S. 228 f.); auch wenn berufszölibatäre Normen bedeutungslos geworden sind, scheinen kirchlich-karitative Traditionen mit einer strukturellen Verklammerung von Arbeit und Leben nachzuwirken. Durch eine ausschließlich berufsethische Orientierung am „Dasein für Andere“ lässt sich indessen keine hinreichende intrapersonale Stabilität mehr garantieren (Dunkel 2005, S. 240 ff.; Kreutzer 2005). Als psychisch besonders belastend werden Faktoren wie mangelnde Gestaltungsspielräume, Unvorhersehbarkeit, strukturelle Ungewissheit sowie häufige Konfrontation mit Leid und Tod genannt; ferner zunehmende soziale Isolation aufgrund von Arbeitsdruck, Wechselschicht-System sowie zunehmende berufliche Fluktuation (Michaelis 2005). Kommen unzureichende Bezahlung, geringer beruflicher Status und mangelnde gesellschaftliche Anerkennung hinzu (Goesmann/Noelle 2009), so sind berufliche Ausstiege vorprogrammiert, die sich allerdings aufgrund uneinheitlicher statistischer Erfassung nicht eindeutig beziffern lassen. Auch wenn die vorstehend genannte altruistische berufsethische Orientierung mit erheblichen psychischen Kosten verbunden sein kann, so bleibt dennoch ein bislang unzureichend erörtertes Problem bestehen, das für pflegeberufliche Optionen sowie dauerhafte berufliche Motivation nicht unwesentlich sein dürfte. Es handelt sich um das möglicherweise antinomische Verhältnis von Erwerbstätigkeit und Care in dem Sinne, dass pflegerische Dienstleistungen sich in monetären Äquivalenten nur begrenzt darstellen lassen (vgl. Campbell 1984). So wichtig gesellschaftlich respektable materielle Gratifikationen des Berufs sind, so wichtig ist es auch, der Berufsausübung förderliche soziokulturelle Umwelten (auf organisationaler, institutioneller und gesamtgesellschaftlicher Ebene) zu schaffen. Denn ihrer intentionalen Struktur nach lebt Care-Arbeit von berufsethischen Tugenden (etwa der der Wohltätigkeit, Fürsorge), denen gleichsam intrapsychische Korrelate (wie bspw. emotionale Fähigkeiten, Sensibilitäten usw.) als Grundorientierungen helfender Beziehungen entsprechen, die ihrerseits auf ein intaktes System symbolischer Gratifikationen (Anerkennung, wertschätzender Respekt) angewiesen sind. 7
Technische Assistenzsysteme
Pflege als Beziehungsarbeit in einer teilweise hochgradig technisch aufgerüsteten Umgebung wie etwa in der Intensivmedizin oder mit Unterstützung elektronischer Datenverarbeitungs- und Dokumentationssysteme ist nicht un-
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gewöhnlich. Technische Einflüsse auf die Patienten-Pflege-Beziehungen sind indessen unklar (de Ruiter et al. 2016). Angesichts des demografisch wachsenden Anteils älterer Menschen stellt der Einsatz assistierender Technologien (Informations- und Kommunikationstechnologien ebenso wie Robotik) eine Option der Aufrechterhaltung eines selbständigen Lebens im Alter, aber auch der Kompensation demografisch sich ebenso zuspitzender pflegerischer Versorgungsengpässe dar. Mit dem verstärkten Einsatz neuer Technologie wachsen dem Pflegeberuf nicht nur neue Aufgaben und Rollen zu, sondern auch Gefahren technisch induzierter Fragmentierungen beruflicher Arbeit, einer Verstärkung von Trends tayloristisch strukturierter Arbeitsabläufe (Almeida Vieira Monteiro 2016). Vor allem ethische Fragen stellen sich mit Blick auf den Einsatz von Emotions- oder Therapierobotern etwa bei demenziell veränderten Menschen. Sie bergen die Gefahr, die Aufmerksamkeits- und Wahrnehmungssteuerung des Pflegepersonals erheblich zu beeinflussen, überhaupt die intrinsische Werthaftigkeit gelingender Betreuungsbeziehungen zu vermindern und zu gefährden (Schuster 2021; Deutscher Ethikrat 2020). Auch könnte durch den Einsatz neuester Datenverarbeitungssysteme mit automatisierten Klassifikationen diagnostischer Fälle zu statistischen Zwecken der professionelle Anspruch, der jeweils individuellen Komplexität des Einzelfalls zu genügen, Schaden nehmen (Remmers 2019). Freilich sollte der Wert assistierender Technologien in anderen Settings der Pflege nicht unterschätzt werden. Mit Familienstrukturen werden sich gleichzeitig Sorgestrukturen im Alter verändern. Zukünftig wird ein Mix familiär sowie bürgerschaftlich erbrachter und professioneller Pflege bedeutsam sein, wobei neuen Technologien z.B. eine besondere Koordinierungsfunktion zuwächst. Zu beantworten ist dabei die Frage, unter welchen konstruktiven Voraussetzungen das Zusammenspiel unterschiedlicher fachlicher und lebensweltlicher Erfahrungen im Versorgungsprozess kreativ gestaltet werden kann. Ziel dringend auszuweitender sorgender Gemeinschaften wird es sein, Menschen eine selbstständige Lebensführung auch mit Einsatz assistierender Technologien zu ermöglichen, die zugleich Pflegepersonen von bestimmten Tätigkeiten entlasten, um ihnen größere Freiräume für interaktionsintensive Aufgaben zu ermöglichen (BFSFJ 2020, S. 136; Remmers 2016). 8
Ausblick
Unter Beachtung bevölkerungsstruktureller Veränderungen in den nächsten Jahren ist mit einem Anstieg der Zahl pflegebedürftiger Personen bis 2030 um etwa 1 Mio. auf dann etwa 5,1 Mio. Pflegebedürftige zu rechnen (Curacon 2021). Wie diesem pflegerischen Versorgungsbedarf in Zukunft entsprochen werden kann, ist unklar. Mit Einführung der sozialen Pflegeversicherung hatte die seinerzeitige Bundesregierung den Weg einer Implementierung marktwirtschaftlicher Steuerungselemente zur Behebung nicht zu leugnender Schwä-
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chen des korporatistischen Wohlfahrtssystems beschritten. Dass dieser Weg sich bewährt hat, kann bezweifelt werden. Naturgemäß leiten sich die primären Ziele der sich im Sektor der Langzeitpflege ausdehnenden erwerbswirtschaftlichen Unternehmen 6 nicht aus dem Bedarfsdeckungsprinzip elementarer Güter (normativer Rahmen der Gemeinwirtschaft), sondern aus dem Primat der Erwirtschaftung möglichst hoher, nicht reinvestierter Gewinne ab. Unter sozialethischen Gesichtspunkten verbietet es sich indessen, menschliche Zustände des Ausgeliefertseins (Vulnerabilität, Fragilität des kranken bzw. alten Menschen) als einen wirtschaftlichen Ertragsfaktor zu behandeln. Überdies sprechen Qualitätsvergleiche zwischen Einrichtungen in privater und solchen in freigemeinnütziger bzw. öffentlicher Trägerschaft eine deutliche, empirisch gesicherte Sprache: Unabhängig vom Preis schneiden gewinnorientierte Pflegeheime signifikant schlechter ab als jene in gemeinnütziger Trägerschaft (Geraedts/Harrington/Schumacher/Kraska 2016). 7 Worin aber besteht die differentia specifica und worauf sollte in Zukunft ein besonderes Augenmerk gerichtet werden? Unter den Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege heben sich die kirchlichen mit einer vergleichsweise hohen Zahl an Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ab, wobei „das religiöse Proprium der kirchlichen Sozialeinrichtungen“, gemessen an der Zusammensetzung der Mitarbeiterschaft, „immer undeutlicher“ wird (Großbölting 2013, S. 248). Doch selbst wenn in den kirchlichen Einrichtungen der Pflege die ehedem bspw. den Diakonissen zuzusprechende „spirituelle Verankerung der Nächstenliebe“ als Sinnquelle beruflichen Handelns zurücktreten sollte, so scheint doch der am „Bild der existenziellen Bedürftigkeit des Menschen“ orientierte Dienstgedanke eine weiterhin bedeutsame Rolle zu spielen (Kumbruck 2009, S. 52 sowie S. 140; vgl. auch Kreutzer Der Anteil von Pflegeheimen in privater Trägerschaft betrug 2019 42,7 %, von ambulanten Pflegediensten in privater Trägerschaft 66,5 %. Statistisches Bundesamt: Pflegestatistik 2019. https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Gesundheit/Pflege/Publikationen/ Downloads-Pflege/pflege-deutschlandergebnisse-5224001199004.pdf?blob=publicationFile. 7 Dies gilt bezüglich folgender Qualitätskriterien: Pflegeprozesse (prophylaktische Maßnahmen, Schmerzassessment, Biografie-Arbeit und Tagesgestaltung für Demenzkranke), Betreuungsprozesse (Einbeziehung von Angehörigen, familiale Atmosphäre), Qualitätsmanagement (Instruktionen für Notfälle, Beschwerdemanagement) und Einrichtungsstruktur (sichere und ansprechende Umgebung, räumliche Gestaltung). Lediglich bei der Qualität der Versorgungsergebnisse (Ernährungszustand, Flüssigkeitszustand), auf welche sich in erster Linie das formal-standardisierte öffentliche Kontrollinteresse richtet, lassen sich keine signifikanten Unterschiede feststellen. Vgl. ebenso: Comondore et al. 2009; Harrington et al. 2012; Harrington/Ross/Kang 2015. Rothgang et al. (2015) haben in einer Expertise für den Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste e.V. ihre Beurteilung der Pflegequalität auf Pflegenoten und Personal gestützt. Pflegenoten, bei denen die Privaten leicht schlechtere Ergebnisse erzielen, haben sich als völlig abwegiges, methodisch längst problematisiertes Bewertungsinstrument erwiesen, was die Autoren auch zugestehen. Herangezogen werden ferner die Personaleinsatzmenge, die bei privaten Pflegeheimen geringfügig höher ist, und die Fachkraftquote, die allerdings durch zahlreiche Ausnahmeregelungen der Heimpersonalordnung stark manipulativ handhabbar ist. Die Berechnung der Fachkraftquote enthält überdies einen methodischen Fehler, da bloße Köpfe berechnet werden unabhängig vom Ausmaß des Beschäftigungsverhältnisses (Arbeitszeit). 6
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2005; dazu in diesem Band Städtler-Mach). Gelingt es diesen Einrichtungen, ein in berufssozialisatorischen Prozessen der Persönlichkeitsbildung affektiv tief verankertes und insoweit auch „gelebtes Pflegeethos“ gleichsam auch als zusammenschweißenden „Korpsgeist“ dauerhaft zu bekräftigen, so dürfen davon sogar „Wettbewerbsvorteile“ erwartet werden (Rinderspacher et al. 2009, S. 257). Als berufliche Tugenden kultivierte Fähigkeiten wie: Aufmerksamkeit, Zugewandtheit, empathische Perspektivenübernahme, emotionale Resonanz, setzen ein hohes Maß an in Bildungsprozessen zu erwerbende Affektsteuerung voraus und heben sich von purer „Job-Mentalität“ ab. Entscheidend für die praktische Umsetzung solcher Fähigkeiten aber ist der Faktor Zeit. Alle Sphären durch Märkte gesteuerter Erwerbswirtschaft unterliegen einer Ökonomie der Zeit: der zeitlichen Verringerung der Herstellung von Produkten bzw. der Steigerung des Outputs bei gleichbleibendem zeitlichem Arbeitsaufwand. Die Anwendung zeitökonomischer Gesetzmäßigkeiten auf Dienstleistungen, deren Gegenstand menschliche Lebendigkeit und subjektive Bedürftigkeit in einem interaktiven Bezugsrahmen ist, verfehlt das Proprium pflegerischer Tätigkeiten und läuft auf ihre Taylorisierung hinaus. Diesen in modernen Management-Konzepten verkleideten Tendenzen, welche sich in wiederkehrendem Arbeitsstress und in Konflikten manifestieren, Widerstand entgegen zu setzen, dürfte zu den vornehmsten Aufgaben kirchlich gebundener Einrichtungen gehören. Zum Programm einer „Humanisierung der Arbeitswelt“ gehörte einst die Forderung nach größerer Zeitsouveränität. Diese Forderung, zeitliche Dispositionsspielräume pflegerischer Arbeit (der häuslichen ebenso wie der stationären) gegenüber (scheinbar) ökonomischen Zwängen offen zu halten bzw. abzuschirmen, ist nicht nur ein Gebot der Schonung, sondern auch der Sachangemessenheit im Hinblick auf physiologische sowie kognitive Verluste insbesondere des betagten Menschen (Kruse 2017, Kap. 2.2 und 2.3). Ihren übergeordneten institutionellen Zielen gemäß (Gemeinwohl, Schutz und Förderung personaler Integrität, Gebot der Humanität) sind Pflegeeinrichtungen in kirchlicher Trägerschaft geradezu prädestiniert, der Vermarktlichung und den damit einhergehenden personellen Auszehrungen Grenzen zu setzen und organisations- sowie ausbildungspraktische Gegenmodelle zu schaffen. Zu den strukturbildenden Eigenschaften von Gegenmodellen sollte allerdings auch gehören, jenseits des Gedankens einer „spirituellen Dienstgemeinschaft“ (Sphäre der symbolischen Gratifikation) den Dienstgedanken mit einer verallgemeinerbaren tarifvertraglichen Regelung (Sphäre der materiellen Gratifikation) zu substanziieren (Wegner 2010). 8 Caritas und Diakonie tragen ihrem ethischen Selbstverständnis nach in besonderer Weise eine zweiseitig ausgerichtete, sich nunmehr aller paternalistischen Schlacken entledigende Verantwortung, nämlich gegenüber schutzbedürftigen Personen und gegenüber tradiTarifpolitisch ist momentan etwas in Bewegung geraten. Vgl. dazu: „Beschäftigte in der Altenpflege können auf mehr Geld hoffen“, Süddeutsche Zeitung v. 01.02.2021.
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tionell „verhandlungsschwachen“ Pflegefachpersonen (Senghaas-Knobloch 2010, S. 104). Es wird sich zeigen, in welcher Weise es gelingt, zukunftsweisende Wege jenseits jenes antinomischen Verhältnisses von Erwerbstätigkeit und Care, von dem oben gesprochen war, zu beschreiten. Zu sprechen ist schließlich von einem nicht minder bedeutsamen, vor allem die Einrichtungen der Pflege in kirchlicher Trägerschaft verpflichtenden Anspruch gelebter Spiritualität. Dafür sprechen Erkenntnisse der entwicklungsbezogenen Persönlichkeitspsychologie, denen zufolge Alternsprozesse, aber auch Verarbeitungsprozesse schwerer Erkrankungen, sehr häufig durch geistigseelisches Wachstum des Individuums gekennzeichnet sind; durch Versuche einer sinnvollen Situierung der eigenen Person in größeren gesellschaftlichen Lebenszusammenhängen, welche auch mystische Dimensionen des Lebens in kosmischen Bezügen einschließen können (Remmers 2017). In solchem Bewusstsein der Selbsttranszendenz drückt sich Spiritualität aus als gewandelte Gestalt einer zusehends kirchliche Bindungen abstreifenden Religiosität. Gleichwohl lassen sich kirchliche Einrichtungen der Pflege als „privilegierte“ Orte einer gelebten Spiritualität begreifen; einer als andere „Gegebenheitsweise“ des Leib-Seins verstandenen Spiritualität, die umso bedeutsamer wird als eine eigene (immer weniger vom Ich kontrollierte) Sphäre der Selbsterfahrung, je mehr sich im Zuge körperlicher Verluste Fremdheitserfahrungen in den Vordergrund drängen (Böhme 2003, insbes. S. 63–72). Allein aus formalen Gründen werden kirchlich getragene Einrichtungen eine kulturelle Infrastruktur schaffen müssen, die den spirituellen Bedürfnissen pflegebedürftiger Personen in unterschiedlicher Weise entgegenkommt: Sie haben zum einen rein berufsrechtlichen Anforderungen an eine qualifizierte Pflege zu genügen 9, zum anderen durch Professionalisierung eines konfessionell eher neutralisierten seelsorgerlichen Angebots für eine herausgehobene Position im Leistungswettbewerb zu sorgen. In den einst von Diakonissen geführten Anstalten der Versorgung Kranker spielte neben der „Körperpflege“ eine gleichwichtige Rolle die „Seelenpflege“ – seinerzeit noch verstanden als Teil eines missionierenden Gesamtauftrages. Davon werden sich kirchliche Einrichtungen heute in einer weltanschaulich pluralisierten sozialen Umwelt verabschieden. Ihr seelsorgerisches Proprium dagegen werden sie zum einen organisationskulturell durch ein systematisch im Pflegeprozess arbeitsteilig verankertes Angebot geltend machen, zum anderen durch ein streng individua-
9 In der Ausbildungs- und Prüfungsverordnung des Pflegeberufegesetzes wird die curruculare Ausgestaltung der Ausbildung offengelassen und den Ländern anheimgestellt. Das „Diakonische Profil in der Pflege und der Pflegeausbildung“ (08/2019) manifestiert sich ausdrücklich in den Dimensionen „Spiritualität“, „Existentielle Kommunikation“ und „Selbstsorge“. https://www.diakonie-wissen.de/documents/242233/12199803/08_2019+Diakonisches+Pro fil+in+der+generalistischen+Pflegeausbildung_Web.pdf/4fc1c829-f956-437a-98f13039eef98570. In den nicht-kirchlichen Curricula-Entwürfen für die Pflegeausbildung, bspw. im „Bremer Curriculum“, spielen „spirituelle Bedürfnisse“ eine eher marginale Rolle.
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51 Sucht: Hilfeangebote – Auftrag von Kirche und Seelsorge Daniela Ruf
Suchterkrankungen sind weit verbreitet und treten in allen sozialen Schichten und Altersgruppen auf. Das Wort „Sucht“ geht dabei nicht auf das Wort „suchen“ zurück, sondern auf „siechen“, das Leiden an einer Krankheit. Dennoch können Suchterkrankungen auch als (gescheiterte) „Lösungsversuche“ bzw. vergebliche Suche nach Sinn beschrieben werden und haben damit auch eine spirituelle Dimension. Daher ist es wichtig, dass Suchthilfe, Sucht-Selbsthilfe und Seelsorge gut miteinander vernetzt sind, um gemeinsam darauf hinzuwirken, dass suchtkranke Menschen und Angehörige nicht Abwertung und Ausgrenzung, sondern Ermutigung, Wertschätzung sowie die notwendige Unterstützung und Hilfe erfahren. 1
Historische Entwicklung
Alkoholische Getränke spielten in fast allen Kulturen von jeher eine wichtige Rolle, zum einen als Genussmittel sowie im Kontext von Festtagen und religiösen Riten, zum anderen waren vergorene Getränke fester Bestandteil der Ernährung. Zur Zeit der Industrialisierung im 19. Jahrhundert lebte ein Großteil der Bevölkerung in Armut und Elend. Branntwein war billig und einfach verfügbar, so dass er als Nahrungs-, Arznei- und Stärkungsmittel diente. Damit nahm aber auch der Alkoholmissbrauch zu. Als Antwort darauf wurde 1851 von der Inneren Mission das erste „Trinkerasyl“, später „Trinkerheilstätte“ genannt, gegründet. Zur Jahrhundertwende folgte die erste katholische Heilstätte für Suchtkranke. Zwischen 1849 und 1900 entstanden christlich geprägte Mäßigkeits- und Abstinenzverbände (Blaues Kreuz, Guttemplerorden, Kreuzbund). Nach 1900 kam es zu einer Ausweitung der Behandlungsangebote, weitere Trinkerheilstätten wurden gegründet. Darüber hinaus entstanden erste „Fürsorgestellen“, aus welchen die heutigen Suchtberatungs- bzw. „Ambulan-
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ten Beratungs- und Behandlungsstellen“ hervorgingen (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2019). Im Jahr 1968 hat das Bundessozialgericht Alkoholabhängigkeit in Deutschland als Krankheit im Sinne der gesetzlichen Krankenversicherung anerkannt. Damit wurde die Grundlage für ein staatlich gefördertes Hilfesystem für abhängigkeitskranke Menschen geschaffen. Inzwischen sind weitere substanzbezogene und auch verhaltensbezogene Abhängigkeiten dazugekommen. Es existieren vielfältige Angebote der Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe, viele davon in Trägerschaft von Caritas und Diakonie. Die Angebote sind offen für alle Menschen, unabhängig von ihrem konfessionellen Hintergrund. 2
Formen von Suchtproblemen und Merkmale von Abhängigkeitserkrankungen
Der Begriff „Sucht“ wurde von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) 1964 durch die Begriffe „Missbrauch“ und „Abhängigkeit“ ersetzt, umgangssprachlich ist seine Verwendung dagegen weiterhin üblich (Stangl 2020). Es werden substanzbezogene Suchtprobleme (z.B. Alkohol, Tabak, Medikamente, illegale Drogen) – nicht selten liegt auch eine Mehrfachabhängigkeit vor – von verhaltensbezogenen Suchtproblemen (z.B. Glücksspiel, Internet) unterschieden. Die Entstehungs- und Aufrechterhaltungsmechanismen sind bei substanzbezogenen und nicht substanzbezogenen Suchtformen sehr ähnlich. Der Konsum von Suchtmitteln und suchtartiges Verhalten können die körperliche und seelische Gesundheit gefährden und schädigen, auch ohne, dass bereits eine Abhängigkeit vorliegt. Ein solcher Konsum/ein solches Verhalten wird als riskant/problematisch bzw. als schädlich/missbräuchlich bezeichnet. Die Übergänge zwischen riskantem und schädlichem Konsum/Verhalten und Abhängigkeit sind fließend; eine Abhängigkeit kann sich auch noch nach vielen Jahren entwickeln. Wenn eine Abhängigkeitsentwicklung einsetzt, fixiert sich das Leben des betroffenen Menschen immer stärker auf das Suchtmittel/verhalten. Arbeit und Familie werden vernachlässigt, der Drang, die Wirkung des Suchtmittels/-verhaltens zu erleben, wird immer stärker, ebenso der Kontrollverlust. Die positiven Effekte zu Beginn weichen im Verlauf zunehmend negativen Gefühlen. Stimmungsschwankungen, depressive Verstimmungen oder Suizidgedanken treten ebenfalls auf. In der Regel sind Suchterkrankungen auch mit Schuld- und Schamgefühlen verbunden, und Betroffene erleben nicht selten Stigmatisierungen. Dies führt dazu, dass der Konsum/das problematische Verhalten verharmlost, geleugnet und verheimlicht wird. Neben der seelischen gibt es auch eine körperliche Abhängigkeit. Es werden zunehmend größere Mengen „vertragen“ (Toleranzentwicklung) und die Dosis muss erhöht werden bzw. das problematische Verhalten wird ausgedehnt, um
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noch die gewünschte Wirkung zu erzielen. Bleibt bei Abhängigkeiten das Suchtmittel aus oder wird das Suchtverhalten für längere Zeit unterbrochen, kommt es zu Entzugserscheinungen (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2020a). 3
Daten zu Suchtmittelkonsum und Suchtverhalten
Im Folgenden werden Daten aus dem Jahrbuch Sucht der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen (2020b) zu verschiedenen Suchtmitteln und -verhalten dargestellt: – Drei Millionen Erwachsene in Deutschland im Alter von 18 bis 64 Jahren hatten im Jahr 2018 eine alkoholbezogene Störung (Missbrauch: 1,4 Millionen; Abhängigkeit: 1,6 Millionen). Durch Alkoholkonsum oder kombinierten Konsum von Tabak und Alkohol werden jährlich etwa 74.000 Todesfälle verursacht. Die ökonomischen Kosten des schädlichen Alkoholkonsums werden auf rund 57,04 Milliarden Euro pro Jahr beziffert. – Die Zahl der Raucher:innen in Deutschland ist rückläufig. Im Jahr 2017 rauchten 26 % der Männer und 19 % der Frauen ab 15 Jahren. Dennoch ist Rauchen eine führende Ursache vorzeitiger Sterblichkeit. Die gesamtwirtschaftlichen Kosten des Rauchens werden auf jährlich 97,24 Milliarden Euro beziffert. – Missbrauch und Abhängigkeit von Medikamenten sind in den letzten Jahren angestiegen. Geschätzt sind etwa 1,5 bis 1,9 Millionen Menschen medikamentenabhängig. – Im Jahr 2018 konsumierten 8 % der Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren Cannabis, 309.000 Erwachsene im Alter von 18 bis 64 Jahren sind abhängig von Cannabis. Eine Kokainabhängigkeit liegt bei 41.000 und eine Amphetaminabhängigkeit bei 103.000 der 18- bis 64-jährigen vor. Im Jahr 2019 wurden 1.398 drogenbedingte Todesfälle in Deutschland polizeilich registriert. – 0,39 % der 16- bis 70-jährigen bundesdeutschen Bevölkerung weisen ein problematisches Spielverhalten auf, 0,34 % zeigen ein pathologisches Spielverhalten, also eine Glücksspielsucht. – 2019 wurde Gaming Disorder (Computerspielstörung) in das Klassifikationssystem (ICD-11) aufgenommen. In einer Studie ergab sich eine Schätzung der Auftretenshäufigkeit von Internet Gaming Disorder von 5,7 % in der Altersgruppe der 12- bis 25-Jährigen in Deutschland (Wartberg/Kriston/ Thomasius 2017).
– Essstörungen sind keine Suchterkrankungen, sondern psychosomatische Erkrankungen mit Suchtcharakter. Für Frauen wurden Auftretenshäufigkeiten zwischen 1,7 % und 3,6 % für unterschiedliche Essstörungen ermittelt. Männer sind auch betroffen, allerdings deutlich seltener.
