Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters 9783110225525, 9783110225518

This study undertakes a fundamental (new) evaluation of the intercultural relationship of Jews and Christians between 11

430 78 2MB

German Pages 366 [369] Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
A.I. Methode und Hermeneutik: Kultur und Kulturtransfer im Mittelalter
A.II. Inhaltliche Vorarbeiten
B.I. Das deutsche Mittelalter als Kontaktraum und Kontaktzeit zwischen Juden und Christen
B.II. Die deutsche Volkssprache und ihre Literatur als Brücke zwischen den Kulturen im Hoch- und Spätmittelalter
C.I. Subliterarischer Transfer jüdischer Erzählstoffe in höfische Literatur
C.II. Wandernde Motive und die gereimte Weltchronistik
C.III. Polemische Literatur und die Anfänge der christlichen Talmudübersetzung
C.IV. Das Bild des jüdischen Spruchdichters: Süßkint von Trimberg
Backmatter
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Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters
 9783110225525, 9783110225518

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Martin Przybilski Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

61 ( 295 )

De Gruyter

Kulturtransfer zwischen Juden und Christen in der deutschen Literatur des Mittelalters von

Martin Przybilski

De Gruyter

ISBN 978-3-11-022551-8 e-ISBN 978-3-11-022552-5 ISSN 0946-9419 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorbemerkung Die nachfolgende Studie widmet sich dem Thema des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter, das in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit bisher nur partiell untersucht worden ist. Sie betrachtet einen wesentlichen Teilaspekt dieses Themas: Ziel ist es, Spuren des Kulturtransfers von Juden zu Christen in der deutschsprachigen Literatur der Zeit vom 11. bis zum 15. Jahrhundert aufzuzeigen und zu verfolgen. Ausgehend von der Annahme, daß diese Spuren zwar zu einem größeren Teil verschüttet, aber nicht gänzlich unauffindbar oder nicht mehr rekonstruierbar sind, werden repräsentative Beispiele des Transfers jüdischer Texte, stofflicher oder motivischer Traditionen und Vorstellungen in christliche Literatur dargestellt und analysiert, wobei besonderes Augenmerk auf die Rolle und Funktion der deutschen Volkssprache innerhalb dieses Prozesses geworfen wird. Wenngleich also der thematische Schwerpunkt dieser Arbeit deutlich im Bereich der älteren deutschen Philologie liegt, so steht sie nichtsdestoweniger, ähnlich wie eine Reihe in ihr vorkommender Autoren und Werke, in gewisser Weise auf der Grenze zwischen drei wissenschaftlichen Disziplinen – neben der Altgermanistik bilden dieses Dreieck die mediävistische Geschichtswissenschaft, insbesondere die Erforschung des jüdischen „Anteils“ an der Geschichte des europäischen Mittelalters, und die Judaistik. Diese – immer noch nachhaltig geforderte und oftmals vermißte – „Interdisziplinarität“ stellt zugleich eine gewisse Rezeptionshürde dar, vor allem in bezug auf die judaistischen Momente dieser Arbeit, die mit einigen kurzen redaktionellen Vorbemerkungen zumindest etwas gemindert werden soll. Im Gegensatz zu anderen fremdsprachigen, also zum Beispiel lateinischen oder altfranzösischen Zitaten werden hebräische und aramäische Textpassagen im Original im Haupttext zitiert und – entweder direkt folgend in Klammern oder in der entsprechenden Fußnote – ins Deutsche übersetzt. Wenn diese Übersetzung nicht anderweitig gekennzeichnet ist, stammt sie vom Verfasser dieser Studie. Zur Zitierweise der klassischen jüdischen Theologica ist folgendes zu bemerken: Biblische Bücher werden nach den gängigen lateinischen Buchbezeichnungen benannt und mit den entsprechenden Abkürzungen zitiert, also Gen und nicht ty#)rb, IV Reg

VI

Vorbemerkung

und nicht b {yklm etc. Mischna und Gemara werden nach den allgemein üblichen Regeln zitiert: Bei der Mischna – angezeigt durch vorgestelltes „m“ – meint die römische Ziffer den jeweiligen Oberabschnitt, die arabische Ziffer den jeweiligen Unterabschnitt; bei der Gemara folgt das Zitat der Seitenzahl (babylonischer Talmud) bzw. der Abschnitts-, Seiten- und Kolumnenzahl (palästinischer Talmud) der gängigen Folioausgaben, „b“ bzw. „j“ zeigen babylonischen bzw. palästinischen Talmud an; die Namen der Traktate erscheinen in lateinischer Umschrift, also Sanhedrin und nicht }yrdhns. Bei Midraschim, insbesondere im Fall des Midrasch rabba, werden die biblischen Bücher ebenfalls durch die bereits genannten lateinischen Abkürzungen bezeichnet, also Midrasch Ex rabba und nicht hbr twm# #rdm; hier bezeichnen römische Ziffern den jeweils zitierten Abschnitt. Deutsche Übersetzungen folgen für die Mischna dem Text von DAVID ZWI HOFFMANN, für die Gemara dem Text von LAZARUS GOLDSCHMIDT, für die Midraschim gemeinhin den Ausgaben AUGUST WÜNSCHEs. Die großen Bibel- und Talmudkommentare, also zum Beispiel Raschi, Redak oder Tossafot, finden sich in den twlwdg tw)rqm – der sogenannten „Biblia Rabbinica“ – bzw. in den gängigen Nachdrucken der Wilnaer Talmudausgabe. Die Mehrzahl der zitierten jüdischen Quellen findet sich auch auf der CD-Rom des „Responsa Project“ der israelischen Bar-Ilan Universität, wenngleich, gerade im Fall der mittelalterlichen Responsenliteratur, in der Regel nach älteren Druckausgaben zitiert wird. Alle weiteren Primärquellen werden nach folgendem Usus zitiert: Findet sich im jeweiligen Text eine – zeitgenössische oder vom modernen Herausgeber eingeführte – Unterteilung in Bücher, Kapitel, Verse etc. wird diese im laufenden Text, zumeist in Klammern, als Belegstelle angegeben. Nur bei annalistischen und chronikalischen Werken, die nach Jahreszahlen geordnet sind, erfolgt in einer Fußnote der Nachweis der Seitenzahl der zitierten Ausgabe. Die für den einzelnen Text herangezogenen und zitierten Editionen sind durch das Quellenverzeichnis am Ende der Arbeit erschließbar, einzig im Fall noch nicht edierter Quellen wird der jeweils zitierte handschriftliche Überlieferungsträger direkt und vollständig in der laufenden Darstellung genannt. Schließlich wird eine Reihe besonders häufig zitierter moderner Hilfsmittel, also zum Beispiel bestimmte Wörter- oder Handbücher, unter Siglen zitiert; die Auflösungen dieser Abkürzungen finden sich ab Seite 290 dieser Untersuchung. Meine Arbeit an diesem Thema erstreckte sich – mit längeren und kürzeren Unterbrechungen – über fast ein Jahrzehnt. Dementsprechend vielfältige Anregungen habe ich von einer Vielzahl von Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen erhalten. Daher danke ich Rainer Barzen, Ingrid Bennewitz, Horst Brunner, Matti Bunzl, Christoph Cluse,

Vorbemerkung

VII

Martina Edelmann, Eva Falkenhagen, Yacov Guggenheim, Hanna Häger, Chaim Jizchak Hartmann, Alfred Haverkamp, Sonja Kerth, Sarah Klein, Fritz Peter Knapp, Agnes Kruszynski, Freimut Löser, Lea Meissner, Claudine Moulin, Sindy Müller, Manuela Niesner, Susanne Omran, Jizchak Meir Perlberger, Katharina Philipowski, Ulrich Port, Jizchak Porath, Klaus Ridder, Walter Röll, Ulrike Sals, Carsten Schapkow, Schmuel Akiwa Schlesinger, Michael Schneeberger, Franziska Schößler, Joseph Shatzmiller, Elisabeth Singer, Shlomo Spitzer, Norman Stillman, Herbert Uerlings und Edith Wenzel sowie den Herausgebern der Reihe „Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte“ als auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Verlags Walter de Gruyter, vor allem meinem guten Freund Heiko Hartmann. Ich widme dieses Buch Birgit Ulrike Münch – meiner (+r(#)b und ebenso kritischen wie liebevollen Kollegin und Frau.

Inhalt A. A.I.

Rahmen und Ausgangspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Methode und Hermeneutik: Kultur und Kulturtransfer im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kultur und ihre Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Romantische Träume von Ganzheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Postkolonialität des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Geschichtsschreibung als Archäologie des Marginalisierten . 5. Wandernde Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Prämissen für die Wahrnehmung des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . A.II. Inhaltliche Vorarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 2 5 9 14 17 21 34 35

B.

Historische Spuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71

B.I.

Das deutsche Mittelalter als Kontaktraum und Kontaktzeit zwischen Juden und Christen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 1. Aschkenas und der Beginn jüdischen Lebens im deutschen Sprachraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 2. Die aschkenasischen Juden des 11. und 12. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur koterritorialen Christenheit . . . . . . . . . . 85 3. Leben auf der Grenze: Die mentale Landkarte des Konvertiten und seine Bedeutung für den jüdisch-christlichen Kulturtransfer im Mittelalter . . . . . . . . . . . 103 4. Das Interesse christlicher Theologen am Hebräischen im 12. und 13. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 5. Formen jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter. . 137

X

Inhalt

B.II. Die deutsche Volkssprache und ihre Literatur als Brücke zwischen den Kulturen im Hoch- und Spätmittelalter . . 1. Aschkenas als Referenzraum der jüdischen Diaspora im europäischen Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die gemeinsame Sprache der Christen und Juden in Aschkenas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Deutsche Glossen in hebräischen Texten . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Doppelnamigkeit der aschkenasischen Juden . . . . . . 2.3. Die deutsche Sprache als Studienobjekt aschkenasischer Rabbiner des 15. Jahrhunderts . . . . . . . .

C. C.I.

139 139 153 157 160 170

Literarische Spuren: Texte, ihre Autoren und ihr Umgang mit jüdischer Kultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176

Subliterarischer Transfer jüdischer Erzählstoffe in höfische Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Lebermeer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Etymologische Spuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Spätantike Spuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Jüdische Spuren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Volkssprachlich-christliche Spuren. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Formen und Wege subliterarischen Stofftransfers . . . . . 2. Rudolf von Ems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. ‚Der gute Gerhard’ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. ‚Rabbi Simon und der gerechte Metzger’ . . . . . . . . . . . . . . 2.3. Jüdisches Erzählgut bei Rudolf von Ems . . . . . . . . . . . . . . C.II. Wandernde Motive und die gereimte Weltchronistik . . . . . . . . . . . 1. Die ‚Weltchronik‘ des Jans von Wien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Jüdische Erzählstoffe in der ‚Weltchronik‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Der rym# bei Juden und Christen in Antike und Mittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Formen der Kontextualisierung eines jüdischen Motivs in christlicher Überlieferung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . C.III. Polemische Literatur und die Anfänge der christlichen Talmudübersetzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Dialogliteratur vor Beginn der christlichen Talmudübersetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die christlichen Talmudübersetzungen und ihre Auswirkungen auf die Dialogliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

191 191 193 195 197 200 204 206 207 213 216 218 219 221 230 241 247 247 253

Inhalt

C.IV. Das Bild des jüdischen Spruchdichters: Süßkint von Trimberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Biographische Spuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Literarische Spuren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Jude Süßkint – ein Vexierbild? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

D.

XI

267 268 271 277

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 280

Handschriften und frühe Drucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 I. II.

Handschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Inkunabeln und Frühdrucke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Abkürzungen und Siglen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Deutsche und jiddische Quellen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Französische Quellen des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III.Hebräische Quellen der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Lateinische Quellen der Antike, des Mittelalters und der Frühen Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Anderssprachige Quellen der Antike und des Mittelalters . . . Forschungsliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

291 294 294 299 299 303 310 311

Personen- und Werkregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351

A. Rahmen und Ausgangspunkte Im folgenden werden zunächst die hermeneutischen und historischen Prämissen und Determinanten benannt und umrissen, die die Suche nach den Spuren kulturellen Kontakts und Austausches zwischen Juden und Christen beeinflussen, der seinen Niederschlag primär in der volkssprachlichen Literatur des deutschen Hoch- und Spätmittelalters gefunden hat. Methodisch (A.I.) geht es dabei vorrangig um die Klärung der Fragen, welche Definition von Kultur dieser Suche zugrunde liegt und welche Wege die Übermittlung kulturellen Wissens nehmen kann – kurz, was ist Kultur und wie wird sie transferiert? Das nächstfolgende Kapitel (A.II.) beschäftigt sich mit bereits vorhandenen inhaltlichen Vorarbeiten, die vor allem aus dem 19. und dem ersten Drittel des 20. Jahrhunderts vorliegen. Hierbei handelt es sich in erster Linie um Untersuchungen europäischjüdischer Historiker, Volkskundler und Philologen des angegebenen Zeitraums, von denen namentlich MORITZ GÜDEMANN, MOSES GASTER und SAMUEL SINGER Studien zu einzelnen Fragen, aber auch zu grundsätzlichen Fragenkomplexen erarbeitet haben, die sich mit dem Thema dieser Arbeit berühren. Neben bis heute bekannten Forschern wie den zuvor Genannten werden aber auch weniger oder gar nicht bekannte Wissenschaftlerpersönlichkeiten wie SIGMUND GELBHAUS oder ABRAHAM BERLINER zu Wort kommen, deren Forschungen ähnlich wie im Falle ihrer berühmteren Zeitgenossen sowohl Anknüpfungspunkte als auch Potential zur Revision und Differenzierung für diese Studie bieten. Dabei wird auch der wissenschaftsgeschichtlichen Frage nachgegangen, warum ebendiese Forschungsergebnisse bis auf den heutigen Tag im deutschsprachigen literaturhistorischen und geschichtswissenschaftlichen Diskurs bestenfalls eine marginale Rolle gespielt haben, wenn sie denn überhaupt zur Kenntnis genommen wurden. Nach der notwendigen Verankerung dieser Untersuchung in den Thesen und Ergebnissen früherer Forschergenerationen stehen sodann die in einem engeren Sinne historischen Spuren des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im deutschen Mittelalter im Zentrum der Analyse. Dazu wird zum einen die Epoche des deutschen Mittelalters als Kontaktraum und Kontaktzeit zwischen Juden und Christen beschrieben (B.I.), zum anderen wird die Bedeutung der deutschen Volkssprache und ihrer Literatur als Brücke zwischen diesen beiden Kulturen im Hoch-

2

Rahmen und Ausgangspunkte

und Spätmittelalter herausgearbeitet (B.II.). Den verschiedenartigen literarischen Spuren in der höfischen Literatur (C.I.), der volkssprachlichen Weltchronistik (C.II.), der polemischen Dialogliteratur (C.III.) und der Sangspruchdichtung (C.IV.) ist im Anschluß daran der zweite Hauptteil dieser Studie gewidmet.

A.I. Methode und Hermeneutik: Kultur und Kulturtransfer im Mittelalter Den hermeneutischen Hintergrund dieser Studie bildet das Konzept des „Kulturtransfers“, also des Kontakts und Austausches zwischen zwei kulturellen Archiven, die auf unterschiedlichste Weise miteinander verbunden sein können: durch zeitliche oder räumliche Abfolge ebenso wie durch Gleichzeitigkeit und Koterritorialität.1 Das Konzept fußt auf der Grundannahme, daß sich die Über-lieferung und Über-mittlung kultureller Hervorbringungen von einem kulturellen Archiv in das andere nicht als geradliniger, zielgerichteter Prozeß beschreiben läßt. Vielmehr macht es die Veränderungen, die kulturelle Güter dabei erfahren, zum Ausgangspunkt der Überlegungen: sie werden als bewußter Ausdruck einer veränderten Bedeutung interpretiert, die fremden Traditionen im Rahmen der rezipierenden und adaptierenden Kultur zukommt.2 Das Konzept lehnt somit die positivistische Vorstellung ab, kultureller Austausch bestehe aus einem geradezu mechanistischen, beständig fortschreitenden Prozeß der Quellen- und Textkorrumpierung mit klar voneinander unterscheidbaren Überlieferungsstufen. Dagegen betont es vielmehr die dynamische, in gewisser Hinsicht chaotische, zumindest aber schwer antizipierbare Hybridität kulturellen Austauschs, da Kulturen im allgemeinen oft über erstaunlich kraftvolle Assimilationsmechanismen verfügen, die wie Enzyme die ideologische Zusammensetzung der von außen eindringenden Stoffe verändern. Die Fremdkörper verschwinden nicht völlig, aber sie werden [...] in ein ‚Dazwischen‘ gezogen, in eine Zone der Überschneidung, in der alle kulturell festgelegten Bedeutungen durch eine unaufgelöste und unauflösliche Hybridität in Frage gestellt werden.3

STEPHEN GREENBLATT hat diesen Prozeß anhand spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Wahrnehmungs- und Deskriptionsschemata des kulturell Differenten – zumeist am Beispiel europäischer Beschreibungen 1 2 3

Zu den vielfältigen Möglichkeiten, die das Konzept des „Kulturtransfers“ bietet, vgl. die Beiträge in KASTEN/PARAVICINI/PÉRENNEC (Hrsg.): Austausch. Vgl. GRAFTON: Notes, S. 2–11. GREENBLATT: Besitztümer, S. 13; vgl. dazu grundsätzlich BHABHA: Verortung, S. 29–58.

2

Rahmen und Ausgangspunkte

und Spätmittelalter herausgearbeitet (B.II.). Den verschiedenartigen literarischen Spuren in der höfischen Literatur (C.I.), der volkssprachlichen Weltchronistik (C.II.), der polemischen Dialogliteratur (C.III.) und der Sangspruchdichtung (C.IV.) ist im Anschluß daran der zweite Hauptteil dieser Studie gewidmet.

A.I. Methode und Hermeneutik: Kultur und Kulturtransfer im Mittelalter Den hermeneutischen Hintergrund dieser Studie bildet das Konzept des „Kulturtransfers“, also des Kontakts und Austausches zwischen zwei kulturellen Archiven, die auf unterschiedlichste Weise miteinander verbunden sein können: durch zeitliche oder räumliche Abfolge ebenso wie durch Gleichzeitigkeit und Koterritorialität.1 Das Konzept fußt auf der Grundannahme, daß sich die Über-lieferung und Über-mittlung kultureller Hervorbringungen von einem kulturellen Archiv in das andere nicht als geradliniger, zielgerichteter Prozeß beschreiben läßt. Vielmehr macht es die Veränderungen, die kulturelle Güter dabei erfahren, zum Ausgangspunkt der Überlegungen: sie werden als bewußter Ausdruck einer veränderten Bedeutung interpretiert, die fremden Traditionen im Rahmen der rezipierenden und adaptierenden Kultur zukommt.2 Das Konzept lehnt somit die positivistische Vorstellung ab, kultureller Austausch bestehe aus einem geradezu mechanistischen, beständig fortschreitenden Prozeß der Quellen- und Textkorrumpierung mit klar voneinander unterscheidbaren Überlieferungsstufen. Dagegen betont es vielmehr die dynamische, in gewisser Hinsicht chaotische, zumindest aber schwer antizipierbare Hybridität kulturellen Austauschs, da Kulturen im allgemeinen oft über erstaunlich kraftvolle Assimilationsmechanismen verfügen, die wie Enzyme die ideologische Zusammensetzung der von außen eindringenden Stoffe verändern. Die Fremdkörper verschwinden nicht völlig, aber sie werden [...] in ein ‚Dazwischen‘ gezogen, in eine Zone der Überschneidung, in der alle kulturell festgelegten Bedeutungen durch eine unaufgelöste und unauflösliche Hybridität in Frage gestellt werden.3

STEPHEN GREENBLATT hat diesen Prozeß anhand spätmittelalterlicher und frühneuzeitlicher Wahrnehmungs- und Deskriptionsschemata des kulturell Differenten – zumeist am Beispiel europäischer Beschreibungen 1 2 3

Zu den vielfältigen Möglichkeiten, die das Konzept des „Kulturtransfers“ bietet, vgl. die Beiträge in KASTEN/PARAVICINI/PÉRENNEC (Hrsg.): Austausch. Vgl. GRAFTON: Notes, S. 2–11. GREENBLATT: Besitztümer, S. 13; vgl. dazu grundsätzlich BHABHA: Verortung, S. 29–58.

Methode und Hermeneutik

3

des geographisch Anderen – als „Rekontextualisierung“ bezeichnet und erläutert.4 Die erste Wahrnehmung einer kulturell differenten Hervorbringung, sei sie sachlicher oder textlicher, realer oder spiritueller Natur, löst im Betrachter ein Gefühl der Verblüffung aus. Der Betrachter sieht sich konfrontiert mit einer Emanation dessen, was HOMI K. BHABHA das „Unheimliche“ nennt,5 dasjenige, was kein Heim, keinen Ort hat, das Fremde, Uneigentliche, Nicht-Kontextuelle, Inkohärente,6 so wie nach SIGMUND FREUD alles das unheimlich ist, „was ein Geheimnis, im Verborgenen bleiben sollte und hervorgetreten ist“7. Die neuartige Qualität der kulturellen Differenz entzieht sich zunächst nicht nur allen Verstehensversuchen, selbst der Akt des Beschreibens fällt im günstigsten Falle äußerst schwer, zumeist scheitert er ganz. Im Augenblick des Verblüffens ist der Betrachter so überwältigt von seinem Differenzerlebnis, so vollständig eins mit der Alterität, mit der er sich konfrontiert sieht, daß alle Definitions- und Systematisierungsstrategien, die sonst seine Wahrnehmung lenken, versagen, „in diesem Augenblick zieht sich die Welt [...] erst zusammen und weitet sich dann enorm aus“8. Der Augenblick des Verblüffens ist ein Moment tatsächlicher und buchstäblicher „Wahrnehmung des Fremden“.9 Doch im nächsten Augenblick setzt zumeist schon der Prozeß der Rekontextualisierung ein, des kulturellen Transfers vermittels genau jener Strategien des Definierens und Systematisierens, die anhand von Analogien des Eigenen die Differenz eliminieren und das Differente beschreib- und verstehbar werden lassen, und die GREENBLATT „eine schwerfällige und notdürftig zusammengezimmerte mimetische Maschinerie“10 nennt. Am Ende dieses Prozesses sind die nunmehr transferierten kulturellen Hervorbringungen zu radikal ausgegrenzten Objekten geworden, die, „nachdem die ersten Augenblicke der Verblüffung verstrichen sind, angefaßt, katalogisiert, inventarisiert und beschlagnahmt werden können“11. Kommunikation und Austausch zwischen verschiedenen Kulturen werden demnach dadurch möglich, „daß die Grenze, die uns den uneingeschränkten Zugang zum Anderen verwehrt, eine ontologische, 4 5 6 7 8 9 10 11

Vgl. dazu GREENBLATT: Besitztümer, S. 34–39; vgl. in diesem Sinne auch BURKE: Augenzeugenschaft, S. 137–141. Vgl. BHABHA: Verortung, S. 13. Vgl. dazu auch COHEN: Midcolonial, S. 2. FREUD: Unheimliche, S. 236. BHABHA: Verortung, S. 13. Vgl. zu ähnlichen Überlegungen GEERTZ: Beschreibung, S. 33–35; grundsätzlich anderer Auffassung ist GIESEN: Europa, S. 132. GREENBLATT: Besitztümer, S. 40. GREENBLATT: Besitztümer, S. 39; vgl. auch FRIESE: Identität, S. 27: „Wo man fremd ist, wo man nicht weiß und kennt, braucht es ein Wort. Das, was unbekannt ist, braucht einen Namen, der das Schicksal entscheidet.“

4

Rahmen und Ausgangspunkte

keine bloß epistemologische ist“12. Die relative Unzugänglichkeit des Anderen liegt darin begründet, daß der Andere – wie auch das Eigene – niemals vollständig oder ganzheitlich ist, niemals völlig von seinem Kontext determiniert wird und somit seine Existenz und sein Sein stets bis zu einem gewissen Grad „offen“ oder „fließend“ bleiben. An dieser für den Anderen selbst unbekannten Determinante kann die Wahrnehmung des Anderen anknüpfen und somit das Verstehen des Anderen durch das Eigene beginnen.13 Ähnlich wie die historische Anthropologie, die nicht-schriftliches soziales Handeln im gesellschaftlichen Kontext analysiert,14 versteht also auch das Konzept des Kulturtransfers die Bedeutung, die innerhalb einer Gesellschaft einem Text beigemessen wird, als sozial vermittelt.15 Es entspricht damit dem Prozeß, den MICHEL FOUCAULT als „Gesetz der wiederholbaren Materialität“ bezeichnet und durch den Aussagen aus der einen Institution in den Diskurs einer anderen umgeschrieben werden können.16 Demnach kann, ungeachtet der Gebrauchs- und Anwendungsschemata, die das ursprüngliche stabilisierende Feld des Textes bilden, jede Veränderung in den Bedingungen für die Verwendung und Neuverwendung des Textes, jede Änderung ihres Erfahrungs- und Verifizierungsfeldes oder tatsächlich sogar jeder Unterschied bei den Problemen, deren Lösung anvisiert wird, zum Entstehen eines neuen Textes führen.17 Dabei meint „Text“ nicht allein ein konkret faßbares Stück Literatur, sondern auch den Umgang mit überlieferten kulturellen Traditionen insgesamt, dessen Bedeutung als soziales Handeln in seinem neuen kulturellen Kontext entsteht:18 Die Wahrnehmung des kulturell Differenten findet ihren Ausdruck durch relationale, ortsgebundene und historisch kontingente Repräsentationen. Es geht ihnen nicht um die Erkenntnis des Anderen, sondern um eine Praxis, die den Anderen zum Gegenstand hat; und das wichtigste intellektuelle Vermögen, das an

12 13 14

15 16 17 18

EAGLETON: Kultur, S. 135. Vgl. dazu grundsätzlich ZIZEK: Abyss. Zur Entwicklung der historischen Anthropologie vgl. DÜLMEN: Kulturforschung, S. 403– 429; zu anthropologischen Forschungsansätzen in der Altgermanistik vgl. KIENING: Zugänge, S. 11–129, in der Geschichtswissenschaft vgl. SIEDER: Sozialgeschichte, S. 445–458; DANIEL: „Kultur“, S. 69–99. Vgl. BURKE: Perspectives, S. 3f.; in diesem Sinne gilt das Diktum GROSSBERGs: Studies, S. 60: „der Kontext ist alles, und alles ist kontextuell“. Vgl. FOUCAULT: Archäologie, S. 150–152. Vgl. dazu auch BHABHA: Verortung, S. 34. Es geht im weiteren also nicht – oder zumindest nicht vorrangig – um „kulturelle Texte“ im Sinne von GEERTZ: Beschreibung, S. 258, also um Texte, die kulturelle Identität herstellen, reproduzieren oder tradieren; vgl. zur Bestimmung dieses Terminus auch ASSMANN: Texte, S. 237–241.

Methode und Hermeneutik

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der Herstellung dieser Repräsentationen teilhat, ist [...] nicht die Vernunft, sondern die Einbildungskraft.19

Diese Erkenntnis betrifft alle Konzeptionen von Kultur, kulturelle Texte, Konzepte der Macht und ihrer Determinanten, sowie die Form der Beziehung zwischen Macht und Kultur.20 Was aber bedeutet in diesem Zusammenhang „Kultur“, oder konkreter: welcher Kulturbegriff liegt dieser Untersuchung zugrunde?21 1. Kultur und ihre Definitionen Die Suche nach einer griffigen, weder zu weiten noch zu engen Definition des Begriffs „Kultur“, die zudem noch den Bedingungen einer spezifischen historischen Epoche gerecht werden muß, gestaltet sich äußerst schwierig, da der Begriff selbst die schwächste analytische Entwicklung aller soziologischen Schlüsselbegriffe genommen und in der Soziologie selbst die schwankendste Rolle gespielt hat:22 Tatsache ist, daß sich [...] keine einzelne, unproblematische Definition von ‚Kultur‘ finden läßt. Der Begriff bleibt komplex – mehr ein Bereich von konvergierenden Interessen als eine logische oder konzeptuell geklärte Idee. Diese ‚Vielfalt‘ markiert einen Bereich von kontinuierlichen Spannungen und Schwierigkeiten im Feld.23

So verwundert es kaum, wenn der britische Literaturtheoretiker TERRY EAGLETON das Wort Kultur bezeichnet als „eines der komplexesten unserer Sprache – an Bedeutungsreichtum wird es nur übertroffen von dem Wort ‚Natur‘, das mitunter als sein Gegenteil gilt.“24 Im Gegensatz zu Kultur ist „Natur“ verstanden worden als Summe derjenigen materiellen Strukturen und Prozesse, die unabhängig von menschlichem Tun sind, indem sie kein von Menschen geschaffenes Produkt sind, und deren Mächte und Kausalkräfte die notwendige Bedingung jeder menschlichen Praxis sind.25 Nun hat jedoch die feministisch-postmoderne Theoriearbeit ge19 20 21 22 23 24 25

GREENBLATT: Besitztümer, S. 25. Vgl. dazu GROSSBERG: Studies, S. 60. Vgl. zu unterschiedlichen Kulturbegriffen überblickshaft HÖRNING: Kollisionen, S. 85– 110; MERGEL: Kulturgeschichte, S. 59–63. Vgl. ARCHER: Culture, S. 1. HALL: Paradigmen, S. 16. EAGLETON: Kultur, S. 7. Vgl. SOPER: Nature, S. 132f.; vgl. für unsere Fragestellung insbesondere auch GRUBMÜLLER: Natûre, S. 3–17, der in seiner begriffsgeschichtlichen Studie natura als diejenigen Kräfte bestimmt, die in der Schöpfungsordnung ein Wesen gemäß göttlichem Auftrag in seiner Existenz und seinem Verhalten determinieren sowie seinem Willen entzogen sind, während „Kultur“ alles lernend Erworbene umfaßt (nutritura).

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zeigt, daß auch die vermeintliche Dialektik zwischen Natur und Kultur ein kulturelles Konstrukt unserer Wahrnehmung darstellt, daß also selbst Größen wie „Körper“ oder „Sexualität“, im westlichen Bezeichnungssystem gemeinhin unangefochten als Bastionen und Repräsentationen der Natur verstanden, kulturell determinierte und somit unfeste Relationen sind,26 „da auch die Natur immer schon kulturell ist“27 und es keine Form der Wahrnehmung der Strukturen menschlicher Existenz gibt, „die nicht durch Kultur vermittelt ist“28. Jenseits der Dichotomie von Kultur und Natur, die mittlerweile als überholt erscheint und dementsprechend für eine Definition von Kultur ex negativo untauglich geworden ist,29 hatte der britische Soziologe RAYMOND WILLIAMS, neben RICHARD HOGGART und EDWARD P. THOMPSON einer der Begründer der cultural studies, bereits 1958 insgesamt vier klassische Definitionsmöglichkeiten des Begriffs aufgestellt:30 Kultur kann demzufolge eine individuelle Geisteshaltung meinen; es kann den Zustand der intellektuellen Entwicklung einer ganzen Gesellschaft bezeichnen; Kultur kann als Summe der Künste verstanden werden; schließlich umfaßt der Begriff die Gesamtheit der Lebensweise einer Gruppe oder eines Volks.31 Diese soziologischen Definitionen des Begriffs Kultur können noch um ein semiotisches Begriffsverständnis erweitert werden, das Kultur als das Netz von Bezeichnungen begreift, das die menschliche Existenz umspannt,32 als symbolische Matrix der Gesellschaft, in der die Dialektik von Struktur und Handlung eingeschrieben und damit ablesbar ist,33 oder spezifischer als das System von Bezeichnungen, mittels dessen eine Gesellschaft kommuniziert, reproduziert, erfahren und erforscht wird.34 Bereits diese Vielzahl an denkbaren Begriffsdefinitionen verdeutlicht, daß die Idee der Kultur offensichtlich das vorrangige Thema des 20. Jahrhunderts darstellte.35 Waren die hier vorgestellten Definitionsversuche sozial26 27 28

29 30

31 32 33 34 35

Vgl. dazu vor allem BUTLER: Unbehagen, S. 15–62. EAGLETON: Kultur, S. 130; vgl. auch SEGERS/VIEHOFF: Konstruktion, S. 34. GIRARD: Heilige, S. 330; vgl. auch MÜLLER: Visualität, S. 120 Anm. 5: eine klare Abgrenzung zwischen Natur und Kultur sei allein schon deshalb äußerst schwierig, „weil es keine natura des Menschen gibt, die nicht schon – wie minimal auch immer – kulturell geprägt ist“. Vgl. SCHMIDT: Kultur, S. 120. Vgl. dazu HALL: Paradigmen, S. 17–22; WINTER: Zentralität, S. 157–167; zu einer postkolonialen Kritik an WILLIAMS’ Definitionen, die darauf hinweist, daß sein Begriff der Kultur keinen Schlüssel zur Hybridität kultureller Gemeinschaften liefert, vgl. VISWANATHAN: Williams, S. 47–66. Vgl. WILLIAMS: Gesellschaftstheorie, S. 20. Vgl. GEERTZ: Interpretation, S. 5. Vgl. GEERTZ: Beschreibung, S. 9. Vgl. WILLIAMS: Culture, S. 13. Vgl. EAGLETON: Kultur, S. 40.

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wissenschaftlich-theoretischer Provenienz zumeist noch um die Herausarbeitung einer gewissen Trennschärfe im Verhältnis zu anderen Begriffen wie „Gesellschaft“ oder „Lebenswelt“ bemüht, so ist der Begriff im populären Diskurs der Gegenwart durch eine kaum zu überbietende Ubiquität und Vagheit gekennzeichnet. Die „Pluralisierung des Begriffs ‚Kultur‘“36 hat dazu geführt, daß es mittlerweile „eine Kultur der Photographie, eine Kultur des Schießens, eine Dienstleistungskultur, eine Museumskultur, eine Taubstummenkultur, eine Fußballkultur, [...] die Kultur der Abhängigkeit, die Kultur des Schmerzes, die Kultur der Amnesie und so fort“37 gibt: War das Wort ‚Kultur‘ einst ein zu vergeistigter Begriff, so hat es jetzt die Schwammigkeit eines Ausdrucks, der praktisch alles umfaßt. Gleichzeitig ist es überspezialisiert geworden, indem es die Fragmentierung des modernen Lebens sklavisch widerspiegelt, anstatt sie gemäß einem klassischeren Begriff von Kultur nach Kräften zu beheben.38

Der Schluß liegt mithin nahe, daß der Begriff Kultur gleichzeitig zu weit gefaßt und zu eng ist, um für die Beschreibung und Analyse gesellschaftlicher Prozesse besonders nützlich zu sein. Anthropologisch verstanden deckt er die Gesamtheit menschlicher Existenz ab,39 „von der Haartracht über Trinkgewohnheiten bis zur Anrede des Vetters zweiten Grades, während er ästhetisch verstanden zwar Igor Strawinsky, aber keine Sciencefiction einschließt“40. Doch dieses Fazit gilt lediglich für die spätbürgerlich-postmoderne Gesellschaftsordnung Europas und Nordamerikas am Beginn des 21. Jahrhunderts mit ihrer oben konstatierten undifferenzierten Allgegenwart von „Kultur“ und ihren Spielarten. Für das europäische Mittelalter, wie für alle vormodernen Gesellschaften, bedeutete Kultur ein durchgängiges, beherrschendes Medium der symbolischen Sinnordnung.41 Nichtsdestoweniger bleibt die Schwierigkeit der definitorischen Abgrenzung bestehen, letzten Endes läßt sie sich auch nicht auflösen. Dementsprechend kann man den Begriff Kultur lediglich „ungefähr zusammenfassen als jenen Komplex von Werten, Sitten und Gebräuchen, Überzeugungen und Praktiken, die die Lebensweise einer bestimmten Gruppe ausmachen“42. Kultur umfaßt also die Gesamtheit der Praktiken und Repräsentationen, 36 37 38 39 40 41 42

EAGLETON: Kultur, S. 25. HARTMAN: Schweigen, S. 45. EAGLETON: Kultur, S. 55. Vgl. dazu HALL: Paradigmen, S. 28: „Lévi-Strauss arbeitete konsequent mit dem Ausdruck ‚Kultur‘. Er betrachtete ‚Ideologien‘ als weit weniger wichtig: als bloß ‚sekundäre Rationalisierungen‘.“ EAGLETON: Kultur, S. 48. Vgl. EAGLETON: Kultur, S. 45. EAGLETON: Kultur, S. 51; vgl. auch WAGNER: Fest-Stellungen, S. 47; HÖRNING: Kollisionen, S. 85.

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durch welche eine Gruppe ihre Realität(en) in einem „System symbolischer Ordnungen“43 konstruiert und behauptet,44 sie ist also sowohl eine Praxis der Sinnstiftung wie der Machtausübung, die vorrangig kommunikativ45 und materiell konkretisiert wird, oder in den Worten des nordamerikanischen Medientheoretikers JOHN FISKE: I understand culture [...] to encompass the struggle to control and contribute to the social circulation and uses of meanings, knowledges, pleasures and values. Culture always has both sense-making and power-bearing functions [...]. Any social system (that which is material and historically specific) needs a system of meanings and values (that is culture) to hold it in place or to help motivate it to change. [...] Material conditions are inescapably saturated with culture and, equally, cultural conditions are inescapably experienced as material46.

Mithin ist Kultur das Differenzierende, an dem man die Grenze zwischen einer Gemeinschaft und einer anderen erkennen kann,47 eine Grenze, die aufgrund der performativen Natur differentieller Identitäten selbst nichts überzeitlich Feststehendes ist: kulturelle Differenz ist „weder Eines noch das Andere, sondern etwas anderes daneben, da-zwischen“48. Ein weiteres Konstitutivum von Kultur ist somit ihre inhärente Kollektivität, Kultur kann niemals ein individuelles Phänomen sein, sie ist vielmehr „always a collective phenomenon, because it is at least partly shared with people who live or lived within the same social environment, which is where it was learned“49. Dieses „collective programming of the mind“50 unterscheidet die Mitglieder einer Gruppe oder Gemeinschaft von Menschen von anderen. Zugleich entstehen Gemeinschaften erst durch die Performanz kultureller Überlieferung, sie sind ebenfalls keine festen, unverrückbaren Orte, sondern Praktiken kollektiver Identifikation, deren variable Anordnung weitgehend die Kultur eines jeden tatsächlichen sozialen Gebildes definiert:51

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SEGERS/VIEHOFF: Konstruktion, S. 33. Vgl. SEGERS/VIEHOFF: Konstruktion, S. 33; FROW: Studies, S. 3. Vgl. SEGERS/VIEHOFF: Konstruktion, S. 9: „Kultur ist ein ‚Programm‘ von Werten, Normen und Verhaltensweisen [...]. Dieses Programm wird in einer Gesellschaft tradiert und als ‚Kultur‘ sozial in Geltung gehalten, um die maßgeblichen Ziele dieser bestimmten Gesellschaft im Zusammenleben ihrer Mitglieder – in einem bestimmten Zeitraum unter bestimmten geopolitischen, mentalitätsgeschichtlichen, zivilisatorischen, unter ‚lebensweltlichen‘ [...] Orientierungen – zu sichern. Kultur in diesem Sinne ist nicht nur auf Kommunikation angewiesen: Kommunikation ist die Ausdrucksform von Kultur.“ FISKE: Power, S. 13. Vgl. GIESEN: Europa, S. 131; WAGNER: Fest-Stellungen, S. 48. BHABHA: Verortung, S. 327. HOFSTEDE: Cultures, S. 5. HOFSTEDE: Cultures, S. 5. Vgl. GIESEN: Europa, S. 134; MULHERN: 2000, S. 86.

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Die Bedingungen kultureller Bindung, gleichgültig ob diese nun antagonistisch oder integrativ sind, ergeben sich performativ. Die Repräsentation von Differenz darf nicht vorschnell als Widerspiegelung vor-gegebener ethnischer oder kultureller Merkmale gelesen werden, die in der Tradition festgeschrieben sind.52

Daraus ergibt sich also, daß Kultur ein „Programm“53 darstellt, das beständig neu geschrieben wird.54 Kultur ist erlernbar und nicht angeboren, sie ist relativ und nicht absolut, sie ist konstruktiv und nicht ontologisch, sie ist ganzheitlich und nicht einseitig rational oder emotional. Die lebensweltlichen Dimensionen, die dieses Programm beeinflußt, ergeben sich aus dem geographischen Lebensmittelpunkt der betroffenen Gemeinschaft („nationale Dimension“), aus ihrem genetischen Lebenszusammenhang („ethnische, religiöse und sprachliche Dimension“) sowie aus ihrem sozialen Zusammenleben und dessen Traditionen („geschlechts- und rollenspezifische Dimension“). Daher hat jede Gesellschaft „nur bestimmte Möglichkeiten zur Verfügung, um Wissen über die Wirklichkeit zu erlangen. Diese richten sich nach den Formen, in denen sich die Gesellschaft selbst organisiert und versteht“55. Die Performativität aller Kultur bedeutet letzten Endes zugleich, daß die „kulturelle Identität“ einer Gemeinschaft ebenso unfest ist wie Kultur an sich. Sie bildet lediglich eine sich allein durch Praxis stets erneuernde, mitlaufende Bestätigung jeder bedeutungstragenden Handlung dafür, daß die Rückversicherung auf die Kultur dieser Gruppe oder Gesellschaft weiterhin besteht und handlungsorientierend wirkt.56 2. Romantische Träume von Ganzheit Weil der hier zugrundegelegte Kulturbegriff dem Mittelalter als historischer Epoche mit einem hohen Grad an sozialer und kultureller Alterität gerecht werden muß, operiert diese Arbeit in Anlehnung an PETER DINZELBACHER und OTTO GERHARD OEXLE also mit einem denkbar weit verstandenen Kulturbegriff:57 Kultur ist „die Summe der materiellen und geistigen Hervorbringungen einer Gesellschaft während einer bestimmten 52

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BHABHA: Verortung, S. 3; vgl. auch BRONFEN/MARIUS: Kulturen, S. 11: „Kultur muß als Ort des Widerstreits zwischen Repräsentationen von Welt, Subjekt, Geschichte usw. verstanden werden. Politische und kollektive Subjekte sind keine vorgefundenen Gegebenheiten, sondern diskursive Ereignisse.“ Vgl. zu den Implikationen dieses Terminus SCHMIDT: Kultur, S. 122–124. Vgl. zum folgenden SEGERS/VIEHOFF: Konstruktion, S. 34f.; GIESEN: Europa, S. 134f. MERGEL/WELSKOPP: Geschichtswissenschaft, S. 23. Vgl. SEGERS/VIEHOFF: Konstruktion, S. 10. Vgl. dazu SOKOLL: Kulturanthropologie, S. 238. Bereits BUMKE: Kultur, Bd. 1, S. 29–32, hat diesen Kulturbegriff für seine Untersuchung implizit vorausgesetzt.

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Periode ihrer Geschichte“58, oder einfach „die Gesamtheit der Hervorbringungen des Menschen auf allen Gebieten des Lebens“59. Deshalb wird der Transfer kultureller Hervorbringungen des Judentums in christliche Literatur in Form von ganzen Stoffkomplexen, einzelnen Motiven, Bildern und Aussagehaltungen untersucht. Damit wendet sich diese Studie gleichzeitig gegen eine nachgerade klassisch gewordene, bis heute breit rezipierte Vorstellung der kulturellen Realität des Mittelalters, die NOVALIS (1772–1801) in seinem 1799 entstandenen Essay ‚Die Christenheit oder Europa‘ beschreibt: Es waren schöne glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches Land war, wo eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte; ein großes gemeinschaftliches Interesse verband die entlegensten Provinzen dieses weiten geistlichen Reichs.60

Das europäische Mittelalter erscheint hier im Lichte einer alle und alles beherrschenden und umfassenden, monolithischen Kultur des westlichen Christentums, die, vollständig autark und autoreferentiell, den geographischen Raum Europa geeinigt und geprägt hat. In dieser Vorstellung schlägt sich ein romantisch-verklärter Kulturbegriff nieder,61 den NOVALIS mit den meisten deutschen Intellektuellen seiner Zeit teilte und der dementsprechend auch konstitutiven Einfluß auf die wenige Jahre später begründete akademische Germanistik hatte.62 Der Begriff postuliert, daß es sich bei allen genuinen Kulturen um statische, ortsgebundene, in sich geschlossene, ursprüngliche Sinnwelten handelt, die gegenüber allen materiellen und immateriellen, realen und symbolischen Kräften und Machtverhältnissen autonom sind.63 In der deutschen Philosophiegeschichte findet sich diese Vorstellung mit besonderem Nachdruck sowie einer überaus langanhaltenden Nachwirkung bei JOHANN GOTTFRIED HERDER (1744– 1803),64 der als erster den Begriff der Kultur im Sinne „einer Identitätskultur gebrauchte: einer soziablen, volkstümlichen und traditionellen Le58 59 60 61

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DINZELBACHER: Volkskultur, S. 2. OEXLE: Geschichte, S. 25. NOVALIS: Christenheit, S. 327; vgl. die Anlehnung an diese Formulierung bei FUHRMANN: Bildung, S. 55: „Einst, bis zur Aufklärung, regierte in Europa der Ordo christianus“. Vgl. dagegen die durchweg positive Interpretation des Essays bei FABER: Messianismus, S. 277–287: seiner Ansicht nach dürfe man „Novalis eben nie wörtlich nehmen, jedenfalls nicht in religionibus bzw. christianis“ (S. 286), die den Essay einleitende Mittelalter-Legende sei „alles andere als naiv; sie ist tief ironisch“ (S. 279). Vgl. gegen solche Formen der Interpretation KALLSCHEUER: Epochenbruch, S. 83–94. Vgl. dazu BAUM: Wende, S. 221–240. Vgl. gegen diese Vorstellung ASSMANN: Gedächtnis, S. 132: „ Den ‚Sozialkörper‘ gibt es nicht im Sinne sichtbarer, greifbarer Wirklichkeit. Er ist eine Metapher, eine imaginäre Größe, ein soziales Konstrukt“; vgl. auch STRAUB: Identität, S. 97f. u. 103f.; KRECKEL: Integration, S. 14. Vgl. dazu grundsätzlich GELLNER: Nationalismus.

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bensweise, die alles durchdringt und den Menschen sich in ihr verwurzelt oder beheimatet fühlen läßt“65. Das Antonym zu Kultur bildet in seinem Denken das französische civilisation, das etwas Abstraktes, Entfremdetes, Fragmentarisches, Mechanistisches und Utilitaristisches beschreibt, während Kultur als ganzheitlich, organisch, sinnlich, eingedenkend und ihr Ziel in sich tragend erscheint.66 Kultur wird bei HERDER – und vor allem bei seinen zahlreichen Epigonen in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts – reduziert zu etwas Stammesmäßigem, „sie ist eine Wirklichkeit, die auf einer ganz anderen, vitaleren Ebene als der des Geistes gelebt wird und damit der rationalen Kritik verschlossen ist“67. Anstatt sich der grundsätzlichen Hybridität von Kultur zu stellen, wird diese negiert und somit resultiert der „Mythos des historischen Ursprungs – ethnische Reinheit, kultureller Erstanspruch – [...] in der ‚Normalisierung‘ der multiplen Überzeugungen und gespaltenen Subjekte“68. HERDERs Kulturidee überträgt also ursprüngliche Bindungen auf moderne Komplexitäten. In dem Maße, wie die vormoderne ‚Nation‘ dem modernen Nationalstaat weicht, kann die Struktur traditioneller Rollen die Gesellschaft nicht mehr zusammenhalten, und als deren einheitsstiftendes Grundprinzip springt die Kultur im Sinne einer Gemeinsamkeit der Sprache, des Erbes, des Bildungssystems, der Werte und dergleichen ein.69

Doch auch den vermeintlich ursprünglichen Bindungen, die HERDER wie NOVALIS in der Vorzeit des deutschen Mittelalters verwirklicht sah, wird diese Vorstellung von Kultur nicht gerecht. Zum einen haben auch die kulturellen Bindungen und Gemeinschaften vormoderner Gesellschaften so wenig mit „Ursprünglichkeit“ zu tun wie die beinahe zahllos diversifizierten Kulturen der Postmoderne. Zum anderen stellt sich die Idee eines bruchlos christlich dominierten mittelalterlichen Europas bei näherem Hinsehen selbst als Wunschbild heraus. Nachdem im Verlauf des 11. bis 15. Jahrhunderts konkurrierende Majoritätskulturen, z.B. der Islam auf Sizilien und der iberischen Halbinsel oder die polytheistischen Kulturen Nordosteuropas, zum größeren Teil durch die christliche Kultur verdrängt worden waren, die Einwohner des christlichen Europa mithin zunehmend die Überzeugung gewonnen hatten, „sie selbst bewohnten einen Teil der Welt namens ‚Christenheit‘“70, verschwanden trotzdem nicht alle anderen, nichtchristlichen Kulturen aus Europa. Sie existierten weiter, sei es geo65 66 67 68 69 70

HARTMAN: Schweigen, S. 228. Vgl. zu dieser Dichotomie und ihrer vielgestaltigen Rezeption BOLLENBECK: ‚Kultur‘, S. 289–303. EAGLETON: Kultur, S. 22. BHABHA: Verortung, S. 109. EAGLETON: Kultur, S. 40. BARTLETT: Geburt, S. 472.

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graphisch marginalisiert in Form des immer mehr an Raum verlierenden Islam, sei es aber auch mitten unter der christlichen Mehrheitskultur in Form der zahlreichen, von der offiziellen Kirchenlehre als häretisch gebrandmarkten und verfolgten Glaubensbewegungen der Bogomilen, Waldenser, Katharer, Beginen,71 oder eben in Form der weit verstreuten jüdischen Gemeinden. Daher bezeichnet RAIMON PANIKKAR das Mittelalter als den „Nexus, der uns mit fast allen übrigen Kulturen verbindet, das verlorene Bindeglied zwischen der Moderne und dem Rest der Kulturen, die es auf der Erde gibt“72. Als absoluter Begriff oder gar als Wert an sich verstanden war das „christliche Abendland“ selbst in den Jahrhunderten der größten päpstlichen Machtfülle eine Chimäre,73 gehörte Europa vielmehr zu den “hybrid places where heterogeneous cultures mingle, compete, coexist“74. Und so gilt meines Erachtens auch für das europäische Mittelalter EDWARD SAIDs postkoloniales Diktum, daß alle Kulturen miteinander verwoben sind, „keine ist vereinzelt und rein, alle sind hybrid, heterogen, hochdifferenziert und nicht monolithisch“75. Die Anwendung der Ergebnisse der zwei führenden Theoretiker des Postkolonialismus, neben SAID noch der bereits erwähnte HOMI BHABHA, auf mediävistische Fragestellungen muß zwangsläufig Skepsis, ja Ablehnung hervorrufen. Doch das Argument, daß weder BHABHA noch SAID „irgend etwas vom Mittelalter verstanden haben und somit auch keine sinnvollen Aussagen darüber zu fällen vermochten“76 führt die eigene Kritik in die Aporie, denn es sollen ja nicht die beiden Genannten mediävistisch forschen, sondern ihre Thesen zu Trägern und Verortung von Kultur auf mediävistische Fragen angewandt werden. Mit den Theorien des Postkolonialismus läßt sich nämlich nicht allein der neuzeitliche kulturelle Gegensatz von Orient und Okzident, von Erster und Dritter Welt beschreiben, sondern ganz generell auch die Spannung zwischen ei71 72 73 74

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Vgl. dazu generell z.B. LAMBERT: Häresie; FAUTH/MÜLLER (Hrsg.): Devianz; ERBSTÖSSER: Ketzer; sowie zu weiteren Studien den Forschungsüberblick bei OHST: Gestalten, S. 156–168. PANIKKAR: Mensch, S. 604. Diese Einschätzung halte ich auch gegen grundsätzliche Einwände aufrecht, wie sie z.B. KARL JASPERS in dem apodiktischen Urteil: „Wir Abendländer alle sind Christen“ zusammengefaßt hat, vgl. JASPERS: Glaube, S. 52; vgl. auch BIRNBAUM: Sprache, S. 151. COHEN: Midcolonial, S. 1; vgl. auch FABER/GOODMAN-THAU/MACHO: Vorwort, S. 9: „Selbst wenn die jüdische Kultur an sich hochgeachtet wird, bleibt nicht ausgeschlossen, daß sie als bloße Fremdkultur verstanden und ihr konstitutiver Beitrag zur eigenen: der christlich-europäischen Kultur beachtlich unterschätzt wird. Das ‚Abendland‘ ist aber – nicht zuletzt seiner Eschatologie wegen – wesentlich (auch) jüdisch.“ SAID: Kultur, S. 30; vgl. auch FUHRMANN: Bildung, S. 10: „Europa [...] hat sich von Anfang an auf eine Kultur eingelassen, die nicht homogen, nicht in sich stimmig und nicht aus einem Guss war.“ CLASSEN: Rez. COHEN (Hrsg.): Middle Ages, S. 228.

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ner homogen und einer heterogen ausgerichteten Kultur bzw. zwischen zwei nach Homogenität strebenden Kulturen. Der Begriff der Kultur wird dadurch von einem rein historischen und philosophischen Text um eine konfrontative Note erweitert und zum Schauplatz eines politischen Konflikts:77 „Weit davon entfernt, das friedliche Reich apollinischen Edelmuts zu sein, kann Kultur bisweilen geradezu ein Schlachtfeld sein.“78 Postkoloniales Denken, adaptiert für die Epoche des europäischen Mittelalters, fordert demnach grundsätzlich dazu auf, das Theorem der Dominanz des Christentums zu dekonstruieren, die zentrale Rolle Westeuropas zu hinterfragen und die – tatsächlichen und vermeintlichen – Randvölker und deren Kulturen stärker in den Blick zu nehmen.79 Die Praktikabilität einer solchen Adaptation wird zudem durch eine strukturelle Übereinstimmung zwischen dem europäischen Mittelalter und der europäischen Postmoderne gestützt, denn vormoderne und postmoderne Ordnung treffen sich darin, daß Kultur für beide, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen, eine beherrschende Ebene des sozialen Lebens ist. Wenn Kultur in traditionellen Gesellschaften so stark hervorsticht, dann, weil sie hier keine ‚Ebene‘ ist, sondern ein durchgängiges Medium, in dem andere Arten der Betätigung vor sich gehen. Politik, Sexualität und wirtschaftliche Produktion sind bis zu einem gewissen Grad noch in einer symbolischen Sinnordnung befangen.80

Diese Arbeit versteht sich also durchaus als ein Versuch, die „Postkolonialität des Mittelalters“ in der Verschränkung jüdischer und christlicher Kultur am Beispiel ihres – nachweisbaren, möglichen und verhinderten – literarischen Austauschs deutlich werden zu lassen,81 allerdings ohne ihrerseits die vereinfachende Modellierung von Alterität nach vorgegebenen Maßstäben zu repetieren, die berechtigterweise als Kritik des Umgangs postkolonialer Theorie mit literarischen Texten aufgezeigt worden ist.82

77 78 79 80 81 82

Vgl. EAGLETON: Kultur, S. 31. SAID: Kultur, S. 16; vgl. auch BRONFEN/MARIUS: Kulturen, S. 11. Vgl. dazu COHEN: Midcolonial, S. 6f.; vgl. auch BRONFEN/MARIUS: Kulturen, S. 17: „Die Theorie kultureller Hybridität wendet sich entschieden gegen Vorstellungen einer autochthonen und homogenen nationalen Kultur.“ EAGLETON: Kultur, S. 45. Zu weiteren Versuchen dieser Art vgl. u.a. CONKLIN AKBARI: East, S. 19–34; GANIM: Studies, S. 123–134; HENG: Romance, S. 135–171; TOMASCH: Chaucer, S. 243–260; DAVIS: Writing, S. 611–637. Zu dieser Kritik und einem gleichzeitigen Plädoyer für eine „dynamische“ Lektüre literarischer Werke auf der Basis des postkolonialen Diskurses vgl. LUBRICH: Text, S. 16–39.

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3. Die Postkolonialität des Mittelalters „Konzepte wie homogene nationale Kulturen, die auf Konsens beruhende und nahtlose Übermittlung historischer Traditionen oder ‚organisch‘ gewachsene ethnische Gemeinschaften“83 werden somit – als Basis kulturellen Vergleichs – bereits seit einiger Zeit grundlegend neu definiert und bewertet. Trotz einer vor diesem Hintergrund auch in der mediävistischen Forschung zunehmenden Kritik am Theorem eines homogen christlichen mittelalterlichen Europa hält sich nichtsdestoweniger auch in wissenschaftlichen Standardwerken neueren Datums, die umfassend zu geistesoder sozialgeschichtlichen Phänomenen der Epoche Mittelalter informieren wollen, die Vorstellung von einer blockähnlichen christlichen Kultur Europas: Nichtchristliche Kulturen kommen, wenn sie überhaupt Erwähnung finden, häufig nur als exotische Randerscheinung vor, Fragen nach Möglichkeiten und Hinweisen auf Transfer und Interaktion zwischen den Trägern der Majoritätskultur und der Minoritätskulturen werden zumeist gänzlich ausgeblendet.84 Daß aber zum Beispiel die hebräischsprachige Literatur der europäischen Juden oder die Reste ihrer mittelalterlichen Sakralarchitektur ebenso Teil des kulturellen Erbes Europas sind wie die zeitgleich entstandene lateinische Literatur oder die gotischen Kathedralen, wird in den meisten übergreifenden Untersuchungen zur Kultur des europäischen Mittelalters ausgeblendet.85 Die Gründe für diesen blinden Fleck der Kulturgeschichtsschreibung des Mittelalters sind vielgestaltig: neben einer bewußten oder unbewußten Tradierung des monolithischen Kultur-

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BHABHA: Verortung, S. 7. Vgl. z.B. RUH: Geschichte; FLASCH: Einführung; FUHRMANN: Einladung; BERTAU: Literatur; anders, aber ebenso problematisch, jetzt BERTAU: Schrift, zur Kritik daran vgl. unten. Der in dieser Reihe erstgenannte Forscher würdigt lediglich ein einzelnes, wenngleich sehr einflußreiches Werk des Maimonides als neuplatonische Quellenschrift, blendet hingegen parallele – oder womöglich aufeinander bezogene – Entwicklungen innerhalb der jüdischen und christlichen Mystik des mittelalterlichen Zentraleuropa gänzlich aus, vgl. RUH: Geschichte, Bd. 3, S. 45–56; RUH: Quellen, S. 340–350; vgl. dagegen den Exkurs über das jüdische philosophische Denken im hochmittelalterlichen Deutschland bei STURLESE: Philosophie, S. 264–276, oder das Kapitel über jüdische Anregungen der mittelalterlichen Philosophie bei FLASCH: Denken, S. 290–298. Die umgekehrte Form dieses Vorgehens, sozusagen die Eingemeindung der Minoritäts- in die Majoritätskultur unter Absehung von jeglichen trennenden oder differierenden Aspekten, liegt z.B. dann vor, wenn in einem „Religiöse Erfahrung. Historische Modelle in christlicher Tradition“ betitelten Sammelband ein Aufsatz zu Maimonides erscheint, vgl. WIELAND: Prophetie, S. 155–169. Für den architekturgeschichtlichen Bereich sei hier bloß auf die noch heute bestehende, 1034 höchstwahrscheinlich von Bauleuten der Dombauhütte errichtete Synagoge in Worms hingewiesen, vgl. BATTENBERG: Zeitalter, Bd. 1, S. 58. Zur gemeinsamen Baugeschichte von Dom, Synagoge und Mikwe in Speyer vgl. KORN: Erinnerung, S. 87–89.

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begriffs der Romantik86 oder einer Verabsolutierung der Dichotomie von Mehrheits- und Minderheitskultur spielt sicherlich auch die Befürchtung der jeweiligen Fachleute eine Rolle, die Erkenntnisse eines an sich fremden Wissenschaftsgebiets nicht adäquat rezipieren und verwenden zu können. So berechtigt diese Befürchtungen im einzelnen auch sein mögen, sie entbinden letztlich nicht von der wissenschaftlichen Verpflichtung, sich auch diesem Bereich der Kulturgeschichte des Mittelalters zu stellen, weil die Epoche nur so adäquater und vollständiger betrachtet – und verstanden – werden kann. Zudem hat sich unter den Schlagworten „Interdisziplinarität“ und „historische Kulturwissenschaft“ in den vergangenen Jahrzehnten auch in den mediävistischen Fächern die Einsicht durchgesetzt, daß keines allein ohne die anderen betrieben werden kann.87 Die Existenz einer germanistischen Mediävistik ohne Einbeziehung der romanistischen oder latinistischen Schwesterfächer, wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts durchaus noch die Regel darstellte, ist mittlerweile ebenso kaum mehr denkbar wie eine mediävistische Geschichtswissenschaft, die die Ergebnisse der Literatur- oder Kunstgeschichte des Mittelalters ignoriert, obwohl nach WERNER PARAVICINI selbst hier noch zahlreiche Berührungsängste zwischen den einzelnen Disziplinen vorhanden sind: Schwer fällt der Brückenschlag zwischen Literatur und Kunst einerseits und politischer, sozialer, wirtschaftlicher Geschichte andererseits, obwohl Geschichte, Philologie und Kunstgeschichte doch nur Geschwister sind, die sich ein wenig aus den Augen verloren haben.88

Daher beschränkt sich der interdisziplinäre, historisch-kulturwissenschaftliche Blick oft genug auf die christlich determinierte Kultur des Abendlands,89 andere Kulturen fallen gemeinhin unter die oben aufgestellte Regel 86

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So noch stillschweigend bei GIESEN: Europa, S. 137, und in erster Linie bei ANDERSON: Communities; zur Kritik an letzterem vgl. COHEN: Midcolonial, S. 4 u. 7; BIDDICK: ABC, S. 291 Anm. 2; DAVIS: Writing, S. 611–637. Vielschichtiger gestaltet sich das Problem bei FUHRMANN: Bildung, der zwar durchaus zugesteht, daß das frühmittelalterliche Europa aus der Spätantike eine hybride Kultur aus griechisch-römischen und jüdisch-christlichen Elementen übernommen hat (S. 10). Im weiteren Verlauf seiner Argumentation erscheint diese Kulturüberlieferung aber wiederum als homogener, den Kontinent vom 8. bis ins 19. Jahrhundert nach innen einigender und nach außen abschirmender Monodiskurs (S. 13–31), der erst durch den – vermeintlichen – Kulturverfall des 20. Jahrhunderts untergegangen sei (S. 32). Der Klage über diesen Untergang ist sodann ein Großteil des Restes des schmalen Bands gewidmet (S. 55–110), indem Schlagworte wie „Erlebnisgesellschaft“ (S. 57) oder „Neuheidentum“ (S. 106) zu einer konservativ gewendeten, lamentierenden laudatio temporis acti benutzt werden. Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung um diese Schlagworte z.B. SCHNEIDER: Mittelalterforschung, S. 149–155. PARAVICINI: Geschichtswissenschaft, S. 10. Ein solches Vorgehen untermauert die Ansicht, das Christentum sei für das Mittelalter als die unmarkierte Religion anzusehen, daß im Diskurs über diese Epoche „‚religion‘ trans-

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des blinden Flecks. Von dieser Regel lassen sich seit Bestehen einer wissenschaftlich-akademischen Altgermanistik nur wenige Fälle ausnehmen, die zudem in ihrer Mehrzahl nicht zu einer programmatischen Neubewertung des Verhältnisses von Majoritäts- und Minoritätskultur geführt haben, sondern vielmehr Einzelbeobachtungen geblieben sind.90 Die Kulturen – und die Relationen der Kulturen – des Mittelalters entziehen sich meines Erachtens jedoch der historischen Beschreibung und Analyse, wenn ihre Hervorbringungen nicht in einer Wechselbeziehung untereinander, sondern isoliert voneinander verstanden werden, „wie es in den einzelnen Wissensgebieten, die sich aus der vorläufigen Gruppierung des Materials im 19. Jahrhundert entwickelt haben, gelegentlich geschehen ist“91. Diese Studie versucht somit auch eine grundsätzliche Forderung einzulösen, die JACQUES LEGOFF an die historisch arbeitenden Wissenschaften gestellt hat: abolir les barrières universitaires entre l’histoire ‚pure‘ (c’est-à-dire mutilée), l’histoire de la littérature (et de la langue ou plutôt des langues), l’histoire de l’art (et des images). Il ne faudrait pas oublier d’intégrer aussi à l’histoire, sans méconnaître leur spécificité, l’histoire du droit, l’histoire des sciences et des techniques. Partout on verrait la place de l’imaginaire.92

Der jüdisch-christliche Kulturtransfer im deutschen Hoch- und Spätmittelalter wird am Beispiel der christlichen Rezeption jüdischer Stoffe und Motive als eine kulturelle Praxis interpretiert, die sich vornehmlich in den untersuchten Texten ausdrückt. Dabei geht es nicht um die Konstruktion einer linearen und kontinuierlichen (Kultur-)Geschichte, sondern um das Aufzeigen einzelner Spuren, singulärer Momente und Augenblicke, an denen der jüdisch-christliche Kulturkontakt paradigmatisch erkenn- und sichtbar wird.93 Jede dieser Spuren bildet – im Sinne von WALTER BENJAMINs Begriff der Geschichtsschreibung94 – ein dialektisches Bild, in dem das Vergangene gleichsam momentan und schlaglichtartig aufblitzt. Zusammengenommen ergeben sie ein historisches Kaleidoskop, ein Mosaik christlicher Auseinandersetzung mit den Traditionen der jüdischen Kultur im deutschen Mittelalter und liefern damit einen Baustein einer mediävistischen Kulturwissenschaft, die HANS-WERNER GOETZ als „breit konzipierte Erforschung menschlicher Existenz, menschlichen Lebens, Denkens und Fühlens, der

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parently means ‚Christianity‘“ (COHEN: Midcolonial, S. 17 Anm. 24); vgl. dazu KRUGER: Conversion, S. 158f. Vgl. dazu ausführlicher unten „A.II. Inhaltliche Vorarbeiten“. WUTTKE: Kulturwissenschaft, S. 28. LEGOFF: L’imaginaire, S. XVIIIf. Vgl. zu diesem Konzept auch GILMAN/ZIPES: Introduction, S. xvii–xxxiv. Vgl. BENJAMIN: Begriff, S. 691–704.

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Sprachlichkeit und Verständigung im Mittelalter, des sozialen Umgangs miteinander, in all seiner – ‚multikulturellen‘ – Differenzierung“95 beschreibt. 4. Geschichtsschreibung als Archäologie des Marginalisierten Einen weiteren hermeneutischen Horizont dieser Untersuchung beschreibt also WALTER BENJAMINs (1892–1940) Geschichtsphilosophie. Sie findet sich in komprimierter Form in dem kurzen Text „Über den Begriff der Geschichte“ dargelegt, den sogenannten „Geschichtsphilosophischen Thesen“, der letzten vor seinem Selbstmord auf der Flucht vor den Nationalsozialisten verfaßten Arbeit.96 Unter den philosophischen Geschichtstheorien des 20. Jahrhunderts können BENJAMINs Thesen als der deutlichste Gegenentwurf zum Paradigma klassischer Geschichtsphilosophie gelten. Gegen die Idee einer gesetzmäßig verlaufenden, gerichteten historischen Entwicklung, die auf einem ersten, affirmativen Grund – einem Keim, einem Mythos, einer Ätiologie, einer Teleologie der Natur oder der Vernunft – aufbaut und alles Geschehen auf ein erfüllendes Ziel hin ausrichtet, formuliert BENJAMIN die dezidierte Absage sowohl an metaphysisches oder mythisches Ursprungsdenken wie an geschichtsphilosophische Zielvorstellungen. Gegen die Geschlossenheit solcher Konzepte soll historisches Denken die radikale Offenheit der Geschichte behaupten. Dem Plädoyer für das Neue und Nichtantizipierbare gegenüber der Herrschaft des Gewesenen entspricht auf der Gegenseite, daß auch der Anfang nicht als ein mit sich Identisches, Festgelegtes gedacht ist, der in ursprünglicher Fülle das Kommende in sich enthält, sondern selber als ein Offenes, dessen Fortschreibung und Ergänzung in ihm festgeschrieben ist. Im Untergrund der traditionellen Geschichtsbilder dominiert für BENJAMIN die Vorstellung der naturalen Zeit, also die Idee der Kontinuität, des linearen, unerbittlichen Fortschreitens und der ununterbrochenen Verknüpfung und Sedimentierung. Gegen diese Idee muß Geschichte gedacht werden, erst im Aufsprengen des Kontinuums wird der wahre Zusammenhang des Geschichtlichen zugleich sichtbar und gestiftet. Geschichte „gegen den Strich zu bürsten“97 bedeutet zunächst, den historischen Zusammenhang nicht daran festzumachen, worin traditionelle Geschichtsschreibung das eigentlich Überlieferungs- und Erinnerungswürdige sieht – an den großen Ereignissen, den mächtigen Individuen und 95 96 97

GOETZ: Kulturwissenschaft, S. 9. Vgl. BENJAMIN: Begriff, S. 691–704; vgl. zum folgenden auch ANGEHRN: Unabgeschlossenheit, S. 46–53. BENJAMIN: Begriff, S. 697.

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ihren Taten. Über sie wird ein ideologisch vereinseitigtes Bild der Geschichte vermittelt, kein Einblick in das gewährt, was das Leben der Menschen wirklich bestimmt, denn if we construe the historical in terms of the contingent and political formations in question, then we restrict the very meaning of the historical to a form of positivism. That the frame of intelligibility has its own historicity requires not only that we rethink the frame as historical, but that we rethink the meaning of history beyond both positivism and teleology98.

Nicht im Großen, sondern im scheinbar Bedeutungslosen und Nebensächlichen, im Marginalen und Marginalisierten, „in den unscheinbarsten Fixierungen des Daseins, seinen Abfällen gleichsam“99, wird hingegen das wahre Gesicht der menschlichen Verhältnisse erkennbar. Es sind also die Anekdoten, die petites histoires „im Unterschied zum grand récit einer totalisierenden, integrativen, progressiven Geschichtsschreibung, die weiß, wo sie hin will“100, aus denen der Leitfaden der Historiographie gesponnen werden soll. Der Gedanke, daß dasjenige, worauf es in der Geschichte ankommt, was in ihr das eigentlich Denkwürdige ist, nicht im Monumentalen und Dauerhaften, sondern im Kleinen, Zurückgedrängten und Verschütteten liegt, das durch Archäologie und Erinnerung gleichsam erst wieder zum Leben erweckt werden muß, wird für BENJAMIN zum zentralen Leitmotiv. Das Wesentliche eines historischen Gebildes – einer Tradition, eines Stils, einer Gesellschaft – bekommen wir nicht im äußeren Überblick, sondern einzig im Punktuellen, sozusagen in der Konkretisation eines Bildes, der Konzentration eines Augenblicks zu fassen, denn die Anekdote „stellt das wichtigste Medium zur Aufzeichnung des Unerwarteten und daher auch zur Beschreibung der Begegnung mit der Differenz dar“101. Doch Geschichte aus ihren „Abfällen“ zu rekonstruieren bedeutet nicht allein, etablierte Wertungen und landläufige Ansichten umzukehren und sich dem Geringfügigen zuzuwenden, sondern auch dasjenige aufzudecken, was durch die Macht der Geschichte – und derjenigen, die Geschichte schreiben oder schreiben lassen – zum „Abfall“ gemacht, zur Bedeutungslosigkeit reduziert wurde. Die Gegenlektüre, die erst die wahre Tiefe der Geschichte ausloten soll, ist keine bloße methodische Neuorientierung, sondern eine Stellungnahme zur unterdrückenden und ausgrenzenden Dynamik des historischen Verlaufs und seiner Verschriftlichung. Diesen soll sie erkennen lassen, indem sie zugleich das in ihm Verhüllte ins Licht rückt. Der Appell für eine andere Geschichtsschreibung ist somit auch ein Protest gegen die Geschichte selbst. 98 99 100 101

BUTLER: Universalities, S. 138. BENJAMIN: Briefe, S. 685. GREENBLATT: Besitztümer, S. 10; vgl. dazu auch FINEMAN: Fiction, S. 49–76. GREENBLATT: Besitztümer, S. 11.

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Was sich in dieser als Zusammenhalt des Vor- und Nachzeitigen etabliert und seinen – unreflektierten, verschleiernden wie verklärenden – Niederschlag in der Historiographie gefunden hat, ist die Geschichte der Herrschaft.102 Die durch Machtausübung gestiftete, scheinbar kohärente Kontinuität der Ereignisse ist nichts anderes als die zufällige Verkettung der Siege, die Stabilisierung ebenjener herrschenden Macht, die allein von sich aus die Möglichkeit hat, Spuren zu hinterlassen, Monumente zu setzen, Traditionen zu prägen – also Geschichte zu stiften.103 Historiographie, die sich diesen Momenten ihres Beschreibungsobjekts überläßt, wird zur Einfühlung in den Sieger. Sie perpetuiert die vollzogene Unterdrükkung und sanktioniert die Endgültigkeit erfahrener Ohnmacht und erlittenen Unrechts, denn jede Majorität „hat die Geschichte, die sie sich selbst zu schreiben in der Lage ist“104. Dagegen fordert BENJAMIN zu einer Geschichtsschreibung auf, die dem Kult des Großen und Ruhmvollen die Erinnerung des Kleinen und Marginalisierten entgegenstellt und damit Geschichte gegen ihre eigene Schwerkraft zu lesen sucht.105 Nicht Verherrlichung der Siege, sondern Leidenserinnerung wird zum Leitfaden historischen Bewußtseins, das nicht mehr der Monumentalisierung dessen dienen soll, was bedeutsam war und Folgen gezeitigt hat – was eine „Wirkungsgeschichte“ besitzt –, sondern der Besinnung auf das Mißlungene, das Verdrängte und das – scheinbar – spurlos Verschwundene, denn historische Ereignisse sind nicht unausweichlich und auch nicht unbedingt notwendig. Vielmehr sind sie eine Konkretisierung von Möglichkeiten, die in den Konstellationen angelegt sind. [...] Insofern muß man das Geschehene als ein mögliches Geschehen thematisieren, ohne dabei das Ungeschehene als unmögliches Geschehen auszuschließen106.

102 Vgl. zu dieser Idee auch grundsätzlich FOUCAULT: Überwachen. 103 Vgl. MERGEL/WELSKOPP: Geschichtswissenschaft, S. 34: „Was wir erforschen, ist die kommunizierte Realität, weil wir Wirklichkeit nur erfahren können, wenn sie uns mitgeteilt wird; damit ist sie ‚verformt‘, und wir können sie nur in Relationen erfahren.“ 104 MERGEL/WELSKOPP: Geschichtswissenschaft, S. 23; vgl. auch WAGNER: Fest-Stellungen, S. 69f.: „Der Verweis auf eine gemeinsame Geschichte kann die Existenz und Solidität kollektiv geteilter Glaubensordnungen deswegen nicht erklären, weil es streng genommen keine ‚gemeinsame Geschichte‘ gibt, sondern immer eine Vielzahl von Erfahrungen, deren jede sich von jeder anderen unterscheidet. Die Beschwörung von ‚gemeinsamer Geschichte‘, beispielsweise in Theorien nationaler Identität, ist eine Vorgehensweise, die immer in der jeweiligen Gegenwart vorgenommen wird – als eine spezifische Repräsentation der Vergangenheit, die diese mit Blick auf die Schaffung von Gemeinsamkeiten bearbeitet.“ 105 Vgl. BENJAMIN: Begriff, S. 696. 106 MERGEL/WELSKOPP: Geschichtswissenschaft, S. 31f.; vgl auch WAGNER: Fest-Stellungen, S. 72: „Die gegenwärtige Welt ist weder schlicht ‚da‘ noch durch die Vergangenheit vorherbestimmt; sie ist die Schöpfung aus einer Vielfalt von Möglichkeiten, die in dem gerade vergangenen Moment bestanden.“

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Mit der radikalen Veränderung des historischen Gegenstands geht eine fast ebenso radikale Veränderung der historischen Zeitperspektive einher, die sich nicht mehr wie zuvor am „Ideal der befreiten Enkel“, sondern am „Bild der geknechteten Vorfahren“ orientiert.107 Geschichte soll nicht mehr studiert und geschrieben werden, um auf der Basis ihrer Lehren die eigene Zukunft zu gestalten, sondern um – gegen alle temporale Logik – das Vergangene zurechtzurücken, die Endgültigkeit seines Festgeschriebenseins zu durchschlagen. Dabei kommt es darauf an, im erinnernden Rückblick des Geschichtsschreibers nicht beim Faktischen, beim zu Ende Geführten und zur geschichtlichen Tatsache Gewordenen Halt zu machen, sondern hinter dem Tatsächlichen das Mögliche, im Gewesenen die „unterdrückte Vergangenheit“108 zu erahnen und zu erfassen. Erkenn- und beschreibbar ist demzufolge nicht allein, was im Vergangenen Form und Gestalt angenommen hat – auch dasjenige, was in ihm angelegt war, sowie das nur bruchstückhaft Ausformulierte oder Überlieferte. Das ehemals Gesagte, aber durch Prozesse des herrschenden Sprechens Verschüttete, sowie das gar nicht erst Gesagte vor dem Vergessen zu bewahren, ist die Aufgabe historischer Erinnerung.109 Diese Erinnerung ist nun beileibe nicht nur retrospektiv oder nachgerade konservativ – für BENJAMIN eröffnet sie vielmehr die Zukunft um des Vergangenen willen und aus ihm heraus, es ist das Unerledigtsein des Gewesenen, nicht mehr das Versprechen des Kommenden wie bisher, das in die Zukunft treibt. Er nimmt WILHELM DILTHEYs (1833–1911) bekanntes Diktum: „Was wir unserer Zukunft als Zweck setzen, bedingt die Bestimmung der Bedeutung des Vergangenen“110, also sozusagen wörtlich: Stellt sich geschichtliche Einheit im Rahmen der Fortschrittsgeschichte als kumulative Verfestigung von Macht- und Herrschaftsstrukturen her, so geht es für BENJAMIN um die Aufdeckung einer Kontinuität, die ihre Kraft aus dem Appell des Marginalen bezieht, um die Sichtbarmachung jener „schwache[n] messianische[n] Kraft“111, die die Geschlechter der Unterdrückten aller Zeiten miteinander verbindet und die letzten Endes Geschichte „auf die Erlösung“112 verweist. Diese letztgenannte These ist es vor allem gewesen, die Kritiker dazu bewogen hat, BENJAMINs gesamten geschichtsphilosophischen Entwurf als theologische Unterstel-

107 Vgl. BENJAMIN: Begriff, S. 700. 108 BENJAMIN: Begriff, S. 703. 109 Vgl. in ähnlichem Sinne auch WEHRLI: Literatur, S. 18: „zur Literaturgeschichte gehört auch das Vergessene, das Nichtüberlieferte“. 110 DILTHEY: Aufbau, S. 288f. 111 BENJAMIN: Begriff, S. 693. 112 BENJAMIN: Begriff, S. 693.

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lung zu verwerfen und auf der unhintergehbaren Abgeschlossenheit des historischen Prozesses zu beharren.113 Diese Abgeschlossenheit soll hier keineswegs geleugnet werden – selbstredend ist, um ein Diktum MAX HORKHEIMERs zu bemühen, das vergangene Unrecht geschehen und beendet, sind die Erschlagenen wirklich erschlagen.114 Anknüpfen kann diese Arbeit aber an BENJAMINs Forderung nach der Sichtbarmachung des Marginalen, nach der Archäologie dessen, was vom Diskurs der Herrschaft und der Macht im historischen Prozeß unterdrückt worden ist. Die Spuren des christlich-jüdischen Kulturtransfers im Mittelalter bilden zumeist paradigmatische Beispiele ebenjener „Abfälle“, von denen BENJAMIN spricht: sie repräsentieren die Existenz der Grenze zwischen Majoritäts- und Minoritätskultur und zugleich die Überwindung dieser Grenze; sie sind entstanden am Reibepunkt zweier Kulturen, deren Verhältnis ganz grundsätzlich durch die Ausübung von Macht und Herrschaft determiniert wird; sie sind in das kulturelle Archiv der Mehrheit eingegangen, zugleich aber weitestgehend ihrer ursprünglichen kulturellen Einkleidung entledigt worden und dienen somit der weiteren Marginalisierung ihrer bereits marginalisierten Träger; sie sind Hinweise auf einen Austausch zwischen herrschender Majorität und beherrschter Minorität, den die machtausübende Mehrheit im Laufe der Niederschrift ihrer eigenen Geschichte zu tilgen, mindestens aber wiederum zu marginalisieren versuchte. 5. Wandernde Literatur Neben den zuvor eingehender dargestellten kulturtheoretischen und geschichtsphilosophischen Ansätzen bildet die dritte hermeneutische Folie dieser Untersuchung eine kritische Rezeption der Positionen der historischen Erzählforschung. Es geht dabei vorrangig um die Frage, auf welche Weise und unter welchen Bedingungen Texte, in erster Linie in der Form literarischer „Stoffe“, ihren Weg vom kulturellen Archiv einer Ausgangsgruppe in die kulturelle Überlieferung einer anderen Gemeinschaft finden. Ähnlich wie im Fall des Begriffs „Kultur“ steht man bei der Beantwortung dieser Frage schnell vor sehr grundsätzlichen Problemen, denn der Terminus „Stoff“ entzieht sich in seiner literaturwissenschaftlichen Verwendung als Kontrastbegriff zu „Form“ oder als Konkurrenzbegriff zu „Motiv“ einer eindeutigen definitorischen Festlegung. Er läßt sich im Grunde nur recht vage als eine Abfolge von Ereignissen beschreiben, die mit be113 Vgl. TIEDEMANN: Materialismus, S. 87. 114 Vgl. TIEDEMANN: Materialismus, S. 87.

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stimmten Figuren in spezifischen Situationen verwirklicht wird, jedoch weder an eine Textgattung gebunden noch den Literaturen eines Kulturraums vorbehalten ist. Die Erkenntnis, daß Stoffe und Motive in den Literaturen der Welt „wandern“ können, ist nun keineswegs neu, sie stellt vielmehr eine der ersten grundlegenden Erkenntnisse neuzeitlich-philologischer Forschung dar.115 Bereits die Gründerväter der akademischen Germanistik, allen voran JACOB (1785–1863) und WILHELM GRIMM (1786–1859), versuchten dieses Problem dadurch zu lösen, daß sie die ubiquitär in den Literaturen Europas vorhandenen Erzähl- und Handlungsmuster als Reste gemeinindogermanischer Mythen deuteten.116 Eines der einflußreichsten Ergebnisse dieser Interpretationsrichtung, der sogenannten „Erbtheorie“, stellt JACOB GRIMMs dreibändige, zuerst 1835 erschienene „Deutsche Mythologie“ dar, deren Ziel nichts weniger ist als die Rekonstruktion „einer gründlichen urgemeinschaft der europäischen völker insgemein [...], deren mächtige wirkung gleich stark in sprache, sage und religion lange zeiten hindurch gespürt wird“117. Gleichzeitig gestützt und modifiziert wurde diese These durch die wenig jüngere „Entlehnungs-“ oder „Migrationstheorie“ des Göttinger Sprachhistorikers und Orientalisten THEODOR BENFEY (1809–1881), derzufolge die überwiegende Mehrzahl aller ubiquitär auftretender literarischer Stoffe aus dem antiken Indien stamme.118 Vor allem in seiner 1859 erschienenen Ausgabe des altindischen ‚Pantschatantra‘119, einer Sammlung kleinepischer Erzählungen, untermauerte BENFEY seine Theorie dadurch, daß er die Sanskrittexte zur jeweils ältesten Überlieferungsform eines literarischen Motivs oder Stoffs erhob und ihre zahlreichen Parallelen in der europäischen Erzählliteratur zu nachgeordneten Adaptationen erklärte, die sich über eine kontinuierliche Übermittlungskette hinweg wiederum auf ihren indischen Ursprung zurückführen ließen. Obwohl das ‚Pantschatantra‘ kaum vor dem 3. vorchristlichen Jahrhundert entstand, also durchaus nicht das älteste Stück erhaltener Weltliteratur ist, wurde es nichtsdestoweniger zum wichtigsten Bezugstext für die im Anschluß an BENFEYs Forschungen sich entwickelnde vergleichende Literaturwissenschaft, da aufgrund der Fülle von Erzählgut, die es enthält, „unbedenklich auf eine weit ältere orale Tradition geschlossen“120 wurde. Eines der ersten Organe dieser Forschungsrichtung war die 1887 von dem 115 116 117 118 119 120

Vgl. zum folgenden SPIES: Stoffe, S. 5–7. Vgl. RANKE: Formen, S. 41. GRIMM: Mythologie, Bd. 1, S. VII. Vgl. dazu RANKE: Formen, S. 38. Vgl. BENFEY (Hrsg.): ‚Pantschatantra‘. RANKE: Formen, S. 38.

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Marburger Neugermanisten MAX KOCH (1855–1931) begründete „Zeitschrift für vergleichende Litteraturgeschichte“, die von 1887 bis 1910 erschien und schon nach wenigen Jahrgängen internationales Ansehen genoß. Bereits in ihrem ersten Band fanden sich Beiträge über germanische Sagenmotive im ‚Tristan‘-Roman,121 Adaptationen der Don Juan-Sage,122 Stoffwandlungen in chinesischer Dichtung123 oder armenische Varianten zu ‚Barlaam und Josaphat‘,124 deren Hauptaugenmerk darauf lag, einen geradlinigen, evolutionären Prozeß zu beschreiben, an dessen Anfang die Urquelle eines literarischen Stoffs steht, dessen Mitte eine Reihe von Tradierungsstationen des Stoffs bildet und an dessen Ende der Stoff in den nationalen Literaturen Europas ankommt. Zumeist bildete ebendieses Endprodukt des Vermittlungsprozesses – die Form, in der ein Erzählstoff zum Beispiel in einem mittelhochdeutschen Schwank des 13. Jahrhunderts vorhanden ist125 – den Ausgangspunkt für Untersuchungen dieser Art, das Ziel war dementsprechend die Aufdeckung der – zumeist indischen – Urform des Stoffs oder möglichst vieler Tradierungsstationen, um eine möglichst lücken- und bruchlose Vermittlungskette rekonstruieren zu können. Einer der eifrigsten Verfechter der BENFEYschen Ursprungshypothese war der Weimarer Erzählforscher REINHOLD KÖHLER (1830–1892), der sich in seinen zahlreichen Arbeiten zur Märchenforschung, erzählenden Dichtung des Mittelalters, Volkskunde und Wortforschung immer wieder darum bemüht, solcherlei Überlieferungsketten herzustellen.126 Dementsprechend resümiert auch der Volkskundler MOSES GASTER (1856–1939) das Ergebnis eines seiner entsprechenden Aufsätze lapidar: „it furnishes the missing Indian link, and closes the chain“127. Aus derselben Feder stammt zudem eine zeitgenössische Illustrierung der Vorgehensweise der sich auf BENFEY berufenden historischen Erzählforschung des 19. Jahrhunderts. Einen 1881 veröffentlichten Aufsatz zur vergleichenden Sagenund Märchenkunde leitet GASTER folgendermaßen ein: Mit einer kleinen Summe von Elementen operirt die Natur unbewußt, der menschliche Geist aber bewußt und freithätig und schafft die mannigfaltigsten Gebilde. Aus einer kleinen Anzahl von Stämmen, entwickelt sich mit der fortschreitenden Vernunftthätigkeit die Sprache mit ihrem reichen Schatze von Worten und Bildern; aus einer kleinen Anzahl ursprünglicher Erzählungen, entwickelt sich die unendliche Mannigfaltigkeit der Sagen und Märchen, der Erzählungen 121 122 123 124 125 126 127

SARRAZIN: Sagenmotive, S. 262–272. ENGEL: Kapitel, S. 392–406. BIEDERMANN: Stoffwandlungen, S. 295–302. WLISLOCKI: Armenisches, S. 462–469. Vgl. dazu z.B. RANKE: Bettler, S. 149–162 u. 358–364. Vgl. seine gesammelten kleineren Aufsätze in KÖHLER: Schriften. GASTER: Parallels, S. 1064; vgl. zum gleichen Vorgehen auch GASTER: ‚Nigrodha-migaJataka‘, S. 1065–1070.

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und Novellen, die trotz ihrer Verschiedenheit untereinander, den Zusammenhang mit den Urgebilden jedoch mehr oder minder deutlich erkennen lassen. Benfey zuerst hatte es in der Einleitung zu seiner Uebersetzung des indischen Fabelbuches Pantschatantra [...], unternommen, diese ganze Fülle auf einige Urformen zurückzuführen, indem er alle Entwickelungen nach den verschiedenen Seiten hin verfolgte, und ihren Zusammenhang nachwies.128

Spätestens die biologistische Diktion dieses Zitats verdeutlicht, wie sehr diese Forschungsrichtung in die dominierenden Diskurse ihrer Zeit eingebunden war – letzten Endes geht es um nichts anderes als um Evolution, um die nachgerade naturwissenschaftlich nachrechenbare Entwicklung literarischer Überlieferung vor dem Hintergrund einer indogermanischen Metakultur. So ist es nur folgerichtig, wenn im Zuge dieser Forschungen „das Element der Wanderung des Erzähl- und Liedgutes“129, also die Frage, auf welche Weise literarische Stoffe von einer Literatur in eine andere gelangen, als eine lineare, in Wellenform sich fortpflanzende Wanderung von Volk zu Volk imaginiert wurde.130 Hier haben wir die gleichzeitige Übertragung der „Stammbaumtheorie“ AUGUST SCHLEICHERs131 (1821– 1868) und der „Wellentheorie“ JOHANNES SCHMIDTs132 (1843–1901) von der Sprachgeschichte in die Literaturhistorie. Die Erkenntnis des ubiquitären Auftretens bestimmter Erzählformen und -inhalte diente der frühen historischen Erzählforschung somit in erster Linie zur Konstruktion einer Vorstellung, die ebenfalls einen dominierenden Diskurs des 19. Jahrhunderts darstellte – der Vorstellung einer überzeitlichen Kontinuität, die die europäischen Nationalstaaten über die 128 GASTER: Beiträge, S. 1187. 129 RANKE: Formen, S. 42. 130 Vgl. als zwei Beispiele aus der altgermanistischen Zunft das Vorgehen FRIEDRICH VOGTs und ANTON E. SCHÖNBACHs: Ersterer unternahm 1882 die Rekonstruktion der „älteren entwicklungsperioden der Salman- und Morolfsage“ (VOGT: Salman-Morolfsage, S. 321). Demnach bildete die Grundlage der Urfabel eine „byzantinische sagenstufe“ (ebd., S. 322), eine „zweite klasse der sagen“ (ebd.) gehörte hingegen „nicht zur ursprünglichen SalomonMarkolfsage sondern in den kreis einer andern, erst im deutschen epos mit derselben vereinigten tradition [...], deren grundtypus in dem märchen des Somadeva (Benfey Pantschatantra I s. 439) nachgewiesen wurde“ (ebd.). VOGTs Wiener Kollege suchte gut 20 Jahre später die Entstehung einer lateinischen, unikal in einer spätmittelalterlichen Sammelhandschrift überlieferten Erzählung zu eruieren (vgl. SCHÖNBACH: Studien V, S. 53–64): Die ‚Historia infidelis mulieris‘ im Cod. 4739 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien (fol. 190v–203v) ist demnach aus zwei Erzählkernen zusammengesetzt, einer fränkischen Sage, derzufolge ein gewisser Rudolf von Schlüsselberg einst tapfer gegen Nichtchristen gekämpft und dabei einen Riesen bezwungen habe, und einer orientalischen Sage von einer untreuen Ehefrau (vgl. ebd., S. 53f.). Die einzelnen Erzählungsbestandteile lassen sich ubiquitär nachweisen – unter anderem im ‚Salman und Morolf‘ – und bis ins ‚Pantschatantra‘ zurückverfolgen (vgl. ebd., S. 55–64). 131 Vgl. dazu SCHLEICHER: Theorie, S. 13f. 132 Vgl. dazu SCHMIDT: Verwandtschaftsverhältnisse, S. 27f.

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Epoche des Mittelalters hinweg mit der germanischen Antike verband. Der Wiener Altgermanist ANTON E. SCHÖNBACH (1848–1911) faßte diese Idee 1909 in glühende Worte: Die deutsche Mythologie zeigt, daß wir lebenden Volksgenossen nicht bloß die Nachfahren, sondern die echten, rechten Erben des altgermanischen Wesens sind; eine niemals abreißende Kette bildet das Heidentum der frühest erkennbaren Vorzeit, dann die Sagenwelt des deutschen Heldenvaters, das Jahrtausend des römischen Imperiums deutscher Nation mit der Volksüberlieferung unserer unmittelbaren Gegenwart in ein festgeschlossenes Eins; aus dem Götterhimmel der Germanen sinken die herrlichsten Gestalten auf die Erde herab und leben, ihres überirdischen Ursprungs vergessend, in Märchen und Sagen fort, geleitet durch einen Chor von Dämonen, der in Spuk und Aberglauben, in Kinderreimen und Rätseln, in Spielen und Bräuchen, Festsitte und Sprichwort sein heimliches Wesen treibt133.

Die Vorstellung der „germanischen Kontinuität“134 erlebte ihren eigentlichen Höhepunkt in Deutschland jedoch nicht im 19., sondern vor allem im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts, indem sie der Nationalsozialismus zu einem Teil seiner Gesellschaftsdoktrin machte. Die ideologische Indienstnahme wissenschaftlicher Erkenntnisse durch den nationalsozialistischen Staat bedeutete für die germanistische Mediävistik eine Suche nach Legitimierungsmomenten des gegenwärtigen Systems in den Quellen ihres Forschungsgebiets.135 Dabei glaubte man, systemimmanente Aspekte des NS-Staats wie hierarchische Führerbindung, bedingungslose Gefolgschaftstreue und die Betonung der Blutsbindung in gesellschaftlichen Strukturen sowie in literarischen Hervorbringungen des Mittelalters vorgeprägt zu finden, die durch das Dritte Reich wiederbelebt worden seien.136 Die nationalsozialistische Gesellschaftsstruktur wurde durch eine „Rückverlängerung in die Geschichte des Mittelalters und die germanische Vor- und Frühgeschichte“137 verabsolutiert. Die germanische Kontinuität drücke sich vor allen Dingen in der Betonung der vermeintlich „urgermanischen“ – und damit „urdeutschen“ – triuwe aus.138 Was alles unter germanischer Kontinuität subsumiert wurde, beschreibt KURT RANKE: Hausmarken werden als Runen gedeutet, der Weihnachtsbaum ist indogermanischen Usprungs, die Totenbretter Bayerns finden sich schon bei den germanischen Boiern, die europäische Arbeitsteilung bei der Ernte ist in neolithischen Kulturschichten vorbestimmt, das Volksschauspiel ist Nachfahre germanischer 133 SCHÖNBACH: Studien VIII, S. 88. 134 Zu diesem Begriff vgl. z.B. HÖFLER: Kontinuitätsproblem, S. 1–26; NAUMANN: Germanisch, S. 129. 135 Vgl. dazu BRUNNER: Denken, S. 330f.; FABER: Verkündigung, S. 299–308. 136 Vgl. dazu EHRISMANN: Aktualität, S. 68; ALTHOFF: Verwandte, S. 10. 137 EHRISMANN: Aktualität, S. 68. 138 Vgl. HANNIG: Consensus, S. 24f.

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Kultspiele, und der Nachweis einer Kontinuität der religiösen Substanz der Germanen in der Geschichte wird als Hauptarbeitsziel einer historisch orientierten Volksforschung gefordert.139

Parallel zu der vor allem im deutschen Wissenschaftsdiskurs des 19. und frühen 20. Jahrhunderts verbreiteten Suche nach der germanischen Kontinuität literarischer Überlieferung entstand in Finnland ungefähr zeitgleich die sogenannte „historisch-geographische Schule“ der historischen Erzählforschung, zu deren prägenden Vertretern neben KAARLE KROHN (1863–1933) und ANTTI AMATUS AARNE (1867–1925) noch der Nordamerikaner STITH THOMPSON (1885–1976) gerechnet werden muß. RANKE charakterisiert ihren Ansatz folgendermaßen: Nach ihnen kann ein Märchen oder ein Schwank oder eine Legende nur einmal erdacht worden sein, weshalb es die wichtigste Aufgabe ihrer Methode ist, den Archetypus, das Ursprungsland, die Verbreitungswege sowie die Redaktionen jedes einzelnen Typus durch eine analytische Untersuchung der Einzelvarianten zu bestimmen.140

Die international wohl erfolgreichsten und wirkmächtigsten Produkte dieser Bestimmungsversuche waren AARNEs zweimal von THOMPSON erweitertes Typenregister141 von 1961, in dem die in Europa, Westasien und in den von Europäern besiedelten Kontinenten vertretenen Märchen, Fabeln, Legenden und Schwänke erfaßt und geordnet sind, wobei die in zahlreichen Versionen umlaufenden Erzählungen auf bestimmte Grundtypen zurückgeführt werden, sowie THOMPSONs zwischen 1955 und 1958 erschienener, sechsbändiger „Motif-Index of Folk-Literature“142, der rund 40.000 Einzelmotive aus Mythen, Fabeln, mittelalterlichen Epen, exempla, Legenden und fabliaux verzeichnet. Die historisch-geographische Schule verzichtete also im Gegensatz zu anderen Formen der historischen Erzählforschung darauf, einen geographisch homogenen Ursprung aller literarischen Stoffe zu postulieren, was sie weniger anfällig für ideologisch determinierte Kurzschlüsse werden ließ. Nichtsdestoweniger gehen auch AARNE und THOMPSON von einer grundsätzlich monogenetischen Entstehung literarischer Stoffe aus, ihre Arbeiten unterliegen also letzten Endes den gleichen methodischen Prämissen – sowie den daraus resultierenden hermeneutischen Problemen – wie die Studien ihrer Vorgänger. Zusätzliches Problempotential erwächst aus der weitestgehend unreflektierten, 139 RANKE: Kontinuität, S. 103. 140 RANKE: Formen, S. 42. Die Thesen und Vorgehensweisen der historisch-geographischen Schule wurden zum erstenmal 1913 systematisch dargestellt in AARNE: Leitfaden; KROHN: Arbeitsmethode; vgl. dazu auch PROODEL: Volkserzählungen, S. 142–154; PROPP: Morphology; RANKE: Kategorienprobleme, S. 4–12; THOMPSON: Motif-Analysis. 141 Im weiteren zitiert als AA/TH. 142 Im weiteren zitiert als THMI.