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Entstehung von Suchterkrankungen
Nicht jeder Mensch, der Suchtmittel konsumiert, wird abhängig, jedoch geht mit einem Suchtmittelkonsum das Risiko einher, abhängig zu werden. Eine gute soziale Einbindung in Familie, Freundeskreis, Arbeit sowie der Besuch einer Selbsthilfegruppe wirken als Schutzfaktoren, aber auch als stabilisierende Faktoren auf dem Weg aus der Sucht. Der Entstehungshintergrund von Suchterkrankungen ist mehrdimensional und multikausal. Das verbreitetste Modell ist das Sucht-Dreieck, welches die Entstehung von Suchterkrankungen im Gefüge von Individuum-Umwelt-Droge erklärt und bereits in den 1970er Jahren veröffentlicht wurde. Die Komponente „Individuum“ umfasst alle individuellen Merkmale der Person, z.B. Geschlecht, Persönlichkeitsmerkmale; der Faktor „Umwelt“ bezieht sich z.B. auf soziale Eingebundenheit, Akzeptanz des Suchtmittels; der Aspekt „Droge“ meint z.B. Verfügbarkeit und Abhängigkeitspotential des Suchtmittels. In der Suchtforschung spricht man vom „bio-psycho-sozialen“ Modell, welches psychologische, biologische und soziale Bedingungen, die miteinander in Wechselwirkung stehen, beschreibt. Jeder betroffene Mensch besitzt eine ganz individuelle „Suchtgeschichte“, in welcher verschiedene gesellschaftliche, persönliche und situative Aspekte eine Rolle spielen, die in die Beratung und Behandlung einbezogen werden müssen. Es gibt inzwischen aber auch eine Reihe an Forschungsergebnissen, die nahe legen, dass das bio-psycho-soziale Modell in bestimmten Bereichen zu kurz greife und um eine spirituelle Komponente zu ergänzen sei (u.a. Zwingmann 2005). 5
Auswirkungen von Suchterkrankungen
Suchtprobleme sind häufig mit schwerwiegenden körperlichen, psychischen und sozialen Konsequenzen sowie einem Verlust an Lebensqualität und Lebenserwartung verbunden. Sucht hat immer eine individuelle Geschichte – dennoch ist Sucht ein gesamtgesellschaftliches Problem. Suchtprobleme und erkrankungen verursachen beträchtliches Leid und Kosten für die Gesellschaft. Abhängigkeitserkrankungen wirken sich aber nicht nur auf die Betroffenen selbst aus, sondern auch auf Personen in der Umgebung (Familie, Freunde, Kolleg:innen), welche ebenfalls darunter leiden, nicht selten sogar früher und teilweise mehr als die Betroffenen selbst. Sie müssen mit der Sorge um die betroffene Person wie auch mit erhöhten Belastungen und Überforderungen im Alltag umgehen. Darüber hinaus versuchen viele Angehörige oft lange, die Probleme nach außen zu verheimlichen. Kinder suchtkranker Eltern sind besonders von Überforderung betroffen. Sie erhalten wenig Unterstützung, stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück und übernehmen zunehmend nicht altersgemäße Aufgaben und Verantwortung in der Familie. Etwa ein Drittel der Kinder aus suchtbelasteten Familien entwickeln im Erwachsenenalter selbst
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eine Suchtproblematik, ein Drittel der Kinder zeigt psychische Störungen. Obwohl Sucht als Krankheit anerkannt ist, werden Abhängigkeitserkrankungen teilweise immer noch als selbstverschuldet wahrgenommen und Betroffene stigmatisiert. 6
Gesamtgesellschaftliche Aspekte
Es besteht ein großer Markt an Genuss- und Rauschmitteln mit psychoaktiven Eigenschaften. Die Diskussionen über die Regelung des Umgangs mit Suchtstoffen bewegen sich dabei in verschiedenen Spannungsfeldern: Maßnahmen zur Gesundheitsförderung und zum Schutz von Kindern und Jugendlichen vor Suchtgefahren stehen sich weiterentwickelnden Konsummustern in der Bevölkerung und wirtschaftlichen Interessen legaler Anbieter gegenüber. Suchterkrankungen verursachen hohe Kosten im Gesundheitssystem, gleichzeitig werden über Steuern auf Tabak und Alkoholerzeugnisse oder auf gewerbliches Glückspiel hohe Einnahmen erzielt. Ein weiteres Spannungsfeld besteht zwischen erforderlichen Schutzmaßnahmen und dem Anspruch auf Selbstbestimmung, welches weder durch umfassende Verbote noch durch völlige Liberalisierung aufgelöst werden kann. Eine Reihe von Substanzen unterliegt wegen der besonderen gesundheitlichen Risiken Werbe-, Handels- und Erwerbsbeschränkungen bzw. –verboten. Dies betrifft z.B. Beschränkungen des Alkoholund Tabakkonsums von Minderjährigen (Jugendschutzgesetz) sowie die strikten Beschränkungen des Handels, Erwerbs und Besitzes von Betäubungsmitteln bis hin zu deren Verkehrsverbot (Betäubungsmittelgesetz). Alkohol- und Tabakkonsum wird trotz der schädlichen Auswirkungen im Vergleich zu illegalen Drogen eher verharmlost. Ein wichtiges Element im Hilfeansatz stellt die Möglichkeit dar, beim Besitz und Erwerb einer geringen Menge illegaler Suchtmittel zum Eigengebrauch von einer Strafe abzusehen (Entkriminalisierung von Konsument:innen und Abhängigen) (Deutsche Bischofskonferenz 2016). 7
Hilfeangebote für Menschen mit Suchtproblemen und -erkrankungen
In den letzten 150 Jahren hat sich in Deutschland ein sehr differenziertes Suchthilfesystem entwickelt. Dies ermöglicht es, auf die Beratungs-, Betreuungs- und Behandlungsbedarfe von Menschen mit Suchtproblemen individuell und flexibel zu reagieren. Die Suchthilfe hat sich dabei über die Jahre von der Suchtkrankenhilfe zur Suchthilfe entwickelt: So sind heute verstärkt auch riskante und missbräuchliche Konsummuster im Blick und die Bedeutung von Gesundheitsförderung und Prävention hat zugenommen. Die Suchthilfe orientiert sich neben der Abstinenz als Ziel der ersten Wahl auch an Zielen wie Teilabstinenz (bezogen auf bestimmte Suchtmittel), Punktabstinenz (bezogen auf einen situativen Anlass), kontrollierte Abstinenz/Trinkmengenreduktion, Abstinenz unter fortgesetzter Dauermedikation (z.B. bei Substitution) oder der Begleitung des Konsums im Rahmen von Harm Reduction zur Überlebenshilfe
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und Schadensreduzierung. Gemeinsam mit den Betroffenen werden bedarfsgerechte und realisierbare Behandlungsziele erarbeitet. Im Mittelpunkt stehen dabei, Ressourcen und Kompetenzen von Betroffenen und Angehörigen zu stärken sowie ihre Gesundheit zu fördern. Diagnostische Aspekte und Rahmensetzungen von Leistungsträgern, die für die Entwöhnungsbehandlung Abstinenz als Ziel vorgeben, spielen ebenfalls eine Rolle bei den Zielsetzungen (Bürkle/Holthaus 2019). Es gibt inzwischen auch verschiedene Medikamente zur Behandlung von Alkoholabhängigkeit, die teilweise suggerieren, Abstinenz zu erreichen. Es geht dabei allerdings eher um Rückfallvorbeugung und/oder um Trinkmengenreduktion, eine medikamentöse „Heilung" von Suchterkrankungen gibt es nicht (Brecklinghaus 2018). Die Angebote der Suchthilfe umfassen Prävention, Beratung, Behandlung, Rehabilitation und Nachsorge. Die Zusammenarbeit von Sozialarbeiter:innen, Sozialpädagog:innen, Psycholog:innen und Ärzt:innen in der Suchthilfe gewährleistet, den unterschiedlichen Dimensionen von Suchterkrankungen gerecht zu werden. Neben den Hilfeangeboten in Einrichtungen der Suchthilfe ist die gegenseitige Hilfe unter Betroffenen und Angehörigen in der Sucht-Selbsthilfe eine wichtige Unterstützung. Sie kann vor, während oder nach einer medizinischen/therapeutischen Behandlung in Anspruch genommen werden, aber auch unabhängig davon. In der Selbsthilfe erfahren Menschen, dass sie mit ihren Problemen nicht alleine sind. Die Gruppentreffen bieten die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch in geschützter Atmosphäre, Entlastung, Begegnung, stabilisierende Beziehungserfahrungen sowie modellhaftes Voneinander- und Miteinander-Lernen. Selbsthilfegruppen motivieren zum Ausstieg aus der Sucht. Betroffene unterstützen sich gegenseitig bei einer abstinenten Lebensweise und vermitteln bei Bedarf in Beratung und Behandlung. Selbsthilfe bietet neben den klassischen Gruppengesprächen oft auch umfassende Unterstützung im Alltag sowie gemeinsame Freizeitaktivitäten und Veranstaltungen (Deutscher Caritasverband 2015). Die verschiedenen Angebote der Suchthilfe weisen hohe Erfolge auf. Bei 61 % aller Klient:innen in ambulanten und bei 82 % in stationären Einrichtungen zeigt sich eine Verbesserung der Suchtproblematik (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2020b). Die Erfolge beziehen sich auf Verbesserung der seelischen, körperlichen und sozialen Lebenslage sowie die Abstinenz. Selbsthilfe hat ebenfalls eine hohe Wirksamkeit. Bspw. wurden 2017 lediglich 13 % der Gruppenbesucher:innen rückfällig und 77 % der rückfällig gewordenen Personen konnten wieder stabilisiert werden (Blaues Kreuz in Deutschland/Blaues Kreuz in der Evangelischen Kirche – Bundesverband/Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe – Bundesverband/Guttempler in Deutschland e.V./Kreuzbund e.V. – Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft für Suchtkranke und Angehörige 2017).
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Die verfügbaren Hilfeangebote können von allen Menschen mit Suchtproblemen in Anspruch genommen werden. Einige Angebote sind kostenfrei, z.B. Präventionsangebote, Suchtberatung oder Selbsthilfe. Für andere Betreuungsund Behandlungsmaßnahmen, wie z.B. Entgiftung, Entwöhnung oder Eingliederungshilfe, sind Bewilligungen von Kosten- und Leistungsträgern erforderlich (Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen 2019). Die Wege aus der Sucht können sehr unterschiedlich sein. Schuld- und Schamgefühle sowie erlebte Stigmatisierung führen nicht selten dazu, dass suchtspezifische Hilfen erst spät oder gar nicht in Anspruch genommen werden. Es zeigt sich, dass nur etwa 8 % der Betroffenen durch spezifische Suchthilfeangebote erreicht werden. Manche Menschen nehmen ausschließlich Angebote in Suchthilfeeinrichtungen in Anspruch, andere ausschließlich SuchtSelbsthilfeangebote, wieder andere nehmen beides in Anspruch. Ein nicht unerheblicher Teil der Betroffenen findet aber auch ohne Inanspruchnahme von Hilfen den Weg aus der Sucht. Die meisten Betroffen finden sich mit bis zu 80 % bei niedergelassenen Ärzt:innen und in Allgemeinkrankenhäusern und nicht im Suchthilfesystem. Dort sind sie jedoch meist nicht wegen der bestehenden Suchtproblematik, sondern wegen anderer Erkrankungen. Ein weiterer Teil von bis zu 5,5 % ist im Bereich der psychosozialen-psychiatrischen Basisversorgung zu finden, wie in sozialpsychiatrischen Diensten, psychiatrischen Abteilungen oder in der Wohnungslosenhilfe. Viele Betroffene erhalten damit erst sehr spät gezielt die nötigen Hilfen (Wienberg 2001). Daher ist es ein wichtiges Ziel, niedrigschwellige und passgenaue Hilfen für sich verändernde Zielgruppen, Suchtformen und Konsummuster zu entwickeln, in analoger und digitaler Form, um eine größere Anzahl von Betroffenen frühzeitig zu erreichen. Ebenso wichtig sind eine wirksame Präventionsstrategie, die Förderung von Entstigmatisierung sowie eine verbesserte Vernetzung und Koordination verschiedener Angebote, die nahtlose und bedarfsgerechte Hilfen ermöglichen. Auch Kirche und Seelsorge können dabei eine wichtige Rolle einnehmen und eine wertvolle Hilfe für Betroffene und Angehörige bieten. 8
Auftrag von Kirche und Seelsorge
„Sucht hat immer eine Geschichte, und diese fängt nicht mit der Einnahme einer Substanz an und hört nicht mit deren Ab- oder Ersetzen auf“ (Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen 1999, S. 13). „Diese Geschichten wahr- und ernst zu nehmen und von Sucht betroffenen Menschen glaubwürdig zu vermitteln, dass Gott selbst liebevoll und ohne Vorwurf auf sie und alles, was ihnen widerfahren ist, blickt, das ist Aufgabe der Kirche in der Welt von heute“ (Bell-D’Avis 2017, S. 21). Suchtkranke und Angehörige beschäftigen auch Sinnfragen und spirituelle Fragen, die nicht ohne weiteres von Beratungsstellen oder Selbsthilfegruppen beantwortet werden können. Kirche hat daher nicht nur dort einen Auftrag, wo
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sie mit Angeboten von Caritas und Diakonie Betroffenen und Angehörigen hilft, sondern auch in der Begegnung mit Suchtkranken in der Gemeinde und in der Seelsorge (Neher 2012). Suchthilfe, Sucht-Selbsthilfe und Seelsorge ist gemeinsam, dass sie Handlungsfelder christlich-caritativen Handelns sind und sich überlappen, wo es um die Unterstützung von Menschen in Notsituationen geht. Nur gemeinsam kann das Ziel erreicht werden, möglichst vielen suchtgefährdeten und suchtkranken Menschen frühzeitig einen Zugang zu den notwendigen Hilfen zu ermöglichen. Caritas und Diakonie haben die besten Voraussetzungen für ein gemeinsam getragenes und vernetztes Hilfeangebot mit ihren bundesweit vorhandenen Suchthilfeeinrichtungen und Selbsthilfegruppen. Seelsorge, insbesondere Krankenhausseelsorge, bietet eine gute Möglichkeit, eine große Anzahl von Menschen und damit auch suchtkranke Menschen zu erreichen. Für Menschen in der Kirche und im Bereich Seelsorge stellt der Umgang mit Suchterkrankungen jedoch häufig eine Herausforderung dar und ist mit Unsicherheiten verbunden. Seelsorge kann und soll keine Suchttherapie ersetzen. Eine wichtige Aufgabe von Seelsorgenden, kirchlichen Mitarbeiter:innen und Menschen in der Gemeinde kann es jedoch sein, sensibel für vorhandene Suchtprobleme zu sein, Anzeichen dafür zu erkennen, und Betroffene auf ihrem Weg in Angebote der Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe zu begleiten. Seelsorge kann darüber hinaus dazu beitragen, Betroffenen die menschlich liebende Annahme durch Gott spürbar zu machen. Denn dieses Gefühl des „An-undernst-genommen-Werdens“ und des „Nicht-fallen-gelassen-Werdens“ kann die Annahme der Suchterkrankung unterstützen und zu einem verständnisvolleren Umgang der Betroffenen mit sich selbst führen. So kann Kraft aus dem Glauben empfangen werden für die notwendigen Schritte zur Veränderung (Deutsche Bischofskonferenz 2016). Seelsorge kann damit eine wichtige Stütze und Wegbegleitung zu einer abstinenten Lebensführung sein und Orientierungshilfen bieten. Der christliche Glaube kann helfen, sich mit der Krankheit der Abhängigkeit auszusöhnen und eine abstinente Lebensführung zu erreichen und aufrechtzuerhalten (Kreuzbund 2009). Gemeindliche Seelsorge kann – über Seelsorge-Gespräche mit einzelnen hinaus – auch viel dafür tun, Suchtprobleme zu thematisieren und auf diese Weise zu ihrer Enttabuisierung beitragen und präventiv tätig werden. Dabei können Fachleute aus Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe sie unterstützen. Betroffene wie Angehörige können auf diese Weise früher ermutigt werden, ihr Schweigen und ihren sozialen Rückzug zu durchbrechen. Andere Gemeindemitglieder können frühzeitig sensibilisiert und auf mögliche Suchtgefahren aufmerksam gemacht werden. Konkrete Möglichkeiten sind z.B. die Bereitstellung von gemeindlichen Räumen für Selbsthilfegruppen, Unterstützung der Öffentlichkeitsarbeit, Thematisierung in Gottesdiensten, Einbindung von Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen in die kirchliche Jugendarbeit, Durchführung alkoholfreier Veranstaltungen.
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Um Menschen in der Kirche und Seelsorge auf ihre Aufgabe bei der Begleitung Suchtkranker vorzubereiten und sie dabei zu unterstützen, ist es wichtig, dass sie bereits in ihrer Ausbildung mit der Suchtthematik in Berührung kommen. Darüber hinaus sollte das Thema auch in Fortbildungsangebote für diese Zielgruppe aufgenommen werden (Deutsche Bischofskonferenz 2016). 9
Schlussgedanken
Die Vielfalt der Problemlagen von suchtkranken Menschen mit ihrer körperlichen, psychischen, sozialen und geistlichen Dimension erfordert ein differenziertes Hilfeangebot, das den Menschen und sein Umfeld als Ganzes wahrnimmt. Es braucht ein flexibles, multiprofessionell arbeitendes Hilfesystem mit aufeinander abgestimmten und vernetzten Angeboten unterschiedlicher Leistungserbringer innerhalb des sozialen und gesundheitlichen Hilfesystems sowie Angeboten der Sucht-Selbsthilfe und der Seelsorge. Eine gute und tragfähige Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Einrichtungen und Akteuren setzt dabei die Kenntnis und die Akzeptanz der jeweiligen Kompetenzen, Handlungsmöglichkeiten, Rahmenbedingungen, aber auch Grenzen voraus. „Betroffene suchen und benötigen Unterschiedliches: von der Entgiftung bis zum Zuspruch, von Verzeihung, von der Hoffnung, die das biblische Wort zu geben vermag, bis zu den neuen Perspektiven, die ein Entschuldungskonzept eröffnet; aber Betroffene teilen sich nicht ein in hier Glauben und dort Leben Suchende“ (Deutsche Bischofskonferenz 2016, S. 45). Daher ist es wichtig, dass Seelsorge, Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe aktiv Kontakt miteinander suchen und gut miteinander vernetzt sind, damit Betroffene und Angehörige genau die Unterstützung erhalten, die sie jeweils benötigen. Literatur Bell-D'Avis, S. (2017): Workshop „Hilft Gott gegen Sucht?“ (S. 21). 11. Mai 2017. Dortmund. https://www.caritas-nrw.de/diecaritasinnrw/klags/aktuel les/workshop-mai-2017 (Zugriff am 31.01.2021). Blaues Kreuz in Deutschland/Blaues Kreuz in der Evangelischen Kirche – Bundesverband/Freundeskreise für Suchtkrankenhilfe – Bundesverband/ Guttempler in Deutschland e. V./Kreuzbund e. V. – Selbsthilfe- und Helfergemeinschaft für Suchtkranke und Angehörige (2017): Statistik 2017 der fünf Sucht-Selbsthilfe- und Abstinenzverbände. https://www.bke-suchtselb sthilfe.de/images/downloads/BKE-Statistk%20der%205%20SSHV% 202017%20web.pdf (Zugriff am 31.01.2021). Brecklinghaus, M. (2018): Medikamentöse Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit. https://www.konturen.de/fachbeitraege/medikamentoese-ruec kfallprophylaxe-der-alkoholabhaengigkeit/ (Zugriff am 31.01.2021).
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Bürkle, S./Holthaus M. (2019): Abstinenz-Ziel im Wandel. neue Caritas, 14. https://www.caritas.de/neue-caritas/heftarchiv/jahrgang2019/artikel/absti nenz-ziel-im-wandel (Zugriff am 31.01.2021). Deutsche Bischofskonferenz (2016): „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal 5,1). Sucht – Eine Herausforderung für die Pastoral. Arbeitshilfen Nr. 292. https://www.dbk-shop.de/de/publikationen/arbeitshilfen/zur-freiheithat-uns-christus-befreit-gal-5-1-sucht-eine-herausforderung-pastoral.html (Zugriff am 31.01.2021). Deutscher Caritasverband (2015): Arbeitshilfe Modul I: Berufliche Suchthilfe und Sucht-Selbsthilfe – Grundlagen und Empfehlungen für eine gute Zusammenarbeit. https://www.caritas.de/fuerprofis/fachthemen/sucht/kooperation-zwischen-beruflicher-suchthi (Zugriff am 31.01.2021). Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (2019): Die Versorgung von Menschen mit Suchtproblemen in Deutschland – Analyse der Hilfen und Angebote & Zukunftsperspektiven. Update 2019. https://www.dhs.de/fileadmin/user_up load/pdf/dhs-stellungnahmen/Die_Versorgung_Suchtkranker_in_Deutsch land _Update_2019.pdf (Zugriff am 31.01.2021). Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (2020a): Ein Angebot an alle, die einem nahe stehenden Menschen helfen möchten. Infomaterial – DHS. Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (2020b): Jahrbuch Sucht. Lengerich. Kreuzbund e. V. (2009): Der Arbeitsbereich „Seelsorge“ im Kreuzbund e. V. https://www.kreuzbund.de/files/kreuzbund/public/downloads/service/konze pte/Seelsorge.pdf (Zugriff am 31.01.2021). Ministerium für Frauen, Jugend, Familie und Gesundheit des Landes Nordrhein-Westfalen (1999): Landesprogramm gegen Sucht. Düsseldorf. https://www.lzg.nrw.de/_php/login/dl.php?u=/_media/pdf/strategien/gesun dheitsziele/landesprogramm1.pdf (Zugriff am 31.01.2021). Neher, P. (2012): 75 Jahre Suchtberatung im Caritasverband Düsseldorf „Sucht hat immer eine Geschichte. Auftrag für ein multiprofessionelles Beratungsangebot der Caritas“. 5. Dezember 2012. Düsseldorf. Stangl, W. (2020): Sucht. Lexikon für Psychologie und Pädagogik. http://le xikon.stangl.eu/632/sucht/ (Zugriff am 31.01.2021). Wartberg, L./Kriston, L./Thomasius, R. (2017): Prävalenz und psychosoziale Korrelate von Internet Gaming Disorder. Studie auf der Grundlage einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe von 12- bis 25-Jährigen. Deutsches Ärzteblatt, 114, 419–42. DOI: 10.3238/arztebl.2017.0419. Wienberg, G. (2001): Die „vergessene Mehrheit“ heute - Teil V: Bilanz und Perspektiven. In: G. Wienberg/M. Driessen (Hg.): Auf dem Weg zur vergessenen Mehrheit. Innovative Konzepte für die Versorgung von Menschen mit Alkoholproblemen (S. 318–332). Bonn. Zwingmann, C. (2005): Erfassung von Spiritualität/Religiosität im Kontext der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Psychotherapie, Psychosomatik, Medizinische Psychologie, 55, 241–246.
52 Diakonisches Handeln in JVA und Straffälligenhilfe Michelle Becka
Der Anspruch diakonischen Handelns, Menschen ohne Ansehen von Herkunft, Status oder Religion respektvoll zu begegnen, gilt überall. Im Umgang mit Straffälligen ist er von besonderer Bedeutung, weil persönliche Vorbehalte einerseits und gesellschaftliche Vorurteile, Stereotypisierungen und Abgrenzungen andererseits die Arbeit beeinflussen. Damit umzugehen und den achtungsvollen Umgang mit den Klient:innen zu pflegen, ist Teil der Professionalität. Diakonische Arbeit mit Straftäter:innen findet innerhalb und außerhalb von Justizvollzugsanstalten statt, ehrenamtlich und haupt- oder nebenberuflich, in pastoralen Berufen und im breiten Berufsfeld der Sozialen Arbeit. Der Beitrag konzentriert sich weitgehend auf die professionellen Tätigkeiten, insbesondere Gefängnisseelsorge und Straffälligenhilfe. 1
Grundannahmen diakonischen Handelns mit Straffälligen
„Christen sind überzeugt: Gott steht auf der Seite der Opfer, doch er verlässt auch die Täter/innen nicht. […] Die von Gott geschenkte Würde gehört dem Menschen unverlierbar an, selbst dann, wenn dieser auf das Grausamste ihr entgegen gehandelt hat“ (Ev. Konferenz für Gefängnisseelsorge 2009, S. 9).1 Die biblischen Texte weisen eine starke Opferorientierung auf – und bis heute ist die Zuwendung zu den Schwächsten und zu jenen, denen Schaden zugefügt wurde, ein Kennzeichen des Christentums. Die gleichzeitige Sorge um die Täter:innen widerspricht dem nicht. Sie folgt Jesu Beispiel, der sich denen zuwendet, die schuldig geworden sind, der Gefangenen die Entlassung verkündet Dieser Beitrag übernimmt teils die in Bezugstexten verwendete Rede von „Opfern“ und „Tätern“ im Bewusstsein der Ambivalenzen der Begriffe. Damit soll keine Fixierung auf Täteroder Opferidentitäten erfolgen, noch den sogenannten Opfern Handlungsfähigkeit abgesprochen werden o.ä.
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(Lk 4,18), der radikale Empathie mit den Gefangenen fordert (Hebr 13,3) und sich sogar mit den Geringsten, auch den Inhaftierten, identifiziert (Mt 25,43). Die Hinwendung zu Straftäter:innen gehört daher von Anfang an zu den Kernbereichen christlicher Pastoral. Ab dem Ende des 17. Jahrhunderts gibt es in deutschen Zuchthäusern Einrichtungen der Seelsorge, eine strukturierte Gefängnisseelsorge gewinnt im 19. Jahrhundert an Bedeutung (vgl. Funsch 2015, S. 40). Drei Motivationsebenen lassen sich für die heutige Arbeit mit Straffälligen unterscheiden: – In der Nachfolge Jesu werden Täter:innen nicht auf ihre Tat reduziert. Weil der Mensch frei, und damit schuldfähig und verantwortlich ist, kann er sich ändern und ihm kommt eine Chance zu, sich erneut in die Gesellschaft zu integrieren. – Im Ernstnehmen der Täter:innen sind auch deren Verletzungs- und Opfererfahrungen zu erkennen, um Aufarbeitungs- und Veränderungsprozesse begleiten zu können. – Die Arbeit mit Täter:innen schützt auch die Geschädigten. Die Arbeit mit beiden ist nötig und sie dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. In diesem Sinne begleiten Akteur:innen der Gefängnisseelsorge und der Straffälligenhilfe die Straffälligen in deren Umgang mit und der Aufarbeitung von Tat und Schuld sowie in deren Wiedereingliederungsprozess in die Gesellschaft. Neben dem persönlichen Kontakt mit den Straffälligen und der liturgischen Praxis im Falle der Seelsorger:innen spielen auch die Arbeit mit Angehörigen eine wichtige Rolle sowie politische und strukturelle Fragen, da zahlreiche Hürden Resozialisierung und Eingliederung in die Gesellschaft erschweren. 2 Kennzeichnung des Arbeitsbereiches 2.1
Justizvollzug
Justizvollzugsanstalten dienen dem Vollzug der zuvor strafgerichtlich ausgesprochenen Freiheitsstrafe. Der Entzug der Freiheit ist die Strafe, es ist folglich nicht Aufgabe der Justizvollzugsanstalten darüber hinaus zu strafen. Auch das Ziel des Vollzugs ist nicht die Strafe, sondern das in § 2 StVollzG von 1977 festgelegte Strafvollzugsziel: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten.“ Seit der Föderalismusreform 2006 fällt der Justizvollzug in den Regelungsbereich der Länder, so dass es länderspezifische Strafvollzugsgesetze gibt. Zwar wurde das Vollzugsziel weitgehend übernommen, doch der Grundgedanke, dass der Schutz der Allgemeinheit v.a. durch eine gelingende Resozialisierung zu erreichen ist, ver-
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liert an Bedeutung. Resozialisierung und Schutz treten auseinander, so dass der Schutz der Bevölkerung vorrangig durch „Wegsperren“ gewährleistet erscheint. Politischer Druck, öffentliche Meinung und ökonomische Zwänge führen zu einer Verstärkung dieser Spannung in der Praxis des Justizvollzugs. Personalmangel sowie die Einschätzung, dass der Schutz der Bevölkerung nicht gewährleistet ist, führen dazu, dass dem Angleichungsgrundsatz nicht hinreichend entsprochen wird und Lockerungsmaßnahmen nicht stattfinden. Besuche, Freigang bis hin zur Ermöglichung des Offenen Vollzugs werden verwehrt, wenn Sicherheit bedroht scheint. Diese Logik, die Sicherheit allem anderen überordnet, ist problematisch, weil sich Risiken niemals ausschließen lassen, wodurch Sicherheitsargumente schwer zu entkräften sind. Andere Formen der Freiheitsstrafe im weiteren Sinn sind die Jugendstrafe, die sich von der Freiheitsstrafe für Erwachsene u.a. durch den zusätzlichen Erziehungsauftrag unterscheidet sowie die freiheitsentziehenden Maßnahmen zur Besserung und Sicherung (Maßregelvollzug), d.h. die Unterbringung von psychisch kranken (§ 63 StGB) oder suchtkranken (§ 64 StGB) Straftäter:innen in einem psychiatrischen Krankenhaus. Das gilt allerdings nur, wenn ein Zusammenhang zwischen der Erkrankung und dem Delikt besteht, eine Gefahr für die Allgemeinheit vorliegt und im Falle einer psychischen Erkrankung eine mindestens verminderte Schuldfähigkeit vorliegt. Die Dauer ist unbegrenzt bzw. kann verlängert werden (Sucht). Davon zu unterscheiden ist schließlich die Sicherungsverwahrung (§ 66 STGB), die präventiv die Bevölkerung vor Straftaten schützen soll. Ihre Besonderheit liegt darin, dass der/die Täter:in die Strafe bereits verbüßt hat. Deshalb ist nach dem Urteil des BVerfG vom 4. Mai 2011 dafür Sorge zu tragen, dass sich die Sicherungsverwahrung von Haft deutlich unterscheidet – auch und gerade bei einer Unterbringung in der JVA. Maßregelvollzug und Sicherungsverwahrung belasten die Betroffenen und sind eine Herausforderung für diakonisch Handelnde, weil es angesichts unsicherer Zeitprognosen noch schwieriger ist, Perspektiven zu entwickeln. 2.2
Inhaftierung
Die Situationen der Inhaftierung und die Inhaftierten selbst unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht. „Allen Inhaftierten gemeinsam ist die Tatsache, dass sie sich mit ihrer Inhaftierung in einer Situation befinden, die häufig Krisen und psychische Belastungen hervorruft. Denn Inhaftierung heißt: Abgeschnittensein von der Außenwelt, herausgerissen aus der Familie, dem Freundes- und Arbeitskreis; Entmündigung, Isolation, sexuelle Not und Vereinsamung; Alleingelassensein mit dem eigenen Versagen und der Angst vor dem Prozess, der Angst vor der Entlassung, der Angst vor der Zukunft. Bei manchen Gefangenen besteht Suizidgefahr“ (Die dt. Bischöfe 2015, S. 23 f.). Die Einrichtung Justizvollzug ist, wenn auch nicht mehr in derselben Weise wie zu Zeiten von
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Erving Goffman, eine totale Institution. Es sind vor allem die sichtbare und spürbare Abgeschlossenheit und die strenge Strukturierung des Tagesablaufs, die den allumfassenden Charakter dieser Institution kennzeichnen. Während die moderne Gesellschaft dadurch gekennzeichnet ist, dass man an verschiedenen Orten schläft, arbeitet, seine Freizeit gestaltet, und dies meist mit verschiedenen Personen, zu denen man in unterschiedlichen Beziehungen steht, ist das in der totalen Institution nicht der Fall. Die Trennung der Lebensbereiche ist aufgehoben (vgl. Goffman 1973, S. 17). Die totale Institution zeichnet sich durch ein hohes Maß an Kontrolle aus und durch die Verfügung über Raum und Zeit durch andere. Die negativen Auswirkungen auf die Inhaftierten sind zahlreich. Resozialisierung ist unter diesen Bedingungen erschwert, manche halten sie für unmöglich (Galli 2020, S. 46 f.). Insbesondere soziale Verantwortung kann angesichts des Fehlens von Gestaltungsräumen kaum eingeübt werden (Becka 2016, S. 207 ff.). Resozialisierung ist aber ein Anspruch, der durch Art. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip begründet ist, und der Staat ist verpflichtet diesen Anspruch zu erfüllen. Hinzu kommt, dass die schlechte Vorbereitung der Inhaftierten auf ein verantwortliches Leben in Freiheit auch die langfristige Sicherheit der Bevölkerung nicht garantiert, sondern gefährdet. Neben Ressourcenmangel und der Dominanz der Sicherheit stellen sich weitere Probleme. Zunehmende Bedeutung gewinnt der Umgang mit Krankheit in Haft: Die Inhaftierung begünstigt Krankheiten und die gesundheitliche Versorgung ist schlechter als außerhalb der JVA. Insbesondere psychische Erkrankungen von Inhaftierten sind ein Problem. Oft fehlt die Diagnose und es mangelt an Fachkräften, Zeit und adäquaten Behandlungsformen. Zudem ist die Haft oft mitverursachend für die Erkrankung. Verschiedene Projekte deuten darauf hin, dass das Problem erkannt ist, doch die daraus resultierenden Schwierigkeiten sind nach wie vor erheblich. Auch Altern und Sterben wird durch die steigende Zahl älterer Inhaftierter zum Problem. Mit der Einrichtung von sogenannten „Lebensälteren-Abteilungen“ versucht man dem teilweise zu begegnen. 3
Handlungsfelder
So vielfältig die Tätigkeiten in Straffälligenhilfe und Gefängnisseelsorge sind: Die Anerkennung der Gefangenen als Subjekte ist eine Grundvoraussetzung für die persönliche Begegnung und Begleitung einerseits und advokatorisches und politisches Handeln andererseits. Doch das Doppelmandat sozialer Professionen stellt sich im Kontext der Straffälligenhilfe, aber v.a. in der JVA selbst, als besondere Herausforderung dar: Die Interessen und Bedürfnisse von Inhaftierten lassen sich gegenüber den Anforderungen der Institution oft schwer verteidigen oder durchsetzen (vgl. Lob-Hüdepohl 2015, S. 154).
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3.1
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Begleitung und Anlaufstelle
Die Stellung der Seelsorge in der JVA ist besonders hervorzuheben. Seelsorger:innen sind wichtige Ansprechpartner:innen für Inhaftierte; die Beziehungsarbeit steht im Zentrum. „Das Gespräch ist die Voraussetzung und der Einstieg für jede Seelsorge. Hier kann der Gefangene in einem geschützten Raum den Seelsorger unter vier Augen sprechen“ (Die dt. Bischöfe 2015, S. 54). Seelsorger:innen sind eine Anlaufstelle für Inhaftierte, aber auch für Bedienstete, und begleiten sie. Sie kennen das System gut und werden doch meist nicht als Teil desselben wahrgenommen, weil sie weder Diagnosen oder Gutachten erstellen noch vollzugliche Entscheidungen treffen. Daher kommt ihnen eine besondere Rolle zu: Sie eröffnen kleine Freiheitsräume innerhalb der Institution, sei es in persönlichen Gesprächen, in Gruppen oder in Gottesdiensten. Die Themen, die besprochen werden, sind sehr verschieden. Manche Inhaftierte stellen sich Fragen nach Sinn und Religion, in seelsorgerischen Gesprächen geben Seelsorger:innen neben ihrem Handeln auch in Worten Zeugnis (Martyria). Oft geht es vor allem darum, zuzuhören und den Inhaftierten Zeit und Raum zu geben (vgl. Karle 2016, S. 663 f.). Und häufig sind es praktische Fragen, nahe an den Aufgabenfeldern sozialprofessionell Handelnder, die das Leben in der JVA oder auch die Angehörigen und das Leben „draußen“ betreffen. Nach eigener Einschätzung tragen Gefängnisseelsorger:innen dazu bei, den negativen Folgen der Inhaftierung entgegenzuwirken (vgl. Funsch 2015, S. 317). Bemerkenswert ist, dass die Tätigkeit systemstabilisierend wirken kann und Gefängnisseelsorge sich gleichzeitig als kritische Stimme im Vollzug versteht (vgl. Funsch 2015, S. 385 ff.). Das korrespondiert zu der Spannung, die diakonisches Handeln im Kontext des Justizvollzugs grundsätzlich durchzieht: Der Dienst an Einzelnen, der deren Würde achtet und Verwirklichungsräume zu eröffnen sucht und die Kritik an einem System, das dem entgegensteht. Das gilt auch für die Straffälligenhilfe. Gerade weil der Justizvollzug nur sehr bedingt auf das Leben in Freiheit vorbereitet, ist die Bedeutung der Straffälligenhilfe so groß. Sie ist auch und v.a. behilflich beim Übergang in ein eigenverantwortliches Leben. Dabei geht es einerseits um die Begleitung in der Bewältigung persönlicher Ängste und Probleme und andererseits um die Unterstützung im Umgang mit lebenspraktischen Fragen wie Wohnungssuche, Schuldenberatung, Arbeitssuche etc. Das ist besonders notwendig, weil die gesellschaftlichen Hürden für eine Wiedereingliederung immens sind und etwa in Vorurteilen und Diskriminierungen (z.B. bei der Wohnungssuche) zum Ausdruck kommen (vgl. Cornel 2020). 3.2 Strukturveränderung und politische Arbeit Viele Probleme im Haftalltag reichen über die persönliche Ebene hinaus. Sie treten häufig auf und lassen ähnliche Muster erkennen und oft haben sie strukturelle Ursachen. Es ist sinnvoll, diese konkreten Probleme disziplinübergrei-
Diakonisches Handeln in der JVA
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fend im Justizvollzug zu reflektieren. Eine Möglichkeit dazu bieten Ethikkomitees: In der gemeinsamen Reflexion können die vielfältigen Ebenen eines Problems – und die Perspektiven verschiedener Disziplinen darauf – erkannt und benannt werden, so dass sich schließlich Handlungsoptionen entwickeln lassen (vgl. Becka 2017). Die Reflexion bringt Erkenntnisgewinn und stärkt die verschiedenen Akteur:innen, weil sie in ihrem Problembewusstsein nicht mehr isoliert voneinander sind. Doch auch Ethikkomitees stoßen an Grenzen. Immer wieder erscheinen der Ressourcenmangel und die Dominanz des Sicherheitsparadigmas als Ursachen konkreter Probleme. Lösungen sind oft ohne weitreichende strukturelle Veränderungen nicht möglich. Daher ist die Arbeit von Straffälligenhilfe und Gefängnisseelsorge auch eine politische. Sie wehrt sich gegen die Einschränkung des Resozialisierungsziels und gegen die Dominanz der Sicherheit: „Die […] Vorstellung, dass es besser ist, zehn Menschen hinter Gitter zu bringen, die dort nicht hingehören, als einen in Freiheit zu lassen, der möglicherweise (wieder) zum Straftäter wird, steht in diametralem Gegensatz zum Gedanken der Gerechtigkeit als zentralem Maßstab christlicher Praxis. Sie widerspricht auch dem geltenden Recht“ (Die dt. Bischöfe 2015, S. 36).
Gefängnisseelsorge stellt sich der Position entgegen, Strafe als einzige effektive Reaktion auf Straftaten zu propagieren, weist immer wieder auf Schwächen und Unzulänglichkeiten des Justizvollzugs hin und positioniert sich zu zahlreichen vollzugsrelevanten Themen. Sie drängt politisch auf weitreichende Veränderungen (und Reduzierung) des Justizvollzugs. Das gilt auch für die Straffälligenhilfe. Deren Stimme ist durch den Zusammenschluss in der BAG-S politisch deutlich vernehmbar. Die Arbeitsgemeinschaft äußert sich zu Gesetzesentwürfen und verfasst Stellungnahmen und Petitionen. So fordert sie etwa Alternativen zur Ersatzfreiheitsstrafe, die angemessene Vergütung von arbeitenden Strafgefangenen, Teilhabechancen für ehemalige Strafgefangene u.v.m. Sie stellt damit eine bedeutende Form der Advocacy dar, um die Interessen und Anliegen von Straffälligen in Politik und Gesellschaft hörbar zu machen und auf Veränderungen des Strafsystems hinzuwirken. Indem die Akteur:innen ein öffentliches Bewusstsein für die Aufgaben der Integration und Resozialisierung von Straffälligen schaffen, nehmen sie auch eine wichtige gesellschaftliche Funktion wahr. In der Bevölkerung gibt es große Vorbehalte gegenüber Straffälligen. Sie äußert sich etwa in einer Kriminalitätsfurcht, die nicht mit der tatsächlichen Kriminalitätsrate korrespondiert, in Vorurteilen, sowie in einem starken Bedürfnis der Abgrenzung. Diakonisches Handeln ist diesen gesellschaftlichen Erwartungen ausgesetzt und durchkreuzt doch Abgrenzungen und Vorurteile. Weil die diakonisch Tätigen die Inhaftierten nicht aufgeben, tragen sie zu Resozialisierung bei und bauen Brücken in die Gesellschaft. Indem sie sich öffentlich äußern, verhindern sie den fortschreitenden Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe und Zugehörigkeit.
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M. Becka
Dabei wird deutlich, dass Integration von Straffälligen auch die Bereitschaft der Gesellschaft erfordert diese Integration zuzulassen – und mehr noch, sie erfordert eine Veränderungsbereitschaft und Mitverantwortung der Gesellschaft für die Prävention von Straftaten und die Reintegration von Straftäter:innen. Diakonisches Handeln mit Straffälligen hat folglich eine persönliche, eine strukturelle und eine gesellschaftliche Dimension. 3.3
Professionalität
Die Gefängnisseelsorge ist konfessionell organisiert, doch es gibt eine enge ökumenische Zusammenarbeit sowohl vor Ort in den Justizvollzugsanstalten als auch der beiden Arbeitsgemeinschaften. Grundsätzlich verschiedene Herangehens- oder Arbeitsweisen lassen sich nicht feststellen. Die Straffälligenhilfe ist von einer Vielzahl von Verbänden und Vereinen geprägt, darunter auch die konfessionellen. Teilweise gibt es besondere ökumenische Zusammenschlüsse vor Ort. Hervorzuheben ist jedoch der Zusammenschluss religiöser und nicht-religiöser Wohlfahrtsverbände in der Bundesarbeitsgemeinschaft für Straffälligenhilfe, die als Fachorganisation eine wichtige Stimme für die Interessen Inhaftierter und ihrer Angehörigen ist. Professionelles Handeln mit Straffälligen muss in der Lage sein, Tat und Täter:in zu unterscheiden und den Menschen nicht auf seine Tat zu reduzieren, sondern ihn/sie als Träger:in von Menschenwürde ernst zu nehmen und entsprechend mit Veränderungen rechnen. Auch darüber hinaus ist die Defizitorientierung zu vermeiden, um Stärken zu erkennen und zukunftsorientierte Perspektiven zu entwickeln (Matt 2014, S. 156). Klient:innen sind nicht passiv zu behandeln (auch wenn die positive Abgrenzung von einem verwahrenden Vollzug immer noch als „Behandlungsvollzug“ bezeichnet wird), sondern aktiv zu beteiligen, wenn sie als Subjekte ernstgenommen werden sollen. Selbstverständlich gelten die Standards sozialprofessionellen Handelns auch im Umgang mit Straftäter:innen. Dazu gehört auch die ethische Kompetenz als Aspekt von Professionalität. Die normativen Grundoptionen sind aus dem Selbstverständnis der Profession zu entwickeln (vgl. Lob-Hüdepohl 2007, S. 113). Wenn sich Soziale Arbeit als Menschenrechtsprofession versteht, kommen diese normativen Annahmen darin zum Ausdruck. Die Ausrichtung an jenen Orientierungen muss durch eine Situationsklugheit ergänzt werden, die die handlungsleitenden Werte mit den Erfordernissen der Situation in Einklang bringt. Und eine besonders wichtige Anforderung im Kontext des Justizvollzugs ist die Selbstreflexivität: Angesichts vielfältiger, expliziter und vermuteter, Erwartungen und Anforderungen sind die Wahrnehmung eigener Überzeugungen und Haltungen sowie die Reflexion derselben und die Vergewisserung über die eigene Rolle von großer Bedeutung. Die kollegiale Beratung bzw. das kollegiale Gespräch zu Fragen der eigenen Professionalität erscheint
Diakonisches Handeln in der JVA
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in diesem Zusammenhang hilfreich, gleichwohl sind (formelle) Gelegenheiten dazu selten gegeben. 4
Schluss: Anschlussfähigkeit diakonischen Handelns
Viele wirken am Resozialisierungsauftrag mit. In der Straffälligenhilfe arbeiten bekenntnisgebundene und nicht-religiöse Organisationen zusammen, und sie alle verfolgen darin dasselbe Ziel. Die einzelnen Verbände mögen verschiedene Akzente setzen, doch eine unterschiedliche Bewertung erfolgt daraus nicht. Jedes sozialprofessionelle Handeln, das die Würde des Gegenübers achtet und zur Realisierung eines menschenwürdigen Lebens beiträgt, setzt den Anspruch der Diakonie um, auch wenn dies nicht aus genuin christlicher Motivation geschieht. Diakonisches Handeln ist direkt anschlussfähig an Soziale Arbeit allgemein. Auf der anderen Seite, v.a. mit Blick auf die Gefängnisseelsorge, ist die Diakonia einer der Grundvollzüge der Kirche. Und sie schließt an die anderen Grundvollzüge an: „Alles Tun der Kirche soll ein Dienst sein – ein Dienst für Gott und die Menschen, der vom Dienst Gottes getragen und ermöglicht wird. In der Diakonie im umfassenden Sinne vollzieht die Kirche den heilenden Dienst Christi nach und mit. Christliche Diakonie lebt nicht isoliert von der Verkündigung und dem Gottesdienst der Christen. Wie Glaube und Liebe untrennbar zusammengehören und der Glaube in der tätigen Liebe lebendig wird, so gehört zu jeder Pastoral immer auch solche Dienstbereitschaft. Der Liebesdienst, die Diakonie schafft häufig erst die Voraussetzung dafür, dass das Wort Gottes ankommt. Diakonie selbst ist Verkündigung, und Verkündigung ist Diakonie“ (Die dt. Bischöfe 2015, S. 52 f.). Darüber hinaus sind Verkündigung und Liturgie ausdrücklich Teil der Aufgaben der Gefängnisseelsorge. Hervorzuheben ist schließlich die Bedeutung der Gemeinschaft (Koinonia) als Grundvollzug von Kirche. Dass einige professionell Arbeit mit Straffälligen leisten, dispensiert Christ:innen nicht vom eigenen Handeln. Die ehrenamtliche Tätigkeit hat daher einen besonderen Wert. Es ist darüber hinaus notwendig, dass Gemeinden Orte der Re-Integration werden und so letztlich an einer Integration nicht nur der Straffälligen, sondern der Gesellschaft selbst mitwirken. Literatur Becka, M. (2017): Ethikkomitees als ethische Reflexionsräume in Justizvollzugsanstalten. EthikJournal, 4 (1). https://www.ethikjournal.de/fileadmin/ user_upload/ethikjournal/Texte_Ausgabe_1_06-017/Becka_Ethikkomitees _EthikJournal_4_2017_1.pdf (Zugriff am 19.08.2021).
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M. Becka
Becka, M. (2016): Strafe und Resozialisierung. Hinführung zu einer Ethik des Justizvollzugs. Münster. Die deutschen Bischöfe (2015): „Denkt an die Gefangenen, als wärt Ihr mitgefangen“ (Hebr 13,3). Der Auftrag der Kirche im Gefängnis. Bonn. Cornel, H. (2020): Resozialisierung durch Soziale Arbeit. Ein Lehrbuch für Studium und Praxis. Stuttgart. Ev. Konferenz für Gefängnisseelsorge in Deutschland (Hg.) (2009): „Ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen“ Leitlinien für die Evangelische Gefängnisseelsorge in Deutschland. Hannover. Funsch, A. (2015): Seelsorge im Strafvollzug. Baden-Baden. Galli, T. (2020): Weggesperrt. Warum Gefängnisse niemandem nützen. Hamburg. Goffman, E. (1973): Asyle. Über die soziale Situation psychiatrischer Patienten und anderer Insassen. Frankfurt a.M. Karle, I. (2016): Gefängnisseelsorge. In: W. Engemann (Hg.): Handbuch der Seelsorge (3. Aufl.; S. 658–676). Leipzig. Lob-Hüdepohl, A. (2015): Sorgen unter Bedingungen des Zwangs. Professionsethische Erkundungen im Strafvollzug. In: M. Becka (Hg.): Ethik im Justizvollzug. Aufgaben, Chancen, Grenzen (S. 147–173). Stuttgart. Lob-Hüdepohl, A. (2007): Berufliche Soziale Arbeit und die ethische Reflexion ihrer Beziehungs- und Organisationsformen. In: A. Lob-Hüdepohl/W. Lesch (Hg.): Ethik Sozialer Arbeit. Ein Handbuch (S. 113–161). Paderborn. Matt, E. (2014): Übergangsmanagement und der Ausstieg aus Straffälligkeit. Wiedereingliederung als gemeinschaftliche Aufgabe. Wiesbaden.
53 Schwangere und ihre Familien beraten und begleiten Regine Hölscher-Mulzer
1
Einleitung
Es gibt wenige Ereignisse im Leben, die so unterschiedliche emotionale Reaktionen auslösen können wie der Eintritt einer Schwangerschaft. Für manche Frauen und Paare kann sie Grund tiefer Freude und Erwartung sein, für andere wiederum ein Schock, der die Betroffenen in große Nöte und Konflikte bringen kann. Gerade wenn die Schwangerschaft unerwartet, ungeplant oder ungewollt eintritt, kann sie Ambivalenzen und Gefühlschaos auslösen. Dabei ist nicht jede „ungewollt eingetretene“ Schwangerschaft grundsätzlich auch „ungewollt“. Entsprechend wird mehr als jede zweite „ungewollt eingetretene“ Schwangerschaft auch ausgetragen (vgl. Helfferich/Klindworth/Heine/Wlosnewski 2016, S. 23 ff., 283 ff.). Krisen und Konflikte können während der gesamten Zeit der Schwangerschaft auftreten und das Leben von Mutter wie Kind gefährden. Bei „existentiellen Schwangerschaftskonflikten“ ist die Schwangere bzw. das Paar hinsichtlich der Schwangerschaft ambivalent und zieht einen Abbruch in Erwägung. Auch wenn die Schwangere oder das Paar sich zunächst für das Kind entschieden haben, können sich Umstände ergeben, die auch jenseits der 12. Schwangerschaftswoche existentielle Schwangerschaftskonflikte auslösen, die dann nicht mehr unter die Beratungsregelung nach § 219 StGB fallen. In der Beratung Schwangerer und ihrer Familien geht es oftmals um Belastungssituationen im Zusammenhang mit Schwangerschaft und Geburt, krisenhaftem Erleben und um ethische und existentielle Entscheidungskonflikte. In dieser Situation kann die Beratung im Spannungsfeld zwischen der Selbstbestimmung der Ratsuchenden und dem gesetzlich verankerten Lebensrecht des Ungeborenen stehen.
636
R. Hölscher-Mulzer
Gesellschaftlicher Wandel, medizinischer Fortschritt, die rasante Entwicklung im Zusammenhang mit assistierter Reproduktion, neue Eltern- und Familienkonstellationen, die Zunahme an sozialen Notlagen und prekären Lebenssituationen (z.B. im Kontext der Covid-19-Pandemie), Traumatisierungen durch Flucht- und Gewalterfahrungen beeinflussen nicht nur das Schwangerschaftserleben, sondern bilden sich auch zeitnah in der Beratung ab. Daneben haben die klassischen Problemlagen wie Partnerschaftskonflikte, Armutsgefährdungen, Alleinerziehend-Sein, Vereinbarkeitsfragen, physische und psychische Erkrankung, soziale Isolation etc. keineswegs abgenommen. Die Zahlen der Geburten und Schwangerschaftsabbrüche sind ebenso wie das Beratungsaufkommen über die Jahre hinweg relativ konstant geblieben (siehe Tab. 1). Tabelle 1: Geburten und Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland 2012–2019 (Quelle: Statistisches Bundesamt) 2012
2013
2014
2015
2016
2017
2018
2019
Geburten
673.544
682.069
714.927
737.575
792.141
784.901
787.523
778.090
Totgeburten
2.400
2.556
2.597
2.787
2.914
3.003
3.030
3.180
Abbrüche
106.815
102.802
99.715
99.237
98.721
101.209
100.986
100.893
Rechtliche Begründung Medizinische Indikation
3.326
3.703
3.594
3.879
3.785
3.911
3.815
3.875
Kriminologische Indikation
27
20
41
20
28
20
20
17
637
Schwangere und ihre Familien beraten
BeratungsRegelung § 219 StGB
103.462
99.079
96.080
95.338
94.908
97.278
97.151
97.001
Dauer der Schwangerschaft in Wochen (SSW) Unter 104.069 12 SSW
100.002
96.935
96.442
95.892
98.496
98.168
97.974
12 bis 2.299 21 SSW
2.238
2.196
2.161
2.199
2.059
2.163
2.271
22 SSW 447 u. mehr
562
584
634
630
654
655
648
Quote je 10.000 Frauen (15 bis < 50 J.)
57
56
56
56
58
58
58
2
59
Historische Einordnung der Schwangerschafts(konflikt)beratung
Das weltliche Recht wurde seit dem Mittelalter wesentlich von der kirchlichen Lehre und dem kirchlichen Recht beeinflusst. Schwangerschaftsabbruch galt als Totschlag und wurde in vielen Ländern mit dem Tod bestraft. Erst unter dem Einfluss der Aufklärung begann sich das weltliche vom kirchlichen Recht zu lösen. Nach der deutschen Reichsgründung 1871 wurde erstmals der § 218 ins Reichsstrafgesetzbuch aufgenommen, wonach Schwangerschaftsabbruch mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft wurde. 1926 wurde die Zuchthausstrafe in Gefängnisstrafe umgewandelt. Während des Nationalsozialismus wurde der § 218 für „arische“ Frauen wieder verschärft und in besonderen Fällen auch mit dem Tod geahndet. „Nichtarische“ Frauen dagegen konnten die Schwangerschaft abbrechen, wurden häufig zwangssterilisiert oder zum Abbruch gezwungen. 1945 hoben die alliierten Besatzungsmächte die verschärften Bedingungen auf, maßgeblich war wieder der § 218 in der Fassung von 1926. In der DDR galt seit 1950 das „Gesetz über den Mutter- und Kinderschutz und die Rechte der Frau“ mit einer Indikationenregelung. Dieses wurde 1972 durch
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R. Hölscher-Mulzer
das „Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft“ mit einer Fristenregelung abgelöst, wonach in den ersten zwölf Schwangerschaftswochen (SSW) ein Abbruch ohne Angabe von Gründen möglich war. In der Bundesrepublik gab es spätestens seit 1969 mit der Novellierung des Strafrechts Bestrebungen, den § 218 StGB zu ändern. Kaum ein Thema wurde in den folgenden Jahren so leidenschaftlich und kontrovers diskutiert wie der Schwangerschaftsabbruch. Schließlich stimmten im April 1974 die Abgeordneten des Deutschen Bundestages in einer Stichentscheidung mit knapper Mehrheit für eine Fristenregelung. Das Gesetz trat wegen der Verfassungsklage der CDU/CSU jedoch nicht in Kraft. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erklärte die Fristenregelung in seinem Urteil vom 25.2.1975 für verfassungswidrig, da diese der Verpflichtung des Gesetzgebers zum Schutz menschlichen Lebens nicht gerecht werde. Der Lebensschutz genieße grundsätzlich für die gesamte Dauer der Schwangerschaft Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren und dürfe nicht für eine bestimmte Frist in Frage gestellt werden. Im Juni 1976 trat die 2. Novellierung des § 218 StGB mit einer Indikationenregelung in Kraft. Ein Abbruch blieb rechtswidrig, konnte aber bei Vorliegen einer sozialen Notlage innerhalb der ersten zwölf SSW nach psychosozialer Beratung und dreitägiger Bedenkzeit straffrei durchgeführt werden. Der die Indikationsstellung vornehmende Arzt durfte nicht identisch sein mit dem Arzt, der den Abbruch vornahm. Die Beratung musste durch eine staatliche anerkannte Beratungsstelle erfolgen. Des Weiteren gab es auch eine kriminologische, eine medizinische (mit Blick auf das Leben und die Gesundheit der Schwangeren) sowie eine embryopathische Indikation (letztere bis zur 22. SSW). Im Zusammenhang mit der Debatte um die Änderung des § 218 StGB hatte das damalige Familienministerium schon zu Beginn der 1970er Jahre Kontakt zu Trägern, die Erfahrungen in der Beratung von Frauen, Kindern und Familien hatten, aufgenommen. 1973 wurden die ersten Modellberatungsstellen – gerade auch solche in konfessioneller Trägerschaft – eingerichtet. Schon damals bezog sich die Beratung explizit auf soziale, psychologische und medizinische Aspekte sowie auf die Vermittlung von Hilfen bei unbewältigter oder unerwünschter Schwangerschaft mit dem Ziel, die Ratsuchende zu einer eigenverantwortlichen Entscheidung zu befähigen und ungeborenes Leben zu schützen. Mit Inkrafttreten des Indikationenmodells wurden die Modellberatungsstellen staatlich anerkannte Beratungsstellen, weitere Beratungsstellen wurden flächendeckend eingerichtet. Zudem regelten Länderverordnungen die Aufgaben und den organisatorischen Rahmen. 1984 kam es auf Initiative der Kirchen zur Einrichtung der Bundesstiftung „Mutter und Kind – Schutz des ungeborenen Lebens“. Nach der Wende wurde eine Neuregelung des § 218 StGB notwendig, da nun in Ost und West unterschiedliche gesetzliche Regelungen galten. Der Einigungsvertrag von 1990 sah vor, dass bis spätestens zum 31.12.1992 eine ein-
Schwangere und ihre Familien beraten
639
heitliche Regelung getroffen werden sollte. Nach langen Debatten wurde 1992 das Schwangeren- und Familienhilfegesetz verabschiedet, das eine Fristenregelung mit Beratungspflicht vorsah. Das BVerfG verhinderte jedoch wie schon in den 1970er Jahren das Inkrafttreten der Fristenregelung durch eine einstweilige Anordnung. In seinem Urteil vom 28. Mai 1993 (2. Senat: 2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92) erklärte es die Gesetzesfassung von 1992 in weiten Teilen für verfassungswidrig. Zugleich machte es in seinen 17 Leitsätzen Vorgaben für eine Neuregelung des Gesetzes: Danach ist der Staat verpflichtet, menschliches Leben zu schützen, auch das ungeborene. Dieser Schutz ist nur möglich, wenn der Gesetzgeber einen Schwangerschaftsabbruch grundsätzlich verbietet, ein solcher also rechtswidrig bleibt. Der Staat muss zur Erfüllung seiner Schutzpflicht ausreichende Maßnahmen normativer und tatsächlicher Art ergreifen, die dazu führen, dass ein – unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter – angemessener und als solcher wirksamer Schutz erreicht wird. Die Grundrechtspositionen der Frau führen aber dazu, dass es in Ausnahmelagen zulässig oder gar geboten ist, Ausnahmetatbestände nach dem Kriterium der Unzumutbarkeit zu bestimmen, sodass in bestimmten Ausnahmefällen ein Abbruch straffrei bleiben kann. Nach einer Übergangsregelung sowie einem Prozess harten Ringens um einen Kompromiss trat am 1.10.1995 das Schwangeren- und Familienhilfeänderungsgesetz (SFHÄndG) in Kraft, das als Artikelgesetz auch das Schwangerschaftskonfliktgesetz (SchKG) enthält. Die bis dahin gültige embryopatische Indikation wurde abschafft, die kriminologische beibehalten, die medizinische Indikation um die Gefährdung des seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren unter Berücksichtigung ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse erweitert. Bei der medizinischen Indikation kann ein Abbruch nun bis zur Geburt durchgeführt werden. Diese Regelung führt in der Praxis zu neuen weitreichenden juristischen Problemen, z.B. zu Schadenersatzforderungen wegen Behinderung des Kindes („Kind als Schaden“). Sowohl bei der medizinischen als auch bei der kriminologischen Indikation ist ein Abbruch nicht mehr rechtswidrig. Darüber hinaus ist in den ersten zwölf SSW (ab Empfängnis) ein Abbruch straffrei unter der Voraussetzung, dass – die Schwangere nach § 219 StGB beraten wurde, – der Abbruch nach einer mindestens dreitägigen Bedenkzeit erfolgt und – der Abbruch von einem Arzt/einer Ärztin vorgenommen wird. Das SchKG basiert auf zwei Säulen: 1. der allgemeinen Schwangerschaftsberatung nach § 2 SchKG und 2. der Konfliktberatung nach § 5–7 SchKG in Verbindung mit § 218a, 219 StGB. Die Länder haben für beide Beratungsarten ein ausreichendes, weltanschaulich plurales (§ 3 und 8), wohnortnahes (§ 4) Angebot an Beratungsstellen sicher-
640
R. Hölscher-Mulzer
zustellen. Für die Konfliktberatung bedarf es der staatlichen Anerkennung (§ 9). Die Beratung ist für Ratsuchende unentgeltlich, auf Wunsch anonym (§ 2 Abs. 1 und § 6 Abs. 2) und unterliegt der Schweigepflicht und dem Datenschutz. Das SchKG wurde mehrfach um zusätzliche Aufgaben im Rahmen der allgemeinen Schwangerschaftsberatung erweitert: – 2010: § 2a SchKG „Aufklärung und Beratung in besonderen Fällen“ (gemeint ist die Beratung im Rahmen pränataldiagnostischer Befunde; auch in Verbindung mit dem Gendiagnostikgesetz [GenGD]) – 2012: § 4 (2) SchKG; Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG) § 3: Kooperation der Schwangerschaftsberatungsstellen im Netzwerk Früher Hilfen im Rahmen des Bundeskinderschutzgesetzes (BKiSchG) – 2014: § 2 (4) 25–34 SchKG: Regelung der vertraulichen Geburt. 2019 wurde der § 219a (4) StGB: Verbot der „Werbung für den Abbruch der Schwangerschaft“ in Verbindung mit § 13 (3).13a SchKG geändert. Exkurs: Die katholische Kirche und der Beratungsnachweis nach § 7 SchKG Bereits 1976 hatten die deutschen katholischen Bischöfe darauf hingewiesen, dass durch die erfolgte Änderung des § 218 StGB der Schutz des ungeborenen Lebens staatlicherseits nicht mehr uneingeschränkt gewährleistet sei. Das galt auch für das 1995 in Kraft getretene SFHÄndG. Dennoch haben die Bischöfe damals beschlossen, bis zu einer endgültigen Prüfung auch weiterhin die Beratung unter den Bedingungen des neuen Gesetzes fortzuführen. Nach mehrjährigem innerkirchlichem Ringen haben die Bischöfe auf Weisung des Papstes im November 1999 entschieden, den Beratungsnachweis nach § 7 SchKG als eine der Voraussetzungen für einen straffreien Schwangerschaftsabbruch nach § 219 StGB nicht mehr auszustellen. Das hatte zur Konsequenz, dass die Pflichtberatung nicht mehr im Sinne des Gesetzes durchgeführt werden konnte. Die katholischen Beratungsstellen verloren die für die Konfliktberatung nach § 5 ff. vorgesehene staatliche Anerkennung und zunächst auch die öffentliche Förderung. Diese wurde den Beratungsstellen für die allgemeine Beratung nach § 2 SchKG durch das Urteil des BVerwG vom 15.07.2004 allerdings wieder zuerkannt, da „gerade auch die Beratung nach dem § 2 SchKG uneingeschränkt dem Lebensschutz verpflichtet ist und dazu Wesentliches beiträgt“. In Folge der Entscheidung der Bischöfe gründeten katholische Laienvertreter:innen eigene Beratungsverbände wie donum vitae e.V., Frauen beraten e.V. und Frauenwürde e.V., die seitdem Konfliktberatung mit Ausstellung des Beratungsnachweises im staatlichen System durchführen. Diesen ist allerdings die kirchliche Anerkennung gemäß § 12 der Bischöflichen Richtlinien (Sept. 2000) und somit auch der Zugang zu den Bischöflichen Hilfsfonds verwehrt.
Schwangere und ihre Familien beraten
3
641
Grundlagen und Aufgaben der Schwangerschafts(konflikt)beratung
Die Arbeit der konfessionellen Schwangerschafts(konflikt)beratungsstellen (rund 300 in evangelischer [Diakonie] und 274 in katholischer [Caritas/Sozialdienst katholischer Frauen] Trägerschaft) erfolgt zum einen auf Basis der gesetzlichen Vorgaben und der entsprechenden Landesausführungsbestimmungen, zum anderen auf Basis der kirchlichen und verbandlichen Richtlinien und Konzepte, in denen ihr Selbstverständnis, ihre Haltung und ihre Aufgaben beschrieben sind (bspw. Deutscher Caritasverband e.V./Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein e.V. 2017; Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V./Diakonie Deutschland 2019). Gemeinsam ist ihnen eine werteorientierte Haltung auf Grundlage eines christlichen Menschenbildes, die das Leben als Geschenk Gottes versteht. Sie sind Teil des diakonischen Dienstes ihrer Kirche und tragen dazu bei, dass sich die Kirchen aus ihrer Sendung heraus als Anwältin des Lebens sowohl des Ungeborenen als auch des Lebens der Schwangeren erweisen. Durch ihr Eintreten für den Schutz des Lebens legen sie ein öffentliches Bekenntnis in der Gesellschaft ab. Sie treten dafür ein, Bedingungen zu schaffen, in denen Leben wachsen und sich entfalten kann im Bewusstsein, dass das Leben des Ungeborenen nur mit der Schwangeren und nicht gegen sie geschützt werden kann („Einheit in Zweiheit“, „doppelte Anwaltschaft“). „Kirchliche Beratung ist […] eine fachlich qualifizierte Hilfe, die Ratsuchende zur Selbsthilfe und zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung für das ungeborene Kind befähigen und damit die Chance für das Leben von Mutter und Kind verbessern will. Sie achtet und schützt die Würde der Frau ebenso wie das Leben ihres Kindes. Als Dienst der Kirche vertraut sie darauf, daß die Heilszusage Gottes auch in gebrochenen Verhältnissen trägt“ (Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz 1989, S. 70).