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romantisierenden Verwendung des Begriffs „Volk“, die in Komposita wie „Volksliteratur“ (folk-literature) oder „Volks(erzähl)gut“ (folk-lore) zugleich das Alter und die archaische Reinheit eines Motivs oder Stoffs – unverformt durch alle späteren Stadien literarischer Bearbeitung – garantieren soll, sowie die Entstehung all dieser Erzählformen in der mehr oder minder nebulösen Sphäre des Volksgeists verortet und dadurch entpersonalisiert. Einfachheit oder gar vermeintliche Archaik in Form, Stil und narrativer Technik eines Textes müssen jedoch keineswegs immer ein untrügliches Anzeichen für hohes Alter, noch viel weniger für eine vor- oder außerliterarische Entstehung sein. Unter den kurz zuvor geschilderten ideologischen Vorzeichen stand die Frage nach den Wanderbewegungen literarischer Stoffe bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts häufig auch im Zentrum des Interesses der germanistischen Mediävistik. Grund für die mittlerweile vorherrschende Zurückhaltung ist neben der berechtigten Kritik an den ideologisierten Prämissen die Skepsis gegenüber der positivistischen Unbekümmertheit, mit der die ältere Forschung daranging, für jeden Stoff in der deutschen Literatur des Mittelalters die „ursprüngliche Quelle“ sowie sämtliche Vermittlungsstationen herauszufiltern. Die Unbekümmertheit ist der Erkenntnis gewichen, daß die „Kategorie der Dauer [...] immer mythischer Art“143 ist. Die neuere Forschung setzt deshalb nicht mehr voraus, daß zwischen den antiken und mittelalterlichen Ausprägungen eines Stoffs oder auch nur zwischen den einzelnen mittelalterlichen Texten ein kontinuierliches Verhältnis besteht, denn gemeinhin „fehlt uns fast jegliche Kenntnis von der oralen oder auch literalen Kontinuität [...] des frühen Erzählgutes“144. Es geht mithin darum, die Frage nach den Wanderbewegungen literarischer Stoffe erneut und unter veränderten Prämissen zu stellen. Zur Erhellung dieser Frage dient dieser Studie, wie bereits eingangs erwähnt, das Konzept des Kulturtransfers, das nach den Kontextualisierungsprozessen fragt, denen kulturelle Austauschobjekte unterliegen – in diesem Fall also literarische Stoffe. Die verschiedenen Stadien der Stoffrezeption werden somit nicht als geradliniger, evolutionärer Prozeß gelesen. Im Mittelpunkt stehen vielmehr die veränderten Bedeutungs- und Zuschreibungsmöglichkeiten, mit denen der wandernde Stoff in der Literatur der rezipierenden und adaptierenden Kultur aufgeladen wird. 143 BAUSINGER: Volkskultur, S. 17. 144 RANKE: Kontinuität, S. 111; vgl. auch KIENING: Genealogie-Mirakel, S. 238. Erste Ansätze zu einer Kritik insbesondere der Migrationstheorie finden sich vereinzelt bereits im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, vgl. dazu BÉDIER: Fabliaux, S. 58–61 u. 118–121; GELBHAUS: Stoffe, unpag. Vorwort; GÜNTER: Legende, S. 50; GÜNTER: Buddha, S. 102–112.

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Trotz der nicht zu vernachlässigenden Bedenken gegenüber den Prämissen und Methoden der historischen Erzählforschung des 19. und 20. Jahrhunderts gibt es nichtsdestoweniger eine Reihe von Ergebnissen dieser Forschungsrichtung, denen sich diese Untersuchung stellen muß und an denen sie zum Teil auch anknüpfen kann. Dazu zählen vorrangig zwei Punkte: zum einen die Erkenntnis, daß gerade bestimmte literarische Klein- und Kleinstgattungen besonders dafür geeignet erscheinen, Stoffe zwischen kulturellen Archiven und Literaturen wandern zu lassen;145 zum anderen die These, daß sich seit dem 8. Jahrhundert ein beständig zunehmender, großenteils subliterarisch ablaufender Prozeß der Übermittlung literarischer Traditionen aus dem Orient in den Okzident entfaltet hat.146 Diese Punkte bedürfen der näheren Erläuterung. Ausgehend von den Arbeiten des Niederländers ANDRÉ JOLLES (1874–1946), der ab 1918 eine Professur für vergleichende Literaturgeschichte an der Leipziger Universität innehatte, hat sich in der historischen Erzählforschung seit den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts der Terminus „Einfache Formen“ für diejenigen Literaturgattungen eingebürgert, die wandernde Stoffe und Motive ver- und übermitteln. Einfache Formen sind demnach Erzählstrukturen, „die weder von der Stilistik, noch von der Rhetorik, noch von der Poetik, ja vielleicht nicht einmal von der ‚Schrift‘ erfaßt werden, die, obwohl sie zur Kunst gehören, nicht eigentlich zum Kunstwerk werden, die, wenn auch Dichtung, so doch keine Gedichte darstellen“147. Dazu zählen nach JOLLES’ Einschätzung die Legende, die Sage, die Mythe, das Rätsel, der Spruch, der Kasus, das Memorabile, das Märchen und der Schwank und der Witz, allesamt „Urformen menschlicher Aussage, die aus Träumen und Affekten, aus magischen und rationalen Denkprozessen, aus Spiel und Kult erwachsen sind“148, so daß „in diesem Aspekt zu Recht von vorliterarischen Formen“149 gesprochen werden könne und „das ubiquitäre Vorkommen der Einfachen Formen als ein anthropologisches Problem“150 verstanden werden müsse. Die einfachen Formen stammen demzufolge bereits aus den vor- und nichtschriftlichen kulturellen Archiven jener Gesellschaften, denen die zeitgleich mit JOLLES’ Forschungen entstandene deutsche Kulturanthropologie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jegliche Fähigkeit zu Kulturleistungen absprach, 145 Vgl. dazu RANKE: Formen, S. 42; RANKE: Kontinuität, S. 113f. 146 Vgl. dazu RANKE: Formen, S. 40; JASON: Types, S. 115–224; RANKE: Schwank von der schrecklichen Drohung, S. 84; RANKE: Bettler, S. 358 u. 363f.; SPIES: Stoffe, S. 43f.; HELLER: Motive, S. 94. 147 JOLLES: Formen, S. 7. 148 RANKE: Formen, S. 33. 149 RANKE: Formen, S. 36. 150 RANKE: Formen, S. 41.

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also – in den Worten ihres führenden Vertreters – just jener „zahllosen kleinen Stämme, die wacker Ackerbau trieben, ihre Herden hüteten, auf Seeraub auszogen und sich gegenseitig erschlugen“151. In Auseinandersetzung mit JOLLES’ Thesen entwickelte die sogenannte „anthropologische Schule“ innerhalb der historischen Erzählforschung, zu deren Vertretern neben anderen die Mediävisten JOSEPH BÉDIER (1864–1937) und HANS NAUMANN (1886–1951) gehörten, als Gegenentwurf zur oben kurz skizzierten Indogermanen-Theorie der GRIMMs und ihrer Schüler die These von der polygenetischen Verbreitung der einfachen Formen, so daß „die überraschende Ähnlichkeit alter magischer und mythischer Vorstellungen bei vielen primitiven Völkern auf der Einheit urtümlichst-einfacher Menschheitsideen beruhe“152. Man verlegte also den Urquell ubiquitären Erzählguts noch weiter zurück in der Geschichte als bisher, an die Wiege die Menschheit und in die zeitgleich von der florierenden Anthropologie in den Kolonien der europäischen Großmächte entdeckten Welt der sogenannten „Primitiven“, deren Alltag und Ideen sich in der Vorstellung des zivilisierten Europa sozusagen noch immer direkt neben der Wiege befanden. Damit waren jedoch zugleich noch weitreichenderen – und abenteuerlicheren – Spekulationen als zuvor Tor und Tür geöffnet, ganz abgesehen davon, daß die Argumentation mit anthropologischen Grundkonstanten sehr leicht in aporetische Banalität führt. Man könnte also versucht sein, auch dieses Theoriegebäude der historischen Erzählforschung für längst überholt oder für die tatsächliche Anwendung als viel zu unspezifisch zu erklären, zumal auch JOLLES mit einem anachronistischen, romantisierenden und emotionalisierten Volksbegriff arbeitet, der in der Literaturgeschichte längst obsolet geworden ist. Doch JOLLES’ Theorie der Einfachen Formen bietet, insbesondere in ihrer Weiterentwicklung durch den Volkskundler und Erzählforscher KURT RANKE (1908–1985), nichtsdestoweniger einige Anknüpfungspunkte für diese Studie zumal in solchen Fällen, wenn sie mit anderen, weiter oben dargestellten methodischen und hermeneutischen Prämissen dieser Arbeit korrelieren. So bildet zum Beispiel die Erkenntnis, „daß nicht die gesamte Masse des Erzählgutes eines Volkes zum andern wandert, sondern daß vieles hüben und drüben steckenbleibt“153, ein Pendant zur These BENJAMINs, daß die „unterdrückte Vergangenheit“154 hinter dem Faktischen im Möglichen 151 152 153 154

ROTHACKER: Probleme, S. 21. RANKE: Formen, S. 41; vgl. auch RANKE: Schwank vom Schmaus, S. 223. RANKE: Formen, S. 43. BENJAMIN: Begriff, S. 703.

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erahnt und erfaßt werden kann, im bruchstückhaft Überlieferten, im Steckengebliebenen. Desweiteren betont RANKE, daß die Wanderungsbewegungen der Einfachen Formen innerhalb literarischer Archive dazu führen, daß die tradierten Stoffe divergierenden Veränderungsprozessen unterworfen sind. Zum einen ist es in erster Linie eine bestimmte Gruppe Einfacher Formen, die zur schriftlichen Fixierung tendieren, namentlich „die Legenden, Exempel, Fabeln und Schwänke des Mittelalters, sobald sie in die homiletischen, didaktischen, pädagogischen oder literal-erbaulichen Anwendungsbereiche geraten“155. Zum anderen ist der Überlieferungsprozeß selbst für ihn keine geradlinige Evolution mehr, die von einer einfachen Urquelle ausgeht und – in einem beständigen Prozeß der Ausgestaltung und Degeneration – schließlich im literarischen Endprodukt ihr Ziel findet: Ein Schwank wie der vom ‚Unibos‘ etwa geht seit dem 10. Jahrhundert quer durch die Gattungen der abendländischen Literatur, wie er permanent daneben von der mündlichen Überlieferung getragen wird. Beide Stränge berühren sich von Zeit zu Zeit, ziehen sich an und stoßen sich ab156.

Mit diesen Thesen antizipiert RANKE in nuce die Grundannahme des Kulturtransferkonzepts, daß sich die Tradierung kulturellen Wissens nicht als zielgerichtete Auslese beschreiben läßt, sondern daß die Veränderungen des Tradierten im Prozeß des Tradierens Ausdruck einer veränderten Bedeutung sind, die fremden Traditionen im Rahmen der rezipierenden Kultur zukommen.157 Der nächste Anknüpfungspunkt zwischen dieser Untersuchung und den erzählkundlichen Thesen RANKEs liegt jedoch in der Bedeutung, die darin den Einfachen Formen als Mittel des Kulturkontakts zugemessen wird. Für RANKE repräsentieren sie die Tradierungsformen kulturell-literarischen Austausches par excellence,158 was sich wiederum mit der Überzeugung GREENBLATTs deckt, daß die Anekdote das wichtigste Medium zur Aufzeichnung des Unerwarteten und somit zur Beschreibung der Begegnung mit der Differenz darstellt: „Anekdoten gehören [...] zu den wichtigsten Erzeugnissen der Repräsentationstechnologie einer Kultur“159. Dies führt uns schließlich zur letzten Korrelation zwischen den Ergebnissen der historischen Erzählforschung und dem hermeneutischen Rahmen dieser Arbeit, die mit der oben genannten These zusammenhängt, es habe während des europäischen Mittelalters einen vornehmlich 155 156 157 158

RANKE: Kontinuität, S. 113. RANKE: Kontinuität, S. 114. Vgl. GRAFTON: Notes, S. 2–11. Vgl. RANKE: Schwank von der schrecklichen Drohung, S. 84; RANKE: Bettler, S. 358 u. 363f.; RANKE: Schwank und Witz, S. 56–58. 159 GREENBLATT: Besitztümer, S. 11.

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subliterarischen Tradierungsprozeß literarischer Traditionen aus dem Orient in den Okzident gegeben, und „daß der Aufschwung der Fabliaux, Schwänke in Europa zeitlich mit regeren Beziehungen zum Morgenlande gegen Ende des Mittelalters zusammenfällt“160. Diese Ansicht findet sich unter anderen bereits in einzelnen Studien KÖHLERs oder GASTERs ausgesprochen,161 nachdrücklich vertreten wurde sie vor allem von dem Märchenforscher BERNHARD HELLER (1871–1943), der als vorrangige Träger dieses Prozesses zwei ethnisch-religiöse Gruppen ausmachte – Araber und Juden.162 Für den möglichen Weg dieses kulturellen Transfers gibt es nach HELLER zwei denkbare Formen: entweder kam Europa „mit dem Arabertum durch die Kreuzzüge, durch die Herrschaft des Islam in Spanien und Sizilien, durch morgenländische Reisen der Europäer in Berührung“163, oder das Arabertum kam nach Europa, vor allem vermittelt durch jüdische Konvertiten wie Petrus Alfonsi (1062–1140) in seiner ‚Disciplina clericalis‘164 betitelten lateinischen Sammlung von 39 Erzählungen.165 Petrus’ Werk „nährt sich aus hebräischen und noch weit mehr aus arabischen Quellen: wo hebräischer Ursprung nicht nachweisbar, ist arabischer mit einiger Wahrscheinlichkeit anzunehmen“166, und überführte „zahlreiches orientalisches Erzählergut in die abendländische Traditionswelt“167. Zum größeren Teil – und häufiger mehrmals – wurden die Erzählungen der ‚Disciplina clericalis‘ im späteren Mittelalter sowohl in anderen lateinischen Werken aufgenommen168 als auch in den europäischen Volkssprachen bearbeitet. Im deutschen Sprachraum finden sie sich unter anderem als eigenständige kurzepische Dichtung des 14. Jahrhunderts,169 in der Mitte des 15. Jahrhunderts aus dem Lateinischen übersetzten ‚Historia von den sieben weisen Meistern‘170, in Heinrich Steinhöwels zuerst 1476/77 gedrucktem ‚Esopus‘171, in Johannes Geilers von Kaysersberg 1498 160 161 162 163 164 165 166 167 168

HELLER: Motive, S. 94. Vgl. z.B. GASTER: Legend, S. 895–902; KÖHLER: Gerhard, S. 55–60. Vgl. HELLER: Motive, S. 93; GASTER: Beiträge, S. 1188f. HELLER: Motive, S. 94. Vgl. HILKA/SÖDERHJELM (Hrsg.): ‚Disciplina‘. Vgl. dazu HELLER: Motive, S. 94–96; GASTER: Beiträge, S. 1188. HELLER: Motive, S. 94. RANKE: Bettler, S. 358. So z.B. in der 1260–1267 verfaßten ‚Legenda aurea‘ Jakobs von Voragine, in der die 250. Legende der 13. Erzählung der ‚Disciplina clericalis‘ entspricht, im ‚Speculum morale‘ I,27 des Vinzenz von Beauvais (1184–1264), das die 18. Geschichte der ‚Disciplina clericalis‘ aufnimmt, oder in den Ende des 13. Jahrhunderts entstandenen ‚Gesta Romanorum‘, deren Kapitel 118 der Nr. 15 der ‚Disciplina clericalis‘ entspricht; vgl. GRAESSE (Hrsg.): ‚Legenda‘; Vincentius: ‚Speculum‘; OESTERLEY (Hrsg.): ‚Gesta‘. 169 Vgl. HAGEN (Hrsg.): GA; die Nr. 39 entspricht ‚Disciplina clericalis‘, Nr. 9. 170 Vgl. STEINMETZ (Hrsg.): ‚Historia‘; die Nr. IV entspricht ‚Disciplina clericalis‘, Nr. 14. 171 Vgl. ÖSTERLEY (Hrsg.): ‚Äsop‘; die Nrr. 142, 145, 148 u. 152 entsprechen ‚Disciplina clericalis‘, Nrr. 9, 18, 6 u. 13.

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gehaltenem Predigtzyklus über Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘172, in Johannes Paulis Novellensammlung ‚Schimpf und Ernst‘173 und schließlich in den Fabeln174 des Hans Sachs. Petrus Alfonsi steht mit seinem Einfluß auf die Erzählliteratur des europäischen Mittelalters jedoch nicht vereinzelt da, vielmehr stammen für GASTER die „beliebtesten Volksbücher des Mittelalters“175 allesamt aus der Feder jüdischer Konvertiten: neben der ‚Disciplina clericalis‘ zählen dazu das bereits erwähnte ‚Schimpf und Ernst‘ Johannes Paulis (1455– 1530) und die lateinische Übersetzung des um 1250 entstandenen hnmydw hlylk (‚Kalila und Dimna‘), die Johannes von Capua Ende des 13. Jahrhunderts anfertigte.176 Wenn GASTERs Urteil auch sicher zu überschwenglich ausgefallen ist, so läßt sich andererseits die Bedeutung jüdischer Konvertiten des Mittelalters für den kulturellen Austausch zwischen Orient und Okzident im allgemeinen sowie die Vermittlung jüdischen und muslimischen Erzählguts im besonderen nicht leugnen. Der Grund für diese Ausnahmestellung ist meines Erachtens in der hybriden Kultur der Konvertiten selbst zu suchen, die, vor allem aufgrund mehr oder minder ausgeprägter Zwei- oder Mehrsprachigkeit, durch den gleichzeitigen Zugriff auf zwei oder noch mehr kulturelle Archive geprägt ist.177 Konvertit zu sein bedeutet, im „Bereich des darüber Hinausgehenden zu sein [...], einen Zwischenraum zu bewohnen“178, der für BHABHA zugleich der Ort der Kultur par excellence ist.179 Konvertit zu sein heißt, auf der Grenze zwischen den Kulturen zu leben, ja diese Grenze in der eigenen Existenz zu inkorporieren: durch sein eigenes polyvalentes Sein wird der mittelalterliche Konvertit zur fleischgewordenen Überschneidung vermeintlich homogener kultureller Sphären. Trotz seiner neugewonnenen Zugehörigkeit zur Gruppe des Eigenen, die er durch performative Akte stets aufs Neue zu bestätigen gezwungen ist, bleibt seine Vergangenheit als Teil des Anderen bestehen. Obwohl er durch seinen Religionswechsel sozusagen in einer neuen spirituellen „Heimat“ angekommen ist, bleibt doch die Erfahrung des Lebens in der Diaspora erhalten, die zugleich den Beweis dafür liefert, „daß man den Diskurs und die Konventionen einer anderen Kultur erlernen und auf vortreffliche Art und Weise beherrschen 172 Die Nr. 26 entspricht ‚Disciplina clericalis‘, Nr. 24. 173 Vgl. BOLTE (Hrsg): ‚Schimpf‘, Bd. 1; die Nrr. 115, 628, 723 u. 807 entsprechen ‚Disciplina clericalis‘, Nrr. 18, 24, 15, 17 u. 24. 174 Vgl. GÖTZE (Hrsg.): Fabeln; die Nr. 331 entspricht ‚Disciplina clericalis‘, Nr. 24. 175 GASTER: Beiträge, S. 1188. 176 Vgl. GASTER: Beiträge, S. 1188; BENFEY (Hrsg.): ‚Pantschatantra‘, Bd. 1, S. 10. 177 Vgl. dazu ausführlicher unten „A.III.2. Die deutsche Volkssprache und ihre Literatur als Brücke zwischen den Kulturen im Hoch- und Spätmittelalter“. 178 BHABHA: Verortung, S. 10. 179 Vgl. BHABHA: Verortung, S. 1.

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kann“180. Um schließlich die Spannungen auszugleichen, die die Existenz im Bereich des darüber Hinausgehenden für den Konvertiten mit sich bringt, greift er zum Mittel der „kulturellen Übersetzung“181: Er nimmt Bruchstücke der Kultur seiner früheren Existenz, paßt sie in Muster der Kultur seiner neuen Existenz ein und transferiert sie in dieser Form und auf diese Weise in das kulturelle Archiv seiner jetzigen Bezugsgruppe. Im Fall eines während des europäischen Mittelalters vom Judentum zum Christentum Konvertierten kann das entweder bedeuten, daß er seinen neuen Glaubensgenossen Stoffe und Motive aus Literaturen zugänglich macht, die ihnen aufgrund von Sprachbarrieren bisher unzugänglich gewesen waren, oder daß er seinen Mitchristen Geheimnisse seiner alten Religion offenbart, die aus dem gleichen Grund bisher unaufgedeckt geblieben waren und nunmehr gegen ihre Bekenner selbst gerichtet werden können. Für beide Formen kultureller Übersetzung liefert wiederum Petrus Alfonsi paradigmatische Beispiele, denn er ist nicht nur der Verfasser der ‚Disciplina clericalis‘, sondern auch eines Traktats mit dem Titel ‚Dialogi in quibus impiae Iudaeorum opiniones confutantur‘182, in dem er seinen christlichen Zeitgenossen als erster Einblicke in das nachbiblische jüdische Schrifttum gewährt. Jede Form kultureller Übersetzung führt jedoch dazu, daß das kulturelle Archiv einer Gruppe durch weitere Momente der Fremdheit, der Hybridität angereichert wird. Somit gleicht das „Neue an der kulturellen Übersetzung [...] dem, was Benjamin als die ‚Fremdheit der Sprachen‘ beschreibt – jenem Problem der Repräsentation, das der Repräsentation selbst innewohnt.“183 Damit treffen sich also auch in diesem letzten Punkt Erkenntnisse der historischen Erzählforschung und der postkolonialen Kulturwissenschaft: Was letztere im Jahr 2000 in dem Diktum: „Übersetzung ist die performative Natur kultureller Kommunikation“184 zusammenfaßt, hatte erstere in der folgenden Feststellung bereits 1978 angedeutet: Neueste Untersuchungen über ethnische Kontaktzonen zeigen, daß in der Tat die Zwei- und Mehrsprachigkeit ihrer Bewohner und der dadurch bedingte lebhafte Kulturaustausch über die Grenzen die denkbar günstigste Voraussetzung für eine Weitergabe des volkstümlichen Erzählgutes bildet.185

180 181 182 183 184 185

FOKKEMA: Okzidentalismus, S. 57. Vgl. dazu BHABHA: Verortung, S. 339–341. Vgl. PL, Bd. 157, Sp. 535–672. BHABHA: Verortung, S. 339; vgl. dazu BENJAMIN: Aufgabe, S. 61–64. BHABHA: Verortung, S. 341. RANKE: Formen, S. 42.

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6. Prämissen für die Wahrnehmung des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter Die Suche nach den Spuren kulturellen Kontakts und Austausches zwischen Juden und Christen in der volkssprachlichen Literatur des deutschen Hoch- und Spätmittelalters findet in dieser Studie somit unter Bezugnahme auf die zuvor dargestellten methodischen und hermeneutischen Prämissen statt. Mittelalterliche Kultur wird als allumfassendes, performatives gesellschaftliches Programm verstanden, das veränderlichen Einflüssen von Majorität und Minoritäten ausgesetzt und somit in seinem „Wesen“ und seinen Hervorbringungen hybrid ist. Der Transfer zwischen der an der Kultur des europäischen Raums beteiligten Mehrheit und den Minderheiten vollzieht sich durch das Medium „Text“, das in den Austauschbeziehungen zwischen Juden und Christen insbesondere in der Form des literarischen Stoffs oder Motivs zwischen den kulturellen Archiven wandern kann. Vorrangige Träger dieses Transfers sind Personen – und nicht etwa überpersonale „Strukturen“ – die auf der Grenze zwischen den Kulturen existieren, in einem kulturellen Zwischenraum, der zugleich der Ort des Kulturtransfers an sich ist. Diesen Ort bewohnen während des Mittelalters, wie dargelegt, in erster Linie Konvertiten, die durch kulturelle Übersetzung ihrer neuen Bezugsgruppe Bruchstücke der Kultur vermitteln, die sie verlassen haben, wobei sie dafür stets bereits existente literarische Formen ihrer neu angenommenen Kultur verwenden. Andere Beispiele des Kulturtransfers, die von Personen übermittelt worden sind, die sich im Gegensatz zu Konvertiten nur zeitweilig im Bereich des darüber Hinausgehenden befunden haben, sind zumeist subliterarischer Natur und daher oft verschüttet. Um sie – oder doch zumindest die Möglichkeit ihrer Existenz – wieder aufzudecken, bedarf es einer Literaturhistorie, die sich der Archäologie des Marginalisierten annimmt.

Inhaltliche Vorarbeiten

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A.II. Inhaltliche Vorarbeiten Die allgemeine Vorstellung, daß die Juden im Mittelalter sozial minderwertige Individuen waren, daß sie gehaßt und von der persönlichen Berührung mit der christlichen Umwelt ausgeschlossen waren, trifft für die von uns behandelte Zeit noch nicht zu. Das Bild eines so erniedrigten Juden ist einer viel späteren Zeit entlehnt.186

Mit diesem Resümee beschloß JOSEF MENCZEL den Untersuchungsteil seiner 1933 an der Berliner Universität eingereichten Dissertationsschrift über die Geschichte der Juden in Mainz während des 15. Jahrhunderts. Geleitet von der – trügerischen – Überzeugung, daß eine Einstufung jüdischer Menschen als „minderwertige Individuen“ eine überwundene Verirrung der europäischen, besonders aber der deutschen Geschichte darstellte, hatte MENCZEL zuvor die verschiedenartigen Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Christen und Juden im spätmittelalterlichen Mainz anhand zeitgenössischer Quellen analysiert und war schließlich zur zitierten Gesamtbewertung gelangt. Damit nahm er eine grundsätzliche Einschätzung des späteren Mittelalters auf, die vor ihm bereits des öfteren vertreten worden war und die zum Beispiel ein anderer deutsch-jüdischer187 Historiker knappe fünfzig Jahre zuvor in folgende Worte gefaßt hatte: Wenn man von vereinzelten, durch geistliche und weltliche Hetzer veranlassten Ausbrüchen des Fanatismus absieht, die allerdings ein zeitweiliges gespanntes Verhältniss zwischen Juden und Christen zur Folge hatten: so bietet im Uebrigen auch dieser Zeitraum dieselbe Erscheinung gegenseitiger Beeinflussung, die wir schon in einer früheren Periode wahrzunehmen Gelegenheit hatten und welche nur bei einem regen Wechselverkehr denkbar und durch denselben erklärlich ist. Die Juden waren mit den Vorgängen im Staate und der Gesellschaft vertraut, nahmen an den Bildungsbestrebungen ihrer Umgebung Antheil, wussten das Gute, das sich ihnen in der christlichen Welt darbot, zu schätzen und lebten im Umgange mit den Christen wie Bürger unter Bürgern. Die Christen ihrerseits sahen in den Juden nicht immer und überall Diejenigen, welche Jesus gekreuzigt haben 186 MENCZEL: Beiträge, S. 71. 187 Mit dem – in mancher Hinsicht problematischen – Begriff „deutsch-jüdisch“ bezeichne ich im weiteren Verlauf dieser Überlegungen eine bestimmte soziologische Gruppe des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die sich durchaus nicht nur aus „Deutschen“ im Sinne der territorialstaatlichen Ausdehnung des Deutschen Reichs im genannten Zeitraum zusammensetzt – dagegen spricht bereits die große Zahl von Personen, die im weiteren zu dieser Gruppe gerechnet werden und aus den Gebieten der Habsburger k.u.k. Monarchie stammen. Die Bezeichnung „deutsch-jüdisch“ ist daher eher ideologisch als nationalstaatlich zu verstehen: Die Mitglieder dieser Gruppe einen zwei Faktoren – ansonsten trennen sie zum Teil Welten – ihre Zugehörigkeit zur jüdischen Religion und ihr Anteil an dem, was man für den genannten Zeitraum den „deutschen Kulturraum“ nennen könnte, dessen Peripherie ohne weiteres bis nach Galizien reichte. Die Zugehörigkeit zu diesem Raum und seiner Kultur erschließt sich bei den meisten Vertretern dieser Gruppe bereits durch die grundsätzlich positive – und produktive – Bezugnahme auf die deutsche Sprache.

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Rahmen und Ausgangspunkte

sollten, nicht die Ausgestossenen und Zurückgesetzten, sondern sie erwiesen ihnen Freundlichkeiten und nahmen solche von ihnen an, bedienten sich ihrer Geschäftskenntniss, setzten Vertrauen in ihre Redlichkeit, pflegten mit ihnen Umgang und unterhielten mit ihnen allerlei Verbindungen.188

Diese Vorstellung eines „symbiotischen“ Verhältnisses zwischen Juden und Christen im deutschen Sprachraum vor der Zeit der Aufklärung ist mittlerweile gründlich revidiert, wenn nicht gänzlich aufgegeben worden.189 Diese Revision hängt nicht zuletzt mit der Erkenntnis der jüngeren Wissenschaftsgeschichte zusammen, daß das Bild eines friedlichen jüdischchristlichen Miteinanders während des deutschen Mittelalters zu einem nicht geringen Teil aus „apologetischen Gründen“190 entworfen wurde: Es war in erster Linie die kleine und in sich heterogene Gruppe jüdischer Mediävisten des 19. und 20. Jahrhunderts, die an diesem Entwurf arbeitete, und ihre Beweggründe waren durchaus auch zeitgebunden und gesellschaftspolitisch orientiert. Mit der Berufung auf eine gemeinsame, deutsche Juden und deutsche Christen nicht erst seit wenigen Jahrzehnten, sondern bereits seit vielen Jahrhunderten verbindende Geschichte sollte die in der Realität erst seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts erkämpfte und seit der zweiten Hälfte des Jahrhunderts mehr oder minder auch tatsächlich umgesetzte rechtliche Gleichberechtigung der Juden im Deutschen Reich und seinen Teilstaaten historisch untermauert und beglaubigt werden. Neben dieser historischen Absicherung eines allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses ging es den Verfechtern dieser These aber auch um die ganz konkrete Absicherung – zumeist überhaupt erst um das Erreichen – eines angemessenen wissenschaftlichen Status ihrer eigenen Person. Im oftmals versteckt, zuweilen aber auch ganz offen antisemitischen deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb konnten sich jüdische Forscher in der Zeit vor dem Nationalsozialismus in der Regel eher schlecht als recht etablieren und wurden zumeist – trotz der de jure Abschaffung vorher bestehender rechtlicher Hinderungsgründe – de facto gerade von der Berufung auf Lehrstühle und ordentliche Professuren ausgenommen. Als ein – weder besonders außergewöhnliches noch besonders spektakuläres – Beispiel unter vielen ähnlichen sei an den Werdegang des Mittelalterhistorikers HENRY SIMONSFELD (1852–1913) erinnert, der trotz zahlreicher grundlegender Arbeiten auf den Gebieten der historischen Hilfswissenschaften und der Geschichte Norditaliens zwanzig Jahre lang ein Dasein als Privatdozent an der Münchner Universität fristete und erst kurz vor seinem Tod zum außerordentlichen Professor ernannt wurde.191 188 189 190 191

GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 143. Vgl. TOCH: Juden, S. 120–122. TOCH: Juden, S. 34. Vgl. WEIGAND: Simonsfeld, S. 189–193.

Inhaltliche Vorarbeiten

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Der Nachweis eines Juden und Christen im deutschen Mittelalter einenden kulturellen Bezugsraums diente also einer Reihe deutsch-jüdischer Wissenschaftler des 19. und frühen 20. Jahrhunderts nicht allein zur Berichtigung einer landläufigen Vorstellung von vormoderner Gesellschaftsordnung, sondern unterstützte zugleich die eigenen assimilatorischen Bestrebungen dieser Forscher – die Vorstellung einer sogenannten „deutsch-jüdischen Symbiose“192 wurde in die Epoche des Mittelalters rückverlängert, das eigene Bestreben nach gesellschaftlicher Akzeptanz und Integration wurde objektiviert und empfing dadurch sozusagen die Weihen historisch-teleologischer Folgerichtigkeit. Damit lieferte auch dieser, in vieler Hinsicht marginalisierte Teil des akademischen Lehrkörpers des zweiten deutschen Kaiserreichs seine Steine zum Gedankengebäude der „germanischen Kontinuität“, das die Bevölkerung des neuzeitlichen Nationalstaats in direkter Linie mit ihren vormodernen „Ahnen“ verbunden sehen wollte – wobei der einzige wirkliche Unterschied zwischen den einen und den anderen Vertretern dieser Ansicht allein darin bestand, daß die einen unter diese Ahnen nurmehr heidnische bzw. späterhin christianierte „Germanen“ rechneten, während die anderen darum bemüht waren, die Gruppe der Vorfahren um die jüdische Einwohnerschaft des deutschen Sprachraums zu erweitern.193 Kurz gesagt: eine Reihe deutsch-jüdischer Historiker, Volkskundler und Germanisten ließ es sich im 19. und frühen 20. Jahrhundert angelegentlich sein, durch ihre Forschungen den Nachweis zu erbringen, daß sich die Juden des deutschen Sprachraums schon lange vor dem Beginn der rechtlichen Gleichstellung ebenso als „Deutsche“ gefühlt und verstanden hatten wie ihre christlichen Zeitgenossen. Im Gegensatz zu dieser Vorstellung, die das Juden und Christen bei aller Differenz Verbindende hervorhebt, betonen jüngere, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandene Darstellungen jüdischer Existenz während des Mittelalters im allgemeinen sowie Studien zum jüdisch-christlichen Verhältnis in der Vormoderne im besonderen in erster Linie das beide Gruppen Trennende.194 Dieser Paradigmenwechsel hängt selbstre192 Vgl. zu grundlegender Kritik an diesem Begriff und seinen (geistes)geschichtlichen Implikationen SCHOLEM: Mythos, S. 7–19. 193 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die emphatische Selbstbeschreibung des in seiner Zeit populären Schriftstellers BERTHOLD AUERBACH (1812–1882) in einem Brief an den sozialistischen Theoretiker MOSES HESS (1812–1875): „Ich bin ja, ich bekenne es gern [...] ein germanischer Jude, ein Deutscher, so gut als es glaub ich einen gibt, wenigstens möchte ich es mit dem ganzen Einsatze meiner Lebenskraft betätigen“ (SILBERNER: Hess, S. 376). 194 In deutlichem Gegensatz zu dieser in erster Linie von amerikanisch-jüdischen und israelischen Forschern vertretenen Position stehen in neuerer Zeit vor allem die Arbeiten FRANTIŠEK GRAUS’, FRIEDRICH LOTTERs und FRANZ-JOSEF ZIWES’, vgl. z.B. GRAUS: Traditionen, S. 1–9; GRAUS: Juden, S. 54f.; LOTTER: Geltungsbereich, S. 28; LOTTER: Symbiose, S. 1–34; LOTTER: Judenverfolgungen, S. 420; ZIWES: Studien, S. 220f.

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dend mit dem Kulturbruch des Versuchs der „Endlösung der Judenfrage“ zusammen, der in den Jahren zwischen 1939 und 1945 unter deutscher Regie in Zentraleuropa unternommen wurde. Im Lichte dieses absoluten, gegen das gesamte europäische Judentum gerichteten Vernichtungswillens erschienen sowohl alle vorherigen Verfolgungen und Pogrome als die eigentlich bedeutungstragenden Komponenten der jüdischen Erfahrung mit der europäischen Diaspora und ihren nichtjüdischen Protagonisten als auch alle Versuche, sich der nichtjüdischen Majorität anzunähern, von ihr sogar als gleichrangig und gleichberechtigt angenommen zu werden, als historischer Irrweg, an dessen Ende wiederum folgerichtig die Krematorien der Vernichtungslager stehen mußten. Die durch die Erfahrung des Genozids obsolet gewordene, optimistische Geschichtsteleologie, die im deutschen Mittelalter eine Projektionsfläche der eigenen Akkulturationsbestrebungen und Assimilationshoffnungen gefunden hatte, wurde nunmehr durch eine teleologisch-pessimistische Sicht abgelöst. Zugleich wurde die vormoderne Epoche der europäischen Geschichte in diesem Geschichtsmodell aber wiederum idealisiert, nun jedoch nicht mehr als vorbildartige Phase eines jüdisch-christlichen Miteinanders, sondern vielmehr als vorbildhafte Zeit einer strengen und klaren Trennung zwischen Juden und Nichtjuden, in der eine mehr oder minder autochthone jüdische Tradition der Minderheitengruppe eindeutige Orientierung und festen Halt bot gegenüber den Anmutungen der Mehrheit. Das Fazit dieses Paradigmenwechsels in der Beurteilung des Verhältnisses zwischen Juden und Christen im vormodernen Europa mußte konsequenterweise wie das genaue Gegenteil zu den eingangs zitierten Stimmen lauten: “In the Middle Ages the Jew belonged to an alienated minority.“ 195 Einer der einflußreichsten Vertreter dieser Interpretationsrichtung war der israelische Historiker JACOB KATZ (1904–1998).196 Sproß einer orthodox-jüdischen Familie im österreichisch-ungarischen Pajca studierte KATZ nach dem Besuch mehrerer bedeutender Talmudhochschulen zu Beginn der dreißiger Jahre an der Frankfurter Universität, unter anderem bei dem Soziologen KARL MANNHEIM (1893–1947). 1936 war er gezwungen, ins damalige britische Mandatsgebiet Palästina zu emigrieren, und arbeitete zunächst als Lehrer für jüdische Geschichte an religiösen Schulen in Jerusalem. Durch seinen Lehrstuhl für jüdische Sozial- und Erziehungsgeschichte, den er seit 1962 an der Jerusalemer Hebrew University innehatte, beeinflußte KATZ eine ganze Generation israelischer Geschichtswissen195 STOW: Minority, S. 5; vgl. auch GLICK: Heirs, S. 274: ”Jews were neither neighbors nor countrymen; they were sources of income [...]. The reason for their survival, of course, was that they were useful – often all but indispensable – as sources of liquid capital. But once that usefulness declined, they were doomed.“ 196 Vgl. ROTH: Katz, Sp. 824.

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schaftler.197 Seine historischen Untersuchungen sind auf der einen Seite geprägt von der quellenorientierten Herangehensweise der deutschen Geschichtswissenschaft des frühen 20. Jahrhunderts, auf der anderen Seite lassen sie immer wieder seine stupenden Kenntnisse der jüdischen Quellen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, insbesondere sein Interesse an den halachischen (praktisch-religionsgesetzlichen) Diskussionen der Epoche erkennen. Vor allem zur Deutung innerjüdischer Prozesse zieht KATZ in der Regel neben den klassischen Quellensorten wie Urkunden, Protokollen oder Akten, die jedoch zumeist nichtjüdischer Provenienz sind, das breite Quellenmaterial der Responsenliteratur hinzu, also die in Form schriftlicher Antworten niedergelegten und gesammelten juristischen Entscheidungen der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Rabbiner.198 In seinen Schriften verbindet sich somit allgemein historisches Wissen mit spezifisch jüdischer Gelehrsamkeit, seine Vorgehensweise ist insbesondere vorbildhaft geworden für Forschungen zur vormodernen jüdischen Sozialund Wirtschaftsgeschichte.199 KATZ hat seine grundsätzlichen Einschätzungen und Beurteilungen des jüdisch-christlichen Verhältnisses in Mittelalter und Früher Neuzeit vor allem in zwei Arbeiten dargelegt: zunächst in seiner, zuerst 1958 auf Hebräisch und drei Jahre später in englischer Übersetzung erschienenen Studie “Tradition and Crisis“200 und sodann unter dem programmatischen Titel “Exclusiveness and Tolerance“201, einer zuerst ebenfalls 1961 auf Englisch erschienenen Untersuchung. Danach wurden die Beziehungen zwischen Juden und Christen in voraufklärerischer Zeit vom Prinzip gegenseitiger Exklusivität dominiert, das sich aus der grundsätzlichen Orientierung beider Gruppen an der je eigenen, Nichtmitglieder ausschließenden religiösen Überlieferung erklärt: In the Middle Ages Christians as well as Jews could be most easily united by the appeal of religious ideas within institutions of a sacred character. Since the religious ideas and symbols of both communities were mutually exclusive – that which one section held in awe being very often an abomination to the other – the members of both sections lacked corresponding reactions. The Christian and Jewish communities were virtually two distinct societies. The fact that they nevertheless existed in the same economic and political framework was the source of their manifold problems and shortcomings.202 197 Vgl. dazu TOCH: Juden, S. 72. 198 Zu Quellenwert und -bedeutung dieser Textgattung vgl. BREUER: Responsenliteratur, S. 29–37. 199 Vereinzelt wurde diese Methodik auch schon vor KATZ angewandt, vgl. zum Beispiel ALTMANN: Studies, S. 7–15. 200 Vgl. KATZ: Tradition, besonders S. 17–30. 201 Vgl. KATZ: Exclusiveness, besonders S. 3–12. 202 KATZ: Exclusiveness, S. 11; vgl. auch KATZ: Messianismus, S. 51; KATZ: Tradition, S. 20.

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Die Tatsache, daß die geistlich-rechtlichen Autoritäten beider Seiten sich in nachgerade regelmäßigen Abständen dazu gezwungen sahen, Vorschriften aufzustellen, die einen engeren Kontakt zwischen Vertretern beider Gruppen verhindern sollten, deutet KATZ im Gegensatz zur verbreiteten Ansicht, daß gerade die häufige Wiederholung dieser Erlasse ihre Nichteinhaltung belege, als weitere Stütze seiner These: „Relationships between Jews and Gentiles could [...] not escape the religious cleavage under which society laboured at that time.“203 Nach KATZ stellte also die religiöse Differenz eine derart hohe und unhintergehbare gesellschaftliche Barriere für mittelalterliche Juden und Christen dar, so daß Beziehungen zwischen beiden Gruppen auf rein alltägliche, zumeist das Wirtschaftsleben betreffende Angelegenheiten begrenzt waren und keinesfalls Formen intimeren kulturellen Kontakts oder gar Austauschs umfassen konnten: „Since no neutral sphere was developed in the Middle Ages, social segregation between Jews and Gentiles was merely the logical consequence of their religious separation.“204 An späterer Stelle hat KATZ seine Einschätzung zugleich teilweise revidiert und im ganzen verschärft: Rein wissensmäßiger Austausch von Bruchteilen der gegenseitigen Begriffswelt hat [...] zwischen der christlichen und jüdischen Gesellschaft immer stattgefunden. Das kam zustande einerseits auf rein literarischem Wege durch die Lektüre von Schriften der Gegenseite und andrerseits durch die Berührung von einzelnen besonders interessierten Gelehrten in beiden Lagern. Solche Berührung führte jedoch nicht zur Anteilnahme an den kultischen und gesellschaftlichen Veranstaltungen der Partner.205

Wenngleich die nachdrückliche Betonung der Bedeutung religiöser Orientierung und der Zugehörigkeit zu einer religiös determinierten Gruppe für die europäische Vormoderne sicherlich ihre Berechtigung hat, so erscheint KATZ’ beharrliches Pochen auf einer grundsätzlichen, unüberwindbaren und letztlich selbstgewählten Scheidung zwischen Juden und Christen in diesem Zeitraum gerade auch im Lichte seiner eigenen Äußerungen – und seiner persönlichen Überzeugungen jenseits seines wissenschaftlichen Fachgebiets – nur zum Teil als Gewinn seiner Quellenstudien. Selbst- und zunftkritisch hat er über den Beruf des Historikers einmal angemerkt: offensichtlich resultiert die Bevorzugung eines Themas vor einem anderen nicht immer aus den objektiven Voraussetzungen, die eine Forschung ermöglichen oder verhindern, wie zum Beispiel der Zugänglichkeit von Quellenmaterial. Die 203 KATZ: Exclusiveness, S. 10. 204 KATZ: Exclusiveness, S. 43. 205 KATZ: Messianismus, S. 63f. Daß ein „rein literarischer Weg“ in der Beziehung zwischen zwei Gruppen, die durch komplementäre Sprachdichotomien voneinander getrennt sind – wie Juden und Christen während des europäischen Mittelalters – nicht wirklich existieren kann, daß also zumindest am Ursprung dieses Vermittlungswegs wiederum Menschen aus Fleisch und Blut gestanden haben, berücksichtigt KATZ hier nicht.

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Entscheidung kann davon abhängen, wie der Historiker den kulturellen oder religiösen Rang der betreffenden Region oder Periode einschätzt, und diese Einschätzung kann wiederum mit den historischen, kulturellen und geistigen Lebensumständen des Historikers und seinen potentiellen Lesern zusammenhängen.206

KATZ’ historische, kulturelle und geistige Lebensumstände schlagen sich nun deutlich in seiner Vorstellung der gegenseitigen Exklusivität jüdischer und christlicher Existenz im Mittelalter nieder. Er betrachtet diese Form gesellschaftlicher Differenzierung jenseits aller geschichtlich bedingter Besonderheiten in ihrem Kern durchaus als den beiden daran beteiligten Gruppen gemäße soziale Ordnungsform, die, im Gegensatz zum fehlgeleiteten Versuch der Assimilation mitsamt seinen genozidalen Folgen, nachgerade zum Modell eines modernen jüdischen Gemeinwesens wird: “both sections, Jews as well as Christians, acted in harmony with their own nature in adopting an attitude of segregation. What more can be demanded from any society at any time?“207 Die „natürliche“ Ordnung jüdisch-christlicher Beziehungen fußt also auf gegenseitiger Ab- und Ausgrenzung. In dieser Vorstellung haben zwei prägende Elemente aus KATZ’ Biographie ihren Niederschlag gefunden: zum einen sein religiös-zionistisches Selbstbewußtsein, das als den einzig richtigen Weg aus historisch bedingten, assimilatorischen Fehlentwicklungen heraus die Rückgewinnung eines eigenstaatlichen, jüdischen Gemeinwesens erkannt hatte, dem der Historiker die eigene Geschichte jenseits aller apologetischen Rücksichtnahmen zurückgeben sollte;208 zum anderen seine Beeinflussung durch das spezifische Milieu des deutschsprachigen orthodoxen Judentums des frühen 20. Jahrhunderts, in dessen populärhistorischen Schriften eine romantischidealisierende Verklärung des deutschen Mittelalters – und vor allem der deutschen Juden des Mittelalters – durchaus häufiger anzutreffen war.209 Einer der produktivsten Autoren solcher Schriften war der Rabbiner

206 KATZ: Messianismus, S. 187. 207 KATZ: Exclusiveness, S. 11. 208 Vgl. dazu auch die emphatischen Worte, die den Schluß von “Exclusiveness and Tolerance“ bilden: “It remained for a later generation – our own – to lay aside the notions of static doctrine and teachings, and courageously to trace the true development of ideas and practices down the centuries“ (KATZ: Exclusiveness, S. 196). 209 Ein besonderes Kuriosum dieser Form deutscher Mittelalterrezeption im 19. und frühen 20. Jahrhundert stellt eine „Aus finsterer Zeit“ betitelte Erzählung dar, deren Autor sich hinter dem Pseudonym „Glichesaere“ verborgen hat und die im Jahrgang 1884 der „Sabbat-Stunden“ erschien, der illustrierten Feuilletonbeilage der „Jüdischen Presse“, einem der Zentralorgane des orthodoxen deutschen Judentums. Vgl. in diesem Zusammenhang auch ein von ABRAHAM SULZBACH (1838–1925) herausgegebenes „Quellenbuch für den Unterricht und zum Selbststudium“ zur jüdischen Geschichte, in dem die Darstellung der Antike 47 Seiten, die Darstellung des Mittelalters aber mehr als das Doppelte einnimmt (SULZBACH: Bilder, S. 1–47 u. 48–154).

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ISAAK MÜNZ (1857–1932),210 der unter anderem stark didaktisierte historische Biographien bedeutender Vertreter des mittelalterlichen Judentums verfaßte,211 oder 1930 eine schmale Gesamtdarstellung mit dem Titel „Jüdisches Leben im Mittelalter“ veröffentlichte. MÜNZ zufolge bietet das „innere Leben der Juden im Mittelalter [...] uns ein schönes und erhebendes Bild von Frieden und Eintracht, von Frömmigkeit und Tugend, von Freude und Familienglück, von Arbeit und Fleiß, von werktätiger Menschenliebe und Barmherzigkeit“212. Insbesondere die noch nicht durch Anfechtungen der Moderne ins Wanken geratene Religiosität seiner Beschreibungsobjekte hat es MÜNZ angetan, und so verwundert sein Resümee kaum noch, daß „alle deutschen Juden im Mittelalter durch tiefe Frömmigkeit und Gottesfurcht ausgezeichnet“ gewesen seien. Selbstredend sind die soliden, auf breitester Quellenbasis erarbeiteten historischen Untersuchungen aus der Feder JACOB KATZ’ so weit wie nur irgend denkbar von Wunschgemälden bürgerlicher Biederkeit entfernt – nichtsdestoweniger zeigen grundsätzliche Parallelen in der Betonung der Bedeutung der religiösen Überlieferung, daß auch KATZ’ Bild des jüdischen Mittelalters nicht frei sein muß von einer gewissen Idealisierung, die ihre Wurzeln eher in der persönlichen Biographie dieses Historikers hat als in der Multidimensionalität „historischer Realität“. So ist KATZ’ grundsätzliche Position mittlerweile auch von einer Reihe jüngerer Historiker revidiert worden, vor allem durch die Forschungen IVAN MARCUS’ zur Pietistenbewegung der znk#) ydysx („Frommen Deutschlands“) im 13. Jahrhundert213 und durch die Arbeiten ISRAEL YUVALs zum Konzept des {#h #wdyq („Heiligung des [göttlichen] Namens“)214 in der Form des Freitods und der vorangehenden Tötung der eigenen Kinder,215 die zuerst im Zusammenhang der Verfolgungen anläßlich des ersten Kreuzzugs 1096 in den rheinischen Judengemeinden auftrat, und die zum Beispiel der sogenannte ‚Mainzer Anonymus‘216 in seinem hebräischen Bericht wie folgt beschreibt: 210 Vgl. ELBOGEN: Münz, Sp. 341. 211 Vgl. z.B. seine vollständig zum ersten Mal 1912 in Frankfurt erschienene MaimonidesBiographie, in der er in „übersichtliche[r] Verteilung“ und „leichtfassliche[r] Form“ eine „ausführliche Charakter- und Lebensbeschreibung“ (MÜNZ: Moses, unpag. Vorwort) eines „der vorzüglichsten Gelehrten aller Zeiten, ein[es] Gedankenerwecker[s], ein[es] Lichtbringer[s] der Menschheit“ (ebd., S. 327) bietet. 212 MÜNZ: Leben, S. 9. 213 Vgl. z.B. MARCUS: Rituals, S. 102–111. 214 Vgl. dazu BLOCH: Israel, S. 443f. 215 Vgl. z.B. YUVAL: {qnh, S. 33–90. 216 Vgl. NEUBAUER/STERN: Berichte, S. 47–57; vgl. zu diesem Werk ausführlich CHAZAN: God, S. 28–51; überblickshaft zu den hebräischen Quellen zum ersten Kreuzzug CHAZAN: May–June 1096, S. 1–7.

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MARCUS und YUVAL zeichnen in ihren Studien ein komplexeres Bild der Beziehungen zwischen Juden und Christen im europäischen Mittelalter als KATZ’ Konzept der gegenseitigen Exklusivität.218 Beide gelangen, von unterschiedlichen Ausgangspositionen, zur Vorstellung eines nicht-linearen Prozesses gegenseitiger Beeinflussungen, die insbesondere die jüdische Identität im mittelalterlichen Zentraleuropa als in Polemik mit dem Christentum geformt sieht – MARCUS bezeichnet diesen Prozeß als “inward acculturation“219. So scheint sich die Betrachtung und Analyse des jüdisch-christlichen Beziehungsgeflechts in der Vormoderne wiederum Positionen anzunehmen und neu zu bewerten, die bereits die Geschichtswissenschaft des 19. und frühen 20. Jahrhunderts vertreten hat, freilich ohne deren evolutionäroptimistischen Geschichtsteleologie nachzugeben.220 Auch die spezifische Fragestellung dieser Studie, die Suche nach Spuren jüdisch-christlichen Kulturtransfers in der deutschen Literatur des Hoch- und Spätmittelalters, kann sich daher an folgendes Resümee des israelischen Historikers MICHAEL TOCH anschließen: Eine an den konkreten Lebensumständen interessierte Geschichtsanschauung muß auch die so zahlreichen Grauzonen und Überschneidungen einbeziehen. Vor der drückenden Geschichte der Verfolgungen soll darum ein Bild der Ambivalenz, der gegenseitigen Kontakte, Vermeidungen, Konflikte und Zwischenformen geliefert werden, die über lange Zeiten den Alltag ausmachten.221

Kommen wir also noch einmal zurück zu der bereits erwähnten, kleinen und durchaus heterogenen Gruppe deutsch-jüdischer Mediävisten des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Innerhalb dieser Gruppe waren es vor allem die wenigen Germanisten, Sprachhistoriker und Volks217 NEUBAUER/STERN: Berichte, S. 54; deutsche Übersetzung ebd., S. 181: „Und alle zusammen riefen laut: ‚Nun dürfen wir nicht mehr zögern, denn die Feinde kommen schnell über uns. Lasset uns handeln und uns vor unserem himmlischen Vater opfern! Wer nur ein Schlachtmesser besitzt, komme und schlachte uns zur Heiligung des einzigen Namens des Ewiglebenden, nachher durchsteche er sich selbst den Hals oder den Leib und schlachte auch sich.‘ Da erhoben sich alle, Mann wie Frau, und schlachteten einer den andern.“ 218 Vgl. dazu auch SAPIR ABULAFIA: Christians, Nr. I, S. 179–190. 219 MARCUS: Rituals, S. 84. 220 In jüngster Zeit erschienen jedoch einige eher populärwissenschaftlich orientierte Darstellungen, die nachgerade bruchlos am Symbiosenkonzept des 19. Jahrhunderts anknüpfen, vgl. z.B. CAHILL: Welt; HILTON: Jahre. 221 TOCH: Juden, S. 34; vgl. in diesem Sinne auch die Beiträge in LEHMANN/HSIA (Hrsg.): Ghetto.

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kundler, die einzelne Relikte eines jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter ans Licht brachten. Einige dieser Forschungen sollen im folgenden etwas ausführlicher dargestellt werden, da sie trotz ihres mittlerweile weitgehend überholten Forschungsstands noch immer eine ganze Reihe von Anregungen für das Untersuchungsfeld dieser Arbeit liefern können. Neben diesen inhaltlichen Vorarbeiten existieren darüberhinaus Studien der altgermanistischen Forschung des 19. Jahrhunderts, die mit ihrem insgesamt positivistischen Ansatz vor allem nach den Quellen der deutschen Literatur des Mittelalters gefragt hat. So haben zum Beispiel JACOB und WILHELM GRIMM in ihren sagengeschichtlichen Untersuchungen zuweilen auf die jüdischen Ursprünge einzelner Erzählmotive in den volkssprachigen Literaturen Europas hingewiesen.222 Desgleichen hat REINHOLD KÖHLER schon 1867 die Frage aufgeworfen, ob die Quelle für Rudolfs von Ems um 1220 entstandenen ‚Guten Gerhard‘ nicht in einer kurzen jüdischen Erzählung aus dem 11. Jahrhundert zu suchen sei;223 eine These, die in jüngerer Zeit durch Forschungen zur älteren jiddischen Literatur neuen Auftrieb erhalten hat.224 Zu erinnern ist hier desweiteren an den Religionswissenschaftler HEINRICH GÜNTER, der in seinen Forschungen zur christlichen Legende die talmudische und midraschische Überlieferung als „Brücke von der Antike zum Mittelalter“225 beschrieben hat. Es waren jedoch – wie bereits des öfteren erwähnt – in erster Linie deutsch-jüdische Wissenschaftler, die sich besonders um die Auffindung von Spuren eines jüdisch-christlichen Kulturtransfers in Mittelalter und Früher Neuzeit bemühten.226 Zu diesen Bemühungen zählen bis heute bekanntere Arbeiten wie die quellenkundlichen und sagengeschichtlichen Forschungen MORITZ GÜDEMANNs,227 MOSES GASTERs,228 LEO LANDAUs229 und SAMUEL SINGERs,230 oder die jiddistischen Grundlagenarbeiten SALOMO BIRNBAUMs231 und MAX WEINREICHs232. Aber auch heute 222 223 224 225 226

227 228 229 230 231 232

Vgl. GRIMM/GRIMM: Sage, S. 89–95. Vgl. KÖHLER: Gerhard, S. 55–60. Vgl. KLEINE: „Gefährte“, S. 1–17. GÜNTER: Legende, S. 73; vgl. dazu ausführlich ebd., S. 71–118. Zu den nichtjüdischen Germanisten des 19. Jahrhunderts, die sich neben den GRIMMS oder KÖHLER mit den jüdisch-christlichen Kulturbeziehungen des Mittelalters beschäftigt haben, zählen unter anderen auch RUDOLF HILDEBRAND, WILHELM SCHERER, ANDREAS SCHMELLER, FRIEDRICH HEINRICH VON DER HAGEN und FRIEDRICH ZARNCKE. Vgl. vor allem GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1 u. 3. Vgl. neben zahlreichen anderen Arbeiten GASTER: Exempla; GASTER: Quellenkunde, S. 199–213 u. 274–294. Vgl. LANDAU: Romances. Vgl. in erster Linie SINGER: Parallelen, S. 293–301; SINGER: Salomosagen, S. 177–187. Vgl. BIRNBAUM: Grammatik; BIRNBAUM: Sprache. Vgl. WEINREICH: (+ky#(g. Eine auf einen Band gekürzte englische Übersetzung erschien 1980 unter dem Titel “History of the Yiddish Language“.

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nahezu vergessene Untersuchungen, wie der 1931 in „Pauls und Braunes Beiträgen“ erschienene umfangreiche Aufsatz zur Übersetzungstechnik der altjiddischen und frühneuhochdeutschen Bibelübertragungen von NECHAMA LEIBOWITZ,233 fallen darunter. Diese Studien gehören durchaus nicht zu dem „Strom erbaulicher und apologetischer Judaistik“, der für WALTER BENJAMIN „alles, was man über die Juden in der deutschen Literatur bis dato lesen konnte“,234 umfaßte, sondern sind solide wissenschaftliche Versuche einer Neubestimmung des Verhältnisses von jüdischer Minorität und christlicher Majorität aus verschiedenen Perspektiven. Eine grundsätzlich neuartige Sicht auf dieses Verhältnis lieferten allerdings auch diese Arbeiten nicht, die dafür, wie die Untersuchungen ihrer nichtjüdischen Zeitgenossen, noch zu sehr an der Unterscheidung der einzelnen geisteswissenschaftlichen Fächer orientiert waren. Dies hätten vermutlich nur die Thesen und Studien eines weiteren deutsch-jüdischen Wissenschaftlers der Epoche, ABY WARBURGs, vermocht, denen noch die neuere Diskussion um Möglichkeiten und Aufgaben der „Kulturwissenschaften“ zahlreiche Anregungen verdankt.235 Der Nationalsozialismus hat auch diesen Zweig deutschsprachiger Wissenschaft abgebrochen und seine wenigen Exponenten, sofern sie an deutschen Universitäten beheimatet waren, ins Exil getrieben: Von den zuvor Genannten waren BIRNBAUM, LEIBOWITZ und WEINREICH gezwungen, vor den Nationalsozialisten zu fliehen. Sie gehörten einer jüngeren Generation jüdischer Wissenschaftler an, die in den Jahren vor der Machtübergabe gerade die ersten Stufen der wissenschaftlichen Karriereleiter genommen hatten: BIRNBAUM (1891–1989) war 1921 in Würzburg mit einer Untersuchung zur hebräisch-aramäischen Komponente des Jiddischen promoviert worden und hatte im darauffolgenden Jahr auf Initiative CONRAD BORCHLINGs an der Hamburger Universität den ersten jiddistischen Lehrauftrag an einer deutschen Hochschule erhalten, bevor er 1933 nach England emigrieren mußte.236 WEINREICH (1894–1969) und LEIBOWITZ (1905–1997) hatten ihre Doktorarbeiten 1923 in Marburg bzw. 1930 in Berlin eingereicht, danach finden wir die beiden in den USA bzw. im britischen Mandatsgebiet Palästina und späteren Israel wieder: WEINREICH erhielt den ersten Jiddistik-Lehrstuhl an einer nordamerikanischen Hochschule,237 LEIBOWITZ wurde Professorin für biblische Studien an der Universität von Tel Aviv.238 233 Vgl. LEIBOWITZ: Übersetzungstechnik, S. 377–463. 234 BENJAMIN: Briefe, Bd. 2, S. 804. 235 Vgl. dazu OEXLE: Kultur, S. 13–33; DIERS: Mnemosyne, S. 79–94; WUTTKE: Kulturwissenschaft, S. 1–30. 236 Vgl. RÖLL/TIMM: Birnbaum, S. 16–22; HABERMANN: Birnbaum, Sp. 1042f. 237 Vgl. HILDEBRANDT: Weinreich, S. 261–267; SCHAECHTER: Weinreich, Sp. 404f. 238 Vgl. ROTH: Leibowitz, Sp. 1588.

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Es war jedoch nicht allein und vor allem nicht zuerst das Gebiet der älteren jiddischen Sprache und Literatur, das das Interesse deutsch-jüdischer Mediävisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts weckte und als Ausweis eines intensiven Kulturaustauschs von der christlichen in die jüdische Sphäre des Mittelalters und der Früher Neuzeit diente – auch Belege für die entgegengesetzte Verlaufsrichtung kultureller Beeinflussung, vom jüdischen ins christliche Archiv, wurden gesucht und gefunden. Beispielhaft sei diese Suche an den Forschungen von sieben heute noch mehr oder weniger bekannten Vertretern so unterschiedlicher Fachrichtungen wie der Judaistik, der Volkskunde, der Altgermanistik und der Allgemeinen Literaturwissenschaft illustriert.239 Als erstes, und ältestes, Beispiel sind die Arbeiten ABRAHAM BERLINERs (1833–1915)240 zu nennen,241 der nach seiner auf Vorschlag von FRANZ DELITZSCH (1813–1890) ehrenhalber erfolgten Promotion an der Universität Leipzig seit 1873 als Bibliothekar und Lektor für jüdische Geschichte und Literatur am im gleichen Jahr von ESRIEL HILDESHEIMER (1820– 1899) gegründeten orthodoxen Rabbinerseminar in Berlin tätig war. BERLINERs wissenschaftliche Hauptleistung liegt sicher in der kritischen Edition wichtiger Übersetzungen und Kommentare des Pentateuch wie der 1884 erschienenen Ausgabe des Targum Onkelos oder der 1905 in zweiter, erweiterter und verbesserter Auflage vorgelegten Raschi-Edition. Doch BERLINER hat sich aufgrund seines breiten mediävistischen Interesses auch eingehender mit Fragen beschäftigt, die den Untersuchungsgegenstand dieser Studie betreffen.242 Namentlich drei Arbeiten kommen hier in Betracht: ein schmaler Band über „Persönliche Beziehungen zwischen Christen und Juden im Mittelalter“ von 1882,243 ein 1898 veröffentlichter 239 Die im folgenden vorgestellte Reihe ist notwendigerweise nicht auf Vollständigkeit angelegt – es fehlen z.B. MORITZ STEINSCHNEIDER (1816–1907), MARCUS LANDAU (1837– 1918) oder MAX GRUNWALD (1871–1953) –, zumal auch die Exemplarität der ausgewählten Forscher und ihrer Arbeiten eine Ausweitung dieses Kapitels über das im Rahmen dieser Untersuchung sinnvolle Maß hinaus unnötig macht. 240 Vgl. CARLEBACH: Berliner, Sp. 664f.; MARKON: Berliner, Sp. 272f.; RENZER: Berliner, Sp. 898–900. 241 Streng chronologisch betrachtet müßte dieser Überblick eigentlich mit dem 1858 zum ersten Mal von GEORG ZAPPERT edierten sogenannten ‚Althochdeutschen Schlummerlied‘ beginnen, einem ahd. Zauberspruch mit hebräischen Interlinearglossen aus dem 9. Jahrhundert. Aufgrund der spezifischen Fundumstände dieses Textes und des gespaltenen Echos, das besonders die Frage seiner Authentizität in der Forschung gefunden hat, werden Editor und Text hier aber übergangen. 242 Eine seiner kleineren Editionen, die eines hebräischen ‚Prosa-Lancelot‘-Fragments aus dem Jahre 1279 (BERLINER [Hrsg.]: #w+r) ßlm, S. 1–11), ist einschlägig für die Frage des mittelalterlichen Kulturtransfers aus dem christlichen in das jüdische Archiv; vgl. dazu PRZYBILSKI: Artusroman; S. 409–435. 243 Vgl. BERLINER: Beziehungen.

Inhaltliche Vorarbeiten

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Aufsatz über „Die mittelhochdeutsche Sprache bei den Juden“,244 sowie die Monographie „Aus dem Leben der deutschen Juden im Mittelalter“ aus dem Jahre 1900.245 In der erstgenannten Studie untersucht BERLINER „persönliche Beziehungen und Verbindungen zwischen Juden und Christen für wissenschaftliche Zwecke“246 vom früheren Mittelalter bis ins 18. Jahrhundert, denn wo „es galt, durch vereinte Kräfte das Gebiet des Wissens anzubauen, da scheute man sich nicht, auch mit den sonst geächteten Juden in freundliche, oft sogar in freundschaftliche Beziehungen zu treten, um auch ihre geistigen Mittel und Beiträge für die Pflege der Wissenschaft in Anspruch zu nehmen“247. Unter diesen Beziehungen hebt BERLINER in erster Linie die Kontakte Kaiser Friedrichs II. (1194–1250) mit einer Reihe jüdischer Gelehrter wie Mose ben Salomo aus Salerno, Juda ben Salomo aus Toledo oder Jakob Anatoli hervor: Es ist ziemlich sicher, daß Friedrich u.A. auch eine lateinische Uebersetzung des More von Maimonides veranlaßte, durch welche ein nach neueren Forschungen feststehender, zum Theil bedeutender Einfluß auf die christlich=scholastische Literatur geübt wurde. Mose b. Salomo aus Salerno führt in seinem Commentar Stellen aus dieser Uebersetzung an, wie er auch Aussprüche Friedrichs und verschiedener christlichen Gelehrten, mit denen er im geistigen Verkehr stand, darin mittheilt.248

Vor allem das Interesse Friedrichs an philosophischen und mathematischen Problemen hat nach BERLINER seine Verbindungen zu kompetenten jüdischen Gesprächspartnern beeinflußt, wobei sich der direkte Austausch mittels der arabischen Sprache vollzog.249 Weitere Begünstigung erfuhr dieser kulturelle Austausch durch den geographischen Raum, in dem er sich vollzog, also das süditalienisch-sizilianische Territorium, das aufgrund seiner Lage auf der Grenze der drei großen Hegemonialgebiete des Mittelmeerraums – westchristliches Zentraleuropa, ostchristliches Kleinasien und muslimisches Nordafrika – als geradezu prädestiniert für interkulturelle Kontakte erscheint, wie auch ein weiteres von BERLINER angeführtes Beispiel verdeutlicht: die Beziehungen Roberts von Anjou (1278–1343), König von Sizilien, zu den jüdischen Gelehrten Kalonymos ben Kalonymos aus Arles, Juda Romano und Schemarja von Negroponte.250 Im Gegensatz zu der günstigen Ausgangslage Süditaliens im 13. und 14. Jahr244 245 246 247 248 249 250

Vgl. BERLINER: Sprache, S. 162–182. Vgl. BERLINER: Leben. BERLINER: Beziehungen, S. 4. BERLINER: Beziehungen, S. 3f. BERLINER: Beziehungen, S. 9. Vgl. BERLINER: Beziehungen, S. 10f. Vgl. BERLINER: Beziehungen, S. 12–14.

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hundert beurteilt BERLINER die zeitgleiche Situation im deutschsprachigen Raum jedoch negativ: Beziehungen zwischen Juden und Christen „finden wir kaum, wenn wir nunmehr nach Deutschland uns wenden. Da möchten wir mit dem Propheten ausrufen: Ich blickte zum Himmel hinauf – und siehe, kein Licht war da!“251 Erst zu Beginn der Frühen Neuzeit, im Zeitalter des deutschen Humanismus und namentlich im Falle Johannes Reuchlins (1455–1522) und Johannes Buxtorfs (1564–1629), erkennt BERLINER den Beginn einer grundsätzlichen Veränderung dieser Lage.252 Diese Einschätzung erscheint 16 Jahre später, in seinem Aufsatz über das Mittelhochdeutsche bei den Juden, bereits eingeschränkt und zum Teil revidiert. Eigentliches Ziel dieser Untersuchung ist es, den Wert des „sogenannten Judendeutsch“ für die Erforschung der „mittelhochdeutsche[n], sehr oft auch für die altdeutsche Sprache“253 zu demonstrieren. BERLINER geht dabei von folgender, grundsätzlicher Feststellung aus: wie wir aus dem alten jüdischen Schriftthume in deutscher Sprache und aus gelegentlichen Anführungen in hebräischen Schriften zu erkennen vermögen, haben die Juden des Mittelalters die deutsche Sprache mindestens in derselben Reinheit und Correctheit zu benutzen verstanden, wie die deutschen Nichtjuden.254

Die ältesten erhaltenen Spuren dieser Sprachgemeinschaft datiert er ins 11. Jahrhundert und zieht als Beleg die zahlreichen deutschen Glossen heran, die sich im Bibelkommentar Raschis255 aus Troyes (1040–1105) finden lassen, wie mhd. qwbn+#) astenbok256 für hebr. wq) („Steinbock“) in Deut 14,5. Als weitere Belege nennt BERLINER die Werke bedeutender aschkenasischer Rabbiner ihrer jeweiligen Generation, also Eliesers ben Natan aus Mainz (1100–1150), Meirs ben Baruch aus Rothenburg (1220– 1293) Jakob Levis aus Mainz (1360–1427) und Israel Isserleins aus Wiener Neustadt (1390–1460).257 Doch Glossen allein belegen noch keine aktive Teilhabe an einer Sprache, und so werden noch weitere Beweise zur Untermauerung der eingangs aufgestellten These gebracht: zum einen die Tatsache, daß Deutsch spätestens seit dem 15. Jahrhundert als legitime Verhandlungssprache vor jüdischen Gerichten religionsgesetzlich zugelas-

251 252 253 254 255

BERLINER: Beziehungen, S. 16. Vgl. BERLINER: Beziehungen, S. 18–21. BERLINER: Sprache, S. 162. BERLINER: Sprache, S. 163. Raschi entspricht dem hebräischen Akronym y““#r, i.e. yqxcy hml# ybr, also Rabbi Salomo, Sohn Isaaks. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit wird diese weithin gängige Bezeichnungsform verwendet. Vgl. für entsprechende Bildungen Rambam, i.e. Rabbi Mose ben Maimon (= Maimonides), Ramban, i.e. Rabbi Mose ben Nachman (= Nachmanides), Ralbag, i.e. Rabbi Levi ben Gerschon (= Gersonides), oder Redak, i.e. Rabbi David Kimchi. 256 Dieses Lexem findet sich nicht bei BMZ, LEXER oder DWB. 257 Vgl. BERLINER: Sprache, S. 164–168.

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sen war,258 zum anderen die Tatsache, daß eine Reihe rabbinischer Autoritäten des gleichen Zeitraums dialektgeographische Überlegungen bezüglich des Deutschen angestellt hat: Es finden sich auch manche Mittheilungen über die Aussprache des Deutschen. So heißt es im Maharil (94b), daß man in Regensburg das Deutsche richtiger als in Oesterreich ausspreche. Isserlein führt Beispiele für die Verschiedenheit der Dialecte am Rhein und in Oesterreich an und geht mehrere Male näher darauf ein. Es hatte diese Verschiedenheit auch Einfluß auf die jüdische Orthographie der deutschen Wörter; je nachdem nämlich der Schreiber am Rhein oder in der Steyermark lebte. Moses Menz giebt in einem seiner Rechtsbescheide an, daß man in Sachsen den Anlaut b als hartes p ausspreche; ferner am Niederrhein sage man Selichmann, am Oberrhein dafür Selikmann. Der Verfasser eines Commentars im Codex No. 61 der Hamburger Statdbibliothek, welcher der Mark angehört, schreibt: Die Aussprache ist im Gebiet der Mark mannigfach verschieden von der in anderen deutschen Gegenden, doch immerhin ist es zu verstehen, daß es eine Sprache ist.259

In diesem Aufsatz nähert sich BERLINER aufs Ganze betrachtet also der Einschätzung an, daß „das Leben unserer Altvordern in den deutschen Landen [...] gewisse Berührungspunkte mit dem Leben seiner nichtjüdischen Umgebung trotz Ab- und Ausschliessung nicht selten erkennen läßt“260, einer Sicht, die er sich in der letzten hier zu besprechenden Studie vollends zueigen gemacht hat. Diese Revision seiner eigenen Position ist vermutlich auf den Eindruck zurückzuführen, den die in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts erschienene, dreibändige Darstellung der Kultur der abendländischen Juden im Mittelalter aus der Feder MORITZ GÜDEMANNs bei BERLINER hinterlassen hat, auf die im weiteren Verlauf dieser Überlegungen noch ausführlicher eingegangen wird. BERLINER selbst räumt diesen Einfluß zu Beginn seines Buchs „Aus dem Leben der deutschen Juden im Mittelalter“ ein.261 Er ist aber auch ohne diesen expliziten Hinweis an der eigentlichen Untersuchung ablesbar: das Werk stellt die grundlegend überarbeitete Neufassung einer Schrift vor, die BERLINER schon 1871 unter dem Titel „Aus dem inneren Leben der deutschen Juden im Mittelalter“ veröffentlicht hatte.262 Aus dem „inneren Leben“ ist nunmehr also eine Darstellung des Lebens an sich geworden, und der in der ersten Fassung noch alleinstehende Titel ist in der Neubearbeitung von 1900 durch den Untertitel „Zugleich als Beitrag für deutsche Culturgeschichte“ ergänzt worden. Die bereits an diesen Veränderungen ab258 Vgl. BERLINER: Sprache, S. 168f., mit Bezug auf Responsum Nr. 101 des Jakob Weil aus Mainz (1400–1470); vgl. auch MENCZEL: Beiträge, S. 63. 259 BERLINER: Sprache, S. 168. 260 BERLINER: Leben, S. IV. 261 Vgl. BERLINER: Leben, S. III. 262 Vgl. BERLINER: Inneres Leben.

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lesbaren Implikationen sind deutlich: mittlerweile geht es nicht mehr um die Zeichnung eines von der christlichen Majorität abgeschlossenen, vollständig auf sich selbst und seine autochthonen Traditionen bezogenen vormodernen Judentums, sondern um den Erweis einer jüdischen Teilhabe an der mit den koterritorialen Christen gemeinsamen, „deutschen“ Kultur, die bis ins frühe Mittelalter zurückreicht. Beweise für die unterschiedlichsten Erscheinungsformen dieser Kulturgemeinschaft finden sich durch BERLINERs ganze Studie hindurch verteilt: Die Mainzer Juden trauern 1051 ebenso öffentlich um den verstorbenen Erzbischof Bardo wie die Christen.263 „Lieder mit heidnischen Anklängen“ sind unter den Juden des deutschen Mittelalters verbreitet, nur die jüdischen Frauen halten sich davon fern.264 Wohingegen „in den Fällen, wo nicht gerade das Religionsgesetz strikt dagegen sich wandte, das ausserjüdische Leben und das tägliche Beispiel trotz aller Abgeschlossenheit nicht wirkungslos blieben.“265 So stehen einzelne Unterhaltungsspiele, die in jüdischen Quellen des 15. Jahrhunderts erwähnt werden, mit „der seit dem 13. Jahrhundert auch in der deutschen Literatur auftretenden Rätselpoesie“ in Verbindung.266 Aber auch für jüdische Teilnahme an verschiedenen Formen höfischer Repräsentation, vor allem an Beizjagden und Turnieren, liefert BERLINER eine Reihe von Belegen aus dem 13. bis 15. Jahrhundert.267 Schließlich erwähnt er nicht nur die zahlreichen afrz., mhd. und frnhd. Glossen, die sich in hebräischen Quellen des Mittelalters finden und für die fortgeschrittene Akkulturation ihrer jüdischen Trägerschicht sprechen, sondern auch einzelne Juden, die „für die allgemeinen Culturbestrebungen nicht teilnamlos“268 geblieben seien: Die deutschen Juden haben aus der Blütezeit der deutschen Minnesänger, aus dem ersten Viertel des 13. Jahrhunderts, Süskind von Trimberg aufzuweisen, dessen dichterische Productionen von hoher Begabung, von seltener Sprachgewandtheit und gemütlicher Innigkeit zeugen. Auch aus der späteren Zeit, aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, ist uns ein Sänger, Wolflein von Lochamen, bekannt, der mit seinem uns noch erhaltenen Liederbuche davon Zeugnis ablegt, wie die Erheiterung, welche namentlich die Kunst des Gesanges gewährt, in den häuslichen Kreisen der Juden gepflegt wurde, wie hart auch der Druck auf ihnen lastete. [...] Auch Wolfram von Eschenbachs berühmtes Gedicht Parzival, 1336 263 Vgl. BERLINER: Leben, S. 2; vgl. dazu ARREG 155. 264 Vgl. BERLINER: Leben, S. 6; vgl. dazu {ydysx rps (Parma) § 346. 265 BERLINER: Leben, S. 18. In diesem Zusammenhang verweist er auf {ydysx rps (Parma) § 1301: ry(w ry( lk {ydwhyh ghnm }k {ywgh ghnmk („in jeder Stadt richtet sich das Verhalten der Juden nach dem Verhalten der Nichtjuden“); schon GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. I, hatte diese Sentenz als Motto seinem Werk vorangestellt. 266 Vgl. BERLINER: Leben, S. 23. 267 Vgl. BERLINER: Leben, S. 25–29. 268 BERLINER: Leben, S. 55f.

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ergänzt durch eine Uebertragung aus dem Wälschen, verdankt diese Erweiterung einem Juden, Namens Samson Piene.269

Mit dieser Trias, die letztlich wiederum auf GÜDEMANNs Forschungen zurückgeht,270 führt BERLINER die beliebtesten Beispiele an, mit denen deutsch-jüdische Mediävisten vor allem im ausgehenden 19. Jahrhundert ihre These der christlich-jüdischen Kulturgemeinschaft auf mittelalterlichem deutschem Boden zu untermauern suchten.271 Sein Fazit aus diesen und zahlreichen weiteren Belegen lautet folgerichtig, daß sich „nicht selten Einzelheiten finden, welche auf einen friedlichen und freundlichen Verkehr zwischen Juden und Christen schliessen lassen“272. Nach ABRAHAM BERLINER ist als zweiter deutsch-jüdischer Forscher auf dem Gebiet des jüdisch-christlichen Kontakts im Mittelalter MORITZ GÜDEMANN zu nennen, ein Zeitgenosse BERLINERs und, darauf wurde bereits hingewiesen, von großem Einfluß auf die Einschätzung des Erstgenannten bezüglich des kulturellen Kontakts zwischen mittelalterlichen Juden und Christen im deutschen Sprachraum. GÜDEMANN wurde 1835 in Hildesheim geboren, durchlief die für Rabbiner im 19. Jahrhundert gängige, „zweigleisige“ akademische Ausbildung273 und war seit 1894 bis zu seinem Tod im Jahre 1918 Wiener Oberrabbiner.274 Neben seinen zahlreichen offiziellen und seelsorgerischen Verpflichtungen ging er ausgiebigen historischen und volkskundlichen Studien nach, die immer wieder auch um das Thema jüdisch-christlicher Beziehungen in der Vormoderne kreisten. So wies er unter anderem in einer Reihe von Aufsätzen die Verbindungen zwischen volksmagischen jüdischen Bräuchen und ihren christlichen Entsprechungen nach.275 Seine bedeutendste – und wirkmächtigste – Leistung auf diesem Gebiet stellt aber die dreibändige, zwischen 1880 und 1888 erschienene „Geschichte des Erziehungswesens und der Cultur der abendländischen Juden während des Mittelalters und der neueren Zeit“ dar.276 Mit diesem Werk lie269 270 271 272 273

BERLINER: Leben, S. 56. Vgl. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 134 u. 138, Bd. 3, S. 159f. Vgl. zur Kritik an diesen Beispielen ausführlich unten B.IV. u. B.V. BERLINER: Leben, S. 106. Im Gegensatz zur Ausbildung christlicher Geistlicher, vor allem katholischer Priester, verlangten die deutschen Teilstaaten bzw. das 1871 begründete Deutsche Reich von den Rabbinern neben der Absolvierung einer spezifisch jüdisch-theologischen Ausbildung ein paralleles, andere Fächer umfassendes Studium an einer deutschen Universität. Dies führte sehr rasch zu einer Akademisierung der deutschen Rabbiner und zu dem historischen Kuriosum, daß es zwischen 1870 und 1933 in Deutschland kaum einen Rabbiner ohne Doktortitel gab. 274 Vgl. SCHORSCH: Guedemann, Sp. 958f. 275 Vgl. z.B. GÜDEMANN: „Magen“, S. 135–139; GÜDEMANN: Vermischungen, S. 269–273. 276 Vgl. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1–3.

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ferte GÜDEMANN “the first systematic attempt to examine some of the underlying trends and institutions of medieval Jewish life in terms of their non-Jewish millieu“277. Für unsere Frage sind vorrangig der erste und der dritte Band dieser umfang- und materialreichen Gesamtdarstellung einschlägig, die sich mit Frankreich und Deutschland im 10.–14. Jahrhundert bzw. nur noch mit Deutschland im 14. und 15. Jahrhundert befassen, während der zweite Band dem italienischen Raum während des gesamten Mittelalters gewidmet ist.278 GÜDEMANN formuliert die Grundthese seiner Untersuchung an pointierter Stelle in der Einleitung zum ersten Band: Wie nun von jüdischer Seite her eine Einwirkung auf christliche Denk- und Anschauungsweise ausging, so konnte man auf Seiten der Juden der gleichen Einwirkung von christlicher Seite sich nicht entziehen. [...] Ja man darf behaupten, dass Juden und Christen in geistiger Beziehung niemals verwandter waren, niemals sich näher standen, als im 13. Jahrhundert, in welchem sie durch die tiefste politische und sociale Kluft von einander getrennt waren. Juda Chassid und Thomas von Cantipré, Elasar von Worms und die christlichen Prediger David von Augsburg, Berthold von Regensburg und Meister Eckhart dachten verwandter, ihre Anschauungen bieten zahlreichere Berührungspunkte dar, als heutzutage zwischen einem Rabbiner in den östlichen Ländern und einem christlichen Theologen des westlichen Europa bestehen.279

Hier wird also gerade der sozialgeschichtliche Aspekt, der 80 Jahre später von JACOB KATZ als Indikator einer grundsätzlichen und unüberwindlichen Trennung gewertet wurde, der beiderseitige affirmative Bezug auf die eigenen religiösen Überlieferungen und Traditionen, als der gemeinsame Nenner beschrieben, der interkulturellen Kontakt und Austausch erst ermöglicht und begünstigt habe. Diese Einschätzung führt für GÜDEMANN zu der Erkenntnis, daß „überhaupt das deutsche Alterthum ohne eingehende Kenntniss der Geschichte der deutschen Juden nicht verstanden werden kann“280. Dabei idealisiert er das christlich-jüdische Verhältnis keineswegs, vor allem das ausgehende Hochmittelalter beschreibt er als Phase, in der dieses Verhältnis immer größeren Belastungen ausgesetzt wurde: „Je lebhafter und verzweigter nun aber die Geldgeschäfte zwischen Juden und Christen waren, desto mehr lockerten sich die socialen Beziehungen bis zur völligen Entfremdung.“281 Die Juden erscheinen in der zeitgenössisch-volkssprachigen Literatur der Christen nurmehr als Verkörperung des wuocher, wofür GÜDEMANN zahlreiche Beispiele aus der Sang277 SCHORSCH: Guedemann, Sp. 959. 278 Das sefardische Mittelalter hatte GÜDEMANN bereits 1873 unter ähnlicher, allerdings insgesamt eingeschränkter Fragestellung behandelt, vgl. GÜDEMANN: Unterrichtswesen. 279 GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 5f. 280 GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 8. 281 GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 135.

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spruchdichtung (Walther von der Vogelweide, Rumelant von Sachsen, Reinmar von Zweter), aus dem Minnesang (Ulrich von Lichtenstein), aus der Didaktik (Freidank, ‚Kleiner Lucidarius‘) und aus der Predigt (David von Augsburg, Berthold von Regensburg) liefert.282 Zudem steigert sich gerade in volkssprachigen Texten ab der Mitte des 13. Jahrhunderts die religiöse Polemik gegen und Verächtlichmachung der Juden, was GÜDEMANN als Auswirkung des Pariser Talmudprozesses von 1240–1248 beschreibt283 und mit Zitaten aus den Werken Konrads von Würzburg, des Marners und Regenbogens sowie wiederum aus dem ‚Kleinen Lucidarius‘ belegt.284 Doch trotz dieser grundlegenden Verschlechterung der jüdischchristlichen Beziehungen beobachtet GÜDEMANN für den gleichen Zeitraum „die zäheste Anhänglichkeit der Juden an ihre Wohnorte“285, die er aus ihrer tiefgreifenden Akkulturation heraus erklärt: Sie betrachteten Deutschland als ihre Heimath, wenigstens hatten sie das Bedürfniss, es so zu betrachten. Aber noch mehr, sie waren ursprünglich auch von dem Verlangen nach freundschaftlichem Anschluss an ihre Mitbürger erfüllt. Die Juden dieses Zeitalters führen die bei Christen geläufigen Namen, selbst mythologische, sie sprechen die deutsche Sprache, und zwar ohne Jargon, sie verhehlen sich sogar nicht, dass sie selbst unter der moralischen Einwirkung ihrer christlichen Umgebung stehen.286

Zum Beleg für die letztgenannte Behauptung zitiert Güdemann, wie einige Jahre später ABRAHAM BERLINER,287 den in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts kompilierten, gemeinhin dem Regensburger Rabbiner Juda dem Frommen (1140–1217) zugeschriebenen {ydysx rps (‚Buch der Frommen‘), § 1101 nach der Bologna-Version: {yrknh {) }wgk twmwqm bwrb {ydwhyh yghnm }k {yrknh ghnm# wmk 288.ry( htw)b {ydlwnh {ydwhyh ynb wyhy ßk twyr(b {yrwdg

Aus diesem ungebrochen positiven Bezug der Juden des deutschen Sprachraums auf ihren Teil der Diaspora erklärt es sich dann nach GÜDEMANN auch, daß trotz zunehmender „Entfremdung“289 zwischen jüdischem und christlichem Milieu nichtsdestoweniger weiterhin kulturelle Austauschbewegungen stattfanden, vor allem auf dem Gebiet des „Aber-, 282 283 284 285 286 287

Vgl. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 129–132. Vgl. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 144. Vgl. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 136f. u. 142–146. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 147. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 148f. Vgl. BERLINER: Leben, S. 18, der allerdings nach dem etwas abweichenden Wortlaut der dem Archetyp näherstehenden Parma-Version (§ 1301) zitiert. 288 „Das Verhalten der Juden richtet sich in den meisten Orten nach dem der Christen. Sind die Christen in einer Stadt unsittlich, so sind es auch die Juden daselbst“ (GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 149, der hier und ebd., S. I, fälschlicherweise § 1106 als Belegstelle angibt). 289 GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 135.

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Zauber- und Hexenglaubens“, dem er ein ganzes Kapitel des ersten Bands seines Werks widmet.290 Doch auch außerhalb des Bereichs der Volksmagie findet GÜDEMANN Beispiele für intensivere jüdisch-christliche Kontakte im 13. bis 15. Jahrhundert, namentlich auf dem Gebiet der volkssprachigen Dichtung: im ersten Band führt er des öfteren den „jüdische[n] Minnesinger Suezkint von Trimberg (um 1218)“291 ins Feld, im dritten Band hingegen weist er auf Samson Pines Mitarbeit an der Übersetzung des ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ hin,292 erklärt Wolflein von Lochamen zum jüdischen Autor des ‚Lochamer Liederbuchs‘293 und erläutert die Bedeutung, die der „getaufte Jude und nachmalige Franziskanermönch Johannes Pauli“294 für die Geschichte der Novellenliteratur in der Frühen Neuzeit besitzt, um zu zeigen, daß „der deutsche Jude mit dem Volksgeiste ebenso verwachsen war wie sein christlicher Mitbürger“295. Schließlich schildert auch GÜDEMANN, und noch weitaus ausführlicher als nach ihm BERLINER,296 die Überlegungen, die deutsche Rabbiner wie Israel Isserlein und Mose Minz im 15. Jahrhundert bezüglich der Aussprache- und Schreibvarietäten des Deutschen angestellt haben.297 All dies dient GÜDEMANN zur Unterstreichung eines Bilds vom deutschen Mittelalter, das er schon im Vorwort zum dritten Band seiner Darstellung gemalt hatte: er [sc. der deutsche Jude] widmet seine Aufmerksamkeit den Erscheinungen der Nationallitteratur, verbreitet die Heldensagen, die Erzählungen und Schwänke unter seinen Glaubensgenossen, ahmt das Versmass des deutschen Epos in poetischen Bearbeitungen biblischer Stoffe nach und zeigt mitunter ein feines Verständniss für deutsche Sprache und Rechtschreibung. In diesem Zeitraum haben ohne Zweifel mehr deutsche Juden die Geschichten vom König Artus und vom Schmied Wieland gelesen, als Christen davon gehört hatten298.

Mit dem aus Bukarest stammenden Rabbiner MOSES GASTER (1856– 1939) kommen wir zum dritten beispielhaften Vertreter unserer Gruppe jüdischer Mediävisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er hatte an der Breslauer Universität und am dortigen Jüdisch-Theologischen Seminar studiert, 1885 aus politischen Gründen Rumänien verlassen und sich in London niedergelassen, wo er schließlich Oberrabbiner ({kx) der dortigen sefardischen Gemeinde und Dekan des Montefiore College in Rams290 291 292 293 294 295 296 297 298

Vgl. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 199–227. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 134 u. 138. Vgl. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 159. Vgl. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 160. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 160. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 162. Vgl. BERLINER: Sprache, S. 168. Vgl. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 72–79. GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 8.

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gate wurde.299 GASTER war einer der produktivsten und vielseitigsten, wenngleich in seinen Urteilen nicht immer besonders zuverlässigen jüdischen Volkskundler an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die Schwerpunkte seines Schaffens liegen in der historischen Erzählforschung, Kabbala- und Volksmagiestudien, Untersuchungen zur Artus- und Alexanderepik des europäischen Mittelalters, sowie auf den Gebieten der biblisch-apokryphen hebräischen und der samaritanischen Literatur. Aus der Fülle dieser Arbeiten seien hier nur einige wenige kurz angesprochen. GASTERs Hauptwerk auf dem Gebiet der historischen Erzählforschung stellt seine 1924 erschienene Monographie “The Exempla of the Rabbis“ dar, in der er 450 Erzählungen aus hebräischen Handschriften und Frühdrucken, zum größten Teil in seinem eigenen Besitz, ediert und kommentiert hat, die überwiegend ubiquitär vorhandenes Erzählgut enthalten. Oberstes Ziel seines Werks ist es demzufolge, die Verteilungs- und Wanderungsbewegungen von Erzählstoffen nachzuvollziehen, “since many of these tales form an integral part of the literature of fiction of the Middle Ages and can thus now be traced to their more remote parallels and sources“300. Mit “The Exempla of the Rabbis“ legte GASTER sozusagen eine Summe seiner gesamten Untersuchungen zu wandernden Erzählstoffen vor, um die er sich knappe fünfzig Jahre lang zuvor bemüht hatte. Als erklärtem Anhänger der Migrationstheorie BENFEYscher Prägung301 war es ihm vor allem darum getan, den jüdischen Anteil an der Wanderung von Erzählgut, des öfteren auch den jüdischen Ursprung wandernder Erzählstoffe und -motive nachzuweisen. Den Beginn dieser Bemühungen markieren zwei umfangreiche Aufsätze, die zeitgleich jeweils in den Jahrgängen 1880 und 1881 der „Germania“302 und der „Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judenthums“303 erschienen, also an prominenter altgermanistischer und judaistischer Stelle. In diesen beiden Aufsätzen bringt GASTER unter anderem Parallelen zum ‚Pantschatantra‘, den ‚Gesta Romanorum‘ oder dem ‚Physiologus‘ aus dem babylonischen Talmud,304 diskutiert die Abhängigkeit des ‚Guten Gerhard‘ Rudolfs von Ems von einer Erzählung im twy#(mh rps (‚Buch der Geschichten‘) Nissims ben Jakob aus Kairouan (gest. um 1040),305 vergleicht eine Anekdote aus den ‚Casus Sancti Galli‘306 Ekkehards IV. (980–1060) mit einem ähnlichen 299 300 301 302 303 304 305 306

Vgl. ROTH: Gaster, Sp. 332–334; HERLITZ/MARKON: Gaster, Sp. 897–899. GASTER: Exempla, S. IX. Vgl. GASTER: Beiträge, S. 1187. Vgl. GASTER: Quellenkunde, S. 274–294 u. 199–213. Vgl. GASTER: Beiträge, S. 1187–1293. Vgl. GASTER: Beiträge, S. 1192–1206 u. 1239–1248. Vgl. GASTER: Quellenkunde, S. 274–284 u. 199–203. Vgl. MGH SS. II, cap. 3, S. 96.

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Bericht des Midrasch Gen rabba 68,307 oder führt schließlich sogar „Naglfar [...] ein aus den nägeln todter menschen gefertigtes schif“308, also einen Bestandteil der nordischen Mythologie, auf jüdisches Brauchtum und Erzählgut zurück.309 In später erschienenen Aufsätzen ging GASTER entsprechend vor, wobei sein Augenmerk, wie bereits angedeutet, vorrangig auf der arthurischen Epik und den Alexanderdichtungen des Mittelalters ruhte. So veröffentlichte er zum Beispiel 1909 eine englische Übersetzung des erstmals 1885 von BERLINER edierten hebräischen ‚Prosa-Lancelot‘-Fragments310 von 1279.311 Zudem fragte er nach der Herkunft zentraler Gestalten und Gerätschaften der arthurischen Welt: Vortigern und Merlin verstand er als “the late and somewhat confused outcome of a more ancient Oriental tale which belongs to the cycle of King Solomon and Ashmedai“312 – dieser hebräische Erzählzyklus313 bildete auch “the ultimate source of the whole cycle of Solomon and Morolf“314 –, während der Gral nach GASTER “owes its origin, to some extent, to Jewish tales and Jewish descriptions of travels; and some light may be thrown on Flegetanis the Jew, to whom, according to Wolfram, Kyot owed the original of the Grail legend“315. Mit den Alexanderromanen des europäischen Mittelalters beschäftigte er sich schließlich, da es, aufbauend auf den Alexandersagen in Talmud und Midrasch, eine Reihe mittelalterlicher hebräischer Bearbeitungen dieses Stoffkomplexes gibt, die sowohl einzelne Züge enthalten, “for which no parallel exists or is hitherto known“, als auch als Quelle für “the famous ‚Iter ad Paradisum‘ and some [...] mediaeval French Romances“ in Betracht gezogen werden können.316 Eine dieser Bearbeitungen, die ISRAEL LÉVI 1896 nach der ältesten erhaltenen Handschrift aus dem 12. Jahrhundert ediert hatte,317

307 308 309 310 311 312 313 314 315

Vgl. GASTER: Quellenkunde, S. 288. GRIMM: Mythologie, Bd. 2, S. 679. Vgl. GASTER: Quellenkunde, S. 204–207. Vgl. BERLINER (Hrsg.): #w+r) ßlm, S. 1–11. Vgl. GASTER: History, S. 277–294. Vgl. GASTER: Legend of Merlin, S. 973. Vgl. BHM, Bd. 2, S. 83–87, Bd. 3, S. 22–26 u. 34–39. Vgl. GASTER: Legend of Merlin, S. 976. Vgl. GASTER: Legend of the Grail, S. 895. Vor allem Wolframs Darstellung des Gral als lapsit exilîs (‚Parzival‘ 469,7) vergleicht er ebd., S. 901f., mit dem hyt# }b), dem „Grundstein“ des Jerusalemer Tempels, der z.B. in den w#y twdlwt (‚Geschlechter Jesu‘), jenem spätantik-frühmittelalterlichen, polemischen hebräischen Leben Jesu, eine wichtige magische Rolle spielt, vgl. CALLSEN/KNAPP/NIESNER/PRZYBILSKI (Hrsg.): Leben Jesu, S. 48; KRAUSS (Hrsg.): Leben Jesu, S. 40; zu den w#y twdlwt vgl. SCHRECKENBERG: AdversusJudaeos-Texte, Bd. 1, S. 483f. 316 Vgl. GASTER: Romance, S. 819. 317 Vgl. LEVI (Hrsg.): Roman, S. 142–163.