Aufgaben und Arbeitsfelder Grundsätzlich hat jede Person nach § 2 (1) SchKG das Recht, sich in Fragen der Sexualaufklärung, Verhütung und Familienplanung sowie in allen eine Schwangerschaft unmittelbar oder mittelbar berührenden Fragen informieren und beraten zu lassen. Die Bedarfslagen der Ratsuchenden können sehr unterschiedlich sein und reichen vom Wunsch nach Information oder der Vermittlung konkreter Hilfen zu psychosozialer Beratung und längerer Begleitung. Demgegenüber besteht eine Pflicht zur Beratung nach § 5 ff. SchKG, wenn ein Abbruch erwogen wird. Die Beratung dient dem Schutz des ungeborenen Lebens. Im Zentrum der Beratung stehen immer die Ratsuchenden mit ihren Anliegen, Ressourcen und Lebensumständen. Zu den umfänglichen Aufgaben der Beratungsstellen gehören Information, Beratung und Unterstützung – sowohl im Rahmen der Einzelfallhilfe als auch bei Gruppenangeboten: – in einer Not- und Konfliktlage während der Schwangerschaft,
642
– – – –
– – – – – – – – – – – – – – 4
R. Hölscher-Mulzer
im existentiellen Schwangerschaftskonflikt, im Rahmen von vertraulicher Geburt, bei Adoption, bei Fragen im Zusammenhang mit einer Schwangerschaft unter Berücksichtigung von besonderen Lebensumständen (z.B. alleinerziehend, bei Partnerschaftskonflikten, Erkrankung der Schwangeren, Gewalterfahrungen, Frühgeburt), bei der Vorbereitung auf die neue Lebenssituation mit dem Kind, vor, während und nach Inanspruchnahme von pränataler Diagnostik; bei einem auffälligen Befund, einer möglichen oder festgestellten Behinderung des Kindes, bei Verlust durch Fehl- oder Totgeburt, nach frühem Kindstod, nach einem Schwangerschaftsabbruch, zu Fruchtbarkeit, Sexualität, Familienplanung und Empfängnisregelung, bei Kinderwunsch, über gesetzliche Ansprüche (z. B. familienfördernde Leistungen einschließlich der besonderen Rechte im Arbeitsleben), nach der Geburt des Kindes, durch sexualpädagogische Arbeit, über Angebote für Alleinerziehende, Familien, Kinder, bei der Erschließung finanzieller Unterstützung, bei der Suche nach Wohnung, Arbeits- oder Ausbildungsplatz oder deren Erhalt, im Umgang mit Behörden und bei der Durchsetzung von Rechtsansprüchen, im Rahmen Früher Hilfen. Beratung und Begleitung Schwangerer und ihrer Familien
Definition psychosoziale Beratung:
„Schwangerschaftsberatung ist […] „psychosoziale“ Beratung, weil sie sowohl die psychische Verfassung der schwangeren Frau als auch ihre soziale Lebenssituation im Blick hat. Als fachlich qualifizierte Hilfe auf der Grundlage der sozialen Arbeit will sie Ratsuchende zur Selbsthilfe und zur Wahrnehmung ihrer Verantwortung für das ungeborene Kind befähigen. Das bedeutet auch, dass am Beginn eines Beratungsprozesses das Ergebnis noch nicht feststehen kann und damit jede Beratung in ihrem Ergebnis offen ist. Psychosoziale Beratung ist nach professionellem Selbstverständnis ein ressourcenorientierter dialogischer Prozess, in dem die Beraterin durch den Aufbau einer Beziehung und den Wechsel von Information, Aufklärung und Beratung entsprechend dem persönlichen Bedürfnis der Ratsuchenden eine Entscheidungsfindung begleitet“ (Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein e.V. 2012, S. 11).
In den Beratungsstellen arbeiten qualifizierte Berater:innen, in der Regel Sozialpädagog:innen/Sozialarbeiter:innen mit einer spezifischen Zusatzqualifikation für Schwangerschafts(konflikt)beratung. Die Beratung unterliegt professio-
Schwangere und ihre Familien beraten
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nellen fachlichen Standards (vgl. Deutscher Caritasverband e.V./Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein e.V. 2020, S. 8): Psychosoziale Beratung ist theorie- und erfahrungsgeleitet. Grundvoraussetzung für die professionelle Haltung der Berater:in in der psychosozialen Beratung ist der Respekt vor der Würde, vor den persönlichen Grenzen und dem Gewordensein des Anderen. Dies ermöglicht im Beratungsprozess, dass Kontakt, Beziehung und Begegnung zwischen zwei Subjekten auf Augenhöhe stattfinden können. Die Inhalte und Ziele in der Beratung werden in einem dialogischen Prozess gemeinsam entwickelt, formuliert und angepasst. Die empathische Grundhaltung der Berater:in und der geschützte Raum in der Beratung ermöglichen die Auseinandersetzung mit Gefühlen, Konflikten, Sorgen und Ängsten, mit persönlichen Sichtweisen und Wertvorstellungen. Der Mensch ist in all seinen Dimensionen, körperlich, seelisch, geistig und spirituell in der Beratungssituation präsent. Der Beratungsprozess berücksichtigt die vielfältigen Perspektiven im Erleben und in der Lebenswirklichkeit der Ratsuchenden. Die psychosoziale Beratung berücksichtigt das System, unterschiedliche Dimensionen und das Zusammenwirken („das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile“) und arbeitet vernetzt. Die psychosoziale Beratung stärkt die Selbstwirksamkeit der Ratsuchenden und nimmt deren Ressourcen in den Blick. Ratsuchende sind und bleiben die Expert:innen ihres eigenen Lebens. Die Ratsuchenden stehen mit ihren Lebensfragen, ihren Bedürfnissen und ihren Bewertungen im Mittelpunkt. Psychosoziale Beratung beinhaltet im prozesshaften Geschehen Information, Aufklärung, Auseinandersetzung und konkrete Hilfen. Dabei können die verschiedenen Anteile je nach Anliegen der Ratsuchenden unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Begleitung, konkrete Hilfe, Unterstützung und Stärkung ermöglichen Erfahrungen der Fürsorge und Mitmenschlichkeit, des Wahrgenommenwerdens, der Resonanz, des Angenommenseins. Beratung ist ihrem Wesen nach ergebnisoffen. In dem Begriffspaar ergebnisoffen und zielorientiert zeigt sich je nach Beratungsanlass eine zusätzliche Dimension, die den Beratungsauftrag transparent hinsichtlich seiner Werteorientierung, wie „dem Schutz des Lebens“, einordnet. Psychosoziale Beratung schließt Manipulation oder Machtmissbrauch aus. Sie ist durch Selbstreflexion, kollegiale Beratung, Supervision, Fortbildung, Selbstfürsorge und pastorale Begleitung der Berater:innen flankiert. Beratung in ethischen Entscheidungskonflikten Jede Beratung hat auch eine ethische Dimension. Sie greift bewusste und unbewusste Haltungen, Normen und Werte vor dem Hintergrund der je eigenen Lebenswirklichkeiten und Lebenserfahrungen der Ratsuchenden auf und bezieht diese in die Reflexion und Hilfeplanung ein. Es gibt jedoch Themen, die ethische Fragen explizit berühren. Besonders deutlich wird dies, wenn Ratsuchende vor existentiellen Entscheidungen stehen, die nicht nur die eigene Lebensgestaltung, sondern auch die Interessen, Wünsche, Bedürfnisse und Rechte anderer betreffen.
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Dazu gehören die Schwangerschaftskonfliktberatung nach der Beratungsregelung ebenso wie andere sich im Verlauf der Schwangerschaft möglicherweise ergebende existentielle Konfliktsituationen, beispielsweise nach positivem pränataldiagnostischen Befund oder bei verheimlichter Schwangerschaft. Zusätzlich zu den oben genannten Aspekten geht es hier im Besonderen darum, den Ratsuchenden Raum und Zeit zu geben, um zu einer eigenständigen, informierten, verantworteten (Gewissens-)Entscheidung zu gelangen, die auch langfristig in das eigene Leben integrierbar ist. Beratung kann und darf den Ratsuchenden ihre Entscheidung nicht abnehmen, sie kann aber dazu beitragen, ihre Ängste und Abhängigkeiten zu bearbeiten, den Blick zu weiten und neue Perspektiven zu entwickeln. Zur Beratung im Zusammenhang mit Pränataldiagnostik und zu erwartender Behinderung des Kindes sei beispielsweise verwiesen auf: Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein e.V. 2012; Haker 2011; Lob-Hüdepohl 2014. 5
Gesellschaftliche Herausforderungen und Ausblick
Die eingangs beschriebenen Entwicklungen – wie gesellschaftlicher Wandel, medizinischer Fortschritt, die Herausforderungen moderner Reproduktionsmedizin – berühren zunehmend die Schutzpflicht des Staates, sein Lebensschutzkonzept sowie seine Beobachtungs- und Nachbesserungspflicht. Aber auch die Kirchen und Träger der Beratungsstellen sind immer wieder gefordert, sich mit aktuellen Entwicklungen zu befassen und sich zu positionieren. Jüngere Beispiele sind die Diskussion um eine Kassenzulassung nichtinvasiver pränataler Tests, die nicht nachlassende Debatte um den § 219a StGB, die Forderung nach Ablösung des Embryonenschutzgesetzes durch ein Fortpflanzungsmedizingesetz oder der Ruf nach Umsetzung „reproduktiver Rechte“ als Menschenrechte, die auch eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs im Sinne einer „medizinischen Grundversorgung“ beinhalten. Die Beratungsstellen stehen so erneut im Spannungsfeld zwischen Lebensrechtsgruppierungen und Abtreibungsgegner:innen auf der einen Seite und Befürworter:innen einer Abschaffung des § 218 StGB auf der anderen Seite. Dabei hat sich die Schwangerschafts(konflikt)beratung immer schon den sich wandelnden Aufgaben und Herausforderungen der Gesellschaft gestellt. Umgekehrt werden in der Beratung gesellschaftliche Veränderungen, soziale Entwicklungen, konkrete Handlungsbedarfe sehr zeitnah über die Notlagen und Konflikte der Ratsuchenden seismographisch wahrnehmbar. Aus ihrem Selbstverständnis heraus, basierend sowohl auf dem gesetzlichen als auch auf dem kirchlichen Auftrag, muss sie mit ihrem Beratungs- und Unterstützungsangebot auf die Notlagen und Nöte der Menschen reagieren. Dazu gehört im Sinne von anwaltschaftlicher Lobbyarbeit, sich immer wieder für lebensförderliche Bedingungen für Schwangere, werdende Eltern und Familien stark zu machen.
Schwangere und ihre Familien beraten
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Literatur Deutscher Caritasverband e.V./Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein e.V. (Hg.) (2017): Das Lebensschutzkonzept der Katholischen Schwangerschaftsberatung. Freiburg i.Br. Deutscher Caritasverband e.V./Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein e.V. (Hg.) (2020): Professionell beraten in der Katholischen Schwangerschaftsberatung. Eine Beratungskonzeption. Freiburg i.Br. Dorn, A./Rohde, A. (2021): Krisen in der Schwangerschaft. Ein Wegweiser für schwangere Frauen und alle, die sie begleiten. Stuttgart. Evangelisches Werk für Diakonie und Entwicklung e.V./Diakonie Deutschland (Hg.) (2019): Ergebnisoffen: fragen, hören, informieren, ermutigen. Selbstverständnis der evangelischen Schwangerschaftskonfliktberatung. Berlin. Haker, H. (2011): Hauptsache gesund? Ethische Fragen der Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik. München. Helfferich, C./Klindworth, H./Heine, Y./Wlosnewski, I. (2016): Frauen leben 3. Familienplanung im Lebenslauf von Frauen. Schwerpunkt: Ungewollte Schwangerschaften. Eine Studie im Auftrag der BZgA. Köln. Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland/Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (1989): Gott ist ein Freund des Lebens. Herausforderungen und Aufgaben beim Schutz des Lebens. Gemeinsame Erklärung des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Deutschen Bischofskonferenz. Trier. Koschorke, M. (2019): Schwangerschaftskonflikte – Beratung in der Praxis. Stuttgart. Lob-Hüdepohl, A. (2014): Behinderung und Beratung – soziokulturelle Deutungsmuster als „Kopf-Barrieren“ für gelingende Inklusion. In: Ders./J. Eurich (Hg.): Behinderung – Profile inklusiver Theologie, Diakonie und Kirche (S. 224–236). Stuttgart. Schockenhoff, E. (2013): Ethik des Lebens. Grundlagen und neue Herausforderungen (2. aktualisierte Aufl.). Freiburg i.Br. Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein e.V. (Hg.) (2012): Psychosoziale Beratung und Begleitung bei Pränataldiagnostik. Dortmund. Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Mai 1993 zum Schwangerenund Familienhilfegesetz: 2 BvF 2/90, 2 BvF 4/92, 2 BvF 5/92. (1993): Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Familienfragen, Heft 1/1993. Grafschaft.
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Einleitung
In dem folgenden Beitrag sollen Kinder und Jugendliche als Adressat:innen des Berufs- bzw. Aufgabenfeldes der Kinder- und Jugendhilfe betrachtet werden. Die Kinder- und Jugendhilfe stellt eines der wichtigsten und differenziertesten Arbeitsfelder der Sozialen Arbeit dar, auch für Träger der Diakonie und Caritas. Kinder- und Jugendhilfe bezeichnet die soziale Infrastruktur zur Förderung des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen wie zur Unterstützung ihrer Familien bzw. der Personensorgeberechtigten. Sie umfasst sozialstaatlich organisierte und rechtlich normierte Angebote zur Betreuung, Förderung, Bildung und Erziehung von jungen Menschen genauso wie zum Schutz und zur Hilfe in Krisensituationen. Ziel und gesellschaftliche Funktion sind der Abbau sozialer Ungleichheit und die Förderung der Entwicklung von jungen Menschen zu selbstbestimmten, eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten. 2
Eine Skizze historischer Entwicklungslinien
Organisierte Hilfen für bedürftige Kinder lassen sich bereits in den Findel- und Waisenhäusern kirchlicher Stiftungen im 11./12. Jahrhundert verorten. Hier wurden Kinder versorgt und verwahrt, eine wohlwollende und zielgerichtete Erziehung fand jedoch nicht statt. Nach dem Dreißigjährigen Krieg und im Zuge des Aufkommens des protestantischen Pietismus lassen sich erste Vorläufer einer Fürsorgeerziehung erkennen. So standen christlich geprägte Erziehungsgedanken und Bemühungen um die Vorbereitung von Kindern und Jugendlichen auf das Berufsleben im Mittelpunkt der Arbeit von Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke in Frankfurt a. M. bzw. Halle (vgl. Knab 2014, S. 22). Die Zeit der Aufklärung war anschließend durch den Missbrauch kindlicher Arbeitskräfte in Waisenhäusern geprägt. Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts kam es angesichts der problematischen Zustände in Kinder-
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heimen (mangelnde Hygiene, Ausnutzung von Kinderarbeit, hohe Kindersterblichkeit) zum „Waisenhausstreit“, in dessen Folge zahlreiche Anstalten geschlossen wurden (vgl. Knab 2014, S. 22). Kritisiert wurde auch ein Übermaß an religiöser Erziehung, welches nicht mehr dem Geist eines aufgeklärten Christentums entsprach (vgl. Hansbauer/Merchel/Schone 2020, S. 19). An Rousseau und Pestalozzi und an die Entdeckung der Kindheit als eigenständiger Lebensphase anknüpfend, lässt sich Ende des 18. Jahrhunderts eine erste „Pädagogisierung“ des Umgangs mit sozialen Problemen (auch) in der Kinderund Jugendfürsorge nachzeichnen (vgl. Hansbauer/Merchel/Schone 2020, S. 19 ff.). Der wirtschaftliche Zusammenbruch am Ende der napoleonischen Kriege und der individualistische Zug des deutschen Frühliberalismus führten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem fast vollständigen Rückzug des Staates aus der öffentlichen Fürsorge und zu einer zeitgleichen Zunahme privater, überwiegend konfessionell geprägter Fürsorgeeinrichtungen (vgl. Hansbauer/Merchel/Schone 2020, S. 22). Bedeutsam im 19. Jahrhundert war ferner die mit Namen wie Christian Heinrich Zeller, Johann Hinrich Wichern oder Wilhelm Emmanuel von Ketteler verbundene, zum größeren Teil protestantische, jedoch durch beide christlichen Konfessionen geprägte Rettungshausbewegung. Kinder verarmter städtischer Familien erhielten in solchen Rettungshäusern Obdach, Schulbildung und eine handwerkliche Ausbildung (vgl. Knab 2014, S. 23). In diese Zeit der Entwicklung einer Heimerziehung Mitte des 19. Jahrhunderts fallen zugleich erste Impulse zur Organisation einer öffentlichen Kleinkindererziehung, die mit Begriffen wie „Bewahranstalt“, „Kleinkinderschule“ oder eben „Kindergarten“ und den Promotoren Georg Wirth, Theodor Fliedner und Friedrich Fröbel verbunden sind (vgl. Hansbauer/Merchel/Schone 2020, S. 23 f.). Die Zeit nach der Reichsgründung 1871 bis zum Beginn der Weimarer Republik war nicht nur gekennzeichnet durch die zunehmende Industrialisierung und die Ausbreitung von Armut in den Arbeiter- und Elendsvierteln der Städte sowie das Aufkommen erster Sozialreformen, sie lässt sich auch als Gründerphase der öffentlichen Jugendhilfe bezeichnen (vgl. Rätz/ Schröer/Wolff 2014; ausführlich Gedrath/Schröer 2012). Auch im Kontext der Durchsetzung der allgemeinen Schulpflicht gewinnen Fragen der Erziehung und des Unterrichtes an gesellschaftlicher Bedeutung. Diese ziehen erste reformpädagogische Leitideen nach sich, die zusammen mit einem sich wandelnden Staatsverständnis dazu führen, dass Kinder- und Jugendhilfe nunmehr als öffentliche Aufgabe begriffen (vgl. Hansbauer/Merchel/Schone 2020, S. 24) und abgelöst von der Armenfürsorge als dritte Sozialisationsinstanz neben Familie und Schule gesehen wird. Auch Kontexte wie die beginnende Verberuflichung der Sozialen Arbeit und der Jugendfürsorge durch die erste „ChristlichSoziale-Frauenschule“ 1905 in Hannover und die von Alice Salomon geleitete „Soziale Frauenschule“ 1908 in Berlin spielten eine Rolle. Meilensteine der Kinder- und Jugendfürsorge stellen die Gründungen erster Jugendämter 1910 in Hamburg, 1912 in Breslau und 1913 in Lübeck dar, vor allem aber das 1924 in Kraft getretene Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (RJWG). Erstmalig wurde hier ein Anspruch auf Erziehung zur „leiblichen, seelischen
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und gesellschaftlichen Tüchtigkeit“ normiert und zum ersten Mal sollte in einem Gesetz die gesamte Jugendwohlfahrt (Jugendpflege und Jugendfürsorge, Aufgaben öffentlicher und freier Träger) geregelt werden (vgl. Knab 2014, S. 23 f.). Einflüsse und die Kritik der Reformpädagogik und der damit einhergehenden Bestimmung einer Pädagogik „vom Kinde her“ führten in der Zeit der Weimarer Republik zum Aufkommen von progressiven Arbeitskreisen und zur Entstehung erster Reformheime (vgl. Knab 2014, S. 24). Die Kinder- und Jugendhilfe im NS-Staat war anschließend geprägt durch die allgemeine Gleichschaltung sowie das Verbot von Wohlfahrtsverbänden und die organisatorische wie inhaltliche Unterstellung der Fürsorgeerziehung unter die nationalsozialistische Gesamterziehung mit ihrem rassenhygienischen Gedankengut (vgl. Knab 2014, S. 25; ausführlich Sachße/Tennstedt 1992). Nach dem 2. Weltkrieg war die Kinder- und Jugendhilfe, wie die gesellschaftliche Lage insgesamt, zunächst geprägt durch großes Elend, die Beseitigung von Kriegsschäden, die Betreuung von Flüchtlingswaisen und den Beibehalt einer disziplinierenden Fürsorge zur Verhütung von „Verwahrlosung“. Diese Disziplinierungsabsichten lassen sich noch bis in die 1970er Jahre aufzeigen (vgl. Kuhlmann 2014, S. 27). Im Kontext der 68er Bewegung und der aus ihr hervorgegangenen „Heimkampagnen“ beginnt in den 1960er Jahren ein Wandel der Kinder- und Jugendhilfe, insbesondere in der Heimerziehung. Gestützt vom Professionalisierungsanspruch des JWG und der juristischen Debatte über Grundrechte im Heim wurden öffentlichkeitswirksam die menschenunwürdigen Zustände in den Heimen (Strafen, Arbeitszwang, repressive Sexualerziehung) skandalisiert. Ein Reformprozess begann: Es entwickelten sich fortan Kleingruppenkonzepte, koedukative Wohngemeinschaften und ambulante Hilfen. Selbstverantwortlichkeit und Demokratie wurden zu Erziehungszielen, und nicht zuletzt hielten gruppendynamische und psychotherapeutische Konzepte Einzug in die Erziehungshilfen (vgl. Kuhlmann 2014, S. 28 f.). Nach jahrzehntelangen Diskussionen (vgl. zusammenfassend z.B. Jordan/Maykus/Stuckstätte 2012, S. 70 f.) wurde 1990/1991 das Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) als Neufassung des JWG verabschiedet. Geprägt wurde diese Reform (u. a.) vom pädagogischen Konzept der Lebensweltorientierung (vgl. z.B. Thiersch 2014; Grunwald/Thiersch 2016), von Praxisentwicklungen wie den ambulanten Hilfen, von Professionalisierungsentwicklungen durch den Auf- und Ausbau von Fachhochschulen und durch den Anspruch eines Dienstleistungsgesetzes. Diese Prägungen zeigen sich etwa mit Blick auf die erzieherischen Hilfen, die möglichst präventiv und dezentral erbracht werden sollen und die nicht länger mit diskriminierenden Begriffen des JWG – wie „Verwahrlosung“ oder „Schädigung der Entwicklung“ – und repressiven Interventionsstrategien verbunden werden (vgl. Nüsken/Böttcher 2018, S. 63 f.). Dem gegenüber steht nunmehr ein Rechtsanspruch auf Hilfen zur Erziehung,
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der (auch) Kennzeichen der Präventionsbestrebungen wie der Flexibilisierung und der Demokratisierung der Kinder- und Jugendhilfe ist bzw. sein soll (vgl. Jordan/Maykus/Stuckstätte 2012, S. 73). Gesellschaftliche Entwicklungen und politische Vorhaben führten seit 1990/ 1991 zu zahlreichen Änderungen des SGB VIII, das jedoch im Kern als bewährt und als reformfähig zugleich gilt. Wesentliche Reformen betrafen beispielsweise die Einführung des Rechtsanspruches auf einen Kindergartenplatz (1992 bzw. 1996), die Kindschaftsrechtsreform (1998), die Einführung von Leistungs-, Entgelt- und Qualitätsentwicklungsvereinbarungen für (teil-)stationäre Hilfen (1999), die Einführung von expliziten rechtlichen Vorgaben zum Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung (2005 und 2012) und die spezifischen Regelungen für die Arbeit mit jungen (unbegleiteten) geflüchteten Menschen (2015). 3
Strukturen und Organisationen
Grundlegende Strukturen und Organisationen der Kinder- und Jugendhilfe lassen sich vor allem gemäß dem föderativen Aufbau der Bundesrepublik und im Verhältnis von öffentlichen und freien Trägern darstellen. Im Kontext des föderativen Aufbaus der Bundesrepublik als demokratischer und sozialer Bundesstaat (Art. 20, 28 und 30 GG) kennzeichnet diesen zunächst der Anspruch, durch entsprechende Strukturen und Maßnahmen die Verwirklichung (größerer) sozialer Gerechtigkeit anzustreben. Wesentliche Elemente zum sozialen Ausgleich und zur sozialen Absicherung sind die staatliche Sozialpolitik und deren Normierung in entsprechenden Sozialleistungen, für Kinder- und Jugendliche eben (auch) durch die Kinder- und Jugendhilfe. Der föderale Aufbau wird durch eine Bundesregierung, durch 16 Bundesländer und die (mit Ausnahme der Stadtstaaten) innerhalb dieser agierenden Kommunen (Städte und Gemeinden) deutlich. Damit zeigen sich auch die drei wesentlichen Ebenen, auf denen die Akteure und Aufgaben der Kinder- und Jugendhilfe verortet sind. Für die Kinder- und Jugendhilfe auf der Bundesebene sind hier vor allem die Bundesgesetzgebung durch den Bundestag (unter Beteiligung des Bundesrates) und das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) relevant. Auf der Ebene der Bundesländer gibt es ebenfalls die entsprechenden Parlamente und Ministerien mit der Aufgabe zum Erlass von Ausführungsgesetzen, mit eigenen Anregungs- und Förderungsaufgaben und mit überörtlichen Trägern, den Landesjugendämtern (die z.T. auch Abteilungen der Jugendministerien sind), die u. a. Beratungs-, Förderungs- und Fortbildungsaufgaben haben. Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe werden zum allergrößten Teil jedoch durch die kommunalen, örtlichen Träger, die Jugendämter der Städte oder Kreise erbracht. Dazu zählen vor allem die Leistungen, die als subjektive Rechtsansprüche oder öffentliche Gewährleitungspflichten im SGB VIII gefasst sind. Die Zuständigkeit kommunaler, wohnortnaher Träger garantiert zum einen Bürgernähe, sie ist aber zugleich die Achillesferse der
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Kinder- und Jugendhilfe. Mehr als 2/3 der Ausgaben der Kinder- und Jugendhilfe (54,9 Mrd. in 2019) werden von den Kommunen geleistet, von denen sich nicht wenige in schwierigen Haushaltslagen befinden. Konkret erbracht werden die meisten Hilfen und Angebote (etwa Kindertagesstätten oder Hilfen zur Erziehung) jedoch nicht von den Jugendämtern selbst, sondern von freien Trägern. Diese freien Träger sollen gem. §§ 3, 4 und 5 SGB VIII eine Vielfalt an unterschiedlichen Wertorientierungen, Inhalten, Methoden und Arbeitsformen gewährleisten und den Bürger:innen ein Wunsch- und Wahlrecht ermöglichen. Gemäß dem Subsidiaritätsprinzip (§ 4 Abs. 2 SGB VIII) besteht sogar ein Vorrang freier Träger beim Betrieb von Einrichtungen, Diensten und Veranstaltungen. Finanziert werden die Leistungen freier Träger in den meisten Fällen ganz oder teilweise von den Jugendämtern, die auch die Gesamtverantwortung wahrnehmen. Die klassischen konfessionell oder verbandlich organisierten freien Träger sind als Wohlfahrtsverbände ebenfalls auf kommunaler, wie auf Landes- und Bundesebene organisiert und erbringen damit nicht nur Leistungen, sondern gestalten die Kinder- und Jugendhilfe auch mit, indem sie in Jugendhilfeausschüssen auf kommunaler oder Landesebene mitwirken und fachpolitisch aktiv sind. Die sechs Spitzenverbände der freien Wohlfahrtspflege sind: Arbeiterwohlfahrt, Caritas, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk, Paritätischer Wohlfahrtsverband und die Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden. Daneben sind (oftmals kleinere) Träger auch in selbstorganisierten Institutionen (z.B. als e.V.) oder als privat-gewerbliche Träger organisiert. Durch die Vielfalt und die Mitwirkung von freien Trägern, wie durch die Beteiligung von Kindern, Jugendlichen und Familien an der Auswahl und Gestaltung von Leistungen, zeigt sich nicht zuletzt auch der demokratische Anspruch der Kinderund Jugendhilfe. 4
Aufgaben und Leistungsfelder
Aufgaben und Leistungsfelder der Kinder- und Jugendhilfe lassen sich in einer sehr groben Systematik unter den beiden Begriffen Prävention und Intervention subsumieren. Präventiv ausgerichtet sind hierbei alle Leistungen, die sich der Entwicklung, Erziehung und Bildung aller Kinder, Jugendlichen und ihrer Familien widmen. Dazu zählen insbesondere die Kindertagesstätten und die Kindertagespflege, die Jugendarbeit und die Jugendverbandsarbeit wie auch familienorientierte Angebote, etwa die Familienbildung. Solche Leistungen und Angebote zeichnen sich durch offene Zugänge, durch den Freiwilligkeitscharakter und z.T. auch durch explizite Rechtsansprüche (z.B. auf einen Kindergartenplatz) aus. Intervention findet im Rahmen der Kinder- und Jugendhilfe statt, wenn sich Leistungen und Angebote konkreten Problemlagen widmen. Wenn Eltern etwa mit Erziehungsaufgaben überfordert sind, wenn sie in Partnerschaftsprobleme geraten oder wenn Kinder und Jugendliche in Krisen kommen, haben Familien bzw. Personensorgeberechtigte Anspruch auf Hilfe und Unterstützung. Diese
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Hilfen (z.B. Erziehungsberatung oder Trennungs- und Scheidungsberatung) sind zwar ebenfalls grundsätzlich offen zugänglich und sie werden freiwillig wahrgenommen, jedoch richten sie sich an bestimmte Familien bzw. Problemkonstellationen. Hilfen zur Erziehung (ambulante, teilstationäre, stationäre und flexible Erziehungshilfen) finden dagegen nach Prüfung eines individuellen erzieherischen Bedarfes statt; die Hilfen müssen dabei als notwendig und geeignet erachtet werden (§ 27 SGB VIII). Das formale Recht auf solche Hilfen steht den Eltern bzw. Personensorgeberechtigten und jungen Volljährigen zu. Auch Hilfen zur Erziehung werden prinzipiell freiwillig in Anspruch genommen, in der Praxis finden Beantragungen jedoch auch „auf dringende Empfehlung“ der Jugendämter hin und ggf. im Vorfeld einer Anrufung des Familiengerichtes statt (vgl. Nüsken/Böttcher 2018, S. 9). Explizit eingreifend sind schließlich schutzorientierte Leistungen, die sich aus der Wahrnehmung des staatlichen Wächteramtes (Art. 6 GG, § 1 Abs. 2 SGB VIII) ergeben. Dazu zählen insbesondere Inobhutnahmen in Fällen dringender Gefahr oder wenn junge Menschen darum bitten, der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdungen und die Anrufung des Familiengerichtes. Solche Leistungen werden ggf. auch gegen den Willen von Eltern oder jungen Menschen erbracht. Maßstab für diese Leistungen ist die Überprüfung oder Abwendung einer Kindeswohlgefährdung (§§ 1666 BGB, 8a SGB VIII). Differenzierte Darstellungen finden sich z.B. in den einschlägigen Lehrbüchern (Rätz/Schröer/ Wolff 2014; Jordan/Maykus/Stuckstätte 2015 und Hansbauer/Merchel/Schone 2020). 5
Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe durch Träger der Diakonie und Caritas
Grundsätzlich sind Träger der Diakonie und Caritas in allen Feldern der Kinder- und Jugendhilfe (in denen es sich nicht um hoheitliche Aufgaben handelt) auch als Leistungserbringer tätig. Genaue Anteile und Spezifika konfessionell geprägter Träger sind angesichts der gewollten Vielfalt und der nur in einigen Leistungsbereichen aussagekräftigen Daten der Kinder- und Jugendhilfestatistik nicht umfassend darstellbar. Daten zur Trägerstruktur liegen jedoch zu Kindertagesstätten (Böwing-Schmalenbrock/Tiedemann 2019) und den stationären Hilfen (Tabel 2020) vor. Im Jahr 2019 wurden knapp zwei Drittel (63,9 %) der in Kindertageseinrichtungen betreuten Kinder in einer Einrichtung freier Träger betreut, 15,5 % bei Trägern der EKD/Diakonie und 17,0 % bei Trägern der Katholischen Kirche/Caritas. Im 10-Jahres-Vergleich (2009/2019) haben kirchliche Träger zuletzt etwas an Bedeutung verloren. So sank der Anteil von Kindern in katholischen Kindertagesstätten um 2,8 und in evangelischen um 0,9 Prozentpunkte. Dennoch spielen beide Trägergruppen (nach den öffentlichen Trägern) nach wie vor die größte Rolle. Unterhalb dieser bundesweiten Daten zeigen sich jedoch deutliche Unterschiede im Ost-West-Vergleich: In den ostdeutschen Bundesländern sind katholische und evangelische Träger eher selten
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vertreten. In Westdeutschland nehmen sie in Summe dagegen eine ebenso große Rolle wie die öffentlichen Träger ein (vgl. Böwing-Schmalenbrock/Tiedemann 2019, S. 13). Im Zuge des Ausbaus von Kindertagesstätten in den letzten Jahren zeigt sich, dass evangelische und katholische Träger hier in geringerem Ausmaß beteiligt sind als etwa privat-gemeinnützige und privat-nichtgemeinnützige Träger. Vor allem katholische Träger verzeichnen in den letzten zehn Jahren praktisch keine zusätzlich geschaffenen Kitas, und auch die Anzahl betreuter Kinder hat sich hier vergleichsweise wenig erhöht. Angesichts dieser Erkenntnisse erstaunt es umso mehr, dass sich die Anzahl an pädagogischem Personal im selben Zeitraum bei katholischen Trägern um knapp und bei evangelischen sogar um mehr als 50 % erhöht hat. Offensichtlich haben die verantwortlichen Akteure innerhalb dieser konfessionellen Trägergruppen den Schwerpunkt auf die Bindung und Neugewinnung von Personal gelegt, ggf. auch zur Verbesserung der Personalschlüssel im Kontext des Ausbaus der U3-Betreuung (vgl. Böwing-Schmalenbrock/Tiedemann 2019, S. 14 f.). Der Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund ist in der Kindertagesbetreuung in den vergangenen Jahren bei allen Trägergruppen leicht angestiegen. Aufgrund der (abgesehen von Berlin) sehr geringen Anteile von etwa 5 % in den ostdeutschen Bundesländern erscheinen hier eher Analysen aus Westdeutschland aussagekräftig. In den westdeutschen Bundesländern weisen gerade katholische Träger einen überdurchschnittlich hohen Anteil im Vergleich mit dem jeweiligen Landesdurchschnitt auf, und zwar in Schleswig-Holstein, Hamburg und Baden-Württemberg, während die Anteile insbesondere in Nordrhein-Westfalen, Bayern und Bremen unter dem jeweiligen Landesdurchschnitt liegen. Interpretieren ließe sich dies dahingehend, dass die jeweils aktiven Träger offenbar regional stark unterschiedlich ihre konfessionelle Ausrichtung hervorheben. Je nach Region kommen Familien mit einem Migrationshintergrund ggf. auch unterschiedlich stark als Adressaten der Kindertagesbetreuung konfessioneller Träger infrage (vgl. Böwing-Schmalenbrock/Tiedemann 2019, S. 17). Einer aktuellen empirischen Standortbestimmung der Heimerziehung im Zuge des gleichnamigen Zukunftsforums (Tabel 2020) lassen sich auch einige Daten zur Art der Träger von stationären Hilfen entnehmen. Insgesamt werden hier 96 % der stationären Einrichtungen von freien Trägern betrieben. Das Subsidiaritätsprinzip und der Vorrang freier Träger scheinen damit ausgeprägter praktiziert zu werden als z.B. in der Kindertagesbetreuung und der Kinder- und Jugendarbeit (vgl. Autorengruppe Kinder- und Jugendhilfestatistik 2019). Unter den freien Trägern stellen Diakonie und Caritas die größten Anbieter dar (70 %). Die Platzkapazitäten stationärer Hilfen sind bei den verschiedenen Trägergruppen im Vergleich der Jahre zwischen 2006 und 2018 (und hier vor allem zwischen 2014 und 2016) erkennbar gestiegen. Besonders deutliche Zunahmen zeigen die Daten für Träger der Diakonie und Caritas, die in der o.g. Expertise auch als „Wachstumsgewinner“ bezeichnet werden. Konkret entfallen von den rund 41.000 zusätzlichen Plätzen seit 2006 fast die Hälfte auf die beiden kirchlichen Trägergruppen Diakonie (+10.399) und Caritasverband (+9.436).
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Aufgrund der rund 130.000 unbegleiteten jungen geflüchteten Menschen, die in den Jahren 2015 und 2016 in Deutschland und im Kontext von Inobhutnahmen in der Kinder- und Jugendhilfe aufgenommen wurden, lohnt auch ein Blick auf die entsprechenden Daten. Diese zeigen, dass der zwischen 2014 und 2016 notwendige Platzausbau für unbegleitet nach Deutschland geflüchtete junge Menschen nicht von allen Trägergruppen gleichermaßen realisiert wurde. Von den etwas mehr als 18.900 zusätzlich geschaffenen Plätzen in diesem Zeitraum entfallen 34 % auf die Diakonie/Träger der EKD (+6.496) und 21 % auf Träger unter dem Dach des Paritätischen (+4.018). Etwa 29 % der zusätzlich geschaffenen Plätze sind Trägern ohne eine Zugehörigkeit zu einem Wohlfahrtsverband zuzuordnen, lediglich 856 zusätzliche Plätze entfallen auf Träger der Caritas (vgl. Tabel 2020, S. 23). 6
Aktuelle Entwicklungen
Allein der Versuch, in einem kurzen Artikel zu Adressat:innen und Aufgabenfeldern diakonischer und caritativer Initiativen und Träger aktuelle Themen und Perspektiven der Kinder- und Jugendhilfe halbwegs umfassend und zugleich anschaulich darstellen zu wollen, würde implizit bereits ein Scheitern in sich tragen. Nicht nur angesichts der Diskurse im Kontext des aktuellen (Frühjahr 2021) Gesetzgebungsverfahrens zu einer SGB VIII-Reform erscheinen gesellschaftliche Entwicklungen, politische Blickwinkel und Interessen sowie die Perspektiven, aus denen Herausforderungen und Positionen strategisch und konzeptionell markiert werden könnten zu vielfältig und komplex für eine knappe Darstellung. Interessierten Leser:innen sei hier z.B. Böllerts etwa fünfzigseitige Einleitung in das Kompendium Kinder- und Jugendhilfe 2018 empfohlen. An dieser Stelle sollen abschließend lediglich zwei für konfessionell geprägte Wohlfahrtsverbände besonders relevante Aspekte aufgeführt werden. Als übergreifende Erkenntnis zur Gesamtentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe sei zunächst auf die Autor:innen des 14. Kinder- und Jugendberichtes (BMFSFJ 2013) verwiesen. Mit der Maxime, dass die Kinder- und Jugendhilfe in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, verdeutlichen sie pointiert den Bedeutungszuwachs, den die Kinder- und Jugendhilfe zuletzt erfahren hat und untermauern diesen mit entsprechenden Belegen etwa zum Ausbau der Kindertagesbetreuung oder der sozialpädagogischen Arbeit im Kontext von Schule. Nach wie vor kommt die Kinder- und Jugendhilfe zwar ihrer spezifischen Verantwortung an Stellen nach, die sich durch besonders belastetes oder problematisches Aufwachsen von jungen Menschen kennzeichnen lassen, insgesamt betrachtet zählen ihre Angebote aber mittlerweile zur gesellschaftlichen Normalität (vgl. z.B. BMFSFJ 2013, S. 43). Wie am Beispiel der Kindertagesstätten und der stationären Hilfen zur Erziehung gezeigt, kommt der Diakonie und der Caritas innerhalb der freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe unverändert eine starke Stellung als größte Trä-
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gergruppen zu (vgl. Ehlke et al. 2017). Als konfessionell geprägte Wohlfahrtsverbände üben Diakonie und Caritas als Akteure in der Kinder- und Jugendhilfe jedoch durchaus unterschiedliche Funktionen aus: Sie sind politisch relevante Akteure und speisen diesen Anspruch aus ihrem gesellschaftsbildenden Auftrag der Solidarität mit und dem anwaltschaftlichen Handeln für die Schwächsten einer Gesellschaft. Zugleich sind sie im Sozialbereich als Arbeitgeber und Dienstleister unternehmerisch tätig. Sie garantieren professionell organisierte Dienstleistungen, den verantwortlichen Umgang mit öffentlichen und eigenen Mitteln, und sie ermöglichen bürgerschaftliches Engagement in vielfältigen Formen. An diesen Stellen sind sie zugleich Lobbyisten in eigener Sache. Schließlich sind Diakonie und Caritas – nicht nur, aber eben auch – in der Kinder- und Jugendhilfe Repräsentanten von Wertbindungen. Sie fußen auf einer wertgebundenen Legitimation von Gemeinnützigkeit, sie vertreten wertebezogene Deutungsmuster und sind selbst Orte wertbezogener Selbstvergewisserungsprozesse (vgl. Böllert 2018, S. 13). In dieser – zugegebenermaßen – recht groben Trias von anwaltschaftlichen, dienstleistenden und wertgebunden-reflexiven Funktionen stellt sich die Frage, wie diese Multifunktionalität aufrechterhalten werden kann. Oder findet im Zuge der Ökonomisierungstendenzen in der Kinder- und Jugendhilfe auch bei Diakonie und Caritas eine Konzentration auf sachrationale und ökonomische Steuerungsprinzipien statt (vgl. Böllert 2018, S. 13; Beher 2016; Merchel 2011)? In der öffentlichen (zumindest in der medialen) Wahrnehmung zu sozial- und jugendhilfepolitischen Fragen scheint jedenfalls der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Ulrich Schneider, deutlich präsenter und gefragter zu sein als Akteure der Diakonie und Caritas. Eine weitere Herausforderung, insbesondere für Diakonie und Caritas, stellt das Außerachtlassen glaubensgemeinschaftlicher Bezüge dar. Autor:innen wie Ehlke et al. 2017, Böllert/Muckelmann 2016, Oelkers et al. 2016 oder Bohmeyer 2009 weisen darauf hin, dass sowohl bei den Adressat:innen wie bei vielen Fachkräften der Kinder- und Jugendhilfe Glaubensfragen und glaubensgemeinschaftliche Orientierung bei Ausbildungs-, Hilfe- und Anstellungsträgern eine wesentliche Bedeutung haben. Dem entsprechend weist Böllert (2018, S. 14 mit Bezug zu Bohmeyer 2009, S. 439) darauf hin, dass es erstaunlich sei, wie wenig die Bedeutung von Religion und Glaubensfragen für die Wohlfahrtserbringung bislang untersucht wurde und dass offenbar im Kontext einer modernisierungstheoretischen Säkularisierungsperspektive Religion im Mainstream der Praxisfelder der Sozialen Arbeit keine Rolle spielt. Auch angesichts der ohne die Rückbindung an Glaubensgemeinschaften nicht erzählbaren Geschichte der Sozialen Arbeit in Europa und der für die Gestaltung der europäischen Zukunft äußerst relevanten Frage nach dem Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Religionszugehörigkeit sieht Böllert hier alle Träger der freien Kinder- und Jugendhilfe herausgefordert, „[...] ihre unterschiedlichen Funktionen wieder stärker auszubalancieren und angesichts komplexer gewordener Bedingungen der Finanzierung ihrer Leistungen und An-
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gebote die Vertretung von Wertbindungen nach innen und außen nicht aus dem Auge zu verlieren und auch weiterhin Orte einer wertgebundenen Selbstvergewisserung anzubieten“ (Böllert 2018, S. 15).
Mit Blick auf die Kinder- und Jugendhilfe insgesamt lässt sich abschließend durchaus von einem etablierten und professionalisierten System zur Betreuung, Förderung, Bildung und Erziehung junger Menschen und eben auch zum Schutz ihres Wohls sprechen. Auch oder auch gerade wegen seiner Reformfähigkeit hat sich nach nunmehr über dreißig Jahren auch die zentrale gesetzliche Grundlage das SGB VIII als tragfähig erwiesen. Gleichwohl sind die Bedingungen des Aufwachsens von jungen Menschen insgesamt gestaltbarer, aber auch anspruchsvoller und komplexer geworden. Viele Familien und junge Menschen wissen die damit verbundenen Chancen zu nutzen. Die Herausforderungen durch Armut, migrationsbedingte Benachteiligungen oder Ausgrenzungserfahrungen zeigen jedoch die andere Seite dieser Entwicklung und die Bedeutung, die dem sozialen, ökonomischen und kulturellem Kapital einer Familie zukommt. Damit zusammenhängende Strukturfragen des Aufwachsens in unserer Gesellschaft dürfen insbesondere von wertgeleiteten Trägern nicht ausgeblendet werden, will man nicht suggerieren, dass die sozialpolitischen Rahmenbedingungen hinreichend geklärt seien (vgl. Thiersch 1997, S. 151). Literatur Beher, K. (2016): Träger der Kinder- und Jugendhilfe. In: W. Schröer/N. Struck/M. Wolff (Hg.): Handbuch Kinder- und Jugendhilfe (S. 702–720). Weinheim u. a. Bohmeyer, A. (2009): Soziale Arbeit und Religion – sozialwissenschaftliche und anthropologische Spurensuche in postsäkularer Gesellschaft. neue praxis, 39 (5), 439–450. Böllert, K. (2018): Einleitung: Kinder- und Jugendhilfe – Entwicklungen und Herausforderungen einer unübersichtlichen sozialen Infrastruktur. In: K. Böllert (Hg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe. Band 1 (S. 3–62). Wiesbaden. Böllert, K. (2018) (Hg.): Kompendium Kinder- und Jugendhilfe (Band 1). Wiesbaden. Böllert, K./Muckelmann, C. (2016): Sozialpädagogische Fachlichkeit und Religiosität. Soziale Passagen, 8 (1), 29–38. Böwing-Schmalenbrock, M./Tiedemann, C. (2019): Träger – eine wenig beachtete Einflussgröße in der Kita-Landschaft. KOMDAT – Kommentierte Daten der Kinder- und Jugendhilfe, 22 (3/19), 13–18. Abrufbar unter http://www.akjstat.tu-dortmund.de/fileadmin/user_upload/2019 _Heft3_KomDat.pdf (Zugriff am 23.02.2021). Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) (2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Berlin. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Berlin.
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D. Nüsken
Ehlke, C./Karic, S./Muckelmann, C./Böllert, K., Oelkers, N./Schröer, W. (2017): Soziale Dienste und Glaubensgemeinschaften. Weinheim u. a. Gedrath, V./Schröer, W. (2012): Die Sozialgesetzgebung und die Soziale Arbeit im 20. Jahrhundert. Erläuterungen am Beispiel der Kinder- und Jugendhilfe. In: W. Thole (Hg.): Grundriss Soziale Arbeit (S. 863–882). Wiesbaden. Grunwald, K./Thiersch, H. (2016): Praxis Lebensweltorientierter Sozialer Arbeit. Handlungszugänge und Methoden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern. Weinheim u. a. Hansbauer, P./Merchel, J./Schone, R. (2020): Kinder- und Jugendhilfe. Grundlagen, Handlungsfelder, professionelle Anforderungen. Stuttgart. Jordan, E./Maykus, S./Stuckstätte, E. (2012): Kinder- und Jugendhilfe. Einführung in Geschichte und Handlungsfelder, Organisationsformen und gesellschaftliche Problemlagen. Weinheim u. a. Knab, E. (2014): Entwicklung der Erziehungshilfe - vom Mittelalter bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. In: M. Macsenaere/K. Esser/E. Knab/S. Hiller (Hg.): Handbuch der Hilfen zur Erziehung (S. 21–26). Freiburg i.Br. Kuhlmann, C. (2014): Erziehungshilfen von 1945 bis heute. In: M. Macsenaere/K. Esser/E. Knab/S. Hiller (Hg.): Handbuch der Hilfen zur Erziehung (S. 27–32). Freiburg i.Br. Merchel, J. (2011): Wohlfahrtsverbände, Dritter Sektor und Zivilgesellschaft. In: A. Evers/R. G. Heinze/T. Olk (Hg.): Handbuch Soziale Dienste (S. 245–264). Wiesbaden. Nüsken, D./Böttcher, W. (2018): Was leisten die Erziehungshilfen? Eine einführende Übersicht zu Studien und Evaluationen der HzE. Weinheim u. a. Oelkers, M./Karic, S./Ehlke, C./Schroer, W./Böllert, K. (2016): Religion – Wohlfahrtserbringung – Soziale Arbeit. In: R. Lutz/D. Kiesel (Hg.): Sozialarbeit und Religion. Herausforderungen und Antworten (S. 90–104). Weinheim u. a. Rätz, R./Schröer, W./Wolff, M. (2014): Lehrbuch Kinder- und Jugendhilfe. Grundlagen, Handlungsfelder, Strukturen und Perspektiven. Weinheim u. a. Sachße, C./Tennstedt, F. (1992): Der Wohlfahrtsstaat im Nationalsozialismus. Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland (Band 3). Stuttgart u. a. Tabel, A. (2020): Empirische Standortbestimmung der Heimerziehung. Fachwissenschaftliche Analyse von Daten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik. Expertise für das Zukunftsforum Heimerziehung. Internationale Gesellschaft für erzieherische Hilfen. Frankfurt. https://igfh.de/sites/de fault/files/2020-07/Expertise_Statistik_Tabel_2020.pdf (Zugriff am 23.02.2021). Thiersch, H. (1997): Gerechtigkeit und Effektivität. Die Soziale Arbeit in den Zeiten der Globalisierung – Eine Skizze zur Selbstvergewisserung der Profession. Blätter der Wohlfahrtspflege. Deutsche Zeitschrift für Soziale Arbeit, 144 (7 und 8), 151–153. Thiersch, H. (2014): Lebensweltorientierte Soziale Arbeit: Aufgaben der Praxis im sozialen Wandel. Weinheim u. a.
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1
Historische Entwicklung seit dem 19. Jahrhundert
Obdachlosigkeit ist der extremste Ausdruck materieller Armut und sozialer Ausgrenzung. Sie ist zugleich Folge sowie Ursache von beidem. Von Obdachund Wohnungslosigkeit betroffene Menschen haben keinen oder nur einen äußerst limitierten Zugang zu existentiellen Lebensbereichen wie gesundheitlicher Vorsorge oder medizinischer Versorgung, regelmäßiger Erwerbstätigkeit, Erwerb von Waren oder Dienstleistungen, Bildung und gesellschaftlicher oder kultureller Teilhabe. „Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus“ (Jes 58,7). Menschen aus ihrer Wohnungsnot zu helfen, ist von Anfang an ein substantieller Inhalt christlicher Nächstenliebe. Die Geschichte der Wohnungslosenhilfe ist immer auch die Geschichte der Armut. Arme gibt es, seitdem Menschen über materielle Güter verfügen und diese untereinander ungleich verteilen. Viele Einrichtungen der verbandlichen Caritas und Diakonie nahmen ihren Anfang in dem Bestreben, wandernden Handwerksgesellen eine Heimat zu bieten. Somit sind die Hilfen für wohnungslose Menschen bereits seit mehr als eineinhalb Jahrhunderten ein Schwerpunkt institutioneller caritativer sowie diakonischer Arbeit. „1848/49 gab es im Gebiet des späteren Deutschen Reiches eine Million Wanderarbeiter ohne festen Wohnsitz“ (Lutz/Sartorius/Simon 2017, S. 21). Einen frühen Meilenstein markierte der katholische Priester Adolph Kolping (1813–1865), als er 1847 Präses des katholischen Gesellenvereins in Elberfeld wurde. Dieser war ein Jahr zuvor von dem Lehrer Johann Gregor Breuer (1821–1897) gegründet worden. Mit weiteren Einrichtungen für wandernde Handwerksgesellen legte er das Fundament der späteren Kolpinghäuser und des Kolpingwerkes, welches bis heute Bestand hat. Bis zu Kolpings Tod war die Anzahl dieser Gesellenvereine auf 418 mit 24.000 Mitgliedern angewachsen.
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Zeitgleich entstanden auf Initiative des evangelischen Theologen Johann Hinrich Wichern (1808–1881) die Herbergen zur Heimat. Auch sie hatten zum Ziel, wandernden Gesellen eine günstige Unterkunft zu bieten und sie von negativen äußeren Einflüssen fern zu halten. Die Gründung der ersten Herberge zur Heimat 1854 in Bonn geht auf den Ordinarius Clemens Theodor Perthes (1809–1867) zurück. Bis Anfang des 20. Jahrhunderts stieg die Zahl der Herbergen zur Heimat in Deutschland auf 462. Schon im 19. Jahrhundert standen evangelische Herbergsvereine und katholische Gesellenvereine miteinander in Kontakt. Eine andere frühe Einrichtungsform waren die Arbeiterkolonien. Die erste dieser Art in Deutschland wurde 1882 von Friedrich von Bodelschwingh dem Älteren (1831–1910) in Wilhelmsdorf gründet. Nach ihrem Vorbild entstanden im Deutschen Reich noch 32 weitere. Im Zuge der Wanderbewegung des Handwerks eröffneten diverse stationäre Einrichtungen für durchreisende Wandergesellen. Diese Männer waren darauf angewiesen, sich dort eine Unterkunft zu suchen, wo sie Arbeit fanden. Durch die Gesetzgebung wurde dieses noch verschärft. Das Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich von 1871 sah gem. § 361 Haft vor für Landstreicher, Bettler, Arbeitsscheue sowie für denjenigen, der „nach Verlust seines bisherigen Unterkommens binnen der ihm von der zuständigen Behörde bestimmten Frist sich kein anderweitiges Unterkommen verschafft hat und auch nicht nachweisen kann, daß er solches der von ihm angewandten Bemühungen ungeachtet nicht vermocht habe.“
Mit den Arbeitsämtern, die nach dem Ersten Weltkrieg sukzessive entstanden, sowie dem 1927 eingeführten Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung nahm die Zahl der Wanderarbeiter in den 1920er Jahren beständig ab. Dieses änderte sich mit der Weltwirtschaftskrise 1929, in deren Folge sie wieder deutlich anstieg. In den 1930er Jahren wurde der ursprüngliche Gedanke der Arbeiterkolonien unter nationalsozialistischem Geist gänzlich pervertiert. Die Räume, die armen und wohnungslosen Menschen eine Heimat sein sollten, wurden systematisch genutzt, um laut nationalsozialistischer Diktion „Asoziale“ zu separieren. Die „Nichtsesshaften“ sollten sesshaft gemacht werden. Mit der Einführung des Reichsarbeitsdienstes nahmen ab 1935 die Aufnahmen ab. Schließlich wurde unter der nationalsozialistischen Diktatur nicht mehr das gesamtgesellschaftliche Problem der Obdach- oder Wohnungslosigkeit bekämpft, sondern wohnungslose Menschen wurden als asozial stigmatisiert, verfolgt und zwangssterilisiert; viele wurden in Konzentrationslager deportiert und dort ermordet. Nach Kriegsende und Gründung der Bundesrepublik Deutschland auf dem Fundament des Grundgesetzes vergingen noch Jahrzehnte, bis ein Paradigmen-
Obdach- und Wohnungslosenhilfe
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wechsel in den Hilfen für wohnungslose Menschen zum Tragen kam. Noch bis in die achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts waren Hilfen für wohnungslose Menschen maßgeblich stationäre Hilfen. Mit den veränderten Mobilitätsbedürfnissen der wohnungslosen Menschen änderte sich sukzessive auch das Hilfesystem. Es gab nun weniger reisende und mehr ortsgebundene wohnungslose Menschen. Zusätzlich wurden nun auch ambulante Hilfeformen angeboten, und es wurde zunehmend individuell-ressourcenorientiert auf die bedürftigen Menschen eingegangen. Spätestens seit den neunziger Jahren erhielt der Grundsatz „ambulant vor stationär“ auch in den Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe Einzug. 2
Hilfen für Obdach- und Wohnungslose heute
Die Begriffe Obdachlosigkeit und Wohnungslosigkeit werden häufig synonym gebraucht. Generell sind alle Menschen ohne eigene Wohnung wohnungslos. Viele kommen jedoch übergangsweise bei Bekannten, Freunden oder Angehörigen unter oder gehen Zweckgemeinschaften ein. Letzteres gilt insbesondere für Frauen, die in Wohnungsnot geraten. Wenn keine Möglichkeit eines Unterkommens besteht oder dieses nicht gewünscht ist, bleibt oftmals nur noch die Obdachlosigkeit auf der Straße. In jedem Fall befinden sich die betroffenen Menschen in akuter Wohnungsnot, sodass zusätzlich im Diskurs die Begriffe Wohnungsnotfälle sowie Wohnungsnotfallhilfe gebräuchlich sind. 2.1 An wen richten sich die Hilfen? Die Hilfen für Obdach- und Wohnungslose richten sich an alle Menschen in Wohnungsnot. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) schätzte die Anzahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland im Jahre 2006 auf 242.000. Dieses bedeutete einen Rückgang um 74 % seit 1996, als die Schätzungen noch bei 930.000 lagen. Nach einem Tiefstand im Jahr 2008 von geschätzt 227.000 wohnungslosen Menschen stieg die Anzahl bis 2016 um 86 % auf 422.000 und hatte sich somit fast verdoppelt. Hinzu kamen 2016 noch geschätzt 436.000 wohnungslose anerkannte Geflüchtete. Die BAG W führte 2017 ein revidiertes und genaueres Schätzmodell ein. Insofern sind die seit 2017 niedrigeren Zahlen zunächst kein Beleg für sinkende Zahlen der von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen, sondern Ergebnis des verbesserten Schätzmodells. Die Gesamtzahl der wohnungslosen Menschen in Deutschland wurde von der BAG W 2017 auf 649.000 geschätzt. Davon sollten 374.000 Menschen wohnungslose anerkannte Geflüchtete sein. Die verbliebenen 275.000 von Wohnungsnot betroffenen Menschen setzten sich aus 185.000 Männern (67 %), 68.000 Frauen (25 %) sowie 22.000 Kindern (8 %) zusammen.
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Vermehrt wandten sich auch Haushalte mit minderjährigen Kindern an Hilfseinrichtungen. Alleinerziehende Frauen trugen hieran einen Anteil von 46 %, von denen wiederum ein Zehntel gänzlich obdachlos auf der Straße lebte. Insgesamt waren knapp 27 % der Hilfesuchenden weiblich, womit sich der Frauenanteil seit der Jahrtausendwende nahezu verdoppelt hat. Tendenziell wurden von Wohnungsnot betroffene Menschen jünger. Während der größte Teil der Hilfesuchenden 2010 noch zwischen 40–49 Jahre alt war, so war dieser zuletzt in seinen Dreißigern. Außerdem ist festzustellen, dass das Alter hilfesuchender Frauen noch geringer ausfiel als im Gesamtdurchschnitt. Neben den gesamtgesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die den Wohnungsmarkt beeinflussen, sind es oftmals auch individuelle Gründe wie Arbeitsplatzverlust, Haftentlassung, Konflikte im Elternhaus oder in einer Einrichtung der Jugendhilfe, psychische Erkrankung, Suchterkrankung, Trennung und nicht zuletzt Überschuldung, aus denen Menschen in Wohnungsnot geraten. 2.2
Wie sind die Hilfen organisiert?
Seit dem 1. Januar 2005 ist die Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten als achtes Kapitel des SGB XII § 67–§ 69 verankert. Von besonderer Relevanz für die Einrichtungen in den unterschiedlichen Bundesländern sind die länderspezifischen Durchführungsverordnungen, Ausführungsbestimmungen und die diversen Leistungstypen. Auch die Verteilung von Zuständigkeiten zwischen Ländern und Kommunen ist föderal geregelt. Überall gilt jedoch, dass die Obdach- und Wohnungslosenhilfe als Schnittstelle und Vermittlerin zu vielen anderen Hilfefeldern fungiert. Hierzu zählen neben den Angeboten der Allgemeinen Sozialberatung und Schuldnerberatung auch die Eingliederungshilfe, die Hilfen für psychisch erkrankte Menschen, die Hilfen für suchtkranke Menschen, die Jugendhilfe und die Straffälligenhilfe. Die Corona-Pandemie stellte die Organisation der Hilfen für wohnungslose Menschen vor besondere Herausforderungen. In Folge dessen wurde allgemein anerkannt, dass eine solche Krisensituation die Ungleichheit innerhalb einer Gesellschaft verstärkt. Für diejenigen, die bereits vor der Krise an extremer Armut und existentieller Not litten, gab es keine Spielräume mehr. Die einfachsten Maßnahmen waren für obdachlose Menschen nicht umsetzbar. Hygiene stellt auf der Straße ohnehin eine besondere Herausforderung in der Alltagsbewältigung dar. Der Erwerb von Schutzmasken war aus monetären Gründen kaum einem obdachlosen Menschen möglich und auch nicht zumutbar. Die unlösbare Situation, zuhause bleiben zu sollen, obwohl kein Zuhause existiert, war für viele Obdachlose auch psychisch zusätzlich belastend. Zudem kamen viele Einrichtungen schnell an ihre Grenzen: Insbesondere Auflagen, die das Wahren von Abständen und besondere Hygienemaßnahmen betrafen, stellten in der Wohnungslosenhilfe außerordentliche Herausforderungen dar.