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die nach GASTER aber aus dem 7. Jahrhundert stammt,318 übersetzte er mit ausführlicher Einleitung ins Englische.319 GASTERs weitgestreutes Interesse wie breitgefächerte Kenntnisse werden uns im weiteren Verlauf dieser Arbeit noch des öfteren begegnen, wenn auch viele seiner Schlüsse, im Gegensatz zu den anderen hier behandelten Forschern, häufiger seiner Assoziationskraft als dem tatsächlichen Wortlaut der Quellen geschuldet sind. In mancher Hinsicht gilt das soeben über MOSES GASTER Gesagte auch für SIGMUND GELBHAUS (um 1850–1928).320 Wie GASTER war GELBHAUS Rabbiner, er entstammte einer orthodoxen Familie und wurde in Tysmienica im österreichisch-ungarischen Teil Galiziens geboren. Sein erstes Rabbineramt bekleidete er in Karlstadt, dem heutigen kroatischen Karlovac, später amtierte er in Nordhausen, Prag und Wien, wo er zudem Lektor an der Israelitisch-Theologischen Lehranstalt und Dozent an der dortigen Religionslehrer-Bildungsanstalt war. Unter seinen Schriften finden sich lediglich zwei Arbeiten, die für die hier angestellten Überlegungen relevant sind, jedoch, wie bereits die Titel verraten, noch mehr als alle bisher dargestellten Untersuchungen ins Zentrum unserer Fragestellung führen: ein schmaler Band „Ueber Stoffe altdeutscher Poesie“321 aus dem Jahre 1886 sowie das in vier Heften von 1888 bis 1893 erschienene „Mittelhochdeutsche Dichtung in ihrer Beziehung zur biblisch-rabbinischen Litteratur“322. Beide Studien sind in der altgermanistischen Forschungsdiskussion – selbst als Kuriosum – so gut wie vollständig übersehen worden. Das erstgenannte Werk versteht GELBHAUS als Beitrag zur Auseinandersetzung um die GRIMMsche Erbtheorie und die BENFEYsche Migrationstheorie zur Frage des Ursprungs und der Wanderung literarischer Stoffe, wobei er beide Theorien in ihrem jeweiligen Totalitätsanspruch für angreifbar erklärt und eher für einen Ausgleich zwischen beiden plädiert.323 Er expliziert sein Votum an insgesamt 18 Beispielen, von denen eine ganze Reihe den GRIMMschen KHM entnommen sind,324 aber er berührt auch hier bereits einige mediävistische, vor allem altgermanistische Punkte, an denen er jüdisch-christlichen Kulturaustausch festmacht: 318 319 320 321 322

Vgl. GASTER: Romance, S. 820. Vgl. GASTER: Romance, S. 814–878. Vgl. ROTH: Gelbhaus, Sp. 364; HELLER: Gelbhaus, Sp. 165. Vgl. GELBHAUS: Stoffe. Vgl. GELBHAUS: Dichtung I–IV; zitiert wird im weiteren die 1893 erschienene „Gesammelte Ausgabe“, deren Seitenzählung im Vergleich zur Heftelieferung aber nicht verändert wurde. 323 Vgl. GELBHAUS: Stoffe, unpag. Vorwort. 324 Vgl. GELBHAUS: Stoffe, S. 48–73; im einzelnen handelt sich um KHM 8, 18, 30, 44, 64, 99, 109 u. 146.

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Rahmen und Ausgangspunkte

Durch den täglichen Verkehr traten die verschiedenen Religionsbekenner unbewußt in engere Fühlung mit einander. Ein Austausch der geistigen Güter ging unbemerkt vor sich. Insbesondere waren es die Schöpfungen der Volkspoesien, welche in jenen Zeiten, in denen das Gemüth für reine, wahre, natürliche und frische Empfindungen offen war, gegenseitige Mittheilung erfuhren.325

So bemüht sich GELBHAUS zum Beispiel zu zeigen, daß sowohl „die Sage vom Kyffhäuser in naher Verwandtschaft zum jüdischen Sagenkreise steht“326, als auch daß die „Tannhäuser=Sage [...] durchaus kein Klagelied über das untergegangene Heidenthum, sondern eine Wiederspiegelung der Gechasi=Sage in modificierter Gestalt“327 sei. Mit besonderer Ausführlichkeit widmet er sich der „Sage von Reineke Fuchs“,328 ausgehend von der Beobachtung, daß so „sehr verbreitet die Thiersage ist, herrscht doch über den Ursprung derselben tiefes Dunkel“329. GELBHAUS entwirft daher eine Vermittlungskette einer Reihe von Fuchsfabeln aus talmudischer Überlieferung (2.–3. Jh.) in die Literatur der gaonäischen Zeit (6.–11. Jh.) und von dort über Raschis Talmudkommentar (Ende des 11. Jhs.) in die ‚Disciplina clericalis‘ des Petrus Alfonsi (Beginn des 12. Jhs.),330 wobei er besonders für einzelne Züge des mittelhochdeutschen ‚Reinhart Fuchs‘ auch direkte Entlehnung aus jüdischen Quellen diskutiert.331 Als eine Art Anhang zu diesen und ähnlich gelagerten Quellenstudien beschließt GELBHAUS sein Werk mit dem Kapitel „Ein jüdischer Minnesänger“,332 in dem er die Sangsprüche Süßkints von Trimberg auf biblische und talmudische Bezüge durchgeht. Sein Fazit, „daß Süßkind’s Dichtungen vom jüdischen Geiste durchtränkt sind, und daß er die rabbinische Litteratur genau gekannt hat“333, beweist seine eingangs des Kapitels formulierte Einschätzung, die „Poesie der Minnesänger“ umfasse „das soziale, intellektuelle und geographische Deutschland ihrer Zeit“, so daß „es uns nicht wundern [kann], unter den Minnesängern auch einen Juden zu finden“.334 In ganz ähnlicher Weise wie im Falle Süßkints verfährt GELBHAUS einige Jahre später mit den Werken einiger Vertreter der klassischen mittelhochdeutschen Literatur, namentlich bei Hartmann (im ‚Gregorius‘, ‚Armen Heinrich‘ und ‚Iwein‘), in Wolframs ‚Parzival‘ sowie bei Walther und in Freidanks ‚Bescheidenheit‘ entdeckt er „nähere Kunde von der heiligen 325 326 327 328 329 330 331 332 333 334

GELBHAUS: Stoffe, S. 5. GELBHAUS: Stoffe, S. 3. GELBHAUS: Stoffe, S. 15. Vgl. GELBHAUS: Stoffe, S. 26–40. GELBHAUS: Stoffe, S. 27. Vgl. GELBHAUS: Stoffe, S. 34–39. Vgl. GELBHAUS: Stoffe, S. 38f. Vgl. GELBHAUS: Stoffe, S. 73–83. GELBHAUS: Stoffe, S. 83. GELBHAUS: Stoffe, S. 73f.

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Schrift, von den Lehren des Talmud und der Midraschim“335. Das Vorhandensein dieser „Anklänge an jüdische Ideen“336 leitet er wie folgt her: wenn bei zwei Völkern, die verschiedener Abstammung sind, die aber auf demselben Boden wohnen, demselben Staatswesen angehören, dieselbe Sprache reden, ähnliche Gedanken- und Gefühlsäusserungen vorhanden sind, so sind diese die Folge gegenseitiger Berührung, gegenseitiger Beeinflussung. Dieses gilt von den litterarischen Erzeugnissen jüdischer und nichtjüdischer Bewohner des deutschen Bodens überhaupt, und besonders von der deutschen und jüdischen Volksdichtung.337

Für GELBHAUS sind all die Parallelen, die er Gedanken, die bei Freidank und Walther, bei Wolfram und Hartmann geäußert werden, aus biblischen und talmudischen Schriften an die Seite zu stellen vermochte, schlagende Beweise für „einen sehr intimen Verkehr zwischen Juden und Nichtjuden“338 im 12. und frühen 13. Jahrhundert, während „mit dem Verfall der mittelhochdeutschen classischen Poesie [...] auch die Idealität der Dichter im Niedergange begriffen“339 sei. Es verwundert dementsprechend kaum, daß die hier kurz dargestellten Arbeiten GELBHAUS’ vor allem in assimilatorisch orientierten deutsch-jüdischen Kreisen mit einiger Begeisterung aufgenommen wurden. So schreibt kein Geringerer als der vor allem als Goethe-Forscher ausgewiesene Neugermanist LUDWIG GEIGER (1848–1919) in einer 1887 erschienenen Rezension zu GELBHAUS’ erstgenannter Studie zustimmend, der Verfasser lege „in feiner und gelehrter Weise die Analogien zwischen deutschen Sagen und Märchen [...] und jüdischen oder anderen orientalischen Erzählungen dar und weist manchmal in überzeugender Art die direkte Abhängigkeit der ersteren von den letzteren nach.“340 Doch schon ein Jahr später, aus Anlaß des Erscheinens des ersten Hefts der „Mittelhochdeutschen Dichtung in ihrer Beziehung zur biblisch-rabbinischen Litteratur“ gelangt der gleiche Rezensent zu einem diametral entgegengesetzten Urteil: Nach meiner Ueberzeugung ist in G.’s Schriftchen Scharfsinn und Gelehrsamkeit umsonst verschwendet. Aber auch die ganze Methode, von der er ausgeht, ist eine falsche. Die Berührungen zwischen Christen und Juden in jener Zeit des Mittelalters waren ziemlich gering, [...] daß eine wirkliche Abhängigkeit der deutschen Literatur von der rabbinischen in keiner Weise angenommen werden kann.341

335 336 337 338 339 340 341

GELBHAUS: Dichtung I, S. 7. GELBHAUS: Dichtung IV, S. 62. GELBHAUS: Dichtung IV, S. 59f. GELBHAUS: Dichtung IV, S. 62. GELBHAUS: Dichtung IV, S. 73. GEIGER: Nachrichten, S. 100. GEIGER: Kritik, S. 390.

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Noch weitaus vernichtender fällt das Urteil des Altgermanisten MEIER SPANIER über das zweite, Walther von der Vogelweide gewidmete Heft aus: Herr Rabbiner Dr. Gelbhaus hat ja keineswegs die Verpflichtung, von germanistischen Dingen etwas zu verstehen, und das Recht, sich zu blamieren, kann keinem streitig gemacht werden. Und wenn nun auch der Verfasser in etwas unbescheidener Weise von diesem seinem Recht Gebrauch gemacht hat, so hätte mich dies noch immer nicht veranlaßt, in so ausführlicher Weise sein schlechtes Buch zu charakterisieren, wenn ich nicht überzeugt wäre, daß diese ganze Art der Behandlung eines Dichterwerkes nicht nur unrichtig und wertlos, sondern auch unberechtigt und schädlich ist.342

Dieses, wenngleich in seinem Sarkasmus überaus harsch erscheinende Urteil ist alles andere als unberechtigt, wie ein nahezu beliebig ausgewähltes Beispiel verdeutlicht, das von GELBHAUS als Aufnahme jüdischen Gedankenguts in mittelhochdeutscher Literatur verstanden wird. Bei Freidank heißt es: Swer driu dinc bedaehte, der vermite gotes aehte: waz er was und waz er ist und waz er wirt in kurzer frist. (‚Bescheidenheit‘ 22,12–15)

Als Parallele zu dieser Sentenz weist GELBHAUS mAwot III,1 aus: {yrbd h#l#b lktsh rmw) l)llhm }b )ybq( t)b }y)m (d .hrb( ydyl )b ht) }y)w .}wb#xw }yd }tl dyt( ht) ym ynplw ßlwh ht) })lw ?ßlwh ht) })lw hxwrs hp+m ?t)b }y)m ?}wb#xw }yd }tl dyt( ht) ym ynplw h(lwtw hmr rp( {wqml 343.)wh ßwrb #wdqh {yklmh yklm ßlm ynpl

Nun ist der bei Freidank geäußerte Gedanke jedoch von einer derartigen Landläufigkeit, wie es bei Sprichwörtern und Sentenzen in der Regel der Fall ist, daß sich die Zahl mehr oder minder naheliegender Parallelstellen aus europäischen und außereuropäischen Literaturen nachgerade beliebig erweitern ließe. Allein ein Blick in biblische und antike Überlieferung fördert bereits Parallelen aus dem Alten (Eccl 7,40; 28,6; Ps 38,5) und Neuen Testament (1Tim 6,7) sowie bei Plautus (‚Mostellaria‘ 3,2,37), Horaz (‚Saturae‘ 2,6,97) und Ovid (‚Metamorphoses‘ 15,214) zutage. GELBHAUS blen342 SPANIER: Walther, S. 568. 343 HOFFMANN: Mischnajot, Bd. 4, S. 337f.: „Akabja, Sohn Mahalalel’s, spricht: Denke über drei Dinge nach, und du wirst zu keiner Sünde kommen: wisse, woher du gekommen bist, wohin du gehst und vor wem du einst Rechenschaft und Rechnung abzulegen haben wirst. Woher du gekommen bist? Aus übelriechendem Keime. Wohin du gehst? An einen Ort, wo Staub, Moder und Gewürm ist. Vor wem du einst Rechenschaft und Rechnung abzulegen haben wirst? Vor dem Könige aller Könige, dem Heiligen, gebenedeit sei er.“

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det diese Tatsachen bei seiner Suche völlig aus, und vor allem diese Vorgehensweise hat ihm den Tadel und Spott seiner Zeitgenossen eingetragen und nicht zuletzt dazu geführt, daß seine Arbeiten mittlerweile fast völlig vergessen sind, obwohl sich in ihnen trotz alles kruden Positivismus der eine oder andere bedenkenswerte Hinweis finden läßt. Mit SAMUEL SINGER (1860–1948)344 kommen wir zum ersten – und einzigen – Wissenschaftler in unserer Gruppe deutsch-jüdischer Mediävisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der nach einem Studium der älteren deutschen Philologie tatsächlich einen Platz in der universitären Altgermanistik einnehmen konnte und nicht, wie die anderen, bereits dargestellten oder noch darzustellenden Forscher, entweder als Rabbiner oder als Dozent an jüdisch-theologischen Einrichtungen seinen Lebensunterhalt bestreiten mußte.345 Nach Promotion und Habilitation an der Universität seiner Geburtsstadt Wien wurde SINGER auf eine Professur an die Universität Bern berufen und war damit im letzten Viertel seines Lebens dem Zugriff der Nationalsozialisten entzogen, so daß er nicht wie andere deutsche oder österreichische Juden gezwungen war, seine bereits erreichte wissenschaftliche Position um der Emigration willen aufzugeben. Seine fachliche Hauptleistung liegt auf dem Gebiet der mittelalterlichen lateinischen und volkssprachigen Gnomik, wie die seit 1995 zum größten Teil aus SINGERs Nachlass erarbeiteten 12 Bände des „Thesaurus Proverbiorum Medii Aevi“346 eindrücklich zeigen. Doch hat er im Verlaufe seiner Forschungstätigkeit auch immer wieder die Fragestellung unserer Studie berührt, wie einige kurze Einblicke in sein Werk verdeutlichen. SINGERs erste Äußerungen zum jüdisch-christlichen Kulturtransfer im deutschen Mittelalter, den er im Gegensatz zu vielen seiner Zeitgenossen nie idealisiert oder romantisiert hat, bilden zwei Aufsätze, die zu Beginn der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts erschienen: In „Salomosagen in Deutschland“ stellt er vor allem Beziehungen zwischen den Legendenromanen ‚St. Oswald‘ und ‚Salman und Morolf‘ sowie einzelnen Salomo344 Vgl. SILBERSTROM: Singer, Sp. 442. 345 Neben SINGER gelang dies – bemerkenswerterweise ebenfalls im antisemitischen Klima Wiens – in diesem Zeitraum noch einem weiteren jüdischen Altgermanisten, auf dessen Editionen und Forschungsarbeiten gelegentlich noch bis heute zurückgegriffen wird: MAX HERMANN JELLINEK (1868–1938), Sohn des Wiener Rabbiners ADOLPH JELLINEK (1820–1893), der vor allem durch seine fünfbändige Edition kleinerer Midraschim wissenschaftlich bekannt wurde (vgl. BHM). Sein Sohn wurde, nach seiner 1891 erfolgten Habilitation mit der Untersuchung „Beiträge zur Erklärung der germanischen Flexion“, 1900 zunächst außerordentlicher und 1906 ordentlicher Professor für deutsche Philologie an der Universität seiner Heimatstadt. Zu Fragen des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter hat sich MAX HERMANN JELLINEK, soweit ich sehe, jedoch nie schriftlich geäußert. 346 Vgl. TPMA.

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Passagen der ‚Weltchronik‘ des Jans von Wien und jüdischen Erzähltraditionen fest.347 In „Sagengeschichtliche Parallelen aus dem babylonischen Talmud“ vergleicht er dagegen talmudische Jesus-Legenden mit mittelalterlichen christlichen Leben Jesu-Versionen,348 bespricht mögliche Einflüsse jüdischer Stoffe auf die Brandanslegende349 und liefert noch weitere Belege dafür, daß gerade zwischen Jans’ ‚Weltchronik‘ und originär jüdischen Erzählstoffen enge Verbindungen bestehen.350 Auf eine dieser Verbindungen, die besonderen Umstände des salomonischen Tempelbaus mit Hilfe eines wunderbaren Wurms betreffend, ist Singer gut dreißig Jahre später noch einmal in einer Miszelle zurückgekommen.351 Neben diesen frühen, in erster Linie quellenkundlich orientierten Untersuchungen sind mindestens noch zwei weitere Arbeiten SINGERs zu nennen, in denen er aufgrund ihrer eigentlichen Thematik sozusagen en passant das Thema unserer Studie anschneidet: ein längerer Aufsatz aus dem Jahre 1918 mit dem Titel „Arabische und europaeische Poesie im Mittelalter“352 sowie seine 1933 erschienene Monographie „Die religiöse Lyrik des Mittelalters“353. In der erstgenannten Veröffentlichung diskutiert er zunächst die Herkunft ganzer Stoffkomplexe aus dem Orient sowie die Möglichkeiten und Wege deren jüdischer Vermittlung, zum Beispiel für die Erzählung von Flore und Blanscheflur, für den zweiten Teil des Tristan-Stoffs oder für Teile des ‚Parzival‘, die nach SINGERs Ansicht auf Wolframs – mittlerweile als fiktiv erkannte – Quelle Kyot zurückgehen,354 und bespricht im weiteren Parallelen zwischen der arabischen Liebeslyrik des 8. und dem provenzalischen Minnesang des 12. Jahrhunderts.355 Die religiöse Dichtung des europäischen Mittelalters deutet SINGER hingegen als Nachleben und Wiederaufgreifen der Psalmen, die christlichen Dichtern selbstredend durch die lateinische Fassung der Vulgata und deren volkssprachige Übersetzungen zugänglich waren. Nichtsdestoweniger sieht er auch hier Raum für eine – wenn auch indirekte – Verbindung zwischen christlicher und jüdischer Sphäre im Bezug auf die gleichen Ausgangstexte und die gleichen Themen, die lediglich entsprechend der Vorgaben des jeweils eigenen theologischen Bezugssystems adaptiert wurden.356 347 348 349 350 351 352 353 354 355 356

Vgl. SINGER: Salomosagen, S. 177–187. Vgl. SINGER: Parallelen, S. 293–296. Vgl. SINGER: Parallelen, S. 296–298. Vgl. SINGER: Parallelen, S. 298–301. Vgl. SINGER: Salomo, S. 97f. Vgl. SINGER: Poesie, S. 1–29. Vgl. SINGER: Lyrik. Vgl. SINGER: Poesie, S. 4–11. Vgl. SINGER: Poesie, S. 11–29. Vgl. SINGER: Lyrik, S. 9–13.

Inhaltliche Vorarbeiten

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SAMUEL SINGERs Arbeiten zu jüdisch-christlichen Kulturbeziehungen im Mittelalter stellen somit vermutlich die wichtigsten inhaltlichen Vorarbeiten der älteren Forschung zu dieser Studie dar, nicht zuletzt deshalb, weil sich in ihnen originär altgermanistisches Frageinteresse mit einer vergleichsweise unromantischen Sicht des deutschen Mittelalters verbinden. Die zahlreichen Untersuchungen BERNHARD HELLERs (1871–1943)357 lassen sich hingegen am ehesten wiederum der historischen Erzählforschung zurechnen. Geboren im österreichisch-ungarischen Nagybicscse, war er von 1922 bis 1931 Professor für die biblischen Wissenschaften, Religionsphilosophie, Talmud und deutsche Sprache an der Landesrabbinerschule in Budapest. Die multifacettierte Aufgabenbeschreibung seiner Professur deutet bereits die ausholende Breite seiner Forschungsinteressen an, wobei sein eigentlicher Schwerpunkt in der Islamwissenschaft und der arabischen Literatur lag. Germanistischen Kreisen ist er zumeist als Märchenforscher bekannt, so stammen zum Beispiel die ausführlichen Darstellungen des arabischen und des hebräischen Märchens in JOHANNES BOLTEs und GEORG POLÍVKAs Anmerkungen zu den KHM aus seiner Feder.358 Es ist auch ebendieses Feld seiner Studien, das ihn des öfteren die literarischen Produkte jüdisch-christlichen Kulturaustauschs im Mittelalter beleuchten ließ, den er vorrangig in der Vermittlung ursprünglich arabischen Erzählguts durch Juden an die Literaturen West- und Zentraleuropas sah.359 Dementsprechend bewertete er eine ganze Reihe europäischer Dichtungen als in ihren Hauptzügen sowie in einzelnen Motiven indirekt aus dem Orient entlehnt, unter anderem den ‚Reinfried von Braunschweig‘, desgleichen klinge „‚Eraclius‘ von Otte (XII. Jhdt.) [...] vielfach an den Orient an. [...] Für ‚Herzog Ernst‘ ist die arabische Wirkung besonders klar“, er bilde eine „saubere Wiedergabe der Reisen Sindbads, vorzüglich mit der sechsten, teilweise der zweiten“.360 Doch HELLER entdeckte auch Beispiele für eine direkte Entlehnung jüdischen Erzählmaterials in christlich-volkssprachige Literatur: wie vor ihm schon REINHOLD KÖHLER361 und MOSES GASTER362 verstand er den ‚Guten Gerhard‘ Rudolfs von Ems als einen solchen Beispielfall.363 Schließlich galt seine Forschung, wiederum wie bei GASTER,364 auch den literarischen Bearbeitun357 358 359 360 361 362 363 364

Vgl. LOEWINGER: Heller, Sp. 307; PATAI: Heller, Sp. 1149; FRIEDMANN: Heller, Sp. 1535. Vgl. HELLER: Märchen, S. 315–364 u. 365–418. Vgl. HELLER: Motive, S. 93–96. HELLER: Motive, S. 105. Vgl. KÖHLER: Gerhard, S. 55–60. Vgl. GASTER: Quellenkunde, S. 274–284 u. 199–203. Vgl. HELLER: Légende, S. 198–221; HELLER: „Gott“, S. 365–404. Vgl. GASTER: Exempla, S. 52f. u. 8–10; GASTER: Romance, S. 814–878.

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gen des Alexander-Stoffs, dessen Ausgestaltung er als einen zweifachen Prozeß des Kulturtransfers beschreibt: Die Vorstellungen von Gog und Magog entspriessen der prophetischen Vision und der Aggada, entfalten sich jedoch in ganzer Fülle erst in der Kirche und im Islam; voll entfaltet finden sie dann hin und wieder Eingang in jüdische Schriften.365

Gerade die mittelalterliche Entwicklung des Alexander-Stoffs bietet demzufolge „ein Musterbeispiel dafür, wie eine jüdische Vorstellung in der Kirche und im Islam sich völlig entfaltet und dann in dieser Entfaltung von spätjüdischer Legende wieder zurückgenommen wird“366, da sowohl Christen als auch Juden großes Interesse an der Tradierung und Adaptation dieses Erzählkomplexes hegten und beständig an dessen Erweiterung arbeiteten, so daß sich gegenseitige Entlehnungen und Beeinflussungen nahelegten. Unsere Reihe deutsch-jüdischer Mediävisten des 19. und frühen 20. Jahrhunderts endet mit einem Jiddisten, dem aus Polen stammenden LEO LANDAU (1877–1952),367 der seit 1907 in London lebte und am dortigen University College bei einem der Gründerväter der britischen Altgermanistik, ROBERT PRIEBSCH (1866–1935), studierte.368 Das bedeutendste Ergebnis seiner Studien war die auf mehrere Bände angelegte Untersuchung „Hebrew-German Romances and Tales and their Relation to the Romantic Literature of the Middle Ages“, von der jedoch nur der erste Band „Arthurian Legends“ im Jahre 1912 in den Druck gelangte.369 Dabei handelt es sich um den ersten modernen Versuch, den Text des altjiddischen Artusromans ‚Widuwilt‘ in einer zuverlässigen Umschrift mit lateinischen Lettern zu edieren – ein Versuch, der in der zeitgenössischen altgermanistischen Forschung durchaus positiv aufgenommen wurde, wie das Beispiel einer Rezension der LANDAUschen Ausgabe von ROBERT PETSCH (1875–1945) verdeutlicht, die resümiert, LANDAUs Arbeit werfe 365 366 367 368

HELLER: Gog, S. 350. HELLER: Gog, S. 357. Vgl. SCHIPPER: Landau, Sp. 600. LANDAU war jedoch nicht der erste Jiddist, dessen Arbeiten durch das Studium der älteren deutschen Philologie angeregt wurden. Schon einige Jahrzehnte zuvor hatte FELIX ROSENBERG in der Einleitung zu seiner Edition von 54 altjiddischen Liedern aus einer Handschrift des 16. Jahrhunderts (Oxford, Bodleian Library, Ms. Opp. add. 4°136) angemerkt: „Ihre Anregung aber verdankt vorliegende Arbeit einem Kolleg des S.S. 1884 über ‚Deutsche Litteraturgeschichte bis zum Zeitpunkt der Reformation‘ bei Prof. Zarncke, der bei Gelegenheit der Besprechung des ‚Wigalois‘ auf die Wichtigkeit des Jüd.=deut. in sprachgeschichtlicher, kultur- und literarhistorischer Hinsicht aufmerksam machte“ (ROSENBERG: Sammlung, S. 233 Anm. 2). 369 Vgl. LANDAU: Romances.

Inhaltliche Vorarbeiten

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„reichlich Licht auf die Verbreitung und Verästelung epischer Motive im späteren Mittelalter und läßt uns ahnen, wie manches wertvolle Gut noch aus den Schächten der jüdisch-deutschen Literatur zutage gefördert werden kann“370. Die ausführliche Einleitung zu seinem Editionstext eröffnet LANDAU mit dem Kapitel „Mutual influence of Christian and Jewish literatures“. Hier finden sich noch einmal nahezu alle Autoren und anonymen Werke versammelt, die bereits in den Studien älterer deutsch-jüdischer Mediävisten vor LANDAU zum Beweis eines christlich-jüdischen Kulturaustauschs im europäischen Mittelalter herangezogen wurden: Abraham ibn Chisdai, Johannes von Capua, Petrus Alfonsi, ‚Das Lob Salomons‘, ‚Salman und Morolf‘, Raschi, Berechja ha-Nakdan etc.371 Allerdings scheint ein mittlerweile zum locus classicus zur Untermauerung dieser These avanciertes Zitat direkt auf LANDAUs Einleitung zurückzugehen: Es ist auch in jüngst erschienenen Studien noch des öfteren zu lesen, daß „die um die Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßte ‚Kaiserchronik‘ bei der jüdischen Bevölkerung als beliebte Unterhaltungslektüre galt“372. Als Beleg wird der {ydysx rps (‚Buch der Frommen‘) zitiert (§ 141 Bologna-Version). Dort ist jedoch nur von 373twmw)h yklm yrgt y)bh yrbd die Rede, die noch dazu lediglich als Einbandmaterial für eine hebräische Pentateuchhandschrift benutzt werden. LANDAU hatte, vorsichtig durch nachgestelltes Fragezeichen gekennzeichnet, erwogen, in dem zuletzt genannten Text die mittelhochdeutsche ‚Kaiserchronik‘ zu sehen.374 Leider sind spätere Interpreten ihm in seiner Vorsicht nicht gefolgt und haben seine, meines Erachtens unberechtigte Konjektur, als Faktum aufgefaßt.375 An der Vorstellung vom deutschen Mittelalter als Kontakt- und Austauschzone zwischen Juden und Christen ist also spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts von verschiedenster Seite und aus zum Teil sehr unterschiedlicher Richtung gebaut worden. Ein letzter, in mehrfacher Hinsicht „verspäteter“ Stein zum populären Teil dieses Baus erschien noch 1937 im Berliner SchockenVerlag: ein von dem Sagen- und Märchenforscher EMANUEL BIN GORION unter dem Titel „Das Siebenfache Licht“ herausgegebenes Lesebuch, das „eine Auswahl dessen, was im Schrifttum deutscher Sprache an biblischen 370 371 372 373 374 375

PETSCH: Rez. LANDAU: Romances, S. 181. Vgl. LANDAU: Romances, S. XIII–XXI. JAEGER: Artusritter, S. 131. „Nutzlose Geschichten, die Turniere der Könige der Völker“. Vgl. LANDAU: Romances, S. XXI. Vgl. z.B. WENZEL: Süßkind, S. 295; DINSE: Entwicklung, S. 21.

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und nachbiblischen jüdischen Motiven gestaltet wurde“376, enthält. Aus der deutschsprachigen Literatur des Mittelalters enthält dieses Werk das ‚Wessobrunner Schöpfungsgedicht‘, Walthers Swer âne vorhte, hêrre got (L. 22,3–17) und Die veter hânt ir kint erzogen (L. 23,26–24,2), Süßkints von Trimberg Ein wolf vil jaemerlîchen sprach (KLD VI) sowie Auszüge aus dem Judenrecht des ‚Schwabenspiegel‘ und aus dem Pilgerbericht Bernhards von Breidenbach.377 Nach dem Ende des zweiten Weltkriegs gab es lange Zeit keine Anknüpfungsmöglichkeiten oder -versuche, historische Forschung von Juden über Juden fand vornehmlich außerhalb des deutschen Sprachraums statt und wurde vor allem durch das bereits dargestellte Selbstgefühl israelischer Wissenschaftler geprägt, die das Verhältnis von Christen und Juden im Mittelalter von einer weitgehenden, zum Teil selbstgewählten, zum Teil aufgezwungenen, Isolation der jüdischen Minderheit geprägt sahen.378 Daß Juden in der Vormoderne einen Anteil an der koterritorialen, „deutschen“ Kultur besessen haben könnten, wurde gerade auch in der Literaturwissenschaft verneint, wie die Apodixe im Zitat eines der führenden Literaturkritiker der Nachkriegszeit verdeutlicht: „Gleich am Anfang der Geschichte der Juden in der deutschen Literatur finden wir eine wahrhaft einzigartige Figur: Rahel Varnhagen, geborene Levin.“379 Erst in den letzten Jahrzehnten, nicht zuletzt angestoßen durch die in den siebziger Jahren neubegründete deutsche Jiddistik, gab es einzelne Versuche einer Erweiterung des mediävistischen Kulturbegriffs, wie zum Beispiel die Neuerung zeigt, daß die seit 1978 erscheinende zweite Auflage des „Verfasserlexikons“ zur deutschen Literatur des Mittelalters im Gegensatz zu ihrer Vorgängerin auch die altjiddischen Werke und Autoren des Erhebungszeitraums verzeichnet.380 Folgerichtig war es eine deutsch-jüdische Jiddistin, die als erste wieder nachdrücklich den Standpunkt vertreten hat, daß die im deutschen Sprachraum beheimateten Juden zu allen Zeiten Deutsche waren und sich als Deutsche begriffen haben: die früh verstorbene BETTINA SIMON (1952–1989)381 versucht in ihrer Dissertationsschrift anhand eines Vergleichs jiddischer Texte des 16. und des 19./20. Jahrhunderts, eine deutsch-jüdische Kulturgemeinschaft auch für die ältesten Zeiten nachzuweisen.382 376 377 378 379 380

BIN GORION (Hrsg.): Licht, S. 8. Vgl. BIN GORION (Hrsg.): Licht, S. 11, 104, 116, 179, 347 u. 355–357. Vgl. TOCH: Juden, S. 120f. REICH-RANICKI: Ruhestörer, S. 40. Vgl. 2VL, s.v. ‚Akedass Jizhak‘, ‚Awroham owinu‘, ‚Cambridger Handschrift von 1382/1383‘, ‚Doniel‘ ‚Gan Eden‘, ‚Löwenfabel‘, ‚Petirass Aheron‘, ‚Schmuelbuch‘ etc. 381 Vgl. TIMM: Simon, S. 23–28. 382 Vgl. SIMON: Sprachgeschichte.

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Neben dieser zuletzt genannten Arbeit, die weniger inhaltlich als vielmehr ideenanregend für diese Untersuchung in Betracht kommt, können wir aus jüngster Zeit vor allem auf eine Reihe von Handbüchern zurückgreifen, die unseren zeitlichen und textlichen Untersuchungsrahmen betreffen. So existieren zum Beispiel mehrere exzellente Gesamtdarstellungen zur historischen Entwicklung der jüdischen Minorität in Europa bzw. im deutschen Sprachraum:383 der erste, bis 1650 reichende Band von FRIEDRICH BATTENBERGs „Das europäische Zeitalter der Juden“384 aus dem Jahr 1990, die 1994 in zweiter Auflage erschienene Studie “Alienated Minority“ von KENNETH STOW,385 der erste Band des vierbändigen Standardwerks „Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit“ von 1996, wobei für unser Thema vor allem die von MORDECHAI BREUER stammenden Kapitel zum Mittelalter und zum 17. Jahrhundert einschlägig sind,386 die 1998 veröffentlichte Darstellung „Die Juden im mittelalterlichen Reich“ von MICHAEL TOCH387 sowie die 2003 und 2004 von CHRISTOPH CLUSE, ALFRED HAVERKAMP und ISRAEL YUVAL herausgegebenen Sammelbände.388 Ausführlich ergänzt werden diese Darstellungen durch die einzelnen Artikel der mittlerweile drei Bände umfassenden „Germania Judaica“389 und das umfassende Kartenwerk der ebenfalls dreibändigen, wiederum von ALFRED HAVERKAMP herausgegebenen „Geschichte der Juden im Mittelalter zwischen Nordsee und Südalpen“390. Eine für diese Studie besonders zentrale Textgattung, die christlichen ‚Adversus Judaeos‘-Texte des Mittelalters, ist in den letzten Jahren durch die Arbeiten ANNA SAPIR ABULAFIAs,391 HEINZ SCHRECKENBERGs392 und MANUELA NIESNERs393 aus unterschiedlicher Perspektive intensiv beleuchtet worden. Von SCHRECKENBERG wurde zudem ein kunsthistorischer Bildatlas zur Geschichte der Juden-Bilder vorgelegt.394 Die germanistische Mediävistik hat sich dagegen zumeist nur Einzeloder Randthemen unseres Forschungsgebiets gewidmet. Eine der wenigen 383 Vgl. neben diesen neueren Arbeiten stets auch die „Klassiker“ der älteren Forschung wie z.B. STOBBE: Juden; CARO: Wirtschaftsgeschichte; GRAYZEL: Church; PARKES: Conflict; PARKES: Jew; BARON: History; Bd. 3–15. 384 Vgl. BATTENBERG: Zeitalter, Bd. 1. 385 Vgl. STOW: Minority. 386 Vgl. BREUER/GRAETZ: Geschichte, Bd. 1, S. 19–247. 387 Vgl. TOCH: Juden. 388 Vgl. CLUSE/HAVERKAMP/YUVAL (Hrsg.): Gemeinden; CLUSE (Hrsg.): Juden. 389 Vgl. GJ, Bd. 1–3. 390 Vgl. HAVERKAMP (Hrsg.): Geschichte. 391 Vgl. SAPIR ABULAFIA: Christians; SAPIR ABULAFIA: Renaissance. 392 Vgl. SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte. 393 Vgl. NIESNER: juden. 394 Vgl. SCHRECKENBERG: Juden.

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Rahmen und Ausgangspunkte

Ausnahmen der jüngsten Forschung stellt FRITZ PETER KNAPPs Geschichte der mittelalterlichen Literatur Österreichs dar, die auch die hebräische Literatur des Untersuchungszeitraums mitberücksichtigt,395 denn es ist nach seiner Meinung „keineswegs einzusehen, warum die Literatur in der lingua franca der westlichen Christen sehr wohl, die in der lingua franca der Juden [...] aber nicht erfaßt werden sollte“396. Dabei geht KNAPP jedoch von einer grundsätzlichen Scheidung, einer unüberwindbaren Dichotomie von Majoritäts- und Minoritätskultur, von mittelalterlichen Christen und mittelalterlichen Juden aus: Die enge Bindung des jüdischen Schrifttums an Theorie und Praxis eines Glaubenslebens, das die Juden grundlegend von ihrer christlichen Umwelt unterschied, schloß eine rege Wechselbeziehung mit nichtjüdischer Literatur von vornherein aus. Wo eine solche Beziehung sich wie von selbst hätte ergeben können, eben im religiösen Schrifttum, das ja nun wahrhaft auf gemeinsame Wurzeln zurückging, herrschte von beiden Seiten größtes Unverständnis.397

Einzig unterhalb der offiziellen Ebene, im Bereich des privaten oder semiprivaten Kontakts sieht KNAPP vor allem im 11. und 12. Jahrhundert Raum für einen Gedankenaustausch zwischen Juden und Christen: „Dabei muß so manches Erzähl- und Spruchgut von einer zur anderen Seite gelangt sein. Obwohl die Spuren dieser subliterarischen Symbiose naturgemäß fast völlig verweht sind, dürfte es sich lohnen, nach den wenigen verbliebenen zu suchen.“398 Neben KNAPP haben in der altgermanistischen Forschung vor allem WINFRIED FREY, EDITH WENZEL und unlängst MANUELA NIESNER Arbeiten vorgelegt, die in den Bereich dieser Studie gehören. Sie beschäftigen sich vorrangig mit dem Antijudaismus in geistlichen und weltlichen Spielen des Spätmittelalters399 bzw. mit der volkssprachigen Aufnahme der Tradition der ‚Excerpta Talmudica‘,400 also mit unterschiedlichen Formen der Repräsentation jüdischer Figuren und Texte als einer Station der christlichen Rezeption jüdischer Kultur im Mittelalter.401 Anders gelagert ist das Interesse der jüngsten monographischen Studie KARL BERTAUs402: In vierundvierzig Kapiteln, geleitet von der bereits 395 396 397 398 399

Vgl. KNAPP: Literatur, Bd. 1, S. 357–361 u. 568f., Bd. 2/1, S. 453–457. KNAPP: Literatur, Bd. 1, S. 357. KNAPP: Literatur, Bd. 1, S. 360f. KNAPP: Literatur, Bd. 1, S. 361. Vgl. z.B. FREY: Other, S. 249–267; FREY: Iudden, S. 139–162; FREY: ‚Endinger Judenspiel‘, S. 201–221; FREY: Pater, S. 49–71; FREY: Tendenzen, S. 1–19; WENZEL: Judden; WENZEL: Synagoga, S. 57–81; WENZEL: Judenproblematik, S. 79–104. Eine frühe Vorarbeit zu den Studien FREYs und WENZELs stellt FRANKL: Jude, dar. 400 Vgl. NIESNER: juden; NIESNER: Juden, S. 38–69. 401 Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Beiträge in den beiden zeitgleich erschienenen Sammelbänden DOMRÖS/BARTOLDUS/VOLOJ (Hrsg.): Judentum, und SCHULZE (Hrsg.): Juden. 402 Vgl. BERTAU: Schrift.

Inhaltliche Vorarbeiten

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im Obertitel des Werks benannten terminologischen Trias Schrift, Macht und Heiligkeit, breitet BERTAU ein kulturgeschichtliches Panorama aus, das in chronologischer Folge von den antiken Hochkulturen bis zur Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert reicht, wobei das mediterrane Mittelalter, das medium aevum der drei monotheistischen Religionen Judentum, Christentum und Islam sowie ihrer einander überlappenden und gegenseitig beeinflussenden Kulturen rund um das Mittelmeer deutlich erkennbar im Zentrum der Darstellung steht. BERTAU findet verbindende Momente sowohl in der Form (Alphabetschrift) als auch im Inhalt (heilige Texte) – und schließlich auch in der Rolle, die dem jeweils auf seine kulturell spezifische Art verschriftlichten Text im Gefüge aus Herrschaft und Zensur (Macht) innerhalb der jeweiligen Kultur sowie im Austausch mit anderen Kulturen zugekommen ist. Die chronologische Ordnung liefert hierbei das komparatistische Gerüst für eine Literaturgeschichte der drei Kulturen des mediterranen Mittelalters. Dabei werden durchaus Erscheinungen miteinander in Verbindung gebracht, die tatsächlich direkt oder – was weitaus häufiger der Fall zu sein scheint – doch eher indirekt Beziehungen zueinander aufweisen. Ein grundsätzliches Problem des gesamten Werks ist BERTAUs dominanter generalisierender Subjektivismus, der ihn zu zahlreichen zumindest fragwürdigen literaturhistorischen Einschätzungen führt. Dieses Problem verbindet sich mit nicht wenigen Fehlern im Detail, die gehäuft – jedoch bei weitem nicht ausschließlich – in den Bereichen aufscheinen, die nicht zu BERTAUs eigentlichem Fachgebiet gehören: So verwechselt er zum Beispiel den deutschen Chassidismus des 12. bis 14. Jahrhunderts mit der zwar gleichnamigen, aber völlig anders orientierten, seit dem 18. Jahrhundert in Osteuropa existierenden Bewegung403 und kann dementsprechend die tatsächlich vorhandene Bedeutung, die dieser Gruppe im mittelalterlichen jüdisch-christlichen Verhältnis zukam, überhaupt nicht abschätzen. An Vorarbeiten zum Thema existieren meinerseits schließlich eine Reihe kürzerer und längerer Aufsätze zu einzelnen Punkten unserer Fragestellung, von denen die meisten in dieser Studie wieder aufgegriffen und weiterverfolgt werden.404 Die hier beschriebene Ausgangslage zeigt deutlich das Fehlen stärker detailbezogener inhaltlicher Vorarbeiten. Gerade der eingehende Blick in die ältere Forschung hat nichtsdestoweniger schon eine Reihe von Themen, 403 Vgl. BERTAU: Schrift, S. 334; für den Nachweis zahlreicher weiterer Fehler allein auf dem Gebiet der jüdischen Literatur vgl. die Rezension von BERTAUs Studie durch VON MUTIUS. 404 Vgl. PRZYBILSKI: juden, S. 83–99; PRZYBILSKI: Wunderwurm, S. 19–39; PRZYBILSKI: Artusroman, S. 409–435; PRZYBILSKI: Traces, S. 85–89; PRZYBILSKI (Hrsg.): ‚Der Juden Messias‘, S. 85–108 u. 156–167; PRZYBILSKI: Hebräischkenntnissen, S. 323–326.

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Rahmen und Ausgangspunkte

Stoffen, Werkgattungen und Autoren hervortreten lassen, deren Bedeutung für den jüdisch-christlichen Kulturtransfer im deutschen Mittelalter im folgenden ausführlich nachgegangen werden muß, wie zum Beispiel die Rolle der deutschen Volkssprache, der Alexander-Stoff, die Weltchronistik oder Süßkint von Trimberg. Die Thesen und Ergebnisse der älteren und neueren Forschung werden somit an konkreten Beispielen überprüft und weitergeführt, so daß ein zugleich vollständigeres und genaueres Bild des Untersuchungsfelds entsteht. Durch die in Kapitel A.I. dargelegte Kombination kulturtheoretischer und literarhistorischer Herangehensweisen und Methoden eröffnen sich zudem neue Möglichkeiten der Analyse und Interpretation, um anhand unseres Untersuchungsgegenstands die spezifischen Funktionsweisen des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter näher beschreiben zu können.

B. Historische Spuren Die bloße Möglichkeit – ganz abgesehen von der tatsächlichen Umsetzung – eines Transfers zwischen zwei unterschiedlichen kulturellen Archiven und den auf diese Archive zurückgreifenden Gruppen wird ursächlich durch zwei Determinanten bestimmt: Es müssen ein Raum und eine Zeit vorhanden sein, in dem Vertreter beider Gruppen miteinander in Kontakt treten können, und es muß eine Kommunikationsmöglichkeit existieren, auf die beide Seiten für ihren Austausch zurückgreifen können, eine gemeinsame Sprache. Das deutsche Mittelalter hält diese Determinanten in geradezu exemplarischer Weise für einen Kulturtransfer zwischen Juden und Christen bereit.1

B.I. Das deutsche Mittelalter als Kontaktraum und Kontaktzeit zwischen Juden und Christen Der jüdisch-christliche Kulturtransfer nimmt seinen Ausgang bereits in der Antike vom aufeinander bezogenen Selbstverständnis der beiden Gruppen. Schon in der frühen christlichen und in der frühen jüdischen Literatur finden sich mehr oder minder deutlich formulierte Bezüge auf die jeweils andere Seite.2 Die christliche Kultur Europas ist durch ihre Gründerfigur Jesus von Nazareth in der Frühzeit der Geschichte des Judentums verwurzelt. Als verus Israhel verstand sich die Christenheit vom Beginn des Schismas vom Judentum an als legitime, von Gott erwählte Erbin des Bundesvolks, das nichtsdestoweniger in der Zerstreuung weiter1

2

Die folgenden Ausführungen fußen selbstredend zu einem größeren Teil auf den neueren und älteren historischen Gesamtdarstellungen, die oben genannt sind, hier aber nicht jeweils als einzelne Fußnotenverweise erscheinen. Vgl. auch stets die jeweils einschlägigen Beiträge in GJ, HGJE, LMA, EJ und EJJGG. Vgl. generell zu diesem PARKES: Conflict, S. 27–70; KRAUSS: Jews, S. 122–157; zur christlichen Beeinflussung antiker jüdischer Quellen vgl. z.B. SCHWARTZ: Gallus, S. 1–19; zur Aufnahme midraschischer Stoffe bei den Kirchenvätern, insbesondere bei Hieronymus und Ephraem Syrus, vgl. die umfassenden Darstellungen durch GINZBERG: Haggada I–VI; RAHMER: Traditionen, S. 216–224, 460–470, 103–108 u. 419–427; GERSON: Commentarien, S. 15–33, 64–72, 98–109 u. 141–149; vgl. auch STEMBERGER: Hieronymus, S. 347– 364; BLOCH: Israel, S. 6–9.

B. Historische Spuren Die bloße Möglichkeit – ganz abgesehen von der tatsächlichen Umsetzung – eines Transfers zwischen zwei unterschiedlichen kulturellen Archiven und den auf diese Archive zurückgreifenden Gruppen wird ursächlich durch zwei Determinanten bestimmt: Es müssen ein Raum und eine Zeit vorhanden sein, in dem Vertreter beider Gruppen miteinander in Kontakt treten können, und es muß eine Kommunikationsmöglichkeit existieren, auf die beide Seiten für ihren Austausch zurückgreifen können, eine gemeinsame Sprache. Das deutsche Mittelalter hält diese Determinanten in geradezu exemplarischer Weise für einen Kulturtransfer zwischen Juden und Christen bereit.1

B.I. Das deutsche Mittelalter als Kontaktraum und Kontaktzeit zwischen Juden und Christen Der jüdisch-christliche Kulturtransfer nimmt seinen Ausgang bereits in der Antike vom aufeinander bezogenen Selbstverständnis der beiden Gruppen. Schon in der frühen christlichen und in der frühen jüdischen Literatur finden sich mehr oder minder deutlich formulierte Bezüge auf die jeweils andere Seite.2 Die christliche Kultur Europas ist durch ihre Gründerfigur Jesus von Nazareth in der Frühzeit der Geschichte des Judentums verwurzelt. Als verus Israhel verstand sich die Christenheit vom Beginn des Schismas vom Judentum an als legitime, von Gott erwählte Erbin des Bundesvolks, das nichtsdestoweniger in der Zerstreuung weiter1

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Die folgenden Ausführungen fußen selbstredend zu einem größeren Teil auf den neueren und älteren historischen Gesamtdarstellungen, die oben genannt sind, hier aber nicht jeweils als einzelne Fußnotenverweise erscheinen. Vgl. auch stets die jeweils einschlägigen Beiträge in GJ, HGJE, LMA, EJ und EJJGG. Vgl. generell zu diesem PARKES: Conflict, S. 27–70; KRAUSS: Jews, S. 122–157; zur christlichen Beeinflussung antiker jüdischer Quellen vgl. z.B. SCHWARTZ: Gallus, S. 1–19; zur Aufnahme midraschischer Stoffe bei den Kirchenvätern, insbesondere bei Hieronymus und Ephraem Syrus, vgl. die umfassenden Darstellungen durch GINZBERG: Haggada I–VI; RAHMER: Traditionen, S. 216–224, 460–470, 103–108 u. 419–427; GERSON: Commentarien, S. 15–33, 64–72, 98–109 u. 141–149; vgl. auch STEMBERGER: Hieronymus, S. 347– 364; BLOCH: Israel, S. 6–9.

Historische Spuren

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existierte: im christlichen Fremdverständnis als Exempel für die durch die Ablehnung des Gottessohns verschuldete Unerlöstheit, im jüdischen Eigenverständnis als Strafe für den Abfall von Gottes Lehre – sinnfällig geworden in der Zerstörung des Jerusalemer Tempels im Jahre 70 und das daran anschließende Exil –, an die aber die Hoffnung auf endgültige Erlösung stets gekoppelt war.3 Diese Endzeithoffnung schloß jedoch positive Bindungen an die spezifische geographische Diaspora keinesfalls aus, ja gerade der deutsche Sprachraum entwickelte sich für das mitteleuropäische Judentum seit dem 10. Jahrhundert zu einem eigenen Referenzpunkt. 1. Aschkenas und der Beginn jüdischen Lebens im deutschen Sprachraum In jüdischen Quellen heißt dieser Raum schon seit der späten Antike („Aschkenas“), eine Bezeichnung biblischen Ursprungs, die der Völkertafel der Genesis entstammt: Das Siedlungsgebiet des unter den Söhnen Gomers aufgeführten Aschkenas (Gen 10,3; Vulgata Ascenez) wird bereits in den aramäischen Bibelübertragungen der ersten nachchristlichen Jahrhunderte mit )ynmrg („Germania“) identifiziert.4 In frühmittelalterlichen jüdischen Quellen umfaßt Aschkenas zunächst das linksrheinische Gebiet zwischen der Champagne im Westen sowie Köln und Mainz im Osten,5 erst seit ca. 1100 hat sich der Name als Bezeichnung des mittelund oberdeutschen Sprachraums durchgesetzt: znk#)

Ob ‚Aschkenas‘ ein über- oder untergeordneter oder ein nebengeordneter Begriff gegenüber den ebenfalls vorkommenden Bezeichnungen ‚Alemannia‘ und ‚Schwaben‘ war, kann nicht leicht festgestellt werden. Wahrscheinlich war ‚Aschkenas‘ ein gegensätzlicher Begriff zu anderen Brauchtums-Gebieten wie ‚Zar’fath‘ (Frankreich) [...]. Man muß [...] annehmen, daß es zumindest größere Teil von Alemannia und Schwaben als übergeordneter Begriff zusammenfaßte.6

Dementsprechend findet sich in hebräischen Texten des Mittelalters als Bezeichnung für die deutsche Volkssprache der Terminus znk#) }w#l („Aschkenas’ Sprache“), während das Lateinische zumeist unter {yxlg }w#l („Sprache der Mönche“) oder schlichter twxlg („Mönchisch“) fir3 4

5 6

Vgl. dazu WERBLOWSKY: Messiaserwartungen, S. 115–126. Vgl. Targum Jonatan und Targum Jeruschalmi zu Gen. 10,2; vgl. auch bJoma 10a; jMegilla 71b; gemeint sein dürfte das Gebiet der römischen Provinzen Germania inferior und Germania superior (der Ober- und Niederrhein nebst großen Teilen Schwabens) im Gegensatz zum übrigen, nicht von den Römern beherrschten germanischen Siedlungsraum (Germania magna); vgl. dazu KRAUSS: Benennungen, S. 387–389; vgl. dagegen Isidors von Sevilla ‚Etymologiae‘ IX,2,32: Aschanaz, a quo Sarmatae, quos Graeci Rheginos vocant. Vgl. CUNO: Ortsnamen, S. 336. LEVI: Verbundenheit, S. 190; zur Bezeichnung })myl) („Alamannien“) in jüdischen Quellen vgl. auch BRANN/FREIMANN (Hrsg.): Germania, Bd. I,1, S. 9f.

Deutsches Mittelalter: Kontaktraum, Kontaktzeit und gemeinsame Sprache

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miert.7 Der Ländername Aschkenas gehört in ein ganzes Netz ursprünglich biblischer Bezeichnungen, die von den Juden des mittelalterlichen Europa zur Strukturierung ihres näheren und weiteren geographischen Bezugsfelds verwendet wurden: }wy („Jawan“ = Griechenland, Gen 10,2), l)(m#y („Ismael“ = Muslime, Araber; Gen 16,11), }(nk („Kanaan“ = Slawen;8 Gen 10,6), }ys („Sin“ = China; Ex 16,1), drps („Sefarad“ = Spanien; Obd 1,20), jw( („Uz“ = Byzanz; Gen 10,23), srp („Peras“ = Persien; Esra 1,1), tprc („Zarfat“ = Frankreich, ursprünglich nur die Ile de France;9 Obd 1,20), hmrgwt („Togarma“ = Türken; Gen 10,3) oder }myt („Teman“ = Jemen; Gen 36,11).10 Besondere Bedeutung kommt in diesem Bezeichnungssystem aber den zahlreichen Namen zu, die in jüdischen Quellen des europäischen Mittelalters, vor allem in der synagogalen Dichtung, „versteckt und geheimtuend auf Alt- und Neu-Rom“11 und somit zumeist auch auf die Christenheit als Ganzes anspielen: Das Römische Reich wird als Rom, oder mit den Namen Edom, Zor, Uz, Adina angeführt; Islambekenner und Christen erhalten unzählige Namen, teils nach der Empfindung des Dichters, teils nach hagadischer Überlieferung, oder sie werden den biblischen Geschlechtstafeln von Ismael und Esau entlehnt12.

Die mit Abstand häufigste Bezeichnung Roms oder der Christenheit ist {wd) („Edom“) nach dem Beinamen Esaus in Gen 25,30; den Grund für diese Gleichsetzung erläutert ein anonymer hebräischer Chronist des 14. Jahrhunderts wie folgt:

7

8

9 10

11 12

(„mönchische Schrift“) ist dementsprechend das lateinische Alphabet. Die mittelalterlich-hebräischen Bezeichnungen des Lateinischen verdeutlichen, daß diese Sprache von den europäischen Juden als immanent mit christlicher Religion und christlichem Kultus verbunden interpretiert wurde, was wiederum die Zurückhaltung in jüdischen Kreisen gegenüber dem Erlernen oder gar dem Gebrauch dieser Sprache bis weit in die Frühe Neuzeit hinein erklärt: “the Jews refused, for religious reasons, to accept Latin as a language, whereas they viewed Arabic as the secular language of a civilization and not only as the language of Islam“ (DAN: Emergence, S. 8). Dieses Gentonym ist in sich bereits ein Beleg für die Verflechtungen jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter: Das deutsche Lexem „Slawen“ als Sammelbezeichnung für die östlichen Grenzvölker des Reichs hängt etymologisch mit lat. sclavus zusammen, mhd. slave bedeutet dementsprechend ursprünglich „kriegsgefangener Slawe; Knecht“. Bei der Suche nach einer entsprechenden hebr. Bezeichnung wählten die Juden Zentraleuropas daher den Namen des biblischen Stammvaters aller Knechte: Kanaan (Gen 9,25: Maledictus Chanaan, servus servorum erit fratribus suis). Vgl. dazu GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 13 Anm. 1. Vgl. dazu im einzelnen KRAUSS: Benennungen, S. 395–411. In manchen Fällen übernahmen die Juden Europas aber auch einfach die jeweilige christliche Bezeichnung eines Territoriums, ohne nach biblischen Vorbildern zu suchen, vgl. unter anderem )cnybwrp (= Provence) oder )ydnmrwn (= Normandie). KRAUSS: Benennungen, S. 379. ZUNZ: Poesie, S. 125. twxlg btk

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Historische Spuren

twmw)h lk w)rqn }klw w#y tdb wsnkn# hnw#)rh hmw)h htyh {wd) 13 . {wd) w#y tnwm)b r#)

Zugleich gilt als Völkergenius Edoms Samael, „der Satan, der zugleich der Genius seines Vorfahren Esau ist“14. Neben Edom taucht noch eine Reihe weiterer Bezeichnungen der christianitas in jüdischen Texten des Mittelalters auf, wobei alle Benennungen mehr oder minder deutliche, abwertende Konnotationen tragen, wie zum Beispiel }wdz twklm („hochmütiges Reich“), {ydz („Unterdrücker“), {yrcwn („Nazarener“), {ylr( {ywg („unbeschnittene Völker“), {ylyl) ydbw( („Götzendiener“) oder {ytm ydbw( („Totendiener“).15 Nach Aschkenas kamen Juden, nachdem ihre Anwesenheit bereits im spätantik-römischen Köln durch Verordnungen Kaiser Konstantins des Großen (280–337) aus den Jahren 321 und 331 nachgewiesen ist,16 erst wieder in der Karolingerzeit,17 beginnend mit einzelnen jüdischen Kaufleuten am Aachener Kaiserhof zwischen 797 und 828.18 Dieser Beginn ist verknüpft mit einer erfolgreichen diplomatischen Gesandtschaft Karls des Großen (742–814) an den Hof des abbasidischen Kalifen Harun ar-Raschid (766–809). Die ‚Annales regni Francorum‘ berichten zum Jahr 801, Karl habe vier Jahre zuvor seine Gesandten Lantfrid und Sigimund in der Begleitung eines gewissen Isaac Iudeus in den Fernen Osten geschickt.19 Von letzterem ist zu vermuten, „daß er einer der Fernhändler war, die zwischen Orient und Okzident verkehrten und ihre Waren auch den Angehörigen des karolingischen Hofes anboten. Gewiß begleitete er die Gesandtschaft als erfahrener Führer und Dolmetscher.“20 Nach dem Tod der beiden christlichen Diplomaten stieg er jedoch zum eigentlichen Leiter der Mission auf und kehrte schließlich mit zahlreichen Geschenken des Kalifen ins Frankenreich zurück, darunter ein Elefant namens Abul Abaz. Daß ein Jude – und sei es auch erst durch den Tod der eigentlichen Gesand13

14 15 16 17 18 19 20

NEUBAUER (Hrsg.): Chronicles, Bd. 1, S. 194. „Edom war das erste Volk, das die Religion Jesu annahm, und deshalb nennen wir alle Völker, die den Glauben Jesu haben, Edom.“ Daß Edom unter den Juden als Deckname Roms fungierte, war jedoch in christlich-theologischen Kreisen spätestens seit Hieronymus bekannt, der in seinem Jesaja-Kommentar V,xxi,11 schreibt: semper in Idumaeae nomine Romanos existimant demonstrari. KRAUSS: Benennungen, S. 383; vgl. dazu auch COHEN: Esau, S. 19–48. Vgl. dazu und zu weiteren Beispielen KRAUSS: Benennungen, S. 391; ZUNZ: Poesie, S. 453–470. Vgl. ARREG, Nr. 2. Vgl. dazu TOCH: Juden, S. 5. Die These einer seit der Antike ununterbrochenen jüdischen Siedlungsgeschichte ist mittlerweile weitgehend aufgegeben, vgl. allerdings jüngst CUNO: Ortsnamen, S. 335 Anm. 2 u. 342f. Vgl. ARREG, Nr. 68, 71 u. 79; dazu PARKES: Conflict, S. 337–339. Vgl. PERTZ/KURZE (Hrsg.): ‚Annales regni Francorum‘, S. 116f. BORGOLTE: Gesandtenaustausch, S. 48; vgl. auch STOW: Minority, S. 45; FREIMANN: Verbindungen, S. 165.

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ten – zum diplomatischen Vertreter des Karolingerreichs werden und in den zeitgenössischen „Quellen neben dem Elefanten in den Mittelpunkt der Berichte“21 rücken konnte, veranschaulicht die relativ gefestigte Stellung der Juden im Sozialgefüge des frühmittelalterlichen Zentraleuropa.22 Unter Karls Nachfolger Ludwig dem Frommen (778–840) hat es in der historisch wenig greifbaren Figur des magister Iudeorum Evrard auch einen speziellen Hofbeauftragten für die Belange der jüdischen Minderheit gegeben,23 wenngleich die Zahl der Juden im karolingischen Reich immer noch so gering gewesen zu sein scheint, daß rechtliche Bestimmungen über sie in Form einzelne Personen oder kleinere Personengruppen betreffende Privilegien geschlossen wurden. Zur gleichen Zeit wurden jedoch auch erste Stimmen christlicher Kirchenfürsten laut, die die vermeintliche Vorrangstellung der Juden bei Hofe kritisierten. Vor allem die Lyoner Erzbischöfe Agobard (769–840) und Amulo (gest. 852) polemisierten gegen jüdischen Einfluß und Irrglauben:24 Agobard widmete allein fünf der insgesamt 18 sicher von ihm stammenden Briefe diesen Themen25 und sein 21 22

23 24

25

BORGOLTE: Gesandtenaustausch, S. 48. Eine weitere, in diesem Zusammenhang bemerkenswerte anekdotenhafte Nachricht bietet die ‚Gesta Karoli magni‘ des Mönchs von St. Gallen: demnach beauftragte Karl der Große einen jüdischen Kaufmann, der häufig den Nahen Osten bereiste und von dort viele kostbare und unbekannte Dinge mitbrachte, aus dem Heiligen Land eine Maus herbeizuschaffen, um diese dem eitlen Bischof Richold von Mainz (787–813) als ein vermeintlich noch nie zuvor in Europa gesehenes Tier zu verkaufen (Monachus Sangallensis I,16; vgl. dazu FREIMANN: Verbindungen, S. 165; ARREG, Nr. 75; HOENIGER: Geschichte, S. 82). Daß Staatsgeschäfte von christlichen Territorialherren in die Hände jüdischer Beauftragter gelegt wurden, ist keineswegs eine nur auf das Frühmittelalter beschränkte Erscheinung. So überträgt z.B. der Würzburger Bischof Manegold von Neuenburg 1293 dem Juden Michelmann die Verwaltung des gerade zur Stadt erhobenen Fleckens Iphofen, vgl. FLADE: Juden, S. 34. Vgl. dazu DEPREUX: Prosopographie, S. 192; ARREG, Nr. 86–88, 96 u. 98. Neben den beiden Bischöfen trat im Lyon der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts zudem ein Diakon namens Florus (gest. um 860) schriftstellerisch gegen die Juden auf: der Text von ‚De fugiendis contagiis Iudeorum‘ ist ediert bei BLUMENKRANZ (Hrsg.): Compilations, S. 227–254; vgl. dazu SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 1, S. 130. Über das Verhältnis zwischen Florus und den Bischöfen, denen er als Sekretär diente, in bezug auf ihre jeweiligen antijüdischen Schriften haben BLUMENKRANZ: Compilations, S. 563f., und CHARLIER: Manuscrits, S. 80, die These aufgestellt, im Diakon den eigentlichen Verfasser der wesentlichen Texte zu sehen, ihm also über seinen eigenen Traktat ‚De fugiendis contagiis Iudeorum‘ hinaus auch Agobards ‚De Iudaicis superstitionibus et erroribus‘ und Amulos ‚Epistola seu liber contra Judaeos‘ zuzuschreiben. Dieser Ansicht sind zuerst BOSHOF: Erzbischof, S. 138, und darauf aufbauend ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, S. XIVf., entschieden entgegengetreten, die dafür argumentieren, daß Florus’ Text durch die Schriften Agobards und Amulos inspiriert worden ist und nicht umgekehrt. Vgl. ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 6, 10–12 u. 14, S. 113–117, 183–221 u. 229–234; DÜMMLER (Hrsg): Agobardi ‚Epistolae‘, Nr. 4 u. 6–9, S. 164–166 u. 182–201; vgl. auch SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 1, S. 142; BOSHOF: Erzbischof, S. 102f.; WILLIAMS: Adversus Judaeos, S. 348–357; ARREG, Nr. 84–97.

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Historische Spuren

Nachfolger Amulo verfaßte eine entsprechende Streitschrift.26 Das Judenbild, das die beiden christlichen Kleriker in ihren Texten entwerfen, entspricht den traditionellen antijüdischen Grundsätzen christlicher Theologie, die Agobard in Aussagen zusammenfaßt wie: non solum mendaces, sed et Antichristos esse Iudeos, qui, cum negent Filium, frustra confitentur Patrem,27 oder: inimici sunt ueritatis, super omnes infideles, incredulos uel hereticos detestandi sunt Iudei, quia nullum genus hominum inuenitur, cui ita libeat maledicere Dominum.28 Vor allem in seinen Schriften werden jedoch darüber hinaus, gerade durch das Ziel der polemischen Abgrenzung, sowohl recht eingehende Kenntnisse des Alltags seiner jüdischen Zeitgenossen als auch enge soziale Kontakte zwischen Juden und Christen deutlich. So beschwert er sich in einem Brief an Ludwig den Frommen aus den Jahren 826/827 unter anderem wie folgt über den Lebenswandel der Juden: Haec passi sumus a fautoribus Iudeorum, non ob aliud, nisi quia praedicauimus christianis [...], ne femine christiane cum eis sabbatizarent, et ne diebus dominicis operarentur, ne diebus xlme cum eis pranderent, et mercennarii eorum isdem diebus carnes manducarent, ne quilibet christianus carnes a Iudeis immolatas et deglubatas emeret et aliis christianis uenderet, ne uinum illorum biberent, et alia huiusmodi. Est enim Iudeorum usus, ut, quando quodlibet pecus ad esum mactant, [...] hec tamquam inmunda a Iudeis repudiata christianis uendantur, et insultario uocabulo christiana pecora appellentur. De humore uero, quod et ipsi inmundum fatentur, et non eo utuntur, nisi ad uendendum christianis, si contigerit, ut in terram defluat quolibet loco licet sordido, festinantes auriunt iterum de terra et ad conseruandum in uasa remittunt. Qualiter uero et alia improbanda circa illud agant, non solum de christianis, sed et de Iudeis multi sunt testes. Quod autem Dominum nostrum Iesum Christum et christianos in omnibus orationibus suis sub Nazarenorum nomine cotidie maledicant, non solum beatus Hieronimus [...] testis est, sed et de ipsis Iudeis plerique testantur.29

Bereits in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts haben wir mit Agobards Brief einen ‚Adversus Judaeos‘-Text vor uns, der wesentliche Beschuldigungen enthält, die späterhin zum Standardrepertoire lateinischer und volkssprachiger judenfeindlicher Schriften gehören und die uns daher im Laufe unserer Spurensuche auch noch häufiger begegnen werden. Sein christlicher Verfasser zeigt sich vertraut mit einer Reihe ritueller jüdischer Vorschriften, auf denen er seine Argumentation aufbaut, namentlich mit dem Verbot des Genusses der hinteren Körperteile des Großviehs und nichtjüdischen Weins. Die erstgenannte Vorschrift leitet sich von dem biblischen Verbot ab, den nervus ischiaticus des Schlachtviehs zu verzehren (Gen 32,33). Da die Prozedur der Entfernung dieses Sehnenstrangs äußerst kompliziert ist, hatte es sich schon in talmudischer Zeit unter den 26 27 28 29

Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 141–184; vgl. auch SCHRECKENBERG: Adversus-JudaeosTexte, Bd. 1, S. 144; WILLIAMS: Adversus Judaeos, S. 358–365; ARREG, Nr. 105–110. ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 214. ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 205. ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 11, S. 192f.

Deutsches Mittelalter: Kontaktraum, Kontaktzeit und gemeinsame Sprache

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Juden eingebürgert, den gesamten hinteren Körperteil des Viehs nicht zu verzehren, sondern an Nichtjuden zu verkaufen.30 Agobards Äußerungen über den Wein der Juden hängen dagegen mit dem talmudischen Verbot von }yy {+s („allgemeinem Wein“) zusammen, das nach bAwoda Sara 29b und 36b aus dem Verbot von ßsn }yy („geweihtem Wein“) abgeleitet ist und eigentlich nicht nur den Genuß, sondern auch den Profit an beiden Weinsorten untersagt (h(nh rws)).31 Grund für dieses Verbot war zunächst die Fernhaltung vom Götzendienst, mittelalterliche Autoritäten wie Maimonides (1135–1204) in seinem twwcmh rps (‚Buch der Gebote‘) fügten dem noch die Vermeidung von Geschlechtsverkehr mit Nichtjuden hinzu.32 Die Behauptung schließlich, die Juden verfluchten in allen ihren Gebeten Jesus und die Christen, wird, wie Agobard selbst schreibt, durch die Autorität des Kirchenvaters Hieronymus (350–420) beglaubigt, der genau dieses in seinem Jesaja-Kommentar XIV,lii,4 geschrieben hatte:33 in synagogis uestris, qui diebus ac noctibus blasphemant Saluatorem, et sub nomine, ut saepe dixi, Nazarenorum, ter in die in Christianos congerunt maledicta. Abgesehen von dem zuletzt genannten Punkt, den Agobard aus christlich-theologischer Traditionsliteratur gekannt haben dürfte und dessen vermeintliche Bestätigung durch jüdische Zeugen wohl nur der Absicht größerer Nachdrücklichkeit geschuldet ist, sind die anderen von ihm angeführten Beschuldigungen zugleich ein Hinweis auf seine eigenen Kenntnisse des religiös fundierten Alltags seiner jüdischen Zeitgenossen wie 30

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Vgl. dazu mChullin VII; CHAVEL (Hrsg.): Commandments, Bd. 2, Nr. 183, S. 180f.; EISENSTEIN: rcw), S. 73f. Diese Vorschrift hat im weiteren Verlauf des deutschen Mittelalters des öfteren Niederschlag in christlichen Texten gefunden, so enthält z.B. das Privileg, das Bischof Rüdiger von Speyer 1084 der neugegründeten jüdischen Gemeinde erteilte, folgenden Passus: Carnes mactatas, quas viderint sibi illicitas secundum legis sue sanctionem, licite vendant christianis, licite emant eas christiani (ARREG, Nr. 168, S. 70). Insbesondere im Spätmittelalter war diese Regelung häufiger Anlaß zu Streitigkeiten zwischen jüdischen und christlichen Metzgern, wie z.B. die Mainzer Ratsprotokolle des 15. Jahrhunderts zeigen, in denen das von Juden an Christen verkaufte Fleisch als boses fleisch bezeichnet wird, vgl. MENCZEL: Beiträge, S. 50. Eventuell ist auch wîhfleisch, das im ‚Kleinen Lucidarius‘ (II, v. 1072) erscheint und das BMZ, Bd. 3, S. 340, sowie LEXER, Bd. 3, Sp. 818 nur mit „geweihtes Fleisch“ übersetzen, eine christliche Bezeichnung für das Fleisch geschächteter Tiere, da den weiteren Kontext der Stelle die Judenpolemik des Autors bildet. Vgl. dazu EISENSTEIN: rcw), S. 168f. Vgl. CHAVEL (Hrsg.): Commandments, Bd. 2, Nr. 194, S. 190. Vgl. auch seinen Amos-Kommentar I,i,12: hodie in synagogis suis sub nomine Nazarenorum blasphemant populum christianum. Zum Verhältnis des Hieronymus zu seinen jüdischen Lehrern vgl. STEMBERGER: Hieronymus, S. 347–364; RAHMER: Traditionen, S. 217; GERSON: Commentarien, S. 19. Vor Hieronymus hatte schon Justinus Martyr im zweiten nachchristlichen Jahrhundert vom vermeintlich christenfeindlichen, sogenannten „Ketzersegen“ ({ynymh tkrb) der Juden berichtet, vgl. ‚Dialogus cum Triphone‘ 16,4 u. 96,2. Vgl. dazu auch NULMAN: Encyclopedia, S. 354; ELBOGEN: Gottesdienst, S. 36–39; HERFORD: Problem, S. 359–369; BLOCH: Israel, S. 48; KRAUSS: Imprecation, S. 515–517; GOLDFAHN: Ursprung, S. 167.

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auch Ausweis des persönlichen Verkehrs zumindestens zwischen den Juden des Karolingerreichs und ihren christlichen Hausangestellten.34 Darüber hinaus kennt Agobard, wiederum in einem Schreiben an den Kaiser, das er 826/827 zusammen mit den Bischöfen Bernhard von Vienne und Faof von Chalon verfaßte, auch eine Reihe der traditiones phariseorum, quas hodie deuterosis uocant,35 womit eigentlich an einer Stelle in den Briefen des Hieronymus36 die Mischna, der ältere, zwischen dem zweiten vorchristlichen und dritten nachchristlichen Jahrhundert entstandene Teil der talmudischen Überlieferung gemeint ist: Hieronymus griechisches deuterw/seij und Agobards lateinisches deuterosis entsprechen dem hebräischen twyn#m (wörtlich „Wiederholungen“), der Bezeichnung der einzelnen Lehrsätze der Mischna.37 Bei Agobard sind damit aber eher die erbaulich-erzählenden Bestandteile des Talmud gemeint (twdg)), so kennt er zum Beispiel

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Vgl. auch Agobards eigene Aussage: Quod nobis non minime notum est, qui cotidie pene cum eis loquentes mysteria erroris ipsorum audimus (ACKER [Hrsg.]: Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 205), mit dem er und die Mitunterzeichnenden Bischöfe von Vienne und Chalon dem Kaiser die Wahrheit der superstitiones et errores der Juden beglaubigen. ACKER (Hrsg): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 207. Vgl. HILBERG/KAMPTNER (Hrsg.): Hieronymi ‚Epistulae‘ CXXI,10,19: quantae traditiones pharisaeorum sint, quas hodie deuterw/seij uocant, et quam aniles fabulae, reuoluere nequeo. neque enim libri patitur magnitudo et pleraque tam turpia sunt, ut erubescam dicere; vgl. auch seinen JesajaKommentar III,viii,11/15: traditiones et deuterw/seij suas legis; in ähnlichem Zusammenhang bei Isidor von Sevilla ‚Etymologiae‘ VIII,4,3: Nam Pharisaei ex Hebraeo in Latinum interpretantur Divisi, eo quod traditionum et observationum, quas illi deuterh/seij vocant, iustitiam praeferunt. Vnde et divisi vocantur a populo, quasi per iustitiam. Vgl. FUNKENSTEIN: twrwmth, S. 138 Anm. 48; WILLIAMS: Adversus Judaeos, S. 352 Anm. 3. In dieser Bedeutung erscheint deuterosis zu Beginn des 11. Jahrhunderts auch in einem ahd. Text, in der kommentierenden Psalmenübersetzung Notkers III. von St. Gallen (950–1022): Notker erläutert die iniqui fabulationes aus Ps 118,85 wie: Soliche hábent misseliche professiones. Iudeorum litere so gescribene heîzzent deuterosis. an diên milia fabularum sint. ane den canonem diuinarum scripturarum. Sameliche habent heretici. an iro uana loquacitate. Habent ouh soliche seculares litere. Vuaz ist ioh anderes daz man marcholfum saget sih éllenon uuider prouerbiis salomonis? An diên allen sint uuort scôniû. âne uuârheit (TAX (Hrsg.): Notker der Deutsche, S. 460). Notkers Quelle sind jedoch nicht die Schriften des Hieronymus, sondern Augustins ‚Enarrationes in Psalmos‘ zur Stelle (vgl. TAX (Hrsg.): Notker latinus, S. 599; HENRICI: Quellen, S. 315). Bemerkenswert ist an dieser Stelle, neben dem Vorkommen des Begriffs deuterosis als Bezeichnung für nachbiblische jüdische Schriften in einem volkssprachigen Text lange vor der christlichen „Entdeckung“ des Talmud im 12./13. Jahrhundert, zudem die Verbindung, die Notker zwischen spezifisch jüdischen Überlieferungen, an diên milia fabularum sint, und dem ‚Salomo und Markolf‘-Stoff herstellt: zum einen ist Notker der älteste erhaltene Beleg für die Existenz dieses Stoffs (vgl. BENARY (Hrsg.): ‚Salomon et Marcolfus‘, S. VII), zum anderen gehört just dieser Stoff zu den europäischen Erzähltraditionen des Mittelalters, deren jüdische Herkunft und jüdische Vermittlung bereits des öfteren erwogen und diskutiert wurde.

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talmudische Erzählungen über Gottes Körperlichkeit38 oder Teile der spätantik-jüdischen Jesus-Sage (w#y twdlwt).39 Sein Amtsnachfolger Amulo greift diese Themen 846 erneut auf40 – ein besonders pathologischer Punkt ist bei ihm zudem die Furcht, die christliche Dienerschaft lasse sich von ihren jüdischen Herren etiam constuprentur –, um aufgrund dieser Anschuldigungen nachdrücklich vor jeglicher Form christlich-jüdischen Kontakts und insbesondere vor Diskussionen über theologische Fragen zu warnen.41 Zugleich erweitert Amulo das Repertoire als verwerflich eingestufter talmudischer Stoffe in den Kapiteln 10–13 und 39–40 seiner Schrift um einige weitere Beispiele, die 38

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Vgl. ACKER (Hrsg): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 205f.: Dicunt denique Deum suum esse corporeum et corporeis liniamentis per membra distinctum, et alia quidem parte illum audire ut nos, alia uidere, alia uero loqui uel aliud quid agere; ac per hoc humanum corpus ad imaginem Dei factum, excepto quod ille digitos manuum habeat inflexibiles ac rigentes, utpote qui nil manibus operetur; sedere autem more terreni alicuius regis in solio, quod a IIIIor circumferatur bestiis, et magno quamuis palatio contineri; cogitare etiam illum multa superflua et uana, que, quia ad effectum cuncta uenire nequeant, uertantur in demones; vgl. dazu bBerachot 3a u. 59a; BLUMENKRANZ: Auteurs, S. 165. Vgl. ACKER (Hrsg): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 206f.: Nam et in doctrinis maiorum suorum legunt, Iesum iuuenem quendam fuisse apud eos honorabilem et magisterio baptiste Iohannis eruditum, quam plures habuisse discipulos, quorum uni propter duritiam et hebitudinem sensus kephae, id est petre, nomen inposuerit. Et cum expectaretur a populo ad diem festum, quosdam ei de scola sua pueros occurisse, qui illi ex honore et reuerentia magistri cantauerint: Osanna filio David. Ad extremum uero propter plura mendatia accusatum, Tyberii iudicio in carcerem retrusum, eo quod filia ipsius, cui sine uiro masculi partum promiserat, lapidis conceptum intulerit; inde etiam ueluti magum detestabilem furca suspensum, ubi et petra in capite percussum; atque hoc modo occisum, iuxta quendam aqueductum sepultum, et Iude cuidam ad custodiam commendatum; noctu uero subita aqueductus inundatione sublatum, Pilati iussu per duodecim lunas quesitum nec usque inuentum. Tunc Pilatum huiusmodi ad eos promulgasse legem: Manifestum est, inquit, resurrexisse illum, sicut promiserat, qui et a uobis per inuidiam peremptus est, et neque in tumulo neque in ullo alio inuenitur loco. Et ob hanc causam praecipio, ut adoretis eum; quod qui facere noluerit, partem suam in inferno futuram esse cognoscat. Haec autem omnia ideo et seniores eorum confinxerunt, et ipsi stulta obstinatione lectitant, ut talibus commentis tota et uirtutis et passionis Christi ueritas euacuetur, et ut adoratio non ei ut Deo ueraciter exhiberi debeat, sed Pilati tantum lege illi delata sit. Sed et Petrum nequaquam per angelum secundum fidem nostram de carcere eductum, sed Herodis misericordia, apud quem plurimum eius sapientia fuerit conlaudata; vgl. dazu HORBURY: Literature, S. 203; STRACK: Jesus, S. 14; KRAUSS (Hrsg.): Leben Jesu, S. 5–7; BHM, Bd. 5, S. 60–62, Bd. 6, S. 9–14 u. 155f. Vgl. zur inhaltlichen Abhängigkeit Amulos von Agobard die Ausführungen ACKERs (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, S. XV: „Il suffit de comparer les chapitres LII–LVIII d’Amolon [...] avec le texte parallèle d’Agobard [...] pour constater que, mise à part l’omission de quelques lignes [...] la disposition des témoignages est exactement la même: [...]. La ressemblance est trop frappante pour être l’effet du hasard, et on doit en déduire qu’Amolon a, tout simplement, copié son prédécesseur. Il est d’ailleurs évident qu’en d’autres endroits aussi les écrits antijuifs d’Agobard ont inspiré son successeur; [...] Amolon était cependant assez original pour étoffer son ouvrage d’éléments nouveaux“. Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 170f.; in ganz ähnlicher Weise hatte schon Agobard in seinem letzten antijüdischen Brief argumentiert, den er vermutlich 827/828 an Erzbischof Nibridius von Narbonne richtete, vgl. ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 14, S. 231–234; zum Datum des Schreibens vgl. BOSHOF: Erzbischof, S. 128; anders DÜMMLER (Hrsg.): Agobardi ‚Epistolae‘, S. 182 u. 185.

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Agobard noch nicht erwähnt hatte.42 Unter anderem schreibt er, daß die Juden das Evangelium, quod nos Graeco eloquio intelligimus bonum nuntium, ipsi propria lingua malitiosissime immutantes vocant havongalion, quod interpretatur Latine iniquitatis revelatio;43 daß die Juden unter Berufung auf die Autorität eines ihrer großen Lehrer, qui vocabatur Josue Ben Levi, an das Kommen zweier Messiasse glauben;44 daß zwei der bedeutendsten Weisen der Mischnazeit Sammai et Hellel hießen;45 daß das Christentum in hebräischen Texten als adoratio Bel sowie der Begründer der christlichen Religion als Ussum Hamizri, quod dicitur Latine, Dissipator Aegyptius, geschmäht werden;46 schließlich kennt auch Amulo wie vor ihm bereits Agobard den Nukleus der jüdischen Leben Jesu-Tradition: Dominum nostrum Jesum Christum maledicant, confitentes eum esse impium et filium impii, id est, nescio cujus ethnici, quem nominant Pandera: a quo dicunt matrem Domini adulteratam, et inde eum in quem nos credimus, natum.47 Den direkten Anlaß für Amulos Warnung vor jüdisch-christlichen Religionsgesprächen bildet der Fall des diaconus palatinus Bodo,48 der weithin für Aufsehen im Frankenreich sorgte.49 So berichtet unter anderem Prudentius von Troyes (gest. 861) in den ‚Annales Bertiniani‘, Bodo sei 839 zum Judentum übergetreten und ins muslimische Saragossa geflohen: Sicque circumcisus, capillisque ac barba crescentibus, et mutato potiusque usurpato Eleazari nomine, accinctus etiam cingulo militari, cuiusdam Iudaei filiam sibi in matri42

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Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 146–149 u. 167–169. Sowohl Agobard als auch Amulo verweisen zumeist auf die Autorität Hieronymus, allerdings finden sich eine Reihe von Aggadot, die die beiden Erzbischöfe in ihren Schriften unter Berufung auf den Kirchenvater erwähnen, nicht in dessen Werken, vgl. dazu WILLIAMS: Adversus Judaeos, S. 352. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 146; vgl. dazu bSabbat 116a. Vereinzelt hatte schon Agobard Hebraica in seinen antijüdischen Briefen erwähnt, vgl. racha, id est firmamentum, oder araboth, in quo Dominum astruunt residere (ACKER [Hrsg.]: Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 206). Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 148f.; vgl. dazu bSanhedrin 98a und BHM, Bd. 2, S. 48–51. Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 149; vgl. dazu z.B. mAwot I,12, aber auch Hieronymus zu Jes III,viii,11/15: Sammai et Hellel, ex quibus orti sunt scribae et pharisaei, quorum suscepit scholam Akibas, quem magistrum Aquilae proselyti autumat et post eum Meir, cui successit Ioannan filius Zachai, et post eum Eliezer, et per ordinem Telphon, et rursum Ioseph Galilaeus, et usque ad captiuitatem Hierusalem Iosue. Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 149 u. 167f.; vgl. dazu z.B. AGUS (Hrsg.): Responsa, S. 46. Ähnlich hatte schon Agobard geschrieben, daß die Juden christianos idola asserunt adorare, et uirtutes, que apud nos sanctorum intercessionibus obtinentur, a diabolo fieri dicere non exhorrescunt (ACKER [Hrsg.]: Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 207). Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 169; vgl. dazu bSanhedrin 106b; bSota 47b; BHM, Bd. 5, S. 60–62, Bd. 6, S. 9–14 u. 155f.; EISENSTEIN (Hrsg.): rcw), S. 228–239; KRAUSS (Hrsg.): Leben Jesu, S. 38–50. Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 171. Vgl. STOW: Minority, S. 58f.; ARREG, Nr. 103; DÜMMLER: Proselyten, S. 446; einschränkend WILLIAMS: Adversus Judaeos, S. 363; zur Haltung gegenüber Proselyten in jüdischen Quellen des Mittelalters vgl. grundsätzlich KATZ: Exclusiveness, S. 77–81.

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monium copulavit.50 Doch auch über das konkrete Beispiel hinaus zeigt Amulos Warnung deutlich, daß es zu dieser Zeit christlich-jüdische Religionsgespräche gegeben haben muß, die nicht von den theologischen Instanzen des Christentums legitimiert und überwacht wurden, und daß im Rahmen dieses Kontakts auch kultureller Transfer zwischen Juden und Christen stattgefunden haben kann, quantum autem eorum [sc. Judaeorum] nefanda societas, et venenatum colloquium proficiat ad impietatem.51 Zugleich stellen Agobards und Amulos Werke den „noch recht unbeholfen[en]“52 Beginn christlicher Talmudgegnerschaft dar,53 nichtsdestoweniger gilt für die Karolingerzeit MICHAEL BORGOLTEs Resümee: „Mögen diese Schriften auch zeigen, daß man nicht immer und überall mit der Stellung der Juden einverstanden war, so kam es doch im karolingischen Reich nie zu Verfolgungen dieser ethnisch-religiösen Minderheit.“54 Trotz des Aufenthalts jüdischer Kaufleute am Kaiserhof zu Aachen in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts ist von festen jüdischen Siedlungen auf dem Boden des ostfränkischen Reichs wohl erst ab der Wende vom 9. zum 10. Jahrhundert auszugehen,55 wie auch ein indirekter Hinweis na50 51 52 53 54 55

WAITZ (Hrsg.): ‚Annales Bertiniani‘, S. 17. Bodo ist, allerdings wohl vor seiner Konversion, auch ein Gedicht Walahfrids Strabo (808–849) gewidmet, vgl. DÜMMLER (Hrsg.): Walahfridi ‚Carmina‘, Nr. 34, S. 386: Ad Bodonem yppodiaconum. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 171. SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 3, S. 103. Vgl. auch STOW: Minority, S. 33–36. BORGOLTE: Gesandtenaustausch, S. 34; vgl. zum relativ gefestigten sozialen Status der Juden im Karolingerreich auch STOW: Minority, S. 57–64. Vgl. STOW: Minority, S. 89. Vor kurzem wurde eine lange gehegte opinio communis der Forschung von MICHAEL TOCH angefochten, der dafür plädiert, den Beginn der jüdischen Siedlungsgeschichte im gesamten West- und Mitteleuropa erst in der Karolingerzeit anzusetzen und sämtliche Quellenbelege, die für eine vergleichsweise kontinuierliche Siedlungsgeschichte von der Spätantike über die merowingische in die karolingische Epoche sprechen, entweder als bisher mißinterpretiert oder als legendenhaft zu verwerfen, vgl. TOCH: „Jahrhunderte“, S. 11–24. Diese Neubewertung ist auf die vehemente Kritik FRIEDRICH LOTTERs gestoßen, der sich vor allem darum bemüht, TOCHs Vorgehensweise zu diskreditieren: „Einerseits stützt er [sc. TOCH] seine Beweisführung auf die Verwerfung der erdrückenden Mehrheit der uns noch überkommenen Nachrichten, andererseits auf das ständig wiederholte argumentum e silentio, daß die Quellen jahrhundertelang nichts über die betreffenden Orte oder Vorgänge verlauten lassen und folgert daraus wieder, daß auch die wenigen noch übriggebliebenen Quellenaussagen, die er nicht von vornherein zurückweist, verdächtig seien. [...] Es handelt sich also bei Tochs ‚Methode‘ um eine Negativargumentation, welche die Mehrheit der Quellenaussagen entweder von vornherein als ‚Topos‘ oder fragwürdiges Motiv verwirft, oder als ‚nicht zwingend beweisbar‘ in Frage stellt, um sie dann als nicht existent zu betrachten“ (LOTTER: Finsternis, S. 230f.). TOCH hat in seiner Replik auf LOTTERs Ausführungen dagegen zu zeigen versucht, daß sein „Methodenverständnis zu mehr Licht führt, zu einer vorläufig noch ansatzweise neuen Sicht der Geschichte der Juden im Europa des Frühmittelalters“ (TOCH: Licht, S. 483). Demzufolge habe sich die jüdische Siedlungsgeschichte Europas zwischen dem 5. und dem 9. Jahrhundert in „einer zweimaligen, chronologisch gestaffelten und von den Begleitumständen,

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helegt: Als Alkuin (730–804), der Leiter der karolingischen Hofschule, sich Ende des 8. Jahrhunderts an die Revision des lateinischen Textes des Alten Testaments machte, fielen ihm sehr schnell gravierende Textunterschiede zwischen den einzelnen Handschriften auf. Er wandte sich daraufhin um Hilfe an den Abt von St. Martin in Tours, der wiederum seine Freunde bat, daß sie, wann immer sie in diplomatischem Auftrag nach Italien oder Rom geschickt würden, dort auch mit jüdischen Gewährsleuten über Fragen des alttestamentlichen Bibeltextes sprechen sollten.56 Zu Alkuins Zeit scheint es also zumindest in den nördlichen Provinzen des Karolingerreichs noch keine funktionierenden jüdischen Gemeinden mit eigenen Bildungseinrichtungen gegeben zu haben. Die späteren jüdischen Einwanderer in diese Reichsteile stammten vermutlich sowohl aus Norditalien als auch aus Süd- und Mittelfrankreich,57 erste Zentren bildeten Metz (ab 888), Mainz (ab 917), Magdeburg (ab 965), Merseburg (ab 973), Regensburg (ab 981), Köln und Worms (ab 1012), Trier (ab 1066) sowie Speyer (ab 1084).58 Besondere Bedeutung kam unter den genannten Städten den drei Gemeinden von Speyer, Worms und Mainz zu, den sogenannten {““w# twlyhq,59 die der Wiener Rabbiner Isaak Or Sarua (1180– 1250) noch im ersten Viertel des 13. Jahrhunderts als Antwort auf eine Frage bezüglich der Verbindlichkeit einer Reihe religiöser Bräuche in Aschkenas wie folgt zusammengefaßt hat: hrwt t)cy {#m )lh )““ryp#b#w )““#mrwwb#w )““cngmb# wnytwbr lkb#w swnyrb# twlyhqh lk wdswn# {wym wghn )lh l)r#y lkl 60 .wnl# twyklmw znk#) jr)

Im Zusammenhang zahlreicher anderer Fragen der religionsgesetzlichen Verbindlichkeit einzelner Bräuche erscheint die Dreiheit der rheinischen Judengemeinden nachgerade als „Inbegriff der Landschaft ‚Aschkenas‘ (Deutschland) in bezug auf religiöses Brauchtum“61.

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dem Charakter und den Ergebnissen her ganz unterschiedlichen Besiedlung“ vollzogen: „eine erste im Mittelmeerraum der Spätantike und des Frühmittelalters, eine zweite in West- und Mitteleuropa seit der Karolingerzeit“ (TOCH: Licht, S. 487). Vgl. GRABOIS: Veritas, S. 615; BLUMENKRANZ: Auteurs, S. 144–146. Vgl. STOW: Land, S. 319–334; GROSSMAN: htrygh, S. 154–185. Die genannten Jahreszahlen bezeichnen das jeweilige Datum urkundlicher Ersterwähnung, so daß der tatsächliche Beginn jüdischer Siedlung wohl jeweils wenige Jahrzehnte früher angesetzt werden kann. „Gemeinden Schum“, i.e. das Akronym aus )ryp# (schpira – Speyer), )#mrww (warmaisa – Worms) und )cngm (magenza – Mainz); vgl. dazu BARZEN: Regionalorganisation; BARZEN: „Kehillot“. Isaak ben Mose: (wrz rw), Bd. 1, Kap. 752/9, S. 217: „Von unseren Lehrern in Mainz, Worms und Speyer ist die Lehre ausgegangen für ganz Israel, und seitdem Gemeinden in den Rheinlanden, in ganz Deutschland und in unseren Königreichen gegründet worden sind, hat man sich dort an ihre Vorschriften gehalten.“ LEVI: Verbundenheit, S. 190.

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Verbunden ist der Beginn fester jüdischer Siedlungen im ostfränkischen Reich, und damit im deutschen Sprachraum, um das Jahr 900 mit einer Gründungssage, die in ihrer hebräischen, seit Beginn des 13. Jahrhunderts überlieferten Fassung diesen Beginn jedoch mit Karl dem Großen verknüpft, obwohl sie tatsächlich erst in die ottonische Zeit gehört, wie ein Reflex dieser Sage bei Thietmar von Merseburg (975–1018) beweist.62 Demnach rettete sich Otto II. (955–983) nach der Niederlage beim süditalienischen Kap Colonne 982 an den Strand, vidensque a longe navim, salandriam nomine, Calonimi equo Iudei ad eam properavit. Sed ea preteriens, suscipere hunc recusavit. Ille autem littoris presidia petens, invenit adhuc Iudeum stantem, seniorisque dilecti eventum sollicite exspectantem. Cumque hostes adventare conspiceret, quid umquam fieret de se, tristis hunc interrogans, et habere se amicum apud eos, cuius auxilium speraret, animadvertens, iterum equo comite in mare prosiliens, ad alteram, que sequebatur, tendit salandriam, et ab Heinrico solum milite eius, qui szlavonice Zolunta vocatur, agnitus intromittitur, et in lecto senioris eiusdem navis positus. (‚Chronicon‘ III,12)

Mit dem hier genannten Calonimus Iudeus ist vermutlich ein Vertreter der „aristokratischen Familie der Kalonymiden“63 aufgerufen, deren Mitglieder über mehrere Generationen hinweg zur Spitzenschicht religiöser Funktionsträger des aschkenasischen Judentums gehörten:64 unter ihnen finden sich sowohl einige der bedeutendsten liturgischen Dichter wie Mose ben Kalonymos (Mitte des 10. Jahrhunderts), Meschullam ben Kalonymos (10./11. Jahrhundert) und Kalonymos ben Juda (Ende des 11. Jahrhunderts)65 als auch die führenden Vertreter der znk#) ydysx („Frommen Deutschlands“) des 13. Jahrhunderts wie Samuel der Fromme (gest. 1180), Juda der Fromme (1140–1217) oder Elasar ben Juda (1165– 1238).66 Die Familie stammte aus dem norditalienischen Lucca und übersiedelte um die Mitte des 10. Jahrhunderts nach Mainz,67 im späteren 11. Jahrhundert entwickelte sich zudem ein Zweig in Speyer. Die Kalonymiden stellen somit das geistige Bindeglied zwischen dem sich gerade erst entfaltenden aschkenasischen und dem italienisch-byzantinischen Judentum dar, das letzten Endes auf die religiöse Kultur im spätantiken Is62 63 64

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Vgl. dazu GROSSMAN: znk#) ymkx, S. 31; ARREG, Nr. 136; ARONIUS: Karl, S. 82–87; BRESSLAU: Erläuterungen, S. 157. TOCH: Juden, S. 29. Die Kalonymiden prägten vor allem das Gesicht der drei einflußreichen und in religionsgesetzlicher Hinsicht normativen Gemeinden von Speyer, Worms und Mainz: Mose ben Kalonymos kam vor 950 von Lucca nach Mainz, Speyer ist eine durch den Umzug Judas ben Kalonymos von Mainz dorthin begründete Tochtergemeinde der Mainzer Gemeinde und zwischen allen drei Gemeinden wurden vor allem im 11. und 12. Jahrhundert die Häupter der Lehrhäuser wechselweise berufen, vgl. dazu LEVI: Verbundenheit, S. 187–189. Vgl. dazu HIRSCHHORN (Hrsg.): Tora, S. 64f., 98f. u. 346. Vgl. dazu MARCUS: ‚Sefer Hasidim‘, S. 15–20. Vgl. zur Migration der Kalonymiden STOW: Land, S. 319–334; STOW: Minority, S. 70f.; GROSSMAN: znk#) ymkx, S. 44–48 u. 54f.

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rael zurückgeht. Neben diesem Traditionszweig wurde das aschkenasische Judentum in seiner Frühzeit zudem von den jüdischen Gemeinden Südfrankreichs beeinflußt, deren kulturell-religiöse Wurzeln in der Vermittlung über Spanien letztlich zu den babylonischen Talmudakademien der Spätantike reichten. Somit entwickelte sich das kulturelle Profil des frühen Judentums in Aschkenas unter Rückbezug auf eine zweifache Überlieferung normativer Texte und Haltungen.68 Über diese indirekten Verbindungen hinaus bestanden im ausgehenden Frühmittelalter zudem direkte Beziehungen der aschkenasischen Juden zu ihren Glaubensbrüdern im Nahen Osten in Form der zahlreichen schriftlichen Anfragen zur Lösung religionsgesetzlicher Problemfälle. So wandten sich zum Beispiel um 960 die swnyr y#n) („Männer des Rheinlands“)69 mit rituellen Fragen und der Bitte, ihnen die Zeit der Ankunft des Messias mitzuteilen, an die l)r#y jr) ymkx („Gelehrten des Lands Israel“).70 Und gut einhundert Jahre später „richtete Meschullam ben Kalonymos aus Mainz liturgische Anfragen nach Palästina, die von dem Gaon Elia ha-kohen und seinem Ab-BetDin Ebjiator beantwortet wurden“71. Da dieser Briefaustausch nicht ohne Überbringer funktionieren konnte, haben wir hier, neben den internationalen Handelsbeziehungen jüdischer Kaufleute,72 einen weiteren Beweis für die direkten und persönlichen Kontakte der frühmittelalterlichen Juden des deutschen Sprachraums mit dem zeitgenössischen Orient und seiner Kultur. Diese Kontakte stellen nun meines Erachtens ideale Voraussetzungen dar, sowohl für die Aufnahme und für die Vermittlung wandernden Erzählguts eigener, soll hier heißen jüdischer, sowie fremder, also muslimisch-arabischer Provenienz aus dem Orient in den Okzident schon vor der Zeit der Kreuzzüge durch ebendiese zwischen beiden kulturellen Sphären sich hin- und herbewegenden Juden des ausgehenden europäischen Frühmittelalters. Somit sind bereits für die Frühphase der mittelalterlichen jüdischen Siedlungsgeschichte im deutschsprachigen Raum, für die Jahre zwischen 800 und 1000, nahezu alle grundlegenden Bedingungen für einen Kulturtransfer zwischen jüdischem und christlichem Archiv erfüllt und dieser Transfer hat bereits erste Spuren in christlichen Quellen des Zeitraums hinterlassen, wie die Beispiele der Lyoner Erzbischöfe Agobard und Amulo zeigen. Ein ausführlicherer Blick auf die jüdisch-christlichen Beziehun68 69 70 71 72

Vgl. dazu ausführlich GROSSMAN: htrygh, S. 154–185; mit anderer Akzentsetzung SCHWARZFUCHS: L’opposition, S. 135–150. Zu swnyr als frühmittelalterlichem Konkurrenzbegriff zu znk#) vgl. CUNO: Ortsnamen, S. 336–342. Vgl. FREIMANN: Verbindungen, S. 166. FREIMANN: Verbindungen, S. 166. Vgl. STOW: Minority, S. 42.

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gen des 11. und 12. Jahrhunderts, vor allem in den großen Städten des Rheinlands, anhand christlicher und jüdischer Quellen soll dieses Bild jetzt weiter komplettieren und die grundsätzliche Möglichkeit sowie die hohe Wahrscheinlichkeit jüdisch-christlichen Kulturtransfers gerade in dieser Phase des deutschen Hochmittelalters untermauern. 2. Die aschkenasischen Juden des 11. und 12. Jahrhunderts und ihr Verhältnis zur koterritorialen Christenheit Im folgenden stehen in erster Linie die drei großen Rheingemeinden Mainz, Speyer und Worms beispielhaft im Zentrum der Darstellung, es werden aber auch andere der ältesten jüdischen Gemeinden des deutschen Sprachraums miteinbezogen wie zum Beispiel Trier oder Regensburg. Insgesamt handelt es sich dabei also um Gemeinden, die spätestens im letzten Drittel des 11. Jahrhunderts gegründet wurden und wichtige Zentren sowie definitorische Bezugspunkte im System der jüdischen Siedlungsstruktur im mittelalterlichen Reich bildeten. Für einen Blick auf die Binnenstruktur dieser Gemeinden, ihre Einrichtungen und – für die Fragestellung dieser Studie von besonderer Wichtigkeit – ihre Beziehungen zur christlichen Gesellschaft, können vor allem zwei Arten hebräischer Quellen herangezogen werden:73 zunächst eine vermutlich in Mainz entstandene, religionsgesetzliche Kompilation des späten 12. Jahrhunderts mit dem Titel {ynw)gh h#(m (‚Geschichte der Oberhäupter‘), deren einzige erhaltene Handschrift zu Beginn des 13. Jahrhunderts noch mit zahlreichen erläuternden Marginalglossen versehen wurde,74 sodann die Berichte über die Judenverfolgungen während des ersten Kreuzzugs.75 Für die Wahrnehmung des jüdisch-christlichen Verhältnisses auf christlicher Seite finden sich dagegen zahlreiche verstreute Beispiele vor allem in der chronikalischen, aber auch in der theologisch-apologetischen Literatur des Zeitraums. Generell fällt im 11. und 12. Jahrhundert die zentrale Lage des jüdischen Wohnbezirks in den Städten des hochmittelalterlichen Reichs auf:76 Juden wohnten in diesem Zeitraum entweder im Stadtkern wie in Köln 73 74 75 76

Vgl. dazu ELBOGEN: Quellen, S. 34–43. Vgl. EPSTEIN/FREIMANN (Hrsg.): {ynw)gh h#(m. Vgl. NEUBAUER/STERN (Hrsg.): Berichte; überblickshaft dazu CHAZAN: May–June 1096, S. 1–7. Vgl. zu einer umfassenden Darstellung der Entwicklung städtischer Judensiedlungen im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit PINTHUS: Judensiedlungen; PINTHUS: Studien, S. 108–120; zu Regensburg vgl. noch SCHMETZER: Judenstadt, S. 25–33; zum späteren Mittelalter vgl. noch HAVERKAMP: Quarter, S. 13–28; VEITSHANS: Judensiedlungen.

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und Regensburg, oder angelehnt an Domfreiheit, Burg oder Marktsiedlung wie in Worms und Trier,77 eine Abdrängung an den Siedlungsrand der jeweiligen Stadt fand zumeist erst in der Mitte des 14. Jahrhunderts statt, also nach den Pestpogromen im Zuge der Wiederansiedlung der dezimierten jüdischen Gemeinden. Dieser zentralen Siedlungslage entsprachen generell enge und häufige soziale Kontakte zu Vertretern der christlichen Spitzenschicht sowohl in Form der einzelnen städtischen Eliten als auch in Form des kaiserlichen Hofs. Diese Orientierung des aschkenasischen Judentums auf Beziehungen zur sozialen Oberschicht der Christen seit dem 11. und weit bis ins 13. Jahrhundert stellt zugleich eine Grundvoraussetzung für unsere These dar, daß Juden während des deutschen Hochmittelalters in Kontakt zu Trägern literarischer Kultur auf christlicher Seite standen und somit kultureller Transfer zwischen beiden Gruppen grundsätzlich möglich und wahrscheinlich ist.78 Es greift meiner Ansicht nach jedoch zu kurz, diese Orientierung allein als Ergebnis wirtschaftlicher Erwägungen und Bedingungen zu erklären, vielmehr drückt sich auf jüdischer Seite hierin auch eine Suche nach einer als gleichwertig verstandenen Gruppe unter den Christen aus: Im Grunde bestanden die jüdischen Gemeinden zu dieser Zeit noch aus einer überschaubaren Reihe untereinander verschwägerter Familien mit einem deutlich erkennbaren, exklusiv-aristokratischen Bewußtsein, das sich im Interesse am swxy („Abstammung“), also den Spezifika der eigenen genealogischen Herkunft niederschlägt.79 Dieses Konzept entspricht durchaus dem zeitgleich auf christlicher Seite entstehenden Bedürfnis hochadliger Kreise, die eigenen familiären Bindungen in Form agnatisch strukturierter Dynastien neu zu konzipieren und die ununterbrochene Abfolge der Geschlechter in der literarischen Gattung der genealogiae zu verewigen.80 So erwähnt zum Beispiel die ‚Salomo ben Samson-Chronik‘81, eine der jüdischen Hauptquellen für die rheinischen Massaker zu Beginn des ersten Kreuzzugs im Jahre 1096, des öfteren vertraute Beziehungen insbesondere zwischen Mitgliedern der sozialen Eliten auf jüdischer und christlicher Sei77 78

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Vgl. die Karten bei PINTHUS: Studien, S. 127f.; vgl. auch ALTMANN: Studies, S. 98. Daß sich die Juden des europäischen Hochmittelalters an den herrschenden sozialen Klassen der koterritorialen Christenheit orientierten, ist keine auf den deutschen Sprachraum begrenzte Erscheinung: Auch die jüdischen Siedler, die sich seit dem letzten Viertel des 11. Jahrhunderts von Nordfrankreich und dem Rheinland aus auf die englische Insel begaben, “only came in contact with the upper classes, and indeed, [...] their business was only with them“ (JACOBS: Jews, S. 338). Vgl. dazu EISENSTEIN: {ynyd rcw), S. 168. Vgl. zu diesem Prozeß PRZYBILSKI: sippe, S. 63f. u. 115f. Hebräischer Text bei NEUBAUER/STERN (Hrsg.): Berichte, S. 1–35; deutsche Übersetzung ebd., S. 81–152. Die Chronik ist unikal in einer 1453 im norditalienischen Treviso entstandenen Handschrift überliefert, vgl. dazu generell CHAZAN: God, S. 52–99.

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te in der Zeit vor der Ankunft der Kreuzfahrer.82 Sie kennzeichnet das Verhältnis zwischen den gesellschaftlichen Spitzen der jüdischen Gemeinde von Mainz und Erzbischof Ruthard (1088–1109) durch die Wendung 83}wmghh yny(b {ybw#xh hd(h y#)r.84 Ein anderer hebräischer Bericht über die Verfolgungen während des ersten Kreuzzugs, der ‚Mainzer Anonymus‘,85 zeichnet ein eingehendes Bild der engen Beziehung zwischen Bischof Johann von Speyer (1090–1104) und dem episcopus iudeorum86 Mose ben Jekutiel.87 Mit den „Häuptern der Gemeinde“ meint die ‚Salomo ben Samson-Chronik‘ im ausgehenden 11. Jahrhundert Vertreter einer sowohl wirtschaftlich wie geistig herausgehobenen sozialen jüdischen Oberschicht: Die wichtigen geistigen Gestalten des jüdischen Deutschland kamen im Laufe von fünf Generationen, zwischen Ausgang des 10. und 11. Jahrhunderts, aus allein sieben Familien, die sich untereinander verheirateten und enge Kontakte unterhielten. Diese Vorherrschaft weniger ‚aristokratischer‘ Familien, deren Mitglieder geistige Autorität, politische Führungsfunktion und wirtschaftliche Macht vereinten, ist im gesamten mittelalterlichen Judentum einzigartig. [...] Die Auslöschung oder zumindest schwere Beeinträchtigung der Urgemeinden im Jahre 1096 muß diese archaische Sozialschichtung zwischen potentes und pauperes empfindlich getroffen haben, dennoch stand das kultische und religiöse Leben der Juden Deutschlands auch eine gute Zeit danach unter dem Zeichen festgefügter Brauchtumstraditionen, die zum Teil als Traditionen eben dieser Familiengruppen identifizierbar sind88.

Im weiteren Verlauf des deutschen Mittelalters, insbesondere im Zuge der Gründung gänzlich neuer Gemeinden veränderte sich diese soziale Ordnung grundlegend,89 die Leitung und Repräsentation der Gemeinden übernahm nunmehr „die Spitze einer neuen Mittelschicht [...], die ihren Führungsanspruch nicht mehr auf Gelehrsamkeit und alte Familientraditionen, 82 83 84 85 86

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Vgl. NEUBAUER/STERN (Hrsg.): Berichte, S. 3, 5, 15f. u. 24. NEUBAUER/STERN (Hrsg.): Berichte, S. 3; deutsche Übersetzung ebd., S. 86: „die Häupter der Gemeinde, die in den Augen des Bischofs Angesehenen“. Vgl. zu diesem Verhältnis auch SCHIFFMANN: Bischöfe, S. 237–243. Der Text ist ebenfalls lediglich unikal in einer Handschrift des 14. Jahrhunderts überliefert, vgl. dazu ausführlich CHAZAN: God, S. 28–51. Diese christliche Amtsbezeichnung des jüdischen Gemeindevorstehers findet sich zuerst 1074 im Privileg Heinrichs IV. für die Wormser Juden, vgl. ARREG, Nr. 171, S. 74; dazu SCHIFFMANN: Urkunden, S. 28–39; ZIMMELS: Beiträge, S. 41 u. 123; BRESSLAU: Erläuterungen, S. 152–159; STOBBE: Judenprivilegien, S. 205–215. Die terminologische Bildung geschah vermutlich „in Analogie zu dem Bischof, der die ihm vom König übertragene höchste politische Macht ausübte“ (KISCH: Rechtsstellung, S. 132). In jüdischen Quellen des späteren Mittelalters entspricht dem lateinischen Terminus die hebräische Lehnbildung }wmgh snrp, wörtlich „Vorsteherbischof“. Vgl. NEUBAUER/STERN (Hrsg.): Berichte, S. 48; vgl. zu diesem Verhältnis auch SCHIFFMANN: Bischöfe, S. 233–235. TOCH: Juden, S. 16. Vgl. dazu STOW: Minority, S. 164–171.

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sondern auf Reichtum und enge Kontakte mit den christlichen Obrigkeiten“90 stützte. Die in hebräischen Quellen der Zeit gängigste Sammelbezeichnung für diese neue Form jüdischer Gemeindevorsteher ({ysnrp) ist dementsprechend {tyb yl(b („Hausbesitzer“). Im 11. und frühen 12. Jahrhundert waren jedoch geistige und politische Führungsschicht der aschkenasischen Gemeinden noch weitestgehend dekkungsgleich, was sich innerjüdisch vor allem auf das Bild des aschkenasischen Rabbinats sowie dessen vorrangig juristisch-praktische Aufgaben auswirkte, die in diesem Zeitraum geprägt und für Jahrhunderte festgelegt wurden.91 Bedeutende Rabbiner des Hochmittelalters wie die Mainzer Gerschom ben Juda (960–1028), genannt hlwgh rw)m („Leuchte des Exils“), oder Elieser ben Natan (1100–1150), bekannt unter seinem Akronym Raben, wirkten daher sowohl innerhalb der Judenheit ihrer Stadt – und aufgrund ihrer weithin akzeptierten Autorität innerhalb der jüdischen Gemeinden des Reichs – als auch im Kontakt zur koterritorialen christlichen Gesellschaft. Neben den bereits erwähnten Beziehungen zu Vertretern der christlichen Spitzenschicht gestaltete sich – zumindest in der Zeit vor 1096 – auch das Verhältnis „zur christlichen Bürgerschaft sehr eng, in den meisten Fällen nachbarlich freundschaftlich“92, wie wiederum die ‚Salomo ben Samson-Chronik‘ mehrmals betont,93 was wohl nicht zuletzt mit der im Vergleich zum Frühmittelalter veränderten Siedlungsform zusammenhängt: Because Jews and Christians lived together in the cities, the sporadic contacts that had occurred between Jews and Christians from the Carolingian era until the end of the eleventh century were transformed into current and continuous relations in the scholarly centers of the twelfth century.94 90 91

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TOCH: Juden, S. 17. Vgl. GROSSMAN: Portrait, S. 25. Für die Durchsetzung juristischer Urteile standen den Rabbinern im Rahmen der durch kaiserliche Privilegien (Heinrich IV. 1074 Worms und 1090 Speyer, Friedrich II. 1238 Wien) zugebilligten Teilautonomie der jüdischen Gemeinden in zivilrechtlichen Fragen lediglich drei Handhaben zur Verfügung: Geldbuße, Geißelstrafe und Bann, vgl. EPSTEIN/FREIMANN (Hrsg.): {ynw)gh h#(m, § 81, S. 70; vgl. dazu auch PAKTER: Law, S. 150; SCHERER: Rechtsverhältnisse, S. 242f. Die letztgenannte Sanktionsmöglichkeit unterteilte sich noch einmal in drei Abstufungen: hpycn („Warnung“), ein Ausschluß von der Gemeinde für sieben Tage; ywdn („Ausstoßung“), ein Ausschluß von der Gemeinde für dreißig Tage; schließlich der {rx (die eigentliche „Bannung“), ein Auschluß von der Gemeinde für dreißig oder sechzig Tage unter erschwerten Bedingungen. Insbesondere im späteren Mittelalter stumpfte diese eigentlich schwerwiegendste juristische Waffe in den Händen des aschkenasischen Rabbinats durch zu häufige Benutzung stark ab, obwohl ihre Durchsetzung auch von den geistlichen und weltlichen Territorialherren des Reichs unterstützt wurde, wie das Beispiel des Kölner Erzbischofs Engelbert I. (1261– 1274) zeigt, der 1266 denjenigen die Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof der Stadt untersagte, die unter dem Bann stehend verstorben waren, vgl. BAUER: Judenrecht, S. 34. ELBOGEN: Quellen, S. 42. Vgl. NEUBAUER/STERN (Hrsg.): Berichte, S. 3f., 11, 14, 17, 22 u. 29. GRABOIS: Veritas, S. 633.

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Als Gründe für das Entstehen solcher Beziehungen finden sich in den Quellen unter anderem genannt: Handelstransaktionen,95 die Verpflichtung christlicher Arbeiter,96 die Vermietung von Wagen oder Schiffen an christliche Benutzer,97 der Austausch von Lebensmitteln für Mensch und Tier98 und schließlich willentlich gesuchte Freundschaften, die von christlicher Seite durch Geschenke an den jüdischen Feiertagen bekräftigt wurden.99 Der zuletzt genannte Punkt wird auch durch das Zeugnis eines christlichen Autors unterstrichen: der später zum Christentum konvertierte Juda von Köln (1107/08–1181) berichtet, zu seiner jüdischen Hochzeit seien zahlreiche mit ihm befreundete Christen erschienen: Instante vero nuptialis convivii die, multi illuc non solum Judaeorum sed et familiarum mihi Christianorum confluxere.100 Das Argument, die meisten Arten der zuvor genannten Kontakte seien wirtschaftlicher Natur und daher kaum Belege für kulturellen Austausch, hat meines Erachtens bereits der israelische Historiker ARYEH GRABOIS hinreichend entkräftet: The fairs and the markets were after all not only the places where people exchanged merchandise, but at the same time the meetingplaces of medieval society. Discussion at the fairs, where the Jews were always present, became a channel for the diffusion of information101.

Hinreichende Gelegenheiten, daß durch diesen direkten, privaten oder semiprivaten Kontakt auch kultureller Austausch ermöglicht wurde und dabei „so manches Erzähl- und Spruchgut von einer zur anderen Seite gelangt sein“102 dürfte, bietet im deutschen Mittelalter also gerade die Phase des 11. und 12. Jahrhunderts, ein Zeitabschnitt, in den zugleich der „Neubeginn schriftliterarischer Produktion in der Volkssprache“103 fällt und an dessen Ende, mit dem Übergang der literarischen Träger- und Produzentenschicht aus geistlichem in laikalen Zusammenhang gerade die zuvor nur mündlich tradierten Stoffe besondere Bedeutung erlangten.104 Einen, allerdings vagen, Hinweis darauf, daß in der primär durch volkssprachige Mündlichkeit gekennzeichneten Phase des 11. Jahrhunderts jüdische Erzählstoffe von christlichen Dichtern aufgenommen wurden, liefert viel-

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Vgl. EPSTEIN/FREIMANN (Hrsg.): {ynw)gh h#(m, § 13, S. 7 u. § 25, S. 16. Vgl. EPSTEIN/FREIMANN (Hrsg.): {ynw)gh h#(m, § 43, S. 29 u. § 48, S. 32f. Vgl. EPSTEIN/FREIMANN (Hrsg.): {ynw)gh h#(m, § 47, S. 31. Vgl. EPSTEIN/FREIMANN (Hrsg.): {ynw)gh h#(m, § 44, S. 29. Vgl. EPSTEIN/FREIMANN (Hrsg.): {ynw)gh h#(m, § 42, S. 27f. Hermanni Judaei ‚Opusculum‘, Sp. 822. GRABOIS: Veritas, S. 618. KNAPP: Literatur, Bd. 1, S. 361. VOLLMANN-PROFE: Wiederbeginn, S. 15; vgl. auch BRUNNER: Geschichte, S. 77. Vgl. dazu BUMKE: Geschichte, S. 37–40.

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leicht Sextus Amantius,105 der um 1050 von einem iocator, einem spielmännischen Unterhalter berichtet, der in einer Herberge die Mahlzeit eines Adligen mit Gesangsvortrag und Lautenspiel begleitet. Sein aus diesem Anlaß vorgetragenes Programm umfaßt vier Stücke: ‚David und Goliath‘, ‚Das Schneekind‘, ‚Von der Tonkunst des Pythagoras‘ und ‚Von der Nachtigall‘. Mit dem erstgenannten Lied wird nun just ein alttestamentlicher Stoff aufgerufen, der schon seit der jüdischen Spätantike in breiter Form midraschisch ausgemalt worden war, da die eigentliche biblische Schilderung (I Reg 17,4–51) eher faktitiv wortkarg erscheint.106 Die textliche Ausgestaltung des Midrasch betont besonders die kriegerisch-heldischen Aspekte der Handlung, denn David sieht sich nach seinem Sieg über Goliath der Gefahr ausgesetzt, „bald von der Mutter und bald vom Bruder Goliath’s getödet zu werden, und mit einem gewissen Behagen werden die Todesgefahren David’s geschildert“107. Diese Form der Texterweiterung dürfte durchaus das Interesse eines für ein laikales Kriegeradelspublikum dichtenden Spielmanns des 11. Jahrhunderts getroffen haben, zumal vergleichbare Umgestaltungen alttestamentlicher Stoffe in diesem Zeitraum auf christlicher Seite fehlen. Besondere Bedeutung für die jüdisch-christlichen Kontakte des hohen Mittelalters erlangten aber zwei Formen personaler Interaktion: zum einen, vor allem aufgrund der relativen Häufigkeit, juristische Auseinandersetzungen, in die Christen und Juden verwickelt waren und die je nach Lage des Falls in den Kompetenzbereich des christlichen oder jüdischen Gerichts fielen,108 deren Sitzungen jeweils an kulturell besonders stark aufgeladenen Orten abgehalten wurden, also in der Regel vor der Bischofskirche bzw. vor der Synagoge,109 zum anderen der Religionswechsel, der 105 Vgl. zum folgenden HAUBRICHS: Anfänge, S. 85, der die Stelle jedoch nicht mit jüdischchristlichem Kulturtransfer in Verbindung setzt. 106 Erste Ansätze zu dieser stofflichen Ausgestaltung finden sich bereits in bSanhedrin 95a; die Geschichte wurde aber auch in einem eigenständigen yt#lph tylwg #rdm (‚Midrasch Goliaths des Philisters‘) stark erweiternd bearbeitet, der Text ist ediert bei BHM, Bd. 4, S. 140f. 107 BHM, Bd. 4, S. XIII. 108 Schon SCHERER: Rechtsverhältnisse, S. 235, verstand gerichtliche Auseinandersetzungen zwischen Juden und Christen auch als ambivalenten Ausdruck der „mannigfaltiger sich gestaltenden Beziehungen und naturgemäss häufiger entstehenden Konflikte“. 109 Vgl. das Privileg Heinrichs IV. für die Speyerer Juden von 1074: Quod si christianus contra Iudeum vel Iudeus contra cristianum litem aliqua pro re vel contencionem habuerit, uterque prout res est secundum legem suam iusticiam faciat et causam suam probet (ARREG, Nr. 170, S. 73); vgl. dazu PAKTER: Law, S. 149–151 u. 170f. Die Zuständigkeit jüdischer Gerichte veränderte sich auch im späteren Mittelalter kaum, wie zum Beispiel das 1244 erlassene Privileg Herzog Friedrichs II. von Österreich (1210–1246) für die Juden seines Herrschaftsbereichs zeigt: „Bezüglich des Ortes der Verhandlung bestimmt Art. 29: Contra Judaeum nisi coram suis scholis nusquam in iudicio procedatur nobis exceptis qui eos possumus ad nostram praesentiam evocare. Der or-

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sowohl vom Juden- zum Christentum als auch in umgekehrter Richtung stattfand, wenngleich die erstgenannte Möglichkeit schon aufgrund der ungleichgewichtigen Machtverhältnisse von Majorität und Minorität weitaus häufiger war als der Übertritt von Christen zum Judentum.110 Beziedentliche Gerichtsort war somit der Vorplatz vor der Judenschule, der ausserordentliche der jeweilige Sitz des Herzogs“ (SCHERER: Rechtsverhältnisse, S. 230). Als Richter fungierten je nach Sachlage neben dem Herzog der oberste Landeskämmerer, der judex Judaeorum, ein vom Herzog ernannter christlicher Beamter, oder der magister Judaeorum, also der jüdische Gemeindevorsitzende (vgl. dazu ebd., S. 234–247). Zu Beginn des 15. Jahrhunderts verlieh Papst Martin V. (1417–1431) „den Juden sogar das Recht, in allen Fällen, welche sie angingen, einen Beisitzenden des Inquisitors zu ernennen“ (LEA: Geschichte, Bd. 2, S. 154f.). 110 Vgl. für jüdische Übertritte zum Christentum im Mainz des 11./12. Jahrhunderts AGUS (Hrsg.): Responsa, S. 45f.; EPSTEIN/FREIMANN (Hrsg.): {ynw)gh h#(m, § 69, S. 65. Einen der seltenen Proselyten zum Judentum, zumeist ehemalige christliche Kleriker, erwähnt hingegen die ‚Salomo ben Samson-Chronik‘ in Xanten, vgl. NEUBAUER/STERN (Hrsg.): Berichte, S. 22. Der Fall des karolingischen Diakons Bodo wurde bereits oben erwähnt, besondere Aufmerksamkeit erregte im Reich zu Beginn des 11. Jahrhunderts auch die Konversion des Hofklerikers Wezelin, vgl. dazu LOTTER: Vertreibung, S. 37–74; SAPIR ABULAFIA: Christians, Nr. III, S. 153–174; DÜMMLER: Proselyten, S. 447–450. In christlichen Quellen werden Konversionen zum Judentum, neben der stehenden Begründung, sie seien illusione diabolica seductus geschehen, des öfteren auch mit einer mehr oder minder deutlichen erotischen Note versehen: die christlichen Apostaten erliegen der, selbstredend ebenfalls teuflischen, sexuellen Anziehungskraft eines jüdischen Verführers bzw. – häufiger – einer jüdischen Verführerin. Solch topisch-narrative Strategien finden sich zum Beispiel in den Fällen Mirlyds von Herlham und Roberts von Reading (vgl. SHATZMILLER: Converts, S. 308; ADLER: Jews, S. 323f.). England war vor 1200 zudem Schauplatz der Konversion zweier Zisterziensermönche, von der Giraldus Cambrensis (1147–1223) schreibt: Ut autem ad dictam domum opimam, cujus actus et excessus enormes amplam nobis scribendi materiam praestant, denuo revertamur, sciendum hoc etiam et sane mente cavendum, quod monachus quidam ordinis ejusdem, seu magis demoniacus, modernis temporibus nostris, fide catholica quasi fatigatus, Christique jugo suavi et onere levi tanquam praegravatus, viaque salutis amplius incedere instigante diabolo fastiditus, umbramque vanam veritate relicta sequi satagens; et quoniam ex adipe prodiit iniquitas, et stultitiam pariunt opes, re figurata quam antea tenuerat tandem ore sacrilego plectibiliter exsufflata, mira fatuitate et infidelitate, quia signa recesserunt, significata manent figuram [...]rri non longe post terga relinquens, tanquam phreneticus et furibundus, vereque in insaniam versus, ad synagogam Satanae confugiens. Et ut summa rei nefandae tota, quam prolixius ad detestandum inculcavimus, sub brevitate concludatur, demum ritu Judaico se circumcidi fecit, et inimicis crucis Christi tanquam apostata vilissimus se damnabiliter conjunxit. Item in borealibus Angliae finibus, ordinis ejusdem domo, Geroudonia vocata, frater quidam nostris quoque diebus errore simillimo, quinimmo furore, Christi pactum irritum facere praesumens. et Satanae semper adversanti, et ad pravitatem animos excitanti, pompisque suis pravissimis et pestiferis, quibus universis sacro sub lavacro et baptismali sacramento renuntiaverat, recidiva miseria se reconcilians, et vinculis quibus solutus fuerat se denuo ligans, et tam servitutis aeternae subjiciens quam gehennali supplicio donans, ad Judaismum damnationis domicilium, et perversae medietatis hujus miserumque pravae reprobationis asylum, pernicibus alis et perniciosis convolavit (BREWER [Hrsg.]: Giraldi ‚Speculum‘, S. 139f.); vgl. dazu JACOBS: Jews, S. 283–285). Das 12. und 13. Jahrhundert scheint eine vergleichsweise hohe Zahl christlicher Konvertiten gesehen zu haben, wie zum einen die Responsen der Tossafisten zeigen, die für diesen Zeitraum insgesamt 25 Fälle angeben (vgl. WACHOLDER: Cases, S. 313), von denen rund ein Drittel aus dem deutschen Sprachraum stammt. Zum anderen deutet wohl auch die erhöhte Furcht vor jüdischem Proselytismus, die in der zweiten Hälfte des

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hungen, die durch strittige Rechtsfragen entstanden, waren zwar selten spannungsfrei, konnten aber auch produktiven Niederschlag auf jüdischer oder christlicher Seite finden, wenn zum Beispiel Gerschom ben Juda zu Beginn des 11. Jahrhunderts festlegte, daß christliche Gerichte dazu berechtigt waren, ein Gottesurteil zu verlangen – eine dem jüdischen Recht fremde Institution, Gerschom nennt hier beispielhaft das Führen der Hand durch Feuer und den Gerichtskampf –, wenn Christen von Juden des Diebstahls beschuldigt wurden.111 Beziehungen, die durch Religionswechsel zwischen Juden und Christen entstanden, waren hingegen niemals spannungsfrei, sondern bildeten vielmehr das hauptsächliche soziale und ideologische Problem im jüdisch-christlichen Verhältnis des Mittelalters, was sich bereits an dem Raum ablesen läßt, den dieses Thema in der mittelalterlichen Responsenliteratur einnimmt.112 Zugleich ist mit dem Thema „Konversion“ ein zentraler Punkt unserer Suche nach Wegstationen des Kulturtransfers zwischen Juden und Christen im deutschen Mittelalter berührt. Die jüdische Minorität Europas befand sich in der Vormoderne in einem klassischen Machtraum FOUCAULTscher Definition, nach der „Machtausübung für die einen eine Weise ist, das Feld möglichen Handelns der anderen zu strukturieren“113. Sie war einem beständigen Missionsdruck der christlichen Mehrheit ausgesetzt, der sich bei fehlendem Nachgeben der Minderheit auch in Form von Zwangstaufen, Massenvertreibungen oder Pogromen äußern konnte. Dabei sahen sich die Juden im mittelalterlichen Europa mit einer überaus selbstbewußten, autoritär-repressiven religiösen Ideologie konfrontiert, 13. Jahrhunderts in päpstlichen und Konzilsverlautbarungen auf christlich-theologischer Seite sichtbar wird (vgl. dazu NIESNER: juden, S. 32 u. 80), auf eine tatsächliche steigende Zahl christlicher Konvertiten. Für das spätere Mittelalter sind im Reich Fälle aus Magdeburg (1364) und Mainz (vor 1404), allerdings eher in anekdotenhafter Form belegt, vgl. GJ, Bd. 3, S. 776 u. 795. Vereinzelte Übertritte zum Judentum ereigneten sich auch noch in der Frühen Neuzeit, wie unter anderem die Akten der römischen Inquisitionskongregation zeigen, vgl. die Beispiele Christophoro Perpignanos 1566 in Valenza (Dublin, Trinity College, MS. 1224, fol. 68rv) und Giovanni Gagliegos 1582 in Sevilla (Dublin, Trinity College, MS. 1227, fol. 25rv). Vgl. zu dieser Frage generell NIESNER: juden, S. 28–33; PATSCHOVSKY: Feindbilder, S. 330–332; JUDANT: Christianisme; ROSENBLOOM: Conversion, S. 67– 89; GIESE: Iudaismum, S. 407–418; WACHOLDER: Cases, S. 288–315; BLUMENKRANZ: Juifs, S. 159–211; GRAYZEL: Church, S. 13–26. 111 Vgl. HOFFMANN: Geldhandel, Nr. 18, S. 142f.; MÜLLER (Hrsg.): Réponses, Nr. 97, S. 54. 112 Vgl. SHATZMILLER: Converts, S. 299f. 113 FOUCAULT: Macht, S. 40. Auf die spezifische Situation der Juden im Mittelalter angewandt, läßt sich auch an SARTREs berühmten Satz denken: „Der Jude befindet sich in der Situation des Juden, weil er inmitten einer Gesellschaft lebt, die ihn als Juden betrachtet“, vgl. SARTRE: Essays, S. 145.

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der es um die grenzenlose Verbreitung der Darstellung eines gefolterten und ermordeten Liebesgottes ging. Diese männliche Gottheit – aus dem Schoß einer Jungfrau geboren und von ihrem himmlischen Vater geopfert, um für den Ungehorsam der Menschen zu sühnen – war Gegenstand eines Kults, der in einem [...] Ritual kulminierte, bei dem man symbolisch den Leib und das Blut dieser Gottheit verspeiste. Das Selbstbewußtsein dieser Kultur war so maßlos, daß sie wie selbstverständlich davon ausging, vollkommen fremde Menschen [...] würden, vorzugsweise von einer Minute auf die nächste, von ihrem eigenen Glauben ablassen und sich den unmittelbar einsichtigen und einleuchtenden Wahrheiten des europäischen Glaubens verschreiben.114

Theologisch betrachtet stellte die christliche Religion keine besondere Herausforderung für das Judentum dar,115 die aschkenasischen rabbinischen Autoritäten des Hochmittelalters diskutierten lediglich eingehend, ob die Christen gemäß talmudischer Vorgaben als hrz hdwb( ydbw( („Götzendiener“) zu betrachten seien – dann unterläge vor allem der Handels- und Rechtsverkehr mit ihnen besonders strikten Einschränkungen –,116 oder ob ihnen gegenüber aufgrund der besonderen jüdischen Minderheitssituation Ausnahmen und Erleichterungen von der tradierten Regel erlaubt seien.117 Das Ergebnis dieser Diskussionen läßt sich paradigmatisch anhand zweier Responsen Mainzer Rabbiner illustrieren. Das erste Responsum stammt von Elasar ben Isaak dem Großen aus dem Beginn des 11. Jahrhunderts und behandelt die Frage eines rückkehrwilligen Apostaten.118 Die christliche Religion wird darin stets mittels alttestamentlich vorgeprägter Umschreibungen für polytheistischen Götzendienst gekennzeichnet, so heißt es zum Beispiel über den Akt der Konversion, genauer über die beiden zentralen rituellen Handlungen Taufe und Eucharistie: {ytm yxbz lk)w ,rw(p l(bl dmcyw („und er opferte dem Baal Peor und er aß Totenmähler“).119 Diese grundsätzliche, polemische Ableh114 GREENBLATT: Besitztümer, S. 20; zur Ambivalenz des jüdisch-christlichen Verhältnisses in der europäischen Vormoderne vgl. auch GRAUS: Pest, S. 277: „Eine Minderheit, die sich im Glauben unterscheidet, verschmäht die Mehrheit, bezichtigt sie (zumindest indirekt) des Irrglaubens, sie ‚überhebt‘ sich dadurch über alle anderen Gläubigen (die Ketzer genauso wie die Juden). Die Annahme, selbst den ‚richtigen Glauben‘ zu besitzen, ermöglicht es sowohl dem Habenichts in Stadt und Land, sich als Christ selbst dem reichen ‚ungläubigen‘ Juden überlegen zu fühlen, wie dem jüdischen Bettler, mit einer gewissen Verachtung auf den christlichen Machthaber herabzusehen“. 115 Vgl. STEINSCHNEIDER: Übersetzungen, § 274, S. 461. 116 Vgl. dazu z.B. mAwoda Sara I,1 u. 6; EISENSTEIN: rcw), S. 306f. 117 Vgl. BLOCH: Israel, S. 50; vgl. zur Entwicklung dieser Diskussion ausführlich KATZ: Exclusiveness, S. 24–36. 118 Vgl. AGUS (Hrsg.): Responsa, S. 45f. 119 Im Grunde haben wir es hier mit einer auf Exklusivität und Abschluß bedachten Haltung zu tun, wie sie sich in strukturell paralleler Form auch in der christlichen Theologie des Mittelalters finden läßt. Auch die Art der Abqualifizierung des Anderen, der Rückgriff auf in der eigenen kulturellen Überlieferung vorhandene und als negativ bewertete Rituale und

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nung der christlichen Religion und Theologie führte jedoch in der alltäglichen Lebenspraxis keineswegs zu einer radikalen Trennung von der koterritorialen Christenheit, wie ein Responsum Rabens aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts deutlich macht.120 Zwar repräsentiert auch für ihn das Christentum eine Form des Götzendiensts,121 doch mit den Vertretern dieser Religion in alle möglichen Arten von Handelstransaktionen zu treten, hält er nichtsdestoweniger hzh }mzb („in dieser Zeit“), also unter den gegebenen Umständen jüdischer Existenz als marginalisierter Gruppe in einer mehrheitlich christlichen Diaspora, für völlig unbedenklich. Raben erlaubt, den Christen alles zu verkaufen und auf alles zu leihen außer Weihrauch, da dieser ausschließlich als Beiwerk des christlichen Rituals verwendet werde. Wachs jedoch, das sowohl für Kirchenkerzen als auch zur Beleuchtung profaner Räume benutzt werden kann, oder Mäntel, die sowohl als Umhänge der Heiligenstatuen als auch für lebende Menschen benutzt werden können, erklärt Raben ausdrücklich zum Verkauf erlaubt. Selbst in puncto einzelner Gerätschaften des christlichen Gottesdiensts, wie zum Beispiel des Kelchs, trägt er keine Bedenken, allerdings untersagt er den Verkauf und das Pfandnehmen von Kruzifixen, Heiligenbildern und Räucherpfannen. Obgleich also – von jüdischer Seite aus betrachtet – die koterritorial konkurrierende Religion keine theologische Gefahr darstellte, gestaltete sich die Zurückweisung der Konversionsbemühungen des Christentums in der alltäglichen Praxis als überaus belastende Anmutung für das mittelalterliche Judentum Europas. Dies hängt zum einen mit dem bereits erwähnten beständigen Missionsdruck der christlichen Seite zusammen, von der die ‚Salomo ben Samson-Chronik‘ ein eindringliches Bild entwirft: Glaubensinhalte, findet sich in lateinischen wie volkssprachigen christlichen Texten des gesamten Mittelalters: sei es, daß Adam von Bremen im 11. Jahrhundert die nordischen Götter Wodan et Fricco als Emanationen des Teufels versteht (‚Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum‘ IV,26); sei es, daß die mhd. Kreuzzugsepik des 12./13. Jahrhunderts den islamischen Monotheismus zu einem polytheistischen Pantheon mit Anleihen aus der Götterwelt der Antike umgestaltet (vgl. Konrads ‚Rolandslied‘ vv. 806 u. 8134; Wolframs ‚Willehalm‘ 9,8; 11,16; 17,20; 25,14; 358,13); oder sei es, daß Heinrich Kaufringer Ende des 14. Jahrhunderts eine Synagoge zum nächtlichen Versammlungsort für Lucifer und mit im drei vinster schar / seiner diener macht (vgl. ‚Der bekehrte Jude‘ v. 70–74). Daß das Christentum im Lichte der jüdischen Theologie als Götzendienst verstanden wurde, war christlicherseits schon im 9. Jahrhundert bekannt, vgl. ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 207; Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 149. 120 Vgl. HOFFMANN: Geldhandel, Nr. 45, S. 159f. 121 Eine Ausnahme in der Beurteilung des Christentums stellt unter den aschkenasischen Rabbinern des 12. Jahrhunderts allerdings Jakob ben Meir (1100–1171) dar, der eigentliche Begründer der Schule der Tossafisten und eine der bedeutendsten Autoritäten des Zeitraums. Er wendet auf die koterritoriale Religion das Konzept des vwt# („Assoziation“) an, demzufolge „den Noachiden [...] die Annahme einer Mehrpersönlichkeit in der Gottheit nicht verboten“ ist (BLOCH: Israel, S. 51), vgl. Tossafot zu bAwoda Sara 2a u. bBechorot 2b.

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Hinweise auf die Konversionsversuche christlicher Geistlicher finden sich jedoch nicht allein in hebräischen, sondern auch in zahlreichen lateinischen Quellen der Jahrzehnte vor und nach dem ersten Kreuzzug. So schreibt zum Beispiel Rudolf von St. Trond (1070–1138) über seine Zeit als Abt von St. Pantaleon in Köln (1121–1123) unter anderem: Cum Iudeis frequenter lene habebat colloquium, non disceptando neque exprobrando, sed duritiam cordis eorum palpatu et fricatione qua opus erat emolliendo; quam ob rem ita amabatur ab eis, ut etiam mulieres eorum irent videre eum et alloqui. (‚Gesta abbatum Trudonensium‘ XI,16)

Ähnliches wissen die ‚Gesta Treverorum‘ (Continuatio prima, cap. 21) von Erzbischof Bruno von Trier (1102–1124) zu berichten. Dieser hatte unter seinen Ärzten Iudaeum quendam Iosuae nomine, [...] quem circumdabat militaris habitus, der neben seinen medizinischen Fähigkeiten zudem hervorragende Kenntnisse auf den Gebieten der Chronologie und der Hebraicarum litterarum et totius iudaismi scientia besaß. Bruno pflegte mit ihm saepissime de divinis disputabat voluminibus, semper illum ad conversionem deprecans et exhortans. Schließlich gelangte er damit auch ans Ziel: Josua läßt sich vom Erzbischof persönlich taufen und nimmt in der Taufe sogar denselben Namen an wie sein geistlicher Vater. Schließlich ist hier auch noch Abt Rupert von Deutz (1070–1129/30) zu nennen, der zwischen 1126 und 1128 seinen ‚Annulus seu Dialogus inter Christianum et Judaeum‘ verfaßt, ein kurzes, namentlich für Anfänger bestimmtes Handbuch zur Vorbereitung auf Religionsgespräche mit Juden. Anreger für diese Schrift war niemand anderer als Rudolf von St. Trond, direkter Anlaß war vermutlich eine Disputation mit Juda von Köln, der im Jahre 1128/29 zum Christentum übertrat, den Namen Hermann annahm und in der Folgezeit Abt des Prämonstratenserstifts Scheda wurde.123 Zur gleichen Zeit erheben sich aber auch christliche Stimmen, die, ähnlich wie Agobard und Amulo von Lyon in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts,124 vor einem zu engen Kontakt mit Juden warnen, da sie deren überlegenes biblisches Wissen und ei122 NEUBAUER/STERN (Hrsg.): Berichte, S. 22; deutsche Übersetzung ebd., S. 126: „Dort [sc. in Xanten] befand sich auch ein vollkommener Mann, R. Natronai bar Isac, zu dem kamen vorher [sc. vor dem Pogrom] schon täglich die ihm bekannten Geistlichen und suchten ihn zum Uebertritt zu ihrem Glauben zu überreden, denn er war ein schöner, gebildeter Jüngling.“ 123 Vgl. dazu ausführlich SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 113–118; SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 2, S. 256–267; LOTTER: Hermann, S. 207–218; COHEN: Mentality, S. 20–47; MANITIUS: Geschichte, Bd. 3, S. 592f.; ARONIUS: Hermann, S. 217– 231. 124 Vgl. ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 14, S. 231–234; Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 170f.

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ne daraus entstehende Glaubenskrise auf seiten der christlichen Disputanten fürchten, wie zum Beispiel Bischof Stephan von Tournai (1128– 1203) in seinem Kommentar zu Gratians ‚Decretum‘ ausführt: Vel aliud est in iudeis aliud in gentilibus. Magis enim abhorreri debet cohabitatio iudeorum quam gentilium. Gentilium namque cohabitatio nobis in multis conceditur, set iudeorum prohibetur occasione si quid legis quam habent et prophetorum et iudei efficatiores sunt christianis ad noccendum quam gentiles, qui rubore ydolatre et tam legis scripte quam etiam gratie inopia laborantes, iudeis ad conuersionem sunt proniores.125

In ganz ähnlicher Weise äußert sich auch Bischof Hugutio von Ferrara (gest. 1210) in seinem Kommentar zur gleichen Gratian-Stelle: habent enim iudei legem et prophetas, quibus muniti, parati et proni sunt animas simplicium fallere et erroris laqueo irretire.126 Möglicherweise sind auch die wiederholt in kanonistischen Schriften des 11. Jahrhunderts, also bereits vor den eben zitierten Dekretisten, auftauchenden Verweise auf spätantik-frühmittelalterliche Konzilienbeschlüsse, die den gesellschaftlichen Umgang mit Juden und insbesondere das gemeinsame Mahl und die gemeinsame Feier verboten hatten, ein Hinweis in diese Richtung. Sowohl Burchard von Worms (965–1025) als auch Ivo von Chartres (1040–1116) nahmen solche Verbote in ihre jeweiligen Rechtssammlungen auf.127 Ivos ‚Decretum‘ enthält zudem eine explizite Warnung, sich von den abergläubischen Traditionen der Juden fernzuhalten, die mit paganen Kultformen parallelisiert werden: Auguriis vel incantationibus servientem a conventu Ecclesiae separandum decernimus; similiter et Judaicis superstitionibus vel feriis inhaerentem.128 Zur Popularisierung dieser kirchenrechtlichen Regelungen trug vor allem die seit dem 13. Jahrhundert durch die Mendikantenorden zu einem eigenen Medium ausgeformte volkssprachige Predigt bei,129 wie das Beispiel Bertholds von Regensburg (1210–1272) veranschaulicht, der in einer seiner deutschen Predigten über die gottgewollte Struktur des christlichen ordo eine kurzgefaßte Summe des kanonischen Judenrechts liefert: Diu êrste, îsenîn, daz ist daz swert, daz der almehtige got dem keiser bevolhen hât, daz er witewen und weisen beschirme vor dieben, vor mordern und vor allen ungeloubigen liuten, juden, 125 Stephan von Tournai ‚Summa decretorum‘ c. 2 C. XXVIII q. 1 c.10 (München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 14403, fol. 103v). 126 Hugutio von Ferrara ‚Summa in decretum Gratiani‘ c. 2 C. XXVIII q. 1 c. 10 (München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 10247, fol. 238rb). In diesen Zusammenhang gehört auch folgender Erlaß Papst Alexanders III. (1159–1181): Obstetricibus etiam & nutricibus Christianis omnibus prohibere curetis, ne infantes Judaeorum in domibus eorum nutrire praesumant: quia Judaeorum mores & nostri in nullo concordant, & ipsi de facili ob frequentem conversationem & assiduam familiaritatem [...] ad suam superstitionem & perfidiam, simplicium animos inclinarent (MANSI, Bd. 22, Sp. 357). 127 Vgl. Burchardi ‚Decretorum libri‘, Sp. 976; Ivonis ‚Decreti‘, Sp. 265, 821 u. 825f. 128 Ivonis ‚Decreti‘, Sp. 754f. 129 Vgl. zu diesem Prozeß STEER: Bettelorden, S. 314–336.

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heiden, ketzern. Iedoch die juden sol man schirmen, beidiu ir lîp und ir guot, als die kristen. Man sol in aber niht gestaten daz si von ir gelouben iht reden, offenlich noch heimlich. Ir cristen, ir sult ouch niht reden mit in von iwerm gelouben, ez sî denne ein meister der schrift. Ez sol ouch kein kristen mit in wonen noch ir brôt ezzen.130

Wenngleich alle diese Berichte aufgrund ihrer apologetischen Tendenz nicht als „objektive“ Wiedergaben historischer Realität des jüdisch-christlichen Verhältnisses im deutschen Hochmittelalter gelesen werden können – im Falle Rudolfs von St. Trond mischt sich neben die Apologie auch noch nicht zu überhörender Stolz auf die eigenen Predigtleistungen in die Darstellung –, so sind diese Religionsgespräche des 12. Jahrhunderts nichtsdestoweniger „ein wichtiger Beweis für die damals noch vorhandene Unbefangenheit des Verkehrs zwischen Juden und Christen“131. Zugleich führen sie uns eine Gruppe bedeutender und einflußreicher christlicher Theologen der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts aus dem Gebiet zwischen Köln und Lüttich vor Augen, die nachdrücklich an Disputationen mit Juden zum Zwecke der Konversion interessiert waren und dieses Interesse auch in literarischer Form umgesetzt haben.132 Mit dem Fall Hermanns von Scheda haben wir zugleich den neben dem latent gewalttätigen Missionsdruck zweiten Punkt erreicht, weshalb die christlichen Konversionsbemühungen des Mittelalters für das europäische Judentum trotz aller – vermeintlicher – theologischer Ungefährlichkeit eine äußerst kritische Anmutung darstellten: es gab ganz einfach immer wieder Juden, die aus den unterschiedlichsten Gründen einen Religionswechsel vollzogen. Die theologische Ungefährlichkeit des Christentums existierte mithin eher in der rabbinischen Theorie, in der Lebenswelt des mittelalterlichen Judentums hingegen waren Übertritte zum Christentum wenn schon nicht die Regel, so doch sicher auch keine Ausnahme und stellten somit „a serious hemorrhage in Jewish society“133 dar. Aufgrund vorsichtiger Schätzungen gelangt JOSEPH SHATZMILLER zu einer Jahresquote jüdischer Konvertiten von fünf bis zehn Prozent der europäischen Judenheit im Hoch- und Spätmittelalter, wobei er die erhöhte Häufigkeit von Konversionspredigten im späteren Mittelalter als direkte christliche Reaktion auf diesen stetigen Zufluß an Neuchristen bewertet.134 130 PFEIFFER/STROBL/RUH: Berthold, Bd. 2, Nr. LXII, S. 238. 131 ARREG, Nr. 219, S. 101; vgl. auch HOENIGER: Geschichte, S. 76. 132 Vgl. zur Bedeutung des Personendreiecks Rupert – Hermann – Rudolf für die Entwicklung der ‚Adversus Judaeos‘-Texte des 12. Jahrhunderts SAPIR ABULAFIA: Christians, Nr. XV, S. 43–63; KRAUSS/HORBURY: Controversy, Bd. 1, S. 109f. 133 SHATZMILLER: Converts, S. 318. 134 Vgl. SHATZMILLER: Converts, S. 318. Zu einer stärker differenzierenden Beurteilung der spätmittelalterlichen Zwangspredigten gelangt STRAUSS: Judengemeinde, S. 29f., der zwischen Predigten „zu religiös-politischen Agitationszwecken“ und solchen „zu Bekehrungszwecken“ unterscheidet. Zwar verfolgten beide Predigtformen den gemeinsamen Zweck

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Als Gründe für eine Konversion vom Juden- zum Christentum konnten im mittelalterlichen Europa neben echter religiöser Überzeugung, zum Beispiel im Fall Alfonsos von Valladolid (1270–1350),135 vor allem eine Reihe gesellschaftlicher Erwägungen eine Rolle spielen.136 Konvertiten entzogen sich auf diese Weise rechtlichen Händeln, in die sie mit jüdischen Institutionen vertstrickt waren, wie Isaak Dulcini 1336 in Aix-enProvence, der von der jüdischen Gemeinde seiner Heimatstadt wegen gehäufter Steuerverweigerung mit dem Bann belegt worden war und diese Verpflichtungen durch seinen Religionswechsel umging.137 Jüdische Frauen wählten hingegen des öfteren diesen Weg, um unglückliche Ehen zu beenden,138 da gemäß talmudischer Überlieferung jüdische Ehen lediglich durch die Ausstellung des Scheidebriefs (+g) durch den Ehemann getrennt werden konnten, wobei das jüdische Religionsgesetz keinerlei juristische Handhabe vorsah, um den Ehemann in berechtigten Fällen zu dieser Handlung zwingen zu können.139 Auch allgemeinere soziale Vorteile konnten den Ausschlag für eine Konversion geben, wie ein Beispiel aus dem süddeutschen Raum des 15. Jahrhunderts veranschaulicht:140 hier nutzte ein schalantjud,141 also ein steuerunkräftiger, von Gemeinde zu Gemeinde als Bedürftiger ziehender Jude, gleich viermal an unterschiedlichen Orten die Gelegenheit, durch die Taufe einer Verurteilung wegen Diebstahls vor einem christlichen Gericht zu entgehen. Übertritte zum Christentum boten aber auch die Möglichkeit rasanten gesellschaftlichen Aufstiegs, wie im Falle des Paulus de Santa Maria (1352–1435), der nicht nur hohe kirchliche Würden empfing, sondern sogar einer der Regenten für den noch unmündigen Juan II. von Kastilien (1407–1454) wurde,142 oder wie im Falle Otts (gest. vor 1443), des Ringmeisters der österreichischen Herzöge und Verfassers einer deutschsprachigen Ringerlehre.143 Schließlich dürften auch Liebesbeziehungen zwischen Juden und Christen häufi-

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„einer Reform der Einordnung der Juden in die christliche Umgebung“, doch während die Bekehrungspredigten die Juden per Religionswechsel „in den sozialen Aufbau des deutschen Volkes“ einzuordnen suchten, zielten die „Predigten gegen die Juden“ auf deren Vertreibung. Vgl. SHATZMILLER: Converts, S. 303. Vgl. dazu SHATZMILLER: Converts, S. 305–310; LEA: Geschichte, Bd. 2, S. 68. Vgl. SHATZMILLER: Documents, S. 430f. Vgl. SHATZMILLER: Converts, S. 307f. Vgl. dazu PAKTER: Law, S. 305f.; FALK: Law, S. 129–131; EISENSTEIN: rcw), S. 72f. Vgl. GUGGENHEIM: Stratification, S. 130–136. Von mhd. schalatzen „müßiggehen“, vgl. zu diesem Terminus PRZYBILSKI (Hrsg.): Hans Folz, S. 163. Vgl. SHATZMILLER: Converts, S. 310f. Vgl. zu Person und Werk HILS: Ott, Sp. 196–198.

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ger zur Konversion des jüdischen Teils geführt haben.144 Rückkehr zur ursprünglichen Religion kam während des ganzen Mittelalters hindurch vor, wie Responsen von Elasar ben Isaak dem Großen aus dem frühen 11. bzw. von Maharam Rothenburg aus dem späteren 13. Jahrhundert belegen,145 doch durch eine solche Handlung brachte sich der reumütige Apostat zugleich in direkte persönliche Gefahr, da er nunmehr dem kanonischen Recht als Ketzer galt.146 Welche drängenden Probleme sich aus christlichem Konversionsdruck und tatsächlichen Religionswechseln selbst in einer vergleichsweise krisenfreien Zeit wie dem frühen 11. Jahrhundert für die aschkenasischen Gemeinden ergeben konnten, veranschaulichen wiederum Mainzer Ereignisse des Jahres 1012. Die ‚Annales Quedlinburgenses‘ berichten zu diesem Datum: expulsio Iudaeorum facta est a rege in Moguntia; sed et quorundam haereticorum refutata est insania, und liefern damit sowohl einen Hinweis auf die früheste Judenausweisung als auch die erste Erwähnung des Auftretens von Ketzern im Gebiet des mittelalterlichen Reichs.147 Die knappe annalistische Nachricht wird durch zeitgenössische hebräische Quellen komplettiert, so daß man mit einiger Sicherheit davon ausgehen kann, daß „es um den fraglichen Zeitraum in Mainz zu einer Krise der christlichjüdischen Beziehungen, Zwangstaufen und einer Ausweisung“148 kam: Gerschom ben Juda erläßt einen Rechtsentscheid über rückkehrwillige 144 Vgl. SHATZMILLER: Converts, S. 309. Dieser Konversionsgrund stellte ein besonderes halachisches Problem dar, das im 11. Jahrhundert durch die Entscheidung Jakobs ben Meir gelöst wurde: wenn nämlich eine bereits jüdisch verheiratete Apostatin, die aus Liebe zu einem Christen die Religion gewechselt hatte, wieder in ihren ursprünglichen Glauben zurückkehrte, wäre es ihrem jüdischen Ehemann eigentlich unmöglich gewesen, die Ehe weiter bestehen zu lassen, da die Frau die Ehe gebrochen hatte. Jakobs Lösung bestand nun darin, etwaigen sexuellen Handlungen zwischen Juden und Christen den religionsgesetzlichen Status sexueller Handlungen abzusprechen, so daß im eben geschilderten Fall keinerlei Ehebruch vorliegen konnte, vgl. Mordechai 720 zu bSanhedrin. In ähnlicher Weise verfuhr das kanonische Recht unter Berufung auf das privilegium Paulini (1Kor 7,12–16), dem Ehen zwischen Nichtchristen, von denen der eine Partner zum Christentum übertrat, als grundsätzlich unmöglich und damit durch den Übertritt des einen Partners als rechtskräftig geschieden galten, vgl. ‚Decretum Gratiani‘ c. 2 C. XXVIII q. 2 unter Berufung auf den Kommentar des Ambrosiaster zu 1Kor 7,15; vgl. zu Ehen zwischen Juden und Neuchristen vor allem ‚Decretum Gratiani‘ c. 2 C. XXVIII q. 1 c. 10: Iudei, qui Christianas mulieres in coniugio habent, admonenatur ab episcopo civitatis illius, ut, si cum eis permanere cupiunt, Christiani efficiantur. Quod si admoniti noluerint, separentur, quia non potest infidelis in eius permanere coniuncione, que iam in Christianam translata est fidem; Hugutio von Ferrara ‚Summa in decretum Gratiani‘ c. 2 C. XXVIII q. 1 c. 15: Set queritur si christianus contraxerit cum heretica an sit matrimonium uel debeant separari? De iudea uel gentili non est questio, quia certum est ibi non esse matrimonium (München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 10247, fol. 239ra); vgl. dazu PAKTER: Law, S. 271f. 145 Vgl. AGUS (Hrsg.): Responsa, S. 45f.; BLOCH (Hrsg.): twl)#, Nr. 1020. 146 Vgl. LEA: Geschichte, Bd. 2, S. 67f.; dazu umfassend YERUSHALMI: Inquisition, S. 317–376. 147 Vgl. LOTTER: Vertreibung, S. 37; vgl. auch ARREG, Nr. 144. 148 LOTTER: Vertreibung, S. 38.

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Zwangsgetaufte149 und äußert sich an anderer Stelle über seine zweifache Trauerzeit für seinen zwangsgetauften und kurz darauf verstorbenen Sohn, dessen er sowohl körperlich als auch geistlich beraubt worden sei.150 Weitere, wenngleich gattungsbedingt unspezifischere Indizien liefern die religiösen Dichtungen der Mainzer jüdischen Liturgen des frühen 11. Jahrhunderts. In den Dichtungen Simons ben Isaak ben Abun des Großen (950–1015) und wiederum Gerschoms ben Juda häufen sich formelhafte Klagen über die Unterdrückung der Juden im Exil,151 zur Illustration diene hier lediglich die siebte Strophe aus Gerschoms wnyhl) {dqm ht) (‚Du bist von jeher unser Gott‘):152 {yld {( l( tl#mh ßtd ys)wm {ylyl)l hbw+ wqyzxhw wpk ßtbw+ {ylyspl dwbk twbrhl {bl {y)#wn 153 {ylwlgl ryb(hl ßtlxn lbh

Außerhalb des Reichs kam es zu Beginn des 11. Jahrhunderts in mehreren Städten zu ähnlichen Entwicklungen wie in Mainz. So erwähnt der Mönch Ademar von Chabannes (988–1034) eine Judenvertreibung in Limoges im Jahre 1010 (‚Historiae‘ III,47)154 und der unikal überlieferte Bericht Jakobs ben Jekutiel von Rouen155 spricht von einer Verfolgung in der Normandie unter Herzog Robert dem Frommen (996–1031). Anlaß für diese, größere Teile Westeuropas ergreifende antijüdische Stimmung mag neben anderem ein von Radulfus Glaber (990–1046/47) als Ende des ersten Jahrzehnts des 11. Jahrhunderts landläufig dargestelltes Gerücht gewesen sein, die Zerstörung der Jerusalemer Grabeskirche durch den Kalifen von Bagdad sei auf Veranlassung der vom Teufel angestifteten Juden von Orléans geschehen (‚Historiae sui temporis‘ III,24f.).156 Den direkten Auslöser der Mainzer Ereignisse lieferte jedoch der um 1006 in Mainz oder Worms157 149 150 151 152 153

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Vgl. MUTIUS (Hrsg.): Rechtsentscheide, S. 143. Vgl. MUTIUS (Hrsg.): Rechtsentscheide, S. 144f. Vgl. HIRSCHHORN (Hrsg.): Tora, S. 253–281 u. 292–321. Vgl. DAVIDSON: Thesaurus, Nr.8824); Text nach HABERMANN (Hrsg.): twxyls, S. 21–23. „Du ließest über das arme Volk Verächter / deines Gesetzes herrschen, die, undankbar gegen dich, / ihr Glück den Götzen zu verdanken glaubten, / nur ihre Bilder verehrten und auch das Erbteil deines Eigentums / zu solchem Greuel verleiten wollten“ (HIRSCHHORN [Hrsg.]: Tora, S. 293). Vgl. dazu ausführlich LANDES: Massacres, S. 79–112. Text bei HABERMANN (Hrsg.): twrzg, S. 19–21. Vgl. LOTTER: Vertreibung, S. 41; ARREG, Nr. 142. Denkbar, wenn nicht sogar wahrscheinlicher, ist es jedoch m.E., daß dieses Gerücht erst nachträglich als ätiologische Begründung für die zuvor aus allgemeinen, theopolitischen Erwägungen durchgeführten Zwangstaufen und Vertreibungen herangezogen wurde. Die Konversion fand jedenfalls mit Sicherheit nicht in Metz statt wie GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 21, angibt. Da die Mainzer Gemeinde die einzige im ganzen Reich gewe-

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erfolgte Übertritt eines im Dienste Herzog Konrads I. von Kärnten (1004–1011) stehenden Klerikers namens Wezelin zum Judentum.158 Wezelin verfaßte nach seiner Konversion eine Streitschrift, in der er die Inkarnationslehre, den Heiligenkult sowie die Substitutionslehre des Christentums angriff – diese Schrift ist jedoch nicht erhalten, sondern nur noch aus der Replik rekonstruierbar, die ein gewisser Heinrich zwischen 1006 und 1012 in königlichem Auftrage verfaßte und die Albert von Metz in seine von 1021 bis 1024 entstandene Chronik ‚De diversitate temporum‘ II,23f. inkorporierte.159 Der Autor Heinrich ist aller Wahrscheinlichkeit nach identisch mit dem Hofkaplan Heinrichs II. (973–1024), der 1013–1016 Kanzler für Italien und seit 1015 Bischof von Parma war.160 Seine Schrift, die ungefähr zeitgleich zu Bischof Fulberts von Chartres (960–1028) ‚Tractatus contra Iudaeos‘ entstand,161 stellt das Dokument dar, „das erstmals im deutschen Reich die ganze Palette judenfeindlicher Stereotypen, wie sie die antijudaistische Theologie bereits in der Spätantike entwickelt hatte, wieder aktivierte“162. Im Gegensatz zu den entsprechenden Werken Agobards und Amulos von Lyon aus der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts, die Heinrich offensichtlich nicht kennt, argumentiert er jedoch lediglich auf dem Boden der klassischen Adversus-Judaeos-Theologie, also mittels rein biblischer Beweise und Belegstellen, während er vom nachbiblischen jüdischen Schrifttum noch nichts weiß. Den Eindruck, den Wezelins Apostasie auf die führenden politischen Kreise des Reichs gemacht hat, kann man wohl mit einigem Recht als heftig bezeichnen: Auch wenn die propagandistische Intention der Darstellung klar hervortritt, so dürften Alberts von Metz Worte: Hoc audiens rex, nimia, ut iustum fuit, conturbatione commotus est (‚De diversitate temporum‘ I,7), doch ein einigermaßen getreues Bild der Haltung Heinrichs II. abge-

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sen zu sein scheint, die als Reaktion auf Wezelins Apostasie Sanktionen unterworfen wurde, spricht m.E. die größte Wahrscheinlichkeit für Mainz als Ort des Religionswechsels. Vgl. LOTTER: Vertreibung, S. 54; SAPIR ABULAFIA: Christians, Nr. III, S. 154f.; ARREG, Nr. 147; zuerst hatte DÜMMLER: Proselyten, S. 447–450, auf diesen Fall aufmerksam gemacht. Allerdings lehnt STOW: „1007 Anonymous“, S. 27–30, die Historizität der Konversion Wezelins ab und erklärt das Schreiben des Hofkaplans Heinrich für einen rein fiktiven ‚Adversus Judaeos‘-Text; vgl. dagegen die Argumente bei LOTTER: Vertreibung, S. 43; LANDES: Massacres, S. 88–92. Zu weiteren christlichen Konvertiten zum Judentum im 12. Jahrhundert, die von hebräischen Quellen aus Aschkenas wie den Tossafisten oder Eleasar von Worms genannt werden, vgl. ZUNZ: Geschichte, S. 48 u. 85. Neben der sekundären Überlieferung in Alberts Werk existiert auch eine primäre Texttradition in einer Handschrift des 11. Jahrhunderts (Florenz, Biblioteca Laurentiana, Plut. LXXXIX super 15, fol. 104rv), vgl. dazu DÜMMLER: Proselyten, S. 447. Vgl. LOTTER: Vertreibung, S. 55f. Vgl. dazu SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 1, S. 167f. LOTTER: Vertreibung, S. 66; vgl. auch SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 1, S. 168.

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ben – ähnlich wie die Beschreibung seiner eigenen, ins konkret-körperliche gesteigerten Reaktion bei der Niederschrift dieses unerhörten Vorgangs: totus contremesco, et horrentibus pilis capitis terrore concutior (‚De diversitate temporum‘ II,22). Die sich anschließenden Ereignisse, also die vom König veranlaßte Zwangstaufe und Vertreibung der Mainzer Gemeinde, lassen jedoch zugleich darauf schließen, daß die Erregung Heinrichs II. nicht besonders tiefgreifend gewesen sein kann, da sich die Verfolgung nicht wie bei späteren Gelegenheiten gegen das gesamte aschkenasische Judentum, „sondern nur gegen die Mainzer Juden richtete, denen wohl die Schuld am Abfall Wezelins beigemessen wurde“163. Zudem wurden sämtliche Sanktionen innerhalb kürzester Frist wieder aufgehoben, die Vertriebenen konnten in ihre Häuser und die Zwangsgetauften in ihre Religion zurückkehren, doch die Geschehnisse in Mainz verdeutlichen, wie labil und ambivalent das jüdisch-christliche Verhältnis zu jedem Zeitpunkt innerhalb des deutschen Mittelalters trotz aller gegenseitiger Kontakte war.164 Gut achtzig Jahre nach der kurzfristigen Vertreibung der Juden aus Mainz sollten in den Massakern des ersten Kreuzzugs große Teile des rheinischen Judentums untergehen, so daß sich in der Folge dieser und weiterer Verfolgungen des 13. und 14. Jahrhunderts der hebräische Begriff {ymd jr) („Blutland“) in jüdischen Quellen als Synonym für das deutsche Reich entwickelte.165 Doch trotz dieser beständig zunehmenden und immer häufiger auch in direkter Gewalt ausagierten Bedrohung durch die Mehrheit blieben für die jüdische Minderheit sowohl der positive Bezug auf den geographischen Raum „Aschkenas“ als genuinem Referenzpunkt als auch der Kontakt und Austausch mit der koterritorialen christlichen Kultur und ihren Trägern eher die Regel als die Ausnahme, denn gerade „im konfliktträchtigen Spätmittelalter wurde der tägliche Kontakt mit der christlichen Umwelt auch zur gesellschaftlichen Notwendigkeit“166, wie auch das, wenngleich polemisch überspitzte Zeugnis des anonymen Verfassers des ‚Kleinen Lucidarius‘ belegt, der im letzten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts beklagt, die Juden erzählten in den geumerkten den christlichen Laien immer wieder ir ketzerlîchez studen, das sie aus ihrem häretischen Talmut, / ein buoch valsch und ungenaem, zögen (II, vv. 1093–1095 u. 1186f.). Von christlich-jüdischen Kontakten, insbesondere von Religionsgesprächen, hatte zuvor wiederum Berthold von Regensburg in seiner Predigt 163 ARREG, Nr. 144, S. 61. 164 Vgl. auch PAKTER: Law, S. 99: „During the eleventh century, Jews suffered a steady erosion of both their status and their personal security. Attacks on Jews by the Crusaders and other idealists in Germany and northern France culminating in the Rhineland massacres were paralleled by legal developments.“ 165 Vgl. z.B. SALFELD (Hrsg.): Martyrologium, S. 66f. 166 TOCH: Juden, S. 38.

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‚Von zwelf juncherren des tiuvels‘ seiner christlichen Zuhörerschaft eindringlich abgeraten: hüetet iuch vor unglouben, vor ketzerîe und vor der jüden glouben unde vor anderm unglouben. Dir mac ein jüde eine rede vor getuon, daz dû iemer deste swacher bist an dîme glouben. Dâ vor solt ir iuch hüeten, ir einvaltigen liute. Ir wellet allez mit den jüden einen kriec haben; sô sît ir ungelêret, sô sint sie wol gelêret der schrift, und er hât alle zît wol bedâht, wie er dich überrede, daz dû iemer deste mêr swacher bist. Unde von den selben sachen ist ez verboten von der geschrift und von dem bâbeste, daz dehein ungelêrt man mit den jüden reden sol, wan die gar ûz erwelten meister, die redent mit den jüden wol. Ez ist ouch verboten von gehôrsam, daz ir niemer mit jüden geredet.167

Von jüdischer Seite wird der Befund des trotz immer wieder auftretender blutiger Konflikte ungebrochenen kulturellen Kontakts zwischen Majorität und Minorität zum Beispiel durch das Zeugnis untermauert, daß es noch zu Beginn des 15. Jahrhunderts in der Synagoge des steirischen Marburg besondere Sitzplätze für christliche Besucher des Gottesdienstes gab.168 3. Leben auf der Grenze: Die mentale Landkarte des Konvertiten und seine Bedeutung für den jüdisch-christlichen Kulturtransfer im Mittelalter Obgleich also insbesondere das Thema der „Konversion“ eine brüchige, stets überaus gefahrenbesetzte Zone im Verhältnis der jüdischen Minorität zur christlichen Majorität im Mittelalter bildete, läßt sich die Bedeutung jüdischer Konvertiten für den kulturellen Austausch zwischen Orient und Okzident im allgemeinen sowie die Vermittlung jüdischen Erzählguts im besonderen kaum zu hoch veranschlagen.169 Immerhin stammen einige der einflußreichsten Erzählsammlungen des europäischen Mittelalters und der Frühen Neuzeit aus der Feder eines Konvertiten: die ‚Disciplina clericalis‘ des Petrus Alfonsi (1062–1140), ‚Schimpf und Ernst‘ Johannes Paulis (1455–1530) und die lateinische Übersetzung des hnmydw hlylk (‚Kalila und Dimna‘) des Johannes von Capua aus dem Ende des 13. Jahrhunderts.170 Der Grund für diese Ausnahmestellung ist meines Erachtens 167 PFEIFFER/STROBL/RUH (Hrsg.): Berthold, Bd. 1, Nr. XXXIII, S. 530. 168 Vgl. FREIMANN (Hrsg.): r#wy +ql, Bd. 1, S. 10. 169 Vgl. auch NIESNER: juden, S. 33, die jedoch allein nach christlichen Konvertiten zum Judentum fragt und gerade diese Richtung des Religionswechsels als Beleg für „insgesamt relativ rege Gesprächskontakte“ zwischen Juden und Christen im deutschen Mittelalter ansieht. 170 Vgl. STEINSCHNEIDER: Übersetzungen, S. 872–875; GASTER: Beiträge, S. 1188; BENFEY (Hrsg.): ‚Pantschatantra‘, Bd. 1, S. 10; zurückhaltender beurteilt die Wirkung dieser Werke GÜNTER: Buddha, S. 102.

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in der hybriden Kultur der Konvertiten selbst zu suchen, die, vor allem aufgrund mehr oder minder ausgeprägter Zwei- oder Mehrsprachigkeit, durch den gleichzeitigen Zugriff auf zwei oder noch mehr kulturelle Archive geprägt ist.171 Konvertit zu sein bedeutet, im „Bereich des darüber Hinausgehenden zu sein [...], einen Zwischenraum zu bewohnen“172 – den Ort der Kultur sine qua non.173 Konvertit zu sein bedeutet gleichermaßen, auf der Grenze zwischen den Kulturen zu existieren und diese Grenze selbst – körperlich greifbar – zu repräsentieren. Durch seine eigene multifacettierte Existenz wird der mittelalterliche Konvertit zur fleischgewordenen Überschneidung kulturell-religiöser Sphären, deren jeweiliges Ziel der exklusivistischen „Reinhaltung“ des Bereichs des Eigenen er ad absurdum führt. Trotz seiner neugewonnenen Zugehörigkeit zur Gruppe des majoritären Eigenen, die er durch performative Akte stets aufs Neue zu bestätigen gezwungen ist,174 bleibt seine Vergangenheit als Teil des minoritären Anderen bestehen. Obwohl er durch seinen Religionswechsel sozusagen in einer neuen spirituellen „Heimat“ angekommen ist, bleibt doch die Erfahrung des Lebens in der Diaspora erhalten, die zugleich den Beweis dafür liefert, „daß man den Diskurs und die Konventionen einer anderen Kultur erlernen und auf vortreffliche Art und Weise beherrschen kann“175. Um schließlich die Spannungen auszugleichen, die die Existenz im Bereich des darüber Hinausgehenden für den Konvertiten mit sich bringt, greift er zum Mittel der „kulturellen Übersetzung“.176 Er nimmt Bruchstücke der Kultur seiner früheren Existenz, paßt sie in Muster der Kultur seiner neuen Existenz ein und transferiert sie in dieser Form und auf diese Weise in das kulturelle Archiv seiner jetzigen Bezugsgruppe. Im Fall eines während des europäischen Mittelalters vom Judentum zum Christentum Konvertierten kann das entweder bedeuten, daß er seinen neuen Glaubensgenossen Stoffe und Motive aus Literaturen zugänglich macht, die ihnen aufgrund von Sprachbarrieren bisher unzugänglich gewesen waren, oder daß er seinen Mitchristen Geheimnisse seiner alten Religion offenbart, die aus dem gleichen Grund bisher unaufgedeckt geblieben waren und nunmehr gegen ihre Bekenner selbst gerichtet werden können. Beispiele für die erstgenannte 171 172 173 174

Vgl. auch TOCH: Juden, S. 37. BHABHA: Verortung, S. 10. Vgl. BHABHA: Verortung, S. 1. Vgl. GRAUS: Pest, S. 267f.: „Bei so manchen Neophyten schlug die Änderung in erbitterten Selbsthaß um – ein bekanntes Beispiel dafür ist 1238/39 Nicolas Donin, der Urheber der sog. Talmudverfolgung in Frankreich. Oft waren frisch getaufte Juden bemüht, durch Denuntiationen ihrer ehemaligen Glaubensgenossen der neuen Umgebung ihren Glaubenseifer zu demonstrieren.“ 175 FOKKEMA: Okzidentalismus, S. 57. 176 Vgl. dazu BHABHA: Verortung, S. 339–341.

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Möglichkeit sind unter anderen Petrus Alfonsi und Johannes von Capua, die in ihren jeweiligen Werken dem europäischen Mittelalter den großen Fundus der orientalischen Erzählwelt eröffnet haben, während in anderen lateinischen Novellensammlungen des hohen und späten Mittelalters wie dem ‚Speculum sapientiae‘177 aus dem 13. Jahrhundert, Konrads von Mure (1210–1281) ‚Fabularius‘178 oder dem zwischen 1337 und 1347 entstandenen ‚Dialogus creaturarum‘179 des italienischen Dominikaners Bonjohannes von Messina solche Stofftraditionen nicht vorkommen.180 Beispiele für die zweite Möglichkeit sind – neben wiederum Petrus Alfonsi – unter anderen Nicolaus Donin und Paulus Christiani, deren Wirken um die Mitte des 13. Jahrhunderts zur christlichen „Entdeckung“ der nachbiblischen jüdischen Text- und Auslegungstraditionen beigetragen hat und die maßgeblich an den jüdisch-christlichen Religionsdisputationen zu Paris 1240 und 1269 sowie zu Barcelona 1263 beteiligt waren, in deren Mittelpunkt zum ersten Mal ebendiese Überlieferungen standen.181 Welchen Formen fremd- und eigengesteuerter Anmutungen ein mittelalterlicher jüdischer Konvertit ausgesetzt war, wie sich also sozusagen seine mentale Landkarte seinem Leben im kulturellen Zwischenraum anpaßte, soll im folgenden an zwei paradigmatischen Beispielen des 12. Jahrhunderts aus dem aschkenasischen und sefardischen Raum dargestellt werden, die beide bereits häufiger erwähnt wurden: Petrus Alfonsi182 und

177 Vgl. GRÄSSE (Hrsg.): Fabelbücher, S. 3–118. 178 Konrads ‚Fabularius‘, ein „hochrangiges Dokument für die Bildungssituation am Übergang zum Spät-MA“ (KLEINSCHMIDT: Konrad, Sp. 242), liegt trotz seiner Bedeutung immer noch nicht in einer wissenschaftlichen Edition vor. Herangezogen wurden daher zwei der insgesamt fünf handschriftlichen Überlieferungsträger – die älteste, jedoch fragmentarische Handschrift Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB VI 106 von 1343 und die vollständige Handschrift München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 399 aus dem 14. Jahrhundert – sowie zum Vergleich der textlich kürzende Erstdruck Basel, bei Berthold Ruppel, um 1470 (GW 7424) im Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek München (Sign.: C 521). Zu Konrads Quellen, vornehmlich antike lateinische Autoren und Kirchenväter, vgl. ausführlich MAYER: Quellen. 179 Vgl. GRÄSSE (Hrsg.): Fabelbücher, S. 127–280. Das ‚Speculum sapientiae‘ stellt eine der am weitesten verbreiteten Erzählsammlungen des Spätmittelalters dar, es sind mindestens 151 Handschriften und acht Frühdrucke nachgewiesen, der Erstdruck erfolgte um 1475 bei Michael Wenssler in Basel (GW 7890; eingesehenes Exemplar: Würzburg, Universitätsbibliothek, Inc. f. 119); vgl. zu Werk und Autorzuschreibung BODEMANN: ‚Speculum‘, Sp. 65f. 180 Vgl. GÜNTER: Buddha, S. 102. 181 Vgl. dazu grundsätzlich RAGACS: Talmuddisputation; LAWALL: Talmudverbrennungen, Sp. 451f.; RAGACS: „Zaum“; KRAUSS/HORBURY: Controversy, Bd. 1, S. 153–165; CHAZAN: Barcelona; CHAZAN: Daggers; COHEN: Mentality, S. 20–47; GRAYZEL: Church; LOEB: Controverse, S. 1–18; DENIFLE: Quellen, S. 225–244. 182 Vgl. grundsätzlich SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 91–97 u. 100–103; SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 2, S. 78–83; COHEN: Mentality; S. 20–47; KNIEWASSER: Polemik, S. 34–76.

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Hermann von Scheda183. Die in gewisser Weise „psychohistorische“ Vorgehensweise, die sich schon in einem Begriff wie dem der „mentalen Landkarte“ niederschlägt, ist in diesen Fällen bei aller sonst gebotenen Skepsis des Mediävisten gerechtfertigt, da sich beide Konvertiten in ihren eigenen Schriften mehr oder minder ausführlich zu den Umständen und Auswirkungen ihres Religionswechsels äußern.184 Petrus Alfonsi, sein jüdisches Ich vor der Konversion nennt er stets Moyses,185 trat 1106 in Anwesenheit seines königlichen Taufpaten Alfons’ I. von Aragon (1073–1134) zum Christentum über.186 Er war astronomisch und medizinisch gebildet und diente daher zunächst Alfons und später Heinrich I. von England (1068–1135) als Hofarzt. Seine Haltung gegenüber seiner ursprünglichen Religion schwankt zwischen Apologie auf der einen und Bemühung um eine korrekte Vermittlung seines kulturellen Erbes auf der anderen Seite. Petrus hat in seinen beiden Hauptwerken, der ‚Disciplina clericalis‘, die im späteren Mittelalter auch in altfranzösischen Prosa- und Versfassungen bearbeitet wurde187 und die noch Steinhöwel für seinen ‚Esopus‘ benutzt hat, und den ‚Dialogi in quibus impiae Judaeorum opiniones evidentissimis cum naturalis, tum coelestis philosophiae argumentis confutantur, quaedamque prophetarum abstrusiora loca explicantur‘, die nach Ausweis ihrer handschriftlichen Überlieferung bis ins 15. Jahrhundert in ganz Europa verbreitet waren,188 als erster die Sagenwelt der Talmudim und Midraschim der lateinischen Christenheit zugänglich gemacht.189 Es ist vor allem das zuletzt genannte Werk, in dem sich sowohl 183 Vgl. grundsätzlich SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 113–118; SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 2, S. 256–267; LOTTER: Hermann, S. 207–218; COHEN: Mentality, S. 20–47; MANITIUS: Geschichte, Bd. 3, S. 592f.; ARONIUS: Hermann, S. 217–231. 184 Vgl. zu dieser Herangehensweise auch COHEN: Mentality, S. 20–47; GRAYZEL: Conversion, S. 89–120; zu einem bemerkenswerten Versuch über die Erkennbarkeit menschlicher Individualität im Hochmittelalter am Beispiel Heinrichs IV. vgl. auch TELLENBACH: Charakter, S. 345–367. 185 Vgl. Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 538. 186 Seine Taufe factum est anno a nativitate Domini millesimo centesimo sexto, aetatis meae anno quadragesimo quarto, mense Julio, die natalis apostolorum Petri et Pauli. Unde mihi ob venerationem et memoriam ejusdem apostoli, nomen quod est Petrus, imposui. Fuit autem pater meus spiritualis Alfunsus, gloriosus Hispaniae imperator, qui me de sacro fonte suscepit, quare nomen ejus praefato nomini meo apponens, Petrus Alfunsi mihi nomen imposui (Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 537f.). 187 Die altfranzösischen Bearbeitungen der ‚Disciplina clericalis‘ sind ediert bei HILKA/SÖDERHJELM (Hrsg.): ‚Disciplina‘, Bd. 2 (Prosatext) u. 3 (versifizierte Fassungen). 188 Vgl. TOLAN: Petrus, S. 95 u. 182–198. 189 Die Korrektheit der von Petrus Alfonsi und späteren christlichen Autoren angeführten talmudischen Stellen, die in ihrem Wortlaut des öfteren den bis heute gängigen, durch christliche Zensur späterer Jahrhunderte veränderten Textausgaben widersprechen, hat LIEBERMAN: }y(yq#, S. 27–83, ausführlich nachgewiesen. Der Talmud erscheint bei Petrus nicht wie bei späteren Autoren unter seinem originalsprachlichen Titel sondern unter der

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auf der formalen wie auf der inhaltlichen Ebene Petrus zwiegespaltene Existenz zwischen alter und neuer Religion, altem und neuem kulturellen Archiv widerspiegelt.190 Petrus schrieb seine ‚Dialogi‘ in den Jahren zwischen 1108 und 1110 in der Form einer Religionsdisputation zwischen seinem abgelegten jüdischen Ich namens Mose und seinem neugewählten christlichen Ich namens Petrus: In tutandis etiam Christianorum rationibus, nomen quod modo Christianus habeo, posui: in rationibus vero adversarii confutandis, nomen quod ante baptismum habueram, id est Moysen.191 Sein vorrangiges Ziel war es, mit dieser Schrift seine Konversion zu rechtfertigen,192 die ihre Motivation, wie der ausführliche Titel des Traktats bereits andeutet, vorrangig aus Petrus’ intellektueller Unzufriedenheit mit der jüdischen Religion bezog: video eos [sc. Judaeos] solam legis superficiem attendere, et litteram non spiritualiter, sed carnaliter exponere, unde maximo decepti sunt errore.193 Insbesondere die als irrational verstandenen Formen der Auslegungstradition der Bibel im Judentum erregen seinen Mißmut und Ärger, die “plain message of Alfonsi’s ‚Dialogi‘ was that Christianity was more rational than Judaism and that Jews were stupid to believe their rabbis when they told them things that ran contrary to nature.“194 Um diese Behauptung zu untermauern, führt Petrus unter anderem talmudische Überlieferungen an, die sich mit dem Dogma der leiblichen Auferstehung der Toten verbinden und die ihm als besonders widernatürlich und irrational erscheinen: In bKetubot 111a entspinnt sich eine Diskussion zwischen einer Reihe amoräischer Autoritäten der zweiten Hälfte des dritten nachchristlichen Jahrhunderts. Angestoßen wird sie von einer apodiktischen Äußerung Rabbi Elasars ben Pedat, der aus Ez 26,20 ableitet, daß nur die im Heiligen Land beerdigten Toten am Ende der Tage auferstünden, während alle diejenigen, die außerhalb des Lands Israel begraben liegen, keinen Anteil an der Auferstehung besäßen. Rabbi Ila löst das durch diese Äußerung entstandene, offensichtliche Dilemma dadurch, daß er alle Toten im Heiligen Land auferstehen läßt, auch diejenigen, die ursprünglich nicht dort ihre letzte Ruhestätte gefunden hatten. Um jedoch zu ihrem Auferstehungsort zu gelangen, müssen sich alle

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Bezeichnung doctrina, einer durchaus passenden lateinischen Übersetzung des hebräischen dwmlt, das wörtlich „Gelerntes“ heißt; vgl. dazu COHEN: Friars, S. 30. Bemerkenswerterweise verwendet Papst Gregor IX. (1227–1241) ebendiese Bezeichnung in seinen Schreiben an die Erzbischöfe Frankreichs, Englands, Kastiliens und Leons vom 9. Juni 1239, in dem er zum ersten Mal die Konfiskation hebräischer Schriften befiehlt: Talmut, id est doctrina dicitur (GRAYZEL: Church, Nr. 96, S. 240); vgl. dazu PAKTER: Law, S. 70. Vgl. dazu auch FUNKENSTEIN: twrwmth, S. 133–137. Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 538. Vgl. SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 91. Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 540. SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 92.

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außerhalb des Lands Israel Beerdigten durch unterirdische Tunnel dorthin wälzen.195 Diese Vorstellung verwirft Petrus als zugleich theologisch und intellektuell abstoßend und bedenkt sie mit Spott.196 Weitere talmudische Traditionen, die ihm sowohl blasphemisch als auch dumm vorkommen, sind zum Beispiel “a number of aggadic (narrative) sections of the Talmud which speak about God in anthropomorphic language“197. Dabei handelt es sich zum Teil um die gleichen Traditionen, die schon die theologische Verdammung durch Agobard von Lyon erfahren hatten.198 Im Gegensatz zur reinen Verachtung, die der Lyoner Erzbischof des 9. Jahrhunderts den superstitiones et errores Iudeorum entgegengebracht hatte, läßt der jüdische Konvertit des 12. Jahrhunderts aber auch eine gewisse Form von Stolz auf die kulturellen Überlieferungen seiner abgelegten Religion erkennen. Dies äußert sich vor allem an den Stellen seiner Schriften, an denen er durch punktuell eingebrachtes Wissen seinen herausgehobenen Eingeweihtenstatus demonstriert. So bringt er, namentlich im Zusammenhang der Diskussion über die Trinität in den ‚Dialogi‘, eine ganze Reihe Hebraica, wie verschiedene Gottesnamen – Adonai und Elohim –199 Erläuterungen dazu – Adon, id est Dominus200 – oder eine ausführliche Erklärung des Tetragramms.201 Petrus nutzt seine Hebräischkenntnisse, die ihn weit über die Masse seiner neuen Glaubensgenossen, ja selbst über die geistlich Gebildeten unter ihnen hinaushebt, aber auch zur Bibelexegese, wenn er bezüglich Ecce dies venient, dicit Dominus / Et feriam domui Israel et domui Iuda foedus novum (Jer 31,31) ausführt: Ubi enim in Latino habetur foedus novum, in Hebraico invenies h#dx tyrb, berith, hadasa, quod interpretatur lex nova.202 Allein, Petrus demonstriert seine besonderen Fähigkeiten und sein 195 Diese Vorstellung ist im Frühmittelalter auch zum Thema eines eigenen Midrasch, der rbqh +wbx tksm (‚Traktat von den Grabesleiden‘), geworden, vgl. BHM, Bd. 1, S. 150–152. 196 Vgl. Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 581–593. 197 SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 91; vgl. zum Beispiel Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 550f., mit Bezug auf bBerachot 3a, 7a u. 59a: Nec hoc sufficit eis de Deo dicere, sed eum etiam quotidie semel in die plorare, et ab ejus oculis duas prodeuntes lacrymas in magnum mare dicunt concidere, et has fulgorem esse affirmant illum qui tempore nocturno de stellis videtur cadere. [...] Fletus quoque ipsius quem Deo indigne ascribunt, Judaeorum captivitatem causam esse dicunt; quin etiam propter dolorem eum ter in die ut leonem rugire asserunt, et propter id coelum pulsare pedibus more calcantium in torculari, more etiam columbae quemdam susurri sonitum dare, et quaque vice caput movere, et dolentis dicere voce: Heu mihi, heu mihi! ut quid domum meam in desertum redegi, et templum meum cremavi, et filios meos in gentes transtuli? Heu patri qui transtulit filios suos! et heu filiis qui translati sunt de mensa patris sui! Dicunt etiam quod quidam doctorum vestrorum hanc audierit vocem in quodam loco rumoso. Praeterea quod tanquam parturientis invicem collidat pedes, et more dolentis manibus plaudat, et quia quotidie orat, ut misericordia ejus sit super iram ejus, et ut eat in populo suo in misericordia. 198 Vgl. ACKER (Hrsg): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 205f. 199 Vgl. Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 608. 200 Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 609. 201 Vgl. Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 611. 202 Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 669.

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besonderes Wissen nicht nur in einem Text wie den ‚Dialogi‘ mit ihrer missionstheologischen Intention, sondern auch in der didaktisch ausgerichteten ‚Disciplina clericalis‘. Hier fällt zunächst auf, daß es stets alttestamentliche Verse sind, die Petrus als autoritative Belegstellen anführt, sodann handelt es sich bei diesen Stellen zumeist um Passagen, die im jüdischen Kulturkontext besondere Beliebtheit genießen, wie das Beispiel der vierzehnten Erzählung der ‚Disciplina clericalis‘ veranschaulicht, an deren Ende der Lehrer zu seinem Schüler unter anderem sagt: Salomon in fine libri prouerbiorum suorum composuit viginti duos versus de laude atque bonitate mulieris bonae.203 Hier wird also auf Prov 31,10–31 angespielt, eine im Judentum nach den Anfangswörtern als lyx t#) (Vulgata: mulier fortis) bekannte biblische Passage, die seit dem hohen Mittelalter fester Bestandteil der häuslichen Feier des Sabbatabends sowohl im aschkenasischen wie im sefardischen Ritus ist.204 Daß Petrus nun just diese Verse als Abschluß seiner Überlegungen über die bona femina wählt, verweist meines Erachtens auf seine grundsätzlich ambivalente, aus apologetischer Abwehr und dem Wunsch nach unverzerrter Darstellung zugleich geborene Haltung gegenüber der Kultur, die er durch seine Konversion verlassen hat – zumal er auch an dieser Stelle, sozusagen en passant, seine eingeweihte Überlegenheit offenbart, die doch gleichzeitig nur dem seinerseits Eingeweihten erkennbar wird: seine mulier bona entspricht dem hebräischen Wortlaut besser als die mulier fortis der Vulgata. Mit Petrus Alfonsi haben wir also ein paradigmatisches Beispiel eines jüdischen Konvertiten des Hochmittelalters vor uns, der über breite Kenntnisse der jüdischen Kultur verfügt – man beachte in diesem Zusammenhang auch seine eigene Angabe, er sei im Alter von 44 Jahren zum Christentum übergetreten205 – und diese Kenntnisse selbstbewußt seinen neugewonnenen Religionsgenossen präsentiert. Als hauptsächlicher Grund für seine Konversion erscheinen tiefgreifende Zweifel an der Rationalität zahlreicher jüdischer Auslegungstraditionen, Petrus’ Glaubenskrise ist somit weit eher intellektueller als mystischer Natur, er tritt deutlich als Teil der frühscholastischen Bemühungen hervor, einen harmonischen Ausgleich zwischen fides und ratio zu finden. Ein in wesentlichen Punkten abweichendes Bild präsentiert dagegen unser zweites Beispiel Hermann von Scheda.

203 HILKA/SÖDERHJELM (Hrsg.): ‚Disciplina‘, Nr. 14, S. 22. 204 Vgl. dazu NULMAN: Encyclopedia, S. 74f.; anders ELBOGEN: Gottesdienst, S. 112, der die Rezitation dieser Verse erst im 16. Jahrhundert entstanden sein läßt: „Was sonst noch in den Gebetbüchern an dieser Stelle steht, stammt aus den kabbalistischen tb# ynwqt und ist auch dort für die häusliche Feier bestimmt.“ 205 Vgl. Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 537.

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Hermann, in der Literatur erscheint er häufiger auch unter den Namensvarianten „Hermann“ oder „Juda von Köln“, „Hermann der Prämonstratenser“ oder „Hermannus (quondam) Judaeus“, verfaßte 1136/37 eines „der wichtigsten selbstbiographischen Werke des Mittelalters“206 – sein ‚Opusculum de conversione sua‘,207 das er einem Kappenberger Mitkanoniker namens Heinrich widmete und mit folgender Eigenbeschreibung eröffnet: Hermannus, Judas quondam dictus, genere Israelita, tribu Levita, ex patre David et matre Sephora, in Coloniensi metropoli oriundus.208 Schon früh regt sich in ihm der Wunsch, zum Christentum überzutreten, ein Wunsch, in dem er durch seine zahlreichen christlichen Freunde209 noch bestärkt wird, womit Hermanns Bericht zugleich andere Quellen stützt, die die Häufigkeit von Religionsgesprächen zwischen Juden und Christen in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts in Köln erwähnen wie zum Beispiel die bereits zitierten ‚Gesta abbatum Trudonensium‘ XI,16 Rudolfs von St. Trond: „Der Verkehr mit den Christen muß noch lebhaft und ungezwungen gewesen sein. Disputationen zwischen Juden und Christen waren damals gang und gäbe, sie sind mit für die Zeit charakteristisch und spielen ja auch in Hermanns Geschichte eine Rolle.“210 Hermann diskutiert namentlich mit Rupert von Deutz, seine heftigen inneren Glaubenskämpfe, die sich über mehrere Monate, vielleicht sogar über ein ganzes Jahr hinziehen,211 bleiben seinen jüdischen Verwandten selbstredend nicht verborgen – sie reagieren darauf, indem sie Juda zur Heirat drängen: Nam veniens ad me Judaeus quidam, Alexander nomine, cujus filiam virginem desponsaram, multum mihi, ut diem nuptiarum statuerem, monendo, hortando, rogando coepit insistere.212 Doch diese Bemühungen fruchten schließlich nicht, vielmehr tritt Juda 1128/29, also im Alter von knapp 22 Jahren, zum Christentum über, nimmt in der Taufe den Namen Hermann an und wird Mönch bei den Kappenberger 206 MANITIUS: Geschichte, Bd. 3, S. 592; vgl. auch GRAUS: Pest, S. 263. Vor kurzem hat SCHMITT: Conversion, diese opinio communis der Forschung zu erschüttern versucht, indem er Hermanns Werk nicht als – wie auch immer gearteten – biographischen Konversionsbericht, sondern vielmehr als Propagandaschrift für den Zisterzienserorden verstanden wissen wollte. Meines Erachtens legt er jedoch einen viel zu engen Wahrheitsbegriff an den Text an – worin besteht letzten Endes der ontologische Unterschied zwischen einer „fiktiven“ oder einer „realen“ Biographie? Biographisches Schreiben in all seinen denkbaren Facetten ist vielmehr stets artifiziell fiktionalisiert, vgl. RÖCKELEIN: Beitrag, S. 17–38. Somit muß auch in Hermanns Fall vorrangig danach gefragt werden, welches Bild der Verfasser von sich entwirft, und nicht danach, wie historisch korrekt und zuverlässig dieses Bild ist. 207 Die bisweilen geäußerte Ansicht, Hermanns Werk sei eine Fälschung, ist mittlerweile durch LOTTER: Hermann, S. 207–218, gründlich widerlegt worden. 208 Hermanni Judaei ‚Opusculum‘, Sp. 805f. 209 Vgl. Hermanni Judaei ‚Opusculum‘, Sp. 8 22. 210 ARONIUS: Hermann, S. 230. 211 Vgl. dazu ARONIUS: Hermann, S. 225 Anm. 36 u. 226. 212 Hermanni Judaei ‚Opusculum‘, Sp. 820.

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Prämonstratensern. Seine Konversion scheint für einiges Aufsehen gesorgt zu haben, wie ein Reflex seiner Bekehrungsgeschichte in der bald nach 1150 verfaßten ‚Vita Godefridi comitis Cappenbergensis‘ zeigt: operatus est Deus in fratre tempore nostro Hebraeo, qui post multos errorum circuitus Dei munere praeventus, coepit ardenti desiderio fidem Christianam inquirere. Disputabat ergo cum Christianis conferens de lege ac prophetis.213 Den Endpunkt seiner Klerikerkarriere bildet das Amt des Abts im Prämonstratenserstift Scheda. Hermanns Einstellung gegenüber seiner abgelegten Religion ist, verglichen mit Petrus Alfonsi, wesentlich eindimensionaler, in seinem Werk findet sich kein einziger Versuch, sein jüdisches Wissen polemisch für die Sache des Christentums oder didaktisch für seine neuen Glaubensbrüder zugänglich und nutzbar zu machen. Dies mag zum einen damit zu erklären sein, daß Hermanns Kenntnisse der jüdischen Tradition weitaus weniger umfangreich gewesen sind als diejenigen seines aragonesischen Zeitgenossen, immerhin hatte Petrus, der erst mit 44 Jahren den Glaubenswechsel vollzog, schon allein was die zeitliche Dimension angeht viel längeren Kontakt zur jüdischen Gelehrsamkeit besessen. Zum anderen erklärt sich Hermanns ungebrochene Perspektive auf sich selbst, seinen alten und seinen neuen Glauben vielleicht auch aus einer individuellen Disposition heraus, wie JULIUS ARONIUS schon 1887 erwogen hatte: Es zeigt sich [...] recht deutlich, wie Hermanns Gedanken sich weit mehr auf Kultusformen und gottesdienstliche Gebräuche, als auf den dogmatischen und moralischen Gehalt der Religionen richten. [...] es hängt mit dieser Richtung Hermanns zusammen, daß wir über sein inneres Verhältnis zum Judenthum wie zum Christenthum auch nicht ein Wort zu hören bekommen. Ein solches Verhältnis hat eben gar nicht bestanden.214

Wenn auch diese Charakterzeichnung ihre Entstehung im bürgerlichen Milieu des Wilhelminischen Kaiserreichs nicht verbergen kann – und zu einem gewissen Teil wohl auch der alles andere als guten Meinung geschuldet ist, die der jüdische Mediävist ARONIUS von dem jüdischen Konvertiten Hermann hatte –, so läßt sie sich nichtsdestoweniger für eine angemessene Beurteilung Hermanns adaptieren: Meines Erachtens bestand Hermanns „inneres Verhältnis“ zu seiner neugewählten Religion eben gerade in der Faszination, die der christliche Kultus mit seiner Konzentration auf ein öffentlich zelebriertes, körperlich konkretisiertes Mysterium auf ihn ausübte im Gegensatz zum Gebetsgottesdienst der Synagoge, in dessen Zentrum die zwar ebenfalls in Form einer Pergamentrolle konkret faßbare, jedoch insgesamt wesentlich abstraktere Verherrlichung der 213 ‚Vita Godefridi comitis Cappenbergensis‘, S. 518. 214 ARONIUS: Hermann, S. 228.