Obdach- und Wohnungslosenhilfe
2.3
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Wer beteiligt sich an den Hilfen?
Die historisch etablierten Akteure im Arbeitsfeld der Obdach- und Wohnungslosenhilfe sind von jeher maßgeblich Einrichtungen der Diakonie sowie der Caritas. Sie bieten mittlerweile gemeinsam bundesweit-flächendeckend hunderte von Angeboten an, die bereits zum Großteil über die jeweiligen Hilfeportale der Verbände online zu finden sind. Die vielen Mitarbeiter:innen in den verschiedenen Einrichtungen tragen täglich dazu bei, das individuelle Leid der von Wohnungsnot betroffenen Menschen zu lindern. Sie bieten einer Vielzahl von Menschen in existentieller Sorge und Verzweiflung verlässliche Hilfe und machen Mut zu neuen Lebensperspektiven. Daneben engagieren sich zunehmend auch andere Wohlfahrtsverbände in diesem Arbeitsfeld. „Im klassischen Handlungsfeld der Hilfen in Wohnungsnotfällen ist die Fachberatungsstelle die Schlüsselorganisation. […] Ca. 76 % der Klientel sind bei Fachberatungsstellen anhängig“ (BAG W 2017, S. 46 f.). Als ganzjährige Angebote bestehen neben diesen Fachberatungsstellen zur Wohnungssicherung noch Tagesaufenthalte mit Möglichkeiten für die elementarsten Verrichtungen (Hygiene, Nahrung, Textilreinigung sowie -ausgabe), ambulante und stationäre Einrichtungen der Wohnungsnotfallhilfe, aufsuchende Hilfen, Beschäftigungsangebote, Betreutes Wohnen und Straßensozialarbeit. Ferner ergänzen diese Angebote diverse innovative Projektmaßnahmen und spezielle saisonale Angebote wie Erfrierungsschutz (Busse und Notunterkünfte). Nicht zuletzt sind die aktuell oder ehemals von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen Expert:innen für sich selbst und ihre eigene Situation. Möglichkeiten zur Teilhabe an der Gesellschaft und zur Partizipation innerhalb des Hilfesystems helfen allen Beteiligten und sind sinnvoll. Ein Beispiel ist das Projekt Wohnungslosentreffen, welches seit 2016 jährlich stattfindet (2016–2018 in Freistatt, 2019 in Herzogsägmühle, 2020 digital). Hieraus ging 2019 der Verein „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen“ hervor. Dieser beteiligt sich aktiv mit Workshops an Wohnungslosentreffen und Fachtagungen und trägt so mit seinen Mitgliedern dazu bei, der Perspektive von wohnungslosen oder ehemals wohnungslosen Menschen Reichweite zu verleihen und diese in relevante Entwicklungsprozesse einfließen zu lassen. Die etablierten Einrichtungen der Freien Wohlfahrt sind traditionell sehr stark in der Gewinnung und Beteiligung von Ehrenamtlichen. Insbesondere die kirchlichen Verbände vertrauen hier erfahrungsgemäß auf einen breiten Rückhalt in der Gesellschaft. Auch in vielen parochialen Gemeinden ist die Bereitschaft, sich für obdachlose Menschen einzusetzen, insbesondere in der kalten Jahreszeit, sehr hoch. Immer wieder zeigen darüber hinaus private Initiativen, welche enorme Hilfsbereitschaft unsere Zivilgesellschaft aufzubringen vermag. Beispiele hierfür sind Arzt- und Dentalmobile zur medizinischen Versorgung, Duschbusse als Hygiene- und Kurzzeiterholungsangebot, Entwicklung von Shelter-Suits sowie Minihütten zum Nässe- und Kälteschutz, aufladbare
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Mini-Heizungen für Wohnungslose, Suppenküchen sowie Gabenzäune und dergleichen als Notversorgung und als Gelegenheit, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Die meisten dieser Engagements verbreiten sich viral über Social Media und erreichen so schnell einen hohen Grad an Vernetzung und Koordination. Für alle Akteure besteht hier eine Chance in der Kooperation. Idealerweise profitieren so bestehende Einrichtungen von zusätzlichen Innovationen, während engagierte Bürgerinnen und Bürger teilhaben können an der über einhundertjährigen Erfahrung sowie der Professionalität und Fachkompetenz der Mitarbeiter:innen der verbandlich organisierten Einrichtungen. Abzuwägen sind hierbei häufig die sehr schnelle Bereitstellung unbürokratischer und oftmals sehr willkommener Hilfen gegen die Gefahr einer Etablierung von Substandards. Das gemeinsame Ziel sollte hierbei sein, den Menschen, die eine bestimmte Hilfe in Anspruch nehmen möchten, diese bestmöglich und – wenn erforderlich – zuverlässig auf Dauer zukommen zu lassen. 3 3.1
Für eine Zukunft ohne Wohnungslosigkeit Prävention forcieren
Die Verbände von Caritas und Diakonie sind sich einig: In Wohnungsnot geratenen Menschen kann am effizientesten geholfen werden, solange diese noch eine eigene Wohnung haben. Hierzu bieten viele Einrichtungen von Caritas und Diakonie in Deutschland ein flächendeckendes Netzwerk von Beratungsstellen an, die dabei helfen können, einen drohenden Wohnungsverlust abzuwenden. 3.2
Bezahlbaren Wohnraum schaffen
In ihrer Positionsschrift „Gewährleistung von Wohnraum als Teil eines menschenwürdigen Existenzminimums“ forderte die Diakonie Deutschland die Bundesländer schon 2014 ausdrücklich dazu auf, die Förderung von bezahlbarem Wohnraum zum Kernanliegen ihrer Wohnungspolitik zu machen. Als ein zentraler wohnungspolitischer Handlungsbedarf wird insbesondere die nachhaltige Erhaltung des kommunalen Wohnungsbestandes unter Ausweitung der Sozialbindung benannt. Darüber hinaus wird gefordert, den sozialen Wohnungsbau sowie die Sozialbindung dieser Wohneinheiten deutlich zu erweitern, statt zurückzufahren, wie es in den letzten Jahren von vielen Kommunen getan wurde. Des Weiteren werden Kooperationsverträge mit der privaten Wohnungswirtschaft gefordert. Diese sollen es auch besonders benachteiligten Personengruppen ermöglichen, dauerhaft Zugang zu adäquatem Wohnraum zu erhalten. Der Deutsche Caritasverband nimmt mit seiner Kampagne 2018 „Jeder Mensch braucht ein Zuhause“ neben den staatlichen Akteuren auf allen Ebenen (Kommunen, Länder, Bund) auch die Kirche und sich selbst in die Verantwortung. Damit unterstreicht er die herausragende sozialpolitische Bedeutung einer Priorisierung der Schaffung und Erhaltung von bezahlbarem Wohnraum.
Obdach- und Wohnungslosenhilfe
3.3
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Bundeseinheitliche Datengrundlage einführen
Die Bundesregierung hat im September 2019 die Einführung einer Statistik zur bundeseinheitlichen Erfassung von Wohnungsnotfällen beschlossen. Caritas und Diakonie setzten sich viele Jahre gemeinsam mit weiteren Akteuren der Freien Wohlfahrtspflege für eine einheitliche und vergleichbare Datenerfassung auf kommunaler, Landes- und Bundesebene ein. So wies der Deutsche Caritasverband im Rahmen seiner Kampagne 2018 „Jeder Mensch braucht ein Zuhause“ ausdrücklich auf die bisher unzureichende Datenlage hin. Er forderte eine konsistente Datenerhebung auf allen Ebenen. Die Anzahl der Wohnungslosen wurde bisher in den verschiedenen Bundesländern sehr unterschiedlich erhoben und auf Bundesebene lediglich geschätzt. Eine flächendeckende Vereinheitlichung der Datenerhebung soll es ermöglichen, die Wohnungslosigkeit in Deutschland signifikant wirklichkeitsnaher erfassen und erheblich präziser abbilden zu können. Neben anderen Experten begleitet auch die Zentrale Beratungsstelle (ZBS) Niedersachsen dieses Vorhaben. Die ZBS ist eine Kooperation von Caritas und Diakonie auf Landesebene, die jährlich über die Landesstatistik sowie Schwerpunktthemen der Hilfen für wohnungslose Menschen berichtet. Die bundeseinheitlichen Erhebungen sollen ab Januar 2022 stattfinden und dazu beitragen, die langfristigen Maßnahmen gegen Wohnungslosigkeit und die Hilfen für die von Wohnungslosigkeit betroffenen Menschen wirksamer und passender zu gestalten. Darüber hinaus lassen sich somit auch präventive Maßnahmen zur Vermeidung von Wohnungslosigkeit noch gezielter platzieren. 3.4
Wohnungslosigkeit in Europa bis 2030 abschaffen
In seinem Eröffnungsvortrag anlässlich der Konferenz der Fédération Européenne des Associations Nationales Travaillant avec les Sans-Abri (FEANTSA) im Juni 2018 in Berlin nahm Eoin OʼSullivan, Professor für Sozialpolitik am Trinity College Dublin und Mitglied des European Observatory on Homelessness, Bezug auf die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung. Diese wurde zur 70. Generalversammlung der Vereinten Nationen im September 2015 verabschiedet. Sie stellt eine Selbstverpflichtung zur Beseitigung der Armut dar. Darüber hinaus sind siebzehn Ziele für eine weltweite Entwicklung bis in das Jahr 2030 formuliert. Zum elften Ziel gehört, allen Menschen den Zugang zu angemessenem, sicherem und bezahlbarem Wohnraum zu gewährleisten. Als wichtigstes Element zur Beendigung der Wohnungslosigkeit wird die Bereitstellung von Wohnraum genannt. Doch allein durch ausreichend Wohnraum ist nicht allen Formen der Wohnungslosigkeit beizukommen. OʼSullivan weist darauf hin, dass mit evidenzbasierten Strategien und entsprechend implementierten Praktiken die Wohnungslosigkeit 2030 in Europa anders aussehen könnte als heute. Um Alleingängen und Spaltungen der Mitgliedsstaaten vorzubeugen, empfiehlt er ferner gemeinsame Peer-Reviews zu Strategien und Prakti-
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ken auf europäischer Ebene. Darüber hinaus ist das Statistische Amt der Europäischen Union (Eurostat) ein relevantes Erkenntnisinstrument zur Erhebung möglichst detaillierter Problemlagen und der damit verbundenen Bedarfe. Im Herbst 2020 verabschiedete das Europäische Parlament ein Maßnahmenpaket zur Beendigung von Obdachlosigkeit und Ausgrenzung auf den Wohnungsmärkten der Europäischen Union (EU). Damit trug es dem erheblichen Anstieg von Obdachlosigkeit in Europa Rechnung, denn im vorangegangenen Jahrzehnt war die Zahl obdachloser Menschen in der gesamten EU auf 700.000 gestiegen. Dieses bedeutet für den genannten Zeitraum einen Zuwachs von 70 %. Ausgehend von der Überzeugung, dass Wohnen ein grundlegendes Menschenrecht ist, möchte die EU-Kommission alle Mitgliedstaaten dazu anhalten, den Grundsatz „Housing First“ auch in ihren nationalen Strategien zur Bekämpfung von Obdachlosigkeit zu verankern. Als weitere wesentliche Punkte benennt das Europäische Parlament Maßnahmen zur Prävention von Wohnungsverlusten, Wissenstransfer zwischen den Mitgliedsstaaten, Entkriminalisierung wohnungsloser Menschen, Teilhabe an Sozialleistungen, Gesundheitsversorgung sowie Bildung, Vergleichbarkeit erhobener Daten und Statistiken, Krisenfestigkeit, langfristige Strategien, Bereitstellung von Notunterkünften als kurzzeitiger Schutzraum und nicht zuletzt Förderung von Maßnahmen zur aktiven Eingliederung wohnungsloser Menschen. Die Einrichtungen und Verbände von Caritas und Diakonie tragen dazu bei, das durch Armut entstandene Leid zu lindern. Mit zukunftsweisender Rahmensetzung der Politik und inklusiven Projekten der Wohnungswirtschaft könnte es tatsächlich gelingen, zumindest die extremste Form der Armut – die Obdachlosigkeit – in Europa in den nächsten Jahren abzuschaffen. Literatur Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) e.V. (2017): Handbuch der Hilfen in Wohnungsnotfällen. Entwicklung lokaler Hilfesysteme und lebenslagenbezogener Hilfeansätze (Neuauflage). Berlin/Düsseldorf. Deutscher Caritasverband (2017): Sozialpolitische Positionen. Kampagne 2018. Jeder Mensch braucht ein Zuhause. Freiburg i.Br. Diakonie Deutschland (2014): Diakonie Texte. Positions- und Fachpapier. Gewährleistung von Wohnraum als Teil eines menschenwürdigen Existenzminimums. Berlin. Lutz, R./Sartorius, W./Simon, T. (2017): Lehrbuch der Wohnungslosenhilfe. Eine Einführung in Praxis, Positionen und Perspektiven (3. Aufl.). Weinheim. OʼSullivan, E. (2018): Wohnungslosigkeit bis 2030 beenden. wohnungslos, 60 (3), 81–84.
Diakonie in internationaler Verantwortung
56 Caritas und Diakonie in Europa Anne Wagenführ-Leroyer und Katharina Wegner
Als kirchliche Verbände setzen sich der Deutsche Caritasverband und die Diakonie Deutschland für soziale Gerechtigkeit ein. Da sich die Europäische Union auch als Wertegemeinschaft versteht, kann und sollte sie aus Sicht von Caritas und Diakonie einen stärkeren Beitrag zur sozialen Gerechtigkeit leisten. Die EU-Vertretungen des Deutschen Caritasverbands und der Diakonie Deutschland versuchen ihrerseits seit rund 30 Jahren, konstruktiv zu einer sozialeren Europäischen Union beizutragen. Als Brücke zwischen den EU-Institutionen, den (Spitzen-) Verbänden und deren Untergliederungen sowie der praktischen Sozialarbeit vor Ort haben sie eine spannende, aber auch anspruchsvolle Aufgabe. Wie genau sieht die Interessenvertretung von Caritas und Diakonie in Europa aus? Was sind Herausforderungen dieser Interessenvertretung und welche Strategien verfolgen der Deutsche Caritasverband und die Diakonie Deutschland, um diese zu meistern? Auf diese Fragen möchte der folgende Artikel Antworten geben. 1
Die Interessenvertretungen von Caritas und Diakonie in Brüssel
In ihrer Arbeit verstehen sich Caritas und Diakonie als Dienstleister, Anwalt und Partner von Benachteiligten sowie als Solidaritätsstifter. Schon seit rund dreißig Jahren war und ist es das Ziel des Deutschen Caritasverbands (DCV) und der Diakonie Deutschland (DD), durch eine ständige Präsenz in Brüssel diese Arbeit auch gegenüber der Europäischen Union (EU) besser vertreten zu können (DCV 2021; Diakonie 2021). Die Entscheidungen der EU werden für das gerechte und solidarische Miteinander der Menschen in Deutschland und Europa immer wichtiger. Auch im Bereich der sozialen Dienstleistungen setzt Brüssel neue Maßstäbe. Nicht zuletzt bieten die Förderprogramme der EU interessante Möglichkeiten. Der DCV hat, neben seiner Zentrale in Freiburg, ein weiteres Büro in Berlin und – dem Berliner Büro funktional zugeordnet – bereits seit 1990 eine
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Hauptvertretung in Brüssel. Diese besteht derzeit aus fünf Personen, von denen drei inhaltlich an den verschiedenen für die Caritas relevanten EU-Themen arbeiten. Die Diakonie Deutschland ist Teil des Evangelischen Werkes für Diakonie und Entwicklung, das seinen Sitz in Berlin hat. Dort ist eine Referentin für die Europaarbeit zuständig. In Brüssel gibt es seit 1992 ein Büro mit zwei Beschäftigten. Die Büros des Deutschen Caritasverbands und der Diakonie Deutschland in Brüssel – vertreten die europapolitischen Interessen ihrer Verbände und setzen sich für die Belange von benachteiligten Menschen sowie von Diensten und Einrichtungen ein; – bringen die Positionen in die Institutionen der Europäischen Union und in unterschiedliche Netzwerke ein; – analysieren und kommentieren die europäische Sozialpolitik; – informieren ihre Verbände und deren Untergliederungen in Deutschland über aktuelle europäische Entwicklungen und die EU-Förderpolitik und unterstützen sie bei der Europäisierung der Facharbeit. Die Europa-Arbeit von Caritas und Diakonie findet auf nationaler und europäischer Ebene statt. Alle Arbeitsbereiche sollten die europäische Dimension miteinbeziehen, wenn sie Positionen erarbeiten. Die Mitarbeiter:innen der EUVertretungen von Caritas und Diakonie in Brüssel beraten, fördern und unterstützen diesen Prozess der Europäisierung (vgl. z.B. DCV 2014; DCV 2019; Diakonie 2019). Sie stehen dabei in regelmäßigem Austausch mit den Fachreferaten. Darüber hinaus besteht ein regelmäßiger Kontakt zu den EU-Referent:innen der Diözesan-Caritasverbände sowie zu den Landes- und Fachverbänden der Diakonie, um Fragen und Anliegen der regionalen und lokalen Ebene in die Europaarbeit einfließen zu lassen. Die EU-Vertretungen der deutschen Caritas und Diakonie veröffentlichen mit der Bank für Sozialwirtschaft jeweils einen verbandsinternen Newsletter mit sozial- und förderpolitischen Informationen. Die EU-Vertretung des DCV kann, insbesondere dank einer förderpolitischen Referentin, eine Orientierungsberatung sowie Seminare zur EU-Förderpolitik in Kooperation mit der Fortbildungs-Akademie des DCV anbieten. Die Diakonie Deutschland unterhält gemeinsam mit der EKD seit 2011 eine „Servicestelle EU-Förderpolitik und -projekte“ in der Dienststelle Brüssel (EKD 2021). Das Team von drei Mitarbeitenden unterstützt kirchliche und diakonische Untergliederungen und ihre Einrichtungen von der Konzipierung über die Beantragung bis hin zur Umsetzung von Projektideen mit europäischen Fördermitteln. Beide EU-Vertretungen empfangen und unterstützen außerdem Besuchergruppen, die sich in Brüssel zum Austausch oder zu Veranstaltungen treffen. Dies können Gruppen von Fachkolleg:innen von Caritas und Diakonie, Student:innengruppen oder andere Personengruppen sein. Wichtige politische Ansprechpartner der EU-Vertretungen von Caritas und Diakonie in Brüssel sind die
Caritas und Diakonie in Europa
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deutschen Europaabgeordneten mit ihren Büros und die EU-Kommission, die das alleinige Initiativrecht in der EU hat. Die Rechtsetzung in der EU erfolgt überwiegend im so genannten „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“, in dem das Europäische Parlament und der Rat der EU das gleiche Gewicht haben. Dem Rat der EU gehören die jeweiligen Fachminister der Mitgliedstaaten an. Daher pflegen die EU-Vertretungen von Caritas und Diakonie auch mit den Mitarbeitenden der deutschen Bundesministerien in der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der EU (StäV) einen intensiven Austausch – vor allem mit dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie mit dem Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Die Mitarbeitenden der StäV sind allerdings weisungsabhängig. Die Entscheidungen, die Deutschland im Rat der EU fällt, werden also in Berlin getroffen. Ein weiterer politischer Ansprechpartner in Brüssel ist der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA), der eine beratende Einrichtung ist und sich aus Vertreter:innen dreier Gruppen – „Arbeitnehmer“, „Arbeitgeber“ und „verschiedene Interessen“ – zusammensetzt. Der EWSA legt dem Rat der EU, der EU-Kommission und dem Europäischen Parlament Stellungnahmen vor und soll so eine Brücke zwischen den genannten Organen und den EU-Bürger:innen schaffen. Wichtige Arbeitsstrukturen für die Europaarbeit des Deutschen Caritasverbands und der Diakonie Deutschland sind die Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAGFW 2021) und der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge (Deutscher Verein 2021). Die BAGFW unterhält eine Geschäftsstelle in Berlin und ist seit 1989 mit einer Person in Brüssel präsent. Sie ist darüber hinaus seit 1994 Mitglied der oben genannten dritten Gruppe „Vertreter verschiedener Interessen“ im EWSA. Auf europäischer Ebene haben der Deutsche Caritasverband und die Diakonie Deutschland jeweils eigene Netzwerke: Caritas Europa hat 49 nationale Mitgliedsorganisationen in 46 europäischen Ländern (Caritas Europa 2021); Eurodiaconia ebenfalls 49 Mitgliedsorganisationen in 32 europäischen Ländern (Eurodiaconia 2021). Europäische Netzwerke von Erbringern sozialer Dienstleistungen wie Caritas Europa und Eurodiaconia haben sich wiederum in dem Netzwerk „Social Services Europe“ (Social Services Europe 2021) zusammengeschlossen. Ebenso sind Caritas Europa und Eurodiaconia Mitglieder in der „Social Platform“ (Social Platform 2021), einem Dachverband europäischer Nichtregierungsorganisationen im sozialen Sektor. Mitarbeitende der EUVertretungen des Deutschen Caritasverbands und der Diakonie Deutschland arbeiten zu bestimmten Themen in Arbeitsgruppen dieser Organisationen mit und tauschen Informationen aus. Zu den engen Partnern gehören selbstverständlich auch die jeweiligen Kirchen – die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD).
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Bei ihrer Interessenvertretung treten Caritas und Diakonie für die sozialen Grundrechte ein, wie sie vor allem in der Europäischen Grundrechtecharta niedergelegt sind. Sie vertreten die Belange ausgegrenzter und von Armut betroffener Menschen und machen sich stark für Maßnahmen, die benachteiligten Menschen Perspektiven und Schutz bieten. So begleiten die EU-Vertretungen beispielsweise die Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte (EU 2017; BAGFW 2020). Diese umfasst zwanzig Grundsätze, die als politische Leitlinien zu einer sozialen Aufwärtskonvergenz in der EU beitragen sollen und nach und nach in legislativen und nicht-legislativen Maßnahmen auf EUsowie nationaler Ebene umgesetzt werden. Große Relevanz für Caritas und Diakonie als Dienstleistungserbringer haben daneben die wettbewerbsorientierten Regelungen des europäischen Binnenmarktes und hier insbesondere das EU-Vergabe- und Beihilfenrecht. Weitere Themen sind Migration und Asyl, Digitalisierung, die sozial-ökologische Transformation, Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, Gesundheits-, Familien-, Anti-Diskriminierungs- sowie Bildungs- und Jugendpolitik. 2
Herausforderungen
Was sind nun die Herausforderungen für den Deutschen Caritasverband und die Diakonie Deutschland bei ihrer Interessenvertretung gegenüber den EUInstitutionen? Hier lassen sich insbesondere vier große Herausforderungen identifizieren: – die begrenzte Zuständigkeit der EU für die Rechtsetzung im Bereich der Sozialpolitik, – die Einflussmöglichkeiten der Organisationen der Zivilgesellschaft, – die Formulierung gemeinsamer Anliegen über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus und – das Interesse an Europapolitik und die Verbindung zur Basis. 2.1
Sozialpolitik und Subsidiarität in der EU
In den EU-Verträgen finden sich zahlreiche Aussagen zur Sozialpolitik. Artikel 3 des EU-Vertrages nennt als Ziel die Soziale Marktwirtschaft, in ihrer Grundrechtecharta garantiert die EU auch soziale Rechte und in der 2017 proklamierten Europäischen Säule sozialer Rechte (EU 2017) hat die EU sich selbst ein Mandat gegeben, mehr zur Umsetzung sozialer Rechte in den Mitgliedstaaten zu tun. Es besteht jedoch bei sozialpolitischen Vorhaben überwiegend eine geteilte Zuständigkeit zwischen den EU-Institutionen und den Mitgliedstaaten. Große Bedeutung hat der in Artikel 5 des EU-Vertrages niedergelegte Grundsatz der Subsidiarität, demzufolge die EU nur dann tätig wird, wenn eine Materie in den Mitgliedstaaten nicht ausreichend geregelt werden kann.
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Trotz der begrenzten Zuständigkeit der EU für Sozialpolitik haben die Regelungen des EU-Binnenmarktes – eine Kernkompetenz der EU – oft erhebliche Folgen für die Sozialschutzsysteme der einzelnen Mitgliedstaaten. Darüber hinaus haben wirtschaftliche Maßnahmen, die in der EU beschlossen werden, etwa Beschlüsse zur Sanierung der nationalen Haushalte, zum Teil schwerwiegende soziale Folgen. Entsprechend müssen Caritas und Diakonie weiter dafür werben, dass sozialpolitische Anliegen auf EU-Ebene nicht nur gehört, sondern auch angegangen werden. Dabei fordern der Deutsche Caritasverband und die Diakonie Deutschland keine EU-weiten Einheitslösungen, schon deshalb, weil die Sozialschutzsysteme in den einzelnen Mitgliedstaaten kulturell bedingt sehr unterschiedlich sind. So gibt es beispielsweise die starke Stellung der in kirchlichen Wohlfahrtsverbänden zusammengeschlossenen Erbringer sozialer Dienstleistungen nur in Deutschland und Österreich. Trotz der rechtlichen, kulturellen und geschichtlichen Besonderheiten der Sozialsysteme in den EU-Mitgliedstaaten sollte aus Sicht von Caritas und Diakonie ein sinnvoller Ausgleich zwischen der Systemvielfalt und den notwendigen gemeinsamen Grundsätzen für soziale Grundsicherungssysteme angestrebt werden. Langfristig sollte die EU die Konvergenz bei der Fortentwicklung von Sozialsystemen weiter fördern (Diakonie 2017; DCV 2018). 2.2 Die Einflussmöglichkeiten der Organisationen der Zivilgesellschaft Trotz zahlreicher Änderungen der EU-Verträge sind nach wie vor die Mitgliedstaaten die entscheidenden Akteure in der EU. Zwar verpflichten Artikel 11 des EU-Vertrages und Artikel 17 des Vertrages über die Arbeitsweise der EU die EU-Institutionen zu einem „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“ mit den Organisationen der Zivilgesellschaft bzw. den Kirchen; in der Praxis ist es insbesondere nationalen Vertreter:innen der Zivilgesellschaft jedoch kaum möglich, ohne die Unterstützung der eigenen Regierung ihren Anliegen in Brüssel zum Durchbruch zu verhelfen. Dies gilt umso mehr für Nichtregierungsorganisationen aus anderen Mitgliedstaaten, in denen die Zivilgesellschaft weit weniger gut organisiert ist als in Deutschland. Dort bleiben dann häufig nur noch die Sozialpartner, die – gemäß den EU-Verträgen – weit mehr Einflussmöglichkeiten haben als Vertreter:innen der Zivilgesellschaft. Ihre europäischen Zusammenschlüsse können im Bereich der Sozialpolitik in der EU sogar eigene Rechtsetzung in Gang setzen (vgl. Art. 155 AEUV). 2.3
Gemeinsame Anliegen über die Grenzen der Mitgliedstaaten hinaus
Wegen der unterschiedlichen Strukturen in den Mitgliedstaaten ist es häufig schwierig, EU-weit gültige gemeinsame Lösungsvorschläge, beispielsweise für die Armutsbekämpfung, zu machen. Dies stellt regelmäßig auch eine besondere Herausforderung für die Arbeit des Deutschen Caritasverbands und der Diakonie Deutschland in ihren europäischen Netzwerken dar. Es lassen
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sich jedoch durchaus gemeinsame Herausforderungen beschreiben. Dazu gehören zum Beispiel die sozial-ökologische Transformation, der demographische Wandel, die Vergrößerung der Schere zwischen Arm und Reich in vielen Mitgliedstaaten, die Bewältigung der Herausforderungen der Migration oder die Folgen der Digitalisierung. Ein möglicher Ansatz trotz der unterschiedlichen Strukturen könnte die Verabredung gewisser EU-weiter sozialer Mindeststandards sein. 2.4
Interesse an Europapolitik und Verbindung zur Basis
Die Interessen der Organisationen der deutschen Freien Wohlfahrtspflege gegenüber der EU sind überwiegend sehr ähnlich gelagert. Die Schwierigkeit ist also weniger, unterschiedliche Interessen und Sichtweisen der Wohlfahrtsverbände auf einen Nenner zu bringen, sondern überhaupt erst einmal Interesse und Aufmerksamkeit in den eigenen Häusern für bestimmte europapolitische Themen zu erregen. Das liegt neben der räumlichen Entfernung zu Brüssel auch an der fehlenden Vergleichbarkeit der nationalen und europäischen Strukturen sowie an den oben beschriebenen begrenzten Kompetenzen der EU in der Sozialpolitik. Den Interessen von Caritas und Diakonie ist daher nur wirksam gedient, wenn die Vertretungen in Brüssel ihre Brückenfunktion wahrnehmen. Sie müssen die deutsche Politik verfolgen und sollten die Notwendigkeiten aus der praktischen Sozialarbeit vor Ort kennen. Keinesfalls sollten sie nur in der „Brüsseler Blase“ agieren. Gerade die Anbindung der politischen Interessenvertretung an die konkrete soziale Arbeit vor Ort stellt jedoch für die EU-Vertretungen wie auch für Zentralen der Spitzenverbände regelmäßig eine Herausforderung dar. 3
Strategien
Welche Strategien verfolgen der Deutsche Caritasverband und die Diakonie Deutschland, um die oben genannten Herausforderungen zu meistern und eine möglichst gute Interessenvertretung gegenüber der EU zu gewährleisten? 3.1
„Never walk alone“
Die Einbettung der EU-Vertretungen in die jeweilige Organisationsstruktur und die demgemäß sehr enge Zusammenarbeit mit den Fachleuten in den eigenen Häusern in Berlin und Freiburg wurde bereits erwähnt. Die wichtigste Strategie in Brüssel ist aber, sich mit anderen Akteuren zusammen zu tun. Die Anzahl von Interessen und Interessenvertreter:innen in Brüssel ist groß. Mitarbeitende der EU-Institutionen bevorzugen daher verständlicherweise möglichst breit abgestimmte Positionen und Handlungsempfehlungen, da diese auch in den EU-Institutionen größere Chancen haben, mehrheitsfähig zu sein. Lokale oder nationale Partikularinteressen sind für eine gelingende europäische Zusammenarbeit, die oft auf Kompromissen basiert, nur bedingt relevant. Es geht
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um die Lösung gemeinsamer europäischer Probleme. Wer es also schafft, über nationale und verbandliche Grenzen hinweg konzertiert mit anderen Akteuren aufzutreten, ist klar im Vorteil. Dies gilt im Besonderen für die proportional gering gesäten Vertreter:innen sozialer Anliegen. So arbeiten nicht nur die EUVertretungen des Deutschen Caritasverbands und der Diakonie Deutschland eng zusammen. Themenabhängig erarbeiten sie auch mit einer Vielzahl anderer Partner (siehe oben) gemeinsame Positionen. 3.2
Enge Zusammenarbeit zwischen Brüssel und Berlin
Wie bereits beschrieben, müssen sich das Europäische Parlament und der Rat der EU im ordentlichen Rechtsetzungsverfahren einigen. Die Mitgliedstaaten bleiben hier die zentralen Akteure in der EU. Nicht nur werden die Entscheidungen des Rates in den Hauptstädten getroffen, sondern auch die deutschen Europaabgeordneten sind nicht unabhängig von ihren nationalen Parteien, der deutschen Politik oder Entscheidungen der Landes- bzw. Bundesregierung. Caritas und Diakonie müssen daher eng abgestimmt in Brüssel und Berlin tätig werden. In Brüssel sind die nationale Ebene und gegebenenfalls auch die Ebene der Bundesländer mitzudenken. Ebenso müssen die Kolleg:innen von Caritas und Diakonie je nach Zuständigkeit zu europapolitischen Themen auch in Berlin oder den Landeshauptstädten vorstellig werden. Diese Arbeit muss im Anschluss wieder eng mit der Arbeit der EU-Vertretungen verzahnt werden. 3.3
Verbindung zur sozialen Arbeit vor Ort in Deutschland nutzen
Die Mitarbeitenden der EU-Institutionen sind sehr an fachlicher Expertise und Beispielen der praktischen sozialen Arbeit vor Ort interessiert, die zeigen, wie sich EU-Rechtsetzung und Politik dort auswirken. Die Mitarbeitenden der relativ kleinen EU-Vertretungen von Caritas und Diakonie verfügen aufgrund der Themenvielfalt jedoch nicht immer über eine umfassende Expertise in allen Bereichen. Um ihre Brückenfunktion wahrnehmen zu können, ist es deshalb von zentraler Bedeutung, dass sich die EU-Vertretungen regelmäßig mit ihren lokalen, regionalen und nationalen Kolleg:innen in Arbeitsgruppen, bei Veranstaltungen, bei Studienreisen nach Brüssel und anderen Treffen austauschen. 3.4
Kontaktpflege im Vorfeld
Rechtsetzungsverfahren und politische Prozesse in Brüssel können sich lange hinziehen. Schon lange bevor ein Vorschlag vorgelegt wird, gibt es einen Prozess der Konsultationen und Sondierungen, in dem die EU-Kommission in Weiß- oder Grünbüchern mögliche Mehrheiten und Kompromisslinien zu identifizieren versucht. Das Europäische Parlament wiederum steckt ebenfalls meist schon vor einem Kommissionvorschlag seine Positionen ab, beispielsweise in Initiativberichten. So werden zum Teil bereits wichtige Vorentscheidungen getroffen. Daher beteiligen sich Caritas und Diakonie regelmäßig an europäischen Konsultationsverfahren und versuchen, schon frühzeitig ihre Po-
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sitionen zu vermitteln. Am Schluss des Verfahrens lässt sich nur noch wenig erreichen. 3.5
Innerhalb der EU-Logik argumentieren
Es reicht nicht aus, nur sozialpolitisch zu argumentieren. Als Wirtschaftsgemeinschaft gegründet, ist die EU bis heute vor allem wirtschaftlich geprägt. Ihr Kernstück ist der europäische Binnenmarkt. Die Wettbewerbsfähigkeit steht im Vordergrund. Dies mag man bedauern oder nicht, es ist jedoch zunächst erst einmal festzustellen, dass es bis zu einer konkreten und umfassend ausgestalteten Europäischen Säule sozialer Rechte noch ein weiter Weg ist. Es empfiehlt sich deshalb, neben sozialpolitischen und menschenrechtlichen Argumenten auch wirtschaftliche ins Feld zu führen, beispielsweise die positiven wirtschaftlichen Folgen gut funktionierender nationaler Sozialschutzsysteme herauszuarbeiten oder die volkswirtschaftliche Bedeutung der Unternehmen von Caritas und Diakonie darzustellen. 4
Erfolge von Caritas und Diakonie in Europa
In den vergangenen dreißig Jahren gab es verschiedene Erfolge der Interessenvertretung von Caritas und Diakonie in Europa, von denen hier drei beispielhaft erwähnt werden sollen: Bei der Neuregelung des EU-Vergaberechts im Jahr 2013 ist es der BAGFW unter Mitwirkung von Caritas und Diakonie gelungen, weiterhin sicherzustellen, dass Vergabeverfahren nach EU-Recht nicht durchgeführt werden müssen, wenn soziale Dienstleistungen in Deutschland im Rahmen des sogenannten sozialrechtlichen Dreiecksverhältnisses erbracht werden. Im sozialrechtlichen Dreieck können alle Dienstleistungserbringer, die die im Gesetz vorgeschriebenen und daher für alle transparenten Bedingungen erfüllen, soziale Dienstleistungen anbieten. Der Kunde hat die Wahl, bei welchem sozialen Dienstleister er die Leistung in Anspruch nimmt. Hierbei argumentierten die deutschen Wohlfahrtsverbände im Sinne der Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs, indem sie deutlich machten, dass das sozialrechtliche Dreieck den fundamentalen EU-Grundsätzen der Nichtdiskriminierung und Transparenz entspricht, die Trägerpluralität das Wunsch- und Wahlrecht der Leistungsberechtigten respektiert und sogar der Wettbewerb zwischen den Anbietern sozialer Dienstleistungen, auch aus dem gewerblichen Bereich, gestärkt wird. Beispielhaft sei ebenfalls die 2014 verabschiedete sogenannte Basiskonto-Richtlinie 1 genannt, die in allen Mitgliedstaaten ein Recht auf ein Zahlungskonto Richtlinie 2014/92/EU vom 23. Juli 2014 über die Vergleichbarkeit von Zahlungskontoentgelten, den Wechsel von Zahlungskonten und den Zugang zu Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen. 1
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unabhängig von Einkommen und Schuldenstand garantieren soll – eine langjährige Forderung der Schuldnerberatungen von Caritas und Diakonie (vgl. DCV 2013). Die EU-Richtlinie übertraf am Ende sogar die Erwartungen, da auch der Zugang von Wohnungslosen und geduldeten Menschen zu einem Basiskonto aufgenommen wurde. 2016 wurde die EU-Richtlinie in deutsches Recht umgesetzt. Für den Europäischen Sozialfonds (ESF) wurde in der EU-Förderperiode 2014–2020 erstmals festgelegt, dass er zwanzig Prozent seiner Mittel für die soziale Eingliederung benachteiligter Menschen verausgaben muss. Als neue Initiative wurde der Europäische Hilfsfonds für die am meisten benachteiligten Personen (EHAP) eingeführt. In Deutschland profitieren Projekte für Wohnungslose und von Armut betroffene EU-Bürger:innen, die bis dahin ohne Unterstützung geblieben waren, vom EHAP. In der neuen EU-Förderperiode 2021–2027 wird der EHAP zusammen mit dem ESF im sogenannten „ESF+“ weitergeführt werden (vgl. BAGFW/DGB 2020). 5
Schlussbemerkung
Neben solchen Erfolgen, die niemals nur Caritas und Diakonie allein zugeschrieben werden können, bleiben natürlich Herausforderungen bestehen, an denen es sich lohnt weiter zu arbeiten. So werden der Deutsche Caritasverband und die Diakonie Deutschland auch weiterhin versuchen, den EU-Institutionen das deutsche Modell des grundsätzlichen Vorrangs von Organisationen der Zivilgesellschaft bei der Erbringung von Sozialleistungen und der wichtigen Rolle der gemeinnützigen Dienstleistungserbringer vorzustellen. Ebenso wird die weitere Umsetzung der Europäischen Säule sozialer Rechte, zu der die EU-Kommission am 4. März 2021 einen Aktionsplan (EU-Kommission 2021b) vorgelegt hat, eine wichtige Aufgabe bleiben. Die Wirtschafts- und Finanzkrise hat das soziale Auseinanderdriften der EUMitgliedstaaten verschärft, und die andauernde Covid-19-Pandemie lässt bestehende Probleme wie durch ein Brennglas deutlicher zutage treten. Laut einer im März 2021 veröffentlichten Eurobarometer-Umfrage (EU-Kommission 2021a) ist für 91 Prozent der Befragten in Deutschland ein soziales Europa wichtig, und auch europaweit teilen fast neun von zehn Europäern (88 Prozent) diese Ansicht. Es ist daher zu hoffen, dass die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in der EU zukünftig gleichrangig behandelt werden und wir im Jahr 2030 in einem sozialeren Europa leben.
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Literatur BAGFW (2020): BAGFW-Stellungnahme zur Konsultation der EU- Kommission zur Stärkung des sozialen Europas vom 30.11.2020. https://www. bagfw.de/fileadmin/user_upload/Veroeffentlichungen/Stellungnahmen/202 1/2020_11_30_ESSR_Konsultationsbeitrag_BAGFW.PDF (Zugriff am 04.04.2021). BAGFW (2021): Europa. https://www.bagfw.de/themen/europa (Zugriff am 01.04.2021). BAGFW/DGB (2020): Positionspapier der BAGFW und des DGB vom 29.06.2020 zu den überarbeiteten Vorschlägen der EU-Kommission zum MFR 2021–2027, dem Wiederaufbauinstrument und dem ESF+. https://www.bagfw.de/suche/detailansicht-news/empfehlungen-der-bagfwund-des-dgb-zu-den-ueberarbeiteten-vorschlaegen-der-eu-kommissionzum-mfr-2021-2027-dem-wiederaufbauinstrument-und-dem (Zugriff am 04.04.2021). DCV (2013): DCV-Stellungnahme vom 28.06.2013 zum Richtlinienvorschlag COM(2013) 266 über die Vergleichbarkeit von Zahlungskontogebühren, den Wechsel von Zahlungskonten und den Zugang zu Zahlungskonten mit grundlegenden Funktionen vom 08.05.2013. https://www.caritas.de/cms/ contents/caritasde/medien/dokumente/stellungnahmen/stellungnahmezurric h/stellungnahme_ueber_den_zugang_zu_zahlungskonten.pdf?d=a&f=pdf (Zugriff am 04.04.2021). DCV (2014): neue caritas spezial „Caritas – für ein soziales Europa“ zu den Europawahlen im Mai 2014. https://www.caritas.de/neue-caritas/spezial ausgaben/caritas--fuer-ein-soziales-europa (Zugriff am 04.04.2021). DCV (2018): DCV-Stellungnahme „Für einen sozialen EU-Haushalt und gute Rahmenbedingungen sozialer Grundsicherungssysteme in Europa“ vom 24.10.2018. https://www.caritas.de/cms/contents/caritas.de/medien/dokum ente/stellungnahmen/fuer-ein-gerechtes-u/nc01_2019_doku_gerechtes_u_ soziales europa_v3.pdf?d=a&f=pdf (Zugriff am 01.04.2021). DCV (2019): Mit Caritas für Europa. Sozialcourage Heft 01/2019. https://www.caritas.de/magazin/zeitschriften/sozialcourage/archiv/jahrgang -2019/heft-01-2019 (Zugriff am 04.04.2021). DCV (2021): Europa-Arbeit der Caritas. https://www.caritas.de/europa (Zugriff am 01.04.2021). Caritas Europa (2021): Who we are – The Network of Caritas Organisations on the European Continent. https://www.caritas.eu (Zugriff am 01.04.2021). Deutscher Verein (2021): Internationale und europäische Sozialpolitik. https://www.deutscher-verein.de/de/internationale-europaeischesozialpolitik-1136.html (Zugriff am 01.04.2021). Diakonie (2017): Diakonie-Charta für ein soziales Europa vom März 2017. https://www.diakonie.de/diakonie-texte/032017-diakonie-charta-fuer-einsoziales-europa (Zugriff am 01.04.2021).
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Diakonie (2019): Auf den Punkt gebracht. Positionen der Diakonie 02/2019. „Europa wählt: Demokratische Werte – Eine soziale Zukunft“. https://www.diakonie.de/fileadmin/user_upload/Diakonie/PDFs/Broschuere _PDF/2019-02_Auf-den-Punkt_Europawahl2019.pdf (Zugriff am 04.04.2021). Diakonie (2021): Themenschwerpunkt – Diakonie in Europa. https://www.diakonie.de/diakonie-in-europa (Zugriff am 01.04.2021). EKD (2021): Servicestelle EU-Förderpolitik und -projekte von EKD und Diakonie Deutschland. https://www.ekd.de/Servicestelle-Foerderpolitik-von - EKD-und-Diakonie-Deutschland-25364.htm (Zugriff am 01.04.2021). EU (2017): Europäische Säule sozialer Rechte. Interinstitutionelle Proklamation von EU-Kommission, EU-Parlament und den Mitgliedstaaten vom 17.11.2017. https://ec.europa.eu/info/sites/info/files/social-summit-euro pean-pillar-social-rights-booklet_de.pdf (Zugriff am 04.04.2021). EU-Kommission (2021a): Deutsche sprechen sich mehrheitlich für ein soziales Europa aus. Pressemitteilung vom 01.03.2021. https://ec.europa.eu/germany/news/20210301-deutsche-fuer-sozialeseuropa_de (Zugriff am 04.04.2021). EU-Kommission (2021b): Aktionsplan zur Europäischen Säule sozialer Rechte vom 04.03.2021. https://ec.europa.eu/social/BlobServlet?docId=23696&lan g Id=de (Zugriff am 04.04.2021). Eurodiaconia (2021): A European network of 52 churches and Christian NGOs providing social and health care services and advocating social justice. https://www.eurodiaconia.org (Zugriff am 01.04.2021). Social Platform (2021): Our members. https://www.socialplatform.org/ourmembers/ (Zugriff am 01.04.2021). Social Services Europa (2021): Social Services Europe - Not-for-profit social & healthcare service providers. https://www.socialserviceseurope.eu/ (Zugriff am 01.04.2021).
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Der Mensch, Träger von Entwicklung
Dass der Mensch Träger von Entwicklung ist – diese Grundauffassung vom Menschen und von Entwicklung ist keineswegs selbstverständlich, gerade in einer helfenden Beziehung. Helfende haben oftmals ein Ziel vom guten und richtigen Leben für diejenigen, denen geholfen werden soll, von der Wirkung, die erreicht werden soll. Dies gilt für die individuelle wie gruppenbezogene Hilfe. Je ungleicher die Beteiligten, je größer das Machtgefälle, je höher das Risiko, dass eine:r den oder die andere:n entwickeln will. Je technischer und ökonomischer die Vorstellung von Entwicklungsdynamik, je mehr kybernetische Steuerungsmodelle die Projektabläufe prägen, je mehr Wirkungsnachweise in kurzen Projektzyklen gefordert werden, je größer wird die Gefahr, „westliche“ Wachstumsmodelle in fremde Kulturen zu transferieren. In der kirchlichen Entwicklungshilfe bzw. Entwicklungszusammenarbeit hat sich dagegen ein Verständnis herausgebildet, wonach jeder Mensch persönlich der entscheidende Akteur seiner eigenen Entwicklung ist. Dieses Verständnis wurde – zusammen mit den Grundsätzen kirchlicher Soziallehre: Personalität, Solidarität und Subsidiarität – in den großen Sozialenzykliken der katholischen Kirche oder in entsprechenden Dokumenten der evangelischen Kirche (vgl. Lob-Hüdepohl/Maaser 2021) in der Auseinandersetzung mit den jeweiligen historischen sozialen Herausforderungen entfaltet. Dies waren etwa die Arbeiterfrage und die Frage gewerkschaftlicher Organisation im ausgehenden 19. Jahrhundert, das waren Fragen von Krieg und Frieden, von Gerechtigkeit und Entwicklung (z.B. Populorum Progressio1967 „Entwicklung ist der neue Name für Frieden“) bis hin zur Sorge für das gemeinsame Haus, die Erde (Laudato si, 2015) und weltweiter Geschwisterlichkeit (Fratelli tutti, 2020) als Voraussetzung für das Überleben der Menschheitsfamilie. Jeder Mensch ist nach dem Bild Gottes geschaffen; Frauen, Männer, Kinder, Alte, Menschen unter-
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schiedlicher Hautfarbe, sie alle haben die gleiche unveräußerliche Würde und ebensolche Rechte. In der Begegnung entdecken wir die Potentiale der anderen wie unsere eigenen, der Mensch wird erst am Du zum Ich, wie Martin Buber es in „Ich und Du“ dargelegt hat (Buber 1923/2008). Die staatliche Entwicklungszusammenarbeit in Deutschland setzte in den Anfängen in den 1960er Jahren stark auf technische und wirtschaftliche Effizienz und damit darauf, das industrielle Wachstumsmodell zu übertragen. Und erst nach einer „verlorenen Entwicklungsdekade“, vielen Bauruinen und fatalen Großprojekten setzte eine kritische Reflexion ein. Demgegenüber baute die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit schon früh auf Partnerorientierung und Partizipation. Die weltkirchliche Verbundenheit schaffte den passenden Kontext, sich in einen Lernprozess zu begeben, in dem die Partner sich wechselseitig ernst nehmen. Gemäß dem Prinzip der Subsidiarität leisten Gemeinden und Gruppen vor Ort, was sie leisten können, unterstützt von der Ortskirche, gefördert von kirchlichen Partnern in reicheren Ländern wie etwa von Hilfswerken, z.B. Brot für die Welt oder Misereor, von Verbänden, Ordensgemeinschaften und durch internationale Zusammenschlüsse. Entscheidend sind die Partner vor Ort, seien es kirchliche oder zivilgesellschaftliche oder aus anderen Religionsgemeinschaften, denn sie machen die Ansagen über Richtung und Tempo der Projekte. Dies schreibt sich allerdings leichter, als es umzusetzen war und ist. Dies stellte hohe Anforderungen an die Verantwortlichen auf beiden Seiten, es handelt sich um einen fortwährenden interkulturellen Lernprozess, angefangen von der Projektplanung bis zur Rechenschaftslegung. So brachte z.B. die in finanzieller Hinsicht einseitige Geber-Empfänger-Beziehung der Hilfswerke zu ihren Partnern immer wieder Risiken für den Dialog auf Augenhöhe mit sich. Vor allem waren Ortskirchen hier wie dort Teil von kolonialer Ausbeutung und Schuldgeschichte, verwickelt in patriarchale und klerikale Machtverhältnisse, in sexistische und rassistische Diskriminierung. Entsprechende Zuschreibungen und Vorurteile mussten ausgehalten und ausgetragen werden. Aber weil Kirchen Teil des Problems waren, konnten sie auch Teil der Lösung werden, dies war eine wichtige Lernerfahrung in der Aufarbeitung gewaltbelasteter Vergangenheit (Lüer 2013). In Begegnung und Austausch gab es reiche wechselseitige Inspiration: Viele kehrten aus Lateinamerika zurück, begeistert von der Befreiungstheologie und der Praxis der Basisgemeinden. Andere hatten mit Aktion Sühnezeichen im Freiwilligendienst in intensiven Begegnungen die Wunden und Verletzungen aus der deutschen Schuldgeschichte erfahren und z.B. in Israel oder in Auschwitz erfahren dürfen, was Versöhnung bedeutet und Dienst an der Versöhnung. Die solidarische Praxis kleiner christlicher Gemeinschaften fand ihren Weg aus Asien nach Europa. Und es gab die gemeinsamen Hoffnungen und schließlich die Erfahrung, dass man in konzertierten Aktionen zwischen
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Norden und Süden am ehesten Erfolg hatte. Bestes Beispiel dafür war die weltweite Entschuldungskampagne um die Jahrtausendwende. 2
Partizipation und Empowerment
Ohne Partizipation der Menschen vor Ort gibt es keine nachhaltige Entwicklung. Menschen wollen menschenwürdig leben; sie wollen Elend, Armut und Ausgrenzung entfliehen; ihre Kinder sollten es einmal besser haben. Es braucht Menschen, die ihre Würde, ihren Mut, ihre Potenziale entdecken und fördern. Es braucht die Überwindung von Entwicklungshindernissen, wie Hunger, gewaltsamer Austrag von Konflikten, Unterdrückung von Frauen und Minderheiten, Überschuldung und schlechte Regierungsführung. Es braucht Empowerment, um die eigenen unveräußerlichen Menschenrechte zu erkennen, für ein Leben in Würde zu kämpfen. Wer mit Frauen gearbeitet hat, die lange in Gewaltverhältnissen gelebt haben, weiß, wie mühsam die Einsicht ist, dass der Mann kein (Gewohnheits-) Recht auf Züchtigung hat, sondern ihre Menschenrechte verletzt. Es braucht den gemeinsamen Einsatz für Bildung und Ausbildung und dafür, das Recht auf menschenwürdige Arbeit und Einkommen einzulösen. Es braucht „civic education“, um dem Einsatz für eine „good governance“ den nötigen langen Atem zu geben. Die Wege dahin, Inhalte und Methoden sowie Materialien wurden vor Ort entwickelt, oft mit Unterstützung von Fachkräften der Entwicklungszusammenarbeit. Für sie war das partizipative Vorangehen das Credo und wichtige Lernziel in der Vorbereitung auf den Auslandseinsatz. Partnerschaften von Landeskirchen, Diözesen, Kirchengemeinden und Ortskirchen über Kontinente hinweg gaben den nötigen Rückhalt nicht nur für Spendenaktionen, sondern auch für Kampagnen und Austauschprogramme. Sie erweiterten den Gesichtskreis über den eigenen Kulturraum hinaus und schärften das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit über Kontinente hinweg und der gemeinsamen Verantwortung für eine nachhaltige weltweite Entwicklung. Rückkehrer:innen aus der Entwicklungszusammenarbeit waren oft wichtige Botschafter zwischen hüben und drüben. „Compassion“, die Fähigkeit zum Mitleiden, zur Empathie, ist trotz fortschreitender Professionalisierung und Institutionalisierung auch in der Entwicklungsarbeit die Grundlage für weltweite Solidarität geblieben. Es geht darum, das Elend der anderen, der nahen und der fernen Nächsten, an sich heranzulassen, so dass es „einem an die Nieren geht“ damit Gleichgültigkeit, Ausgrenzung und Segregation nicht das letzte Wort haben. „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute müssen Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Jesu sein“ (GS 1) – dieses Grundprinzip der Kirche, wie es in der Pastoralkonstitution des II. Vaticanums Gaudium et Spes im ersten Satz ausgedrückt wird (zit. nach Rahner/Vorgrimler 1981), ist Grundla-
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ge für diakonisches Wirken vor Ort ebenso wie für die Entwicklungszusammenarbeit. Angesichts weltweit wachsender Ungleichheit, Armut und Repression ist die Zahl der fernen Nächsten, die in Armut und Ausgrenzung leben, weltweit gewachsen. Sie sind uns zugleich immer näher gerückt: durch die Kommunikationsdichte, wortwörtlich durch die rasant anwachsende weltweite Migration, durch die beschleunigte weltweite Verflechtung von Handel, Wirtschaft und Finanzströmen, durch die Globalisierung, in deren Kontext wir im Norden von der Ausbeutung im Süden profitieren. Dies hat auch das diakonische Handeln der Kirchen verändert. Die Frage nach ungerechten wirtschaftlichen und politischen Rahmenbedingungen, die Entwicklung verhindern, ist wichtiger geworden, die Anwaltschaft für die Armen und Kampagnenarbeit bedeutsamer, ebenso wie breitenwirksame Bildung und Aufklärung über Ursachen von Armut, Elend und Gewalt, über Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen. Das diakonische Handeln der Kirchen kann in der Antwort auf die gewaltigen Herausforderungen auf die Lernprozesse in der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit zurückgreifen, so wie dies umgekehrt auch galt. 3
Option für die Armen – von der Armutsbekämpfung zur Armenorientierung
In der Weiterentwicklung des Solidaritätsprinzips der katholischen Soziallehre formulierten erstmals die Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils, u. a. in Gaudium et Spes und Lumen Gentium, einen expliziten Vorrang der Armen. Im Kontext Lateinamerikas, der Erfahrung des Lebens der Armen in einer von Ausbeutung und Ungerechtigkeit geprägten Gesellschaft, gestalteten Basisgemeinden eine christliche Praxis, in der eine direkte Parteinahme für die Armen sichtbar wird. Im Abschlussdokument der dritten Generalversammlung in Puebla (Mexiko) des Lateinamerikanischen Bischofsrates CELAM 1979 wurde dann der Begriff der „vorrangigen“ Option für die Armen aufgegriffen: „Diese Option, die durch die Ärgernis erregende Realität des wirtschaftlichen Ungleichgewichts in Lateinamerika erfordert wird, muss dazu führen, ein würdiges und brüderliches Zusammenleben zu begründen und eine gerechte und freie Gesellschaft aufzubauen“ (CELAM 1979, Art. 1154). Ähnliche Formulierungen wie die „Option für die Anderen“, wie sie der deutsch-brasilianische Theologe Paulo Suess prägte, lassen die so wichtige Auseinandersetzung mit Fremdheit anklingen. Die Option für die Armen stellt einen bedeutsamen Perspektivenwechsel dar: „Die Armen können nicht mehr als ‚Objekte‘ einer paternalistisch sich zu ihnen herablassenden Kirche behandelt werden. In einer Kirche, die sich in die Welt der Armen hineinbegibt und deren Bedingungen freundschaftlich-solida-
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risch teilt, werden die Armen selbst zu tragenden Subjekten der Kirche und ihres gemeinsamen Glaubens“; die Armen sind nicht nur „die bevorzugten Adressaten des Evangeliums, sondern auch seine Träger und Künder“ formulierte Medard Kehl (Kehl 1994). In ihrer gemeinsamen Denkschrift Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit haben die EKD und die Deutsche Bischofskonferenz 1997 diesen Ansatz aufgegriffen: „Die christliche Nächstenliebe wendet sich vorrangig den Armen, Schwachen und Benachteiligten zu. So wird die Option für die Armen zum verpflichtenden Kriterium des Handelns“ (EKD/Deutsche Bischofskonferenz 1997). „Option für die Armen“ meint nicht nur konkrete Hilfeleistungen, sondern auch, die Perspektive der Armen als kritisches Korrektiv in den Mittelpunkt politischen und sozialen Handelns zu stellen. Ein Positionspapier der Deutschen Bischofskonferenz zum Klimawandel (2007) plädiert dafür, die „Option für die Armen“ auch auf die Opfer des Klimawandels anzuwenden (Deutsche Bischofskonferenz 2007, Zf. 40). Ausgangspunkt dieser Forderung ist die Beobachtung, dass Umweltzerstörung einzelne Gesellschaftsgruppen stärker belastet als andere. Die sozialen Folgen des Klimawandels treffen ja Entwicklungs- und Schwellenländer in stärkerem Maß als die verursachenden Industrieländer. Da die Folgen ökologischer Degradation sozialräumlich ungleich verteilt sind, müsse sich die Kirche auch in der Umweltpolitik anwaltschaftlich auf der Seite der Entrechteten einsetzen. Die weltkirchlichen Werke wie Brot für die Welt, Misereor, Adveniat sowie Caritas international und –Renovabis und die Aktion „Hoffnung für Osteuropa haben viel durch direkte Unterstützung von Partnern geleistet, um Armut zu überwinden. Mit der Einwerbung erheblicher Spendenmittel, mit Hilfe kirchlicher und staatlicher Gelder konnte Not gelindert, konnten aber auch zukunftsweisende Ansätze von Projektpartnern zum Aufbau friedlicher und gerechter Gesellschaften weltweit unterstützt und gestärkt werden. Mindestens ebenso wichtig war und ist die entwicklungsbezogene Öffentlichkeitsarbeit und Bewusstseinsbildung. In den jährlichen Fastenaktionen etwa wurde früh das Prinzip der Genügsamkeit eingeübt. Um Gerechtigkeit ging es bei Aktionen zur Politik mit dem Einkaufskorb, bei der Gründung und Weiterentwicklung von GEPA und FairTrade. In der begleitenden Bildungsarbeit und Information wurde erläutert, warum es wichtig ist, auf Produktionsbedingungen zu achten, nach einem gerechten Lohn für die Kaffeepflücker: innen, nach Sozialstandards in den Lieferketten zu fragen. Die weltkirchlichen Werke waren auch Säulen in den frühen Kampagnen zur Überwindung von Strukturen der Ungerechtigkeit etwa im Vorfeld der UNCTAD-Welthandelskonferenzen in den 1970er Jahren. Gleiches gilt für den Ökumenischen Pilgerweg für Klimagerechtigkeit, der erstmals im Herbst in Vorbereitung auf die Pariser Klimakonferenz 2015 europaweit startete unter dem Motto „Geht doch“. Er war ein gut sichtbarer, auch politisch viel beachteter Beitrag der Kirchen in Vorbereitung der Pariser Klimakonvention. Das
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ökumenische Engagement durch die weltkirchlichen Werke, aber auch durch ThinkTanks wie das Südwind-Institut bleibt auch heute wegweisend beim Einsatz für die menschenrechtliche Verantwortung von Unternehmen entlang der Lieferketten, das im Juni 2021 in der Verabschiedung des Lieferkettengesetzes durch Bundestag und Bundesrat gemündet ist. Das Institut setzt sich seit 1991 für gerechte Weltwirtschaftsverhältnisse ein. Ethisches Investieren wurde mit Beginn der 2000er Jahre ein Thema in Kirchen und Kirchenbanken, verknüpft mit entsprechender Aufklärung und Bewusstseinsbildung. Der Erfolg der Nachhaltigkeitsfonds heute hat seinen Vorlauf. Für den Abzug von Kapital aus CO2-basierter Produktion im Kontext der Dekarbonisierung der Wirtschaft haben sich kirchliche Institutionen aus den Bereichen Umwelt und Entwicklung eingesetzt (Landeskirchen, Bistümer, Verbände, kirchliche Einrichtungen, Orden, Werke, Kirchenkreise), die sich 2018 zum Ökumenischen Netzwerk Klimagerechtigkeit zusammengeschlossen haben. In vielen kleinen und großen Aktionen zum fairen Einkauf, zu ethischem Investment und klimagerechtem Mobilitätsverhalten wurden über Jahrzehnte hinweg Veränderungen vorbereitet, die jetzt für die notwendige große sozialökologische Transformation so dringlich geworden sind. Die Wirtschaftsdialoge der Kirchen wie etwa das Ökumenische Dialogprogramm der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) in den 1980er und 1990er Jahren haben solche Anliegen in Politik und Wirtschaft transportiert. „Entwicklung als internationale soziale Frage“ war das Thema des ersten Dialogprogrammes, des Vorläufers in den 70er Jahren. Der große Abschlusskongress im Januar 1979 mit tausend Teilnehmenden einschließlich Süd-Vertreter:innen formulierte übrigens als zweiten Grundkonsens: „Die Beteiligung und Mitentwicklung dieser Menschen (arme Bevölkerung aus Ländern des Südens) ist Voraussetzung für eine tragfähige Entwicklung, für sozialen Fortschritt und die Besserung der Lebensverhältnisse“ (zit. nach Justitia et Pax, 2007, S. 82). Wenn die Dialogprogramme auch manchmal ohne direkt sichtbare Wirkungen blieben, haben sie in Deutschland manches mit vorbereitet, was heute in der Umsetzung der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung, die die UN-Vollversammlung mit den 17 nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals SDG) 2015 beschlossen hat, so überlebensnotwendig geworden ist, z.B. die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung (SDG 17). 4
Menschenrechte: Organize – don’t resign
Mit der stärkeren Menschenrechtsorientierung ging es in der Entwicklungszusammenarbeit auch um die Durchsetzung von Rechten und Ansprüchen von Menschen in Armut und Ausgrenzung. In Orientierung an Selbsthilfe-Potentialen und der Stärke der Armen unterstützten Fachkräfte der Entwicklungszusammenarbeit deren Selbstorganisation nach dem Motto „organize – don’t resign“.