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überlieferten Lehre steht. Ungleich Petrus’ Alfonsi, den bestimmte Inhalte der jüdischen Tradition abgestoßen hatten, sind es bei Hermann von Scheda tatsächlich die Formen, in die diese Tradition gekleidet ist, die ihn über die Grenze in das Gebiet einer anderen religiösen Vorstellungswelt treiben. Doch trotz dieses erkennbaren Desinteresses Hermanns an den textlichen Überlieferungen des Judentums scheinen diese zumindest an einer Stelle seines ‚Opusculum de conversione sua‘ auf: Nam veniens Wormaciam, ubi germanum fratrem, vocabulo Samuelem, habebam, Judaeorum synagogam die illo, quo convenire solebant, introivi, eosque Gamalielis sui superstitiosa super Vetus Testamentum commenta legentes audivi.215 Mit den commenta superstitiosa Gamalielis super Vetus Testamentum beschreibt Hermann nichts anderes als diejenige Gruppe von Texten, die bereits bei Agobard von Lyon und Notker dem Deutschen im Anschluß an die Kirchenväter Hieronymus und Augustinus als deuterosis und bei Petrus Alfonsi als doctrina erschienen war – das nachbiblische, in Talmud und Midrasch kodifizierte jüdische Schrifttum.216 Die unterschiedlichen Bezeichnungen erklären sich dabei aus der unterschiedlichen Intention des jeweiligen Autors: Agobard und Notker wollen, abgesichert durch die Berufung auf patristische Autoritäten, die unwahre Natur dieser Überlieferungen herausstellen. Dieses Ziel verfolgt zwar auch Petrus, doch aufgrund seiner weitreichenden eigenen Kenntnisse bedarf er keiner theologischen auctoritas, die seine Ausführungen legitimiert. Vielmehr wählt er, entsprechend seiner um Korrektheit bemühten Darstellungsabsicht, eine neue, selbst gewonnene lateinische Übersetzung, die sich an der wörtlichen Bedeutung des hebräischen Lexems dwmlt („Gelerntes“) orientiert. Hermann schließlich, der zuvorderst für seine prämonstratensischen Mitbrüder schreibt, wählt ebenfalls eine eigene, wenngleich eher umschreibende, Übersetzung anstelle einer Berufung auf die Schriften der Kirchenväter. Dabei beachtet er sehr genau den Verständnishorizont seines Publikums: Rabban Gamliel der Ältere, ein Tannaite des ersten nachchristlichen Jahrhunderts und Vorsitzender des Jerusalemer Synhedrions, ist die einzige Autorität des nachbiblischen Judentums, die sowohl im Talmud (z.B. mSchekalim III,6; bRosch Haschana 23b; bJewamot 122a; bMegilla 21a) als auch im Neuen Testament namentlich erwähnt wird (Act 5,34; 22,3) und somit für christliche Mönche des 12. Jahrhunderts eine dechiffrierbare Referenz darstellt. Daher lag es für Hermann nahe, Gamliel kurzerhand zum Verfasser aller „abergläubischen“ jüdischen Kommentare über das Alte Testament zu erklären, um 215 Hermanni Judaei ‚Opusculum‘, Sp. 828. 216 Vgl. ACKER (Hrsg): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 207; TAX (Hrsg.): Notker der Deutsche, S. 460; COHEN: Friars, S. 30.

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seinen Mitbrüdern ohne ausführliche Erläuterungen eine nichtsdestoweniger in seinem Sinne passende Vorstellung von den nachbiblischen Schriften der Juden zu geben. In diesem Zusammenhang greift also auch Hermann von Scheda, wie bereits zuvor, allerdings in weitaus umfassenderer Art, Petrus Alfonsi, zum Mittel der „kulturellen Übersetzung“217: Beide nehmen Bruchstücke der Kultur ihrer Präkonversionsexistenz, passen sie in Muster der Kultur ihrer Postkonversionsexistenz ein und transferieren sie in dieser Form und auf diese Weise in das kulturelle Archiv ihrer jetzigen Bezugsgruppe. In der Tat zeigen sich sowohl Petrus als auch Hermann „von den die Zeit erfüllenden Ideen beeinflußt“, so daß „wir nicht mehr bezweifeln können, daß die Juden damals vollen Antheil an dem Leben und Denken ihrer christlichen Umgebung gehabt haben“218. Den beiden hochmittelalterlichen, lateinischen Beispielen der Schriften des aragonesischen Hofarztes und des niederrheinischen Mönchs läßt sich – mit einiger hermeneutischer Einschränkung – ein spätmittelalterliches, deutschsprachiges Beispiel eines Berichts eines Juden über seine Konversion zum Christentum an die Seite stellen: ein Abschnitt aus dem ‚Fünfmannenbuch‘ des sogenannten Gottesfreunds vom Oberland, des mystischen Lehrers des Straßburger Laien Rulman Merswin (1307–1382).219 Diese Schrift berichtet von der geselleschaft [...] von fvnf brvederen. Diese sind: ein der Ehe überdrüssig gewordener junger Ritter, der Priester wird, ein gelehrter Jurist und Domherr, ein bekehrter Jude, ein brvoder, der ein jor [...] bei den Kartäusern wohnte, und schließlich der Gottesfreund selbst [...]. Alle fünf, deren innere Lebensgeschichte zusätzlich mitgeteilt wird, [...] führen zusammen ein frommes Gemeinschaftsleben in der Bergeinsamkeit.220

Verfaßt wurde das ‚Fünfmannenbuch‘ als Orientierungshilfe für die Johanniterbrüder und die sonstigen Insassen des von Merswin erworbenen und ausgebauten Klosters Grünenwörth in Straßburg. Die darin enthaltene Bekehrungsgeschichte des vierten Bruders, eines ehemaligen Juden namens Abraham, der in der Taufe den Namen Johannes annimmt, weist eine Reihe inhaltlicher Parallelen zu den Biographien Petrus’ Alfonsi und Hermanns von Scheda auf, unterscheidet sich jedoch in formaler Hinsicht grundlegend von den Schriften dieser beiden Konvertiten, insofern die Erzählinstanz nicht der von Glaubenszweifeln gepeinigte Jude selbst, sondern der Gottesfreund vom Oberland ist. Trotz dieser generellen Diskrepanz, die in der Erzählung selbst vor allem in einer nachdrücklichen Beto217 Vgl. dazu BHABHA: Verortung, S. 339–341. 218 ARONIUS: Hermann, S. 231. 219 Zum mystischen Laienkreis Merswins vgl. RUH: Geschichte, Bd. 3, S. 482f.; STEER: Merswin, Sp. 420–422; vgl. auch GRAUS: Pest, S. 263. 220 STEER: Merswin, Sp. 431.

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nung des Anteils, den der Gottesfreund auf göttliche Intervention hin an der Bekehrung des Juden hat, sichtbar wird, werden nichtsdestoweniger auch im ‚Fünfmannenbuch‘ eindrücklich die Beweggründe geschildert, die den Juden Abraham die Konversion wählen lassen und schließlich zum Christen Johannes machen. Demnach trieb Abraham, der bereits vor seiner Konversion eins bidderwen got fvrthenden sinnes vnd [...] gar eins semftmvetigen wandels vnd domitte gar van sinnen riche vnd ovch armen lvten milte war,221 in erster Linie eine Frage um: Wie konnte Gott es zulassen, daß die Juden, die trotz aller Drangsal fest an seinem geoffenbarten Willen und seinen durch Mose vermittelten Geboten hielten, derart vor aller Welt gedemütigt wurden, während doch gleichzeitig die heiden und die cristonmenschen in ihrem grosan wnderlichan unglovben immer mächtiger und zahlreicher wurden? Obwohl er von der Superiorität seiner angestammten Religion fest überzeugt ist – ich weis ovch keinen glovben, der in doheine wisa gereht si dan vnsar jvdes glovbe –, richtet er in seinen kontemplativen Zwiegesprächen mit Gott dennoch immer wieder die Frage an ihn, was dv hiemitte meinnede bist.222 Die Antwort auf diese Frage wird ihm in einem dreimal wiederholten Traum zuteil, der ihn dazu auffordert, heimlich der christlichen Frühmesse beizuwohnen. Zwar stürzt ihn diese Aufforderung in noch größere Zweifel als zuvor – hie abbe nam dir jvode gros wnder, was es sin mvethe, wan es imme gar alzvomole widder was in allen sinan sinnan –, doch mit der Unterstützung eines christlichen Schusters, dem dir selba jvode fil gvotes geton hatte bedda mit lihhende vnd ovch mit gebbenda, gelangt er schließlich unerkannt zur Zeit der Frühmesse in eine Kirche.223 Dort wird er Zeuge eucharistischer Wunder – von der erhobenen Hostie steigt ein winziger Gekreuzigter herab, der Messwein verwandelt sich in echtes Blut –, die ihn schließlich zu folgender an Gott gerichteten Bitte veranlassen: sidder das dv mich hast gelosan befindan vnd mit minnan liplichan ovgen sehhan diesa grosan zeihen dis grosan wnders, so habbe ich gedocht, dv sist etthewas mitte meinnende cristanglovben, vnd ist das din wille, das ich sol zvo cristonme globben kvomen, so weis ich nvt, wie ich imme dvon sol odder wie das ich es annegefohan sol, vnd davan, ist es din wille, so beger ich an diene grose vrbermede, das dv mir noch me vrkvnde in etthewas worzeihens wellest gebban, also das ich es deste frellicher gedar anne gefohen.224

Abrahams Bitte wird erhört, indem der Gottesfreund vom Oberland, dem seinerseits bereits in Träumen das Ergehen des Juden offenbart worden war, den göttlichen Befehl erhält, ihn aufzusuchen und in der christlichen 221 222 223 224

STRAUCH (Hrsg.): Des Gottesfreundes ‚Fünfmannenbuch‘, S. 58. Vgl. STRAUCH (Hrsg.): Des Gottesfreundes ‚Fünfmannenbuch‘, S. 58–60. Vgl. STRAUCH (Hrsg.): Des Gottesfreundes ‚Fünfmannenbuch‘, S. 61f. STRAUCH (Hrsg.): Des Gottesfreundes ‚Fünfmannenbuch‘, S. 63f.

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Lehre zu unterweisen.225 Nachdem dies geschehen ist, empfängt Abraham die Taufe, wird nach Ablauf eines Jahres zum Priester geweiht, da er nvo formoles wol geleret was, und bittet schließlich um Aufnahme in den Brüderbund der Gottesfreunde. Nach einer Phase der göttlichen Segnung werden ihm vielerlei Versuchungen auferlegt, die er alle in Demut annimmt, bis diese Prüfungen wiederum von ihm genommen werden abgesehen von einer einzigen, unter der er nach dem Bericht des Gottesfreunds noch zur Stunde der Niederschrift des ‚Fünfmannenbuchs‘ leidet – die bekorvnge, die da heisset vnkvschekeit.226 Wie bei Petrus Alfonsi und Hermann von Scheda beruht also auch Abrahams Konversion auf einem grundsätzlichen Unbehagen an einem wesentlichen Aspekt jüdischer Existenz: intellektuelles Unbehagen bei Petrus, kultisches Unbehagen bei Hermann, oder soziales Unbehagen wie in diesem zuletzt dargestellten Beispiel. Zwar sind einerseits alle drei Berichte auf die eine oder andere Weise literarisch stilisiert – der Bericht des ‚Fünfmannenbuchs‘ wohl noch stärker als die beiden anderen, was auch durch die topische brevitas-Formel deutlich wird, mit der der berichterstattende Gottesfreund die realen Umstände der Konversion Abrahams übergeht227 –, doch gewähren sie auf der anderen Seite durchaus realistische Einblicke in die mentale Landkarte jüdischer Konvertiten des Hochund Spätmittelalters. Nach ihrer jeweiligen Konversion waren ehemals jüdische Neuchristen in jeglicher gesellschaftlicher Hinsicht auf ihre neuen Glaubensgenossen angewiesen, denn das kanonische Recht verlangte eine strikt einzuhaltende Trennung der Konvertiten von ihren alten Glaubensgenossen, eine Forderung, die bereits im Jahre 633 von den Bischöfen des westgotischen Reichs im 62. Canon des vierten Konzils von Toledo aufgestellt worden war: Saepe malorum consortia etiam bonos corrumpunt, quanto magis eos, qui ad vitia proni sunt. Nulla igitur ultra communio sit Hebraeis ad fidem Christianam translatis cum his qui adhuc in vetere ritu consistunt; ne forte eorum participatione subvertantur. Quicumque igitur amodo ex his qui baptizati sunt infidelium consortia non vitaverint, & hi Christianis donentur, & illi publicis caedibus deputentur.228

225 Vgl. STRAUCH (Hrsg.): Des Gottesfreundes ‚Fünfmannenbuch‘, S. 64–66. 226 Vgl. STRAUCH (Hrsg.): Des Gottesfreundes ‚Fünfmannenbuch‘, S. 66–68. 227 Vgl. STRAUCH (Hrsg.): Des Gottesfreundes ‚Fünfmannenbuch‘, S. 66: solte ich vch alles das schribban in allan sachan vnd alle die redde, die er hatte mit sime wibe vnd mit andern sinnan frvndan, vnd ovch wie es darzvo kam, das er getevfet wart, sa, lieban brveder, sa wissant, vnd solte ich vch das alles geschriban habban van worte zvo worta, sa wissant, do hatte ich wola alleina ein ganzes bvoch zvo bedorft, vnd es wer darzvo nvt gar nottvrftig gesin. 228 MANSI, Bd. 10, Sp. 634.

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In Zentraleuropa wurde diese Bestimmung spätestens seit dem 11. Jahrhundert durch die ‚Decreta‘ Burchards von Worms229 und Ivos von Chartres230 sowie im 12. Jahrhundert durch die Aufnahme ins ‚Decretum Gratiani‘ (c. 2 C. XXVIII q. 1 c. 12) bekannt gemacht. Hauptgrund für diese Forderung war selbstredend die Befürchtung, die neubekehrten Christen könnten durch den Kontakt zu ihren ehemaligen jüdischen Verwandten und Freunden entweder selbst wieder ihrer neuen Religion entfremdet werden, oder aber – sozusagen als „Agenten“ ihrer alten Religion und deren Anhänger – heimlich an jüdischen Riten festhalten und andere Christen vom rechten Glauben abzubringen versuchen. Diese Befürchtung findet ihren deutlichen Audruck im 70. Canon des vierten Laterankonzils von 1215: Quidam, sicut accepimus, qui ad sacri undam baptismatis voluntarii accesserunt, veterem hominem omnino non exuunt, ut novum perfectius induant: cum prioris ritus reliquias retinentes, Christianae religionis decorem tali commixtione confundant [...] statuimus ut tales per praelatos ecclesiarum ab observantia veteris ritus omnimodo compescantur, ut quos Christianae religioni liberae voluntatis arbitrium obtulit, salutiferae coactionis necessitas in ejus observatione conservet.231

Um solchen – in manchen Fällen sicher real begründeten, oft aber rein imaginierten – Bedrohungen entgegenzuwirken, die der ambivalenten, hybriden Natur der Konvertiten entsprangen, wurden diese von den christlichen theologischen Autoritäten einer möglichst allumfassenden, geistlichen wie materiell-sozialen Überwachung unterworfen, die ein Schreiben Erzbischof Anselms von Canterbury (1033/34–1109) an den Erzprior Arnulf und den Erzdiakon Wilhelm beispielhaft vor Augen führt: Anselm bittet darin die Adressaten dem Überbringer, einem Konvertiten namens Robert und dessen Familie, in geistlichen und vor allem in wirtschaftlichen Nöten beizustehen, um zum einen den Neubekehrten zu beweisen, daß der christliche Glaube Gott näher ist als der jüdische (probet ex ipsa nostra pietate quia fides nostra propinquior est deo quam Iudaica), und zum anderen diejenigen, die sich aus den Händen des Teufels zu den Knechten Gottes geflüchtet haben (qui ad nos quasi ad servos dei et veros Christianos de manibus diaboli fugit), vor Armut und Schande zu bewahren.232 Die Beispiele Petrus’ Alfonsi und Hermanns von Scheda verdeutlichen, wie jüdische Konvertiten zum Christentum im 11. und 12. Jahrhundert dazu beigetragen haben, daß ihre neuen Glaubensgenossen erste Einblicke in die nachbiblischen Schriften des Judentums erlangten und mit den dar229 230 231 232

Burchardi ‚Decretorum libri‘, Sp. 742. Ivonis ‚Decreti‘, Sp. 124. MANSI, Bd. 22, Sp. 1058. SCHMITT (Hrsg.): Anselmi ‚Opera‘, Bd. 5, Nr. 380, S. 323f.; vgl. dazu JACOBS: Jews, S. 12.

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in enthaltenen Stoffen und Motiven in Berührung kamen. Neben den direkten Kontakten zwischen Juden und Christen im selben Zeitraum, die zwar ebenfalls in schriftlichen Quellen greifbar sind, die aber noch nicht zur schriftlichen Fixierung kulturellen Transfers führten, sondern nurmehr auf direktem mündlichen Wege einen Teil der Erzählungen vermittelten, die ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts dann ihren Niederschlag in der volkssprachlichen Dichtung des deutschen Mittelalters fanden, bildet die Vermittlungsleistung der Konvertiten die zweite bedeutende Form jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter. Die dritte Art und Weise, wie jüdische Erzählstoffe während des Hochmittelalters ihren Weg von ihrem urspünglichen kulturellen Archiv in das der westlichen Christenheit gefunden haben, stellt schließlich das im 12. Jahrhundert einsetzende Interesse christlicher Theologen an der hebräischen Sprache und vor allem an der zeitgenössischen jüdischen Bibelexegese dar. 4. Das Interesse christlicher Theologen am Hebräischen im 12. und 13. Jahrhundert Die Zeit des 12. und 13. Jahrhunderts ist mit Recht als “a period of intensive Christian study of Hebrew sources“233 beschrieben worden, was ursächlich mit einem grundsätzlichen Neuinteresse der christlichen Theologie des europäischen Hochmittelalters zusammenhängt, das wiederum in zwei „Entdeckungen“ mündete: Der Beginn des 12. Jahrhunderts markiert den Wiederbeginn philologischer Studien am Text der lateinischen Bibel durch christliche Theologen,234 die seit der Festlegung des Vulgata-Textes durch den Kirchenvater Hieronymus im frühen 5. Jahrhundert mehr oder minder vollständig geruht hatten, wenn man von vereinzelten Versuchen der Textrevision wie denen Alkuins im 8. Jahrhundert einmal absieht. Der hochmittelalterliche Wiederbeginn nahm seinen Ausgang in erster Linie vom Zisterziensermutterkloster Citeaux unter seinem Abt Stephan Harding (1060–1134). Harding berichtet in einem Rundschreiben235 an andere Klöster seines Ordens, seine Mönche hätten begonnen, die Bücher des Alten Testaments aus verschiedenen lateinischen Handschriften zu kopieren, die zuvor aus unterschiedlichen Bibliotheken entliehen worden waren. Sehr schnell seien ihm bei der Überprüfung dieser Arbeit eine ganze Reihe textlicher Differenzen und Diskrepanzen aufgefallen, zu deren Lösung er sich an einen der berühmtesten jüdischen Lehrer der Region mit der Bitte 233 OLSZOWY-SCHLANGER: Knowledge, S. 107. 234 Vgl. dazu GRABOIS: Veritas, S. 617f. 235 Vgl. Stephani ‚Censura‘, Sp. 1373–1376.

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gewandt habe, ihm in der Volkssprache die hebraica veritas zu erläutern, wie auch den Sinn des Targum, der antiken aramäischen Bibelübersetzung. Aus der altfranzösischen, mündlich vermittelten Fassung übersetzte Harding sodann den lateinischen Text des Alten Testaments,236 der fortan proskriptiven Charakter für alle weiteren zisterziensischen Bibelhandschriften besaß. Der nicht näher namentlich bezeichnete jüdische Lehrer war aller Wahrscheinlichkeit nach ein Mitglied der Schule Raschis in Troyes, “whose fame was well established not only among Jews, but even in certain Christian circles“237. Die erste Entdeckung, die christliche Theologen im Zuge ihrer neuen textkritischen Bemühungen zu Beginn des 12. Jahrhunderts machten, war die praktische Bedeutung der hebräischen Sprache. Zwar hatte das Hebräische für das Christentum schon immer eine ideologische Bedeutung als eine der drei heiligen Sprachen besessen: Tres sunt autem linguae sacrae: Hebraea, Graeca, Latina, quae toto orbe maxime excellunt (Isidor von Sevilla ‚Etymologiae‘ IX,1,3),238 doch eine tatsächliche, und sei es auch nur rudimentäre Kenntnis dieser Sprache, oder auch des Griechischen, kann nur bei einer verschwindend geringen Zahl mittelalterlicher Theologen der Westkirche nachgewiesen werden. So ist es zum Beispiel selbst im Falle eines so bedeutenden Denkers des frühen 12. Jahrhunderts wie Petrus Abaelard nicht mit letzter Sicherheit zu klären, ob seine Empfehlung an Héloïse und die Nonnen des Klosters Paraklet, Hebräisch und Griechisch zu lernen, um den ursprünglichen Text der Bibel verstehen zu können,239 Rückschlüsse auf den Grad seiner eigenen Beherrschung dieser beiden Sprachen erlaubt.240 Doch bereits der Inhalt dieser Empfehlung verdeutlicht, welche praktische Wichtigkeit den beiden anderen heiligen Sprachen des Christentums über ihre immanente Heiligkeit hinaus und im Gegensatz zu früheren Phasen der christlichen Theologie des europäischen Mittelalters seit dem 12. Jahrhundert zuerkannt wurde. Da jedoch auch dieje236 Stephani ‚Censura‘, Sp. 1375: Unde nos multum de discordia nostrorum librorum, quos ab uno interprete suscepimus, admirantes, Judaeos quosdam in sua Scriptura peritos adivimus, ac dilligentissime lingua Romana inquisivimus de omnibus illis Scripturarum locis, in quibus illae partes et versus, quos in praedicto nostro exemplari inveniebamus, et jam in hoc opere nostro inserebamus, quosque in aliis multis historiis Latinis non inveniebamus; vgl. dazu auch OLSZOWY-SCHLANGER: Knowledge, S. 108 Anm. 5; BERGER: Christiani, S. 9f. 237 GRABOIS: Veritas, S. 618. 238 Vgl. als volkssprachiges Beispiel für diese Ansicht auch den ‚Renner‘ aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts: Jüdisch, kriechisch und latîn / Müezen in allen messen sîn, / Wenne aller sprâche lêrerîn / Ist kriechisch, sô muoz jüdisch sîn / Der sprâche muoter über alliu lant, / Daz ist den wîsen wol bekannt: / Aber aller sprâche künigîn / Über alle die werlt ist latîn (v. 22325–22332). 239 Vgl. Petri Abaelardi ‚Epistola IX‘, Sp. 326: nec solum Latinis, verum etiam Graecis litteris operam dari praecipit, cum utraeque linguae tunc Romae frequentarentur, et maxime propter scripturas de Graeco in Latinum versas [...]. Nondum enim Hebraicae veritatis translatione Latinitas utebatur. 240 Vgl. dazu GRABOIS: Veritas, S. 617 Anm. 20.

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nigen Theologen, die die Bedeutung des Hebräischen nachdrücklich vertraten, über keinerlei wirkliche Kenntnisse in dieser Sprache verfügten – wie schon das Beispiel Stephan Hardings zeigt –, mußten sie sich auf ihrer Suche nach Gewährsleuten und Lehrern an diejenige Gruppe wenden, in der das Hebräische, wenngleich eher als schriftlich denn mündlich verwendete Sprache, seit der Antike lebendig geblieben war: an die Gelehrten unter ihren jüdischen Zeitgenossen. Dieser direkte Kontakt führte nunmehr beinahe zwangsläufig zur zweiten „Entdeckung“, die christliche Theologen im 12. Jahrhundert machten: sie entdeckten die nachbiblischen, außerkanonischen Schriften ihrer koterritorialen Juden,241 und zwar zunächst die Bibelkommentare ihrer Zeitgenossen und bald darauf die bis in die Antike zurückreichende Traditionsliteratur in Talmud und Midrasch.242 Diese zweite Entdeckung erfolgte nahezu zeitgleich mit den Bemühungen der Zisterzienser von Citeaux, einen verläßlichen Text des Alten Testaments herzustellen, allerdings in einer gänzlich anderen theologischen Umgebung, in der 1108 von Wilhelm von Champeaux (1070–1122) begründeten und von König Ludwig VI. (1081–1137) reich dotierten Abteischule von St. Viktor in Paris.243 Ab 1118 lehrte dort der vermutlich aus Sachsen stammende Hugo von St. Viktor (1096–1141),244 der erste bedeutende Lehrer an dieser Schule, dessen Bemühungen um die Exegese des Bibeltextes ihn den Kontakt mit jüdischen Gelehrten seiner Zeit suchen ließ. Auf diesem Weg folgten ihm seine beiden Schüler Richard, der aus Schottland stammte, seit 1162 das Prioramt in St. Viktor bekleidete und 1173 daselbst starb,245 und vor allem Andreas (1110–1175), der spätere Abt des westenglischen Wigmore,246 sowie Petrus Comestor (1100–1179), 241 RUH: Geschichte, Bd. 3, S. 46, sieht dagegen erst die anfangs des 13. Jahrhunderts einsetzende christliche Maimonides-Rezeption als Beginn christlicher Beschäftigung mit jüdischem Gedankengut; sein ebd. gefälltes Diktum: „Jüdisches Denken war bis dahin kein Gegenstand des Interesses christlicher Theologen und Philosophen“, entbehrt jedoch jeglicher Grundlage. 242 Vgl. dazu generell LOEWE: Midrashim, S. 492–514. Neben Bibel und Talmud erlebten auch die Schriften des antiken jüdischen Schriftstellers Flavius Josephus (37–95) im 12. und 13. Jahrhundert ihren christlichen Rezeptionshöhepunkt, vgl. LIEBL: Flavius-JosephusHandschriften, S. 21f.; aufgrund des sogenannten testimonium Flavianum, einer spätantikchristlichen Interpolation in den ‚Antiquitates Iudaicae‘ (XVIII,3,3), die Zeugnis über Jesu Kreuzigungstod ablegt, galt Josephus dem europäischen Mittelalter jedoch weitaus mehr als (proto-)christlicher denn als jüdischer Autor. 243 Vgl. dazu immer noch die ausführliche Untersuchung von SMALLEY: Study, S. 83–195; vgl. auch SCHÄFER: Bibelauslegung, S. 63f. 244 Allgemein zu Hugos Leben und Werk vgl. CROYDON: Notes, S. 232–253. 245 Zu Richard von St. Viktor vgl. SMALLEY: Study, S. 106–111. 246 Zu Andreas von St. Viktor vgl. ausführlich SMALLEY: Study, S. 154–172; SMALLEY: Andrew, S. 358–373.

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der, zunächst in Troyes ausgebildet und schließlich Dekan der dortigen Kathedrale, ab 1165 in Paris und zuletzt Regularkanoniker in St. Viktor war.247 Im Gegensatz zu Stephan Harding mußten sich die Viktoriner jedoch nicht erst auf die mühselige Suche nach jüdischen Gewährsleuten machen – Paris hatte sich an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert nicht nur zu einem christlichen, sondern auch zu einem jüdischen Bildungszentrum entwickelt. Insbesondere die Schule der Tossafisten, in direkter Filiation entstanden aus dem Schülerkreis Raschis und in der ersten Generation dominiert von dessen Enkeln Samuel ben Meir, genannt Raschbam (gest. 1158) und Jakob ben Meir, genannt Rabbenu Tam (gest. 1171), wurde zu der prägenden Lehrinstanz des hochmittelalterlichen Judentums Zentraleuropas, deren Wirkung nicht allein auf Nordfrankreich beschränkt blieb, sondern mit der bereits im 12. Jahrhundert einsetzenden Rezeption in den Gemeinden des Reichs schnell ganz Aschkenas prägte. Die späteren Tossafistengenerationen waren dementsprechend vorrangig im deutschen Sprachraum beheimatet. Das neuartige System der twpswt, also wörtlich der „Ergänzungen“ und zwar zu den Bibel- und Talmudkommentaren Raschis, kann dabei den Einfluß paralleler christlicher Geistesströmungen der Zeit nicht verleugnen: the tosafists [...] developed an ideology around the supreme value of studying the Babylonian Talmud, of probing its contradictions and resolving them dialectically by using a scholastic method similar to that used in Peter Abaelard’s theological writings; Gratian’s synthesis of canon law in the ‚Decretum‘; and Irnerius’s achievement, even earlier in Bologna, of systematizing Roman law.248

So wie die jüdische Seite in Form der frühen Tossafisten kulturelle Einflüsse auf ihr Forschungs- und Lehrsystem aus dem koterritorialen Archiv der Christen empfing, so empfing auch die christliche Seite in Form der Schule von St. Viktor ähnliche Einflüsse, ja sie suchte sogar danach, indem sie bewußt den Rat der Hebraei einholte, wie es des öfteren in ihren bibelexegetischen Schriften heißt.249 Der gemeinsam von Juden und Chri247 Zu Petrus vgl. einführend DALY: Peter, S. 62–73. 248 MARCUS: ‚Sefer Hasidim‘, S. 18. 249 Dabei handelt es sich im einzelnen um Hugos ‚Adnotationes elucidatoriae‘ zu Gen-Lev, Jud und Reg I–IV, Richards ‚De tabernaculo‘, sowie Andreas’ ‚Explanatiunculae‘; während die beiden erstgenannten Schriften in der PL vorliegen, ist Andreas’ Werk trotz seiner weiten mittelalterlichen Verbreitung noch immer unediert und wurde daher in zwei handschriftlichen Textzeugen herangezogen: Cambridge, University Library, Ms. Pembroke 45, und Paris, Bibliothèque Mazarine, Ms. 175. Neben Raschis Bibelkommentar werden vor allem die Werke folgender Tossafisten von den Viktorinern zitiert: Raschbam, Josef ben Simon Karo (1060–1130) und Josef ben Isaak Bechor Schor (Mitte 12. Jh.). Vgl. zu Verweisen auf jüdische Gewährsleute in diesen Texten GRABOIS: Veritas, S. 621–623; SMALLEY: Study, S. 103f. Dagegen ist die direkte Abhängigkeit Petrus’ Comestor, in dessen ‚Historia scholastica‘ Formulierungen wie narrant Hebraei oder fabulantur Judaei regelmäßig vorkommen, von jüdischen Informanten umstritten. Bejaht wurde Petrus’ direkter Kontakt mit Juden

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sten geteilte Raum – die Stadt Paris – und die gemeinsam geteilte Kommunikationsform – die altfranzösische Sprache – bedingten und ermöglichten diesen beiderseitigen Kulturtransfer: The residence of Jews and Christians in the same town promoted daily contacts and continuous relations between Christian masters and Jewish scholars. The Catholic scholar no longer had to search, like Alcuin and Stephen Harding, for famous Jewish Rabbis to explain, sporadically, the sense of the text or to wonder whether the journey to such a master would be worth the effort. The synagogue where a Jewish master taught was located nearby, and he was normally able to meet his consultant after a short walk in the limited area of his own town.250

Ein Beispiel aus den Schriften der Viktoriner soll hier ausreichen, um zu illustrieren, welche Ergebnisse diese Form des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter hervorbrachte – Hugos von St. Viktor notula zu Gen 49,10, einer der am häufigsten christologisch gedeuteten Textstellen des Alten Testaments.251 Der hebräische Urtext dieses Verses lautet: thqy wlw hly# )by-yk d) wylgr }ybm qqxmw hdwhym +b# rwsy-)l 252;{ym(

Die Vulgata übersetzt dies mit: Non auferetur sceptrum de Iuda, / Et dux de femore eius, / Donec veniat qui mittendus est, / Et ipse erit expectatio gentium, lädt also die zweite Vershälfte messianisch-christologisch auf. Dieser traditionellen christlichen Lesart, die auch Hugo zuerst präsentiert, widerspricht jedoch das gängige jüdische Textverständnis, so daß er sich im weiteren dazu veranlaßt sieht, in neutraler Formulierung auch die Auslegung seiner jüdischen Gewährsleute vorzustellen: Donec veniat qui mittendus est. In Hebraeo est, donec veniat Silo, ubi Saul a Samuele inunctus est in regem. Et est sensus usque ad Saulem, et post eum habebit Judas principatum; quia eripuit scili-

von SHERESHEVSKY: Traditions, S. 268–289, vor allem mit dem Hinweis, daß Petrus sich zur gleichen Zeit wie Raschbam und Rabbenu Tam in einer doch ziemlich kleinen Stadt wie Troyes aufgehalten hat. Verneint, oder doch zumindest grundsätzlich in Frage gestellt, hat diese Ansicht FELDMAN: Source, S. 93–121, der als Quellen der ‚Historia scholastica‘ in aller Regel die Schriften Hieronymus’, Hugos und Andreas’ von St. Viktor ausmacht. So gibt es z.B. im Exodusteil des Werks insgesamt 113 Verweise auf jüdisches Material, davon sind aber nur ganze 38 Fälle nicht schon vorher bei christlichen Autoren zu finden, und von diesen 38 erweisen sich ganze vierzehn Stellen als deutliche Parallelen zu Raschis Exodus-Kommentar (ebd., S. 121). Doch selbst die letztgenannten Beispiele sprechen nach FELDMAN nicht automatisch für einen direkten Kontakt zwischen Petrus und zeitgenössischen jüdischen Autoritäten: „Comestor might have obtained such information from Jewish converts to Christianity“ (ebd.). 250 GRABOIS: Veritas, S. 619. 251 Vgl. zur Auslegungsgeschichte dieser Bibelstelle ausführlich POSNANSKI: Schiloh. 252 „Nicht weichen wird das Zepter von Juda, noch der Herrscherstab von seinen Füßen, bis der von Schilo kommt, und ihm wird der Gehorsam der Völker.“

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cet Joseph a manibus fratrum suorum. Quod sequitur: Et ipse erit expectatio gentium, Hebraei hoc totum ad ipsum referunt, de qua Dominus respondit: Judas ascendet pro vobis in praelium.253

Das Vorgehen der Viktoriner stieß jedoch schon bald auf die Kritik anderer theologischer Denkrichtungen der Zeit. Über Auseinandersetzungen innerhalb der Schule selbst hinaus, die zum Beispiel dazu führten, daß Richard von St. Viktor seinem Mitbruder Andreas judaisierende Tendenzen unterstellte und in einem eigens zu diesem Zweck geschriebenen Traktat dessen Interpretation von Jes 7,14254 zurückwies,255 formulierten vor allem die frühen Dekretisten, die sich zeitgleich mit den Bemühungen der Viktoriner um die hebraica veritas mit der Ordnung und Systematisierung des kanonischen Rechts befaßten, grundsätzliche Bedenken gegen das Vorgehen der Pariser Schule. Bereits Gratians erster bedeutender Bologneser Kommentator, Rufinus (gest. nach 1180), lehnte die Befragung jüdischer Gewährsleute zur Klärung exegetischer Probleme mit dem Argument ab, die Juden hätten den hebräischen Text des Alten Testaments seit Hieronymus’ Vulgata-Übersetzung nicht in seiner ursprünglichen Form bewahrt, sondern vielmehr mutwillig korrumpiert, weshalb die lateinische Fassung des Kirchenvaters allen anderen Fassungen vorzuziehen sei (‚Summa decretorum‘ IX,6). Nichtsdestoweniger blieb vor allem Paris, insbesondere durch den 1215 vollendeten Zusammenschluß der zuvor getrennten Schulen zur Universität,256 das Zentrum der wissenschaftlichen Auseinandersetzung christlicher Kreise mit jüdischen Überlieferungen – dem Interesse an der jüdischen Bibelexegese hatte sich sehr schnell das Interesse an aristotelischer Philosophie hinzugesellt, die vornehmlich auf dem Wege hebräi253 Hugonis ‚Adnotationes elucidatoriae in Pentateuchon‘, Sp. 59. 254 Vgl. Andreas von St. Viktor ‚Explanatiunculae‘: Hanc de concepcione et nativitate Salvatoris nostri et integritate et virginitate matris ejus semper virginis apertissimam prophetiam prout justum est cum de ipsis exponimus. Insurgentes in nos Judei, veritatis inimici, sue cavillacionis ariete firmissimum fidei nostre murum labefactare conantur. Primo dicunt quod in hebraico non habetur besula, que vox virginem, sed alma, que nunc juvenculam, nunc absconsam significat. A quibus cum opponentes querimus quomodo future liberacionis signum esse possit, quod junioris etatis femina vel abscondita et secreta concipiat et pariat cum hoc frequentissime fieri videamus, respondent dicentes: In hoc signum erat quod ea que nondum conceperat in prima ad eam viri accessione conceptura erat et masculum paritura, qui ab ipso populo vel matre Emmanuel nominaretur (Cambridge, University Library, Ms. Pembroke 45, fol. 9va). 255 Vgl. Richardi ‚De Emmanuele libri‘, Sp. 601f.: In quemdam magistri Andreae tractatum, quem in Isaiae explanationem scripserat, simul et ediderat, incidi, in quo nonnulla minus caute posita, minus catholice disputata inveni. In multis namque scripturae illius locis ponitur Judaeorum sententia quasi sit non tam Judaeorum quam propria, et velut vera. Super illum autem locum: Ecce virgo concipiet, et pariet filium, Judaeorum objectiones vel quaestiones ponit, nec solvit, et videtur velut eis palmam dedisse, dum eas veluti insolubiles relinquit. In ejusmodi itaque positionibus scandalizantur peritiores, infamantur imperitiores, in tantum ut usque hodie ex ejus discipulis existant qui supra positam prophetiam non de beata Maria, quin potius de prophetissa dictam contendant; vgl. dazu OLSZOWY-SCHLANGER: Knowledge, S. 108 Anm. 5; GRABOIS: Veritas, S. 624. 256 Vgl. zu diesem Konsolidierungsprozeß FLASCH: Denken, S. 194f. u. 256.

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scher Übersetzungen aus dem Arabischen rezipiert wurde. Zwar versuchten einzelne christliche Theologen wie Stephan Langton (1150–1228), Schüler Petrus’ Comestor und Kommentator der ‚Historia scholastica‘, später Kanzler der Pariser Universität sowie schließlich Erzbischof von Canterbury, den möglichen Einfluß jüdischer Lehrer auf ihre christlichen Schüler zu minimieren, indem er ein hebräisch-lateinisches Vokabularium biblischer Begriffe anlegte,257 doch die Mehrzahl der am Hebräischen interessierten Christen entwickelte keinerlei Werkzeuge für eine methodische oder strukturierte Aneignung dieser Sprache und war somit weiterhin auf die Hilfe von Juden oder jüdischen Konvertiten angewiesen.258 Allerdings entstand durch diese Form des mittelalterlichen jüdisch-christlichen Kulturtransfers eine Reihe zweisprachiger Handschriften, in denen entweder der hebräische Text des Alten Testaments oder Raschis Bibelkommentar mit lateinischen Interlinearübersetzungen oder umfangreichen lateinischen Marginalglossen versehen wurden.259 So enthalten zum Beispiel die 49 Oktavblätter der Handschrift Or. 621260 der Bodleiana einen hebräischen Psalter in aschkenasischer Halbkursive des 12./13. Jahrhunderts261 mit lateinischen – und einigen wenigen altfranzösischen und hebräischen – Glossen von insgesamt drei verschiedenen Händen des 13. Jahrhunderts, die zum Teil eine intensive Beschäftigung der christlichen Glossatoren mit dem hebräischen Text verraten: Auf fol. 2v annotiert die dritte Hand zu der Verbform hghy aus Ps 1,2 – wörtlich „er sinnt nach“, Vulgata meditatur – die lateinischen Lexeme dolor, predicatio und loquela, verbindet sie also mit dem tatsächlich etymologisch verwandten Substantiv hgh („Geräusch, Gemurmel“). Zuweilen reflektieren diese Manuskripte selbst noch in ihrer schriftlichen Medialität ihren mündlichen Entstehungsprozeß, wie die bereits erwähnte zweisprachige Handschrift des Raschi-Kommentars zu den prophetischen und hagiographischen Büchern des Alten Testaments aus dem späten 12. Jahrhundert (Oxford, Corpus Christi College, Ms. 6). Hier sind nur Teile des hebräischen Textes 257 Langtons Glossar ist bis heute ungedruckt, die handschriftliche Überlieferung umfaßt zwei Textträger: Montpellier, Ecole de Médicine, Ms. 341 (vollständig), und Troyes, Bibliothèque municipale, Ms. 1385 (gekürzte Bearbeitung). Das Explicit der vollständigen Fassung betont das enorme Interesse, das Langtons Schüler und Kollegen an seinem Werk gehabt haben: expliciunt interpretationes magistri Stephani de Longotona qua ipse composivit et de archivis transtulit Hebreorum ad petitionem sotiorum suorum scolarum (fol. 81r). 258 Vgl. zu dieser paradoxen Erscheinung OLSZOWY-SCHLANGER: Knowledge, S. 107f.; LOEWE: Hebraists, S. 209. 259 Z.B. Oxford, Bodleian Library, Ms. Or. 3, Oxford, Bodleian Library, Ms. Or. 62, oder Oxford, Corpus Christi College, Ms. 6; vgl. dazu ausführlich OLSZOWY-SCHLANGER: Knowledge, S. 111–126. 260 Zur Handschrift vgl. NEUBAUER: Catalogue, Bd. 1, Nr. 112. 261 Vgl. dazu BEIT-ARIÉ: Makings, S. 134 Anm. 39.

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interlinear mit einer lateinischen superscriptio versehen worden und just diese Teile enthalten, im Gegensatz zum gewöhnlichen Usus, eine äußerst spezifische, diakritische Vokalpunktation (dwqn): Unlike most ‚bilingual‘ manuscripts, the vowels in this manuscript do not correspond to the standard Tiberian vocalization, but rather record the pronunciation of the text using a simplified vowel code. This confirms that the vowels were not copied from an existing vocalized exemplar of Rashi’s commentary (which were in any case rarely vocalized), but were put down following oral instructions. As for the identity of the teachers, there can be little doubt that some of them were Jewish ‚native informants‘: this is explicitly stated in some of the manuscripts, and otherwise suggested by the use of French, the usual medium of communication between Christians and Jews.262

Wie bereits erwähnt, stießen diese engen christlich-jüdischen Kontakte nicht bei allen Theologen des 12. und 13. Jahrhunderts auf Verständnis, sie erregten im Gegenteil den Unmut nicht nur der Dekretisten, sondern schließlich auch Papst Gregors IX. (1227–1241). Bereits kurze Zeit nach Beginn seines Primats hatte Gregor die Lehrer der Pariser Artistenfakultät wegen ihrer intensiven Beschäftigung mit aristotelischem Gedankengut getadelt.263 Am 13. April 1231 wiederholte er diesen Tadel und verband ihn zugleich mit einer generellen Kritik an den Hebräischstudien, die an der Universität betrieben wurden: Magistri vero et scolares theologie in facultate quam profitentur se studeant laudabiliter exercere, nec philosophos se ostentent, sed satagant fieri theodocti, nec loquantur in lingua populi et populi hebream cum azotica confundentes, sed illis tantum in scolis quaestionibus disputent, que per libros theologicos et sanctorum patrum tractatus valeant terminari.264

Gregor und insbesondere dessen Amtsnachfolger Innozenz IV. (1243– 1254) verstärkten diese Kritik in den vierziger Jahren des 13. Jahrhunderts nochmals, was ursächlich mit einem anderem Feld der nachbiblischen hebräischen Literatur zusammenhängt, das sich christlichen Theologen seit dem 12. Jahrhundert durch die Entdeckung des Hebräischen neben dem Alten Testament und seinen jüdischen Kommentaren erschlossen hatte – die talmudische und midraschische Überlieferung.

262 OLSZOWY-SCHLANGER: Knowledge, S. 126. 263 Vgl. zu dieser Beschäftigung FLASCH: Denken, S. 267: „Der Westen war seit dem 12. Jahrhundert dabei, die Natur und die natürlichen Bedingungen des gesellschaftlichen Lebens zu entdecken. Die augustinische Weltdeutung hatte keine Antwort auf viele Fragen, die sich jetzt stellten. [...] In einer auf Selbstbestimmung bedachten städtischen Zivilisation blieb das theokratische Modell der Menschenführung nicht mehr länger unbestritten. Für eine expandierende Gesellschaft gewann die empirische Welterforschung an Bedeutung; ihr Verhältnis zur Philosophie, vor allem aber zur monastischen Daseinsdeutung und Wertetafel wurde zum Problem.“ 264 DENIFLE/CHATELAIN (Hrsg.): Chartularium, Bd. 1, S. 138.

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Diese letzte Entdeckung, die christliche Theologen im Verlauf des Hochmittelalters in bezug auf ihre jüdischen Zeitgenossen und deren literarisch-kulturelle Traditionen machten, spielt eine an Bedeutung kaum zu überschätzende Rolle in der Entwicklungsgeschichte der christlichen antijüdischen Polemik dieses Zeitraums, die der Historiker AMOS FUNKENSTEIN in vier aufeinander folgende Phasen eingeteilt hat:265 Die erste Phase ist geprägt durch die beständige Wiederholung des bereits in die christliche Antike zurückreichenden literarischen Musters der ‚Dialogi cum Judaeis‘ oder ‚Tractatus contra Judaeos‘, in denen eine Reihe alttestamentlicher Zitate – zumeist aus Jes 52,13–53,12, dem Abschnitt über den „Gottesknecht“ – mittels typologischer Bibelexegese als auf Jesu Messianität hindeutend ausgelegt wird und dadurch den Juden ihre spirituelle Blindheit vor Augen geführt werden soll. Diese Form christlicher antijüdischer Beweisführung war so verbreitet, daß schon im 10. Jahrhundert entsprechende jüdische Gegenschriften zu ihrer Entkräftigung verfaßt wurden, unter anderem von der führenden rabbinischen Autorität des Vorderen Orients in diesem Zeitraum, Saadja ben Josef (892–942), dem Leiter der Talmudhochschule von Sura, in seinem Kommentar zum Buche Jesaja.266 Als hochmittelalterlichen theologischen Endpunkt dieser Phase christlicher Polemik benennt FUNKENSTEIN Hugo von St. Viktor.267 Der Rationalismus der Frühscholastik veränderte auch die Natur des polemischen Verhältnisses zwischen Christen und Juden und markiert den Übergang zur zweiten Phase, insofern Texte wie die ‚Dialogi‘ des Petrus’ Alfonsi oder Abaelards (1079–1142) Gespräch zwischen einem Philosophen, einem Juden und einem Christen weitgehend auf die überkommene Methode des typologischen Schriftbeweises verzichten und stattdessen die Superiorität des Christentums oder die Inferiorität des Judentums aus ihrem jeweiligen Rationalitätsgrad zu erweisen suchen.268 Die dritte Phase ist gekennzeichnet durch die christliche „Entdeckung“ des Talmud, die jedoch schon in der vorhergehenden Phase im Werk des Konvertiten Petrus Alfonsi vorbereitet worden war. Als Hauptvertreter erscheint nun Petrus Venerabilis (1092/94–1156), der in seiner zwischen 1144 und 1147 entstandenen Schrift ‚Adversus Iudeorum inveteratam duritiem‘ die nachbiblische jüdische Literatur als ketzerisch brandmarkt, ketzerisch selbst im Sinne des Judentums, denn darin hätten sich die Juden, entgegen ihrem 265 FUNKENSTEIN hat diese Einteilung zuerst 1968 in einem hebräischen Aufsatz vertreten, vgl. FUNKENSTEIN: twrwmth, S. 125f.; eine, allerdings gekürzte, englische Fassung dieses Aufsatzes erschien drei Jahre später, vgl. FUNKENSTEIN: Types, S. 373–382; vgl. auch SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 73. 266 Text bei ALOBAIDI (Hrsg.): Messiah, S. 35–48. 267 Vgl. FUNKENSTEIN: twrwmth, S. 126–129. 268 Vgl. FUNKENSTEIN: twrwmth, S. 129–137.

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göttlich geoffenbarten, alttestamentlichen Auftrag, eine geheime, teuflische, antichristliche alia oder nova lex geschaffen. Der Abt von Cluny legte mit dieser Argumentation den Grundstein für die Talmudprozesse Mitte des 13. Jahrhunderts.269 In der vierten Phase wird schließlich das neuentdeckte außerkanonische Schrifttum der Juden nicht mehr als Beweis ihrer widergöttlichen Haltung gelesen, sondern es werden, sozusagen in Rückkehr zur Vorgehensweise der ersten Phase, talmudische und midraschische Sentenzen christologisch gedeutet, um den immer noch glaubensblinden Juden sogar aus ihren eigenen Schriften die Wahrheit des Christentums und seiner Dogmen zu beweisen. Diese letzte Phase hochmittelalterlichchristlicher Judenpolemik beginnt nach FUNKENSTEIN bereits mit Alanus ab Insulis (1125/30–1203).270 Entscheidenden Einfluß auf das Bild des Talmud in der Vorstellungswelt und Literatur des hochmittelalterlichen Christentums übte neben Petrus Alfonsi also Petrus Venerabilis aus,271 einer der angesehensten und aufs Engste mit den politischen Bestrebungen und Auseinandersetzungen seiner Zeit verbundenen Kirchenmänner des 12. Jahrhunderts. Seine Einschätzung der jüdischen Texttraditionen – credo nullum esse rationale animal, non solum in caelis, non solum in terris, sed nec apud inferos, qui hunc Iudaicum sensum non exspuat, non derideat, non execretur272 – setzte den Standard christlicher Talmud- und Midraschrezeption für die nachfolgenden Jahrhunderte. Ähnlich wie zuvor schon Petrus Alfonsi, dessen ‚Dialogi‘ Petrus Venerabilis gekannt und für seine eigene Schrift benutzt haben dürfte,273 wenngleich er den aragonesischen Konvertiten oder dessen Werk kein einziges Mal namentlich erwähnt,274 stößt sich der Cluniazenserabt vor allem an talmudischen Passagen, die ihm zugleich blasphemisch und irrational erscheinen, wie zum Beispiel Stellen, die Gott selbst über die Zer269 Vgl. FUNKENSTEIN: twrwmth, S. 137–141. 270 Vgl. FUNKENSTEIN: twrwmth, S. 141f. 271 Vgl. dazu grundsätzlich SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 87f., 103–106, 115–117 u. 128– 133; PATSCHOVSKY: „Talmudjude“, S. 13–27; SCHRECKENBERG: Adversus-JudaeosTexte, Bd. 2, S. 78–83. 272 FRIEDMAN (Hrsg.): Petri Venerabilis ‚Adversvs Ivdeorvm inveteratam dvritiem‘, S. 150. 273 Vgl. SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 168 Anm. 58: “It is likely that the abbot of Cluny knew Alfonsi’s work, but he must have had other sources for the Talmud as well“; vgl. zur Quellenfrage auch FRIEDMAN (Hrsg.): Petri Venerabilis ‚Adversvs Ivdeorvm inveteratam dvritiem‘, S. XIV–XX; KNIEWASSER: Polemik, S. 34–76; LIEBERMAN: }y(yq#, S. 27–42. 274 Vielmehr stellt Petrus Venerabilis seine Kenntnisse der talmudischen Geschichten als auf einer wunderbaren Offenbarung beruhend dar: Sed miraris, cum Iudeus non sim, unde michi hoc nomen innotuit, unde auribus meis insonuit, quis michi secreta Iudaica prodidit, quis intima uestra et occultissima denudauit? Ille inquam, ille, ille Christus quem negas, illa ueritas denudauit falsitatem tuam, discooperuit ignominiam tuam, quae loquitur: Nichil opertum quod non reueletur et occultum quod non sciatur (FRIEDMAN (Hrsg.): Petri Venerabilis ‚Adversvs Ivdeorvm inveteratam dvritiem‘, S. 126).

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störung des Jerusalemer Tempels weinen und brüllend wie ein Löwe oder gurrend wie eine Taube klagen lassen und die hier wie schon in den ‚Dialogi‘ zu einer Geschichte zusammengezogen werden (bBerachot 3a, 7a und 59a): Dicitis et in caelesti illa et ueracissima scriptura uestra Thalmuth legitis Deum cotidie semel in die plorare et ab eius oculis duas prodeuntes lacrimas in magnum mare decidere et has illum esse affirmatis fulgorem qui tempore nocturno cadere uidetur de stellis. Fletus quoque ipsius quem Deo ascribitis causam Iudeorum captiuitatem esse dicitis. Quin etiam propter dolorem eum ter in die ut leonem rugire et ea de causa caelum pulsare pedibus more calcantium in torculari asseritis. More insuper columbae quendam susurrii sonitum dare et quaque uice caput mouere et dolentis dicere uoce: Heu michi, heu michi! Vtquid domum meam in desertum redegi et templum meum cremaui et filios meos in gentes transtuli! Heu patri qui transtulit filios suos et heu filiis qui translati sunt de mensa patris sui. Dicitis etiam quod quidam doctorum uestrorum hanc audierint uocem in quodam ruinoso loco propterea quod tanquam prurientes inuicem collidat pedes, et more dolentis manibus plaudat, et quia cotidie orat ut misericordia eius sit super iram eius et ut eat in populo suo in misericordia.275

Neben dem babylonischen Talmud, der insgesamt mit gut dreißig verschiedenen aggadischen Erzählungen herangezogen wird, kennt Petrus Venerabilis auch zahlreiche Midraschpassagen276 und schließlich auch Bibel- und Talmudkommentare seiner jüdischen Zeitgenossen: Raschis und Raschbams Erläuterungen werden zu Gen 49,10 zitiert,277 die Kommentare des ersteren scheinen zudem in Petrus’ Diskussion von Deut 3,11; II Reg 12,4; Is 9,6f.; Ps 109,1; Thr 4,20 und bBerachot 54b auf.278 Seine Kritik an allen diesen jüdischen Stoff- und Auslegungstraditionen ist stets die gleiche: “Like Alfonsi before him, Peter also assumed that Jews read the allegorical language of the Talmud literally. [...] Peter’s own additions to and adaptations of the Talmudic passages he quoted made them seem 275 FRIEDMAN (Hrsg.): Petri Venerabilis ‚Adversvs Ivdeorvm inveteratam dvritiem‘, S. 150f.; vgl. Petri Alphonsi ‚Dialogi‘, Sp. 550f.: Nec hoc sufficit eis de Deo dicere, sed eum etiam quotidie semel in die plorare, et ab ejus oculis duas prodeuntes lacrymas in magnum mare dicunt concidere, et has fulgorem esse affirmant illum qui tempore nocturno de stellis videtur cadere. [...] Fletus quoque ipsius quem Deo indigne ascribunt, Judaeorum captivitatem causam esse dicunt; quin etiam propter dolorem eum ter in die ut leonem rugire asserunt, et propter id coelum pulsare pedibus more calcantium in torculari, more etiam columbae quemdam susurri sonitum dare, et quaque vice caput movere, et dolentis dicere voce: Heu mihi, heu mihi! ut quid domum meam in desertum redegi, et templum meum cremavi, et filios meos in gentes transtuli? Heu patri qui transtulit filios suos! et heu filiis qui translati sunt de mensa patris sui ! Dicunt etiam quod quidam doctorum vestrorum hanc audierit vocem in quodam loco rumoso. Praeterea quod tanquam parturientis invicem collidat pedes, et more dolentis manibus plaudat, et quia quotidie orat, ut misericordia ejus sit super iram ejus, et ut eat in populo suo in misericordia. 276 Vgl. unter anderem FRIEDMAN (Hrsg.): Petri Venerabilis ‚Adversvs Ivdeorvm inveteratam dvritiem‘, S. 126, mit Bezug auf Gen rabba LXIV,4, oder S. 156, mit Bezug auf Deut rabba I, 24. 277 Vgl. FRIEDMAN (Hrsg.): Petri Venerabilis ‚Adversvs Ivdeorvm inveteratam dvritiem‘, S. 68 u. 71. 278 Vgl. FRIEDMAN (Hrsg.): Petri Venerabilis ‚Adversvs Ivdeorvm inveteratam dvritiem‘, S. 11, 27, 157–158 u. 160.

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even more offensive.“279 Sein Judentraktat bildet zusammen mit seinen Schriften gegen die Petrobrusianer280 und die Muslime281 ein corpus apologeticum, mit dem Petrus Venerabilis seine Anstrengungen zur Reinhaltung der christlichen Lehre verschriftlichte.282 Der Abt von Cluny bemühte sich zudem, daß seine Erkenntnisse über die wahre Natur der jüdischen Literatur, und damit der Juden selbst, die er canes impudentissimi et porci spurcissimi283 nennt, nicht nur geistliche, sondern auch höchste weltliche Kreise erreichten: In einem Schreiben an den französischen König Ludwig VII. (1120–1180) beschuldigte er die Juden, noch verworfener als die Muslime und somit die ärgsten Feinde der Christen zu sein, da sie beständig gegen Jesus und die christlichen Sakramente polemisierten, während die Bekenner des Islam zumindestens einige Dogmen bezüglich Jesus und Maria mit den Christen teilten.284 Mit ihrer Rezeption – und kritischen Ablehnung – talmudischer und midraschischer Stoffe standen Petrus Alfonsi und Petrus Venerabilis im 12. Jahrhundert weitestgehend allein da, die theologische Landschaft wurde, bezogen auf das christlich-jüdische Verhältnis, von der zwar ebenfalls kritischen, nichtsdestoweniger eher positiven Adaptation jüdischer Bibelexegese geprägt. Diese Situation veränderte sich erst im Laufe des 13. Jahrhunderts grundlegend – Ausgangspunkt war die bereits erwähnte Auseinandersetzung zwischen der Kurie und der Pariser Universität über die Hebräischstudien der Artistenfakultät.285 Die päpstliche Seite gewann in 279 280 281 282

SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 117. Vgl. FEARNS (Hrsg.): Petri Venerabilis ‚Contra Petrobrvsianos hereticos‘. Petrus’ islamfeindliche Schriften sind ediert bei KRITZECK: Peter, S. 204–211 u. 220–291. Die älteste erhaltene Handschrift des Judentraktats – Douai, Bibliothèque municipale, Ms. 381, fol. 131r–177r; entstanden vor 1166 im cluniazensischen Kloster Anchin – hat diese intentio auctoris konserviert: in ihr finden sich, neben anderen kürzeren Schriften, sowohl Petrus’ ‚Contra Petrobrusianos‘ (fol. 66r–108r) als auch sein ‚Contra Saracenos‘ (fol. 177r–195r). Vom gleichen Schreiber stammt übrigens auch eine Abschrift der ‚Dialogi‘ des Petrus Alfonsi (Douai, Bibliothèque municipale, Ms. 199), vgl. dazu FRIEDMAN (Hrsg.): Petri Venerabilis ‚Adversvs Ivdeorvm inveteratam dvritiem‘, S. XXIX. 283 FRIEDMAN (Hrsg.): Petri Venerabilis ‚Adversvs Ivdeorvm inveteratam dvritiem‘, S. 151. 284 Vgl. CONSTABLE (Hrsg.): Letters, Bd. 1, Nr. 130, S. 328: Si detestandi sunt Sarraceni, quia quamuis Christum de uirgine ut nos natum fateantur, multaque de ipso nobiscum sentiant, tamen deum deique filium quod maius est negant, mortemque ipsius ac resurrectionem, in quibus tota summa salutis nostrae est, diffitentur, quantum execrandi et odio habendi sunt Iudaei, qui nichil prorsus de Christo uel fide Christiana sentientes, ipsum uirgineum partum, cunctaque redemptionis humanae sacramenta abiiciunt, blasphemant, subsannant? 285 Eine der Kurie genehme Beschäftigung mit dem Hebräischen – und dem Arabischen – diente hingegen vorrangig missionarischen Zwecken, wie die vor 1351 entstandene Vita des dritten Dominikanergenerals Raimund von Pennafort (1180–1275) zeigt: Demnach läßt eine göttliche Vision Raimund wissen, daß sein Orden dazu aufgerufen ist, den christlichen Glauben unter infideles etiam Judei videlicet et Sarraceni zu verbreiten. Daraufhin läßt er zwanzig Ordensbrüder – mit Erlaubnis des Ordensgenerals und mit Unterstützung der Könige von Kastilien und Aragon – Arabisch lernen. Von diesen Dominikanern werden

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dem Moment die Oberhand in diesem Streit, als sie sozusagen die christliche Entdeckung des Talmud noch einmal wiederholte und argumentativ für ihre Zwecke einsetzte. Am 9. und 20. Juni 1239 sandte Gregor IX. den Königen und Erzbischöfen Frankreichs, Englands, Aragons, Navarras, Kastiliens, Leons und Portugals folgendes Schreiben: Si vera sunt, que de Judeis in regno Francie, et aliis provinciis commorantibus asseruntur, nulla de ipsis esset poena sufficiens, sive digna; ipsi enim sicut accepimus lege veteri, quam Dominus per Moysen in scriptis edidit, non contenti, immo penitus pretermittentes eadem, affirmant legem aliam, que Talmut, id est Doctrina, dicitur, Dominum edidisse ac verbo Moysi traditam; et insertam eorum mentibus mentiuntur tamdiu sine scriptis servatam, donec quidam venerunt, quos Sapientes, et scribas appellant, qui eam, ne per oblivionem a mentibus hominum laberetur, in scripturam, cujus volumen in immensum excedit Textum Biblie, redegerunt; in qua tot abusiones, et nefaria continentur, quod pudori referentibus, et audientibus sunt horrori. Cum igitur hec dicatur esse causa precipua, que Judeos in sua tenet perfidia obstinatos, Fraternitatem vestram monendam, duximus, et hortandam, per Apostolica vobis scripta precipiendo mandantes, quatenus primo Sabbato quadragesime proximo venture, mane, quando Judei in Synagogis conveniunt, universos libros Judeorum vestre Provincie auctoritate nostra capi, et apud Fratres Predicatores, vel Minores faciatis fideliter conservari; invocato ad hoc, si necesse fuerit, auxilio brachii secularis; nihilominus in omnes tam clericos, quam laicos vestre jurisdictioni subjectos, qui libros Hebraicos, si quos habent, per vos generaliter in Ecclesiis, vel specialiter moniti noluerunt assignare, excommunicationis sententiam promulgando.286

Gregors Schreiben greift also das schon bei Petrus Venerabilis formulierte Problem der nova lex wieder auf, die der Talmud nach christlicher Ansicht repräsentiert und damit einen Verstoß gegen göttliches Gesetz und das daraus von Augustinus abgeleitete Duldungsgebot gegenüber Juden aufgrund ihres Wesens als testimonium veritatis göttlicher Offenbarung darstellt. Sein Befehl, alle hebräischen Bücher am 3. März 1240 zu konfiszieren, richtet sich aber explizit nicht nur gegen die Schriften in jüdischem, sondern auch gegen die in christlichem Besitz befindlichen – mit den am Schluß des Schreibens erwähnten Klerikern und Laien, die der Jurisdiktion der Adressaten des päpstlichen Briefs unterworfen sind, können nur Chrimehr als zehntausend Muslime zum Christentum bekehrt. Für die Bekehrung der Juden unternimmt Raimund ähnliche Anstrengungen: In lingua etiam hebraica cum ipsius consilio et favore, fratres aliqui taliter sunt instructi, quod possunt Judeorum convincere malitias et errores, qui jam non possunt, sicut actenus consueverant, audacter negare textum verum et glossas suorum sapientum antiquiorum cum sanctis nostris in hiis que ad fidem catholicam pertinent concordantes. Falsitates insuper et corruptiones quas in Biblia in locis pluribus inseruerant ad occultanda mysteria Passionis et cetera sacramenta fidei, falsarii veritatis per Scrripturas eorum authenticas revelantur; quod est ad eorum maximan confusionem et confirmationem fidei christiane (BALME/PABAN [Hrsg.]: ‚Anonymi Vita S. Raymundi‘, S. 32. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den vom Wiener Konzil 1311 auf Drängen Papst Clemens’ V. (1305–1314) formulierten, allerdings nie umgesetzten Plan zur Gründung dreier Lehrstühle für Hebräisch, Chaldäisch und Arabisch zum Zwecke der Bekehrung der Juden und Muslime mit Hilfe ihrer eigenen Sprachen (KLUGE: Sprachwissenschaft, S. 85 u. 97). 286 GRAYZEL: Church, Nr. 96, S. 240.

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sten und keinesfalls Juden gemeint sein. Zeitgleich mit dem eben zitierten Schreiben erhielt Wilhelm von Auvergne (1180–1249), seit 1228 Erzbischof von Paris und selbst ein guter Kenner der aristotelischen und arabischen Philosophie, eine weitere Mitteilung des Papstes, die per dilectum filium Nicolaum quondam Judeum287 übergeben wurde und vor allem dazu diente, den Überbringer bei den Pariser Theologen einzuführen und seine von der Kurie bestätigte Autorität zu attestieren. Der jüdische Konvertit Nicolaus Donin wurde folgerichtig zur bestimmenden Figur der in den Jahren zwischen 1240 und 1248 in Paris stattfindenden Untersuchungen des Talmud,288 die mit der endgültigen Beschlagnahme und Verbrennung einer großen Menge von Handschriften endeten.289 Vorausgegangen war eine Disputation in Anwesenheit der Königinmutter Blanche und unter Vorsitz der Erzbischöfe von Paris und Sens sowie des Kanzlers der Universität, Odo von Châteauroux (gest. 1273), zwischen Donin, der die christliche Anklage vertrat, und einigen der bedeutendsten französischen Tossafisten der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, allen voran Jechiel ben Josef, Leiter der Talmudakademie in Paris, und Mose ben Jakob aus Coucy, der später als Reaktion auf die Vernichtung zahlloser talmudischer Handschriften sein Hauptwerk, den lwdg twwcm rps (‚Großes Buch der Gebote‘), eine erste systematische Sammlung der in der Gegenwart zu be-

287 GRAYZEL: Church, Nr. 95, S. 240. 288 Vgl. dazu und zum folgenden NIESNER: juden, S. 8f.; RAGACS: Talmuddisputation, S. 43– 48; LAWALL: Talmudverbrennungen, Sp. 451f.; LEA: Geschichte, Bd. 1, S. 619–621; KRAUSS/HORBURY: Controversy, Bd. 1, S. 153–161; GRAUS: Pest, S. 267; PAKTER: Law, S. 70–73; CHAZAN: Daggers, S. 60–63; COHEN: Mentality, S. 20–47; GRAYZEL: Church, S. 29–33; KISCH: Anklageartikel, S. 10–18, 62–75, 123–130, 155–163 u. 204–212; LEWIN: Religionsdisputation, S. 97–110, 145–156 u. 193–210. Zu den Auswirkungen, die die christliche Verfolgung des Talmud auf das aschkenasische Judentum hatte, vgl. grundsätzlich KANARFOGEL: Education; YUVAL: {ymkx; BREUER: twnbr. 289 Die Pariser Talmudverbrennung war nicht das erste christliche Autodafé hebräischer Schriften im europäischen Mittelalter: Bereits im Dezember 1233 hatten die Dominikaner Montpelliers auf Veranlassung des örtlichen päpstlichen Legaten und mit ausdrücklicher Billigung der jüdischen Gemeinde der Stadt eine Reihe Bibliotheken jüdischer Häuser durchsucht, sämtliche dort vorgefundenen Handschriften mit Werken des Maimonides beschlagnahmt und anschließend verbrannt. Der Grund für diese Aktion lag in dem direkten Hilfsersuchen der Leiter der jüdischen Gemeinde Montpelliers an die christlichen Autoritäten zur Durchsetzung ihres Banns gegen die maimonidischen Schriften, die die Rabbiner Nordfrankreichs aufgrund des aristotelischen Gedankenguts, das sich darin ausdrückte, für unvereinbar mit der jüdischen Tradition ansahen; vgl. dazu TRACHTENBERG: Devil, S. 178. LEWIN: Religionsdisputation, S. 99f., ist der Ansicht, daß ebendieser ursprünglich innerjüdische Maimonidesstreit, nachdem er von der Antimaimonidespartei durch die Zuhilfenahme christlicher Autoritäten über den jüdischen Bereich hin ausgeweitet worden war, den eigentlichen juristischen Hebel für den wenige Jahre später stattfindenden christlichen Zugriff auf den Talmud geliefert hat.

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achtenden Religionsgesetze, verfaßte.290 Die in der afrz. Volkssprache abgehaltene Pariser Disputation, zu deren Publikum zahlreiche hochadlige Laien zählten, war also bereits durch ihre Teilnehmer eine „Art cause célèbre von weltgeschichtlicher Bedeutung“291. Nach einer ersten Verurteilung und öffentlichen Verbrennung des Talmud am 6. Juni 1242 wurde die Untersuchung 1247 auf den Erlaß des neuen Papstes Innozenz IV. hin noch einmal aufgenommen und am 15. Mai des folgenden Jahres fällte Odo von Châteauroux, mittlerweile päpstlicher Legat und Bischof von Tusculum, das endgültige Verdammungsurteil super quibusdam libris Judeorum, qui Talmud appellantur.292 Eine eingehende Inspektion des Talmud per viros discretos et expertos in talibus Deum timentes et zelum habentes fidei christiane habe ergeben, daß die jüdischen Schriften errores innumerabiles, abusiones, blasfemias et nepharia enthalten und es daher nicht möglich sei, sie sine fidei christiane injuria tolerari.293 Die Verurteilung jüdischer Schriften durch ein christlich-geistliches Gericht stellte eine immense Erweiterung der juristischen Handhabe des kanonischen Rechts an den Juden dar, die Innozenz IV. persönlich formulierte: Judeos potest judicare papa si contra legem faciunt in moralibus si eorum prelati eos nun puniant. Et eodem modo si hereses circa suam legem inveniant. Et hac ratione motus papa Gregorius et Innocentius mandaverunt comburi libros talmuth in quos [Hs.: quibus] multe continebantur hereses et mandaverunt puniri illos qui predictas hereses sequerentur vel docerent.294

Unter den Experten, die am Ende des Pariser Urteils von 1248 namentlich aufgezählt werden, erscheint auch ein gewisser frater Theobaldus de Sexannia,295 vermutlich ebenfalls ein jüdischer Konvertit,296 dem ein bis heute unedierter, in zahlreichen Handschriften297 erhaltener lateinischer Text 290 Vgl. dazu LEWIN: Religionsdisputation, S. 208f. Auch Isaak ben Josef, der Schwiegersohn Jechiels, verfaßte in der Folgezeit ein ähnliches Werk, den }+q twwcm rps (‚Kleines Buch der Gebote‘), dessen Abfassung er damit begründet, daß die Unwissenheit täglich zunehme, „so daß die Befürchtung nahe liege, daß selbst die Rabbinen die Erklärung des Gesetzes nicht mehr kennen würden. Daher möge sich Jeder wenigstens durch sein Buch unterrichten und jede Gemeinde es zum Gebrauche ihrer Mitglieder abschreiben lassen“ (ebd.). 291 LEWIN: Religionsdisputation, S. 98. 292 DENIFLE/CHATELAIN (Hrsg.): Chartularium, Bd. 1, S. 209; darunter sind nicht allein die tatsächlichen talmudischen Schriften zu verstehen, sondern in einem weiteren Wortsinn auch zahlreiche Midraschim sowie die Kommentare Raschis, vgl. dazu KISCH: Anklageartikel, S. 64. 293 DENIFLE/CHATELAIN (Hrsg.): Chartularium, Bd. 1, S. 209. 294 Rom, Bibliotheca Vaticana, Cod. vat. lat. 1443, fol. 228va. 295 DENIFLE/CHATELAIN (Hrsg.): Chartularium, Bd. 1, S. 211; KISCH: Anklageartikel, S. 209, liest fälschlicherweise Theobaldus de Saxonia. Zu den Unterzeichnern gehörte unter den magistri theologiae auch ein gewisser frater Albertus Teutonicus, also Albertus Magnus (ebd.). 296 Vgl. NIESNER: juden, S. 256 Anm. 49; ALTANER: Kenntnis, S. 296; DENIFLE/CHATELAIN (Hrsg.): Chartularium, Bd. 1, S. 211 Anm. 12; zu Person und Werk Theobalds von Sézanne insgesamt vgl. KELLER: Theobaldus, Sp. 737–741. 297 Vgl. z.B. Erfurt, Universitätsbibliothek, Cod. Amplon. 2° 338; München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 311; München, Bayerische Staatsbibliothek clm 26847; Paris, Bibliothèque

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zugeschrieben wird:298 die ‚Excerpta talmudica‘ oder ‚Errores Judeorum in Talmut‘. Diese erste Sammlung ins Lateinische übersetzter rabbinischer Zitate,299 die sich aus den Anklagepunkten ergab, die der Pariser Disputation zugrundegelegen hatten,300 und die im Gegensatz zu den Schriften Petrus’ Alfonsi und Petrus’ Venerabilis in kompakter Form ausschließlich talmudischen und midraschischen Stoffen gewidmet war, wurde für die Erstellung zahlreicher späterer Vertreter der christlichen Dialogliteratur übernommen, vor allem für den ebenfalls noch nicht edierten, sogenannten ‚Passauer Anonymus‘. Diese „fast enzyklopädisch anmutende Sammlung von Argumentationsmaterial theologisch-dogmatischer Natur zur Verteidigung der fides catholica“301 stellt in ihrem quantitativ umfangreichsten Teil, der allerdings nur in vier der insgesamt rund 60 Handschriften überliefert ist,302 ein „Muster für eine Diskussion mit Juden über Glau-

298 299 300

301 302

nationale, Ms. fonds de Sorbonne 1343; Paris, Bibliothèque nationale, Ms. lat. 16558; Prag, Státní knihovna vPraze, V.C. 18; Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. vind. 590. Vgl. das Explicit des Textes in Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. vind. 590, fol. 168vb: Hec sunt excerpta de erroribus in talmut quod transtulit frater Theobaldus subprior [Hs.: superior] ordinis predicatorum. Sie ist nicht verzeichnet bei BISCHOFF: Geschichte. Die Anklagen bezogen sich im wesentlichen auf folgende Punkte: 1. Die Juden haben das Gesetz Moses durch ein anderes ersetzt. 2. Wer einen Teil seiner Kinder dem Moloch opfert, wird bestraft, wer alle opfert, bleibt unbestraft (bSanhedrin 64b). 3.–5. Talmudische Stellen, die Jesum lästern (bGittin 56b–58a, bSanhedrin 43a u. 107b, bSota 47a). 6. Talmudische Stelle, die Maria lästert (bSanhedrin 67a). 7. Gott bereut seinen im Zorn geleisteten Schwur (bBawa Batra 47a). 8.–10. Regelungen bezüglich Eidesleistung und -aufhebung im Judentum. 11. Gott ordnet für sich selbst ein Sündopfer an, weil er den Mond wegen der Verlästerung der Sonne verkleinert hatte (bChullin 60b). 12. Es ist erlaubt, Christenblut zu vergießen (bSanhedrin 17a, bAwoda Sara 26a). 13. Christen genießen keinen Schutz vor dem jüdischen Recht (bKetuwot 15a, bSanhedrin 57a). 14. Die Christen sind vom Studium der Lehre und von der Feier des Sabbats ausgeschlossen (bSanhedrin 58b–59a). 15. Christen sind juristisch benachteiligt (bSanhedrin 57b). 16.–17. Es ist erlaubt, Christen zu bestehlen (bBawa Kamma 37b u. 78a). 18. Christen werden verunglimpft (bAwoda Sara 31a u. 57a). 19. Es ist erlaubt, den christlichen Gottesdienst zu verspotten (bSanhedrin 63b, bMegilla 25b). 20. Christen sind unkeusch (bAwoda Sara 22a). 21. Christen sind mordgierig (bAwoda Sara 22a). 22. Weitere Verordnungen zur Demütigung der Christen (bAwoda Sara 20a u. 22a, bSanhedrin 76b). 23. Der Ketzersegen richtet sich gegen jüdische Apostaten, die christliche Geistlichkeit sowie gegen den christlichen König und sein ganzes Volk; christliche Priester und jüdische Konvertiten zum Christentum sind nach ihrem Tode ewigen Höllenqualen ausgesetzt (bBerachot 28b, bRosch Haschana 17a). 24. Gott verflucht sich dreimal täglich wegen der Zerstörung des Tempels in Jerusalem und wegen der Verhängung des Exils über die Juden. 25. Gott lernt täglich Talmud. 26. Gott spielt täglich mit dem Leviathan. Vgl. dazu auch KISCH: Anklageartikel, S. 67–71. PATSCHOVSKY: ‚Passauer Anonymus‘, Sp. 320. Vgl. PATSCHOVSKY: ‚Passauer Anonymus‘, Sp. 321; PATSCHOVSKY: ‚Passauer Anonymus‘, S. 169. Die betreffenden Handschriften sind Erfurt, Universitätsbibliothek, Cod. Amplon. 4° 149; München, Bayerische Staatsbliothek, clm 311; München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 2714; München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 9558.

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bensfragen“303 dar. Die zwischen 1260 und 1266 entstandene „materialreichste mittelalterliche Schrift über und gegen die Juden“304 ist bis heute in der Forschung nahezu unbeachtet geblieben, obwohl sie die direkte Vorlage für die deutschsprachige Rezeption der ‚Excerpta talmudica‘ darstellt.305 Vor 1330 übersetzte der anonyme Verfasser des ‚Klosterneuburger Evangelienwerks‘, mittlerweile öfter als Österreichischer Bibelübersetzer geführt,306 auszugsweise den ‚Passauer Anonymus‘. Die nur in einer Handschrift des späten 15. Jahrhunderts (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. vind. 2846)307 erhaltene Übersetzung enthält auf fol.119ra– 127va auch den Abschnitt Von der juden jrrsall vnd von jrem vngelauben,308 den wiederum Michel Beheim (1416/21–1474/78)309 für seine ‚Contra JudeosLieder‘310 benutzte.311 Beheim hat also die Tradition der ‚Excerpta talmudica‘ aufgegriffen, aus ihrem ursprünglichen, gelehrt-theologischen Kontext gelöst und in die volkssprachige Dichtung eingeführt.312 Auf diesem Weg ist ihm Hans Folz (1435/40–1513) in einer Reihe von Fastnachtspielen und Reimpaarsprüchen gefolgt;313 dessen eigenhändige Abschrift von Talmudexzerpten314 geht allerdings wohl auf einen anderen Überlieferungsstrang der lateinischen Talmudübersetzungen zurück. Gleichwohl repräsentiert Folz, wie vor ihm schon Beheim, die spätmittelalterliche, deutschsprachige Adaptation einer spezifischen Form des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im europäischen Mittelalter, die mit dem Interesse einiger christlicher Theologen am Hebräischen und an der hebräischen Literatur im frühen 12. Jahrhundert begonnen hatte. Die Popularisierung der Vorstellung einer blasphemischen und widerchristlichen jüdischen „Geheimlehre“ unter dem Sammelbegriff und Signalwort talmut, und sei es auch nur in rudimentärer Form, in Texten in der deutschen Volkssprache setzt jedoch nicht erst im Laufe des 14. Jahrhunderts ein. Der früheste Beleg für diese Vorgehensweise findet sich viel303 304 305 306 307 308 309 310 311 312 313 314

PATSCHOVSKY: ‚Passauer Anonymus‘, S. 196. PATSCHOVSKY: ‚Passauer Anonymus‘, S. 171. Vgl. zu diesem Problemfeld jetzt ausführlich NIESNER: juden. Vgl. dazu KNAPP: Literatur, Bd. 2/1, S. 215–233; GÄRTNER: ‚Klosterneuburger Evangelienwerk‘, Sp. 1248–1258. Vgl. zur Handschrift MENHARDT: Verzeichnis, Bd. 1, S. 417–419. Vgl. dazu NIESNER: ‚Von der juden jrrsall‘, Sp. 812–815; vgl. auch RÖLL: Zeugnis, S. 1–4; KNAPP: Nikolaus, S. 293–308. Der Text ist mittlerweile ediert bei NIESNER: juden, S. 427– 451. Vgl. zu Person und Werk MÜLLER: Beheim, Sp. 672–680. Vgl. GILLE/SPRIEWALD (Hrsg.): Gedichte, Bd. 2, Nr. 203–234, S. 224–326. Vgl. dazu NIESNER: juden, S. 394–416. Vgl. auch die zum Teil ähnlichen Quellen des Teichners, die NIESNER: Juden, S. 40–57, untersucht hat. Vgl. dazu PRZYBILSKI: Hebräischkenntnissen, S. 323–326. Vgl. MAYER (Hrsg.): Meisterlieder, S. 372–384 u. 387–401.

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mehr schon nach der Mitte des 13. Jahrhunderts bei Berthold von Regensburg, also wenige Jahre nach den spektakulären Pariser Prozessen: die jüden gloubent in einem hûse, daz sie in einem andern niht engloubent; und er gloubet sô kranc dinc von gote, daz erz sînen kinden ungerne seite. Wan sie sint ze ketzern worden unde brechent ir ê an allen dingen. Ez sint ir zwelfe zuo gevarn unde habent ein buoch gemachet, daz heizet dalmut. Daz ist allez sament ketzerîe, unde dâ stêt sô verfluochtiu ketzerîe an, daz daz übel ist daz sie lebent. Ez seit unde seit sô boesiu dinc, diu ich ungerne reden wolte. Frâget mir einen jüden, wâ got sî unde waz er tuo, sô sprichet er: ‚er sitzet ûf dem himel unde gênt im diu bein her abe ûf die erden.‘ Owê, lieber got, sô müestest dû zwô lange hosen hân nâch der rede.315

Im weiteren Verlauf der zweiten Hälfte des 13. und des frühen 14. Jahrhunderts erfreut sich gerade dieses neuartige antijüdische Wissen größerer Beliebtheit in einer Reihe im weiteren Sinne „propagandistischer“ Literaturgattungen wie der Sangspruch- oder Heiligenlegendendichtung sowie der didaktischen Satire. Unter den Spruchdichtern dieses Zeitraums widmet sich zuerst Pseudo-Konrad von Würzburg dem Thema: Ave Marîa! grunt rehtes gelouben! we der veigen, touben, argen Juden kint, diu niht ruochen walten des, daz si behalten möhte wol vor arger helle pine. Talamuot hat si vil gar betoubet unde ir ere beroubet vor manigem Gotes kneht, da si bispel sahen: daz wil in versmahen, davon si deme Gotes zarten schrine Enpfallen sint umbe ir valschen gelouben vunt. wol hin zuo des leiden tiuvels tische, ohse mit dem vische, in der helle grunt, da ir Gotes ougen gar ane allen lougen niemer me beschouwet in deme schine! (MSH III, Nr. 127,II,34)316

Unter den späteren deutschen Spruchdichtern sind ein Anonymus und Pseudo-Regenbogen im 14. und 15. Jahrhundert Pseudo-Konrad gefolgt. Der inhaltlich dem zuvor zitierten Spruch nahestehende, im Ton des Leichs Walthers von der Vogelweide gehaltene,317 fragmentarische Text eines anonymen Dichters eröffnet die um 1330 entstandene ‚Jenaer Liederhandschrift‘:

315 PFEIFFER/STROBL/RUH (Hrsg.): Berthold, Bd. 1, Nr. XXV, S. 401f. 316 Vgl. dazu RSM, Bd. 4, 1KonrW/6/100a; der Spruch ist überliefert in Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 350, ist also auf keinen Fall jünger als 1325, eventuell gehört er sogar noch vor die Jahrhundertwende. 317 Vgl. WACHINGER: ‚Jenaer Liederhandschrift‘, Sp. 512; der Spruch ist nicht ins RSM aufgenommen, vgl. RSM, Bd. 1, S. 186.

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Vve in des vnde nymmer wol. Ir pin sich nicht vuorenden sol. Der grozten pyne sint si vol Der das ist in abgrvnde. Gamalyel yn kvnde. An thalamot die vunde Die valschen vunde rouben. yr synne rechtes gelouben.318

Zu dem unter dem Namen Regenbogens überlieferten Spruchcorpus ‚Der jüden krieg‘319 gehört in einer Fassung des 15. Jahrhunderts320 schließlich auch die folgende Strophe: Du valscher Jude, daz betrahte, wie Got der vater Got den tou gesegent hat. Isaias sprach: ‚Got mensche wart von einer kiuschen maget also here.‘ Judische diet gar ungeslahte, nim den gelouben, ruof an gar an’ missetat den Got, der leit die marter hart; nach sinem tot gienk Kristus in sin ere. Dich, Jud’, talmut gelichet eben Got vater sant’ den sun her uz dem trone. Kristus den gelouben hat gegeben, diu junkvrou treit im himelrich’ die krone. do sie den suezen touw’ enpfienk, der von dem himel kam; des si gelobet, meit, din werder nam! ach, Jud’, war wiltu haben vluht am jungsten tak vor Kristus dem rihter? Marîa diu gebar die vruht, an dem ervüllet wart der Juden ger, do er uf sinem rükke truok daz kriuz uf calvarie gar sunder scham unt do er an dem kriuze hienk. ach, Jud’, du bist an dinem gelouben lam! (MSH III, Nr. 126,V,8)321

Auf noch weitaus aggressivere Weise hatte sich vor den zitierten Sangspruchdichtern, in den Jahren zwischen 1292 und 1294, der anonyme Autor des ‚Kleinen Lucidarius‘ geäußert:

318 HOLZ (Hrsg.): Liederhandschrift, S. 1; vgl. auch MSH III, Anonymus XXXVII. 319 Vgl. dazu auch NIESNER: juden, S. 341–344. 320 Überliefert ist diese Strophe lediglich in der ‚Weimarer Liederhandschrift‘ (Weimar, Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, Q 564) aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts; die Überlieferung des Spruchcorpus ‚Der jüden krieg‘ setzt jedoch bereits im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts ein, nämlich in der gleichen Handschrift, in der sich auch der oben zitierte Pseudo-Konrad von Würzburg findet. 321 Vgl. dazu RSM, Bd. 5, 1Regb/4/1g.

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ez waer wol, der in verbut ir ketzerlîchez Talmut, ein buoch valsch und ungenaem. verfluochte juden widerzaem, ir gêt den rehten hellestîc. (II, v. 1185–1189)

Schließlich diente der Talmud respektive dessen Überwindung durch das Wirken einer christlichen Heiligen um 1300 auch dem ebenfalls anonymen Verfasser des ‚Lebens der heiligen Elisabeth‘ als Motiv: Auch mac die blinde judesh e Haben ungemaches we: Der bose ungeloube ist ouch iezu Verwunden ordenliche nu, Alse iz wol prufet ieder man, Der warheit wol geprufen kan, Daz alle ir sache luget, Ir dalmot si bedruget. Diz hat die reine frouwe clar Gemachet alles uffenbar; Herliche iz ouch bewiset hat Ir gloube in seleclicher tat, Di si von godes crefte, Von sunder mahelschefte Die here frouwe Elizabet Sa zeichenliche noch beget. (v. 10115–10130)

Auffällig ist die weite geographische Verbreitung, die das Wissen von der Existenz und Bedeutung des Talmud, der selbst in diesen frühen Zeugnissen zumeist nur noch genannt zu werden braucht, um die gewünschten Assoziationen beim christlichen Publikum hervorzurufen, in den Jahrzehnten zwischen 1250 und 1300 gerade in volkssprachigen Texten im deutschen Sprachraum gefunden hat. Mit den jeweiligen Wirkungsorten der genannten Autoren – Marburg im Norden, Regensburg im Nordosten und Niederösterreich im Südosten – sind große Teile des oberdeutschen und mitteldeutschen Raums eingeschlossen. Die deutschsprachige Adaptation dieser spezifischen Form des mittelalterlichen Kulturtransfers zwischen Juden und Christen hat demnach schon kurze Zeit nach ihrem europäischen Höhepunkt des Talmudprozesses in Paris, der aus dem Interesse einiger christlicher Theologen am Hebräischen und an der hebräischen Literatur seit dem frühen 12. Jahrhundert resultierte, in vergleichsweise breiter Form und in unterschiedlichsten literarischen Gattungen eingesetzt.

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5. Formen jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter Unsere vorhergehenden Überlegungen haben drei unterschiedliche Formen und Stadien kulturellen Transfers zwischen Juden und Christen im europäischen Mittelalter deutlich werden lassen: 1. Einen mündlichen, vorschriftlichen und direkten Transfer im 11. und 12. Jahrhundert, in dem originär jüdische, darüber hinaus aber auch im weiteren Sinne orientalische Motive und Erzählstoffe vom jüdischen ins christliche kulturelle Archiv übermittelt werden. Ermöglicht wird dieses erste Stadium jüdisch-christlichen Kulturtransfers durch die Tatsache, daß die jüdische Seite sowohl im Orient wie im Okzident beheimatet ist und zwischen beiden geographischen Entitäten bereits vor der Zeit der Kreuzzüge enge direkte wie indirekte Beziehungen existieren. Literarischen Niederschlag hat diese Form kulturellen Austauschs, wie noch ausführlich gezeigt wird, im deutschen Mittelalter unter anderem im ‚Ruodlieb‘, vor allem aber ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in so unterschiedlichen volkssprachigen Werken wie dem ‚Herzog Ernst‘, ‚Salman und Morolf‘, ‚Reinhart Fuchs‘, oder den gereimten Weltchroniken Rudolfs von Ems, Jans’ von Wien und Heinrichs von München gefunden. In einzelnen Fällen, so zum Beispiel bei Jans von Wien, lebte diese Art jüdisch-christlichen Kulturtransfers im späteren Mittelalter noch einmal auf. 2. Einen zunächst mündlichen, sehr bald aber schon verschriftlichten, direkten, allerdings in der Form kultureller Übersetzung ablaufenden Transfer im gleichen Zeitraum, in dem durch jüdische Konvertiten weitere Stoffe, zum Teil bereits unter der Sammelbezeichnung „Talmud“ (deuterosis, doctrina), dem christlichen Kulturbereich zugänglich gemacht werden. Dieses zweite Stadium unterscheidet sich vom ersten zum einen durch seinen Medialitätscharakter (Mündlichkeit versus Schriftlichkeit), zum anderen durch seine Trägerschaft. Zwar handelt es sich auch in diesen Fällen um Personen, die durch eine direkte, biographische Verbundenheit mit dem jüdischen Kulturbereich gekennzeichnet sind, doch im Gegensatz zu den Trägern der ersten Form jüdisch-christlichen Kulturtransfers haben sie durch ihren Religionswechsel diesen kulturellen Hintergrund verlassen und gegen einen gänzlich neuen Hintergrund eingetauscht. Daher spielt in dieser Form des kulturellen Transfers das apologetische Moment, die Suche des Transferenten nach einer Bestätigung seines Neuchristentums in der polemischen Abgrenzung oder Umwertung jüdischer Texttraditionen eine konstitutive Rolle. Literarisch schlägt sich diese Form vor allem in lateinischen, im späteren Mittelalter auch in volkssprachigen Erzählsammlungen nieder wie der ‚Disciplina clericalis‘ des Petrus Alfonsi und ihren

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altfranzösischen Prosa- und Versbearbeitungen, den ‚Gesta Romanorum‘, den verschiedenen Versionen der ‚Historia septem sapientum‘ und des ‚Dolopathos‘, Johannes’ von Capua ‚Directorium vitae humanae‘, dem ‚Novellino‘, Steinhöwels ‚Esopus‘ oder Paulis ‚Schimpf und Ernst‘. 3. Einen zuerst ebenfalls mündlichen, jedoch zum Teil schon im Entstehungsprozeß verschriftlichten, indirekten Transfer, in dem christliche Theologen im 12. und 13. Jahrhundert hebräische Quellen ihrer jüdischen Zeitgenossen rezipieren und adaptieren. Dieses dritte Stadium jüdischchristlichen Kulturtransfers im Mittelalter stellt sozusagen gleichermaßen die Synthese und Abschaffung der ersten beiden Stadien dar, insofern es mit der Befragung jüdischer oder ehemals jüdischer Gewährsleute beginnt, nach der Überführung des neugewonnenen Wissens in den christlichtheologischen Diskurs aber den Charakter eines tatsächlichen Transferprozesses gänzlich einbüßt und zu einem eigenständigen und -gesetzlichen Diskussionsgegenstand der theologischen Literatur des westeuropäischen Christentums wird. Auf das kulturelle Milieu, aus dem die transferierten Texte ursprünglich stammen, wirkt sich diese Form des Kulturtransfers jedoch besonders nachdrücklich aus, da die Texte bereits ab der Mitte des 12. Jahrhunderts als polemische Waffe verwendet werden – zunächst gegen „Feinde im Inneren“, also konkurrierende christliche Theologen, die mit dem Vorwurf der judaisierenden Häresie konfrontiert werden, sodann aber gegen die originären Tradenten selbst in der Form von Religionsdisputationen, Talmudprozessen und Bekehrungspredigten. Literarisiert wurde dieser polemische Kulturtransfer zunächst wiederum in lateinischen Texten wie den Kommentaren der Viktoriner zum Alten Testament, der ‚Historia scholastica‘ des Petrus Comestor, Theobalds von Sézanne ‚Excerpta talmudica‘ oder dem ‚Passauer Anonymus‘, ab dem späteren 13. Jahrhundert aber auch in deutschsprachigen Werken wie der Sangspruchdichtung – zum Beispiel bei Pseudo-Konrad von Würzburg oder Pseudo-Regenbogen – im ‚Kleinen Lucidarius‘, in den Schriften des ‚Österreichischen Bibelübersetzers‘, Michel Beheims oder Hans Folz’.

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B.II. Die deutsche Volkssprache und ihre Literatur als Brücke zwischen den Kulturen im Hoch- und Spätmittelalter Den Ausgangspunkt unserer Suche nach literar- und realienhistorischen Reflexen des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im deutschen Mittelalter hatten Überlegungen zur Bedeutung des deutschen Sprachraums – Aschkenas – im Koordinatensystem der jüdischen Diaspora des vormodernen Europa gebildet. Wir kehren jetzt noch einmal an diesen Ausgangspunkt zurück, um unsere eingangs aufgestellte These zu untermauern, das deutsche Mittelalter halte die für einen kulturellen Transfer zwischen jüdischem und christlichem Archiv notwendigen Determinanten in geradezu exemplarischer Weise bereit. Aschkenas als Kontaktraum und das deutsche Mittelalter als Kontaktzeit sind bereits beschrieben worden – nunmehr steht die Frage nach der Kontaktsprache, der deutschen Volkssprache, im Mittelpunkt unseres Interesses. 1. Aschkenas als Referenzraum der jüdischen Diaspora im europäischen Mittelalter Von Aschkenas aus empfing, wie oben ausführlicher dargestellt, ein wesentlicher Teil der mittelalterlich-europäischen Judenheit wesentliche Prägungen: es entwickelten sich eine spezifische Gottesdienstordnung (znk#) xswn), spezifische Bräuche (znk#) yghnm), eine spezifische, zum Teil von der Volkssprache der nichtjüdischen Majorität geprägte Aussprache des Hebräischen und schließlich eine zunächst mit dem Deutschen verbundene, später eigene indoeuropäische Sprache, das Jiddische. Insofern greift das allein aus rechtshistorischer Sicht gefällte Urteil WALTER PAKTERs: “Jews were best off legally, culturally, socially and economically where Roman law was most influential – in Languedoc, Spain and later in Italy, and fared worst in northern France, England and Germany, where Roman law was poorly received“322, mit Sicherheit zu kurz. Das aschkenasische Judentum formierte sich vielmehr unter beständigem kulturellem Rückbezug auf seinen speziellen geographischen Ort innerhalb der jüdischen Diaspora, wirkte zugleich aber auch auf die Peripherie jüdischen Lebens im Mittelalter. Neben der iberischen Halbinsel bildete Aschkenas in dieser Epoche das Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit, ja bestimmte Bereiche jüdischer Tradition und bestimmte Formen jüdischer Traditionsliteratur wurden sogar erst von Aschkenas nach Sefarad importiert, wie der Le322 PAKTER: Law, S. 15.