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So war es ein wesentlicher Fortschritt, dass sich die Arbeitskräfte in der Hauswirtschaft in jahrelangen Auseinandersetzungen um die Konvention C 189 der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), in der es um menschenwürdige Arbeitsbedingungen für Hausangestellte ging, 2009 zum International Domestic Workers Network zusammenschließen konnten. Nicht nur die philippinische Bischofskonferenz, auch Justitia et Pax und andere kirchliche Kräfte haben die so oft ausgebeuteten und rechtlosen Frauen dabei über Jahre hinweg unterstützt. Ein weiteres Beispiel aus der informellen Wirtschaft, die Self Employed Women's Association (SEWA) in Indien, die erste Frauengewerkschaft von in der informellen Wirtschaft arbeitenden Frauen, wurde 2006 in den Internationalen Gewerkschaftsbund aufgenommen. Gleich ob es um Müllsammlerinnen geht oder um Heimarbeit, Arbeiterinnen in der informellen Wirtschaft setzen sich – organisiert durch die SEWA in Genf – mit den Gewerkschaften für ihre Rechte bei der Arbeit ein. 5
„Mit Menschen“: Partizipiation als roter Faden, vom Entwicklungsdienst zum Weltdienst
Die Erfolge nicht nur der kirchlichen Entwicklungszusammenarbeit wären nicht möglich geworden ohne die Menschen, die als Freiwillige und/oder professionelle Fachkräfte Zeit und Energie in die Hilfe, die Entwicklung und den Austausch mit anderen in Übersee investiert und ihre Erfahrungen nach der Rückkehr geteilt haben. Bei den Freiwilligendiensten konnte man auf den Erfahrungen mit dem Freiwilligen Sozialen Jahr aufbauen, das im Bereich der evangelischen Kirche auch als Diakonisches Jahr bezeichnet wird. Mit dem „Jahr für den Nächsten“ riefen die Katholischen Jugendverbände im BDKJ in den 50er Jahren zu einem solidarischen Engagement für die Notleidenden in der Gesellschaft auf. Schließlich erfolgte der Ausbau der Freiwilligendienste im Ausland. Die sozialen Dienste für Frieden und Versöhnung, die von Aktion Sühnezeichen, Pax Christi, Jugendverbänden, dem Shalom Diakonat u.a. entwickelt wurden, standen Pate bei der Entwicklung des Zivilen Friedensdienstes. Die Arbeitsgemeinschaft für Entwicklungshilfe (AGEH), 1959 gegründet, hat die personelle Zusammenarbeit der katholischen Kirche koordiniert und qualifiziert, so wie es der entwicklungspolitische Personaldienst der evangelischen Kirchen, früher „Dienste in Übersee“, für den evangelischen Bereich tut. Seit etwa 30 Jahren stellt die sogenannte „fid – Service- und Beratungsstelle“ der Entwicklungsorganisation AGIAMONDO die Ressourcen bereit, die für die Qualität der internationalen Freiwilligendienste notwendig sind – vom Notfallmanagement bis hin zu einem umfangreichen Angebot an Vorbereitungs-, Begleit- und Rückkehrerseminaren.
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Die AGEH hat sich 2019 umbenannt in „AGIAMONDO“, ein Kunstwort für „weltweit handeln“. In einem Beitrag zum 60-jährigen Jubiläum erinnert die Geschäftsführerin Claudia Lücking-Michel an eine Schrift des Gründungsgeschäftsführers Karl Osner von 1967 mit dem Titel „Von der Hilfe zur Partnerschaft“. Sie sollte unterstreichen, dass es bei der „Entwicklungshilfe“ seit den Anfängen gerade nicht um einseitiges Helfen, sondern um eine partizipative Zusammenarbeit in Partnerschaft geht. „Vom Entwicklungsdienst zum Weltdienst“ – so ist die Jubiläumsschrift zu 60 Jahre AGEH überschrieben. Der Prozess der Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung mit den 17 nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals SDG) und ihr Beschluss 2015 in der UN-Vollversammlung machte allen Beteiligten klar: Es geht nicht mehr um die Entwicklung des Südens, sondern um einen globalen Transformationsprozess hin zu nachhaltiger gerechter Entwicklung, zum Aufbau friedlicher inklusiver Gesellschaften (SDG 16). Reverse Programme, bei denen Freiwillige etwa aus Bolivien hier z.B. in Pflege und Betreuung von Hilfsbedürftigen eingesetzt werden zeigen ebenso wie der Zuzug von Fachkräften aus dem globalen Süden, dass es um wechselseitige Hilfe geht. Es braucht den weltweiten gemeinsamen Dienst für unseren Planeten. Es braucht Menschen, die sich für das globale Gemeinwohl in Dienst nehmen lassen. Mit dem Weltdienst vermittelt AGIAMONDO zunächst „Entwicklungshelfer:innen“ aus dem Süden in den Norden zu kirchlichen und zivilgesellschaftlichen Partnern in Deutschland. Geplant ist aber u.a. auch die Herausbildung eines sozialökologischen Inlandsfachdienstes im Entwicklungsland Deutschland für zurückkehrende Fachkräfte. Diese könnten angesichts der großen Verunsicherung und der Verlustängste, der Verdrängung und Polarisierung, die die anstehende große sozialökologische Transformation auch in Deutschland auslöst, ihre Erfahrungen mit Stärkung von Zusammenhalt und dem Erleben von Selbstwirksamkeit in prekären Lebensverhältnissen einbringen. Die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) hat in Kooperation mit der Arbeitsgemeinschaft der Entwicklungsdienste (AGdD) seit 2015 dreimal zu Wertschätzung und Dank für zurückgekehrte Fachkräfte im Entwicklungsdienst und im Zivilen Friedensdienst eingeladen. Im Mai 2015 sprachen Bundesminister Gerd Müller und im März 2017 Bundespräsident Joachim Gauck unter dem Leitwort „Die Welt im Gepäck“ den zurückgekehrten Fachkräften Wertschätzung und Dank für ihr Engagement aus. Beim Danktag 2019 hob Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel in ihrer Festrede hervor: „Wir haben inzwischen verstanden, dass sich Entwicklung nicht von außen verordnen lässt, sondern sie muss aus dem Inneren herausgetragen werden. Man nennt das heute so schön Ownership. Entwicklung muss eben auch von innen kommen“ (Merkel 2019).
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Exemplarisch Kirche diakonisch weiterentwickeln – mit Exposure und Dialog®
Einzelbeispiele sprechen für sich und stehen zugleich pars pro toto für einen breiter angelegten Veränderungsprozess in der Entwicklungszusammenarbeit beider christlicher Kirchen. So hat etwa die Synode im katholischen Bistum Trier (2013-2016) unter dem Leitmotto „Diakonisch Kirche sein“ ermutigt. Im Abschlussdokument von 2016 heißt es: „Die Ortskirche von Trier entwickelt sich zu einer diakonischen Kirche, die Menschen in Armut, Bedrängnis und Not wahrnimmt. Sie lässt sich von ihnen berühren, handelt mit ihnen solidarisch und lässt sich von ihnen evangelisieren“ (Bistum Trier 2016). Zur Umsetzung hat der Diözesancaritasverband (DiCV) Trier die „Kampagne Lebenswirklichkeiten“ angestoßen mit dem Ziel, eine inklusive Gesellschaft durch Begegnung und Solidarität zu fördern. Dabei will sie mit der Methode Exposure und Dialog® arbeiten, die im globalen Süden zur Überwindung von Armut und Ausgrenzung entwickelt wurde und sich in der Entwicklungszusammenarbeit bewährt hat. Sich einer fremden Realität hautnah auszusetzen, war von der katholischen Kirche in Asien (Federation of Asian Bishops Conference) in den späten 1960er Jahren erstmalig angewandt worden, um die beim II. Vaticanum formulierte Option für die Armen umzusetzen. Priesteramtskandidaten, die meist aus der Mittelschicht kamen, lebten und arbeiteten eine Weile in Familien, die in Slums oder auf dem Land in Armut und Ausgrenzung lebten, um in der direkten persönlichen Begegnung zu erfahren, wie Armut sich anfühlt, schmeckt und riecht. Exposure öffnet einen Raum für Begegnung von Mensch zu Mensch. Der Mensch mit seinen Bedürfnissen, Sorgen und Nöten, mit seiner Liebe, seiner Würde und seinem Mut steht im Mittelpunkt, sei sie oder er Gastgeber:in oder Gast. Karl Osner hat diesen Ansatz einer methodisch ausgefeilten Kombination von Politikdialog, Persönlichkeitsentwicklung und Führungskräftetraining in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit eingesetzt und zunächst in Kooperation mit Ela Bhatt von der Self Employed Women's Association (SEWA) in Indien und mit Mohammed Yunus, Gründer der Grameen Bank in Bangladesh, weiterentwickelt. SEWA Academy in Indien arbeitet bis heute mit Exposure und Dialog im Training ihrer Fach- und Führungskräfte und beim Politikdialog. Eine Wirkung in Deutschland war, dass Selbsthilfeorientierung als Strategie auch in der staatlichen Entwicklungszusammenarbeit eingeführt wurde und bei Projektplanungen zu berücksichtigen ist. Der Exposure- und Dialogprogramme e.V., 2005 von der Deutschen Kommission Justitia et Pax konstituiert, hat mit der gemeinsam mit Partnern des Globalen Südens weiterentwickelten Methodik Entscheidungsträger und Schlüsselpersonen aus Privatwirtschaft, Politik, Kirche und Zivilgesellschaft eingeladen, bei Menschen in Armut und Ausgrenzung für drei Tage zu Gast zu sein, sie und ihre Lebenssituation, aber auch die Entwicklungsherausforderungen ihres gesellschaftlichen Umfeldes vertieft kennenzulernen. Gemeinsam mit den
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Mitveranstaltern der Exposure- und Dialogprogramme (EDP) zunächst in Asien, Lateinamerika und Afrika wurden partizipative Ansätze der Entwicklungszusammenarbeit mit Hebelwirkung erfahrbar gemacht. Berufliche Bildung marginalisierter Jugendlicher, die Potentiale interreligiöser Zusammenarbeit im Aufbau friedlicher Gesellschaften, das Empowerment und die Selbstorganisation von informell Beschäftigten für menschenwürdige „Gute Arbeit“ in internationalen Wertschöpfungsketten waren und sind einige der Themenfelder, in denen die Exposure-Gastfamilien und andere kompetente Akteur:innen vor Ort veranschaulichen, wie sie Wege aus Armut und Ausgrenzung gehen, woher Mut, Kraft und Kompetenz kommen, was diakonisches Handeln im Kontext integraler menschlicher Entwicklung im Konkreten bedeutet. Mit dem Themenfeld „Armut und Migration“ und seinen Implikationen kam das EDP in Europa zur Anwendung: 2007 in Albanien sowie 2009 und 2010 in der Ukraine. „Interkulturelle und interreligiöse Vielfalt, Chance und Herausforderung für soziale Kohäsion“ war im Jahr 2011 das Thema eines Exposure Dialog Programms (EDP) in Kooperation mit Justitia et Pax Europa in den Banlieus von Paris. 2014 ging es bei einem EDP im Bistum Trier in Kooperation mit der Aktion Arbeit um Langzeitarbeitslosigkeit, um Lösungsansätze, die an den Potentialen der betroffenen Menschen ansetzen und ihre Teilhabechancen verbessern. Drei Tage mit einem langzeitarbeitslosen Gastgeber zusammenleben, seine persönliche Geschichte kennenlernen, im Beschäftigungsbetrieb mitarbeiten, den so bedeutsamen Zusammenhalt dort erfahren, die Bedeutung des festen Rhythmus im Alltag, des pünktlichen Arbeitsbeginns, der selbst erbrachten Leistung, der langsam gewachsenen Selbstachtung, dies verändert die Bewertung arbeitsmarkpolitischer Instrumente. Dies anschließend mit teilnehmenden Bundestagsabgeordneten, Verantwortlichen aus Jobagenturen, Gewerkschaften und Arbeitsmarktpolitikern zu diskutieren, vermittelte im Ansatz auch den beteiligten Expert:innen einen spürbaren Perspektivwechsel, der auch die fachpolitische Arbeit beeinflusste. Mit Exposure und Dialog® greift die „Kampagne Lebenswirklichkeiten“ des DiCV Trier eine Methode aus der Entwicklungszusammenarbeit aus dem globalen Süden auf, die durch persönliche Begegnung und Dialog Zugänge zu Menschen eröffnet, die aus dem Blickfeld von Gemeinden und Pastoral verschwunden sind. Zu Gast-Sein schafft andere Voraussetzungen für einen Dialog auf Augenhöhe als betreuen, begleiten oder therapieren. Ausgegrenzte und Arme können neu wahrgenommen, ihnen können Respekt und Achtung entgegengebracht sowie sozialer Zusammenhalt und Sozialraumorientierung gefördert werden. So findet Kirche zu ihrer eigentlichen Berufung, denn sie entdeckt dabei genuine „Orte von Kirche“: „Eine diakonische Kirche […] sucht Begegnung mit Anderem und mit Anderen und lässt sich davon irritieren, betreffen, inspirieren …“ (Ackermann 2020).
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Die Menschheitsfamilie – global citizenship
Die Zunahme und Häufigkeit von Klimakatastrophen im globalen Süden und Norden sind ein weiteres Alarmsignal. Die Umsetzung der großen Transformation, wie die Staatengemeinschaft sie in den 17 Nachhaltigen Entwicklungszielen und im Pariser Klimaabkommen vereinbart hat, ist dringlicher denn je, sie kann nur in weltweiter multilateraler Zusammenarbeit gelingen. Warum aber setzt sich diese Perspektive nicht schneller durch? Wenn die Erde, unser gemeinsames Haus, auch für zukünftige Generationen ein lebenswerter Ort bleiben soll, müssen Menschen heute mit dem Kopf und v.a. mit dem Herzen erkennen, dass sie als Menschheitsfamilie zusammengehören und voneinander abhängen, dass sie eine existentielle Schicksalsgemeinschaft bilden. Es gilt, die globalisierte Gleichgültigkeit zu überwinden, die sich wie eine undurchdringliche Mauer aufgebaut hat, vor allem gegenüber den fernen Nächsten. Die Kirchen haben hier große Potentiale und einen reichen Erfahrungsschatz gerade auch aus der weltkirchlichen und Entwicklungszusammenarbeit. Es gilt, die Gegenbewegungen zu stärken, die den Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt stellen, die weltweit ein inklusives und geschwisterliches Miteinander anstreben, die dem globalen Gemeinwohl Vorrang geben vor Partikularinteressen. Sich der Welt des anderen aussetzen, ihm begegnen, in Dialog kommen, hilft dem einen wie dem anderen, die eigene Lebensreise zu verstehen und die wechselseitige Zugehörigkeit zu erfahren. So wächst die Motivation, sich für ein friedliches und gerechtes Zusammenleben im gemeinsamen Haus, der Erde, einzusetzen. Literatur Ackermann, St. (2020): Diakonisch Kirche sein. https://www.bistum-trier.de/ bistum-bischof/bischof/im-wortlaut/im-hirtenwort/diakonisch-kirche-sein/ (Zugriff am 11.08.2021). Bistum Trier (2016): heraus gerufen. Schritte in die Zukunft wagen. Abschlussdokument der Synode im Bistum Trier. https://www.bistum-trier.de/ fileadmin/user_upload/docs/abschlussdokument_final.pdf (Zugriff am 16.9.2021). Buber, M. (1923/2008): Ich und Du. Stuttgart. CELAM (1979): Die Evangelisierung Lateinamerikas in Gegenwart und Zukunft. Dokumente der III. Generalkonferenz des Lateinamerikanischen Episkopates Puebla 26. 1.–13.2.1979 (Stimmen der Weltkirche 8). Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz. Bonn. Deutsche Bischofskonferenz (Hg.) (2007): Der Klimawandel: Brennpunkt globaler, intergenerationeller und ökologischer Gerechtigkeit. Bonn.
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Deutsche Kommission Justitia et Pax (Hg.) (2007): Justitia et Pax 1967–2007. 40 Jahre Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden. Eine Dokumentation. Paderborn. Rat der EKD/Deutsche Bischofskonferenz (Hg.) (1997): Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland (Gemeinsame Texte 9). Hannover/Bonn. https://www.ekd.de/sozialwort_ 1997_sozial3.html (Zugriff am 15.10.2021). Kehl, M. (1994): Die Kirche. Eine katholische Ekklesiologie (3. Aufl.). Würzburg. Lob-Hüdepohl, A./Maaser, W. (2021): Christliche Soziallehre. In: R.-Chr. Amthor u.a. (Hg.): Kreft/Mielenz: Wörterbuch Soziale Arbeit (9. Aufl.; S. 830–833). Weinheim/Basel. Lüer, J. (2013): Die Katholische Kirche und die „Zeichen der Zeit“. Stuttgart. Merkel, A. (2019): Bundeskanzlerin Angela Merkel dankt Fachkräften aus dem Entwicklungsdienst. https://www.gkke.org/bundeskanzlerin-angelamerkel-dankt-fachkraeften-aus-dem-entwicklungsdienst/ (Zugriff am 15.8.2021). Rahner, K./Vorgrimler, H. (1981): Kleines Konzilskompendium (15. Aufl.). Freiburg i.Br. Steeb, M. (2019): Vom Entwicklungsdienst zum Weltdienst. Mehr als 60 Jahre Geschichte. In: AGIAMONDO (Hg.): Vom Entwicklungsdienst zum Weltdienst (S. 48–53). Köln.
Verzeichnis der Autor:innen Albert, Anika Christina, Dr. theol., Juniorprofessorin für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement am Institut für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel in Bielefeld, [email protected] Baumann, Klaus, Dr. theol., Lic. psych. (BDP), Psychologischer Psychotherapeut (DFT), Priester der Erzdiözese Freiburg, Lehrstuhl für Caritaswissenschaft und christliche Sozialarbeit in der Theologischen Fakultät der AlbertLudwigs-Universität Freiburg, [email protected] Baur, Katja, Dr. theol., Professorin für Religionspädagogik und systematische Theologie an der Evangelischen Hochschule für Religionspädagogik, Diakonie und Soziale Arbeit in Ludwigsburg, [email protected] Bechmann, Ulrike, Dr.in, M.A., Professorin für Religionswissenschaft an der Universität Graz, [email protected] Becka, Michelle, Dr. theol. habil., Professorin für Christliche Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Würzburg, [email protected] Behrendt-Raith, Nina, Dr. theol., Referentin für Veranstaltungsmanagement bei der Diakonie Ruhr gGmbH, [email protected] Bernzen, Christian, Dr. iur., Dr. phil., Professor für Rechtsfragen an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, Rechtsanwalt, BERNZEN SONNTAG Rechtsanwälte Steuerberater, [email protected] Bertram, Jan, M.A. Sozialwissenschaften, Flüchtlings- und Asylberater beim Diakonischen Werk Bochum e.V., Promovend an der Justus-Liebig-Universität Gießen, [email protected] Biedermann, Ernst Alexander, Diakon, [email protected] Bielefeldt, Heiner, Dr. phil. habil. Dr. h.c., Professor für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, [email protected] Blömeke, Bernd D., Dr. phil., Lic. theol., Supervisor, Referent in der Diakonie Deutschland (EWDE e.V.) für Telefonseelsorge, [email protected]
Verzeichnis der Autor:innen
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Çakir-Mattner, Naime, Dr., Professorin für Islamische Theologie mit dem Schwerpunkt muslimische Lebensgestaltung an der Justus-Liebig-Universität Gießen, [email protected] Casel, Gertrud, bis 2018 Geschäftsführerin der Deutschen Kommission Justitia et Pax, der Gemeinsamen Konferenz Kirche und Entwicklung (kath. Seite) sowie des Exposure- und Dialogprogramme e.V. Coenen-Marx, Cornelia, OKR a.D., Pastorin und Publizistin, Geschäftsführerin der Agentur „Seele und Sorge“ Dalby, Paul, Pastor, Fundraising- und Stiftungsmanager, Leiter EFS der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers im Haus kirchlicher Dienste, [email protected] Ebertz, Michael N., Dr. rer. soc. habil., Dr. theol., Professor für Soziologie, Sozialpolitik und Freie Wohlfahrtspflege an der Katholischen Hochschule Freiburg, [email protected] Eurich, Johannes, Dr. theol., Professor für Praktische Theologie/Diakoniewissenschaft und Direktor des Diakoniewissenschaftlichen Instituts der Universität Heidelberg, [email protected] Fischer, Michael, Dr. theol., Professor für Qualitätsmanagement an der UMITPrivate Universität für Gesundheitswissenschaften, Medizinische Informatik und Technik, Research Unit für Qualität und Ethik im Gesundheitswesen, St. Franziskus-Stiftung Münster, Referat christliche Identität und Werte, [email protected] Graumann, Sigrid, Dr. Dr., Professorin für Ethik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Rektorin der EvH RWL, [email protected] Hahn, Kathrin, Dr. phil., Professorin für Soziale Arbeit, Rektorin an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Hamburg, [email protected] Herrmann, Annett, Dr. phil., Leitung der Stabsstelle Berufliche Bildung und Qualifizierung in sozialen Berufen im Vorstandsbereich der Diakonie Deutschland, Mitglied im Arbeitskreis Deutscher Qualifikationsrahmen (AK DQR) als Vertreterin der Bundesarbeitsgemeinschaft der Freien Wohlfahrtspflege (BAG FW), [email protected] Hoburg, Ralf, Dr. theol., Professor für Sozialmanagement und Grundlagen des Sozialstaats, Hochschule Hannover, [email protected]
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Verzeichnis der Autor:innen
Hofmann, Beate, Dr. theol. habil., Bischöfin der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, außerplanmäßige Professorin für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement, Kirchliche Hochschule Wuppertal/Bethel, [email protected] Hölscher-Mulzer, Regine, Dipl.-Theologin, Referentin Zentrale Fachstelle Schwangerschaftsberatung beim Sozialdienst katholischer Frauen Gesamtverein e.V. in Dortmund, [email protected] Huster, Ernst-Ulrich, Dr. phil. habil., Professor für Politikwissenschaft an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, Privatdozent an der Justus-Liebig-Universität Gießen, [email protected] Jähnichen, Traugott, Dr. theol. habil., Professor für Christliche Gesellschaftslehre an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Mitglied der Kirchenleitung der Ev. Kirche von Westfalen, [email protected] Joussen, Jacob, Dr. jur., Professor für Bürgerliches Recht, Deutsches und Europäisches Arbeitsrecht und Sozialrecht an der Juristischen Fakultät der RuhrUniversität Bochum und Direktor des Instituts für Kirchliches Arbeitsrecht der Ruhr-Universität Bochum, Mitglied im Rat der EKD, [email protected] Kruse, Andreas, Prof. Dr. phil., Direktor, Universität Heidelberg, Institut für Gerontologie, [email protected] Landstorfer, Johannes, Koordinator Digitale Agenda beim Deutschen Caritasverband e.V., [email protected] Liebig, Reinhard, Dr. phil., Professor an der Hochschule Düsseldorf, Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften, [email protected] Lob-Hüdepohl, Andreas, Dr. theol., Professor für Theologische Ethik an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und Geschäftsführer des Instituts für christliche Ethik und Politik Berlin (ICEP), [email protected] Maaser, Wolfgang, Dr. theol. habil., Professor für Ethik an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, [email protected]. Maschmeier, Jens-Christian, Dr. theol. habil., Privatdozent für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Dozent für Neues Testament und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Freiburg, [email protected]
Verzeichnis der Autor:innen
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Meier, Tobias, Community Organizer für das Deutsche Institut für Community Organizing (DICO) in Nordrhein-Westfalen, Promovend zu Governance religiöser Vielfalt auf kommunaler Ebene, [email protected] Möhring-Hesse, Matthias, Dr. theol., Professor für Theologische Ethik/Sozialethik an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen, [email protected] Müller, Annette, Dr. phil., Professorin für Theorien und Methoden der Sozialen Arbeit mit dem Schwerpunkt Migrationsgesellschaft an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, Köln, [email protected] Mund, Petra, Dr. phil., Dipl.-Sozialpädagogin, M.A. Sozialmanagement, Vizepräsidentin und Professorin für Sozialarbeitswissenschaft und Sozialmanagement an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, [email protected] Nauerth, Matthias, Dr. phil., Professor für Soziologie der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Hamburg, [email protected] Nüsken, Dirk, Dr. phil., Dipl.-Soz.päd., Professor für Theorie und Praxis der Sozialen Arbeit an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, Wissenschaftlicher Leiter des Neukirchener Jugendhilfeinstituts, stellv. Vorsitzender der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen (IGfH), [email protected] Penta, Leo J., Prof. Dr., katholischer Priester, Leiter des Deutschen Instituts für Community Organizing (DICO) der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin und Professor in Ruhestand der gleichnamigen Institution, Mitarbeiter im pastoralen Team der englischsprachigen Mission in Berlin, [email protected] Remmers, Hartmut, Prof. Dr. phil. habil., bis 2018 Leiter der Abteilung Pflegewissenschaft an der Universität Osnabrück, seit 2019 Seniorprofessor im Institut für Gerontologie an der Universität Heidelberg, [email protected] Ruf, Daniela, Dr. phil., Dipl.-Psych., Referentin im Referat Teilhabe und Gesundheit des Deutschen Caritasverbandes e.V., [email protected] Schäfer, Gerhard K., Dr. theol. habil., Prof. i.R. für Gemeindepädagogik und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Rheinland-WestfalenLippe, [email protected]
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Verzeichnis der Autor:innen
Schäper, Sabine, Dr. theol., Dipl.-Theologin, Dipl.-Sozialpädagogin, Professorin für das Lehrgebiet Heilpädagogische Methodik und Intervention, Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen, Abteilung Münster, [email protected] Schöttler, Roland, Dr. diac., Professor für Sozialökonomie an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe, [email protected] Sigrist, Christoph, Dr. theol., Titularprofessor für Diakoniewissenschaft an der Universität Bern und Pfarrer am Grossmünster Zürich, [email protected] Spieß, Christian, Dr. theol., Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Katholischen Privat-Universität Linz, c.spiess@ ku-linz.at Städtler-Mach, Barbara, Dr. theol. habil., Professorin für Theologie, Ethik und Diakoniewissenschaft an der Evangelischen Hochschule Nürnberg, [email protected] Starnitzke, Dierk, Dr. theol. habil., Theologischer Vorstand und Vorstandssprecher der Diakonischen Stiftung Wittekindshof, außerplanmäßiger Professor am Institut für Diakoniewissenschaft und Diakoniemanagement (IDM) der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel in Bielefeld, [email protected] Steinkamp, Norbert, Dr. phil., Dipl.-Theologe, Professor für theologisch-ethische Grundlagen sozialprofessionellen Handelns an der Katholischen Hochschule für Sozialwesen Berlin, [email protected] Stetter-Karp, Irme, Dr. rer.soc., Dipl.-Pädagogin, Dipl.-Sozialarbeiterin, seit 2010 im Ruhestand und Studentin im Fach Medizinethik, Wahlämter: Präsidentin des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge und Vizepräsidentin des Deutschen Caritasverbandes, [email protected] Treber, Monika, Dr. phil., Sozialwissenschaftlerin, Professorin i. R., Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin, [email protected] Tüllmann, Michael, Dipl.-Sozialpädagoge, Diakon, [email protected] Wagenführ-Leroyer, Anne, MSc, Leiterin der Hauptvertretung Brüssel des Deutschen Caritasverbands e.V., [email protected] Wasner, Maria, Dr. rer. biol. hum., Professorin für Soziale Arbeit in Palliative Care an der Katholischen Stiftungshochschule München, [email protected]
Verzeichnis der Autor:innen
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Wegner, Katharina, Juristin und Historikerin, seit 2020 Repräsentantin der Friedrich-Ebert-Stiftung in Venezuela, von 2009 bis 2019 Beauftragte der Diakonie Deutschland bei der Europäischen Union in Brüssel, [email protected] Weitzel-Polzer, Esther, Dr. phil., bis 2015 Professorin für Sozialmanagement an der FH-Erfurt, Fakultät Angewandte Sozialwissenschaften, [email protected] Welskop-Deffaa, Eva M., Dipl.-Volkswirtin (Univ.), Mitglied im Vorstand des Deutschen Caritasverbandes/Freiburg/Berlin, zuständig für Sozial- und Fachpolitik und die Digitale Agenda des Verbandes, Vorsitzende der Sozialkommission II der BAGFW, [email protected] Zenner, Bettina, Dipl.-Sozialpädagogin, Systemische Therapeutin, MBA, Diözesanbeauftragte für Ehe-, Familien- und Lebensberatung in der Erzdiözese Freiburg, Leitung des Referats Beratungsdienste in der Hauptabteilung 1/ Pastoral des Erzbischöflichen Ordinariates Freiburg, [email protected]