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bensweg einer der bedeutendsten rabbinischen Autoritäten des 13. Jahrhunderts beispielhaft veranschaulicht:323 Ascher ben Jechiel, genannt Rosch (wörtlich „Haupt“), wurde um 1250 in Köln geboren, studierte an den Talmudhochschulen seiner Geburtsstadt sowie in Koblenz, Worms und vor allem in Rothenburg ob der Tauber bei Meir ben Baruch (1220– 1293), genannt Maharam Rothenburg, dem führenden religionsgesetzlichen Dezisor seiner Zeit. Als sein Lehrer 1286 von den kaiserlichen Behörden eingekerkert wurde, nahm Ascher seinen Platz in der religiösen Führung des aschkenasischen Judentums ein. Als Reaktion auf die Rindfleisch-Verfolgungen des Jahres 1298, denen insgesamt 140 jüdische Gemeinden in Franken und Bayern – darunter auch Hochburgen jüdischer Bildung wie Nürnberg, Rothenburg oder Würzburg – zum Opfer fielen,324 entschloß sich Ascher jedoch dazu, das Reich zu verlassen. Über Savoyen und die Provence gelangte er schließlich in den christlichen Teil Spaniens und ließ sich in Toledo nieder. Ab 1305 bekleidete er dort bis zu seinem Tod im Jahre 1327 das Rabbinat und leitete eine eigene Talmudakademie, die Studenten aus allen Teilen Europas anzog. Sein Hauptwerk, eine thematisch geordnete Sammlung seiner religionsgesetzlichen Entscheidungen, die sogenannten #)rh twklh, vermittelte dem sefardischen Judentum einen grundsätzlichen Zugang zur Vorgehensweise der späten Tossafisten und legte den Grundstein für die erste systematisch geordnete Sammlung und Darstellung der Teile des jüdischen Religionsgesetzes, die in der Gegenwart des beginnenden 14. Jahrhunderts praktisch ausführbar waren, die {yrw+ h(br) (‚Vier Reihen‘) seines Sohns Jakob (1269–1343). Daß dem deutschen Sprachraum eine solche Bedeutung für die Entwicklung und Geschichte des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judentums zukommen konnte, hängt also auch mit außerjüdischen Prozessen zusammen, vor allem mit der Tatsache, daß seit der Mitte des 13. Jahrhunderts die übrigen westeuropäischen Länder sukzessive den Juden das Ansiedlungsrecht entzogen. So vertrieb zuerst das Herzogtum Bretagne 1240 dauerhaft seine Juden, daraufhin 1288 das Herzogtum Anjou, ein Jahr später das Herzogtum Gascogne und die Grafschaft Maine, 1290 das Königreich England, 1394 nach mehreren vorhergehenden, zeitlich begrenzten Ausweisungen das Königreich Frankreich und 1492 bzw. 1496 schließlich die rechristianisierten Königreiche Spanien und Portugal.325 Während die kulturellen Einflüsse, die das Judentum im deut323 Vgl. zum folgenden ausführlich TA-SHMA: r#) wnybr, S. 75–91. 324 Vgl. dazu SALFELD (Hrsg.): Martyrologium, S. 66f. Die Opferzahlen dieser Pogromwelle waren vergleichsweise hoch, für Nürnberg und Rothenburg geht man beispielsweise von 628 bzw. 470 Ermordeten aus, vgl. dazu GRAUS: Pest, S. 560. 325 Vgl. dazu CHAZAN: Jewry, S. 184–194; SAPIR ABULAFIA: Renaissance, S. 140, sieht diese politische Entwicklung durch die geistigen Entwicklungen des 12. Jahrhunderts vorbereitet

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schen Sprachraum aus der koterritorialen christlichen Kultur empfing, wie eben erwähnt bereits im Gruppenselbstverständnis sichtbar werden, sind die Spuren des Kulturtransfers vom Judentum zum Christentum in vielem vereinzelter und versteckter. Das hier umrissene Bild vom deutschen Mittelalter als Kontaktzone zwischen Juden und Christen wird in der Forschung unter Hinweis auf die zahlreichen zwischen den beiden Gruppen vorhandenen Spannungen des öfteren negiert. Tatsächlich existierte mit den Juden Europas ja neben der christlichen Majorität im gleichen geographischen Raum eine Minorität, die in weiten Teilen des Kerngebiets der lateinischen Christenheit zugleich die einzige kulturell-religiöse Minderheitengruppe überhaupt darstellte, und die noch dazu über Verbindungen zu ihren Glaubensbrüdern jenseits des christlichen Hegemoniegebiets verfügte. Die Fremdheit des Anderen, die doch „ein unverzichtbares Apriori der Gruppenkonstitution und der intersubjektiven Definition kollektiver Realität“326 darstellt, wurde somit für beide Seiten problematisch: die einen erschienen den anderen als das kulturell Fremde, das doch zugleich das topographisch Eigene war – die Juden des mittelalterlichen Europa wurden den koterritorialen Christen zu paradigmatischen Vertretern des „internen Anderen“327, also des Anderen innerhalb der eigenen Kultur.328 Dieses ambivalente Verhältnis findet auf christlicher Seite seinen Ausdruck zum Beispiel in der Vorstellung der in jedem Fall zu vermeidenden commixtio, die in den die Juden betreffenden Canones 67–70 des IV. Lateranum eine so große Rolle spielt,329 vor allem aber in stereotypisierten Angstphantasmen,330 die periodisch während des gesamten Mittelalters

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und grundgelegt: “It was the growing perception in medieval Europe that Jews could not play a meaningful part in their Christian host societies that eventually led to one country after another divesting itself of its Jewish population. The roots of this perception [...] lay in the intellectual and spiritual developments of the twelfth-century renaissance“. MACHO: Todesmetaphern, S. 287. Vgl. zu diesem Terminus TODOROV: Eroberung. Diese spezifische Problematik ist keineswegs auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit beschränkt geblieben, vgl. dazu WEIGEL: „Frauen“, S. 333–351. Vgl. MANSI, Bd. 22, Sp. 1054–1056. Nach GILMAN: Difference, sind Stereotypien grobe Repräsentationen der Differenz, die die Welt strukturieren und Ängste auf den Körper des Fremden verlagern, d.h. am Ort der Andersheit lokalisieren, als Beweis dafür, daß das, was man fürchtet, nicht in einem selbst liegt, vgl. auch BERGHOLD: Fundus, S. 170. Diese Angst- und Haßobjekte bezeichnen dasjenige, was sich der Ordnung des Selbst entzieht. Am stereotypisierten Körper der Fremden wird die Furcht vor äußerstem Kontrollverlust, vor Sprengung der Grenzen zwischen dem Eigenen und dem Fremden, vor der Auflösung einer geordneten und hierarchischen Welt verortet und verhandelt, vgl. dazu BÖDEKER: Xenophobie, S. 81. Objekte dieser Stereotypisierung sind randständige oder als randständig verstandene Gruppen, die durch symbolische Inversion zu zentralen Symbolen der Fremdheit werden: “What is socially peripheral is often symbolically central, and if we ignore or minimize inversion and other

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auftauchen und geheime Verbindungslinien zwischen verschiedenen, geographisch näheren und ferneren Emanationen des Fremden imaginieren: Juden, Ketzer, Lepröse, Muslime. Demnach besteht das Fremde aus einer bunten, undurchsichtigen Vielfalt von Gruppen, die trotz ihrer augenscheinlichen Diversität eine Kette allmählicher Übergänge bilden, die vom äußeren Feind zum inneren Feind, seinem Komplizen führt. So glaubten unter anderem die Bewohner der ursprünglichen Region Westfrankreichs an der Grenze der Bretagne, Anjous und Maines Ende des 11. Jahrhunderts, daß die christlichen Einsiedler aus den Wäldern, die als Wanderprediger in zerlumpter Kleidung auftraten, eigentlich Muslime seien, die durch versteckt gehaltene Tunnel aus ihrem eigenen Land gekommen waren, um den Westen von innen heraus zu verführen.331 Schon vor der Mitte desselben Jahrhunderts hatte Radulfus Glaber wiederholt auf Verbindungen der Juden seiner Zeit mit anderen, den Christen feindlich gesonnenen Mächten hingewiesen: so standen sie 1009 gerüchtehalber im Bündnis mit dem Kalifen von Bagdad (,Historiae sui temporis‘ III,24f.), in den Jahren 1012 bis 1015 paktierten sie dagegen angeblich mit christlichen Ketzern (III,20.23), ebenso 1028 (IV,2).332 Weitere „Theorien“ dieser Art hat FRANTIŠEK GRAUS gesammelt und er verweist zugleich auf die Langlebigkeit dieser Vorstellungen: Die Annahme einer ‚Verschwörung‘ der Juden zu Ungunsten von Andersgläubigen ist alt: Erzählungen dieser Art waren bereits dem Altertum bekannt, und sie sind gelegentlich aus späteren Zeiten bezeugt, wie etwa gegen Ende des 7. Jahrhunderts im visigotischen Spanien, aus dem Jahre 932, als auf der Synode zu Erfurt ein anklingendes Gerücht laut wurde, oder am Anfang des 11. Jahrhunderts, als eine ähnliche Erzählung in Frankreich auftauchte. Zuweilen wurde seit dem 12. Jahrhundert die These von einer ‚Verschwörung‘ der Juden mit der Ritualmordfabel verbunden, aber meist konkretisierte sich dieses Gerücht nicht, und man war nur zu gerne bereit, die Juden bei jeder Gelegenheit einer Verschwörung zu bezichtigen: 1241 wurde gemunkelt, sie stünden mit den Mongolen in Verbindung, 1267 warnte der Kardinallegat Guido die Christen davor, von den Juden Lebensmittel zu kaufen, denn sie könnten absichtlich vergiftet sein, 1329 wurde im Savoyischen eine jüdische ‚Verschwörung‘ für das Verschwinden mehrerer kleiner Knaben verantwortlichen gemacht.333

forms of cultural negation, we often fail to understand the dynamics of symbolic processes generally“ (STALLYBRASS/WHITE: Politics, S. 20). 331 Vgl. Gaufridi Grossi ‚Vita beati Bernardi Tironensis‘, Sp. 1409; vgl. in diesem Zusammenhang auch die unterirdischen Höhlen, in denen Guibert von Nogent Ketzer und Juden zusammen ihre widerchristlichen Riten abhalten läßt (‚De vita sua sive monodiarum libri tres‘ III,17). 332 Vgl. dazu auch LOTTER: Vertreibung, S. 41 u. 43. 333 GRAUS: Pest, S. 300f.; zur Verbindung Juden – Mongolen vgl. auch BRESSLAU: Juden, S. 99–102 u. 382f.

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Nachgerade sexualpathologische Züge nehmen diese Vorstellungen in der Selbstbiographie Abts Guibert von Nogent (1053–1124) an. In seiner Schrift ‚De vita sua sive monodiarum libri tres‘ widmet er sich des öfteren dem Thema, wie Christen durch den Kontakt zu Juden mit häretischen Ideen infiziert werden und diese Infizierung nicht nur geistliche, sondern sogar physiologische Negativfolgen zeitigt. Am breitesten schildert Guibert in dieser Weise den Fall des Grafen Johann von Soissons (III,16).334 Dieser judaisierende Häretiker ist bereits durch die Taten seiner Mutter erblich vorbelastet, die mit der Hilfe eines Juden ihren eigenen Bruder vergiftete, um dessen Erbbesitz an sich zu bringen. Die körperlichen Folgen dieser und anderer Verbrechen versetzen Johanns Mutter am Ende ihres Lebens in einen vegetativen Zustand, sie ist gelähmt, deformiert, gebrechlich, schließlich ist sie nurmehr Körper ohne jeden Geist, einem Tier ähnlicher als einem Menschen. Ihr Sohn übertrifft sie nach Guibert noch in seiner Verderbtheit, seine Verbrechen sind zum größten Teil sexueller Natur, die er noch dazu mit einem von Schorf überzogenen Körper vollbringt. Er überantwortet sich von ganzem Herzen der perfidia Judeorum et hereticorum, an christlichen Ritualen nimmt er hingegen nur Teil, weil sie ihm erlauben, sich in der Nähe schöner Frauen aufzuhalten. Seine Perversionen, bei denen er auch Nonnen nicht ausnimmt, verübt er wie seine Mutter mit der tätigen Hilfe eines namenlos bleibenden Juden, der ihm in seinem Haus ein Zimmer zur Verfügung stellt, in dem sich lediglich ein Bett befindet. Und wie seine Mutter wird Johann am Ende seines Lebens bereits im Diesseits körperlich für seine Verbrechen gezüchtigt – nach Guiberts Ansicht von der Gottesmutter persönlich –, indem er in einen Zustand deliriöser Raserei verfällt.335 Sind es bei Guibert noch einzelne häretische Christen und einzelne Juden, die zusammen Verbrechen gegen die christliche Majorität begehen, standen in der Regel gleich ganze Gruppen verschiedener Emanationen des Fremden im Verdacht, gemeinsam die christianitas zu bedrohen. Eines der europaweit aufsehenerregendsten Beispiele eines solchen imaginierten Komplotts stellt die Verschwörung der Juden, Muslime und Leprakranken zu Beginn des 14. Jahrhunderts dar, das hier kurz eingehender vorgestellt werden soll, da es in paradigmatischer Weise alle Konstituenten antijüdischer Verschwörungstheorien des Mittelalters vereint.336 334 Vgl. dazu auch MOORE: Formation, S. 117. 335 Vgl. in diesem Zusammenhang auch den angeblich judaisierenden Abt Raynard von Sens bei Radulfus Glaber (‚Historiae sui temporis III,20f. u. 23), der von seinen Untergebenen die Titulierung rex Iudeorum verlangte. 336 Vgl. zum folgenden ASSMANN: Moses, S. 54–72, LEA: Geschichte, Bd. 2, S. 430 Anm. 1; GRAUS: Pest, S. 302–305; GINZBURG: Hexensabbat, S. 47–75; TRACHTENBERG: Devil, S. 101f. u. 182–187.

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Am 26. Juni 1321 wurden die Einwohner der Grafschaften Anjou und Touraine Zeugen eines erschreckenden Himmelsschauspiels: die Sonne sah tagsüber vier Stunden lang flammend und blutrot aus, der Mond war in der darauffolgenden Nacht voller Flecken und schwarz wie in einem Büßergewand erschienen. Zudem hatte die Erde gebebt, Feuerkugeln waren vom Himmel gestürzt und hatten die Strohdächer der Häuser entzündet, ein Drache hatte über den Ortschaften geschwebt und mit seinem Pesthauch viele Menschen getötet. Am nächsten Tag begann die Bevölkerung, die aufgrund der eindeutigen Zeichen vom baldigen Weltende überzeugt war, die Häuser der Juden zu überfallen, um an ihnen Rache zu nehmen für ihr Verhalten gegenüber Jesus und den Christen. In Angers, im Haus eines Juden namens Bananias, fand die aufgebrachte Menge ein geheimnisvolles Schriftstück, verborgen in einem festverschlossenen Schrein und mit einem schweren Goldsiegel an einem purpurnen Seidenband. Sein Inhalt stellte die schrecklichsten Befürchtungen der Bevölkerung über die Machenschaften der Juden noch in den Schatten. Zunächst erregte die beidseitig mit hebräischen Schriftzeichen beschriebene Schafshaut vor allem wegen ihres auffallenden Siegels Aufsehen, das ein kunstvoll getriebenes Kruzifix darstellte, an das eine Leiter gelehnt war, auf der eine jüdische oder muslimische Figur stand, die dem Gekreuzigten ins Antlitz fäkalierte. Mit der Hilfe zweier zum Christentum bekehrter Juden übersetzten schließlich drei Theologen das verdächtige Schriftstück vom Hebräischen ins Lateinische.337 Es entpuppte sich als Brief des Bananias, in dessen Haus man es gefunden hatte, an Amicedich, König von Jerusalem und 30 weiteren Städten, an Zabin, Sultan von Azor, an Jodab, Herrscher von Abdon und Semeren, sowie an ihre Unterkönige, Herzöge und Grafen. Darin gelobte Bananias allen Empfängern des Schreibens in seinem und des gesamten Volkes Israel Namen Gehorsam und Unterwerfung und berichtete über den Stand der Verschwörung, die die Juden gemeinsam mit den Muslimen gegen die Christen angezettelt hatten. Demnach hatte sich in den zurückliegenden Monaten folgendes abgespielt: Zunächst hatte sich der Unterkönig von Granada im Auftrag des Königs von Jerusalem an die Juden Frankreichs gewandt und ihnen mitgeteilt, daß die Muslime bereit seien, ihnen die Herrschaft über das Heilige Land zurückzugeben. Gründe für diesen plötzlichen Entschluß seien die Erscheinung der Propheten Elia und Henoch auf dem Berg Tabor und das Wiederauffinden der Bundeslade gewesen – Ereignisse, die die Muslime von der Wahrheit des jüdischen Glaubens überzeugt hätten. Im Tausch für den Besitz des Heiligen Landes verlangten die muslimischen 337 Das Original dieser bemerkenswerten Fälschung ist nicht erhalten; die lateinische Übersetzung des Schreibens ist abgedruckt bei MANSI, Bd. 25, Sp. 569–572.

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Herrscher jedoch, daß die Juden ihnen das Königreich Frankreich ausliefern sollten. Nach Erhalt dieser unerwarteten Botschaft schritten die Juden sogleich zur Tat, indem sie sich ihrerseits einer Gruppe von Agenten bedienten. Sie bestachen die französischen Leprakranken, die daraufhin in Brunnen, Quellen, Zisternen und Flüssen giftiges Pulver ausschütteten, das aus bitteren Kräutern, geweihten Hostien sowie dem Blut und Harn von Christen hergestellt worden war. Zum Bedauern des Briefschreibers hatte die Aktion noch nicht den gewünschten Erfolg gezeitigt. Daher sah sich Bananias gezwungen, seine muslimischen Verbündeten um weitere Geldmittel zu bitten, um eine noch größer angelegte Vergiftungskampagne durchführen zu können, der gewiß Erfolg beschieden sein werde. Die Überbringer des Schreibens, der Hohepriester Sadoch und der Gesetzeslehrer Leo, seien autorisiert, mündlich noch weitere Vereinbarungen zu treffen. Bereits wenige Tage nach der Entdeckung des Bananias-Briefs sandte Philipp von Valois, Herzog von Anjou und als Philipp VI. späterer König von Frankreich (1328–1350), eine Abschrift der lateinischen Übersetzung an Papst Johannes XXII. (1316–1334) nach Avignon.338 Mit diesem und zwei weiteren, wenig später in Mâcon entdeckten Schriftstücken339 besaß man nunmehr vollgültige Beweise für das Komplott, das Lepröse, Juden und Muslime gegen die Christenheit Frankreichs, ja des gesamten christlichen Europa gesponnen hatten. Erste Gerüchte hatten sich zwar schon seit dem April des gleichen Jahres aus einigen Städten des französischen Südwestens hören lassen, und es war auch schon zu einer Reihe mehr oder minder spontaner Bestrafungsaktionen vor allem an Leprakranken gekommen, doch die wahre Natur und die wahre Größe des geplanten Massenmords war bisher im Dunkeln geblieben. Durch die Funde von Angers und Mâcon wurde die bedrohliche Komplizenschaft von Juden und Muslimen, die letzten Endes den Anstoß zur 1323 durch Karl IV. (1322– 1328) ausgesprochenen Vertreibung der Juden aus Frankreich lieferte, offenund aktenkundig – keiner der bedeutenderen französischen Chronisten des

338 Vgl. VIARD: Projets, S. 307. 339 Dabei handelt es sich um zwei arabisch geschriebene Briefe, die die Vorgeschichte des Bananias-Briefs untermauern sollen: im ersten Schreiben wendet sich der König von Granada an den Juden Samson, Sohn des Elia, den anderen Brief sendet der König von Tunesien allen Juden Frankreichs. Beide Absender ermahnen die Juden, das gemeinsame Komplott zügig zu einem erfolgreichen Ende zu bringen – koste es, was es wolle. Angeblich entdeckt wurden die Schreiben Ende Juni 1321 in Mâcon, wo sie aus dem Arabischen ins Französische übersetzt und mit lateinischen Zusammenfassungen versehen wurden. Die arabischen Originale sind mittlerweile verloren, die Übersetzungen befinden sich noch im Besitz der Pariser Bibliothèque nationale, sie sind ediert bei BARBER: Plot, S. 9; VIDAL: Poursuite, S. 459–461.

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14. Jahrhunderts vergißt ihre Erwähnung.340 Ein Blick auf den Raum der Marginalität hatte für die Christen die Existenz eines parallelen Beziehungsnetzes enthüllt, das für sie zuvor undurchdringlich gewesen war – eine mehr als hinreichende Begründung für die Massaker an Leprakranken und Juden zu Beginn der zwanziger Jahre des 14. Jahrhunderts war gefunden. Mutmaßungen über geheime und christenfeindliche Beziehungen zwischen Juden und anderen Fremden blieben im Mittelalter jedoch nicht allein auf landläufige Gerüchte beschränkt, die literarische Reflexe in chronikalischen Aufzeichnungen gefunden haben – sie wurden auch Teil der gelehrten christlichen Literatur, unter anderem des kanonischen Rechts. So wirft zum Beispiel Hugutio von Ferrara den Muslimen die Übernahme jüdischer Riten vor: omnes pagani hodie iudaizant, circumciduntur, discerenunt cibos et alios ritus iudeorum imitantur (‚Summa in decretum Gratiani‘ 54 c. 13)341 – „for Huguccio, ‚Judaizing‘ was the archetypical evil“342. Die beständige Wiederholung dieser und gleichgearteter Vorstellungen führte dazu, daß Juden, Muslime und Häretiker „im Spätmittelalter in der Literatur oft zu einer ‚unheiligen‘ Trias“ wurden, „die immer und überall die wahren Christen bedrohen“343. Auch in volkssprachigen Texten wurde diese Ansicht seit dem späten 12. Jahrhundert popularisiert und verbreitet, wie ein Blick in die Predigten Priester Konrads und Bertholds von Regensburg zeigt:344 sin gerihte unde sin angestlichiu urtaile diu enreget uber anander niemen niwan uber juden unde uber haiden unde ouch uber bose cristen.345 Ir jüden, ir heiden, ir ketzer, ir sît gar guot ze erkennen an iuwer sprâche, wan ir redet allez daz wider kristenglouben ist, als iuwer herre der tiuvel, der sô lange niderlant gebûwet hât und iemer mê êwiclîchen bûwen muoz, die wîle got ein herre in dem himel ist.346 sol man daz volk dannoch lêren, wie man in halten sol kristenlîchen, ob in jüden oder heiden oder ketzer den kristenglouben leiden wolten, daz sie den künnen widerstên unde sich vor ungelouben gehüeten künnen.347 dâ von bezeichent der mâne den unglouben, wan der mâne sô gar unstaete ist in sô maniger lûne. Er ist hiute junc und elter morgen; hiute nimet er abe, morgen nimet er zuo; nû kleine, nû grôz; 340 Vgl. unter anderen ‚Continuatio chronici Guillelmi de Nangiaco‘, S. 628–630; ‚Chroniques de Saint-Dénis‘, S. 704f.; ‚Chronicon Girardi de Fracheto‘, S. 55–57; MOLLAT (Hrsg.): ‚Vitae paparum Avenionensium‘, Bd. 1, S. 132–134; BORMANS (Hrsg.): ‚Ly Myreur des Histors‘, Bd. 6, S. 264f.; ‚Genealogia comitum Flandriae‘, Sp. 414. 341 München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 10247, fol. 61ra. 342 PAKTER: Law, S. 119. 343 GRAUS: Pest, S. 270. 344 Vgl. dazu auch BENDICK: Antijudaismus, S. 31–59; SCHULZE: Predigten, S. 114–118. 345 SCHÖNBACH (Hrsg.): Predigten, Bd. 3, S. 184. 346 PFEIFFER/STROBL/RUH (Hrsg.): Berthold, Bd. 1, Nr. XVIII, S. 252. 347 PFEIFFER/STROBL/RUH (Hrsg.): Berthold, Bd. 1, Nr. XXIII, S. 361.

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nû gêt er hôhe an dem himel, morgen gêt er nider; nû hin, nû her, nû sus, nû sô. Daz selbe sint ungloubige liute, sô heiden, sô jüden, sô ketzer.348 der juncherre des tiuvels, der dâ heizet ungloube. Der hât sich nû gebreitet under jüden, heiden unde ketzer unde sus maniger leie.349

Schon vor Berthold wurde in der ‚Bescheidenheit‘ Freidanks, einer der frühesten mittelhochdeutschen Gnomiksammlungen, die unheilige christenfeindliche Trias beschworen: suln ketzer, juden, heiden / von gote sîn gescheiden, / sô hât der tiuvel ‘z groezer her (26,20–22).350 Schließlich brachte man die Juden noch mit einer weiteren Gruppe in Verbindung, die zwar keine Emanation des „Fremden“, dafür jedoch in patriarchal organisierten Gesellschaften die klassische Verkörperung des „Anderen“ darstellt:351 mit den Frauen.352 Mit diesen, dem christlich-theologischen Weltbild des Mittelalters ambivalenten Wesen verbanden die Juden subtilere und zugleich existenziellere Gemeinsamkeiten als mit allen anderen Emanationen des Fremden und Anderen: Nach der autoritativen Ansicht des Dominikaners Thomas von Cantimpré (1201–1263/72), die dieser im Zusammenhang seiner Schilderung eines Ritualmordprozesses in Pforzheim 1267 formuliert,353 litten Vertreter beider Gruppen an Menstruationsblutungen, die sie als göttliche Strafe beständig an ihr jeweiliges sündiges Verhalten erinnerten. Die Frauen als Töchter Evas wurden damit an die Ursünde ihrer Ahnin gemahnt (Gen 3,6). Die Juden, und zwar auch und gerade die Männer, hatten dieses Leiden hingegen als Strafe für ihre Selbstverfluchung Sanguis eius super nos, et super filios nostros (Mt 27,25) anläßlich der Verurteilung Jesu durch Pilatus auf sich gezogen. Zur Linderung der durch dieses Leiden entstehenden Schmerzen, und vor allem zur Überdeckung des dadurch entstehenden foetor judaicus, verwendeten die Juden eine Salbe, für deren Herstellung sie unter anderem Christenblut benötigten.354 Diese Vorstellung wird auch in 348 PFEIFFER/STROBL/RUH (Hrsg.): Berthold, Bd. 1, Nr. XXV, S. 402. 349 PFEIFFER/STROBL/RUH (Hrsg.): Berthold, Bd. 1, Nr. XXXIII, S. 530; vgl. auch ebd., S. 365: heiden unde ketzer unde jüden unde slafênen und tatânen. 350 Nach Berthold stellt zum Beispiel der anonyme Verfasser des ‚Lebens der heiligen Elisabeth‘ der ketzerie dobeheit und die blinde judesh e zusammen auf eine Stufe (v. 10111–10116). 351 Vgl. dazu grundsätzlich CIXOUS/CLEMENT: Jeune; IRIGARAY: Speculum; DE BEAUVOIR: Sexe. 352 Zur Verbindung von Frauen mit Juden und Teufeln in der Exempelliteratur vgl. grundsätzlich YOUNG GREGG: Devils. 353 Vgl. Thomas Cantimpratensis ‚Bonum universale de proprietatibus apum‘ II, cap. 28; eingesehen im unpaginierten Druck Köln, bei Johannes Koelhoff d.Ä., 1478–1480 (Würzburg, Universitätsbibliothek, I.t.f. 226); vgl. auch TRACHTENBERG: Devil, S. 148; ARREG, Nr. 728, S. 307. 354 Meines Erachtens steckt diese Vorstellung auch hinter der Bemerkung der ‚Annales Marbacenses‘, die als fama communis charakterisiert wird, zum Ritualmord von Fulda 1235: Iudei christianum sanguinem in parasceve necessarium haberunt ut ex eis sanguinem ad suum remedium elicerent; für DIESTELKAMP: Vorwurf, S. 21, ist an dieser Stelle jedoch ein Heilmittel der Seele und

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deutschsprachigen Texten anzitiert, so zum Beispiel im zweiten, zwischen 1292 und 1294 entstandenen Gedicht des ‚Kleinen Lucidarius‘, in dem der Knecht die Juden anredet: der rôte siechtuom und das vîc / macht iuch bleich unde gel (II, v. 1190f.). Unter dem rôten siechtuom ist wohl hämorrhoidaler, kaum tuberkulöser, Blutfluß zu verstehen, vîgen sind hier hingegen „Feigwarzen“, die als Symptome einer Reihe von Geschlechtskrankheiten auftreten.355 Noch deutlicher wird der als Leibarzt am Münchener Hof der Wittelsbacher tätige Johannes Hartlieb (vor 1410–1468) in seinen ‚Secreta mulierum’, der die Vorstellung zugleich humoralpathologisch-diskursiv verwissenschaftlicht: Dw solt mercken, das wol muglich ist, das etlich man auch dy selben fluß haben, ettlich all manet, ettlich all quottember, ettlich ainst ym jar, vnd das geschicht also: Dye juden haben den fluß gar vast, wann sy essenn kaltew vnd vnraine speysß vnd haben gar sellten guete dewing, wan sy sind kalter vnd fewchter natur, vnd in der leber haben sy gewonlich bosse dewung. Darvmb get das selb all manet von in als von denn weyben, vnd vmb dye vnd nach geschriben sach sind gewondlich all iuden, den fluß all manet tzw haben.356

Der drohende Verlust der kulturellen Eindeutigkeit und die Furcht vor einer Kette allmählicher Übergänge, die vom äußeren Feind zum inneren Feind, seinem Komplizen, seiner Emanation führten, die sich in den soeben beschriebenen Imaginationen Ausdruck verschaffte, beschwor auf christlicher und jüdischer Seite Abwehrreaktionen herauf, die sich vor allem auf dem Gebiet des theologisch fundierten Rechts niederschlugen: sei es in den kanonistischen Regelungen des vierten Laterankonzils 1215, die die Erkennbarkeit der fremden Minorität unter anderem durch äußerlich sichtbare Kennzeichen abzusichern suchten,357 oder sei es in den wiedernicht des Körpers gemeint. Vgl. dazu auch TREUE: Judenprozeß, S. 30f.; bei BRAUN: „Blut“, S. 80–95, fehlt dagegen jeglicher Hinweis auf diese in der europäischen Vormoderne weit verbreitete Phantasmagorie; zur christlichen Blutobsession im Hoch- und Spätmittelalter vgl. auch TRACHTENBERG: Devil, S. 247 Anm. 44: “Somehow blood – the blood of Christ, of martyrs and saints, of slashed images and mutilated hosts, of murdered children – seems to have been one of the foremost themes of popular Christianity.“ 355 Vgl. zu diesen Übersetzungsvorschlägen auch LEXER, Bd. 2, Sp. 910f. u. Bd. 3, Sp. 334. 356 BOSSELMANN-CYRAN (Hrsg.): ‚Secreta mulierum’, S. 135f. 357 Vgl. MANSI, Bd. 22, Sp. 1055: in nonnullis provinciis a Christianis Judaeos seu Saracenos habitus distinguit diversitas: sed in quibusdam sic quaedam inolevit confusio, ut nulla differentia discernantur. Unde contingit interdum, quod per errorem Christiani Judaeorum seu Saracenorum, & Judaei seu Saraceni Christianorum mulieribus commisceantur. Ne igitur tam damnatae commixtionis excessus, per velamentum erroris hujusmodi, excusationis ulterius possint habere diffugium; statuimus ut tales utriusque sexus, in omni Christianorum provincia, & omni tempore; qualitate habitus publice ab aliis populis distinguantur, cum etiam per Moysen hoc ipsum legatur eis injunctum.; vgl. dazu PAKTER: Law, S. 292–297. Im deutschen Sprachraum wurde diese Bestimmung des Lateranum IV zuerst 1259 durch das Mainzer und 1267 durch das Wiener Konzil propagiert; die Beschaffenheit des spezifischen jüdischen habitus legten diese beiden Konzilien wie folgt fest: in der Diözese Mainz reichen nicht näher erläuterte talia signa (MANSI, Bd. 23, Sp. 1007), das Wiener

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holten rabbinischen Verboten des Genusses von Wein, der von Nichtjuden hergestellt worden war,358 um die sozialen Kontakte zwischen den beiden Gruppen möglichst zu beschränken. Allein die nachdrückliche Regelmäßigkeit, mit der sich die geistlichen Autoritäten beider Seiten dazu veranlaßt sahen, solcherlei Verbote auszusprechen, spricht bereits dafür, daß in der Lebensrealität interkulturelle Kontakte der einen oder anderen Art wesentlich häufiger waren, als man gemeinhin anzunehmen bereit ist.359 Die weit verbreitete Vorstellung von einer vor der Epoche der europäischen Aufklärung streng eingehaltenen Scheidung zwischen jüdischer und christlicher Alltagswelt hängt meines Erachtens ursächlich mit der Perspektive des modernen Betrachters zusammen, der auf eine lang vergangene Epoche quasi durch ein Prisma der Verfolgungsgeschichte blickt. Diese Verfolgungsgeschichte ist auf das Engste mit drei spezifischen Verbrechen verbunden, die den Juden Europas seit dem 12. Jahrhundert immer wieder zur Last gelegt wurden und eine beständige Lebensbedrohung bedeuteten – Ritualmord, Brunnenvergiftung und Hostienfrevel. Die Entwicklungsgeschichte dieser Beschuldigungen ist in den vergangenen Jahrzehnten ausführlich dargestellt und analysiert worden,360 so daß hier nur an einige grundsätzliche Eckpunkte erinnert sei: Der Vorwurf des Ritualmords entsteht zuerst 1144 im englischen Norwich,361 im späteren 12. und frühen 13. Jahrhundert breitet er sich von England über Nordfrankreich ins deutsche Reich aus.362 Die ersten Ritualmordprozesse ereignen sich im deutschen Sprachraum, „wo die Ritualmordbeschuldigung eine größere Verbreitung fand als in irgendeinem anderen Land“363, in Fulda (1235),364

358 359 360 361 362 363 364

Konzil verlangte dagegen den cornutum pileum, quem quidam in istis partibus consuerverunt deferre (ebd., Sp. 1174; vgl. dazu SCHMID: Geschichte, S. 122; ALTMANN: Geschichte, Bd. 1, S. 194; SCHERER: Rechtsverhältnisse, S. 331f.). Vgl. dazu EISENSTEIN: rcw), S. 168f. So auch HOENIGER: Geschichte, S. 90f.; gegenteilig KATZ: Exclusiveness, S. 10. Zur grundsätzlichen Orientierung vgl. die beiden Monographien von GRAUS: Pest, zur Brunnenvergiftung und RUBIN: Tales, zum Hostienfrevel bzw. den Sammelband von ERB (Hrsg.): Legende, zum Ritualmord. Vgl. dazu DAXELMÜLLER: „Nägel“, S. 53–55; TRACHTENBERG: Devil, S. 124f. u. 131– 133; JACOBS: Jews, S. 19–21 u. 256–258; generell ERB: „Ritualmord“, S. 74–79; GRAUS: Pest, S. 282–286. Vgl. dazu TREUE: Judenprozeß, S. 29–40; LOTTER: Virgo, S. 25–72. TREUE: Judenprozeß, S. 35. Vgl. ARREG, Nr. 474. Nach TREUE: Judenprozeß, S. 35, muß man den ersten Ritualmord im Reich bereits in den Zusammenhang des zweiten Kreuzzugs setzen: nach übereinstimmender Auskunft christlicher (‚Annales Herbipolenses‘ a.D. 1147) und jüdischer (‚Ephraim ben Jakob-Chronik‘) Quellen fanden die Kreuzfahrer bei Würzburg einen toten Christen im Main, dessen Ermordung sie den Juden der Stadt zur Last legten und daraufhin 22 von ihnen erschlugen; für LOTTER: Virgo, S. 48f., stellen die Würzburger Ereignisse jedoch lediglich ein frühes Vorspiel „echter“ Ritualmorde dar, die im Reich erst ab dem zweiten Drittel des 13. Jahrhunderts stattgefunden haben.

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Pforzheim (1267)365 und in Krems (1293).366 Der Vorwurf der Brunnenvergiftung kommt hingegen zum ersten Mal 1163 im böhmischen Troppau auf,367 virulent wird er jedoch erst im 14. Jahrhundert, als während der europaweiten Pestwellen tausende Juden der mutwilligen Vergiftung von Quellen, Bächen und Brunnen bezichtigt und deshalb getötet werden.368 Besonders häufig wurde den Juden die Schändung einer Hostie zur Last gelegt,369 obwohl die erste Beschuldigung eines solchen Verbrechens erst 1290 in Paris, also relativ spät erhoben wurde.370 Im weiteren Mittelalter erfreute sich diese Anschuldigung jedoch besonderer Beliebtheit, wie allein die Tatsache verdeutlicht, daß die erste Hostienfrevelanklage im österreichischen Raum (1294 in Laa an der Thaya) in kurzen Intervallen immer neue Beschuldigungen dieser Art nach sich zog: 1305 in Korneuburg, 1306 in St. Pölten, 1307 in Wien, 1310 in der Steiermark und 1338 in Pulkau.371 An der Wende zur Frühen Neuzeit wurden folgerichtig in erster Linie Hostienschändungen zum Thema der neuartigen Textgattung der Flugschriften, deren hohe Vervielfältigungsrate eine merkliche Vergrößerung des Wirkungskreises antijüdischer Propaganda zur Folge hatte.372 Neben angstbesetzten Phantasmagorien, die ihren Ausdruck in Vorstellungen von den mit inneren und äußeren Feinden verbündeten, Christen ermordenden, Hostien schändenden und Brunnen vergiftenden Juden fanden, spielt schließlich auch die Verengung der Wahrnehmung der Juden in ihrer christlichen Umwelt auf den ökonomischen Bereich, insbesondere auf den Aspekt der Zinswirtschaft, eine Rolle in der Verengung der Wahrnehmung des neuzeitlichen Historikers auf das Trennende und Dissonante im jüdisch-christlichen Verhältnis des Mittelalters. Daß Juden 365 Vgl. ARREG, Nr. 728. 366 Vgl. KNAPP: Literatur, Bd. 2/1, S. 453. In engem Zusammenhang mit dem Kremser Fall steht wohl die zeitgleich entstandene Bemerkung im ‚Kleinen Lucidarius‘ II, v. 1099–1101: ez bringent noch alliu jâr / die juden Kristes marter dar: / ein Kristen sie mordent. 367 Vgl. dazu TRACHTENBERG: Devil, S. 238 Anm. 14; BONDY/DWORSKY (Hrsg.): Geschichte, Bd. 2, Nr. 1110, S. 886. 368 Vgl. zu Chronologie und Umfang der Pestpogrome GRAUS: Pest, S. 159–167. 369 Vgl. dazu GRAUS: Pest, S. 286–293. 370 Vgl. dazu RUBIN: Tales, S. 40–48; anders TRACHTENBERG: Devil, S. 114, der von einem ersten Hostienschändungsvorwurf 1243 in Belitz bei Berlin ausgeht. Vgl. dagegen LICHTENSTEIN: Vorwurf, S. 196, der nachweist, daß sich Juden erst nach der Mitte des 13. Jahrhunderts in der Mark Brandenburg angesiedelt haben, zunächst aus dem Erzbistum Magdeburg, nach 1298 im Zuge der Rindfleisch-Verfolgungen dann auch aus Franken kommend. Der erste „tatsächliche“ Hostienfrevel, der „großes Aufsehen erregt und eine ganze Kette von Verfolgungen nach sich gezogen [hat], die mehr als zwei Jahrhunderte lang die Juden Europas, namentlich Deutschlands, heimgesucht haben“ (ebd., S. 193), fand demnach erst 1290 in Paris statt; vgl. auch ARREG, Nr. 542. 371 Vgl. KNAPP: Literatur, Bd. 2/1, S. 105 u. 107. 372 Vgl. dazu grundsätzlich MITTLMEIER: Publizistik, S. 56–95, die die Hostienfrevel von Passau (1477), Sternberg in Mecklenburg (1492) und Knobloch bei Berlin (1510) untersucht.

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oftmals mit Kaufleuten gleichgesetzt wurden – und zwar schon im frühmittelalterlichen deutschen Sprachraum – zeigt die Formulierung des neunten Absatzes der 906 von Ludwig III. (882–928) erlassenen ‚Raffelstettener Zollordnung‘: Mercatores, id est Iudei et ceteri mercatores, undecunque venerint de ista patria vel de aliis patriis.373 Diese Gleichsetzung scheint, zumindest in christlich-theologischen Kreisen, im 12. Jahrhundert bereits so verbreitet gewesen zu sein, daß Bernhard von Clairvaux (1090–1153) in einem Brief vom November 1146 christliche Kaufleute als „getaufte Juden“ bezeichnen konnte, ohne diese Wortwahl seinen Adressaten näher erläutern zu müssen: Christianos feneratores, si tamen Christianos, et non magis baptizatos Judaeos convenit appellari.374 Im deutschen Spätmittelalter setzte sich für diese Vorstellung die populäre Gleichung Jude – wuocheraere durch, die insbesondere im moralisch-didaktischen Schrifttum immer wieder auftaucht, sei es in den Predigten Bertholds von Regensburg,375 im ‚Renner‘ des Bamberger Magisters Hugo von Trimberg (vv. 16279–16298 u. 16953–16955) oder im anonymen ‚Kleinen Lucidarius‘ (II, vv. 433 u. 1102–1106) – wuocher, also Zinsnehmen, wird in diesen Texten nachgerade zu einem terminus technicus für jüdisches Wesen und Handeln.376 Diesem Schema folgt auch der Dominikaner Heinrich Kalteisen, Inquisitor der deutschen Kirchenprovinz und späterer päpstlicher Hoftheologe, in einem Schreiben an Herzog Heinrich XVI. den Reichen von Bayern-Landshut (1368–1450) aus dem Jahre 1449, in dem er sich darüber beschwert, daß der Predigermönch Heinrich Feuchtwanger, dessen Hauptaufgabe das Abhalten antijüdischer Predigten war, auf Befehl des Herzogs aus Landshut vertrieben wurde: ein Jud mag gemercket werden zwifaltigklichen: als ain Jud oder als ein offenbarer wücherer. als ain Jud, der do nit wüchert, mügen si wonen under den Cristen, als in Rom wonend. da sind si gezeichent. sie kaufen und verkaufen. sie sein hantwerchs arbeiter. so sind sie ain spiegel des leidens unsers herrn Jesu Christi, den ir elter gecreuzigt haben. als ainen offenbaren wucherer ensol kain Jud in der Cristenhait nicht sein, als kain Crist sol kainen wucherer aufhalten noch im sein haus leihn, und was die fürsten von in nehmen als von wucherern, das mugen sie nicht behalten, sunder sie sollen das keren in Gottes ere. das sie Cristenplüt bedürfen, das hat manger großer maister geschriben, und ist das also, so ist es ain groß mirackel und ain bestatigung un-

373 Vgl. dazu ALTMANN: Studies, S. 55 u. 98; SCHERER: Rechtsverhältnisse, S. 109–113; ARREG, Nr. 122. 374 ‚Epistola CCCLXIII‘, Sp. 567; in diesem Zusammenhang weist HOENIGER: Geschichte, S. 97, darauf hin, daß Bernhard das Verb judaizare vor allem als Bezeichnung jüdischen Handeltreibens verwendet. 375 Vgl. PFEIFFER/STROBL/RUH (Hrsg.): Berthold, Bd. 1, Nr. II, S. 27; Nr. XIX, S. 281; Nr. XXVI, S. 438. 376 Vgl. dazu auch RAPHAEL: „Wucherer“, S. 104–106; TRACHTENBERG: Devil, S. 190.

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sers heiligen glaubens und ist den Juden gegeben zu erkanntnuss ires ungelaubens und ist auch gefunden, das sie Cristenmenschen getöt haben, das blut zu gebrauchen.377

Kalteisen verbindet in seiner Definition zu duldender und nicht zu duldender Juden also verschiedene theologische Konzepte und Ansichten die Juden betreffend miteinander: das augustinische Prinzip des testimonium veritatis und die Vorwürfe des wuochers sowie des Ritualmords. Eine noch andere Verbindung hatte knapp zwei Generationen vor Kalteisen Heinrich Heinbuche von Langenstein (1325–1397), ein in Paris ausgebildeter, daselbst als Professor und Vizekanzler an der Universität tätiger und seit 1384 mit der Reorganisation der Wiener Universität betrauter universaler Gelehrter, der unter anderem als erster deutscher Christ eine hebräische Grammatik verfaßte,378 hergestellt: Die Arbeit sei eine dem Menschen von Gott auferlegte Pflicht, der Müßiggang dagegen Sünde. Das Zinsnehmen der Juden sei deshalb so verwerflich, weil es zum Müßiggang führe. Ja, noch schlimmer, es lasse den Juden viel freie Zeit, welche diese zum Lernen nutzten, ‚um den christlichen Glauben zu widerlegen und schlichte Christenmenschen zu Fall zu bringen‘. Langenstein erblickte in der vielen Freizeit, die den Juden zur Verfügung stand, eine Gefahr, denn sie verschaffte ihnen einen Wissensvorsprung in ihren Disputationen mit den Christen.379

Die schier endlos erscheinende Geschichte der Verfolgung, von den Massakern im Verlauf des ersten Kreuzzugs (1096), über die Rindfleisch- und Armleder-Verfolgungen (1298–1303 bzw. 1336–1338), die Pogrome während der großen Pestwelle Mitte des 14. Jahrhunderts, den Fettmilch-Aufstand (1614) und die sogenannten Hep-Hep-Unruhen (1819) bis hin zum Genozid der Nationalsozialisten (1939–1945), verdunkelt somit zumeist den Blick des heutigen Interpreten für die Facetten des kulturellen Transfers zwischen deutschsprachigen Juden und Christen während der Jahrhunderte des Hoch- und Spätmittelalters, dessen Spuren sich vor allem in der volkssprachigen Literatur finden lassen.

377 STRAUS: Judenpolitik, S. 97f. 378 Wie die meisten seiner Werke ist auch die Schrift ‚De ydiomate Hebraico‘ noch unediert; überliefert ist sie in der Handschrift München, Bayerische Staatsbiliothek, clm 5736. 379 Vgl. YUVAL: Juristen, S. 119. In ganz ähnlicher Weise äußern sich zwei rabbinische Autoritäten des 14./15. Jahrhunderts, Schalom von Wiener Neustadt (gest. 1415) und dessen Schüler Israel Isserlein (1390–1460), die beide betonen, daß das Zinsnehmen, das den Juden in Aschkenas erlaubt, in anderen Gegenden aber verboten sei, dazu beitrage, daß in Deutschland die Beschäftigung mit der Lehre eifriger betrieben werde als in den übrigen Ländern, vgl. FREIMANN (Hrsg.): r#wy +ql, Bd. 1, S. 118f.

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2. Die gemeinsame Sprache der Christen und Juden in Aschkenas Sämtliche Bedingungen, Formen und Funktionen des Transfers von kulturellem Wissen aus dem jüdischen in das christliche Archiv während des deutschen Mittelalters lassen sich einem übergeordneten, alles bedingenden und beeinflussenden Makrodiskurs zuordnen: der Rolle der Sprache als Instrument des sozialen und intellektuellen Kontakts oder der Abbzw. Ausgrenzung. Dieser Sprachendiskurs – wobei der Begriff des Diskurses institutionalisierte Aussagemengen umfaßt, die „im Blick auf das, was man wissen und sagen könnte, stets als Auswahl oder ‚Verknappung‘ verstanden werden müssen“380 – determiniert die Akteure des Kulturtransfers, die Sprecher, die Mittel der Tradierung des Kulturtransfers, die Texte, und schließlich selbst die tradierten Stoffe. Die unterschiedlichen Transferdiskurse definieren sich auf der Mikroebene wiederum durch Inhalte, Themen, Intentionen und Quellenbereiche als auch durch Redeweisen, Textfunktionen, Argumentationsweisen, Kommunikationssituationen, das Verhältnis von Bild und Realität und die Beziehung von Minorität und Majorität.381 In beiden am Kulturaustausch beteiligten gesellschaftlichen Gruppen existierten gleichgeartete sprachliche Dichotomien: Latein und Hebräisch als jeweilige Sprache der Gebildeten, die nur innerhalb der jeweiligen Gruppe wirken konnten und somit Kontaktbarrieren bildeten, und die Volkssprache als hauptsächliches Mittel des Kulturtransfers, sozusagen die lingua franca, die Juden und Christen verbinden konnte. Die sprachliche Trennlinie zwischen Gebildeten und Ungebildeten, zwischen litterati und illitterati, zwischen Geistlichen und Laien verlief jedoch nicht allein zwischen den beiden Gruppen, sondern auch innerhalb ihrer jeweiligen Sozialstruktur: Die soziale Besonderheit einer Berufsgruppe äußert sich unter anderem in der Schaffung eines sprachlich-semantischen Codes, der Nicht-Fachleuten unverständlich ist. Dadurch wird die Berufsausbildung mehr oder weniger esoterisch, und sie vermag die Trennwand zwischen Fachleuten und Laien zu verfestigen.382

Dies trifft sowohl auf das Lateinische im christlichen wie auf das Hebräische im jüdischen Kulturkontext des Mittelalters zu – und in beiden Kulturen waren diejenigen, die durch ihre Kenntnis dieser esoterischen Codes Zugang zum jeweiligen Bildungsarchiv besaßen darum bemüht, diese innergesellschaftliche Trennung zwischen clerici und laici aufrechtzuerhalten, was man zum Beispiel im späteren Mittelalter an der scharfen Ablehnung 380 PLUMPE: Kunst, S. 331. 381 Vgl. zu diesem Diskursbegriff SCHNELL: Frauendiskurs, S. 29. 382 YUVAL: Juristen, S. 127f.

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religionsgesetzlicher Schriften in der Volkssprache durch rabbinische Autoritäten wie Maharil,383 oder auch an der Abwehrhaltung christlicher Theologen gegenüber volkssprachigen Bibelübersetzungen ablesen kann.384 Hingegen ermöglichte der Rekurs auf die Volkssprache, wie erwähnt, die Kontaktbrücke zwischen Christen und Juden, wobei die Vertreter der jüdischen Seite in der Regel gleich auf mehrere Volkssprachen – neben dem Deutschen oft auch das Französische – zurückgreifen konnten, zudem war auch die Kenntnis der Sprache der Gebildeten im jüdischen Kontext aufgrund seiner spezifisch kulturell-religiösen Prägung allgemeiner verbreitet als die Kenntnis des Lateinischen auf christlicher Seite, die der Mehrzahl der Christen doch wesentlich esoterischer blieb als das Hebräische den durchschnittlich gebildeten Juden des Mittelalters. Mit der Zwei- und Mehrsprachigkeit der Juden war mithin „sowohl die Möglichkeit des Kontakts wie auch der Ab- und Ausgrenzung gegeben“385. Dementsprechend müssen zum Beispiel die für den deutschen Sprachraum seit dem 11. Jahrhundert bezeugten, in ihrer Häufigkeit während des gesamten Mittelalters wenig nachlassenden Religionsgespräche in der Volkssprache abgehalten worden sein. Im weiteren Verlauf unserer Untersuchung werden die Produkte dieses über die Volkssprache vermittelten kulturellen Austauschs analysiert, die literarischen Niederschlag in Form von Texten in der deutschen Volkssprache gefunden haben, also über das subliterarische, historisch höchstens sekundär faßbare Stadium hinausgekommen sind. Spuren dieser Art finden sich im deutschen Hoch- und Spätmittelalter vorrangig in Texten christlicher Autoren für ihr christliches Publikum, während volkssprachig-literarische Beispiele für einen Kulturtransfer vom christlichen ins jüdische Archiv erst am Ende bzw. nach dieser Epoche sichtbar werden: vereinzelt in Form der Texte der ‚Cambridger Handschrift‘386, gehäuft in Form der älteren jiddischen Literatur im 15. bis 18. Jahrhundert.387 Bevor wir jedoch zur eigentlichen Spurensuche gelangen, verlangt noch eine Frage Beachtung und Klärung, die bisher stillschweigend als beantwortet behandelt wurde: Sprachen Juden und Christen im deutschen 383 Vgl. SATZ (Hrsg.): New Responsa, Nr. 93; vgl. dazu auch YUVAL: {ymkx, S. 312–314. 384 Christlichen Laien wurde zum ersten Mal 1229 durch das Konzil von Toulouse der Besitz von Bibeln untersagt, ein Verbot, das in der Folgezeit in regelmäßigen Abständen und in ganz Europa wiederholt wurde, vgl. dazu LEWIN: Religionsdisputation, S. 110. 385 TOCH: Juden, S. 37. 386 Vgl. dazu RÖLL: ‚Cambridger Handschrift‘, Sp. 1169f.; die Texte aus Cambridge, University Library, T.–S. 10. K 22 sind ediert bei HAKKARAINEN (Hrsg.): Studien; GANZ/NORMAN/SCHWARZ (Hrsg.): ‚Dukus Horant‘; FUKS (Hrsg.): Documents. 387 Unter anderem gehören dazu jiddische Fassungen von ‚Wigalois‘ (= ‚Widuwilt‘)‚ ‚Eulenspiegel‘, ‚Die Schildbürger‘, ‚Die sieben weisen Meister‘, ‚Fortunatus‘ und ‚Magelone‘, vgl. DINSE/LIPTZIN: Einführung, S. 47.

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Mittelalter überhaupt eine gemeinsame Sprache? In der Antwort auf diese Frage läßt sich wiederum die generelle wissenschaftsgeschichtliche Scheidewand in den dreißiger und vierziger Jahren des vorigen Jahrhunderts erkennen. Während im 19. und frühen 20. Jahrhundert die Antwort eindeutig positiv ausfiel, denn „wie wir aus dem alten jüdischen Schriftthume in deutscher Sprache und aus gelegentlichen Anführungen in hebräischen Schriften zu erkennen vermögen, haben die Juden des Mittelalters die deutsche Sprache mindestens in derselben Reinheit und Correctheit zu benutzen verstanden, wie die deutschen Nichtjuden“388, betonen jüngere Arbeiten auch hier die Juden und Christen trennenden Momente: “the dialects of the Jews and Christians have much in common, yet they also include differences which are significant to group members and thus serve to create boundaries between the groups“389. Dieser Paradigmenwechsel hängt nicht allein mit dem „Kulturbruch“ der nationalsozialistischen Herrschaft zusammen, sondern auch mit den Bemühungen der jungen philologischen Disziplin Jiddistik, sich innerhalb des akademischen Fächerkanons zu etablieren. Insbesondere MAX WEINREICH, neben SALOMO BIRNBAUM sicherlich der bedeutendste Vertreter der ersten Generation jiddistisch-universitärer Forschung im 20. Jahrhundert, ist vehement für die Eigenständigkeit des Fachs und vor allem für die eigenständige Entwicklung des Fachgegenstands eingetreten:390 für ihn konstituiert sich das Jiddische als vollständig ausgeprägte indoeuropäische Sprache nicht erst seit der kompletten sprachräumlichen Ablösung vom zuvor koterritorialen Deutsch im Laufe des 18./19. Jahrhunderts, sondern bereits in seiner frühesten, nicht erhaltenen und nurmehr erschlossenen Form des „Proto-Jiddisch“, die WEINREICH ins 11./12. Jahrhundert datiert. Ausschlaggebend dafür, ob eine von Juden als Verkehrssprache verwendete sprachliche Kommunikationsform als Dia- oder Soziolekt einer bereits bestehenden, „nichtjüdischen“ Sprache oder als neue, eigenständige „jüdische“ Sprache zu klassifizieren ist, ist demnach das Ausmaß an +yyq#ydy („Jüdischkeit“), das auf der strukturellen und formalen Ebene dieser Sprache sichtbar wird. Dabei reicht für WEINREICH bereits die Verwendung des hebräischen anstelle des lateinischen oder eines anderen, „nichtjüdischen“ Graphiesystems aus, um eine Sprache als „jüdisch“ und damit eigenständig und gruppenbezogen einzuordnen – ganz unabhängig davon, ob dieser Befund zum Beispiel auf der lexematischen Ebene durch das Vorhandensein hebräischer oder aramäischer Lexeme unterstützt wird

388 BERLINER: Sprache, S. 163. 389 MILLER: Identity, S. 75. 390 Vgl. zum folgenden WEINREICH: (+ky#(g, Bd. 1, S. 3–11.

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oder nicht.391 Gänzlich beliebig droht diese Vorgehensweise vor allem dann zu werden, wenn die ohnehin schon wenig trennscharfe Klassifizierungskategorie „Jüdischkeit“ mit ähnlich unspezifischen Thesen der Soziolinguistik verbunden wird, wie das Beispiel von JOSHUA FISHMANs Definition „jüdischer“ Sprachen zeigt, wonach “an attitudinal (i.e. cognitive-affective) basis“ für eine solche Klassifizierung hinreicht, „that is, they are Jewish because Jews or non-Jews believe them to be Jewish“392. WEINREICHs Position wurde mittlerweile von jüngeren Jiddisten zwar eingeschränkt, abgesehen von BETTINA SIMON, die anhand eines Vergleichs jiddischer Texte des 16. und des 19./20. Jahrhunderts auf die grundsätzliche Differenz zwischen der älteren, „jüdisch-deutschen“ und der jüngeren, „jiddischen“ Sprachstufe aufmerksam gemacht hat und dementsprechend für die Vormoderne nicht von der Existenz einer eigengesetzlichen Sprache, sondern lediglich von einem durch ein bestimmtes Maß an aus dem Hebräischen entlehnten kulturellen Fachtermini und die Verwendung eines nicht-lateinischen Graphiesystems gekennzeichneten Soziolekt der jüdischen Minderheit ausgeht,393 selten grundsätzlich in Frage gestellt. Gemeinhin präferiert man, spätestens seit der grundlegenden Studie ERIKA TIMMs,394 den Terminus „Westjiddisch“ für die Sprache aller seit dem 11. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts in Zentraleuropa entstandenen, mit hebräischen Schriftzeichen von Juden für Juden geschriebenen Texte.395 Dieser Terminus impliziert jedoch weiterhin, daß die Juden des mittelalterlichen Reichs eine distinkte, sie von der koterritorialen Christenheit unterscheidende Sprache verwendeten, die zwar in vielerlei Hin391 Nach WEINREICHs Klassifizierungskategorien sind dann auch solche Texte des späten 14. Jahrhunderts wie diejenigen der ‚Cambridger Handschrift‘ oder die Zürcher Urfehdebriefe, die keinerlei oder nur minimalen hebräischen Lexembestand aufweisen und ansonsten zeitgenössischen deutschen Schriftdialekten entsprechen, der jiddischen Sprache zuzuordnen und demgemäß dem Jiddisten als Untersuchungsgegenstand zu überlassen. 392 FISHMAN: Sociology, S. 4f. Das definitorische Dilemma, in das solche unspezifischen Kategorien führen, veranschaulicht ALT: 1382, S. 42–48, der mal den ‚Dukus Horant‘ “the oldest surviving literary document in the Yiddish language“ (S. 42) nennt, wenig später aber seinen unklaren Begriff des Jiddischen mit dem Satz dokumentiert, wonach der Text “represents a phase of Yiddish that predates the period of its separation from all variants of New High German (S. 43) – warum ist es dann also Jiddisch? Gänzlich verwirrt erscheint die Darstellung ALTs schließlich, wenn aus dem „altjiddischen“ plötzlich ein “Germano-Judaic“ Text wird (ebd.). 393 Vgl. SIMON: Sprachgeschichte; SIMON: Sprache, S. 179–195; ihre Beschreibung des „Jüdisch-Deutschen“ trifft sich in gewisser Hinsicht mit EDWARDS: Language, S. 151, klassischer Dialektdefinition, derzufolge “dialect speakers do not represent a separate culture as much as a different subculture, one which, again, overlaps to some extent with that of standard speakers“. SIMONs abgewogene Position sollte nicht mit der banalisierenden Darstellung bei VOLOJ: buch, S. 15–18, verwechselt werden. 394 Vgl. TIMM: Struktur. 395 Vgl. bereits TIMM: Frage, S. 77.

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sicht mit der Sprache ihrer christlichen Nachbarn verbunden, nichtsdestoweniger aber erkennbar andersartig war. Im Gegensatz zu dieser Ansicht kehren wir zur eingangs zitierten Position ABRAHAM BERLINERs zurück und gehen davon aus, daß die Juden im deutschen Sprachraum des Mittelalters als Umgangssprache die verschiedenen deutschen Regionalidiome gebraucht [haben]. Im Rheinland des 11.–13. Jahrhunderts und möglicherweise noch später sprachen sie auch das Französische, in Böhmen und Mähren zusätzlich zum Deutschen die jeweiligen slawischen Sprachen. Die Entstehung des Jiddischen als Umgangssprache ist nicht vor dem Spätmittelalter, als Schriftsprache nicht vor der Frühneuzeit anzusetzen.396

Welche Indizien führen uns zu dieser Einschätzung? Es sind – neben der banalen Erkenntnis, daß eine im Alltäglichen so stark aufeinander bezogene Existenz wie die der jüdischen Minderheit und der christlichen Mehrheit in der Vormoderne gar nicht denkbar ist ohne eine gemeinsame Kommunikationsform – im Grunde drei Aspekte, die eine aktive und direkte Teilhabe des jüdischen Bevölkerungsanteils an der deutschen Volkssprache des Mittelalters nahelegen und die im folgenden kurz dargelegt werden: zunächst das Vorhandensein mittel- und frühneuhochdeutscher Glossen in hebräischen Texten aus Aschkenas; sodann die zahlreichen germanischen Vornamen unter den deutschen Juden des Mittelalters; schließlich direkte Aussagen in hebräischen Quellen über das Deutsche im allgemeinen oder als jüdische Verkehrssprache im besonderen. 2.1. Deutsche Glossen in hebräischen Texten Bereits in hebräischen Texten des 11. Jahrhunderts, namentlich in Raschis Bibel- und Talmudkommentaren, finden sich im fortlaufenden Text deutsche Glossen, meist zu Hapaxlegomena oder aufgrund grammatikalischer Besonderheiten schwer verständlichen Lexemen des hebräischen Ausgangstextes. Ob diese Glossen jedoch ebenso alt sind wie die Werke, die sie glossieren, ob die Existenz deutscher Glossen in hebräischen Quellen also bereits für das 11. Jahrhundert angenommen werden darf, ist schwer zu entscheiden. Wenn man andere hebräische Schriften des gleichen Zeit- und Entstehungsraums betrachtet, also vor allem die Responsen der frühen aschkenasischen Rabbiner, so fällt auf, daß darin als Glos-

396 TOCH: Juden, S. 25; anders jüngst wiederum TIMM: Frühgeschichte, S. 387, die die Entstehung einer linguistisch differierenden und differenzierbaren Struktur des Jiddischen mehrere Jahrzehnte vor das Ende des 14. Jahrhunderts datiert.

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satorensprache das Altfranzösische vorherrscht.397 Einer der wenigen Fälle einer deutschen Glosse in einem Responsum des 11. Jahrhunderts liegt vermutlich in dem kryptischen })g)ww (wagan) für hebr. bhz („Gold“) vor, das doch wohl mit ahd. wĆga („Waage, abgemessenes Gewicht“) zusammenhängt, und das sich bei Elieser ben Natan aus Mainz findet.398 Auch in Raschis Kommentaren dominieren altfranzösische Glossen, die entweder durch die Wendung z““(lb („in der Landessprache“) oder durch wnyn#lb („in unserer Sprache“) eingeleitet werden. Raschis Glossen wurden zusammen mit denen anderer Bibelkommentatoren des 11. und 12. Jahrhunderts wie Menachem ben Saruk, Josef Kara oder Josef Bechor Schor seit dem frühen 13. Jahrhundert auch losgelöst aus ihrem ursprünglichen Kontext in eigens angelegten hebr.-afrz. Glossaren gesammelt, wie zum Beispiel Glossen zu I Reg 3,12 bis Am in dem 1200–1210 entstandenenen Manuskript Basel, Universitätsbibliothek, Ms. Nr. 23399 oder zu Gen bis II Par in der 1240 von Josef ben Simon dem Märtyrer vollendeten Handschrift Paris, Bibliothèque nationale, Ms. hébr. 302.400 Die deutschen Glossen in Raschis Kommentaren dürften demnach, obwohl sie wie die französischen Übersetzungsvorschläge in den laufenden Kommentartext integriert und nicht etwa in margine nachgetragen erscheinen, als Zusätze seiner Schüler ab dem 13. Jahrhundert in den vielstudierten Text des Lehrers geraten sein,401 worauf auch ihre Orthographie und Lautung deuten, die in der Regel dem nachklassischen Mittelhochdeutschen der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entsprechen.402 Damit sind diese Glossen jedoch ein Beleg dafür, daß die Juden des deutschen Sprachraums sich seit ca. 1200/1250 nicht bloß im Kontakt mit der christlichen Majorität, sondern auch innerhalb ihrer eigenen kulturellen Gruppe und zudem bei einem für die jüdische Kultur derart konstitutiven Akt wie dem Studium der autoritativen religiösen Quellen der koterritorialen Volks397 Für Beispiele vgl. MÜLLER (Hrsg.): Responsen, Nr. 205, S. 55; CASSEL (Hrsg.): Rechtsgutachten, Nr. 66; deutsche Übersetzung bei HOFFMANN: Geldhandel, Nr. 24, S. 149 u. Nr. 28, S. 151. 398 Vgl. HOFFMANN: Geldhandel, Nr. 63, S. 168. 399 Ediert von BANITT (Hrsg.): Glossaire, Bd. 2. 400 Ediert von LAMBERT/BRANDIN (Hrsg.): Glossaire. Weitere Beispiele solcher Glossarhandschriften sind Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms. 1099 (zu Gen-Est); Paris, Bibliothèque nationale, Ms. hébr. 301 (zu Ios-Esdr); Parma, Biblioteca Palatina, Ms. 2780 (zu Gen 21,54Esdr); Parma, Biblioteca Palatina, Ms. 2924 (zu Gen 31,36-Esdr). 401 Spätere Schülergenerationen haben unter anderem auch russische Glossen in den Kommentartext eingefügt, vgl. zum Beispiel Raschi zu III Reg 6,7; vgl. auch ausführlich TIMM: Frage, S. 45–81. 402 So erscheint zum Beispiel mhd. /î/ bereits zu /ei/ diphthongiert oder mhd. anlautendes /s/ in Phonemverbindung mit /t/ oder /w/ graphisch als stimmloser Zischlaut /sch/ umgesetzt – beides Entwicklungen, die sich schon seit dem 13. Jahrhundert im Bairischen und Ostalemannischen beobachten lassen; vgl. dazu PWG, §§ 42 u. 155.

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sprache bedienten. Ein Beispiel aus Raschis Kommentar zu III Reg 6,8f. soll hier zur Illustration genügen. Aus der auch in ihrem weiteren Kontext an architektonischen Fachtermini und Hapaxlegomena reichen Bibelstelle kommentiert Raschi unter anderem ausführlicher die Lexeme {ylwl („Wendeltreppen“, v. 8, Vulgata: coclea) und {ybg („Hohlwölbungen“, v. 9, Vulgata: laqueares). Zu ersterem schreibt er: lgrwmh {#w }yy+#ldnyww znk#) }w#lbw zyyww wnynw#lb }yrwq# )wh ßlwhhw twl(m twl(m yw#( {ynb) dwm( }ynb )whw gy+#ldnyww# }y)w hwbg twm) hmkw hmk wb }ylw(w dwm( twbybs vyqmk hmwd }hb 403 ;w(wpy# )wh wpyqh yk {lws r)#k (p#l ßyrc

Den mhd. Glossen geht also eine, vermutlich ältere und auf Raschi selbst oder seinen engsten Schülerkreis zurückgehende, afrz. Glosse voraus, gefolgt von einer etwas gewundenen Erläuterung auf Hebräisch. In analoger Weise, allerdings mit zusätzlichem, jedoch relativiertem Autoritätenverweis, wird auch das zweite erwähnte Lexem näher bestimmt: }ymk {y)n {ygwr) {yrsn {h# l““cz {xnm ybr l# wm#m yt(m#w }w#l )yhw +lmyhg znk#) }w#lbw rylyc wnynw#lb wl }yrwqw hrwc hnq ycxk {hw {ylwlx {ynbl {h# rmw) yn)w hrwq ym# {ym# 404 ;lgycq(d znk#) }w#lb {ytb ywskl }y#w(# lwg(

403 „Das wird in unserer Sprache weis genannt und in deutscher Sprache windelschtein und die gemeinhin verwendete Bezeichnung ist schwindelschtig, und das ist eine Struktur aus Steinblöcken in der Form von Treppenstufen, und derjenige, der auf ihnen läuft, ist wie jemand, der um eine Säule herumwindet und auf ihr mehrere Ellen hinaufsteigt ohne die Sprossen zu besteigen wie bei einer normalen Leiter, denn ihre Windung dient als ihre Steigung.“ Zu afrz. weis („Tränke; kleiner Teich“) vgl. TL, Bd. 11, Sp. 847f., was hier wohl kaum gemeint sein kann; zu mhd. wendelstein („Wendeltreppe“) vgl. BMZ, Bd. 2/2, S. 617; LEXER, Bd. 3, Sp. 759; mhd. swindelstîc findet sich – wie viele deutsche Raschi-Glossen – weder bei BMZ, noch bei LEXER oder DWB. 404 „Ich habe im Namen Rabbi Menachems [ben Saruk], das Andenken des Gerechten sei zum Segen, gehört, daß dies wunderschön mit Mustern bestickte Bretter sind, und sie werden in unserer Sprache celer genannt und in deutscher Sprache gehimmelt und das ist ein Ausdruck für etwas Himmelartiges wie der höchste Teil des Balkens. Ich aber sage, daß es hohle Ziegel sind, die wie halbrunde Schilfrohre sind, die für das Decken von Häusern verwendet werden, in deutscher Sprache dekzigel.“ Zu afrz. celer vgl. TL, Bd. 2, Sp. 98f.: „einen Wohnungsraum ausschlagen, täfeln“; BERLINER: Sprache, S. 164, liest stattdessen celier (TL, Bd. 2, Sp. 102: „Keller; unterirdischer Gang, Graben“), das hier aber wohl kaum gemeint sein kann. Zu den mhd. Lexemen vgl. BMZ, Bd. 1, S. 686; LEXER, Bd. 1, Sp. 790 u. 1285, s.v. gehimelze („ausgespanntes Tuch, Himmel“) und himelize („Decke eines Zimmers; ausgespanntes Tuch, Baldachin“); für „Dachziegel“ geben die Wörterbücher lediglich dachstein, havenziegel oder einfaches ziegel, nicht aber deckziegel, vgl. dazu KOLLER/WEGSTEIN/WOLF: Index, S. 84.

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In den Schriften jüngerer aschkenasischer Rabbiner wie zum Beispiel den Responsen Jakob Molins405 und Jakob Weils406 oder den religionsgesetzlichen Sammelwerken }#dh tmwrt (‚Hebeopfer des Fetts‘) Israel Isserleins407 und r#wy +ql (‚Blütenlese der Gerechtigkeit‘) seines Schülers Josef aus Höchstadt408 aus dem 14. und 15. Jahrhundert steigt die Anzahl deutscher Glossen sprunghaft an, ihre Funktion bleibt selbstredend die Erklärung schwer verständlicher hebräischer oder aramäischer Lexeme.409 Die Volkssprache der koterritorialen Christen hat sich mithin im Verlauf des deutschen Mittelalters als legitimes Hilfs- und Verständigungsmittel im Bereich des Studiums der autoritativen jüdischen Überlieferung etabliert. 2.2. Die Doppelnamigkeit der aschkenasischen Juden Daß ein und dieselben Juden bereits in der Antike und darüber hinaus auch im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit oftmals unter zwei verschiedenen Namen in jüdischen und nichtjüdischen Quellen auftreten, ist keine neue Erkenntnis. Schon der Gründervater der „Wissenschaft des Judentums“, LEOPOLD ZUNZ (1794–1886), hatte sich 1837 in einer seiner ersten wissenschaftlichen Veröffentlichungen eingehend mit dieser Er405 Vgl. zu Person und Werk YUVAL: {ymkx, S. 25–33, 64–74, 88–128 u. 208–227; MENCZEL: Beiträge, S. 63; GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 17–20. In hebräischen Quellen erscheint Jakob Molin zumeist unter seinem Akronym Maharil (ywl bq(y brh wnrwm = „unser Lehrer der Rabbiner Jakob Levi“). 406 Vgl. zu Person und Werk YUVAL: {ymkx, S. 36–42, 175–178, 253–256, 366–371 u. 388– 392; MENCZEL: Beiträge, S. 63; GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 20. 407 Vgl. zu Person und Werk YUVAL: {ymkx, S. 42–46, 59–71, 188–206, 369–385 u. 414–417; GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 23–25; BERLINER: Rabbi, S. 130–135, 177–181, 224– 233, 269–277 u. 315–323. 408 Vgl. zu Person und Werk YUVAL: {ymkx, S. 256f. 409 Vgl. in diesem Zusammenhang auch eine hebräische Sammelhandschrift aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts, die aufgrund ihrer zahlreichen deutschen Glossen zuerst von GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, und BERLINER: Leben, unter dem Titel twpws)h rps (‚Buch der Sammlungen‘) ausführlich benutzt wurde. Der Kompilator der Handschrift ermöglicht uns nach GASTER: Sepher, S. 715, “a glimpse into the social position of the Jews, and by the numerous German glosses inserted in his text, for the purpose of explaining difficult or obscure terms, he shows us the intimate knowledge the Jews at that time possessed of German“. Neben reinen Glossen enthält die Handschrift auch ganze deutsche Texte in hebräischen Buchstaben, vor allem als Nachträge einer Hand des 15. Jahrhunderts, wie zum Beispiel auf fol. 88v–89r einen Zauberspruch gegen Geburtsschmerzen, der uns im weiteren Verlauf dieser Studie noch näher interessieren wird. Die Handschrift selbst wurde, nachdem sie im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Privatbesitz gewesen war, von GASTER für die Bibliothek des Montefiore College in Ramsgate erworben und befindet sich heute, nach der Auflösung dieser Institution, im Besitz der Londoner Spanish and Portoguese Hebrew Congregation.

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scheinung beschäftigt. Seine einleitenden Worte weisen in gewisser Hinsicht auch noch unserer Studie den einzuschlagenden Weg: Gleichwie der Juden Sprache und Literatur eine nach Epochen und Ländern gestaltete Entwickelung ist, offenbart sich auch in dem jüdischen Leben und der jüdischen Sitte, neben dem Kampfe für Alterthum und Selbständigkeit, der Einfluss der Kulturstufen, welche die Nationen betreten haben; und das Leben der Juden, das äusserliche wie das geistige, erscheint darum als ein Spiegel von Ideen, welche aus der Gegenwart und der Umgebung eintreten in den Kreis des Nationalen. Gar mannigfaltig sind die geschichtlichen Momente, die aus solchem Standpunkte nicht ohne Interesse anzuschauen sind; von den vielen sei hier nur eins auserlesen: die Namen der Juden. Den Lebenshauch empfängt der Name von der Sprache, aber die Bedeutsamkeit von der Geschichte, von der Sitte den Reiz. Darum bergen jene Namen eine geheime Geschichte, es sind Annalen in Chiffer-Schrift, zu welcher geistige Forschung den Schlüssel giebt.410

Die häufig anzutreffende jüdische Doppelnamigkeit, also konkreter das gleichzeitige Tragen eines hebräisch-aramäischen und eines aus einer anderen Sprache stammenden Namens (hebr. ywnk „Rufname“)411, reicht, wie erwähnt, bereits in die griechisch-römische Zeit zurück, sie erklärt sich aus der zweisprachigen Daseinsform der Juden seit dieser Epoche: untereinander verwendeten die Juden der Antike das Aramäische als Verkehrssprache, im Kontakt zur nichtjüdischen Außenwelt die entsprechende allgemeine Verkehrssprache, also zum Beispiel das Griechische oder das Lateinische.412 Eine auch im christlichen Kulturkreis allgemein bekannte Ausprägung dieser Erscheinung ist der Fall des Apostelfürsten, der je nachdem, ob er als Jude unter Juden oder als römischer Bürger unter Nichtjuden agiert, Saulus oder Paulus heißt. Allerdings wurde der nichtjüdische Rufname eines Juden schon seit dem ersten nachchristlichen Jahrhundert auch zu einem Teil seiner religiös-kulturellen jüdischen Existenz, war also nicht mehr allein auf den Bereich des Kontakts und Austauschs mit seiner nichtjüdischen Umwelt beschränkt: Gamliel der Ältere legte in dieser Zeit fest, daß in einem Scheidebrief neben dem hebräischen Haupt- auch alle weiteren Nebennamen der Ehepartner festgehalten werden sollten, um eventuellen Verwechslungen vorzubeugen und die Identität der Geschiedenen möglichst genau festzuhalten (mGittin IV,2):413 410 ZUNZ: Namen, S. 1f. 411 Vgl. KAGANOFF: Dictionary, S. 126: “Kinnui is a noun that first appears in the Talmud. It means ‘surname,’ ‘by-name,’ or ‘substitute-name.’ It derives from the Biblical verb meaning ‘to give an epithet.’ In the Middle Ages, Jews made a distinction between a Hebrew or sacred first name (shem hakodesh) and a secular name that related to it in some way. The secular first name is called the kinnui.“ 412 Vgl. dazu KAGANOFF: Dictionary, S. 44–46; ZUNZ: Namen, S. 27. 413 „Da ordnete Rabban Gamliël, der Alte, an, daß er schreibe: Der Mann N. N. und alle Namen, die er hat; die Frau N. N. und alle Namen, die sie hat, wegen des allgemeinen Wohles.“

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An dieser kulturell bedingten Doppelnamigkeit haben die Juden Europas während der gesamten Vormoderne festgehalten, wobei eine deutliche Orientierung an Namensgut zu beobachten ist, das aus der jeweiligen koterritorialen Volkssprache und nicht etwa aus dem Lateinischen entlehnt ist. Diese Bevorzugung französischer und deutscher Namen mag mit der bereits erwähnten jüdischen Ablehnung des Lateinischen als Sprache des Christentums und seines Kults zusammenhängen, erklärt sich meines Erachtens aber vor allem aus dem engen alltäglichen Bezug der aschkenasischen Juden zu den Volkssprachen der christlichen Majorität.414 Im Gegensatz zu DIETZ BERING, der behauptet, die Juden des europäischen Mittelalters seien onomastisch nur „mit einer gewissen Zögerlichkeit“ auf die Mehrheitskultur zugegangen,415 und im Gegensatz zu ADOLF SOCIN, der den Gebrauch nichtjüdischer Rufnamen lediglich auf die Sphäre des interkulturellen Kontakts beschränkt sieht, so „dass die Juden bei sich andere Namen trugen als im Verkehr mit der Aussenwelt“,416 soll hier kurz gezeigt werden, daß germanische Namen bei Juden im mittelalterlich-deutschen Sprachraum weit verbreitet waren und auch innerhalb der eigenen kulturellen Gruppe als legitime Eigenbezeichnung geführt werden konnten, somit auch dieser Aspekt die eingangs aufgestellte These von der weitgehend sprachlichen Akkulturation der Juden im deutschen Mittelalter stützt. Die grundsätzliche Doppelnamigkeit der Juden in der Vormoderne erklärt sich aber auch aus einem innerjüdischen Grund, nämlich der insbesondere für Männer geltenden Regel, bei der Verrichtung bestimmter religiöser Handlungen mit ihrem hebräischen Namen sowie dem jeweiligen Zusatz „Sohn des“ und dem hebräischen Namen des Vaters öffentlich aufgerufen zu werden, also zum Beispiel Salomo ben Isaak oder Mordechai ben Abraham.417 Diese Regel galt vor allem bei der Verlesung der Pentateuchperikopen im morgendlichen Synagogengottesdienst am Montag und Donnerstag einer Woche sowie an allen Sabbaten und Festtagen, zu der je nach Anlaß drei oder sieben religiös mündige jüdische Männer aufgerufen wurden. Der nichthebräische Rufname stand zumeist in mehr oder minder direkt erkennbarer Beziehung zum hebräischen religiösen 414 Schon HOENIGER: Geschichte, S. 76 hatte das „häufige Vorkommen deutscher Namen bei Juden“ als Zeichen „ungezwungene[r] Annäherung christlicher und jüdischer Kreise“ interpretiert. 415 BERING: Namen, S. 1304; vgl. allerdings schon ARREG, Nr. 176, S. 79: „Beachtenswert ist, daß deutsche bezw. französische Namen [bei den Märtyrern von 1096] nur selten vorkommen.“ 416 SOCIN: Namenbuch, S. 563. 417 Vgl. ZUNZ: Namen, S. 48.

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Namen des Trägers (hebr. #dwqh {# „heiliger Name“), es bildeten sich sozusagen Gesetzmäßigkeiten heraus, die bestimmte Namenskombinationen immer wieder auftauchen lassen:418 1. wörtliche oder sinngemäße Übersetzung des hebräischen Namens, also zum Beispiel Asael in Diofatto, Baruch in Bendit, Chaim oder Jechiel in Vitalis, Dow in Ber, Eljakim in Gotschalk, Jedidja in Gotlip, Manoach in Tranquill, Nehemia in Fromman oder Zwi in Hirz; 2. symbolische Zusammengehörigkeit, vor allem aufgrund des Jakobsegens in Gen 49,1–28, in dem die Patriarchensöhne mit Tieren verglichen werden, also Vischel für Ephraim, Hirz für Naphtali, Lewe für Juda oder Wolf für Benjamin, allerdings niemals Slange oder Wurm für Dan; 3. Klangähnlichkeit zwischen den beiden Namen, also zum Beispiel Ascher und Anshelm, Israel und Isserl, Kalonymus und Kalman, Menachem und Man oder Salomo und Salman; 4. traditionelle Kombinationen, deren Ursprung sich nur noch ansatzweise entschlüsseln läßt, also zum Beispiel Alexander und Süßkint419 oder Mordechai und Gumpreht420. Die jüdische Doppelnamigkeit stellt im Mittelalter auch ein häufiger anzutreffendes Thema in der religionsgesetzlichen Literatur dar, sei es, daß Ascher ben Jechiel zu Beginn des 14. Jahrhunderts in seinem Kommentar zu der oben angeführten Stelle des Mischnatraktats Gittin die Häufigkeit dieser Erscheinung gerade unter aschkenasischen Juden hervorhebt,421 oder sei es, daß Israel Isserlein Mitte des 15. Jahrhunderts in 418 Vgl. zum folgenden KAGANOFF: Dictionary, S. 50–52; ZUNZ: Namen, S. 49–51. 419 Diese Kombination erklärt sich wohl aus dem positiven Bild, das die jüdische Überlieferung von Alexander dem Großen als Beschützer der Juden entwirft (vgl. z.B. bSanhedrin 91ab). 420 Der Ursprung dieser Namensverbindung liegt vollständig im Dunkeln; ratlos zeigen sich sowohl KAGANOFF: Dictionary, S. 157, als auch ZUNZ: Namen, S. 51; SEIBICKE: Vornamenbuch, S. 239, konstatiert ebenfalls nur die Sachlage: „Nicht hinreichend geklärt ist auch das nachweislich vom Herzogtum Jülich ausgehende zahlreiche Vorkommen jüd. Namen wie Gumpertz, Gomper(t)z, Kompertz, Kumpertz, Gompers, Gumbel, Kumpel, Gimpel, Gump, Gumplowitz usw. Sie scheinen mit den jüd. VN Efraim, Eljachim und Mardochai in Zusammenhang zu stehen“, vgl. auch LINNARTZ: Familiennamen, S. 68; im nichtjüdischen Bereich ist Gumpreht zuerst zwischen 1210 und 1240 als Bauernname bei Neidhart belegt (Winterlied 4,IV,1), vgl. dazu LÖFFLER: Namen, S. 1298; BAHLOW: Namenlexikon, S. 191; in welcher immanenten Beziehung jedoch ein germanischer Name, dessen ursprüngliche Bedeutung in seiner Grundform Gundbert „im Kampfe glänzend“ ist (germ. *gund „Kampf“ + germ. *bert „glänzend“), zu hebräischen Namen steht, die wahlweise „Weideländer“ (Ephraim), „Gott erhält“ (Eljakim) oder „Marduk lebt“ (Mordechai) bedeuten, entzieht sich der Analyse; auch eine symbolische Beziehung zwischen einem Bauernnamen und den Namen eines israelitischen Stammvaters, eines judäischen Königs oder des männlichen Helden des Esterbuchs legt sich m.E. nicht nahe. Zu konstatieren bleibt lediglich, daß Gumprecht als Rufname in Kombination mit den genannten hebräischen Namen seit dem späten 13. Jahrhundert sehr häufig überliefert ist. 421 Vgl. BERLINER: Rabbi, S. 132 Anm. 5; ZUNZ: Namen, S. 51.

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seinen Responsen des öfteren über die Beziehung zwischen einzelnen heiligen Namen und den dazugehörigen Rufnamen handelt.422 Auch an Isserleins eigenen Namen und ihrer Verwendung durch Juden und Christen läßt sich die sprachliche Akkulturation der Juden im mittelalterlich-deutschen Sprachraum ablesen: Josef ben Mose aus Höchstadt bei Augsburg, ein Schüler Isserleins, verfaßte in den Jahren 1463–1488 unter dem Titel r#wy +ql („Blütenlese der Gerechtigkeit“) eine zwei Handschriftenbände umfassende Sammlung der Maximen und Praktiken seines Lehrers, die zahlreiche sozial- und kulturgeschichtliche Informationen über Aschkenas in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts enthält.423 In der Einleitung zu seinem Werk bemerkt er über Isserlein: ybr wtw) }yrwq {lw(h lb) hyxtp rb l)r#y t““sl }w)gh {# 424 .}yylrsy)

Mit der „Welt“, die Isserlein nicht unter seinem heiligen, sondern unter seinem Rufnamen kennt, meint Josef aus Höchstadt sicherlich nicht allein dessen christliche Zeitgenossen, sondern will vielmehr ausdrücken, daß eine der führenden religionsgesetzlichen Autoritäten des spätmittelalterlichen aschkenasischen Judentums Christen und Juden gleichermaßen unter seinem deutschen Namen, unter seinem ywnk geläufig war.425 Damit steht der Wiener Neustädter Rabbiner im 15. Jahrhundert nicht allein da, auch sein Zeitgenosse Anßhelm von Coln, rabi, gesessen zu Würmß, den der Reichserbkämmerer Konrad von Weinsberg (1370–1448) mit kaiserlicher Vollmacht und gegen den Widerstand der jüdischen Gemeinden des Reichs 1434 zum obersten Reichsjudenmeister ernannte,426 erscheint in allen hebräischen Quellen, die seine rabbinische Tätigkeit in Frankfurt a.M. (1412– 1428 sowie 1447–1455), Regensburg (1429–1434 sowie 1438–1440), Worms (1434–1437) und Andernach (1441–1445) belegen, unter einer Nebenform seines Rufnamens – ly#n) „Anschel“. Und schließlich werden bereits in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts in einem hebräischen Brief der jüdischen Gemeinde Münchens an die Gemeinde in Straß422 Vgl. u.a. Israel ben Petachja: {yqsp, Nr. 6 u. 242. 423 Das Werk ist unikal als Verfasserautograph in den Handschriften München, Bayerische Staatsbibliothek, chm 404 und 405 erhalten; zitiert wird hier nach der zweibändigen Ausgabe von FREIMANN (Hrsg.): r#wy +ql; vgl. zu Autor und Werk auch YUVAL: {ymkx, S. 256f.; GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 16. 424 FREIMANN (Hrsg.): r#wy +ql, Bd. 1, S. 1 („Der Name seiner Exzellenz zur Aufrufung bei der Verlesung der Lehre war Israel Sohn Petachjas, aber die Welt nannte ihn Rabbi Isserlein“). 425 Welchen geographischen Raum Josef mit „Welt“ gemeint haben könnte, verdeutlicht eine Auflistung der Städte, mit deren jüdischen Gemeindevorständen Isserlein in brieflichem Kontakt gestanden hat: Aschersleben, Augsburg, Breslau, Eger, Erfurt, Frankfurt a.M., Geldern, Halle a.d.S., Jülich, Krems, Köln, Mainz, Nürnberg, Ofen, Prag, Posen, Regensburg, Rothenburg o.d.T., Treviso, Ulm, Wien und Zwickau (BERLINER: Rabbi, S. 276f. u. 315–323). 426 Vgl. dazu STERN: Reichsrabbiner, S. 157–168.

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burg, in dem über Verfolgungen durch Herzog Stephan III. von Bayern (1337–1413) berichtet wird, die Rabbiner der Münchner Gemeinde als }ylq(y „Jeklin“ und }yln(m „Menlin“ geführt.427 Wenn also bereits Vertreter der geistigen Führungsschicht des aschkenasischen Judentums – zumindest im späteren Mittelalter – sowohl in ihrer eigenen als auch in der Kultur der christlichen Majorität allgemein unter ihren nichthebräischen Rufnamen bekannt waren, dürfte dies in noch größerem Maße für die Mitglieder der übrigen Bildungs- und Gesellschaftsschichten dieser Gruppe gegolten haben. Diese Rufnamen stammten, wie schon des öfteren erwähnt, aus der jeweiligen Volkssprache der koterritorialen Christen, wobei in Fällen einer durch soziale Stratifikation verursachten Zweiteilung in eine von der nichtjüdischen Ober- und eine von der nichtjüdischen Unterschicht verwendete Sprache eine exklusive Bevorzugung der Sprache der Herrschenden auffällt. So finden sich bei den Juden Englands bis zur Vertreibung im Jahre 1290 zwar eine Reihe altfranzösischer Namen – zum Beispiel Bendit (London 1186), Bonevie (Anfang 13. Jh.), Cresselin (Anfang 13. Jh.), Deudone (Anfang 13. Jh.), Deulecresse (Anfang 13. Jh.), Deulesalt (London 1186), Flurie (Anfang 13. Jh.), Hakelin (London 1186), Potelin (London 1186)428 –, aber keinerlei angelsächsische, denn “they only came in contact with the upper classes, and indeed, [...] their business was only with them“429. Auch im mittelalterlichen Deutschen Reich lag eine solche sprachliche Dichotomie innerhalb der nichtlateinischen Verkehrssprache vor, allerdings war sie hier nicht sozial, sondern räumlich bedingt, denn mit dem Herzogtum Oberlothringen und dem Königreich Burgund schloß es bekanntlich auch französischsprachige Territorien ein.430 Daher 427 428 429 430

Das auf 1381 datierte Schreiben ist ediert bei BRESSLAU: Judenacten, S. 116f. Vgl. dazu JACOBS: Jews, S. 88f., 239–241 u. 345–364. JACOBS: Jews, S. 338. Ein spätmittelalterlicher jüdischer Autor, der anonyme Verfasser der polemischen Streitschrift ‚Nizachon vetus‘, äußert eine in diesem Zusammenhang bemerkenswerte Ansicht: .{wd) {y)rqnw {h w#( ynb yk ,hmh wynb ynbm )lw bq(y w)rqn )l [...] }y+#yrq ,{h tpy ynb )l) {h twb) ynbm )l yk {yrmw)# {hb {y#p+ #yw ,{yrbdh {y)rn }kw .}(nk ynbm {yn(nkw ,{h {# ynbm l)r#y ynbw twb)hw ,{yznk#) {y)rqn {ywghw ;tpyrw znk#) rmwg ynbw ...gwgmw rmwg tpy ynb bytkd ,z(l }w#l {yrbdmh }hb #y# p““()w .znk#) jr) {hl }yrwq# {wd) ynb }w#lw .{h {yznk#) {ywgh rqy( lk lb) ,}+w(ym whz

(BERGER [Hrsg.]: Debate, S. 98; „Christen [...] werden nicht Jakob genannt und sie sind auch nicht Söhne seiner Söhne, denn sie sind Söhne Esaus und werden Edom genannt. Und es gibt ‚Gelehrte‘ unter ihnen, die sagen, sie seien keine Söhne der Erzväter, sondern Söhne Japhets, und die Erzväter und die Söhne Israels sind Söhne Sems, und die Slawen Söhne Kanaans. Diese Worte sind wahr, wie es heißt: ‚Die Söhne Japhets Gomer und Magog... Und die Söhne Gomers Aschkenas und Riphat [Gen 10,2f.]; und die Nichtjuden werden Deutsche [Aschkenasim] genannt und die Sprache der Söhne Edoms heißt bei ihnen Deutschland. Obwohl es einige unter ihnen gibt, die die französische Sprache sprechen,

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dominieren bei den Juden in Lunéville, Metz und Toul sowie in Arles, Avignon, Besançon, Lyon und Vienne während des gesamten Mittelalters französische Rufnamen – vermutlich das Französische als Verkehrssprache –, obgleich es sowohl Städte des Reichs als auch Städte des aschkenasischen Kulturraums sind. Im Rest des Reichs, im deutschen Sprachraum, finden wir jedoch – wie mittlerweile kaum anders zu erwarten – zahlreiche Belege für die Dominanz germanischer gegenüber romanischen Rufnamen, wie die nachfolgende Auflistung verdeutlicht, die sowohl aus christlichen Dokumenten, wie zum Beispiel den Judenschreinsurkunden der Kölner Laurenzpfarre oder der Mainzer Heberolle, als auch aus jüdischen Quellen, in erster Linie Grabsteine, Memorbücher und Responsen, schöpft.431 Daß die Verwendung volkssprachiger Rufnamen der Juden im Mittelalter eben nicht auf lateinische und deutsche Schriftstücke beschränkt ist, sondern sich auch in hebräischen Texten findet, verweist einmal mehr darauf, daß diese Namen eben nicht allein für den „Verkehr mit der Aussenwelt“432 gedacht waren. Demnach trugen Juden im deutschen Sprachraum zwischen dem frühen 12. und dem ausgehenden 15. Jahrhundert unter anderen die folgenden Rufnamen: Abergolt (Straßburg 1335), Abersüs (Forchheim 1298, Nürnberg 1349), Achselrad (Frankfurt a.M. 1241, Würzburg 1298), Adelkint (Nürnberg 1298), Adelheit (Nürnberg 1298, Würzburg 1298), Adolf (Köln 1247), Anshelm (Würzburg 1212, Köln 1200–1235) Bacheide (Köln 1200–1235), Benedic (Rothenburg o.d.T. 1409), Ber/Berman (Oberrhein 1309, Rothenburg o.d.T. 1408), Bertolt (Würzburg 1298), Bezzeline (Köln vor 1255), Bruning (Köln Mitte 12. Jh.) sind diese doch in der Minderzahl, denn der Großteil der Nichtjuden sind Deutsche“). Hier beschreibt somit ein Jude des ausgehenden 13. Jahrhunderts, der aller Wahrscheinlichkeit nach im deutschen Sprachraum lebt (vgl. dazu KRAUSS/HORBURY: Controversy, Bd. 1, S. 246; BERGER [Hrsg.]: Debate, S. 33–35; BARON: History, Bd. 9, S. 294; POSNANSKI: Schiloh, S. 148; ZUNZ: Geschichte, S. 85), auf der kulturell-religiösen Basis seiner Weltsicht sehr treffend die sprachliche Situation im mittelalterlichen Reich. 431 Vgl. zum folgenden MENCZEL: Beiträge; HOFFMANN: Geldhandel; SOCIN: Namenbuch; ARREG; SALFELD (Hrsg.): Martyrologium, S. 386–418; ROTH: Mittheilungen, S. 187–189; BRESSLAU: Geschichte, S. 320–323 u. 17; GOLDSCHMIDT: Rückkehr, S. 157; HOENIGER: Geschichte, S. 65–97 u. 136–151; JARACZEWSKY: Geschichte. Vgl. auch die entsprechenden Listen bei ZUNZ: Namen, S. 53–79, die für den Zeitraum zwischen 1000 und 1492 auf der Basis der hebräischen Responsenliteratur und einiger lateinischer und volkssprachiger Quellen wie Matthäus Parisiensis oder Jakob Twinger von Königshofen an „europäischen Namen“ Albert, Belladonna, Bonafilla, Dolza, Gentil, Gracia, Merlin, Peter und Regina sowie an „deutschen Namen“ Anshelm, Berchtold, Eberhard, Freude, Gottlieb, Gottschalk, Gumprecht, Himmeltrud, Hinz, Hizlin, Jutta, Kunold, Methild, Minne und Tokel verzeichnen. 432 SOCIN: Namenbuch, S. 563.

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Doreman (Köln vor 1255) Eggibert (Köln Mitte 12. Jh.), Emmerich (Mainz 1463–1470), Friedrich (Frankfurt a.M. 1241) Valke (Köln vor 1255), Valkinouge (Köln 1200–1235), Veyertag (Rothenburg o.d.T. 1417), Veyfel/Veyfelin/Vivelin (Basel 1386, Rothenburg o.d.T. 1399 und 1406), Vivelman (Basel 1386, Mainz 1463–1470), Vives (Köln Mitte 12. Jh., Mainz 1463–1470), Virilman (Spanheim 1350), Vischelin (Frankfurt a.M. vor 1349), Vortolf (Köln Mitte 12. Jh.), Vreude (Köln vor 1255, Frankfurt a.M. vor 1349) Genande (Köln vor 1260), Gerhart (Köln Mitte 12. Jh. und 1200–1235), Goldchen (Mainz 1449), Goldine (Köln 1200–1235), Gotlip (Köln vor 1260, Nürnberg 1298, Würzburg 1298, Mainz 14. Jh.), Gotschalk (Köln Mitte 12. Jh., Fulda 1235, Köln vor 1237, Würzburg 1298, Rothenburg o.d.T. 1394), Grossant (Spanheim 1351), Guderat (Köln vor 1260), Gumpchen (Mainz 1456), Gumpreht (Neumarkt 1298, Zürich 1329, Mainz 1456), Guotleben (Basel 1398), Gutag (Rothenburg o.d.T. 1401), Gutheil (Köln vor 1237) Heinrich (Köln Mitte 12. Jh., Klosterneuburg 1187), Helche (Worms 1096), Heleswinda (Köln Mitte 12. Jh.), Helfrich (Frankfurt a.M. vor 1349) Jentil (Erfurt 1271), Johanna (Köln 1200–1235), Joie (Bonn 1298, Würzburg 1298, Worms 1349), Jutta (Köln 1200–1235, Frankfurt a.M. 1241, Worms 1337) Kaisrin (Nürnberg 1298), Kalman (Würzburg 1212, 1218 und 1225/26, Oberrhein 1309) Liebman/Lieberman (Würzburg 1212, 1218 und 1225/26, Köln vor 1260, Frankfurt a.M. vor 1349, Mainz 1463–1470), Lewe (Rothenburg o.d.T. 1409) Markwart (Mainz 1248/49), Megethin (Köln vor 1255), Merklin (Rothenburg o.d.T. 1409), Merlin (Höchstadt 1298, Nürnberg 1349), Minne (Mainz 1096, Speyer 1147, Würzburg 1206, Köln vor 1255 und vor 1260, Zürich 1329), Minneman (Köln Mitte 12. Jh. und 1200–1235, Erfurt 1271, Frankfurt a.M. vor 1349) Odilia (Würzburg 1206, Köln vor 1237)

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Peter (Köln 1096 und vor 1150, Iphofen 1298, Nürnberg 1298, Rothenburg o.d.T. 1298, Würzburg 1298), Poppo (Würzburg 1298) Richeit (Köln 1200–1235), Rose (Spanheim 1351) Salman (Nürnberg 1298, Würzburg 1298, Basel 1284, Frankfurt a.M. vor 1349, Rothenburg o.d.T. 1406), Sconeman (Würzburg 1212, 1218 und 1225/26), Sconewif (Köln 1200–1235), Selecheit (Köln vor 1247), Seligman (Köln vor 1255), Süßkint (Köln Ende 12. Jh., Würzburg 1218, Köln vor 1237, Mainz 1463–1470), Susman/Suteman (Köln vor 1255, Zürich 1329) Theoderich/Thiderich (Köln Mitte 12. Jh., Würzburg 1298) Zimea (Würzburg 1206) An dieser Auflistung sind zwei wesentliche Aspekte der Doppelnamigkeit aschkenasischer Juden im Hoch- und Spätmittelalter ablesbar: Zum einen die bereits konstatierte, deutliche Dominanz germanischer gegenüber romanischen Namen, zum anderen die Tatsache, daß sich die volkssprachigen Rufnamen der Juden im deutschen Sprachraum des Mittelalters in verschiedene Kategorien aufteilen lassen – allgemein auch unter den zeitgenössischen Christen verbreitete Namen wie Adelheit, Bertolt, Gotschalk oder Peter stehen solchen gegenüber, die nur im jüdischen Milieu verbreitet waren und zu nachgerade „typischen“ vormodernen Judennamen wurden wie Ber, Veyfel, Liebman oder Süßkint. Eine Beobachtung, die zugleich die Gültigkeit des zuvor Dargestellten leicht einschränkt aber auch die Aussagekraft onomastischer Akkulturation für das jüdisch-christliche Verhältnis im deutschen Mittelalter unterstreicht, muß hier noch erwähnt werden: Personen, die in christlichen Urkunden mit deutschem Vornamen und dem Beinamen Iudeus/Jude erscheinen, müssen nicht in jedem Fall Juden, sondern können auch getaufte Juden bzw. sogar deren Nachkommen sein.433 Vom Mittelalter bis in die Frühe Neuzeit finden sich patrizisch-städtische und adlige Familien mit dem Geschlechternamen „Jud“ oder „Jude“ unter anderem in Köln (13.–17. Jahrhundert), in Passau (13.–14. Jahrhundert), in Würzburg (13.–14. Jahrhundert) oder in Buch bei Freising (12.–16. Jahrhundert).434 Diese Geschlechter 433 Vgl. dazu JAEGER: Artusritter, S. 154–166; SCHMID: Geschichte, S. 123f.; HOENIGER: Geschichte, S. 72–75 u. 94. 434 Weitere Beispiele für diese Form eines christlichen Übernamens findet man 1178 in Bamberg, 1186 und 1309 in Freiburg i.Br., 1198 in Worms, 1216 in Mainz, 1249 in Straßburg, 1282 in Säckingen, 1289 im elsässischen Rheinau, um 1300 in Bergheim und 1290–1375 in

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nahmen meist auch in ihren sprechenden Wappenbildern Bezug auf ihren spezifischen Beinamen, sei es durch die Wahl von Judenhüten als Wappenzeichen wie im Falle des Kölner Patriziergeschlechts der Judden435 sowie bei dem Würzburger Protonotar Michael de Leone (1300–1355), dessen Wappen auf seinem Epitaph im Neumünsterstift der Stadt noch verrät, daß er als „Michael Jude“ geboren worden war,436 oder sei es durch ein noch sprechenderes Wappenzeichen wie im Falle der „altbayerischen Adelsfamilie Jud von Bruckberg zu Buch“437, deren Schild ein Porträtkopf eines vollbärtigen Mannes mit pileus cornutus ziert.438 Mit dieser Gestaltungsform weisen die Wappenschilde dieser christlichen Familien eine bemerkenswerte Ähnlichkeit zu den Siegelwappen sozial hochstehender jüdischer Familien des späteren Mittelalters auf. So wird zum Beispiel das Wappenzeichen der Brüder Mose und Mordechai ben Menachem auf ihrem Siegel, das einer Urkunde vom 31. Januar 1329 angehängt ist, mit der die beiden zusammen mit ihrer Mutter Minne und einem weiteren Zürcher Juden namens Susman dem Grafen Johann von Habsburg-Laufen 950 Mark Silber leihen, ganz ähnlich dem der Kölner Judden oder Michaels de Leone von drei Judenhüten gebildet, die mit ihren Spitzen aneinanderstoßen.439 Nicht alle Juden, die in christlichen Urkunden des Mittelalters deutsche Vornamen tragen, sind also im religiös-kulturellen Sinne auch wirklich Juden – wenngleich die in der obigen Auflistung genannten Beispiele allesamt „echte“ Juden und Jüdinnen bezeichnen. Doch die Tatsache, daß christliche Familien, die in der gesellschaftlichen Rangordnung Spitzenplätze einnehmen, in dieser Zeit anscheinend problemlos, ja nach Ausweis ihrer Wappenbilder auf geradezu selbstidentifikatorische Weise in ihren ständig präsenten Beinamen und in Form von repräsentativen Symbolen ihres Stands ihr genealogisch determiniertes „Judesein“ nach außen tragen,440 wirft wiederum ein bezeichnendes Licht auf das Verhältnis von Christen und Juden im deutschen Mittelalter, insbesondere auf die konfliktfreien oder -armen Zeiträume dieses Verhältnisses, deren Existenz

435 436 437 438 439 440

Bonn; vgl. BICKEL: Beinamen, S. 316f.; BAHLOW: Namenlexikon, S. 267; DZIUBA: Familiennamen, S. 128; BRECHENMACHER: Wörterbuch, Bd. 1, S. 783; SOCIN: Namenbuch, S. 554. Vgl. HOENIGER: Geschichte, S. 74. Vgl. BRUNNER: Hausbuch, S. 20. BRANDIS/BECKER (Hrsg.): Glanz, S. 176. Vgl. JAEGER: Artusritter, S. 160 Abb. 3. Vgl. ESCHER/SCHWEIZER (Hrsg.): Urkundenbuch, Bd. 11, Nr. 4196. Diese positiv identifikatorische Aneignung des Beinamens „Jude“ verdeutlicht meines Erachtens die Unhaltbarkeit eines gängigen Versuchs, die Entstehung dieses Übernamens zu erklären: „ÜN. für einen Händler, auch für einen Christen, der wie ein Jude handelt und wuchert“ (BICKEL: Beinamen, S. 316).

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aufgrund fehlenden Niederschlags in den klassischen Quellen der Geschichtswissenschaft und eines aus dieser Überlieferungslage resultierenden Denkfehlers – wo kein Ereignis zu berichten ist, wird auch keines berichtet, ergo hat es so etwas wie friedliche Zeiten des Neben- und Miteinander von Juden und Christen in der Vormoderne nie gegeben – immer noch allzu oft negiert wird. Darüber hinaus zeigt das alles andere als periphere Vorhandensein deutscher Vornamen bei den Juden des deutschen Mittelalters – um zum eigentlichen Punkt unserer Untersuchung zurückzukehren – neben den oben schon behandelten deutschen Glossen erneut, daß das zeitgenössische Deutsche die Verkehrssprache der Juden im mittelalterlichen Aschkenas gewesen ist. Den letzten Beweis für unsere Ansicht liefern direkte Aussagen in hebräischen Quellen über das Deutsche als allgemeine sowie als jüdische Verkehrssprache. 2.3. Die deutsche Sprache als Studienobjekt aschkenasischer Rabbiner des 15. Jahrhunderts Das Deutsche erscheint nicht nur in Form von einzelnen Glossen oder Rufnamen in der Literatur und Kultur der deutschen Juden des Mittelalters, sondern wird in einigen hebräischen Texten des 15. Jahrhunderts schließlich auch zum Objekt kritischer Sprachstudien.441 Zwar erscheint – zumindest nach meiner Lektüre – in keinem einzigen Responsum eines aschkenasischen Rabbiners des Hoch- oder Spätmittelalters der Titel auch nur eines Werks der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur,442 es 441 Als erster hat meines Erachtens BERLINER: Rabbi, S. 269, auf diesen Umstand hingewiesen; vgl. dazu noch BERLINER: Sprache, S. 168; GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 72–79. 442 Auch die mhd. ‚Kaiserchronik‘, die angeblich in der Bologna-Version des ‚Buchs der Frommen‘ genannt sein soll, erweist sich bei näherer Überprüfung der Quelle als eine durch beständig wiederholtes, kritikloses Abschreiben der Forschungsliteratur entstandene Chimäre: An der entsprechenden Stelle (MARGALIOTH [Hrsg.]: {ydysx rps, § 141) ist lediglich die Rede von twmw)h yklm yrgt y)bh yrbd, also von „nutzlosen Geschichten, den Turnieren der Könige der Völker“, die noch dazu lediglich als Einbandmaterial für eine hebräische Pentateuchhandschrift benutzt werden. Zuerst Ende des 19. Jahrhunderts hatte unter anderen GÜDEMANN: Quellenschriften, S. 18, erwogen, in diesen nutzlosen Geschichten die ‚Kaiserchronik‘ zu sehen; ihm hat sich LANDAU: Romances, S. XXI, angeschlossen, der allerdings seine Bedenken vorsichtig durch nachgestelltes Fragezeichen gekennzeichnet hatte. Leider haben sich LANDAUs Nachfolger dessen interpretatorische Vorsicht nicht zu eigen gemacht, und so heißt es zum Beispiel bei DINSE: Entwicklung, S. 21, unter Bezugnahme auf das ‚Buch der Frommen‘, daß „Ritterromanzen und eine um die Mitte des 12. Jahrhunderts verfaßte deutsche Kaiserchronik als Unterhaltungslektüre bei der jüdischen Bevölkerung sehr beliebt waren“. Diese durch die zitierte Quelle in keiner Weise gedeckte Aussage wird bis heute immer wieder unkritisch repetiert, so bedauerlicherweise auch bei BAUSCHKE: Süßkind, S. 65; MILDE: Disput, S. 34 Anm. 44; JAEGER: Artusritter, S. 131; WENZEL: Süßkind, S. 295.

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finden sich lediglich gänzlich unspezifische Aussagen der Art: ßwb #+yy+ Doch die Volkssprache der koterritorialen Christen selbst erregte aufgrund einer religiös-kulturellen Besonderheit des Judentums sozusagen das „berufliche“ Interesse der spätmittelalterlichen rabbinischen Autoritäten: Wir haben bereits weiter oben darauf hingewiesen, daß schon die Mischna in mGittin IV,2 festgelegt hatte, daß in einem juristisch unanfechtbaren Scheidebrief neben dem hebräischen Hauptauch alle weiteren Nebennamen der Ehepartner festgehalten werden sollten, um eventuellen Verwechslungen vorzubeugen und die Identität der Geschiedenen möglichst genau festzustellen. Neben den Namen der Eheleute stellten die Namen der Orte, aus denen die Geschiedenen und die Zeugen stammten bzw. in dem die Ehe geschlossen worden war und in dem die Ehe geschieden wurde, einen weiteren konstitutiven Bestandteil eines gesetzeskonformen Scheidebriefs dar. Die genaue Festlegung der Orthographie deutscher Ortsnamen um der Erhaltung der Rechtssicherheit im Sinne des jüdischen Religionsgesetzes willen veranlaßte einige Rabbiner des ausgehenden Mittelalters nun zu eingehenden phonologischen Studien der koterritorialen Volkssprache. Am Beginn dieser Studien steht jeweils die Erkenntnis, daß das Deutsche in zahlreiche Dialekte zerfällt, deren Aussprachevarianten zum Teil erheblich sind, wie es zu Beginn des 14. Jahrhunderts schon Hugo von Trimberg formuliert hatte:

}yrwq# znk#) rps.443

Swâben ir wörter spaltent, Die Franken ein teil si valtent, Die Beier si zezerrent, Die Düringe si ûf sperrent, Die Sahsen si bezückent, Die Rînliute si verdrückent, Die Wetereiber si würgent, Die Mîsener si vol schürgent, Egerlant si swenkent, Oesterrîche si schrenkent, Stîrlant si baz lenkent, Kernde ein teil si senkent (‚Renner‘, v. 22265–22276).

Diese Erkenntnis gewannen die fraglichen aschkenasischen Rabbiner, neben den bereits erwähnten Maharil und Isserlein sind in diesem Zusammenhang noch Jakob Weil (1400–1460)444 und Mose Minz (1410–1480)445 zu nennen, vor allem aufgrund ihrer hohen Mobilität, die sie im Laufe ih443 Mose ben Isaak ha-Levi: twl)#, Nr. 17: „deutsche Bücher nennt man taitsch buch“. 444 Vgl. zu Person und Werk YUVAL: {ymkx, S. 36–42, 175–178, 253–256, 366–371 u. 388– 392; MENCZEL: Beiträge, S. 63; GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 20. 445 Vgl. zu Person und Werk YUVAL: {ymkx, S. 136–143, 231–238 u. 391–394; MENCZEL: Beiträge, S. 64; GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 21f.

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res Lebens weite Teile des ober- und mitteldeutschen Sprachraums kennenlernen ließ. So führten rabbinisches Studium und Amt zum Beispiel die beiden Letztgenannten von Weilerstadt am Neckar nach Mainz, Nürnberg, Bamberg, Augsburg und Erfurt bzw. von Mainz nach Frankfurt a.M., Ulm, Landau, Würzburg, Bamberg und Posen. Frucht dieser Erkenntnis waren entweder Qualitätsurteile wie dasjenige Maharils, demzufolge „man in Regensburg das Deutsche richtiger als in Oesterreich ausspreche“446, oder Stoßseufzer wie der eines anonymen jüdischen Autors aus ostelbischem Gebiet, der feststellt: „Die Aussprache ist im Gebiet der Mark mannigfach verschieden von der in anderen deutschen Gegenden, doch immerhin ist es zu verstehen, daß es eine Sprache ist“447. Die dialektalen Unterschiede der deutschen Mundarten, mit denen sich die Genannten am häufigsten beschäftigen, betreffen die Aussprache der Gutturale /k/, /g/ und /ch/, der Labiale /p/ und /b/ sowie der Dentale /s/ und /sch/ und die korrekte Umsetzung dieser Laute im hebräischen Schriftsystem. So sieht sich Isserlein mit der Frage konfrontiert, ob man im Falle von auf -burg endenden Städtenamen für den Schlußlaut ein g /g/ oder nicht doch richtiger ein q /k/ setzen solle.448 Er entscheidet sich für letzteres, da es die tatsächliche Aussprache des Deutschen, also die hier noch immer vorliegende Auslautverhärtung, korrekter wiedergebe als die weichere Variante. Ein analoges Problem behandelt Mose Minz in bezug auf die gesetzeskonforme Schreibung des Namens „Seligman“.449 Er verbindet seine Lösung zugleich mit einer Einschätzung der grundsätzlichen dialektalen Zweiteilung des deutschen Sprachraums, denn im }wtxt lylg, dem „niederen Gebiet“, spreche man den Namen „Selichman“ aus, müsse ihn also mit einem k /ch/ schreiben, während man im }wyl( lylg, dem „oberen Gebiet“, „Selikman“ sage und folgerichtig ein q /k/ verwenden solle.450 Auf ähnliche Weise äußert sich Minz im gleichen Responsum und am Beispiel des weiblichen Vornamens „Brecha“ auch zur Varianz von anlautendem p /p/ und b /b/, demzufolge in Sachsen /b/ im Anlaut stets durch /p/ verdrängt werde.451 Isserlein wiederum fragt sich, wieso der Ortsname „Krems“ in hebräischen Texten mit auslautendem # geschrieben wird, was sowohl /s/ als auch /sch/ bezeichnen kann, während doch nach der 446 447 448 449 450

BERLINER: Sprache, S. 168. BERLINER: Sprache, S. 168. Vgl. Israel ben Petachja: {yqsp, Nr. 142. Vgl. Mose ben Isaak ha-Levi: twl)#, Nr. 64. Meiner Ansicht nach beschreibt Minz hier nicht allein die dialektale Differenz zwischen Ober- und Niederrhein, wie BERLINER: Sprache, S. 168, angibt, sondern die großflächige Teilung des deutschen Sprachraums in nieder- und hochdeutsches Gebiet, da das fragliche Responsum erst aus seiner Zeit als Rabbiner in Bamberg stammt, vgl. auch GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 75. 451 Vgl. Mose ben Isaak ha-Levi: twl)#, Nr. 64.

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allgemeinen Aussprache ein s /s/ erwartbar sei.452 Seiner Ansicht nach hängt diese spezifische Orthographie mit einer Besonderheit der österreichischen Aussprache des Deutschen zusammen, wonach die Volkssprache im östlichsten Teil des Reichs mit großer „Dicke“ (twb() betont werde und es dadurch häufig zur Vertauschung von /s/ und /sch/ komme. Regionale Aussprachevarietäten des Deutschen finden sich nach Ausweis der zitierten rabbinischen Autoritäten jedoch nicht allein bei den Christen, sondern auch bei den Juden. Ein besonders häufig diskutierter Unterschied bestand demnach in der Artikulation des x als Hauchlaut /h/ im westlichen bzw. als stimmloser gutturaler Reibelaut /χ/ im östlichen Aschkenas.453 Demzufolge hießen die Juden des Rheinlands tyh ynb („Söhne des Het“) und die Juden Österreichs tyx ynb („Söhne des Chet“).454 Die Überlegungen, die aschkenasische Rabbiner des 15. Jahrhunderts zur Phonologie und Orthographie des Deutschen anstellten, blieben keinesfalls akademische Gedankenübungen, sondern wurden sowohl von theoretischen Anforderungen des jüdischen Religionsgesetzes ausgelöst und wirkten wiederum auf deren praktische Umsetzung zurück. Wie verbreitet das Deutsche als Verkehrssprache unter den Juden des späteren Mittelalters selbst in Bereichen ihrer ureigensten kulturellen Institutionen geworden war, zeigt schließlich die Tatsache, daß schon Jakob Weil die Verwendung dieser Sprache vor dem Rabbinatsgericht gestattet hatte455 und sich zum Beispiel in den Responsen seines jüngeren Zeitgenossen Mose Minz auch direkte Reflexe dieses sprachlichen Usus finden, wie in einem Rechtsgutachten aus dem Jahre 1456, in dem Hausbesitzstreitigkeiten zwischen zwei Mainzer Juden namens Gumpchen und Gumprecht behandelt werden, deren gütliche Beilegung durch eine frühneuhochdeutsche Formel konstatiert wird, die entsprechend des Überlieferungskontextes selbstredend in hebräischen Lettern aufgezeichnet wurde: tyb #d +l)ww ry) #d wc rdyww rym +g)z ry) wc jng ßyw) yg)z ßy) 456 .}ym(n ßyw) wc

Der Lexembestand just dieser Formel – bis auf ein, allerdings für das Verständnis des Satzes unentbehrliches hebräisches Lexem konstituiert sich die Phrase innerhalb der gängigen frühneuhochdeutschen Parameter – könnte jetzt zu dem Schluß Anlaß geben, die Sprache der Juden des deutschen Sprachraums habe sich, trotz aller hier zuvor aufgehäufter Gegenar452 453 454 455

Vgl. Israel ben Petachja: }#dh tmwrt, Nr. 231. Vgl. dazu NEUBERG: Bney-Hes, S. 11; GÜDEMANN: Geschichte, Bd. 3, S. 75f. Vgl. SATZ (Hrsg.): Responsa, Nr. 30; Israel ben Petachja: }#dh tmwrt, Nr. 231. Vgl. Jakob ben Juda: twl)#, Nr. 101; vgl. auch MENCZEL: Beiträge, S. 63; BERLINER: Sprache, S. 168f. 456 Mose ben Isaak ha-Levi: twl)#, Nr. 31: ich sage euch ganz zu, ir sagt mir wider zu, das ir wolt das bess zu euch nemen; vgl. auch MENCZEL: Beiträge, S. 70.

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gumente, doch wesentlich von der der koterritorialen Christen unterschieden und müsse daher mit Recht als „(Alt-)Jiddisch“ bezeichnet werden. Dieses scheinbare Dilemma löst sich meines Erachtens sehr einfach: Entweder bemüht man die hinlänglich bekannte soziolinguistische Erkenntnis, derzufolge kulturell oder gesellschaftlich marginalisierte Entitäten beim sprachlichen Kontakt innerhalb ihrer eigenen Bezugsgruppe zumeist auf eine Sonderform der allgemeinen Hochsprache zurückgreifen, die durch einen nur Gruppenmitgliedern zugänglichen sondersprachlichen Code gekennzeichnet ist.457 Oder aber, und für diese Lösung möchte ich mich aussprechen, man zieht eine Beobachtung mit in Betracht, die das im frühneuhochdeutschen Satz scheinbar so „fremde“ hebräische Lexem tyb („Haus“) seiner „Fremdheit“ entkleidet – die Beobachtung nämlich, daß sich während des Spätmittelalters in den Regionen des Reichs mit größerem jüdischen Bevölkerungsanteil solche hebräischen Lexeme gehäuft auch in christlichen, lateinischen und deutschen Texten mit rechtstradierendem oder -konstituierendem Charakter finden, die keinerlei zusätzlicher Bedeutungserklärung bedürfen, also zumindest für die primären christlichen Benutzer dieser Aufzeichnungen ohne weiteres verständlich waren. Als Beispiele seien hier lediglich die barnosim genannt, also die Vorsteher der jüdischen Gemeinde, die in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts des öfteren in den Protokollen des Mainzer Rats unter ihrer hebräischen Sammelbezeichnung auftreten,458 und vor allem das Verb behesemen, das etymologisch vom hebräischen Substantiv {tx („Siegel“) abhängt, das durch deutsches Präfix und deutsche Infinitivendung zu einem Verb umgeformt wurde, dementsprechend „besiegeln“ bedeutet und seit dem frühen 14. Jahrhundert in Urkunden des Wormser und Speyerer Domkapitels verwendet wird.459 Der Erstbeleg dieses Lexems in einer Vereinbarung zwischen Bischof, Domkapitel, Stadtrat und Judengemeinde von Worms vom 25. Juli 1312 enthält in seiner spezifischen Formulierung eventuell noch einen Hinweis auf die Neuartigkeit und daher notwendige Erläuterung des Verbs durch ein nachgestelltes Synonym: und sal unser herre der bischof Emerich sin insigel und der stifte irs capitels insigel und die stat der stede insigel an diesen brief henken zuo unsern insigeln und sal auch der juden rat von 457 Vgl. EDWARDS: Language, S. 151; vgl. in diesem Zusammenhang auch die Ausführungen bei MILLER: Identity, S. 60, zur Verkehrssprache der kastilianischen Juden des Spätmittelalters: „The Jews could speak in a more or less ‚Jewish‘ way, depending on the context of the interaction. In ‚ritual and liturgical situations‘ the Jew was likely to use a Castilian highly influenced by Hebrew, whereas when the Jew did not wish to be recognized as such, he hid or denied his own cultural identity [...] so his Castilian did not differ at all from that of the Christians of the same area and of the same era.“ 458 Vgl. MENCZEL: Beiträge, S. 38. 459 Vgl. dazu auch NEUBERG: Bney-Hes, S. 10–13.

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Wormsze sich verbinden und behesemen und besigeln mit ir schrift under diesem gegenwortigen briefe alle die artikel die vorgeschrieben sint uomer me stede zuo halten.460

In den zwanzig Jahre jüngeren Wortbelegen aus Speyer erscheint das Lexem jedoch ohne jegliche zusätzliche Erklärung und noch dazu in konjugierter Form als vollgültiger Bestandteil der spätmittelhochdeutschen Urkundensprache in zwei Abmachungen vom 23. Dezember 1333: Ouch hant sie uns gelobet, dez vorgenanten gebotdes unde satzuonge zuo gebenne einen behesemetden brief mit allen den fûrworten, alse da vor bescheiden ist,461 und: Sie hant uns ouch gelobet zuo gebenne ûber den vorgeschribenne verzig einen gehesemet brief mit allen den fûrworten, alse da vor bescheiden ist.462

Die zuvor ausgeführten Punkte bilden einzelne Steine eines Mosaiks, die zusammengenommen für eine aktive und direkte Teilhabe des jüdischen Bevölkerungsanteils an der deutschen Volkssprache während des gesamten Hoch- und Spätmittelalters sprechen und die Entstehung des Jiddischen als Verkehrssprache der aschkenasischen Judenheit nicht vor den Beginn der Frühen Neuzeit setzen.463 Zugleich führt uns der zuletzt dargestellte Aspekt, die Aufnahme originär hebräischer Worte in den Lexembestand der deutschen Sprachstufe des Mittelalters, von den historischen zu den literarischen Spuren des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im deutschen Mittelalter. Dessen Determinanten haben wir bis hierher eingehend analysiert, dessen Niederschlag in der volkssprachlichen Literatur wollen wir uns nunmehr zuwenden, eingedenk der Maximen zweier deutschjüdischer Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts: „Eine außerordentliche Energie der Anpassung an fremde Stoffe und Formen hat die deutsche Litteratur bewiesen“464, und: „Nichts ist toleranter und cosmopolitischer als die weltverbrüdernde Volkssage“465.

460 461 462 463

BOOS (Hrsg.) Urkundenbuch, Bd. 2, Nr. 74, S. 47. HILGARD (Hrsg.): Urkunden, Nr. 422, S. 372. HILGARD (Hrsg.): Urkunden, Nr. 423, S. 374. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß in deutschsprachigen mittelalterlichen Texten die Sprache der Juden des öfteren jüdisch genannt wird, vgl. zum Beispiel den ‚Renner‘ vv. 22283, 22325 u. 22334; aus dem jeweiligen Textkontext wird jedesmal eindeutig ersichtlich, daß damit das Hebräische gemeint ist und nicht etwa irgendeine Form jüdischer Sondersprache; in diesem Zusammenhang sei auch noch einmal daran erinnert, daß die Bezeichnung der Verkehrssprache der Juden in hebräischen Texten des Mittelalters und der Frühen Neuzeit stets znk#) }w#l („deutsche Sprache“) oder #+yy+ (taitsch) ist. 464 ROSENBERG: Sammlung, S. 232. 465 KOHLER: Sage, S. 242.

C. Literarische Spuren: Texte, ihre Autoren und ihr Umgang mit jüdischer Kultur Jüdisch-christlicher Kulturtransfer im deutschen Mittelalter läßt sich vorrangig durch das zahlreiche „Erzähl- und Spruchgut“1 belegen, von dem FRITZ PETER KNAPP vermutet, daß es ab dem 12. Jahrhundert und zum Teil durch persönlichen Austausch zwischen Juden und Christen vom kulturellen Archiv der einen in das der anderen Seite gelangt ist. Dabei lassen sich unterschiedliche Grade der Direktheit des interkulturellen Transfers ausmachen, also zum Beispiel mündliche oder bereits schriftlich fixierte Vermittlung, die wiederum persönlich oder über Mittelsmänner bzw. über die Rezeption originaler oder schon in eine Zweitsprache transponierter Quellen stattfinden kann. Doch nicht nur einzelne Motive, sondern auch ganze Stoff- und Erzähltraditionen können auf diese Weise ausgetauscht werden, wie wir im weiteren Verlauf dieser Untersuchung an unterschiedlich determinierten Stationen nachvollziehen werden. Die einzelnen Kapitel des zweiten Analyseteils werden die Bandbreite des Kulturtransfers vom Judentum zum Christentum in der deutschen Literatur der Jahrhunderte zwischen 1150 und 1500 aufzeigen. Das Phänomen und der Begriff „Kulturtransfer“ werden – wie in den theoretischen Vorüberlegungen bereits umrissen – durch die Kombinationen quantitativer (Stoffe, Motive, Bilder), qualitativer (Aneignung und Abgrenzung, direkter und indirekter Transfer) und textkohärenter Momente (zeitlicher, räumlicher und sozialer Ort der Texte) ausgeleuchtet und gefüllt. So greift zum Beispiel zu Beginn des 13. Jahrhunderts der Ministeriale Rudolf von Ems zum Zwecke der literarischen Aneignung in mindestens einem seiner Werke auf einen Stoff jüdischer Provenienz zurück, der ihm vermutlich durch direkte Kontakte mit jüdischen Gewährsleuten vermittelt wurde, während ein geistlich gebildeter österreichischer Anonymus in den ersten Jahrzehnten des 14. Jahrhunderts lateinischsprachige Exzerpte des Talmud ins Deutsche überträgt, um seinem Laienpublikum die Verderbtheit der Juden und ihrer Theologie vor Augen zu führen. Die Heterogenität der untersuchten Texte ist somit bewußt gewählt, um Spuren des jüdisch1

KNAPP: Literatur, S. 361.

Texte, ihre Autoren und ihr Umgang mit jüdischer Kultur

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christlichen Kulturtransfers in ihrem erhaltenen Facettenreichtum darzustellen. Darüber hinaus orientiert sich die Wahl der untersuchten Texte auch an der Frage, in welchen Fällen zum Beispiel die genauere Quellenlage bis zum heutigen Tag offen geblieben ist und noch nicht befriedigend geklärt werden konnte. Kultureller Kontakt und Austausch zwischen Juden und Christen im Mittelalter sind eng verknüpft mit vier intentionalen Haltungen, die nicht unbedingt in einer streng unterscheidbaren zeitlichen Abfolge einander abgelöst haben, sondern durchaus gleichzeitig anzutreffen sind, und die auf die Begriffe Aneignung, Polemik, Diffamierung und Abgrenzung gebracht werden können. Aneignung bezeichnet hierbei das Stadium der produktiven Beschäftigung mit der jeweils anderen Kultur, ihren Traditionen und Trägern, das sich in persönlichen Kontakten zwischen Juden und Christen, in der Übernahme von Stoffen und Motiven, Verhaltensweisen und Statussymbolen, aber auch in Übersetzungen der Quellenschriften der jeweils anderen Seite ausdrückt und niederschlägt. Antrieb für diese Art des interkulturellen Transfers ist dabei zumeist die Absicht, die Überlieferung der anderen Seite in das eigene Bezugs- und Bedeutungssystem zu integrieren. In den Stadien der Polemik und Diffamierung, die bereits zum Stadium der Abgrenzung hinüberleiten, steht dagegen der Wunsch im Vordergrund, die Kultur des Anderen öffentlich in – tatsächlichen oder literarischen – Auseinandersetzungen abzuwerten, sei es durch Angriffe gegen die Texttraditionen oder gegen die Vertreter der Gegenseite. Allerdings setzen Polemik und auch Diffamierung immer noch die Wahrnehmung des Anderen voraus, die auch darauf zielen kann, die Gegenseite von der Richtigkeit der eigenen Anschauung zu überzeugen, so daß sie nicht gleichzusetzen ist mit Abgrenzung. Polemik ist somit noch eine Form des Kontakts, Abgrenzung dagegen ist Kontaktabbruch oder Kontaktvermeidung. In der Regel definiert man Polemik als „scharfen, verunglimpfenden Angriff“2. Seit dem 18. Jahrhundert im Deutschen belegt, stellt dieser Begriff eine Entlehnung des französischen Worts polémique dar, einer Substantivierung des gleichlautenden Adjektivs, dessen Bedeutung die Wörterbücher mit „kriegerisch, den Krieg betreffend“ wiedergeben. Damit enthüllt sich bereits die etymologische Wurzel, die letzten Endes hinter allen Ableitungen in romanische wie germanische Sprachen steckt: das altgriechische po/lemoj, der „Streit“. Man könnte nun also davon ausgehen, daß wir uns im Zusammenhang dieser Überlegungen mit der Verwendung des Begriffs „Polemik“ seiner lexikalischen Definition und seinem landläufigen Gebrauch an2

Vgl. KLUGE/SEEBOLD: Wörterbuch, S. 639.

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schlößen – doch wäre dies ein Trugschluß. Meines Erachtens verwischen Definition und Gebrauch, wie soeben kurz umrissen, nämlich einen für unser Thema überaus bedeutsamen Aspekt: Polemik zielt eben nicht, wie man problemlos annehmen könnte und wie dies in der Regel auch geschieht, auf das Außen einer Gruppe, sondern vielmehr auf das Innere, ja auf den Kern dieser Gruppe selbst, auf ihr Eigenverständnis. Durch Polemik wird, über die Darstellung dessen, was als fremd, heterodox oder feindlich kategorisiert wird, der hegemoniale Referenzraum des Eigenen abgegrenzt, umzäunt und affirmiert. Polemik dient also in erster Linie der Beschreibung des als positiv verstandenen Selbst mithilfe der Spiegelung in der Negativfolie des Anderen. Polemik dient somit nicht vorrangig der Verunglimpfung des Anderen, diese ist vielmehr lediglich Mittel zum Zweck. Polemik ist also im wahren etymologischen Wortsinn Apologie, indem nämlich dasjenige, was nicht zur eigenen Referenzgruppe dazugehören soll und darf, gleichsam sozial-exorzistisch „weggeredet“ – respektive in den meisten Fällen weggeschrieben – wird. Mit dieser intentionalprozessualen Definition soll zugleich der Begriff der Polemik vom Begriff der Diffamierung abgegrenzt werden, der nun tatsächlich dazu dient, das als anders oder fremd Benannte in dessen eigenem Wert und Verständnis zu treffen und zu zerstören. Diffamierung zielt somit in der Tat auf die Herabwürdigung des Anvisierten, ohne daraus eine definitorisch-affirmative Selbstbeschreibung werden zu lassen. Das Stadium der Abgrenzung ist im Gegensatz zu allen anderen zuvor beschriebenen Stadien schließlich durch die Exulierung des Anderen geprägt, durch den Rückzug auf die Teile der Überlieferung, die als originär eigene verstanden werden, und die – ideologische wie reale – „Säuberung“ des jeweiligen Kulturraums von den als deviant eingestuften Strömungen. Das kulturell Andere wird nicht mehr als Möglichkeit wahrgenommen, das Wissen des eigenen Archivs zu bereichern, sondern als Gefahr für die jeweilige kulturelle Identität verstanden – es bilden sich streng voneinander geschiedene Inseln des Eigenen und des Fremden. Wie bereits angedeutet, überschneiden sich die zuvor umrissenen Stadien des jüdisch-christlichen Kulturkontakts in nahezu allen aufspürbaren Beispielen, wobei grundsätzlich drei distinkte Formen kulturellen Transfers zwischen Juden und Christen im deutschen Mittelalter denkbar sind: 1. Ein mündlicher, vorschriftlicher und direkter Transfer im 11. und 12. Jahrhundert, in dem originär jüdische, darüber hinaus aber auch im weiteren Sinne orientalische Motive und Erzählstoffe vom jüdischen ins christliche kulturelle Archiv übermittelt werden. Ermöglicht wird diese erste Form jüdisch-christlichen Kulturtransfers durch die Tatsache, daß die jüdische Seite sowohl im Orient wie im Okzident beheimatet ist und

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zwischen beiden geographischen Entitäten bereits vor der Zeit der Kreuzzüge enge direkte wie indirekte Beziehungen existieren. Literarischen Niederschlag hat diese Form kulturellen Austauschs im deutschen Mittelalter unter anderem ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in so unterschiedlichen volkssprachigen Werken wie dem ‚Herzog Ernst‘, ‚Salman und Morolf‘, ‚Reinhart Fuchs‘, oder den gereimten Weltchroniken Rudolfs von Ems, Jans’ von Wien und Heinrichs von München gefunden. In einzelnen Fällen, so zum Beispiel bei Jans von Wien, lebte diese Art jüdischchristlichen Kulturtransfers im späteren Mittelalter noch einmal auf. 2. Ein zunächst mündlicher, sehr bald aber schon verschriftlichter, direkter, allerdings in der Art kultureller Übersetzung ablaufender Transfer im gleichen Zeitraum, in dem durch jüdische Konvertiten weitere Stoffe, zum Teil bereits unter der Sammelbezeichnung „Talmud“ (deuterosis, doctrina), dem christlichen Kulturbereich zugänglich gemacht werden. Diese zweite Form unterscheidet sich von der ersten zum einen durch ihren Medialitätscharakter (Mündlichkeit versus Schriftlichkeit), zum anderen durch ihre Trägerschaft. Zwar handelt es sich auch in diesen Fällen um Personen, die durch eine direkte, biographische Verbundenheit mit dem jüdischen Kulturbereich gekennzeichnet sind, doch im Gegensatz zu den Trägern der ersten Form jüdisch-christlichen Kulturtransfers haben sie durch ihren Religionswechsel diesen kulturellen Hintergrund verlassen und gegen einen gänzlich neuen Hintergrund eingetauscht. Daher spielt in dieser Form des kulturellen Transfers das apologetische Moment, die Suche des Transferenten nach einer Bestätigung seines Neuchristentums in der polemischen Abgrenzung oder Umwertung jüdischer Texttraditionen eine konstitutive Rolle. Literarisch schlägt sich diese Form vor allem in lateinischen, im späteren Mittelalter auch in volkssprachigen Erzählsammlungen nieder wie der ‚Disciplina clericalis‘ des Petrus Alfonsi und ihren altfranzösischen Prosa- und Versbearbeitungen, den ‚Gesta Romanorum‘, den verschiedenen Versionen der ‚Historia septem sapientum‘ und des ‚Dolopathos‘, Johannes’ von Capua ‚Directorium vitae humanae‘, dem ‚Novellino‘, Steinhöwels ‚Esopus‘ oder Paulis ‚Schimpf und Ernst‘. 3. Ein zuerst ebenfalls mündlicher, jedoch zum Teil schon im Entstehungsprozeß verschriftlichter, indirekter Transfer, in dem christliche Theologen im 12. und 13. Jahrhundert hebräische Quellen ihrer jüdischen Zeitgenossen rezipieren und adaptieren. Diese dritte Form jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter stellt sozusagen gleichermaßen die Synthese und Abschaffung der ersten beiden Formen dar, insofern es mit der Befragung jüdischer oder ehemals jüdischer Gewährsleute beginnt, nach der Überführung des neugewonnenen Wissens in den christlich-theologischen

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Diskurs aber den Charakter eines tatsächlichen Transferprozesses gänzlich einbüßt und zu einem eigenständigen und -gesetzlichen Diskussionsgegenstand der theologischen Literatur des westeuropäischen Christentums wird. Auf das kulturelle Milieu, aus dem die transferierten Texte ursprünglich stammen, wirkt sich diese Form des Kulturtransfers jedoch besonders nachdrücklich aus, da die Texte bereits ab der Mitte des 12. Jahrhunderts als polemische Waffe verwendet werden – zunächst gegen „Feinde im Inneren“, also konkurrierende christliche Theologen, die mit dem Vorwurf der judaisierenden Häresie konfrontiert werden, sodann aber gegen die originären Tradenten selbst in der Form von Religionsdisputationen, Talmudprozessen und Bekehrungspredigten. Literarisiert wurde dieser polemische Kulturtransfer zunächst wiederum in lateinischen Texten wie den Kommentaren der Viktoriner zum Alten Testament, der ‚Historia scholastica‘ des Petrus Comestor, Theobalds von Sézanne ‚Excerpta talmudica‘ oder dem ‚Passauer Anonymus‘, ab dem späteren 13. Jahrhundert aber auch in deutschsprachigen Werken wie der Sangspruchdichtung – zum Beispiel bei Pseudo-Konrad von Würzburg oder Pseudo-Regenbogen – im ‚Kleinen Lucidarius‘, in den Schriften des ‚Österreichischen Bibelübersetzers‘, Michel Beheims oder Hans Folz’. Die frühesten Spuren des jüdisch-christlichen Kulturtransfers in der deutschen Literatur des Mittelalters finden sich ab dem frühen 11. Jahrhundert und schöpfen aus einem Reservoir volksreligiöser, laienmedizinischer, magisch-mantischer Überlieferung, an dem sowohl Juden wie Christen in der Vormoderne zu gleichen Teilen partzipierten.3 Die Verwendung von Zaubersprüchen und Beschwörungsformeln, also den Glauben an die heilsame oder schadensbringende Wirksamkeit sprachlicher und taktiler Symbolhandlungen, assoziiert man in der nachaufklärerischen Neuzeit gemeinhin mit vormodernen Glaubens- und Kultformen,4 in denen die Überzeugung von der Einheit von subjektivem und objektivem Erleben, im speziellen Fall der Heilungszauber also die Übereinstimmung des Zeichens der Krankheit – der Symptome – und des Bezeichneten der Krankheit – des Erkrankten –, noch ungebrochen und

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4

Zur Übernahme originär christlicher Beschwörungsformeln in das jüdische kulturelle Archiv der Vormoderne vgl. z.B. TIMM: Segen, Sp. 1413–1419; STAERK: Beschreiungsformeln, S. 200–203; GÜDEMANN: „Magen“, S. 135–139; GÜDEMANN: Vermischungen, S. 269–273, sowie generell TRACHTENBERG: Magic. Vgl. SCHUSSER: Beschwörung, Sp. 1110: „Die B[eschwörung] ist dem Primitiven Beherrschung der ihn umgebenden Welt. [...] namentlich die ärztliche Kunst des Primitiven ist reich an B[eschwörung]en“.

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unhinterfragt existent war.5 So kennen alle antiken Religionssysteme diese Kleinstformen kultischer Traditionen,6 doch nicht allein pagane Glaubenswelten, auch die monotheistischen Religionen, die seit der Spätantike den Mittelmeerraum immer stärker prägten und schließlich zur Unterdrückung und Verfolgung heidnischer Praktiken und Inhalte übergingen, waren von „der von den Wortformeln ausgehenden suggestiven Wirkung“7 überzeugt, und dies nicht allein im Zusammenhang mit Kulthandlungen, die im Bezugssystem der jeweiligen Religion dogmatisch abgesichert waren, wie zum Beispiel dem christlichen Exorzismus, der sich unter anderem in der ‚Historia Francorum’8 Gregors von Tours aus dem 6. Jahrhundert und in der ‚Chronica Slavorum’9 Helmolds von Bosau aus dem 12. Jahrhundert 5 6

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Vgl. dazu und zu den folgenden Ausführungen immer noch OHRT: Segen, Sp. 1582–1620; FEHRLE: Zauber. Vgl. z.B. die Auswahl griechisch-römischer Beschwörungsformeln bei ÖNNERFORS (Hrsg.): Zaubersprüche. Das hohe Alter dieser Form religiöser Praxis war durchaus auch mittelalterlichen Chronisten bewußt, die in Anlehnung an die Schriften der Kirchenväter Zarathustra zum Stammvater dieser Kunst erklärten; vgl. z.B. Isidors ‚Etymologiae’, VIII,9,1: Magorum primus Zoroastres rex Bactrianorum, und die Ausführungen Lamberts von Hersfeld zum zweiten Weltzeitalter: Zoroastres magicam repperit (HOLDER-EGGER [Hrsg.]: ‚Opera’, S. 4); vgl. zu dieser bereits auf den jüngeren Plinius zurückgehenden Ansicht DAXELMÜLLER: Zauberpraktiken, S. 71. BRUNNER: Geschichte, S. 55f. Vgl. KRUSCH/LEVISON (Hrsg.): ‚Libri’, VII,44: Fuit hunc temporis mulier, quae spiritum phitonis habens multum praestabat dominis divinando questum eoque in gratia proficit, ut, ab his libera facta, suis voluntatibus laxaretur. Si quis enim aut furtum aut aliquid mali perferret, statim haec, quo fur abiit, cui tradedit vel quid ex hoc fecerit, edicebat. Congregabat cotidie aurum argentumque, procedens in ornamentis, ita ut putaretur esse aliquid divinum in populis. Sed cum Agerico Veridunense episcopo haec nuntiata fuissent, misit ad conpraehendendum eam. Quam adprehensam et ad se adductam, iuxta id quod in Actibus legimus apostolorum, cognovit in eam inmundum spiritum esse phitonis. Denique cum exorcismum super eam diceret ac frontem oleo sancto perungueret, exclamavit daemonium et quid esset prodidit sacerdoti. Sed cum per eum a puella non extruderetur, abire permissa est. Cernens vero puella, quod in loco illo habitare non possit, ad Fredegundem reginam abiit ibique et latuit. Vgl. LAPPENBERG/SCHMEIDLER (Hrsg.): ‚Cronica’, I,55: In diebus illis contigit virginem quandam Ymme dictam vexari a demone et ad Vicelinum sacerdotem perduci. Quem cum interrogacionibus urgeret, cur vas incorruptum ipse, auctor corruptelae temerare presumpsisset, ille diserta voce respondit: ‚Quia', inquit, ‚tercio me offendit'. ‚In quo', ait, ‚ te offendit ?' ‚Quia', inquit, ‚negocium meum prepedivit. Bis enim transmisi fures ad perfodiendum domum, sed haec assidens focis clamoribus suis eos absterruit. Nunc quoque legacione principis nostri in Daniam functurus hanc in via offendi ulturusque, quod michi tercio offendiculo fuerit, subter ipsam devolutus sum'. Sed cum vir Dei coniuracionum verba adversus eum coacervaret, ille ait: ‚Cur', inquit, ‚propellis paratum ultro egredi? Iam enim abibo ad proximam villam visitaturus sodales meos, qui illic delitescunt. Hoc etenim in mandatis accepi, priusquam in Daniam proficiscar'. ‚Quod tibi', ait, ‚nomen, et qui socii tui? aut cum quibus habitant?' ‚Ego', inquit, ‚Rufinus vocor; porro sodales mei, de quibus requiris, duo hic sunt, unus cum Rothesto, alter cum muliere quadam eiusdem oppidi. Hos igitur hodie visitabo, crastina, priusquam signum ecclesiae primam increpuerit, huc valedicturus revertar et ita demum in Daniam proficiscar'. Et haec dicens egressus est, virgo quoque passione vexacionis liberata. Tunc iussit eam sacerdos refici et crastina ante horam primae ad ecclesiam reduci. Quam cum parentes proximo mane ad ecclesiam ducerent, priusquam limen calcarent, et prima pulsari et vexari virgo cepit. Nec tamen boni pastoris diligentia prius abstitit, quam idem spiritus presidentis potentia Dei actus ab-

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findet und zu dessen Vollzug ebenfalls das Aussprechen von coniurationes oder incantationes gehört. Vielmehr finden sich vielfach Belege dafür, daß „Geistliche und Mönche im deutschen Mittelalter – wie schon im Süden in dem ausgehenden Altertum – allen Verboten zum Trotze, Verbalmagie ausübten“10. Die bis heute bekanntesten und auch während des Mittelalters verbreitetsten Zauberformeln stellen die Formel abracadabra, die sich zuerst um 200 n.Chr. bei dem medizinischen Schriftsteller Quintus Serenus findet,11 sowie das sogenannte „Satorquadrat“ dar, ein vierfach potenziertes Palindrom, das zuerst für die Mitte des ersten nachchristlichen Jahrhunderts durch Graffiti aus Pompeji belegt ist.12 Die vom Positivismus der Naturwissenschaften bestimmte europäische Moderne hat alle diese Formen praktisch-privativer Heil- und Schadenszauber mit dem Odium des Obskurantismus belegt und in den Bereich des gesellschaftlich Marginalisierten abgedrängt. Im Zusammenhang esoterischer und neuheidnischer Bewegungen, aber auch in stark popularisierter Form wie den Küchenlatein-Zaubersprüchen der Figuren aus Joanne K. Rowlings „Harry Potter“-Romanen13 existiert die Tradition der Spruchmagie zwar bis in unsere Tage fort, doch kommt ihr keine auch nur annähernd so große Bedeutung für die alltägliche medizinische Praxis mehr zu wie in der europäischen Vormoderne, deren volkssprachliche und lateinische Literaturen so viele Textbeispiele aufweisen, daß man gar von einer eigenen Textgattung sprechen kann. Die deutsche Literatur des Mittelalters kennt Vertreter dieses Genres aus allen Epochen ihrer Überlieferung, also nicht allein aus althochdeutscher Zeit, sondern bis weit in frühneuhochdeutsche Texte hinein, wenngleich die Formeln des 9. bis 11. Jahrhunderts sicherlich die bis heute bekanntesten und vor allem im universitären Unterricht am weitaus häufigsten behandelten Beispiele sind.14 Das tatsächliche, genaue Verständnis der Zaubersprüche, Beschwörungs- und Segensformeln der älteren deutschen Sprachstufen fällt jedoch oftmals nicht leicht. So hat unlängst WOLFGANG BECK in einer ebenso voluminösen wie gründlichen Studie die zahlreichen und vielfältigen Interpretations- und (Miß)verstehensmöglichkeiten aufgezeigt, die seit der Entdeckung der ‚Merseburger Zauber-

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scessit. Porro ea quae de Rothesto predixerat rei exitus probavit; nam in brevi maligno spiritu acerrime correptus laqueo semet strangulavit. OHRT: Segen, Sp. 1602; vgl. dazu auch ASSION: Literatur, S. 169–196; HARMENING: superstitio; BROX: Magie, S. 157–180. Vgl. PÉPIN (Hrsg.): ‚Liber’, v. 935. Vgl. dazu grundsätzlich HOFMANN: Satorquadrat, Sp. 477–565. Vgl., um nur den siebten und letzten Band der Reihe zu erwähnen, JOANNE K. ROWLING: Harry Potter and the Deathly Hallows. London 2007. Vgl. dazu grundsätzlich MURDOCH: drohtin, S. 11–37; WIPF: Zaubersprüche, S. 42–69.

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sprüche’ durch GEORG WAITZ und der ersten Würdigung dieser Texte durch JACOB GRIMM im Jahre 1842 in der Forschung vorgetragen wurden.15 Die nachfolgenden Überlegungen widmen sich einem weitaus weniger prominenten Text, an dessen Deutung sich jedoch nachgerade paradigmatisch die grundsätzliche Schwierigkeit im interpretatorischen Umgang mit dieser Textsorte exemplifizieren läßt. Das Problem läßt sich auf den einfachen Punkt reduzieren, daß den modernen Leserinnen und Lesern oftmals der entscheidende Hinweis zur Entschlüsselung des jeweiligen Spruchs fehlt, sei es, daß dieser ganz simpel zu unspezifisch formuliert ist, oder sei es, daß das zum Verständnis des Textes zentrale Mythologem im Verlaufe der Jahrhunderte nach der Textniederschrift verunklart wurde oder verlorengegangen ist. Bei dem hier zu besprechenden Text16 handelt es sich um eine iatromagische, christliche Formel in einer Handschrift der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts17 aus dem Kloster Marialaach, die heute unter der Signatur Hs. 218 in der Bonner Universitätsbibliothek aufbewahrt wird.18 Am unteren Rand von Blatt 41r dieser Handschrift findet sich folgender lateinisch-althochdeutscher Mischeintrag, dessen volkssprachliche Bestandteile bairische und rheinfränkische Formen aufweisen:19 Contra malum malannum Cum minimo digito circumdare locum debes, ubi apparebit, his verbis Ih bimuniun dih, suam20, pî gode jouh21 pî Christe22, 15 16 17 18 19

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Vgl. BECK: ‚Zaubersprüche’. Vgl. dazu grundsätzlich HOLZMANN: Formen, S. 68–70; STEINHOFF: ‚Contra malum malannum’, Sp. 9f.; EIS: Zaubersprüche, S. 109–116; MILLER: Charms, S. 11f.; MSD, Bd. 2, S. 53f. GRIMM: Mythologie, Bd. 3, S. 494, datiert die Handschrift genauer, allerdings ohne wirklichen Beweis, auf den Zeitraum 1070–1090. Vgl. auch das Faksimile des Textes bei EIS: Zaubersprüche, Taf. VI. Der Text folgt MSD, Bd. 1, S. 18. Änderungen, die MSD gegenüber der Handschrift vorgenommen haben, sind im folgenden in den Fußnoten verzeichnet; vgl. dazu auch MILLER: Charms, S. 11. Strukturell und inhaltlich ähnliche Formeln jüngeren Datums finden sich u.a. bei HEILIG: Auswahl, S. 265 (Ein guter augen segen des 16. Jahrhunderts aus cpg 244, Bl. 143r, in dem die beschworene Krankheit sowohl male als auch schweme genannt wird), oder bei HAASE: Volksmedizin, S. 57f. (sechs Formeln des 18./19. Jahrhunderts aus Brandenburg gegen Schwämme). Handschrift: suaz. So lautet auch der Text der Erstedition des Spruchs durch WACKERNAGEL (Hrsg.): Gebet, S. 69, die Konjektur zu suam, der sich MSD anschließen, findet sich erst in WACKERNAGELs Anmerkungen (ebd., S. 70); zur Kritik an diesem Texteingriff vgl. STEINMEYER (Hrsg.): Sprachdenkmäler, S. 384. WIPF (Hrsg.): Texte, S. 88, entscheidet sich ebenfalls für die Lesart der Handschrift, begründet seine Entscheidung jedoch recht angestrengt: „suaz: mhd. swâz (stM) ‚Ausguß, -schutt’; da diese Bedeutungen aber keinen sinnvollen Satzinhalt ergeben, sei darauf hingewiesen, daß swaz mhd. auch für swer gilt. Hier nun bietet sich nicht nur swer als Pron. an, sondern auch swere, swer (swstM) ‚leiblicher Schmerz’, bes. ‚Geschwulst, Geschwür’“ (ebd., S. 291). Handschrift: iouh. Handschrift: xriste.

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Tunc fac crucem per medium23, + et dic daz tû niewedar ni gituo noh tolc noh tôthoupit24. Item adiuro25 te per patrem et filium et spiritum sanctum, ut amplius non crescas sed arescas.

Eine nah am Ausgangstext orientierte, neuhochdeutsche Übersetzung fällt noch einigermaßen leicht: Gegen das böse Geschwür Mit dem kleinen Finger mußt du den Ort, wo es erscheinen wird, mit diesen Worten umkreisen: ‚Ich beschwöre dich, Schwamm, bei Gott und bei Christus’, dann mache ein Kreuz über die Mitte und sprich: ‚daß du nie wieder eine Wunde verursachst noch Todesursache26 bist.’ Ebenso: ‚Ich beschwöre dich beim Vater und Sohn und Heiligen Geist, daß du nicht weiter wächst, sondern austrocknest.’

Das allgemeine Verständnis der Formel bereitet ebenfalls keine Schwierigkeiten, es handelt sich um einen christlichen Heilzauber, der als Begleitspruch „zu einer gleichzeitig vorgenommenen Handlung zu denken“27 ist. Die sich an die Übersetzung anschließende Beantwortung der Frage, welche Krankheit nun aber in der Überschrift und im Text genau gemeint und beschrieben sei – wogegen diese Beschwörungsformel also helfen solle –, gestaltet sich weitaus schwieriger.28 Bereits die Frage, ob es sich um eine Krankheit handelt, die den Menschen befällt, oder um eine Erkrankung der Nutztiere handelt, läßt sich rein textimmanent kaum klären.29 Daher bleiben die meisten bisher vorgetragenen Interpretationen in der Regel ähnlich unspezifisch wie diejenigen JACOB GRIMMs30, GUSTAV 23 24 25 26

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Handschrift: modium. In der Handschrift Spatium zwischen tot und houpit. Handschrift: adiure. So auch STEINMEYER (Hrsg.): Sprachdenkmäler, S. 384. Ich wähle, in Anlehnung an WIPF (Hrsg.): Texte, S. 89 u. 291, die Übersetzung „Ursache“ für ahd. houbit; vgl. dazu auch SCHÜTZEICHEL: Wörterbuch, S. 170. Vgl. im Gegensatz dazu die Übertragung der ahd. Textteile bei EHRISMANN: Geschichte, Tl. 1, S. 110: „Ich ermahne dich, Schwamm, bei Gott und bei Christus, daß du keine von beiden machst, weder Wunde noch totes Haupt“; vgl. auch EIS: Zaubersprüche, S. 109. SCHAUFFLER: Literatur, S. 41; vgl. zur Klassifizierung ahd. Zaubersprüche und Segensformeln immer noch SCHIROKAUER: Form, S. 353–364; BACON: Versuch, S. 224–232. MILLER: Charms, S. 12, faßt die zum Teil stark differierenden Interpretationsvorschläge wie folgt zusammen: “They may be polyps of the nose […] or an infection of the nasal bone […]. It may be a sore or boil on the neck [...]. It may be eye trouble, [...]. It may be an infectious skin disease or a fungus, especially on the face [...]. It may be chillblain”. Im Grunde beginnen die Schwierigkeiten bereits bei der Benennung der Krankheit: ist es der malus malannus, wie z.B. GRIMM: Mythologie, Bd. 2, S. 971, und EHRISMANN: Geschichte, Tl. 1, S. 110, angeben, oder ist es vielmehr das malum malannum, wie HÖFLER: Malum, S. 512–526, vorschlägt. Schließlich findet sich in einem lateinischen Spruch auch noch die feminine Form mala malanna (HOLZMANN: Formen, S. 69; MSD, Bd. 2, S. 54). Vgl. GRIMM: Mythologie, Bd. 2, S. 97: „Eine art auswuchs oder schwamm hiess malannus“.

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EHRISMANNs31, CAROL LYNN MILLERs32 oder ROSWITHA WISNIEWSKIs33, wenn man nicht, wie WILHELM WACKERNAGEL, malannum in „malandrii oder malandrium, was bei Vegetius Blasen am Halse bedeutet“34, ändern will. Auch ein Blick in die lateinische Literatur des frühen Mittelalters hilft zunächst wenig weiter, einzig die bereits von GRIMM zitierte Stelle aus den ‚Praeloquia’ Rathers von Verona (um 890–974) scheint einige Aufklärung zu bieten: Rather spricht im Abschnitt De medicis seines Werks von Carbunculi enim, vel malae pustulae, quem malum vulgo dicunt malampnum.35 Der direkte Kontext dieses Zitats schwächt seine Aussagekraft für die hier behandelte Frage jedoch gleich wieder ab, handelt Rather doch von den sagenumwobenen, magischen Kuren, die die antiken Marser zur Heilung von Schlangenbissen anwandten, was schlecht zu dem in unserer Formel angesprochenen – wenngleich auf einer Konjektur beruhenden – suam passen will. Letzteres aufgreifend hatte daher schon EHRISMANN darauf hingewiesen, daß schwammartige, krankhafte Wucherungen beim Menschen im klassischen und mittelalterlichen Latein in der Regel als fungi bezeichnet werden.36 Diese Beobachtung hat GERHARD EIS aufgegriffen und für den ersten ausführlicheren Interpretationsversuch unserer Formel genutzt.37 Aufgrund eines Vergleichs der in den lateinischen Teilen des Spruchs genannten Symptome – es handelt sich um eine Krankheit, „die an einer erkennbaren Stelle ihren Sitz hat (ubi apparebit) und die durch Wachsen bedrohlich wird (ut amplius non crescas)“38 – mit der Ikonographie chirurgischer Traktate des 11. Jahrhunderts39 kommt er zu dem Schluß, daß mit 31 32 33 34 35

36 37 38 39

Vgl. EHRISMANN: Geschichte, Tl. 1, S. 110: „In der Krankheit malannus sind inbegriffen Auswüchse, Geschwüre, Karfunkel, Pustel“. Vgl. MILLER: Charms, S. 11: „a growth on the skin“. Vgl. WISNIEWSKI: Literatur, S. 259: „Nasengeschwür? Hautkrankheit?“ WACKERNAGEL: Gebet, S. 70; vgl. dazu GEORGES/GEORGES: Handwörterbuch, Bd. 2, Sp. 775: „malandriae, [...] Blasen (Blattern) am Halse, viell. Aussatz, Räude“. Ratherii ‚Praeloquiorum libri’, Sp. 152; HÖFLER: Krankheitsnamen-Buch, S. 248, interpretiert diese Stelle als konkreten Hinweis auf „(Milzbrand-)Karbunkel, üble Blatter, Anthrax [...], der zeitweise in Epizootien oder Epidemien auftritt, bezw. auftrat“. In romanisierter Form, als afrz. (mal) malan, ist die Krankheitsbezeichnung zwar recht häufig, aber wiederum nur sehr unspezifiziert überliefert; vgl. dazu TOBLER/LOMMATZSCH: Wörterbuch, Bd. 5, Sp. 970f., die als Übersetzung lediglich „eine Hautkrankheit: Schwären, Geschwür“ vorschlagen. Vgl. EHRISMANN: Geschichte, Tl. 1, S. 110; so z.B. bei Tertullian ‚De spectaculis’ XXIII,7: Tales enim cicatrices caestuum et callos pugnorum et aurium fungos a Deo cum plasmaretur accepit (DEKKERS [Hrsg.]: ‚Opera’, Tl. 1, S. 227–253). EIS hat seine Gedanken zuerst 1954 als Aufsatz in der „Medizinischen Monatsschrift“ veröffentlicht; zitiert werden sie hier nach dem Wiederabdruck bei EIS: Zaubersprüche, S. 109–116. EIS: Zaubersprüche, S. 110. Vgl. EIS: Zaubersprüche, Taf. VII.

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„fungus nicht irgendein beliebiges Gewächs oder Geschwür des Körpers, sondern der Nasenpolyp“40 bezeichnet werde. Ebendiese Krankheit sei in unserer Beschwörungsformel mit dem althochdeutschen suam gemeint – eine Deutung, die EIS noch durch den Verweis auf einen anderen, im Wortlaut ganz ähnlich formulierten Heilspruch zu untermauern sucht.41 Eine um 1200 im alemannischen Raum entstandene Handschrift des ‚Zürcher Arzneibuch’42 (Zürich, Zentralbibliothek, cod. C 58/275)43 enthält am Ende des Textes auf Blatt 47r folgende lateinische Beschwörung:44 Ad frasin. Sputo circumlinito minimo digito et dic: Adiuro te, mala malanna, per patrem et filium et spiritum sanctum, ut non crescas, sed evanescas, in nomine domini patris et filii et spiritus sancti.

Die hier, allerdings abweichend in femininer Form, angesprochene Krankheit mala malanna ist für EIS identisch mit dem malum malannum und dem suam unseres Spruchs und beide Formeln kündigen „ein Mittel für das bessere Sprechen – gegen das behinderte, näselnde Sprechen der Leute mit Nasenpolypen – an“45. Die von EIS herangezogene Formel aus dem ‚Zürcher Arzneibuch’ hat nun wiederum vor kurzem VERENA HOLZMANN für eine weitere Interpretation von ‚Contra malum malannum’ verwendet, die jedoch zu einem gänzlich andersartigen Ergebnis gelangt als alle zuvor unternommenen Deutungsversuche.46 Sie kehrt dabei zurück zu der bereits von GRIMM vorgeschlagenen Konjektur des Substantivs frasin aus der Überschrift des eben zitierten Spruchs in fraisin.47 Demzufolge läge hier keine korrekte lateinische Umschrift des griechischen Akkusativs fra/sin vor, wie EIS annimmt,48 sondern vielmehr eine Formel gegen die „Fraisen“49, 40 41

42 43 44 45 46 47 48 49

EIS: Zaubersprüche, S. 112; zu Symptomen und Formen von Polypenerkrankungen vgl. Pschyrembel, S. 1338f. Vgl. EIS: Zaubersprüche, S. 114; auf die Parallelen zwischen den beiden Sprüchen hatten zuvor bereits MSD, Bd. 2, S. 53f., und EHRISMANN: Geschichte, Tl. 1, S. 110, hingewiesen; vgl. auch MILLER: Charms, S. 13: „This Latin charm seems to be a parallel to ‚Contra malum malannum’“. Das ‚Zürcher Arzneibuch’ ist ediert bei WILHELM (Hrsg.): Denkmäler, S. 53–64; vgl. dazu KEIL: ‚Arzenibuoch’, Sp. 505. In dieser Handschrift findet sich auf dem gleichen Blatt auch der ahd.-lat. Spruch ‚Contra rehin’, ediert bei STEINMEYER (Hrsg.): Sprachdenkmäler, S. 372f.; vgl. dazu STEINHOFF: ‚Contra rehin’, Sp. 10f.; MILLER: Charms, S. 14f. Der Text folgt HOLZMANN: Formen, S. 69. EIS: Zaubersprüche, S. 114. Vgl. HOLZMANN: Formen, S. 69f. Vgl. GRIMM: Mythologie, Bd. 2, S. 969; dieser Textänderung schließen sich auch MILLER: Charms, S. 13; WILHELM (Hrsg.): Denkmäler, S. 153, und MSD, Bd. 2, S. 54, an. Vgl. EIS: Zaubersprüche, S. 114. Vgl. zu diesem Terminus HÖFLER: Krankheitsnamen-Buch, S. 165; FOSSEL: Volksmedicin, S. 71f.; GRIMM: Mythologie, Bd. 2, S. 969.

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also gegen die Epilepsie50. Auch HOLZMANN verweist zur Absicherung ihrer These auf andere Beschwörungsformeln, die gegen die Fallsucht wirken sollen und in denen der Terminus malum malannum erscheint. So findet sich in der gleichen Handschrift, in der die altsächsischen ‚Wiener Pferdesegen’51 und ‚Contra vermes’52 überliefert sind (Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. vind. 751), als Eintrag einer Hand des frühen 10. Jahrhunderts auf Blatt 188v auch nachfolgender lateinischer Spruch:53 Contra sagittam diaboli. palmiasit. palmiasit. calamia insiti per omne corpus meum. per ista tria nomina per patrem et filium et filium sanctum. aius aius aius sanctus sanctus sanctus. in dei nomine cardia cardiani de necessu propter illum malannum quod dominus papa ad imperatorem transmisit, quod omnis homo super se portare debet. amen. tribus vicibus.

Etwas näher am Wortlaut unserer und der ‚Ad frasin’-Formel zeigt sich noch eine jüngere, in einer lateinischen Sammelhandschrift des 12. Jahrhunderts (München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 100) auf Blatt 113r verzeichnete ausführlichere Variante der soeben zitierten Beschwörung:54 Contra sagittam diaboli. Kyrie eleyson. Christe eleyson. Kyrie eleyson. Alamamiam. alamiam. palamiam. sit in sitim per omne corpus tuum. Per ista tria nomina patris et filii et spiritus sancti. Gardia. gardiana. gardentia. Domine nescia suffonia. quia necesse est per istud malum malannum. quia dominus papa apostolicus ad imperatorem transmisit ut omnis homo super se portaret. agios. agios. agios. sanctus. sanctus. sanctus. alleluia. alleluia. alleluia. crux Christi. crux Christi. crux Christi. ó. ò. ò. domine qui fecisti primum hominem Adam. ó. ò. ò. domine si hic assit nata una cyppa. ó. o. o. domine tu illam sicca. N. Del indena. dulta mila uelena. Sanctus Christophorus. Sanctus Abraham. Si dum sinaclium inclina. clina. clina. sancta Saturnia. agyos. agyos. agyos. sanctus. sanctus. sanctus. dominus deus omnipotens. qui erat. et qui est. et qui uenturus est. Adiuro te uenenum per patrem et filium et spiritum sanctum. ut non noceas ultra famulo dei. N. sed ab illo recedas.

HOLZMANN kommt aufgrund dieser Parallelen, die sich jedoch weitgehend auf die Verwendung des Terminus (malum) malannum beschränken, zu dem Fazit, daß auch unsere Formel als Heilmittel gegen die Epilepsie gedacht gewesen sei.55 Der suam wäre somit entweder als äußerliches Symptom oder als Auslöser eines epileptischen Anfalls zu verstehen. 50 51 52 53 54 55

Vgl. zu Symptomen und Formen der Epilepsie Pschyrembel, S. 464–468. Text ediert bei BRAUNE/EBBINGHAUS (Hrsg.): Lesebuch, XXXI,9,A; vgl. dazu STEINHOFF: ‚De hoc quod spvriha[l]z dicvnt’, Sp. 75f.; MILLER: Charms, S. 49–51. Text ediert bei BRAUNE/EBBINGHAUS: Lesebuch, XXXI,4a; vgl. dazu STEINHOFF: ‚Pro nessia’, Sp. 853; MILLER: Charms, S. 7–10. Der Text folgt GRIMM: Mythologie, Bd. 2, S. 1032. Der Text folgt ROCKINGER: Quellenbeiträge, S. 319; ebd., Anm. 24, findet sich bereits ein erster Hinweis auf die Beziehungen zwischen diesem Spruch und ‚Contra malum malannum’. Vgl. HOLZMANN: Formen, S. 70; vgl. bereits DUCANGE: Glossarium, Bd. 4, S. 191 (s.v. malannus): „Morbus comitialis”.

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Literarische Spuren

Im Gegensatz zu den zuvor umrissenen Interpretationsvorschlägen möchte ich noch einmal zu der Frage nach dem grundsätzlichen Verständnis des Begriffs malum malannum zurückkehren und dabei zunächst auf eine weitere lateinische Quelle hinweisen, die der Zeit der Niederschrift unserer Beschwörungsformel sehr nahe steht, bisher in der Diskussion aber weitgehend übersehen wurde:56 Der Benediktinermöch Goscelin von Canterbury berichtet um 1100 in seiner Lebensgeschichte des heiligen Augustinus von der Wunderheilung eines miles, cujus oculum dextrum carbunculus, quod malum Franci per antiphrasim Bonum-malannum vocant, befallen hat.57 Das bedeutet nun aber, daß malum malannum und bonum malannum identisch sind und somit ein und dieselbe Krankheit bezeichnen.58 Mit der Erkenntnis dieser Synonymität allein ist noch viel für die Klärung unserer Frage gewonnen, jedoch sind wir im Gegensatz zum malum malannum wesentlich besser über die frühmittelalterliche Bedeutung des bonum malannum unterrichtet. Eine weitere in dieser Diskussion bisher zumeist unbeachtete Quelle des späteren 11. Jahrhunderts, der Talmudkommentar Salomos ben Isaak aus Troyes (1040–1105), verwendet die altfranzösische Form +““nlm }““wb (bon malan[t])59 gleich siebenmal zur Erläuterung hebräisch-aramäischer Krankheitsnamen:60 dreimal glossiert sie hrks)61 (bBerachot 40a, bSabbat 33a, bTaanit 19b), dreimal yknwrs62 (bJoma 84a, bKettubot 30b, bSota 8b) und einmal {drwb63 (bNedarim 41b). Gemäß Salomos Beschreibung handelt es sich dabei um eine in der Regel letale Erkrankung des Darmtrakts, die in ihrem finalen Stadium auf die Rachenhöhle oder den Mundraum ausgreift und dort wie auch auf der Haut der oberen Extremitäten schwammartige Wucherungen hervorbringt, die schließlich zum Erstickungstod des Kranken führen. Unschwer läßt sich 56 57 58 59 60 61

62 63

Vgl. jedoch HÖFLER: Malum, S. 523; PREUSS: +““nlm }““wb, S. 296; HÖFLER: Krankheitsnamen-Buch, S. 248; DUCANGE: Glossarium, Bd. 4, S. 191. Vgl. Coscelini ‚Historia’, Sp. 22. Zu weiteren Beispielen antiphrastischen Gebrauchs von bonum für malum als Krankheitsbezeichnung vgl. DUCANGE: Glossarium, Bd. 1, S. 701f., u. Bd. 5, S. 202. Allerdings scheint Goscelin unter bonum malannum eine sehr spezifische Form der Erkrankung zu verstehen; HÖFLER: Krankheitsnamen-Buch, S. 248 u. 614, spricht diesbezüglich von „Augenkrebs“ bzw. „Augenhöhlensarkom“. Vgl. dazu TOBLER/LOMMATZSCH: Wörterbuch, Bd. 5, Sp. 953. Vgl. dazu lediglich PREUSS: +““nlm }““wb, S. 296–298. Über die Bedeutung dieses Terminus herrscht, wie auch im Falle der folgenden Bezeichnungen, in den Wörterbüchern teilweise Unklarheit, vgl. KRUPNIK/SILBERMANN: Handwörterbuch, Bd. 1, S. 58: „Angina“; LEVY: Wörterbuch, Bd. 1, S. 125: „das Ersticken, Erstickung, Bräune“; DALMAN: Wörterbuch, S. 29: „eine Geschwulst (im Halse)“. Vgl. KRUPNIK/SILBERMANN: Handwörterbuch, Bd. 2, S. 156: „Erstickung“; LEVY: Wörterbuch, Bd. 3, S. 593: „das Ersticken, die Erstickung“. Vgl. KRUPNIK/SILBERMANN: Handwörterbuch, Bd. 1, S. 88: „Ruhr“; LEVY: Wörterbuch, Bd. 1, S. 262 (s.v. sdrb): „Jem., der an Durchfall leidet“; DALMAN: Wörterbuch, S. 48: „eine Krankheit“.

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hinter dieser Symptomatik der Milzbrand erkennen, dessen drei in der modernen Medizin mittlerweile unterschiedene Manifestationen als Haut-, Lungen- und Darmmilzbrand hier als Kennzeichen der gleichen Krankheit verstanden wurden.64 Somit ergibt sich aus der Zusammenschau von Goscelins synonymem Verständnis von bonum malannum und malum malannum sowie aus Salomos eingehender Beschreibung des bon malan, daß die in unserer Segensformel angesprochene Krankheit ebenfalls der Milzbrand sein müßte. Abgesehen davon, daß nunmehr deutlich geworden sein dürfte, daß die lateinisch-althochdeutsche Beschwörungsformel ‚Contra malum malannum’ keine veterinär-, sondern eine humanmedizinische Wirkungsabsicht verfolgt, fällt die Beantwortung unserer eingangs aufgeworfenen Frage nach wie vor schwer. Wir sehen uns mit der Situation konfrontiert, daß zur Deutung der als malum malannum und suam bezeichneten, als sichtbar hervortretend beschriebenen Krankheit jeweils mit einigem Recht so divergierende Vorschläge wie spreitende Erkrankungen der menschlichen Haut bzw. bestimmter Teile des Schädels – allgemein Geschwüre, spezifischer Milzbrand, Augenhöhlensarkom oder Nasenpolyp – auf der einen sowie eine Erkrankung des Zentralnervensystems – die Epilepsie – auf der anderen Seite gemacht werden können. Die letztendliche Lösung dieses Dilemmas liegt nun meines Erachtens darin, sich nicht an der Nomenklatur der modernen Medizin zu orientieren, deren auf Erreger- und Symptomklassifikation basierender Katalog selbst eine Entwicklung der Neuzeit ist. Vielmehr sollte man den Terminus malum malannum als Bezeichnung einer Krankheit verstehen, deren hauptsächliche äußerliche Erscheinungsform maligne Melanombildung65 auf der Haut, im Gesichtsbereich und auf den Schleimhäuten begleitet von konvulsivischen Krampfzuständen und schließlichem Erstickungstod ist. Zum volkssprachlichen Terminus suam paßte vielleicht am besten das oberflächlich auf der Haut spreitende Melanom;66 wenn man jedoch HÖFLERs Interpretation der Coscelin-Stelle als auf „Augenkrebs“67 hindeutend folgen wollte, ließe sich hier konkret an die Beschreibung eines malignen Melanoms der Aderhaut denken, den mit Abstand häufigsten bösartigen Primärtumor des Auges, der insbesondere aufgrund der Metastasierung in die Leber Todesursache sein kann.68 In jedem Fall aber wären bösartige Hautgeschwüre auf der 64 65 66 67 68

Vgl. zum Anthrax und seinen Symptomen Pschyrembel, S. 1070. Vgl. HÖFLER: Krankheitsnamen-Buch, S. 248: „vermutlich zu malannum entstellt aus Melanoma“. Vgl. dazu Pschyrembel, S. 1043–1045, hier S. 1044. HÖFLER: Krankheitsnamen-Buch, S. 248; vgl. bereits DUCANGE: Glossarium, Bd. 4, S. 191: „Oculorum morbus“. Vgl. dazu Pschyrembel, S. 1045.

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Literarische Spuren

einen und epileptische Anfälle auf der anderen Seite von den primären Anwendern unserer Beschwörungsformel an der Wende vom 11. zum 12. Jahrhundert als zwei Emanationsformen ein und derselben Erkrankung benannt worden. Diese Lösung unseres interpretatorischen Dilemmas läßt sich noch dadurch untermauern, daß bon mal, also die altfranzösische Entsprechung des mit malum malannum synomym gebrauchten bonum malannum, noch im 15. Jahrhundert ebenfalls die Epilepsie bezeichnen konnte.69 Und schließlich liefert auch die Vielgestaltigkeit der bereits erwähnten „Fraisen“, die nach HÖFLER sowohl „jede Schrecken erregende, plötzliche, konvulsivische, eklamptische, apoplectiforme, epileptische Krankheit“ als auch „Hautausschläge, [...] Anthrax-Phlegmone [und] Milzbrand-Karbunkel”70 umfaßt, einen indirekten Beleg für die große Wahrscheinlichkeit unserer Deutung. Letzten Endes sind wohl die – ebenfalls bereits erwähnte – in der lateinischen Formel ‚Ad frasin’ feminin als mala malanna angesprochene Erkrankung und unser malum malannum als identisch anzusehen, was wiederum zur Folge hätte, für die Beschwörung aus dem ‚Zürcher Arzneibuch’ doch zu der von GRIMM vorgeschlagenen und von EIS verworfenen Konjektur fraisin zurückzukehren.71 Die Existenz von Segen- und Beschwörungsformeln als integrativer Teil volksreligiöser und laienmedizinischer Überlieferung endet für die christliche wie für die jüdische Seite jedoch nicht mit dem frühen Mittelalter, sondern herrscht vielmehr bis über die Epochengrenze der Frühen Neuzeit hinweg fort. Diese nachhaltige Persistenz erklärt sich nicht zuletzt aus der in der Vormoderne, wie oben bereits erwähnt, in keinem Fall auch nur ansatzweise vollständig durchgeführten Unterscheidung zwischen rationaler Theologie auf der einen und irrationaler Glaubenspraxis auf der anderen Seite, wie noch die religionsgesetzliche Entscheidung des Maharil aus dem ersten Viertel des 15. Jahrhunderts veranschaulicht: Man solle, so Möllin, keine Medizin, Rezepte oder Exorzismen, die im Talmud empfohlen würden, anwenden, da niemand mehr wisse, wie diese wirkten. Wenn man sie dennoch gebrauchte und sie sich als wirkungslos erwiesen, würden die Weisen der Lächerlichkeit preisgegeben. Der Respekt vor der Weisheit bewirkte demnach den Bruch der Tradierung und praktischen Erfahrung mit eigenen Wissenssträngen.72

69 70 71 72

Vgl. TOBLER/LOMMATZSCH: Wörterbuch, Bd. 5, Sp. 953. HÖFLER: Krankheitsnamen-Buch, S. 165. Vgl. dazu EIS: Zaubersprüche, S. 114, und GRIMM: Mythologie, Bd. 2, S. 969. JANKRIFT: Eigenes, S. 147; zur Position des Maharil vgl. auch EFRON: Medicine, S. 13f.

Subliterarischer Transfer

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C.I. Subliterarischer Transfer jüdischer Erzählstoffe in höfische Literatur Der erste literarische Ort für unsere Suche nach Spuren des jüdischchristlichen Kulturtransfers im deutschen Mittelalter ist das Feld der höfischen Epik. Hier finden wir vor allem Hinweise auf einen mündlichen, vorschriftlichen und direkten Transfer im 11. und 12. Jahrhundert, in dem originär jüdische, darüber hinaus aber auch im weiteren Sinne orientalische Motive und Erzählstoffe vom jüdischen ins christliche kulturelle Archiv übermittelt wurden. Ermöglicht wurde diese oben als erstes Stadium jüdisch-christlichen Kulturtransfers beschriebene Form des Austauschs durch die Tatsache, daß die jüdische Seite sowohl im Orient wie im Okzident beheimatet war und zwischen beiden geographischen Entitäten bereits vor der Zeit der Kreuzzüge enge direkte wie indirekte Beziehungen existierten. 1. Das Lebermeer Eines der ältesten Zeugnisse für die Meeresvorstellungen des Mittelalters in deutscher Sprache stellen zwei Fragmente dar, die seit ihrer Entdeckung durch HEINRICH HOFFMANN VON FALLERSLEBEN 1834 unter dem Titel ‚Merigarto’ bekannt sind.73 Der anonyme Autor, der seinen Text um 1070 vielleicht in Regensburg und als Teil einer weitaus umfassenderen, nunmehr verlorenen Weltbeschreibung verfaßt hat, handelt darin von den Wundern der Schöpfung und dabei in erster Linie von Quellen, Flüssen und Meeren.74 Er beginnt mit der Trennung von Wasser und Land während der Erschaffung der Welt, die zur Entstehung der Gebirge sowie zur Bildung zahlreicher, in Größe und Form höchst unterschiedlicher Wasseransammlungen geführt hat. Einigen besonders bemerkenswerten Meereserscheinungen, unter anderen dem Roten Meer, widmet sich der Text ausführlicher, bevor er zu einer eingehenden Schilderung Islands übergeht. Damit endet das erste Fragment des ‚Merigarto’. Der zweite Teil stellt eine Reihe wunderbarer Quellen, Flüsse und Seen im Mittelmeerraum vor. Dabei orientiert sich der Anonymus hier recht nahe an seiner Quelle, den ‚Etymologiae’ Isidors von Sevilla (570–636) als dem wichtigsten Handbuch christlich-spätantiken Wissens. 73 74

Im weiteren zitiert nach BRAUNE/EBBINGHAUS (Hrsg.): Lesebuch, XLI; zu einer abweichenden Verszählung vgl. WIPF (Hrsg.): Texte, S. 30–45. Vgl. BRUNNER: Geschichte, S. 88f.; KARTSCHOKE: Geschichte, S. 262f.; VOLLMANNPROFE: Wiederbeginn, S. 79f.

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Literarische Spuren

Inmitten dieses Textes, nach der Schilderung der Besonderheiten des Roten Meers und vor der Darstellung der unter immenser Holzknappheit leidenden Insel Island, wird nun zum ersten Mal in der volkssprachigen Literatur des deutschen Mittelalters eine Meeresform erwähnt,75 deren Stoffgeschichte im folgenden aufgehellt werden soll: das Lebermeer. Über diese einzigartige Erscheinung findet sich im ‚Merigarto’ folgendes: Ein mere ist giliberot, daz ist in demo uuentilmere uuesterot. so der starche uuint giuuirffit dei skef in den sint, ni magin die biderbin vergin sih des nieht iruuergin, si ni muozzin folevaran zi des meris parm. ah, ah denne! so ni chomint si danne. si ni uuelle got losan, so muozzin si da fulon. (v. 38–49)

Das Lebermeer liegt somit am westlichen Rand des Weltozeans und ist derart beschaffen, daß ein Schiff, das von starken Winden dorthin abgetrieben wird, sich nachgerade festfährt und aus eigener Kraft nicht mehr von der Stelle bewegen kann. Wenn sich Gott der gefangenen Schiffsmannschaft nicht durch ein Wunder erbarmt, kommen vielmehr alle vor Hunger und Durst um. Damit sind alle grundlegenden Charakteristika dieser Meereserscheinung bereits bei ihrem ersten Auftauchen in der deutschen Literatur vereinigt. Die grundlegenden Züge des soeben beschriebenen Bilds haben ihren Weg auch in die erste, breit und lange überlieferte didaktische Schrift in deutscher Sprache gefunden, in den sogenannten ‚Lucidarius’76, der seinem Publikum ein eigenständig kompiliertes Gesamtbild christlicher Kosmologie, Ekklesiologie und Eschatologie bot.77 Vermutlich Ende des 12. Jahrhunderts entstanden und in der Form eines Gesprächs zwischen Lehrer und Schüler gehalten, verlegt dieser Text das Lebermeer jedoch aus dem Atlantik ins westliche Mittelmeer – genauer in die Nähe der Balearen – und verbindet es zudem mit dem Untergang des sagenhaften Atlantis: Da bi waz ein insule, die besanc mit lúte betalle. Die waz merre dan zehin lant. Da swebit nu daz lebir mer (I.61).

75 76 77

Vgl. STECHER: Magnetismus, S. 30–35; KOCH: Meer, S. 20–23; HAUPT: Herzog, S. 294f. Im weiteren zitiert nach GOTTSCHALL/STEER (Hrsg.): ‚Lucidarius’. Vgl. BRUNNER: Geschichte, S. 167f.; BUMKE: Geschichte, S. 93f.

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Die Vorstellung vom Lebermeer besteht also sowohl aus festen Zügen wie aus variablen Determinanten. Im folgenden soll nun der Versuch unternommen werden, Spuren ihrer literarischen Geschichte zu sammeln, indem wir uns aus verschiedenen Richtungen dieser geheimnisumwitterten und gefahrenreichen Meereserscheinung nähern. Zunächst seien einige Bemerkungen zur Etymologie ihrer deutschsprachigen Bezeichnung vorangeschickt, die zudem bereits Licht auf ihre Natur werfen können. Daran anschließend werden Spuren in spätantiker sowie in jüdischer und christlicher mittelalterlicher Überlieferung auf ihre Validität bezüglich der Verbreitung und Vermittlung dieses Erzählmotivs hin befragt. Dieser Teil unserer Spurensuche wird dabei von einer Erkenntnis geleitet, die bereits 1869 KARL BARTSCH in seiner Einleitung zu seiner Ausgabe des ‚Herzog Ernst’ in die Worte gefaßt hat, daß „die Sage vom Lebermeere [...] nicht auf alter deutscher Volkssage [beruht], sondern [...] erst auf gelehrtem Wege nach Deutschland gekommen“78 ist. Meines Erachtens weist dieser gelehrte Weg sowohl in die Antike als auch in den Orient. Der bereits aus antiker Zeit rudimentär bekannte Stoff wurde im früheren Mittelalter durch subliterarisch vermittelte Motive erweitert und erscheint kurz nacheinander Ende des 12. Jahrhunderts im hebräischen Orientreisebericht eines spanischen Juden sowie in einem mittelhochdeutschen sogenannten Spielmannsepos. Die Vorstellung vom Lebermeer wäre somit ein weiterer Beleg für die schon von KURT RANKE vermuteten hispano-arabisch-westeuropäischen Kulturbeziehungen und damit für den Austausch von Erzählgut aus dem Morgen- in das Abendland.79 1.1. Etymologische Spuren Den ältesten Beleg für die Bezeichnung „Lebermeer“ liefert selbstredend der ‚Merigarto’ in der Überschrift zum eben zitierten Abschnitt, die in einer typischen lateinisch-deutschen Mischung de lebirmere lautet. Die naheliegendste Vermutung, der erste Bestandteil des Kompositums habe etwas mit dem gleichlautenden deutschen Namen eines inneren Organs des menschlichen Körpers zu tun – damit hieße Lebermeer dann soviel wie „fettes Meer“ –, führt jedoch in die Irre. Zwar ist das Lexem „Leber“ in seiner althochdeutschen Form lebara bereits seit dem 8. Jahrhundert als Bezeichnung für das hÂpar nachgewiesen,80 doch das „Leber“ in „Lebermeer“ hängt mit einem anderen Wort zusammen, dem seit dem 10. Jahr78 79 80

BARTSCH (Hrsg.): ‚Herzog’, S. CXLV. Vgl. RANKE: Schwank von der schrecklichen Drohung, S. 84. Vgl. KLUGE/SEEBOLD: Wörterbuch, S. 508.

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Literarische Spuren

hundert belegten Verb liberen – „gerinnen“.81 Das lebirmere des ‚Merigarto’ ist also das „geronnene Meer“, was einer anderen volkssprachigen Bezeichnung dieser Naturerscheinung entspricht, denn im Altfranzösischen heißt sie mer betee, also ebenfalls „geronnenes Meer“.82 Entsprechende lateinische Wortbildungen sind demnach das mare concretum, das mare coactum oder auch das mare pigrum, bisweilen wird auch mare mortuum durch lebirmeri glossiert.83 Die Etymologie der deutschen Bezeichnung scheint sich jedoch im späteren Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht mehr jedem Autor erschlossen zu haben. Dies führte zum Beispiel in dem Legendenroman ‚Orendel’ zu dem volksetymologischen Neologismus klebermeer.84 Über die eigentliche etymologische Bestimmung hinaus weist die Bedeutung „geronnenes Meer“ uns aber auch den Weg zu einer Vermutung, welches Naturereignis sich ursprünglich hinter der Vorstellung vom Lebermeer verbergen könnte. Es kann dies der durch den Lauf der Gezeiten, durch den Wechsel von Ebbe und Flut in regelmäßigen Abständen zum Vorschein tretende Boden der Nordsee sein – kurz, das Wattenmeer. Dessen durch den Gezeitenstrom entstehende Formationen können beim Betrachter durchaus den Eindruck eines in Wellenbewegung erstarrten Meeres hervorrufen und tatsächlich ist das Vorankommen in einem Schiff auf dieser Form von Meer bekanntlich alles andere als einfach. Schließlich war dieser Teil des Atlantik bereits der römischen Antike durch die ‚Germania’ des Tacitus als aliud mare, pigrum ac prope immotum bekannt.85 Weitere naturwissenschaftliche Hypothesen zur Entstehung der Vorstellung vom Lebermeer sehen dahinter entweder die Sargassosee oder das Eismeer verborgen.86 In eine andere Richtung geht der Erklärungsversuch RICHARD HENNINGs, der als Urheber der Vorstellung die antiken Karthager ausmacht, die aus machtpolitischen Erwägungen die Fabel erfunden hätten, „daß der Ozean westlich der Säulen des Herkules nicht nur politisch, 81 82 83 84

85 86

Vgl. KLUGE/SEEBOLD: Wörterbuch, S. 497; DWB, Bd. 6, Sp. 463. Vgl. TOBLER/LOMMATZSCH: Wörterbuch, Bd. 5, S. 1477. Vgl. z.B. das ‚Summarium Heinrici’ (HILDEBRANDT [Hrsg.]: ‚Summarium’, S. 216), oder die bei STEINMEYER/SIEVERS (Hrsg.): Glossen, S. 114, 205 u. 409, genannten Glossare des 11. und 12. Jahrhunderts. Vgl. BERGER (Hrsg.): ‚Orendel’, vv. 366, 390 u. 1716. Daß der anonyme Verfasser des ‚Orendel’ – oder zumindest der Bearbeiter der einzigen erhaltenen Handschrift des Werks aus dem 15. Jahrhundert – den Terminus lebermeer augenscheinlich nicht mehr verstand – also einen Begriff, der im 11. und 12. Jahrhundert volkssprachigen Autoren durchaus zur Verfügung stand –, zeigt einmal mehr, daß es für die meist angenommene Textentstehung im 12. Jahrhundert keinen wirklich stichhaltigen Beweis gibt. FURNEAUX/ANDERSON (Hrsg.): ‚Opera’, Kap. 45. Vgl. STECHER: Magnetismus, S. 33f.; KOCH: Meer, S. 21; MÜLLENHOFF: Altertumskunde, Bd.1, S. 419–421.

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sondern auch physisch unbefahrbar sei“87. Mit diesen kurzen Hinweisen verlassen wir die Suche nach dem realen Hintergrund des Lebermeers und wenden uns wieder dem eigentlichen Schwerpunkt unserer Überlegungen zu: der literarischen Wirksamkeit des Stoffs. 1.2. Spätantike Spuren Der bereits erwähnte Isidor von Sevilla nimmt im 7. nachchristlichen Jahrhundert den Hinweis der ‚Germania’ bezüglich des mare pigrum auf und bemüht sich um eine möglichst genaue Lokalisierung.88 Im vierzehnten Buch seiner ‚Etymologiae’, das der Erde und ihren Teilen gewidmet ist, beschreibt er auch eine Insel namens Thyle (XIV,6,4): ultima insula Oceani inter septentrionalem et occidentalem plagam ultra Brittaniam, a sole nomen habens, quia in ea aestivum solstitium sol facit, et nullus ultra eam dies est. Diese liege also im äußersten Nordwesten, jenseits Britanniens im Weltozean. Ihren Namen habe sie von der Sonne, denn direkt über ihr vollziehe sich die Sommersonnenwende, so daß jenseits dieser Insel immer Tag sei. Durch dieses beständige Tageslicht sei das Meer dieser Region träge geworden und geronnen: Vnde et pigrum et concretum est eius mare (XIV,6,4). Isidors Schilderung deckt sich demnach in wesentlichen Punkten mit dem Bild, das der ‚Merigarto’ vom Lebermeer bietet. Insbesondere die übereinstimmende geographische Verortung ist zu beachten, da sie keineswegs die im folgenden zu besprechende Regel darstellt. In den ‚Etymologiae’ ist das mare pigrum et concretum Teil der plaga Oceani septentrionalis et occidentalis (XIV,6,4), der anonyme frühmittelhochdeutsche Autor legt das lebirmere in das uuentilmere uuesterot (v. 39). Beide Male ist also der nordwestliche Atlantik gemeint. Allerdings fehlt bei Isidor der Hinweis auf die besonderen Gefahren dieses Meeres für Schiffsleute, die im ‚Merigarto’ das eigentliche Faszinosum ausmachen. Eine noch genauere Lokalisierung des Lebermeers im Nordatlantik findet sich schließlich in einem weiteren, allerdings lateinischen Text des 11. Jahrhunderts, in Adams von Bremen Geschichte des Erzbistums Hamburg.89 Ungefähr zeitgleich mit dem ‚Merigarto’ entstanden, schildert 87 88

89

HENNING: Tatsachen, S. 65. Bei Tacitus findet sich das „träge Meer“ noch einfach trans Suionas, also jenseits des Siedlungsgebiets der germanischen Schweden, das im 44. Kapitel der ‚Germania’ als ipso in Oceano beschrieben wird. In jedem Fall bildet das mare pigrum auch schon bei dem antik-römischen Schriftsteller den Weltozean: aliud mare, pigrum ac prope immotum, quo cingi claudique terrarum orbem hinc fides, quod extremus cadentis iam solis fulgor in ortus edurat adeo clarus ut sidera hebetet (FURNEAUX/ANDERSON [Hrsg.]: ‚Opera’, Kap. 45). Im weiteren zitiert nach SCHMEIDLER (Hrsg.): ‚Gesta’.

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Literarische Spuren

Adam im vierten Buch seiner ‚Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum’ als erste mittelalterliche Darstellung ihrer Art die Geographie und Geschichte der nordeuropäischen Länder. Jenseits des nördlichsten Teil Skandinaviens finde man nichts als den furchterregenden, die ganze Erde umspannenden Weltozean: Post Nortmanniam, quae est ultima aquilonis provintia, nichil invenies habitacionis humanae, nisi terribilem visu et infinitum occeanum, qui totum mundum amplectitur (IV,34). Adams Schilderung sind von anonymer Hand noch im 11. Jahrhundert zahlreiche erklärende Scholien hinzugefügt worden, die zu dieser Stelle folgendes zu berichten wissen (IV,34, Schol. 144): De occeano Britannico, qui Daniam tangit et Nordmanniam, magna recitantur a nautis miracula, quod circa Orchadas mare sit concretum et ita spissum a sale, ut vix moveri possint naves, nisi tempestatis auxilio; unde etiam vulgariter idem salum lingua nostra libersee vocatur. Demzufolge erzählten also Seefahrer großartige Wundergeschichten von dem Teil des Weltozeans, der sich zwischen Britannien und Skandinavien ausbreite. Besonders die Gegend um die Orkneyinseln sei berüchtigt, denn dort sei das Meer derart geronnen und durch das Salz verdickt, daß die Schiffe kaum anders fortzubewegen seien als durch die Hilfe des Sturmwinds.90 Deshalb, so schließt die Notiz, werde eben dieses Meer in der Volkssprache libersee genannt. Hier haben wir somit die endgültige Identifizierung des Lebermeers als Teil des Nordatlantiks in einem Stück gebildeter lateinischer Literatur des hohen Mittelalters. Diese Verortung hatte sich bereits bei Isidor, aufbauend auf einem Hinweis des Tacitus, angedeutet und war durch den ‚Merigarto’ auch in der deutschen Volkssprache bekannt gemacht worden. Allein, die nunmehr zu besprechenden Texte, in denen das Lebermeer eine immer prominentere Rolle spielt, verorten es in einem gänzlich anderen geographischen Raum. Schon das Beispiel des ‚Lucidarius’ hatte gezeigt, daß der geographische Ort im 12. Jahrhundert noch zu den unfesten Charakteristika des Lebermeeres gehörte. Seine für die weitere Überlieferung prägende Verortung erfährt das Lebermeer nun weder in einem lateinischen noch in einem volkssprachigen, ja noch nicht einmal in einem für ein christliches Publikum verfaßten Text.

90

Die Schilderung der Orkneys schließt sich in Isidors ‚Etymologiae’ direkt an den oben zitierten Abschnitt über die Insel Thyle an: Orcades insulae Oceani intra Britanniam positae numero triginta est, quarum viginti desertae sunt, tredecim coluntur (XIV,6,5).

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1.3. Jüdische Spuren Zu den bedeutenderen Reiseberichterstattern des europäischen Mittelalters gehört ein Jude des 12. Jahrhunderts namens Benjamin ben Jona von Tudela. Sein Bericht ist sowohl hand- als auch druckschriftlich mehrmals überliefert.91 Die älteste Überlieferung seines tw(smh rps, also ‚Buch der Reisen‘, auf fol. 149r–152v einer heute als Ms. Add. 27089 im Besitz des Londoner British Museum geführten Sammelhandschrift stammt noch aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts.92 Über Benjamins Person wissen wir nur wenig. Sekundär wird er zum ersten Mal im 14. Jahrhundert erwähnt, also lange nach seiner Reise. So sind wir zunächst auf die Informationen angewiesen, die sich im Prolog zu seinem Itinerar finden, den ein anonym bleibender Redaktor dem Werk vorangestellt hat und der sich bereits in der ältesten erhaltenen Handschrift findet: (““n hr)bn jr)m hnwy rb }mybn “r rbx# tw(sm rps hz #rwpm )wh )bw ßlhw )cyw hly+wd ry(m Wmwqmm )cy }mynb “r hz (m##w h)r# {yrbdh lk btk wb {nkn# {wqm lkbw Wrps ßwtb tcq rkwz )wh }kw drps jr)b w(m#n )l r#) tm) y#n) ypm w)wbb wm( hzh rpsh )ybhw {wqmw {wqm lkb# {y)y#nhw {ymkxh }ybm #y) rkznh }mynb “r )whw .glqtt “d tn#b hly+#q jr)l #p#pl ydk wtw) wnqdb#rbd lkbw .hklhw hrwt l(bw lyk#mw 93 .tm) #y) )wh yk wypb {ybycyw {ynwwkmw {ynqwtm w)cmn wyrbd yrx)

Benjamin ist von der nordspanischen Stadt Tudela aus vermutlich nach 1160 zu einer ein knappes Jahrzehnt dauernden Reise aufgebrochen. Er stammte also aus dem Königreich Aragon-Navarra, einem Bereich der iberischen Halbinsel, den die christliche Conquista bereits 1115 den Muslimen entrissen hatte. Der chronologische Rahmen seiner Reise ist im großen und ganzen anhand der von ihm erwähnten Regenten relativ genau rekonstruierbar. Nach 1165 muß er in Rom gewesen sein. Seine Reise durch 91 92 93

Vgl. VINOGRAD: rcw), Bd. 2, S. 606, Nr. 180; ADLER (Hrsg.): Itinerary, S. xiii–xv. Vgl. ADLER (Hrsg.): Itinerary, S. xiv. ADLER (Hrsg.): Itinerary, S. )f. „Dies ist das Buch der Reisen, das Herr Benjamin der Sohn Jonas aus dem Lande Navarra, er ruhe im Paradies, zusammengestellt hat. Der genannte Herr Benjamin brach auf aus seiner Heimat, von der Stadt Tudela und durchwanderte viele abgelegene Länder, wie in seinem Buch geschildert wird. In jedem Ort, den er betrat, schrieb er auf, was er sah und was er von vertrauenswürdigen Männern vernahm und was zuvor niemals im Lande Spanien gehört worden war. Zudem erwähnt er einige Gelehrte und bedeutende Männer eines jeden Orts. Und er hat dieses Buch mit sich zurückgebracht ins Land Kastilien im Jahre 4933. Und der genannte Herr Benjamin ist ein weiser und gebildeter Mann, kenntnisreich im Pentateuch und Religionsgesetz. Und jede seiner Aussagen, die wir nachgeprüft haben, fanden wir zutreffend, wahrheitsgemäß und stimmig, denn er ist ein vertrauenswürdiger Mann.“

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das byzantinische Reich hat vermutlich die zweite Hälfte der sechziger Jahre des 12. Jahrhunderts ausgefüllt, so daß er 1168 oder 1169 ins Heilige Land gelangte. Nicht vor 1170 traf er in Mosul ein, bereits 1171 hielt er sich in Ägypten auf. Im Zeitraum zwischen dem Herbst des Jahres 1172 und dem Herbst des darauffolgenden Jahres ist er von dieser Reise zurückgekehrt, Quellen des späteren Mittelalters lassen ihn bald nach seiner Heimkehr verstorben sein.94 Benjamins Reisebericht ist über weite Strecken durch erstaunliche Sachlichkeit geprägt. Er orientiert sich häufig an einem erzählerischen Schema, nach dem er nahezu jeden aufgesuchten Ort beschreibt, und das vor allem die Klärung dreier Punkte umfaßt: die Gesamtzahl der jüdischen Einwohner einer Stadt, den Stand ihrer Bildungseinrichtungen und die Nennung ihrer durch Gelehrsamkeit herausragendsten Vertreter, wie beispielhaft Benjamins kurze Beschreibung der Stadt Arles veranschaulicht: {#)rbw l)r#ym {yt)m wmk {#w dylr) ry(l tw)srp #l# {#mw yrm )b) “rw brh }tn ybrw hml# “rw hy(#y “rw ybw+ “rw h#m “r 95;(“n

In der Schilderung Persiens, Indiens und Chinas wendet er sich dagegen viel stärker legendenhaften Stoffen zu, zum Beispiel Berichten über die zehn verlorenen Stämme Israels. In der relativen Kürze der Zeit seiner Reise hätte er all die Fahrten, von denen er berichtet, auch gar nicht absolvieren können.96 Demnach basieren die Reisen in Indien und China und der größere Teil des persischen Wegs entweder auf den mündlichen Berichten anderer Reisender oder auf schriftlichen Vorlagen. Am plausibelsten erscheint eine Kombination beider Quellenarten. Benjamins Verdienst im Rahmen der Geschichte der hebräischen Literatur des Mittelalters besteht somit darin, das Gehörte und Gelesene in seinen eigenen Bericht integriert zu haben. Unter den sagenhaften Erzählungen seines Itinerars findet sich nun auch die eingehende Schilderung eines )pqn {y, also eines „geronnenen Meeres“, von dessen Etymologie MARCUS NATHAN ADLER annimmt, es sei “not improbable that Benjamin coined this name himself from the root )pq which occurs in the Bible four times“97. Von besonderer Bedeutung erscheint in diesem Zusammenhang Ex 15,8, die erste der vier biblischen 94 95

96 97

Vgl. so zuerst ZUNZ: Essay, S. 251. ADLER (Hrsg.): Itinerary, S. h. „Von dort [i.e. Posquières] sind es drei persische Meilen bis zur Stadt Arles und dort leben ungefähr 200 Juden und ihre Oberhäupter sind Herr Mose und Herr Tobia und Herr Jesaja und Herr Salomo und Herr Nathan der Rabbiner und Herr Abba Mari, er ruhe im Paradies.“ Die Eulogie zum Namen des letztgenannten Gelehrten ist vermutlich Zusatz des Redaktors der ältesten erhaltenen Handschrift. Vgl. dazu vor allem BORCHARDT: Reiseweg, S. 137–162. Vgl. ADLER (Hrsg.): Itinerary, S. 66 Anm. 1.

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Belegstellen,98 in der es heißt: {y-blb tmht w)pq (congregatae sunt abyssi in medio mari). Die ‚Mechilta’99, ein spätantiker halachischer Midrasch zum zweiten Buch des Pentateuch, kommentiert diesen Passus wie folgt: }wtn {d) l# wbl ß)yh {y blb .hpwq }ymk })#( tmht w)pq {yqlx yn#m {yh {hyl( hpq ßk }l(mlw {yqlx yn#m

100.hl(mlw

Auf diesem Kommentar baut Raschi im 11. Jahrhundert seine Auslegung des biblischen Verses auf, die die Gefährlichkeit eines in diesem Sinne geronnenen Meers deutlich macht: {yqrwz {ymh {ynb)k w#(nw w#qh# ,yn)ypqt hnbnkw wmk .w)pq 101;y#wq ynym lkb {b {ymxlnw xkb}b)h l( {yyrcmh t)

Es sind diese exegetischen Traditionen, die den Hintergrund für das Verständnis von Benjamins geronnenem Meer abgeben, das er im Fernen Osten, auf dem Weg nach China lokalisiert und folgendermaßen charakterisiert: lysk bkwk +lw# {y wtw)bw )pqn {yh {# yk “yrmw) #yw hnypsh l( +wl#l lwky }psh }y)w {ym(pl hr(s xwr {# )cwyw hny)w )pqnh {yh wtw)b hnypsh t) xwrh ßyl#m# d( xwrh dbwkm ßk rx)w {tyyxm twlk d( {yb#wy hy#n)w .hmwqmm zwzl hlwky {d) ynb lb) .}yyn(h hz l( twdbw) twnyps hmkw .wtwmy .{hm( rqb twrw( {yxqwlw hzh (dh {wqmh }m +lmhl hmkx wdml wkwtb snkyw rw(h xqy )pqnh {yb }tw) ßyl#mw xwrh wtw) )by {)w ßwtb wmc( lypmw .{ymh wb wsnky )l# rw(h t) rpwtw wdyb }ysw )wh# rwbs )whw wpyrg )rqnh lwdgh r#nh wtw) h)wrw )pqnh {yh rhmmw wtw) lwk)l qm(b w) rhb wm( hnwxw h#byl w)ycwmw hmhb (ygm# d( ßlwhw rw(h }m )cwyw wgrwhw }yksb wtw) hkmw {d)h 102;hz }yyn(b }ylwcyn {d) ynb hbrhw bw#yyl 98

Es handelt sich dabei neben Ex. 15,8 um Job 10,10; Soph. 1,12; Zach. 14,6. In der nachbiblischen Literatur erscheint das Verb häufiger, sowohl in der Bedeutung „verdicken“ als auch in der Bedeutung „auf der Oberfläche schwimmen“ oder „abschöpfen“, vgl. JASTROW: Dictionary, Bd. 2, S. 1400, mit den entsprechenden Belegstellen. 99 LAUTERBACH (Hrsg.): ‚Mekilta’. 100 LAUTERBACH (Hrsg.): ‚Mekilta’, Shir. 6. „Es gerannen die Urtiefen im Herzen des Meeres u.s.w., d.i. er machte sie wie eine Art Korb. Im Herzen des Meeres. Wie das Herz des Menschen gemacht ist aus zwei Teilen und (aus etwas) darüber, so gerann ihnen das Meer, (und wurde) zu zwei Teilen und etwas darüber“ (WINTER/WÜNSCHE: ‚Mechiltha’, S. 133). 101 „Gerannen. Wie ‚du hast mich gerinnen lassen wie Käse’ [Job 10,10], die Tiefen des Wassers verhärteten sich und wurden wie Stein, so daß die Fluten die Ägypter mit Kraft gegen den Steinwall warfen und sie mit großer Gewalt bekämpften.“ 102 ADLER (Hrsg.): Itinerary, S. sf. „Und manche sagen, daß dort das geronnene Meer sei, über dem der Stern Orion herrscht und das von stürmischen Winden geprägt wird. Bisweilen brechen dort derart schwere Stürme aus, daß es kein Seemann vermag, sein Schiff infolge des Sturms in seiner Gewalt zu halten, bis der Sturm das Schiff schließlich auf das erstarrte Meer hinaustreibt, wo es sich nicht mehr vom Fleck bewegen kann. Dann sitzen die Seeleute dort fest, bis ihr Proviant verbraucht ist und sie danach sterben. Manches

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Benjamins Behandlung des Lebermeerstoffs ist also in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Auf inhaltlicher Ebene, weil er sowohl bereits bekannte Details schildert als auch neue hinzufügt –insbesondere die Verlagerung des Meers in den Fernen Osten und die Verbindung mit dem Greifenstoff; auf literatursoziologischer Ebene, weil der Stoff hier zum ersten Mal seit der Antike wieder bei einem nichtchristlichen Autor faßbar wird, der jedoch ebenfalls im christlichen Teil Europas und nicht im Orient schreibt. Besonders bemerkenswert ist jedoch, daß Benjamins Behandlung des Stoffs im weiteren Verlauf des europäischen Mittelalters die bestimmende Form wurde. Das bedeutet meines Erachtens, daß Benjamin als direkter – oder zumindest indirekter – Urheber dieser Stofftradition in Europa anzusehen ist. Der Transfer des orientalischen Erzählguts muß über Benjamins Werk oder auf subliterarischem Weg angeregt durch sein Itinerar stattgefunden haben, denn kurze Zeit nach ihm, allerdings in einer ganz anderen Region Europas, kennt auch ein anonymer deutschsprachiger Autor diese Form des Lebermeerstoffs. 1.4. Volkssprachlich-christliche Spuren Einer der ersten Belege für eine Darstellung des Lebermeers in der deutschsprachigen Literatur, die derjenigen aus Benjamins Reisebericht entspricht, findet sich im ‚Herzog Ernst’103. Damit erscheint diese Form des Stoffs nahezu zeitgleich in der hebräischen und in der deutschen Literatur des Mittelalters, wenn man mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgeht, daß die Lebermeer-Magnetberg-Episode bereits Teil der nur fragmentarisch erhaltenen Fassung A des ‚Herzog Ernst’ war, die zwiSchiff ist auf diese Weise bereits verschollen. Jedoch haben die Menschen ein Verfahren erfunden, wie sie sich von diesem schlechten Ort retten können. Sie nehmen Rinderfelle mit sich, und wenn der Sturm losbricht und sie auf das Meer treibt, nimmt jeder sein Rinderfell, kriecht hinein und näht es so fest zu, daß kein Wasser eindringen kann. Jeder führt selbstredend sein Messer mit sich. Daraufhin stürzt er sich ins erstarrte Meer. Dort erblickt ihn der riesige Adler, den man grifo nennt. Dieser meint, es sei ein Tier, trägt es auf das Festland und legt es auf einem Berg oder in einem Tal ab, um es zu fressen. Schnell sticht der Seemann mit dem Messer auf ihn ein, bis er ihn getötet hat. Danach kriecht er aus dem Fell heraus und geht seines Wegs, bis er in eine bewohnte Gegend kommt. So haben sich schon viele Menschen gerettet.“ Bei dem einzigen nicht-hebräischen Lexem in diesem Textausschnitt handelt es sich vermutlich um eine Entlehnung aus dem Kastilischen, vgl. DEL ROSAL, Diccionario, S. 361, weniger aus dem Altfranzösischen, das die Form grif bevorzugt, vgl. BALDINGER: Dictionnaire, Bd. 2, Sp. 1384, noch aus dem Frühmittelhochdeutschen, das zwar neben den später dominanten grif und grife wie das Althochdeutsche die Form grifo noch kennt, aber aufgrund der räumlichen Entfernung zur Entstehung des Textes kaum infrage kommt, vgl. DWB, Bd. 4/1, Sp. 5f. 103 BARTSCH (Hrsg.): ‚Herzog Ernst’.

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schen 1170 und 1180 datiert wird, und nicht erst durch die um 1210 entstandene B-Fassung hinzugefügt wurde.104 Der hebräische Reisebericht muß meiner Ansicht nach zumindest die indirekte Quelle des mittelhochdeutschen Epos gewesen sein. Die auffallendsten Entsprechungen zwischen Benjamins Bericht und dem ‚Herzog Ernst’ sind selbstredend die Lage des Lebermeers und dessen Verbindung mit den Greifen: hier wie dort befindet sich das Meer in der Wunderwelt des Fernen Ostens, hier wie dort lassen sich Schiffbrüchige durch Greifen retten, die sie dadurch täuschen, daß sie sich in Tierhäute einnähen (v. 3883–4334): Dô der tac wol ûf kam, dise herren man dô nam, als ir ê habt gehôrt, und leitens ûf des schiffes bort, mit starken hiuten wol durchzogen. dô kâmen grîfen geflogen über daz mer vil breit nâch ir alden gewonheit aber gein den schiffen dar. als sie ir wurden gewar, ieclîcher zuht den sînen dan snellîchen in sînen klân: vil harte sie sie twungen und fuorten sie ir jungen und liezens vor in allen in daz nest vallen. die versuochtenz maniger wîse und mohten doch der spîse nie niht gewinnen noch die hût entrennen. dô muosen sie sie lâzen ligen. sie sniten sich ûz unde stigen abe dem steine in den walt (v. 4271–4293)

Allerdings ist das Tableau im ‚Herzog Ernst’ um einen wichtigen Zug erweitert, der in Benjamins Itinerar fehlt: inmitten des Lebermeers thront der Magnes (v. 3897), der Magnetberg, er, nicht das Meer selber, stellt die eigentliche Bedrohung für jeden Seemann dar (v. 3944–3963): ich wil iuch, helde, wizzen lân von des steines krefte und von sîner meisterschefte die er von sîner art hât. swaz schiffe dar engegen gât

104 Vgl. BRUNNER: Geschichte, S. 144; VOLLMANN-PROFE: Wiederbeginn, S. 229.

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inner drîzic mîlen, in vil kurzen wîlen hât er sie zuo im gezogen. (v. 3944–3951)

Auch die „Sage vom Magnetberge [...] weist auf orientalischen Ursprung hin“105. CLAUDE LECOUTEUX hat hier vor allem auf Parallelen zur sechsten Reise Sindbads aufmerksam gemacht.106 Auch in diesem Fall dürften wir es also mit der subliterarischen Wanderung von Erzählstoffen aus dem Orient in den Okzident zu tun haben, die auch in einem weiteren deutschsprachigen Text verbunden werden, dessen Entstehung in das späte 12. Jahrhundert zurückreicht, in der sogenannten „Reisefassung“ von ‚Brandans Meerfahrt’:107 En storm grot sek tigen se droch: de wint den suluen kil sloch recht tigen dem leuermere dar de gude here was na vorsegelt in not, dar se na weren bleuen dot. Dar sach sunte Brandan menigen kil inne stan de ouer mennigen iaren darinne vorsegelt waren. (Hs. N, v.227–236)

Im weiteren Verlauf des deutschen Mittelalters entwickelte sich das Lebermeer zu einem recht beliebten Stoff in der epischen Literatur. Während sich der anonyme Autor des ‚Orendel’ unter Auslassung der Greifenund Magnetbergmotive an der Darstellung des ‚Herzog Ernst’ orientiert (v. 363–390),108 erweitert Wolfram von Eschenbach in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts den Stoff eigenständig. In seinem Kreuzzugsepos ‚Willehalm’ wünscht ein Mitglied der Hofgesellschaft den ungebeten erschienenen Protagonisten auf eine Insel namens Palaker, die inmitten des Lebermeeres liegt:

105 106 107 108

BARTSCH (Hrsg.): ‚Herzog Ernst’, S. CXLVIII. Vgl. LECOUTEUX: Sage, S. 45f. Vgl. BECKERS: Brandan, S. 41–55. Hier wird die Errettung der Schiffbrüchigen der Intervention der Gottesmutter bei ihrem Sohn zugeschrieben: dô kam ein starker sturmwind / und warf die ellenden kind, / daz vil wunderliche here / ûf daz wilde klebermere. / Ûf dem mer si lagent drî jâr / [...] Nun râtent alle in disem ringe, / wie wir si von dannen bringen. / Daz erbarmete die frîe, / die künigîn sant Marîe, / si sprach: „trût sun, vil guoter, / hilf dem künige Orendel ûz noeten, / [...] Dô tet ein zeichen unser hêre / durch sîner muoter sant Marîen êre; / er sande dar einen sturmwind, / er warf die ellenden kind, / das vil wunderliche here / wider ab dem Klebermere (vv. 363–367, 375–380 u. 385–390).

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sô wunschte in einer âne wer ûf den wert inz Lebermer, der Pâlaker ist genant: ‚sône wurd er nimmer mêr bekant deheinem Franzeise.’ (141,19–23)

Das Lebermeer wird hier also um eine Insel bereichert, deren Name vermutlich auf ein Mißverständnis der Ausgangsquelle ‚La Bataille d’Aliscans’ durch Wolfram zurückzuführen ist,109 und zugleich als Chiffre äußerster Weltferne verwendet – in Rhetorik und Intention also durchaus vergleichbar dem sprichwörtlichen Ort, wo der Pfeffer wächst.110 Zugleich verdeutlicht die Stelle, daß Wolfram zu Beginn des 13. Jahrhunderts nur noch den Begriff „Lebermeer“ selbst ins Spiel bringen mußte, um bei seinem Publikum die entsprechenden Assoziationen hervorzurufen. Seine besonderen Eigenschaften mußten nicht mehr eigens erläutert werden, da ihre Bekanntheit vorausgesetzt werden konnte. Mit dem Lebermeer nicht verwechselt werden sollte hingegen das vinster mer, das um 1240 zweimal in der ‚Kudrun’ erwähnt wird (1126,2; 1128,2). Dabei handelt es sich eindeutig um eine Beschreibung des vom Dunkel der Polarnacht eingehüllten Atlantiks nördlich des Polarkreises, der ebenfalls von der Wirkung magnetischer Felder auf vorbeifahrende Schiffe geprägt ist: Ze Gîvers vor dem berge swie guot ir anker waeren, magnêtén die steine ir guote segelboume

lac daz Hilden her. an daz vinster mer hêten si gezogen. stuonden állé gebogen. (1126,1–4)111

Besonderer Beliebtheit erfreut sich der Lebermeerstoff mitsamt allen Erweiterungen hingegen im Werk Konrads von Würzburg in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. So verwendet er das Lebermeer in seinem Marienlob ‚Die goldene Schmiede’ als Sinnbild für die diesseitige Welt mit ihrem vergeblichen Streben nach profanen Gütern: 109 Vgl. HEINZLE (Hrsg.): Wolfram, S. 937f.; BACON: Source, S. 164; SALTZMANN: ‚Willehalm’, S. 14f. 110 Vgl. DECKE-CORNILL: Stellenkommentar, S. 161. 111 Das mhd. vinster mer entspricht dem Terminus mare oder oceanus caligans, mit dem lateinische Quellen des Mittelalters gemeinhin das Nordpolarmeer bezeichnen; vgl. z.B. Adam von Bremen in seinen ‚Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum’ IV,10: Occidentalis autem occeanus ille videtur, quem Romani Britannicum scribunt, cuius latitudo immensa, terribilis et periculosa complectitur ab occasu Britanniam, quae nunc Anglia dicitur, a meridie Fresos tangit, cum ea parte Saxonum, qui nostrae diocesi pertinent Hammaburgensi. [...] A solis ortu habet Danos ostiumque Baltici maris et Nortmannos, qui ultra Daniam consistunt; ab aquilone vero idem occeanus insulas praeterlabitur Orchadas, deinde infinitis orbem terrae spaciis ambit, sinistrorsum habens Hyberniam, Scothorum patriam, quae nunc Irland dicitur, dextrorsum vero scopulos Nortmanniae, ulterius autem insulas Island, Gronland; ibi terminat occeanus qui dicitur caligans.

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Maria, muoter unde maget, diu sam der morgensterne taget dem wiselosen armen her, daz uf dem wilden lebermer der grundelosen werlde swebet: du bist ein lieht, daz iemer lebet, und im ze saelden ie erschein swenn ez der sünden agetstein an sich mit sinen creften nam. (v. 139–147)

Diesen Gedanken hatte kurz vor Konrad bereits Heinrich von Kröllwitz in seiner umfangreichen, zwischen 1252 und 1255 entstandenen ‚Auslegung des Vaterunser’ entwickelt, der von der Welt in Überbietung der bekannten Allegorie des Sündenmeers als der sunden lebermer spricht (v. 1343). Der ursprünglich orientalische Erzählstoff, vermittelt durch jüdische Texte und Gesprächspartner, ist in diesem Stadium seiner Adaptation durch Dichter des deutschen Mittelalters also in christlicher Sichtweise theologisch aufgeladen worden. 1.5. Formen und Wege subliterarischen Stofftransfers Mithin präsentiert sich uns die Vorstellung vom Lebermeer als Erzählstoff, der aus verschiedenen literarischen Archiven in die Literaturen Europas transferiert wurde. Es gibt Aspekte des Stoffs, die ihn auf antikrömische bzw. spätantik-christliche Quellen verweisen. Diese Fassung wird vornehmlich in gelehrt-lateinischsprachigen Werken des Mittelalters weitergeführt. Hingegen nimmt die vorrangig – und vor allem volkssprachlich – ausgeschriebene Fassung orientalisches Erzählgut auf und adaptiert es in unterschiedlicher Art und Weise. Diese Form der Stoffadaptation findet sich zeitlich vorgängig auch in der hebräischen Literatur der europäischen Juden. Damit liefert der Lebermeerstoff einen Beweis für die These, es habe während des europäischen Mittelalters einen vornehmlich subliterarischen Transferprozeß literarischer Traditionen aus dem Orient in den Okzident gegeben. Nachdrücklich vertreten wurde diese These vor allem von dem Märchenforscher BERNHARD HELLER, der als vorrangige Träger dieses Prozesses die Juden Europas ausmachte.112 Eine denkbare Form dieses literarischen Transfers bestand – wie weiter oben bereits ausführlicher gezeigt – in der Vermittlung durch jüdische Konvertiten wie Petrus Alfonsi (1062–1140) in seiner ‚Disciplina clericalis’ betitelten Erzählsammlung. Petrus’ Werk nährt sich aus hebräi112 Vgl. HELLER: Motive, S. 93.

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schen und noch weit mehr aus arabischen Quellen,113 und überführte „zahlreiches orientalisches Erzählergut in die abendländische Traditionswelt“114 – allerdings nicht den Lebermeerstoff. Im Fall des Lebermeers läßt sich meines Erachtens vielmehr eine indirekte, vielleicht sogar eine direkte Abhängigkeit zwischen einzelnen Bearbeitungsformen vermuten, die in verschiedenen europäischen Literaturen auftreten. Die Darstellung, die das Lebermeer im hebräischen Reisebericht des spanischen Juden Benjamin findet, ist zumindest die indirekte Quelle der Darstellung des mittelhochdeutschen ‚Herzog Ernst’. Die Tatsache, daß beide Texte relativ zeitnah zueinander, aber mehrere tausend Kilometer voneinander entfernt entstanden sind, spricht eventuell gegen eine direkte Vorlagensituation. Der Vermittlungsweg des Lebermeerstoffs scheint demzufolge subliterarischer Art gewesen zu sein. Allein, es bleiben die zahlreichen Parallelen zwischen den beiden frühesten europäischen Fassungen, und es bleibt vor allem das Faktum, daß mit Benjamin von Tudela just ein Jude den Lebermeerstoff in seiner späterhin populärsten Form als einer der ersten in die Literaturwelt Europas eingeführt hat. Wenn man jedoch eine direkte Übernahme des Lebermeerstoffs aus Benjamins Itinerar in den ‚Herzog Ernst’ annehmen will, so ließe sich dafür ein Argument in der ältesten erhaltenen Handschrift des hebräischen Textes finden: wie bereits oben erwähnt, stammt das Ms. Add. 27089 des Londoner British Museum noch aus den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts.115 Darüber hinaus ist bemerkenswert, daß dieser Überlieferungsträger nicht im sefardischen, sondern vielmehr im aschkenasischen Kulturraum geschrieben wurde, wie der paläographische Befund eindeutig beweist.116 Benjamins Text war also bereits wenige Jahrzehnte nach seiner Abfassung unter den Juden von Aschkenas bekannt – ein Umstand, der durchaus für eine direkte Übertragung des Lebermeerstoffs aus dem tw(smh rps in den ‚Herzog Ernst’ sprechen könnte. In jedem Fall weist das Faktum der – indirekten oder direkten – Nahverwandtschaft der genannten Texte meines Erachtens auf die Bedeutung, die Europas Juden während des Mittelalters nicht nur als Vermittler schriftlich fixierter literarischer Traditionen wie im Falle Petrus Alfonsis, sondern auch subliterarisch transferierter Stoffe zukam. Erst die Kreuzzüge führten in der Geschichte des Mittelalters größere Massen von Christen in den Orient und zwangsläufig zu Kontakten mit der muslimischen Kultur. Dagegen verfügten die europäischen Juden schon weitaus früher 113 114 115 116

Vgl. GASTER: Beiträge, S. 1188f.; HELLER: Motive, S. 94. RANKE: Bettler, S. 358. Vgl. ADLER (Hrsg.): Itinerary, S. xiv. Vgl. ADLER (Hrsg.): Itinerary, S. xiv.

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über direkte und intensive Kontakte in den Machtbereich des Islam. Diese Kontakte boten beste Voraussetzungen für den Transfer literarischer Stoffe aus der Kultur des Orients in die des Okzidents, zu der somit auch die hebräische Literatur und deren Träger in Europa gehörten. Die weiteren literarischen Adaptationen solcher Stoffe haben zumeist die tendenzielle Offenheit des transferierten Erzählguts dazu genutzt, es auf unterschiedlichste Weise zu kontextualisieren. Neben die Darstellung und breitere Ausstaffierung durch andere, oftmals ebenfalls orientalische Motive tritt recht schnell die Interpretation im Sinne christlich-typologischen Denkens. Diese erzählerische Offenheit ist meines Erachtens ein Grundcharakteristikum transferierter Erzählstoffe. Sie ist bewußter Ausdruck einer veränderbaren Bedeutung, die fremden literarischen Traditionen im Rahmen einer rezipierenden und adaptierenden Kultur zukommen können.117 Die unterschiedlichen Adaptationsformen des Lebermeerstoffs verdeutlichen die dynamische, in gewisser Hinsicht chaotische, zumindest aber schwer antizipierbare Hybridität literarischen Transfers. 2. Rudolf von Ems Vor allem ein episches Werk des aus einem südwestdeutschen Ministerialengeschlecht stammenden Rudolf von Ems hat bereits einzelne Interpreten im 19. Jahrhundert vermuten lassen, daß der behandelte Stoff ganz oder teilweise durch ursprünglich jüdische Quellen vermittelt wurde: die legendenhafte, um 1220 entstandene Erzählung ‚Der gute Gerhard‘118. Nach Ausweis des Epilogs hatte ein anonym bleibender Mann aus Österreich die Geschichte dem Ministerialen Rudolf von Steinach erzählt, der wiederum den Dichter gebeten hat, daraus eine Dichtung zu machen (v. 6815–6830). Außer dieser recht dunklen Quellengeschichte konnte bis heute keine literarische Vorlage nachgewiesen werden, zumeist begnügt man sich mit dem Hinweis, der Umriß der Handlung sei aus lateinischen Legenden und Predigtexempeln bekannt.119 Allerdings hatte REINHOLD KÖHLER bereits 1867 die Frage aufgeworfen, ob die Quelle für den ersten Teil der Dichtung nicht in einer kurzen jüdischen Erzählung aus dem 11. Jahrhundert zu suchen sei,120 die sich zum ersten Mal in einer arabisch geschriebenen Kompilation aggadisch-midraschischer Stoffe des Nissim 117 Vgl. BHABHA: Verortung, S. 29–58; GREENBLATT: Besitztümer, S. 34–39; GRAFTON: Notes, S. 2–11. 118 Im weiteren zitiert nach ASHER (Hrsg.): ‚Gerhard‘. 119 Vgl. z.B. BRUNNER: Geschichte, S. 266; HEINZLE: Wandlungen, S. 114; GOLTHER: Dichtung, S. 250; BUMKE: Geschichte, S. 245; DE BOOR: Literatur, S. 169. 120 Vgl. KÖHLER: Gerhard, S. 55–60.

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ben Jakob (ca. 990–1062) aus Kairouan findet. Neben gelegentlichen Erwähnungen in der altgermanistischen Forschung121 ist die KÖHLERsche These nur von BERNHARD HELLER beachtet worden.122 Erst in jüngerer Zeit haben ihr Forschungen zur älteren jiddischen Literatur neuen Auftrieb gegeben,123 allerdings ohne nach den genaueren Möglichkeiten und Bedingungen eines Kontakts Rudolfs von Ems mit jüdischem Erzähltraditionen zu fragen, die eventuell auch in weiteren Werken dieses Dichters Spuren hinterlassen haben.124 Uns geht es im folgenden Abschnitt daher um die Fragen, ob es für Rudolf von Ems möglich gewesen sein kann, originär jüdische Stoff- und Motivtraditionen – womöglich aus erster Hand vermittelt – in seine Werke zu integrieren, welche konkreten sozialen Bedingungen eines Kontakts mit jüdischen Traditionen für Rudolf denkbar sind und welche Veränderungen dieser Stoffe und Motive bei ihrem Transfer in Rudolfs Werke erkennbar sind. Damit liefert dieser Teil unserer Spurensuche nicht nur einen Baustein zum jüdisch-christlichen Kulturtransfer im Mittelalter allgemein, sondern auch grundsätzliche Erkenntnisse für die Forschung zu Rudolf von Ems. 2.1. ‚Der gute Gerhard’ Rudolfs legendenhafte Erzählung ‚Der gute Gerhard’ fällt aus der Reihe der höfischen Epen in erster Linie dadurch heraus, daß sein Hauptheld kein Adliger, sondern ein Kaufmann ist. Mit der Beantwortung der Frage nach einer spezifischen Quelle dieses in seiner Entstehungszeit außergewöhnlichen Werks tut sich die germanistische Forschung, wie erwähnt, bis heute schwer. Obwohl KÖHLERs Hinweis auf eine kurze jüdische Erzählung als mögliche Vorlage der Rudolfschen Dichtung mittlerweile schon knapp 150 Jahre alt ist, fand er in germanistischen Arbeiten nur selten Beachtung. Die Überlieferungs- und Rezeptionsgeschichte der hier zur Debatte stehenden Erzählung beginnt – wie schon des öfteren beobachtet und auch in nachfolgenden Beispielen noch häufiger zu sehen – im 11. Jahr121 Vgl. z.B. WALLICZEK: Rudolf, Sp. 327; VON ERTZDORFF: Rudolf, S. 166–169; EHRISMANN: Geschichte, Tl. 2, S. 27. In ihrer umfassenden Studie zum ‚Guten Gerhard‘ erwähnt SONJA ZÖLLER zwar KÖHLERs These, zieht daraus aber keinerlei Schlüsse, vgl. ZÖLLER: Kaiser, S. 176f. 122 Vgl. HELLER: „Gott“, S. 365–404; HELLER: Légende, S. 198–221. 123 Vgl. KLEINE: „Gefährte“, S. 1–17. 124 Vgl. z.B. unten zu Rudolfs ‚Weltchronik‘ oder sein – im Vergleich mit anderen christlichen Bearbeitungen dieses Stoffes – recht positives Alexanderbild, das sich mit der positiven Einstellung gegenüber dem Makedonenherrscher im Talmud deckt, vgl. dazu BRACKERT: Rudolf, S. 122f.

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hundert. Zum ersten Mal finden wir den literarischen Stoff bei einem sefardischen Gelehrten, Jakob ben Nissim aus Kairouan, der eine Kompilation aggadisch-midraschischer Stücke auf Arabisch verfaßte,125 die bereits wenige Jahrzehnte später in hebräischen Übersetzungen unter den Juden des Mittelmeerraums umlief.126 MOSES GASTER charakterisiert diese Sammlung als “the first attempt at weaving a number of such tales into one consecutive narrative, destined to convey one single lesson, all grouped around one leading idea.“127 Jakobs Kompilation ist eine Sammlung von kurzen Erzählungen, die der religiösen Didaxe und Erbauung dienen sollen. Das Werk erfreute sich – insbesondere in seinen hebräischen Fassungen – während der gesamten europäischen Vormoderne sehr großer Beliebtheit. Der Inhalt der Erzählung, wie sie sich bei Jakob ben Nissim findet, ist folgender:128 Ein frommer Gelehrter möchte von Gott wissen, wer ihm im Paradies als Gefährte beschieden sei. Im Traum erfährt er, daß dies ein Metzger aus seiner Stadt sein werde. Tief gekränkt sucht er den Metzger auf und bittet ihn, von seinen frommen Werken zu erzählen. Nach einigen Bescheidenheitsäußerungen – er habe stets lediglich seinen Beruf als Metzger ausgeübt und den Armen Almosen gegeben – berichtet der Angesprochene von einem besonderen Ereignis. Eines Tages sah er in einer Gruppe Gefangener, die durch seine Stadt geführt wurde, ein auffallend trauriges Mädchen. Als er sie ansprach und erfuhr, daß sie eine Jüdin war und sich in der Schar von Nichtjuden verloren glaubte, löste er sie für viel Geld aus und nahm sie bei sich auf. Nach einer gewissen Zeit überzeugte er seinen Sohn, das fromme, aber mittellose Mädchen zu heiraten. Während der prächtigen Hochzeitsfeier bemerkte er einen betrübten jungen Mann, der sich nach einigem Zögern als der rechtmäßige Bräutigam des Mädchens zu erkennen gab. Der Metzger bewegte nun seinen Sohn zum Verzicht und ließ das für einander bestimmte Paar unter den Traubaldachin treten. Den Vermählten gab er alles das, was er seinem Sohn als Mitgift zugedacht hatte, und schickte sie in ihre Heimat zurück. Nachdem der fromme Gelehrte diese Erzählung des Metzgers gehört hat, ist er glücklich, einen so guten Nachbarn im Paradies erwarten zu dürfen. Dieser originär jüdische Stoffkomplex ist in verschiedenen Varianten überliefert,129 deren gemeinsamer Grundgedanke der ist, daß ein selbstgefälliger Gelehrter wissen möchte, neben welcher hohen Persönlichkeit er 125 Vgl. zu Autor und Werk STEINSCHNEIDER: Übersetzungen, S. 932f. 126 Zum direkten Abhängigkeitsverhältnis des arabischen Originals und der hebräischen Fassungen vgl. OBERMANN: Werk, S. 43–68. 127 GASTER: Exempla, S. 11. 128 Vgl. BHM, Bd. 4, S. 136–138; deutsche Zusammenfassung bei HELLER: Märchen, S. 326. 129 Vgl. GASTER: Exempla, S. 11.

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im Paradies – also in der Ewigkeit – seinen Platz haben werde; nach der göttlichen Offenbarung des vorgesehenen Gefährten zeigt er sich zuerst enttäuscht über die scheinbare Unebenbürtigkeit, gelangt aber schließlich zur Einsicht in Gottes Allwissenheit, nachdem er seinen prospektiven Partner kennengelernt hat. Für einen Vergleich mit Rudolfs ‚Gutem Gerhard’ kommt nun lediglich die Erzählung Jakobs ben Nissim in Frage, wie bereits eine kurze Zusammenfassung der Rahmenhandlung des mittelhochdeutschen Texts verdeutlicht: Kaiser Otto möchte von Gott erfahren, was ihm für die Stiftung des Erzbistums Magdeburg als ewiger Lohn im Jenseits beschieden sein werde. Statt einer direkten Antwort verweist ihn im Namen Gottes ein vil gewaerhafter bote (v. 511) an einen Kaufmann, der der guote Gêrhart von Kölne (v. 597f.) genannt wird. Dieser sei ein Vorbild echter Demut. Über diese Nachricht bestürzt reist der Kaiser sogleich nach Köln und findet den genannten Gerhard als einen wohlhabenden Mann. Nach einigen Bescheidenheitsäußerungen – er habe lediglich seinen Beruf als Kaufmann ausgeübt und ansonsten den Armen Almosen gegeben – berichtet Gerhard schließlich von einem besonderen Ereignis: Er schildert seine Erlebnisse auf einer Handelsfahrt in den Orient, bei der ihm in Marokko gefangene Christen als verborgener Schatz und gewinnträchtige geschäftliche Unternehmung angeboten worden seien. Unter den schiffbrüchig gewordenen Sklaven aus der Gefolgschaft Wilhelms von England, die Gerhard unter Aufbietung seines gesamten Vermögens freikauft, sei auch die norwegische Königstochter Irene gewesen. Gerhard versorgt alle Befreiten standesgemäß und schickt sie, ohne die Rückzahlung seines Lösegelds zu erbitten, in ihre Heimat zurück, nur Irene nimmt er bei sich auf, weil man allgemein davon überzeugt ist, ihr Verlobter Wilhelm sei bei dem Schiffsunglück ertrunken. Nachdem Wilhelm tatsächlich über längere Zeit verschollen bleibt, richtet Gerhard schließlich in Köln eine Hochzeitsfeier für Irene und seinen eigenen Sohn aus. Doch unter den Hochzeitsgästen bemerkt er einen betrübten jungen Mann, der sich ihm, nach Aufforderung, als Wilhelm von England zu erkennen gibt. Großmütig überredet Gerhard daraufhin seinen Sohn zum Verzicht und vermählt Wilhelm und Irene. Im weiteren unterstützt er die frisch Vermählten noch, indem er sie nach England begleitet und Wilhelm dazu verhilft, die Thronfolge anzutreten. Die Rahmenhandlung schließt, indem Kaiser Otto, glücklich, von einer so demütigen und bescheidenen Tat erfahren zu haben, ein reuiges und gottgefälliges Leben beginnt. Die Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwischen Jakobs und Rudolfs Texten sind offenkundig. Als erster hatte REINHOLD KÖHLER den Zusammenhang zwischen jüdischer Erzählung und mittelhochdeutscher

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Legendendichtung erkannt.130 Zuvor hatte KÖHLER noch die Vermutung KARL SIMROCKs weitergeführt, der für den ‚Guten Gerhard’ als Stoffund Motivhintergrund Erzählungen aus dem Bereich „der dankbare Tote“ zusammengetragen hatte,131 deren Auflistung KÖHLER ergänzte.132 Dennoch blieb für Köhler die Frage nach dem Ursprung des Stoffs zunächst noch ungeklärt: Eben so wenig wie eine frühere Darstellung der Geschichte vom ‚Guten Gerhard’ bekannt ist, eben so wenig hat bisher Jemand eine spätere Dichtung ähnlichen Inhalts nachgewiesen. Und doch glaube ich, hat es solche gegeben und man wird sie finden.133

Schließlich stößt KÖHLER tatsächlich auf eine frühere Fassung des Stoffs, „welche gewiss jeden, der den ‚Guten Gerhard’ gelesen hat, sofort an dies Gedicht erinnern wird“134: er findet Jakobs ben Nissim Erzählung in einer von ABRAHAM TENDLAU herausgegebenen Märchensammlung.135 Seit diesem Zeitpunkt war in der germanistischen Forschung die Existenz einer zeitlich vorgängigen, parallel strukturierten jüdischen Vorlage zu Rudolfs Werk bekannt, und KÖHLER faßt seine Ergebnisse deutlich zusammen: Da die meisten der Erzählungen in Nissim’s Sammlung sich […] in älteren rabbinischen Werken wiederfinden, so wird auch für die Erzählung von dem Metzger und dem losgekauften Mädchen eine […] ältere jüdische Quelle anzunehmen sein, auf welche wohl auch die Dichtung vom guten Gerhard zurückzuführen ist.136

Trotz dieser eindeutigen Aussage blieb die Mehrheit der germanistischen Untersuchungen zum ‚Guten Gerhard’ in der Frage der Vorlage seltsam unentschieden oder zurückhaltend. Einzig GUSTAV EHRISMANN schließt sich voll und ganz KÖHLERs Schlußfolgerungen an, wenn er schreibt: „Dem Stoff liegt eine hebräisch-rabbinische Sage zugrunde (überliefert im 11. Jahrhundert)“137. Grundsätzlich richtig, allerdings schon vorsichtiger formuliert, resümiert auch XENJA VON ERTZDORFF in ihrer monographischen Studie zu Rudolf: Man kann nun in der jüdischen Geschichte ein Zeugnis für eine nicht erhaltene Erzählung in der christlichen Tradition erkennen oder annehmen, daß sie selbst die Vorlage zur Geschichte vom ‚Guten Gerhard’ ist, wobei an die jüdischen Ge130 131 132 133 134 135 136 137

Vgl. KÖHLER: Gerhard, S. 55–60. Vgl. SIMROCK: Gerhard. Vgl. KÖHLER: Todten, S. 199–209. KÖHLER: Todten, S. 208. KÖHLER: Gerhard, S. 56. Vgl. TENDLAU: Abende, S. 122–125. KÖHLER: Gerhard, S. 60. EHRISMANN: Geschichte, Tl. 2, S. 27.

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meinden in Magdeburg oder vor allem in Köln im 12. Jh. als Vermittler zu denken ist.138

Im Anschluß an KÖHLER und GASTER betont auch VON ERTZDORFF die nur zwischen Jakob ben Nissim und Rudolf von Ems bestehenden Gemeinsamkeiten und Parallelen in der Rahmen- wie in der Binnenhandlung der beiden Texte. Allerdings weist sie im Gegenzug auch auf eine nachgewiesene frühchristliche Quelle zu einer anderen Erzählung Jakobs hin. Daher zieht sie auch eine an der jüdischen Überlieferung vorbeiführende, innerchristliche Stofftradierung in Erwägung.139 Die übrige, allgemeine oder speziellere Forschungsliteratur zum ‚Guten Gerhard’ verzichtet in der Regel auf eine Diskussion oder auch nur auf einen Hinweis auf KÖHLERs These.140 So weist KARL BARTSCH zwar die einschlägigen Aufsätze KÖHLERs nach,141 gelangt aber nichtsdestoweniger zu einem völlig anderen Ergebnis: „Die Kenntnis der Sage, deren Ursprung und Fortbildung noch nicht ermittelt ist, in die aber offenbar mythische Elemente verwoben sind […], hat der Dichter wahrscheinlich aus einem lateinischen Buche geschöpft.“142 BARTSCHs Vermutung ist mittlerweile, folgt man den Ausführungen späterer Arbeiten, zur Sicherheit und zur opinio communis germanistischer Forschung geworden: Apodiktisch erklären HELMUT DE BOOR und URSULA HENNIG, eine „Quelle ist uns nicht bekannt“143, und auch JOACHIM BUMKE resümiert als Forschungsstand: „Eine literarische Vorlage ist nicht nachgewiesen. Der Umriß der Handlung – ein Frommer muß einem anderen Frommen wahre Frömmigkeit lehren – ist aus lateinischen Legenden und Predigtexempeln bekannt.“144 Die Vermutung, Rudolf habe eine lateinische oder altfranzösische, in jedem Fall aber eine christliche Quelle als Vorlage benutzt, wird gemeinhin mit den Aussagen des Dichters im Werkepilog begründet (v. 6815– 6830). Darin weist er bemerkenswerterweise auf gleich zwei mündliche Zwischenstufen bei der Vermittlung seiner Quelle hin: ez hât uns ein man geseit, der ez alsus geschriben las daz ez gar behalten was 138 VON ERTZDORFF: Rudolf, S. 167f. 139 Vgl. VON ERTZDORFF: Rudolf, S. 76 u. 166–169; in diesem Sinne auch WALLICZEK: Rudolf, Sp. 327. 140 Vgl. z.B. das gänzliche Schweigen großer germanistischer Literaturgeschichten wie VOGT/ KOCH: Geschichte; ENGEL: Geschichte; SALZER/TUNK: Geschichte. 141 Vgl. BARTSCH: Grundriss, S. 192 Anm. 233. 142 BARTSCH: Grundriss, S. 192; ähnlich dann auch GOLTHER: Dichtung, S. 250: „Die unmittelbare Quelle, ein lateinisches oder französisches Buch, ist noch nicht aufgefunden.“ 143 DE BOOR/HENNIG: Literatur, 169. 144 BUMKE: Geschichte, S. 245.

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mit der schrift gewaerlîche. der fuor von Ôsterrîche, der brâht ez her in ditz lant, als er ez geschriben vant. der seit ez ze maere dem werden Steinachaere, herrn Ruodolf, dem genamen mîn. der bat mich durch den willen sîn ditz maer in tiutsch berihten, in rehte rîme tihten. (v. 6818–6830)

Aus dieser verwickelten Quellenberufung schließt neben anderen VON ERTZDORFF auf die oben erwähnte, aus dem christlichen kulturellen Archiv stammende, lateinische oder altfranzösische Vorlage des ‚Guten Gerhard’.145 Rudolfs Darstellung hier wörtlich zu nehmen, ohne versteckte Hinweise auf eine jüdische Quelle in den Wortlaut des Textes hineinlegen zu müssen, reicht meines Erachtens völlig aus, die direkte, auf mündlichem Weg durch einen jüdischen Gewährsmann erfolgte Tradierung des literarischen Stoffs wahrscheinlich zu machen. Aufgrund der Tatsache, daß die Forschungsliteratur die Vorlagenfrage als ungeklärt betrachtet, rückten in jüngeren Arbeiten zum ‚Guten Gerhard’ dezidiert geschichtswissenschaftliche Herangehensweisen an den literarischen Text in den Mittelpunkt des Interesses. Vor allem SONJA ZÖLLERs Studie aus dem Jahre 1993 ist hier zu nennen, die den Versuch unternimmt, historische Ereignisse um einen rekonstruierten Kölner Großkaufmann namens Gerhard Unmaze auf den Handlungsverlauf des Rudolfschen Werks zu projizieren.146 Nun ist es sicher legitim, Ausstattung, Ausführung und Ausschmückung eines literarischen Werks – also erzählerische Bestandteile, die erkennbar nicht einer vorgängigen Quelle entstammen, sondern spezifische Erweiterungen des Dichters darstellen – auf ihre Authentizität und Historizität im Köln des frühen 13. Jahrhunderts hin zu befragen. Dabei wird aber übersehen, daß es für den allgemeinen Handlungsverlauf ein von diesen außerliterarischen Bezügen unabhängiges narratives Muster gibt. Die Handlungsmotivation für den jeweils nächsten Schritt des Protagonisten kann nicht in erster Linie durch belegbare oder rekonstruierbare Ereignisse um einen oder mehrere Zeitgenossen Rudolfs von Ems verursacht sein, da es eine chronologisch vorgängige Erzählung gibt, in der diese Elemente bereits vorhanden sind.

145 Vgl. VON ERTZDORFF: Rudolf, S. 76 u. 160f. 146 Vgl. ZÖLLER: Kaiser; zur Quellenfrage nimmt sie lediglich kurz resümierend Stellung (ebd., S. 176f.), allerdings ohne daraus Schlüsse für ihre weitere Interpretation zu ziehen.

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2.2. ‚Rabbi Simon und der gerechte Metzger’ Ein weiteres Problem bei der Suche nach Rudolfs Quelle für den ‚Guten Gerhard’ ergibt sich daraus, daß die Forschung im Anschluß an KÖHLER stets die Fassung des Stoffs zum Vergleich herangezogen hat, die sich bei Jakob ben Nissim findet. Nun hat aber wiederum der Erzählforscher BERNHARD HELLER in zwei ausführlichen Aufsätzen das gesamte Spektrum der Varianten dieses Stoffs in der hebräischen Literatur der Vormoderne beleuchtet147 und dabei auf eine Fassung hingewiesen, die, unter Beibehaltung aller bereits erwähnten generellen Gemeinsamkeiten zwischen der jüdischen Quelle und der mittelhochdeutschen Dichtung, Rudolfs Werk noch näher verwandt zu sein scheint.148 Dabei handelt es sich um eine Variante der Erzählung Jakobs ben Nissim mit dem Titel qdch bcqhw }w(m# “r l# h#(m (‚Exempel von Rabbi Simon und dem gerechte Metzger’), die sich unikal überliefert in einer hebräischen Handschrift in aschkenasischer Kursive des 13. Jahrhunderts in der Oxforder Bodleiana149 findet und zuerst von SALOMO BUBER in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Midrasch Tanchuma A, der den größeren Teil des Manuskripts einnimmt, mitgeteilt wurde.150 Die zusätzlichen Parallelen dieses Textes zu Rudolfs Dichtung betreffen allesamt Punkte der Binnenhandlung: So wird der Metzger in dieser Erzählung ebenso wie der Kölner Kaufmann bei Rudolf als besonders wohlhabend geschildert; er erweist dem ihn aufsuchenden Gelehrten bei der Begrüßung besondere Ehre, wie auch der Kaiser im ‚Guten Gerhard’ entsprechend standesgemäß empfangen wird; ihm wird ein in einem Schiff verborgener Schatz als besonders gewinnträchtige kaufmännische Unternehmung angeboten; dieser Schatz entpuppt sich als 200 jüdische Gefangene, die der Metzger unter Aufbietung seines ganzen Reichtums freikauft, versorgt und schließlich entsprechend ausgestattet in ihre Heimat zurückschickt; lediglich ein alleinstehendes Mädchen aus der Gruppe der Ausgelösten bleibt in seiner Obhut zurück, woraufhin sich der bereits bekannte Rest der Binnenhandlung ereignet. In dieser variierten Fassung der hebräischen Erzählung zeigt sich somit „die Übereinstimmung auch in minder wesentlichen, also um so eher beweiskräftigen Zügen“151. Jedoch fehlt auch eine ansonsten vorhandene Parallele: während die ursprüngliche Version Jakobs ben Nissim und Rudolfs Text darin übereinstimmen, daß der Metzger beziehungsweise der 147 148 149 150 151

Vgl. HELLER: „Gott“, S. 365–404; HELLER: Légende, S. 198–221. Vgl. HELLER: „Gott“, S. 383f. Vgl. Oxford, Bodleian Library, Ms. Opp. 20, fol. 3r–4r. Vgl. BUBER (Hrsg.): Midrasch, Bd. 1, S. 136f. HELLER: „Gott“, S. 385.

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Kaufmann den Entschluß zur Auslösung der jüdischen beziehungsweise christlichen Gefangenen in dem Moment faßt, in dem er der Versklavten ansichtig wird, kauft in der abweichenden Fassung der Metzger den ihm angebotenen Schatz unbesehen, um dann erst die spezifische Natur dieses Schatzes zu erkennen. Nun gilt der ‚Gute Gerhard’ der Forschung mit Recht als ein zutiefst von christlichen Werten geprägtes Werk, die Handlungsweise des Protagonisten als Musterbeispiel christlicher Demut. Dies ist möglicherweise der eigentliche Grund, warum es augenscheinlich so schwer fällt, die äußerst kurze jüdische Exempelerzählung – trotz ihrer offensichtlichen strukturellen und inhaltlichen Übereinstimmungen – als Inspirationsquelle für ein christliches Legendenepos von knapp 7.000 Versen zu sehen. Bei genauerem Hinsehen entpuppen sich die vermeintlich originär christlichen Züge des ‚Guten Gerhard’ jedoch als durchaus kompatibel mit der Vorstellung einer Übernahme jüdischen Erzählguts durch Rudolf von Ems. Die gottgefällige Tat des jüdischen Metzgers und des christlichen Kaufmanns ist der Freikauf von Gefangenen, die zur jeweils eigenen Bezugsgruppe gehören, aus der Hand von Andersgläubigen. Das Loskaufrecht versklavter Christen hatte im Recht des europäischen Mittelalters erst im Laufe des 13. Jahrhunderts juristisch festere Formen angenommen, wobei die Befreiten in der Regel dazu verpflichtet waren, ihren Kaufpreis ihrem Befreier zurückzuzahlen.152 Gerhards Handlungsweise ist dementsprechend besonders verdienstvoll und lobenswert, da er auf die Erstattung seiner Auslagen verzichtet. Im jüdischen Religionsgesetz ist der Freikauf von Gefangenen ({yywb# }wydp) hingegen schon seit der Spätantike als genau umrissene religiöse Pflicht verankert.153 Demnach erfüllt derjenige, der versklavte Jüdinnen und Juden freikauft und vor allem im Anschluß daran darauf verzichtet, von den Freigekauften das aufgewendete Geld zurückzufordern, das höchste Gebot der Nächstenliebe, insbesondere deshalb, weil den Befreiten die Ausübung der religiösen Pflichten wieder möglich gemacht wird. Dabei war es üblich, zuerst Frauen auszulösen. Zu resümieren bleibt somit, daß alle ursprünglich aus dem Orient stammenden Varianten der Erzählung, wie sie zuerst bei Jakob ben Nissim zu Beginn des 11. Jahrhunderts greifbar wird, jüdischer Provenienz sind,154 und zwar nicht nur durch ihre hebräischsprachige Überlieferung, sondern insbesondere durch ihre spezifisch jüdische Motivik. Dies trifft in der Binnenhandlung auf die zentrale Stellung zu, die das religiös motivier152 Vgl. zu dieser Entwicklung ausführlich ZÖLLER: Kaiser, S. 300–307. 153 Vgl. bBaba Bathra 8ab. 154 Vgl. auch die entsprechende Auflistung bei HELLER: „Gott“, S. 391–396.

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te Gebot des Gefangenenfreikaufs einnimmt, und in der Rahmenhandlung auf den Wunsch, einen Blick ins Paradies zu erhaschen, seinen eigenen Platz dort und seinen direkten Gefährten in der göttlichen Ewigkeit zu erfahren. Eine Rekontextualisierung dieses Stoffs in christlicher, speziell volkssprachlich-höfischer Literatur ist ohne jegliche Veränderung der Grundgedanken problemlos leistbar: In der Rahmenhandlung muß lediglich die soziale Stellung der jüdischen Figuren entsprechend des christlichen Gesellschafts- und Normengefüges adaptiert werden. Aus dem Figurenpaar frommer, aber selbstgefälliger Gelehrter und frommer sowie demütiger Ungelehrter von sozial marginalisiertem Rang wird das analoge Figurenpaar frommer, aber selbstgefälliger Adliger und frommer sowie demütiger Nichtadliger von sozial marginalisiertem Rang. In der Binnenhandlung kann darüber hinaus auf grundsätzliche erzählerische Eingriffe gänzlich verzichtet werden, da der spezifische ethische Grundgedanke in der jüdischen wie in der christlichen Kultur verankerbar ist. Wie aber könnte Rudolf von Ems Kenntnis von der jüdischen Erzähltradition erlangt haben, die so deutlich hinter seiner legendenhaften Dichtung steht? Es wurde bereits weiter oben darauf hingewiesen, daß Rudolf im Epilog des ‚Guten Gerhard’ explizit auf eine mündliche Überlieferung seiner Quelle hinweist. Er beruft sich also nicht, wie sonst gängigerweise üblich, auf ein buoch, dessen autoritativer Nimbus auch die Wahrheit und Verläßlichkeit seines eigenen Werks abzusichern hilft. Meines Erachtens verbirgt sich hinter dem einfach als ein man […] von Osterrîche (vv. 6818 u. 6822) bezeichneten Informanten, der Rudolf von Steinach mit der Geschichte vertraut machte (v. 6825–6827), ein jüdischer oder ehemals jüdischer, mittlerweile zum Christentum konvertierter Gewährsmann. Dabei muß noch nicht einmal an die zu Rudolfs Zeit blühenden jüdischen Gemeinden von Köln oder Magdeburg gedacht werden, wie VON ERTZDORFF erwägt155 – wenngleich insbesondere der erstgenannten Gemeinde aufgrund ihrer engen Beziehungen zu jüdischen Gemeinden des gesamten Mittelmeerraums als subliterarischer Vermittlungsinstanz orientalischen Erzählguts ins Reich eine große Bedeutung zukommen dürfte. Der Gewährsmann Rudolfs von Steinach könnte vielmehr auch aus dem direkten Umkreis des Ministerialen, der wiederum Rudolf von Ems mit der Abfassung der Erzählung betraute (v. 6828–6830), gestammt haben, da im unterfränkischen Steinach an der Saale schon seit dem 13. Jahrhundert Juden als ansässig nachgewiesen sind.156

155 Vgl. VON ERTZDORFF: Rudolf, S. 168. 156 Vgl. GJ, Bd. 2/2, S. 789.

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2.3. Jüdisches Erzählgut bei Rudolf von Ems Neben dem ‚Guten Gerhard’ weisen noch weitere Werke Rudolfs von Ems Beziehungen zu jüdischem Erzählgut auf, namentlich sein Legendenepos ‚Barlaam und Josaphat’157 sowie sein Antikenroman ‚Alexander’158. Für die christliche Adaptation der Geschichte Gotama Buddhas hat Rudolf eine lateinische Vorlage bearbeitet, die aus dem 11. Jahrhundert stammende ‚Historia duorum Christi militum‘, die ihm der von 1222 bis 1232 bezeugte Abt Wido des Zisterzienserklosters Kappel bei Zürich zur Verfügung stellte. Vergleicht man jedoch Rudolfs Text mit dem um 1200 entstandenen ‚Laubacher Barlaam‘159 Bischof Ottos II. von Freising (1184– 1220), der eine genaue, größtenteils wörtliche Übersetzung der gleichen lateinischen Quelle darstellt, springen in Rudolfs Fall eine Reihe von Abweichungen von seiner Hauptquelle ins Auge, die sich bemerkenswerterweise mit einer hebräischen Fassung des Stoffes decken: dem in den ersten Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts von Abraham ibn Chisdai in Barcelona verfaßten ryznhw |lmh }b rps, der seinerseits eine Übersetzung aus dem Arabischen ist. Eine direkte Abhängigkeit ist bereits aufgrund der gleichzeitigen räumlichen Entfernung und zeitlichen Nähe der Entstehung der mittelhochdeutschen und hebräischen Texte unwahrscheinlich. Gerade aus diesem Grund ist hier der Frage nachzugehen, ob sich schon in diesem Fall der Transfer von Erzählgut wahrscheinlich machen läßt, an dem sowohl Juden als auch Christen Interesse gefunden haben. Daß der Barlaam-und-Josaphat-Stoff im deutschen Mittelalter für Christen und Juden gleichermaßen anziehend gewirkt haben muß, zeigt schließlich auch eine bis heute unedierte altjiddische Bearbeitung aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts.160 Dieser Text entsteht wie Rudolfs Fassung im Alemannischen und weist jetzt wiederum einige deutliche Parallelen zu dessen Version auf.161 Gleiches gilt für den Alexander-Stoff, der unter den Juden Europas, wohl vor allem veranlaßt durch das positive Bild, das die talmudische Überlieferung zum Beispiel in bJoma 69a, bSanhedrin 91ab und bTamid 31b–32b von Alexander dem Großen im Gegensatz zu anderen nichtjüdischen Herrschern bietet, in der Form zahlreicher hebräischer Dichtungen

157 158 159 160

Im weiteren zitiert nach PFEIFFER (Hrsg.): ‚Barlaam‘. Im weiteren zitiert nach JUNK (Hrsg.): ‚Alexander’. Vgl. PERDISCH (Hrsg.): ‚Barlaam’. Der defektive Text, es fehlen Anfang und Ende, ist nur in einer Handschrift der Bayerischen Staatsbibliothek erhalten (chm 347). Er umfaßt 5180 Reimpaarverse und 240 Prosazeilen. 161 Vgl. dazu DREESSEN: Bearbeitung, S. 218–233.

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bekannt war.162 Wenngleich für Rudolfs ‚Alexander’ keine direkte Beeinflussung durch jüdische Stofftraditionen zum Leben des Makedonenherrschers nachgewiesen werden kann,163 so kongruiert sein im allgemeinen positives Alexanderbild doch auffallend mit demjenigen der jüdischen Alexanderdichtungen.164 Zudem fällt in Rudolfs Werk die, im Gegensatz zu sonstigen bewertenden Unterscheidungen, die in dieser gängigen Trias in mittelhochdeutschen Texten gemeinhin gemacht werden, unterschiedslose Würdigung von juden, kristen, heiden (v. 12951) auf, die bei Rudolf als nachgerade gleichrangig erscheinen. Sowohl im ‚Guten Gerhard’ Rudolfs von Ems wie auch in der Darstellung des Lebermeers im ‚Herzog Ernst’ haben wir somit Spuren des subliterarischen Transfers literarischer Stoffe aus der Kultur des Orients in die des Okzidents finden können, die durch die Vermittlung jüdischer Gewährsleute und ihren Zugriff auf die hebräische Literatur der Antike und des Frühmittelalters ermöglicht wurden. Die weitere literarische Adaptation solcher Stoffe in der christlich-volkssprachlichen Literatur des deutschen Mittelalters hat zumeist die tendenzielle Offenheit des transferierten Erzählguts dazu genutzt, es auf unterschiedlichste Weise zu rekontextualisieren. Neben die Darstellung und breitere Ausstaffierung durch andere, oftmals ebenfalls orientalische Motive trat recht schnell die Interpretation im Sinne christlich-typologischen Denkens. Diese erzählerische Offenheit ist meines Erachtens ein Grundcharakteristikum transferierter Erzählstoffe. Sie ist bewußter Ausdruck einer veränderbaren Bedeutung, die fremden literarischen Traditionen im Rahmen einer rezipierenden und adaptierenden Kultur zukommen können.165

162 Vgl. z.B. das Epos }wdqmh rdnsql) twdlwt (‚Leben Alexanders des Makedonen’) aus dem 12. Jahrhundert, ediert bei LÉVI: Roman, S. 142–163. 163 Vgl. dazu ausführlich ZINGERLE: Quellen. 164 Vgl. dazu umfassend WISBEY: Alexanderbild; des weiteren BRACKERT: Rudolf, S. 122f. 165 Vgl. BHABHA: Verortung, S. 29–58; GREENBLATT: Besitztümer, S. 34–39; GRAFTON: Notes, S. 2–11.

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C.II. Wandernde Motive und die gereimte Weltchronistik Der nächste Schritt unserer Spurensuche beginnt mit einem Zitat: der huorenjuden ist gar ze vil hie in disem lande, iz ist sünd und schande. [...] und waer ich ein fürst ze nennen, ich hiez iuch alle brennen, ir juden, swâ ich iuch kaem an. [...] ez waer wol, der in verbut ir ketzerlîchez Talmut, ein buoch valsch und ungenaem. verfluochte juden widerzaem, ir gêt den rehten hellestîc. (‚Kleiner Lucidarius‘166 II, vv. 1084–1086, 1159–1161 u. 1185–1189)

Diese Haßtirade, die ein niederösterreichischer Anonymus in der Zeit zwischen 1292 und 1294 verfaßte,167 wirft ein bezeichnendes Licht auf das christlich-jüdische Verhältnis an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert. Zusammen mit weiteren Zeugnissen veranschaulicht sie die äußerst judenfeindliche Stimmung, die sich in diesem Zeitraum in Niederösterreich ausbreitete.168 Neben den realhistorischen Ereignissen wie der Kremser Ritualmordbeschuldigung von 1293 oder den Hostienfrevelvorwürfen in Laa an der Thaya 1294 sowie in den Jahren 1305 bis 1307 in Korneuburg, St. Pölten und Wien verweist vor allem eine Reihe von Texten auf die zunehmende Feindseligkeit, mit der insbesondere christlich-theologische Kreise Juden und ihrer Religion begegneten. Zu denken ist hier sowohl an die lateinischen Traktate Nikolaus’ von Heiligenkreuz und Ambrosius’ von Heiligenkreuz als auch an die volkssprachigen Werke des sogenannten Österreichischen Bibelübersetzers.169 Die literarische Kultur des herzöglichen Österreich unter der Enns im ausgehenden 13. Jahrhundert erscheint also auf den ersten Blick als durchaus schlecht gewählte Ausgangsbasis für die Frage nach kulturellen Kontakten zwischen Juden und Christen im Mittelalter. Nichtsdestoweniger liefern gerade die Jahrzehnte zwischen 1250 und 1280 mit der gereimten ‚Weltchronik‘170 des Wiener Ritterbürgers Jans einen für diese Fragestellung besonders geeigneten Bei166 167 168 169 170

SEEMÜLLER (Hrsg.): ‚Seifried’. Vgl. SEEMÜLLER: Studien, S. 4; VON KARAJAN: ‚Seifried’, S. 259. Vgl. dazu KNAPP: Literatur, S. 105; STOBBE: Juden, S. 163. Vgl. dazu NIESNER: juden; KNAPP: Nikolaus, S. 293–308. STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. 1–596.

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spielfall. Nach ein paar kurzen Hinweisen zum Werk selbst werden wir einigen Spuren des jüdisch-christlichen Kulturtransfers in der volkssprachigen Literatur des deutschen Mittelalters in ebendiesem Text nachgehen. Mit der Aufnahme zahlreicher jüdischer Erzähltraditionen, von denen einige bereits zu Beginn des Hochmittelalters verstreut in christlicher, volkssprachiger Literatur auftauchen, steht er in der Textgattung der Weltchroniken allerdings nicht allein da. Bereits in Rudolfs von Ems um 1250 entstandener ‚Weltchronik‘171 finden sich gelegentlich Motive, deren jüdischer Ursprung oder jüdische Vermittlung zu diskutieren wären. Jans’ von Wien umfangreiche Kenntnis jüdischer Erzählvarianten geht jedoch weit darüber hinaus. Die jüdischen Stofftraditionen werden bei ihm zudem in einer Reihe von Fällen explizit als aus der jüdischen Überlieferung entlehnt gekennzeichnet – Äußerungen des Autor-Erzählers, die allgemein eher als topische Verweise interpretiert werden, die man meines Erachtens jedoch weitaus wörtlicher nehmen sollte. Jans’ Kenntnisse können dementsprechend mit dem Kontakt erklärt werden, in dem er „mit der Wiener jüdischen bevölkerung gestanden haben mag“172. Immerhin besaß Wien die bedeutendste Judengemeinde in der Passauer Diözese, deren Mitglieder vor allem mit Klöstern und Vertretern der Spitzenschicht in geschäftlicher – und damit in direkter – Verbindung standen.173 Neben solch eher herkömmlichen Fragen der historischen Erzählforschung werden wir Jans’ Aufnahme jüdischer Erzählstoffe darüber hinaus als bewußten Ausdruck der veränderbaren Bedeutungen interpretieren, die ihrem Ursprung nach fremden kulturellen Traditionen, hier fremden literarischen Stoffen, im Rahmen einer rezipierenden und adaptierenden Kultur zukommen können. Die sehr spezifischen Verarbeitungsformen, die jüdische Erzählstoffe in seiner ‚Weltchronik‘ erfahren, verdeutlichen die dynamische, schwer antizipierbare Hybridität kulturellen Transfers. 1. Die ‚Weltchronik‘ des Jans von Wien Jans’ Werk ist in insgesamt 39, häufig illustrierten Handschriften des 14. und 15. Jahrhunderts überliefert, die vorrangig aus dem bairisch-österreichischen Raum stammen, aber auch darüber hinaus rezipiert worden sind. Die Überlieferung umfaßt sowohl primäre als auch sekundäre Formen: Primär ist die ‚Weltchronik‘ in 16 Handschriften erhalten, von denen 171 Vgl. EHRISMANN (Hrsg.): ‚Weltchronik‘. 172 STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. LXVIII; vgl. auch KNAPP: Literatur, S. 244f. u. 457; DUNPHY: wunder, S. 226; KUGLER: Jans, S. 224f. 173 Vgl. LOHRMANN: Juden, S. 110.

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zehn den vollständigen Text und sechs textkürzende Bearbeitungen wiedergeben. Sekundär tradiert werden Auszüge der ‚Weltchronik‘ zudem in 33 Handschriften anderer Texte, allen voran Weltchroniken späterer Autoren.174 Die genaue Datierung des Werks ist bis heute umstritten, den einzigen wirklich verläßlichen terminus post quem liefert das Ende des Textes selbst, das der Tod Kaiser Friedrichs II. im Jahre 1250 bildet. Aufgrund weiterer, in ihren Deutungsmöglichkeiten allerdings ambivalenter Textstellen schwanken die Datierungsvorschläge zwischen 1272 und 1284.175 Nach der ‚Weltchronik‘ verfaßte Jans noch ein weiteres, ebenfalls historiographisches Werk, das sogenannte ‚Fürstenbuch‘176, eine Geschichte der österreichischen Herrscher von Markgraf Albrecht bis zum letzten Babenberger Herzog Friedrich II. dem Streitbaren. Die Person des Autors, der bis heute auch unter dem irreführenden Namen Jans Enikel geführt wird, ist in weitgehendes Dunkel gehüllt, sie ist urkundlich nicht nachweisbar und daher nur aus Hinweisen rekonstruierbar, die sie selbst in ihren Texten über sich bietet: Demnach besaß Jans in Wien ein Haus und gehörte vermutlich der Schicht der niederadligen, aber freien Ritterbürger an, die gemeinhin über beträchtliche Einkünfte aus Landwirtschaft, Handel und Finanzgeschäften verfügten und auf eine größere Dienerschaft, darunter oftmals eigene Schreiber, zurückgreifen konnten.177 Jans’ ‚Weltchronik‘ bietet in knapp 29.000 Reimpaarversen die Geschichte der Welt entlang herkömmlicher christlicher Stationen der Heilsund Profangeschichte seit ihrer göttlichen Erschaffung bis zum Tode Friedrichs II. Ihre hauptsächlichen Bezugstexte sind die christliche Bibel, die ‚Imago mundi‘ des Honorius Augustodunensis sowie die ebenfalls aus dem 12. Jahrhundert stammende, anonyme frühmittelhochdeutsche ‚Kaiserchronik‘. Jans’ intentio auctoris unterscheidet sich jedoch ganz wesentlich von der seiner Quellen: er liefert weder heilsgeschichtliche Teleologie noch Geschichtsschreibung im Sinne der lateinischen Chroniken des Mittelalters: Er will unterhalten, in Erstaunen versetzen, Unerhörtes, Einmaliges, Neuartiges, also, wie die Romanen sagen würden, novellas erzählen, diese deshalb aber noch lange nicht als Fiktion verstanden wissen, als fabula, sondern durchaus als historia 178 im mittelalterlichen Sinn . 174 175 176 177

Vgl. dazu GEITH: Enikel, Sp. 565; STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. III–XL. Vgl. KNAPP: Literatur, S. 236f.; GEITH: Enikel, Sp. 565; KLEBEL: Fassungen, S. 111. STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. 599–679. Vgl. dazu BRUNNER: Bürgertum, S. 550–574. WENZEL: Geschichte, S. 123, hat aufgrund des Standes unseres Autors der ‚Weltchronik‘ eine „Verbindung traditionell-aristokratischer und merkantil-städtischer Komponenten“ attestiert; zur Einschränkung dieser These vgl. KNAPP: Literatur, S. 247. 178 KNAPP: Literatur, S. 236.

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Um seine Absicht zu erreichen, versammelt Jans in seinem Werk Erzählstoff von gänzlich heterogener Herkunft und Art. Im wesentlichen zeigt er sich an jeder Form von Anekdoten interessiert, also an den petites histoires im Unterschied zur „großen Erzählung“ einer totalisierenden, integrativen und progressiven Geschichtsschreibung, die weiß, wo sie hin will.179 Unser Autor wendet sich also gerade der Form kulturell-literarischer Überlieferung zu, die nach STEPHEN GREENBLATT das wichtigste Medium zur Aufzeichnung des Unerwarteten und daher auch zur Beschreibung der Begegnung mit der Differenz darstellt: „Anekdoten gehören [...] zu den wichtigsten Erzeugnissen der Repräsentationstechnologie einer Kultur“180. Unter den heterogenen Erzählstoffen, die Jans in seiner ‚Weltchronik‘ aufgreift und adaptiert, finden sich nun auch originär jüdische Stoffe. 2. Jüdische Erzählstoffe in der ‚Weltchronik‘ Daß Jans von Wien jüdische Stoffe in seiner ‚Weltchronik‘ verarbeitet hat, ist keine neue Erkenntnis.181 Schon PHILIPP STRAUCH hatte in seiner zuerst 1900 erschienenen Ausgabe von Jans’ Werken darauf hingewiesen,182 und zuletzt hat wiederum FRITZ PETER KNAPP unseren Autor einen herausragenden Zeugen des jüdisch-christlichen Kulturtransfers genannt.183 Es handelt sich dabei vor allem um folgende Erzählkomplexe: das Ergehen Noahs und seiner Familie in der Arche (v. 1775–2582), die Sprachenverwirrung beim babylonischen Turmbau (v. 3315–3376), die Umstände der Geburt Jakobs und Esaus (v. 4510–4513), verschiedene Aspekte der Lebensgeschichte Moses (vv. 6737–6850, 8470–8500, 8695–8710, 8945–8994 und 9311–9330), Salomos problematischer Einzug nach Jerusalem (v. 11985–12030), seine Errichtung des Tempels mit der Hilfe eines wunderbaren Wurms (v. 12067–12206), sowie schließlich Daniels Verhältnis zu Nebukadnezar (v. 17401–17844). Zu diesen biblischen Erzählkomplexen gehört eventuell auch Jans’ Behandlung der Geschichte Alexanders des Großen, die in einigen Zügen dem Bild entspricht, das die talmudische Überlieferung und hebräischen Alexanderdichtungen des Mittelalters von dem Makedonenherrscher entwerfen (zum Beispiel v. 18981– 19220). Bisher ist von diesen Abschnitten der ‚Weltchronik‘ lediglich ein

179 180 181 182 183

Vgl. zu dieser Differenz FINEMAN: History, S. 49–76. GREENBLATT: Besitztümer, S. 11. Vgl. GEITH: Enikel, Sp. 567. Vgl. STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. LXVIII. Vgl. KNAPP: Literatur, S. 245.

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einziger eingehender untersucht worden: FRANCIS LEE UTLEY hat 1941 in einem kurzen Aufsatz die Quellen der Noah-Geschichte dargelegt184. Drei Fragen, die sich aus der Erkenntnis ergeben, daß Jans von Wien jüdische Stoffe aufgegriffen und in sein Werk integriert hat, sind jedoch bisher weitgehend unbeantwortet geblieben: Erstens, wie sahen Jans’ Quellen aus? Zweitens, wie gelangte er an diese Quellen? Und drittens, wie ist er mit seinen Quellen literarisch verfahren? Als Antwort auf die ersten beiden Fragen begnügt man sich bis heute mit einer These, die schon Jans’ Herausgeber STRAUCH formuliert hat: Vielleicht darf man die reiche kenntnis jüdischer sagenvarianten bei ihm u.a. auch aus dem verkehr erklären, in dem er, der aus dem handelsstande hervorgegangen war und selbst gewerbetreibender gewesen zu sein scheint, mit der Wiener jüdi185 schen bevölkerung gestanden haben mag.

STRAUCH geht also von einer direkten und ausschließlich mündlichen Übermittlung jüdischer Erzählstoffe in die ‚Weltchronik‘ aus.186 Diese These hat einiges für sich: Für die Unmittelbarkeit des Kontakts sprechen die zahlreichen Abweichungen, die die jüdischen Stoffe in Jans’ Text im Vergleich mit lateinischen, zum Teil bis auf die Kirchenväter187 zurückreichenden Adaptationen dieser Stoffe in christlicher Literatur aufweisen. Jans dürfte also kaum aus einem Werk wie der ‚Historia scholastica‘188 des Petrus Comestor (1100–1179) geschöpft haben,189 deren Verfasser bereits im 12. Jahrhundert des öfteren jüdische Quellen für seine fortlaufende Darstellung der biblischen Geschichte herangezogen hatte. Und für die grundsätzliche Möglichkeit des Kontakts spricht die Existenz einer bedeutenden jüdischen Gemeinde in Wien in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Zwar reicht die jüdische Ansiedlung in Wien nicht vor den Beginn jenes Jahrhunderts zurück, doch bereits fünf Jahrzehnte später hatte sich die Gemeinde auch intellektuell so weit etabliert, daß der Rabbiner Abigdor ben Elia Hakohen ein Lehrhaus führen konnte.190 Hinreichend vorgebildete Gesprächspartner konnte Jans unter den Juden seiner Heimatstadt also durchaus finden. Engeren Kontakt zwischen Juden und Christen begünstigte in diesem Fall vielleicht auch eine strukturell ähnliche soziale Verortung: Jans’ patri184 Vgl. UTLEY: Ham, S. 241–249; vgl. auch KNAPP: Literatur, S. 244f.; nicht einschlägig für die hier behandelte Frage ist GRUBMÜLLER: Fluch, S. 116f. 185 STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. LXVIII. 186 Vgl. auch KNAPP: Literatur, S. 243. 187 Zur Aufnahme midraschischer Stoffe bei den Kirchenvätern vgl. die umfassende Darstellung durch GINZBERG: Haggada I–VI. 188 Vgl. PL, Bd. 198, Sp. 1049–1722. 189 Vgl. KNAPP: Literatur, S. 243; anders STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. 228 Anm. 1. 190 Vgl. SPITZER: Bne, S.163f.

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zischer Stand als Ritterbürger entspricht durchaus der gesellschaftlichen Rolle der führenden, mit Geldgeschäften befaßten jüdischen Familien in Wien, die wie ihre christlichen Zeitgenossen eine oligarchische Spitzenschicht bildeten, die das Rückgrat der Gemeinde darstellte.191 Daß gerade Vertreter städtischer jüdischer Oligarchien seit dem Hochmittelalter ein veritables Interesse an der Partizipation an der koterritorialen höfischen Kultur hegen konnten, verdeutlichen die 1996 entdeckten Fresken mit Motiven aus der Minnelyrik in einem Haus, das sich bis zur Ermordung und Vertreibung der Zürcher Juden im Jahre 1349 in jüdischem Besitz befunden hatte.192 Tatsächlich konzentrierten sich die Geschäftsbeziehungen der Wiener Juden in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auf den Landesfürsten und die adlig-patrizische Schicht: KLAUS LOHRMANN hat darauf hingewiesen, daß in diesem Zeitraum vor allem die Wiener Ritterbürger in geschäftliche Verbindungen mit Juden traten.193 In Jans’ Fall ist zudem eine zunächst mittelbare Kontaktherstellung zwischen dem christlichen Chronisten und seinen jüdischen Gewährsleuten denkbar: In seinem zweiten Werk, dem ‚Fürstenbuch‘, streicht Jans die Bedeutung des Wiener Schottenklosters heraus (v. 963–970) und berichtet, daß der Abt des Klosters ihm in seinen chronikalischen Bemühungen mit Rat und Tat zur Seite gestanden habe (v. 1089–1091). Das Schottenkloster stand schon um die Mitte des 13. Jahrhunderts in wirtschaftlichen Beziehungen zu Wiener Juden, so daß Jans’ Kontakt mit jüdischen Zeitgenossen auch durch die gemeinsame Verbindung zum Kloster erklärt werden könnte. Die Entstehung des kulturellen Kontakts durch direkte Geschäftsverbindungen zwischen Chronist und Gewährsleuten erscheint mir aber für Jans’ Fall plausibler. Hinweise auf diesen direkten kulturellen Kontakt und Austausch liefert die ‚Weltchronik‘ in zahlreicher Menge und verschiedenster Form. Neben der bereits erwähnten, bloßen Tatsache der Existenz jüdischer Stoffe in diesem Werk ist es auch deren Darbietung, die nahelegt, daß Jans sie im Gespräch mit jüdischen Gewährsleuten kennengelernt haben dürfte. So betont er gleich mehrmals, eine Geschichte oder zumindest ein besonderes Detail einer Erzählung aus jüdischem Mund vernommen zu haben: di juden jehent (v. 9376), daz hân ich von in [sc. den Juden] (v. 9384), oder: daz widersagent di juden gar (v. 12077). Zuweilen werden die jüdischen Gewährsleute auch zusammen mit der Berufung auf andere, ähnlich unspezifische Autoritäten ins Feld geführt. So heißt es zum Beispiel anläßlich der Darstellung des Wahnsinns Nebukadnezars: daz ist den juden, den pfaffen 191 Vgl. LOHRMANN: Juden, S. 106. 192 Vgl. dazu GERHARDT: Zürich, S. 103–110; WENZEL: Fund, S. 417–426. 193 Vgl. LOHRMANN: Juden, S. 69 u. 127f.

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kunt (v. 17860), und die Schilderung der römischen pax Augusta wird mit der Bemerkung nû jehent di juden, die heiden alt (v. 21817) eingeleitet. Für sich allein genommen wiegen diese Hinweise noch nicht sehr schwer, ja man könnte sie ebensogut als Beweis für die These ansehen, Jans habe doch stärker aus der ‚Historia scholastica‘ geschöpft als gemeinhin vermutet: Petrus Comestor leitet seine Entlehnungen aus der jüdischen Tradition zumeist mit der Formel fabulantur judaei ein, die problemlos als direktes Vorbild für Jans’ formelhafte Verweise angesehen werden könnte. Doch es gibt noch weitere Indizien, die für einen direkten Kontakt zwischen Jans und Wiener Juden sprechen. Einen dieser Hinweise liefert seine Behandlung der rym#-Erzählung, also der Geschichte von der Erbauung des salomonischen Tempels mit Hilfe eines wunderbaren Wurms (v. 12067–12206),194 auf die ausführlicher noch weiter unten eingegangen wird: Er nennt für den Wurm nicht nur, nâch der geschrift der pfafheit (v. 12073), den seit der ‚Historia scholastica‘ bekannten Namen Tantyr (v. 12075), sondern explizit auch noch eine abweichende Bezeichnung: daz widersagent di juden gar: si sprechent, diser nam sî wâr, wan er den juden niht ist swaer: si heizent in Zomêr. (v. 12077–12080)

Daß diese Bemerkung durchaus wörtlich verstanden und als ein Beweis für einen unmittelbaren Kontakt mit jüdischen Gewährsleuten bewertet werden kann, verdeutlicht die Form Zomêr. Mit ihrem o-Laut in der ersten Silbe entspricht sie der aschkenasischen Aussprache des hebräischen Lexems. Im weiteren Verlauf der Erzählung bevorzugt Jans dann die jüdische Bezeichnung Zomêr gegenüber dem von christlichen Autoritäten vertretenen Tantyr (v. 12151). Bei ihm ist die literarische Adaptation der rym#-Erzählung also von den Polen Identifikation und Distanz geprägt:195 Im Zitat des Motivs macht er sich das Zitierte zu eigen, doch gleichzeitig spricht er das Zitierte in der Namensform Zomêr mit fremder Zunge. Darüber hinaus liefert eine Reihe bisher übersehener Indizien weitere Bausteine zur Untermauerung der These vom direkten kulturellen Kontakt und Austausch. Jans übernimmt nämlich nicht nur ausdrücklich als jüdische Traditionen gekennzeichnete Erzählungen, er läßt vielmehr sozusagen im Vorbeigehen solche Motive in seinen Text einfließen, ohne dies explizit zu betonen. Ein Beispiel soll hier zur Illustration genügen: Gemäß des biblischen Berichts wurden zusammen mit Sodom und Gomorrha

194 Vgl. dazu KNAPP: Literatur, S. 243; DUNPHY: wunder, S. 226f. 195 Vgl. zu diesen Charakteristika des Zitierens EBACH: Zitat, S. 27f.

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zwei weitere Städte von Gott vernichtet: Admah und Zebojim (Deut. 29, 22). Bei Jans sind aus diesen vier Städten fünf geworden: ein stat Gomorra hiez, dâ er di liut ertrinken liez. diu ander stat hiez Sodomâ. unrein liut wâren dâ. diu dritt Soboym hiez, di ouch got versinken liez umb ir boes sünde dâ. diu vierde hiez Adamâ. diu fünft stat hiez Segor. (v. 4059–4067)

Hinter der zuletzt genannten Stadt verbirgt sich das biblische Zoar, also just jene Stadt, in die sich Lot samt seiner Familie aus dem untergehenden Sodom rettet und die deshalb verschont wird (Gen. 19,18–23). Es findet sich jedoch bereits in spätantiken jüdischen Texten, namentlich im aggadischen Midrasch 196hbr ty#)rb, die Auslegungstradition, daß zusammen mit Sodom und Gomorra nicht zwei sondern drei Städte ausgelöscht wurden (Gen. rabba Kap. 51). Diese Ansicht hat im 11. Jahrhundert ihren Weg auch in den Bibelkommentar Raschis aus Troyes (1040–1105) zu Gen. 18,24 gefunden, den innerjüdisch wirkmächtigsten Kommentar des mittelalterlichen aschkenasischen Judentums. Jans greift an dieser Stelle seiner ‚Weltchronik‘ also auf eine divergierende jüdische Tradition zurück, ohne den Hintergrund seiner Schilderung, die von der gängigen christlichen Auslegung des biblischen Berichts abweicht, auch nur anzudeuten. Als letzten Hinweis auf einen direkten Kontakt zwischen Jans und den Wiener Juden müssen wir noch erwähnen, daß sich unser Autor nicht nur mit der jüdischen Bibelexegese, sondern auch mit den religionsgesetzlichen Bestimmungen seiner jüdischen Zeitgenossen vertraut zeigt. Im Zusammenhang seiner Auflistung und Bewertung der Sprachen der Welt nennt er traditionskonform als allererste Sprache das Hebräische, deren Sprecher von allen anderen Völkern unterschieden sind (v. 27381–27388). Doch nicht allein ihre Sprache, auch ihre Bräuche unterscheiden die Juden bis heute von allen anderen Menschen:197 si habent ouch wunderlîchen sit, dâ wellent si sîn behalten mit: des müezen si betoeret sîn, daz si nimmer dheinen wîn trinkent mit der kristenheit; daz sî iu allen vor geseit. (v. 27389–27394) 196 Vgl. ALBECK (Hrsg.): #rdm. 197 Vgl. zum folgenden auch KNAPP: Literatur, S. 246, der die Bedeutung dieser Stelle für unsere Fragestellung jedoch ausnahmsweise übersieht.

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Jans bespricht hier das talmudische Verbot von „allgemeinem Wein“, das nach bAboda Sara 29b und 36b aus dem Verbot von „geweihtem Wein“ abgeleitet ist und nicht nur den Genuß, sondern auch den Profit an beiden Weinsorten untersagt. Grund für dieses Verbot war zunächst die Fernhaltung vom Götzendienst, mittelalterliche Autoritäten wie Maimonides in seinem twwcmh rps (‚Buch der Pflichten’) fügten dem noch die Vermeidung von Geschlechtsverkehr mit Nichtjuden hinzu.198 Dieses Verbot entspricht selbstredend strukturell ähnlichen Restriktionen, die von christlicher Seite ebenfalls schon seit der Spätantike ausgestellt wurden, so zum Beispiel in Mitteleuropa bereits 465 im Konzil von Vannes,199 und späterhin zum Standardrepertoire derjenigen Vorschriften gehörten, die darauf berechnet waren, „den Juden von der Gemeinschaft mit Christen fern zu halten und dem Christen den Umgang oder nähere Berührungen mit Juden zu untersagen“200. Allein, das Wissen um die Existenz eines parallelen jüdischen Verbots war auf christlicher Seite in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts noch äußerst gering, so daß diese Stelle der ‚Weltchronik‘ eventuell aus Jans’ eigener Erfahrung entstanden ist – der Erfahrung mit jüdischen Geschäfts- und Gesprächspartnern, die den gemeinsamen Weingenuß unter Hinweis auf ihren wunderlîchen sit abgelehnt hatten.201 Für die Untermauerung der eingangs zitierten These, Jans von Wien verdanke seine Kenntnis jüdischer Erzählstoffe dem direkten Kontakt mit jüdischen Gewährsleuten, liefert seine ‚Weltchronik‘ also eine ganze Reihe unterschiedlicher Hinweise. Der kulturelle Transfer dieser Stoffe dürfte in diesem Fall tatsächlich vorrangig auf mündlicher Vermittlung beruhen. Die jüdischen Quellen, die hinter diesen Stoffen stehen, sind zum überwiegenden Teil Traditionen, die in der Spätantike oder dem früheren Mittelalter verschriftlicht wurden. Es handelt sich dabei hauptsächlich um aggadische Auslegungen zur hebräischen Bibel, die sich bereits in den beiden Talmudim als auch in den großen spätantiken Midraschwerken finden, also um solche Stoffe, die Jans’ Interesse am anekdotenhaft-neuartigen Erzählmaterial entgegenkamen. Zumindest in einem Fall scheint Jans bzw. Jans’ jüdischer Gewährsmann aber auf einen Text zurückgegriffen zu haben, der erst wenige Jahrzehnte zuvor niedergeschrieben worden war: den 202r#yh rps (‚Buch des Aufrechten’), jenen vermutlich an der Wende 198 199 200 201

Vgl. CHAVEL (Hrsg.): Commandments, Bd. 2, S. 190. Vgl. ARREG, S. 5, Nr. 9. STOBBE: Juden, S. 170f. Zur Bedeutung des Weinhandels für die Wiener Juden des 13. und 14. Jahrhunderts vgl. LOHRMANN: Juden, S. 78 u. 85. 202 Vgl. GOLDSCHMIDT (Hrsg.): rps.

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vom 12. zum 13. Jahrhundert von einem Anonymus in Spanien oder Süditalien verfaßten, im weiteren Verlauf des Mittelalters und der Frühen Neuzeit überaus beliebten Midrasch, der die Geschichte von der Schöpfung bis zum Tode Josuas behandelt.203 Schon PHILIPP STRAUCH hatte bezüglich der Mosegeschichte in Jans’ ‚Weltchronik‘, die in vielen Einzelheiten vom gängigen christlichen Mosebild abweicht, vermutet: Für die geschichte des Moses lag E.[nikel] zweifellos eine Vita Mosis als quelle vor, sei es nun, dass er diese direct oder durch mündliche vermittlung anderer benutzte.204

Meiner Ansicht nach könnte es sich hierbei um den Moseteil des r#yh rps gehandelt haben, denn alle Besonderheiten, die sich in Jans’ deutschem Text finden, finden sich auch in diesem hebräischen Werk. Auf die Frage, warum nun ausgerechnet die ‚Weltchronik‘ eines Wiener Ritterbürgers des ausgehenden 13. Jahrhunderts so besonders offen für die Aufnahme jüdischer Erzählstoffe gewesen ist, können wir hier nur eine sehr vorläufige Antwort versuchen: Jüdische Stoffe werden vor allem für den alttestamentlichen Teil aufgegriffen, also hat vermutlich der gemeinsame Bezug auf die gleiche Ausgangsquelle den interkulturellen Austausch begünstigt, ja nahegelegt, zumal die Weltchroniken vor der Entstehung vollständiger deutscher Bibelübersetzungen im 15. Jahrhundert den christlichen Laien auch als Bibelersatz dienten. Vielleicht liegt hierin auch einer der Gründe dafür, daß Chronistik im Mittelalter eher eine christliche als eine jüdische Textgattung darstellt.205 Mit ihrer besonderen Vorliebe für „Anekdoten [...], petites histoires [...] im Unterschied zum grand récit einer totalisierenden, integrativen, progressiven Geschichtsschreibung, die weiß, wo sie hin will“206, findet sich im späten 13. Jahrhundert in Wien mit der ‚Weltchronik‘ des Ritterbürgers Jans also eine in manchem andersgeartete Spur jüdisch-christlichen Kulturtransfers. Mit der Aufnahme zahlreicher jüdischer Stoff- und Erzähltraditionen, von denen einige bereits zu Beginn des Hochmittelalters verstreut in christlicher, volkssprachiger Literatur auftauchen, steht sie in der Textgattung der Weltchroniken allerdings nicht allein da. Bereits in Rudolfs von Ems um 1250 entstandener ‚Weltchronik‘ finden sich einige wenige Motive, deren jüdischer Ursprung oder jüdische Vermittlung zu diskutieren sind. Jans’ reiche Kenntnis jüdischer Erzählvarianten kann – wie bereits erwähnt – 203 Vgl. dazu DAN: Sefer, Sp. 1099; SPANIER: Sefer, Sp. 337. 204 STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. 120 Anm. 5. 205 Diese Beobachtung deckt sich mit der Beschreibung des mittelalterlichen Judentums als „kalter“ Gesellschaft, die dem Eindringen der Geschichte Widerstand leistet, vgl. dazu ASSMANN: Gedächtnis, S. 69. 206 GREENBLATT: Besitztümer, S. 10; vgl. dazu auch FINEMAN: History, S. 49–76.

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vielleicht mit dem Kontakt erklärt werden, „in dem er [...] mit der Wiener jüdischen bevölkerung gestanden haben mag“207. Immerhin besaß Wien die „bedeutendste Judengemeinde in der Passauer Diözese“208, deren Mitglieder vor allem „mit Klöstern und Vertretern der Spitzenschicht“209 in geschäftlicher – und damit in direkter – Verbindung standen. Zwar reicht die jüdische Ansiedlung in Wien nicht vor den Beginn des 13. Jahrhunderts zurück, doch bereits fünf Jahrzehnte später hatte sich die Gemeinde auch intellektuell so weit etabliert, daß der Rabbiner Abigdor ben Elia Hakohen ein Lehrhaus führen konnte.210 Hinreichend vorgebildete Gesprächspartner konnte Jans unter den Juden seiner Heimatstadt also durchaus finden. Doch auch nach ihm zeigten sich die christlichen Verfasser chronikalischer Literatur interessiert an jüdischen Stoff- und Motivtraditionen, die beispielsweise in die unter dem Namen Heinrich von München kursierende Weltchronikkompilation211 aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts eingearbeitet wurden. Inhaltliche Abweichungen gegenüber seinen Vorlagen legen auch in diesem letzten Fall den Verdacht nahe, daß der Verfasser neben seinen schriftlich fixierten Quellen auch mündlich – und vielleicht direkt – vermitteltes Wissen aufgenommen hat. Warum unter allen mittelalterlichen Textgattungen gerade die Weltchronistik sich so besonders offen für Erzählgut nichtchristlicher Provenienz zeigt, muß noch geklärt werden. Jüdische Stoffe werden vor allem für den alttestamentlichen Teil aufgegriffen: vermutlich hat der gemeinsame Bezug auf die gleiche Ausgangsquelle den interkulturellen Austausch begünstigt, ja nahegelegt, zumal die Weltchroniken vor der Entstehung vollständiger deutscher Bibelübersetzungen im 15. Jahrhundert den christlichen Laien auch als Bibelersatz dienten. Vielleicht liegt hierin auch einer der Gründe dafür, daß Chronistik im Mittelalter eher eine christliche als eine jüdische Textgattung darstellt. Wie im Falle Rudolfs von Ems gibt es also auch in diesem Bereich unserer Suche verschiedene, allerdings miteinander verschränkte Leitfragen: In welchen (Kon-)Texten tauchen einzelne jüdische Motive in christlich-volkssprachiger Literatur auf? Wie verhält sich das Auftauchen solcher Motive zur geographischen und sozialen Verortung der christlichen Autoren und ihres jeweiligen Publikums? Welche Textgattungen erweisen sich als besonders geeignet für diese Art des jüdischchristlichen Kulturtransfers? Welchen inhaltlichen und formalen Veränderungen unterliegen die Motive bei ihrem Transfer vom einen kulturellen 207 208 209 210 211

STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. LXVIII; vgl. auch KUGLER: Jans, S. 224f. KNAPP: Literatur, S. 358. LOHRMANN: Juden, S. 110. Vgl. SPITZER: Bne, S.163f. Vgl. RETTELBACH: Studien, S. 23–25.

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Raum in den anderen? Lassen sich einzelne Personen oder genauer umrissene Trägergruppen historisch festmachen, die ein besonderes Interesse am Transfer dieser Motive besessen haben? Welche Intentionen haben dieses Interesse geleitet? Gibt es in Einzelfällen die Möglichkeit, die direkte textliche Quelle oder Tradition auszumachen, die dem christlichen Autor für seine Adaptation des jeweiligen Motivs gedient hat? Welche Erkenntnisse ergeben sich aus den zuvor gestellten Fragen – und ihren Antworten – über das Oberthema hinaus für die im einzelnen untersuchten Texte und ihre Autoren? Die nachfolgenden Überlegungen widmen sich dem Thema des jüdischchristlichen Kulturtransfers im europäischen Mittelalter nun an einem besonders vielschichtigen Beispiel. Sie folgen den verschlungenen Adaptationswegen eines vom jüdischen ins christliche Wissensarchiv transferierten Motivs: dem Kreis von Erzählungen über den wunderbaren Wurm rym# (schamir).212 Dieses Beispiel verrät meines Erachtens viel über die unterschiedlichen Funktionsweisen des jüdisch-christlichen Kulturtransfers. Mein Ziel ist es also, eine Spur des Kulturtransfers zwischen Juden und Christen in der lateinischen und deutschen Literatur des Hoch- und Spätmittelalters aufzuzeigen. Dabei schließe ich mich der grundsätzlichen These FRITZ PETER KNAPPs an, daß in diesem Zeitraum unterhalb der offiziellen Ebene, im Bereich des privaten oder semiprivaten Kontakts, Raum für einen Gedankenaustausch zwischen Juden und Christen existiert hat, wodurch „so manches Erzähl- und Spruchgut von einer zur anderen Seite“213 gelangt sein dürfte. KNAPP geht jedoch nichtsdestoweniger von einer unüberwindbaren Dichotomie von Majoritäts- und Minoritätskultur, von mittelalterlichen Christen und mittelalterlichen Juden aus, deren Ausschließlichkeit meines Erachtens zumindest fraglich ist: Die enge Bindung des jüdischen Schrifttums an Theorie und Praxis eines Glaubenslebens, das die Juden grundlegend von ihrer christlichen Umwelt unterschied, schloß eine rege Wechselbeziehung mit nichtjüdischer Literatur von vornherein aus. Wo eine solche Beziehung sich wie von selbst hätte ergeben können, eben im religiösen Schrifttum, das ja nun wahrhaft auf gemeinsame Wurzeln 214 zurückging, herrschte von beiden Seiten größtes Unverständnis.

Im folgenden werde ich zunächst einen längeren Überblick über die Informationen bieten, die hebräische, lateinische und deutsche Texte der Antike und des Mittelalters über das mirakulöse Wesen namens rym# liefern. 212 Das hebräische Lexem ist etymologisch verwandt mit dem griech. smurij, smirij „Schmirgel“, vgl. CASSEL: Schamir, S. 63; vgl. auch JASTROW: Dictionary, Bd. 2, S. 1596. 213 KNAPP: Literatur, S. 361. 214 KNAPP: Literatur, S. 360f.

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In einem zweiten, kürzeren Abschnitt stelle ich sodann das zuvor ausgebreitete Material unter die Frage, in welche Formen der Kontextualisierung das ursprünglich jüdische Motiv in christlicher Überlieferung eingebettet wird. Ein abschließender dritter Abschnitt widmet sich der besonderen Rolle, die die deutsche Volkssprache im Rahmen dieses Kulturtransfers gespielt hat. 2.1. Der rym# bei Juden und Christen in Antike und Mittelalter Die jüdischen Quellen wissen zunächst einmal folgendes zu berichten: der rym# ist ein wunderbarer Wurm, der unter den zehn Dingen war, die von Gott am Vorabend des Sabbats der Schöpfungswoche in der Abenddämmerung erschaffen wurden (mAwot V,6; bPessachim 54a). Seine besondere Eigenschaft, nämlich durch sämtliche Materialien hindurchschneiden zu können, prädestinierte ihn für zwei Aufgaben: Zum einen gravierte man mit ihm die Namen der Stämme Israels auf die Edelsteine am Brustschild des Hohepriesters (bSota 48b; bGittin 68a; jSota IX 24b), zum anderen verwendete ihn König Salomo, um die Steine für den Bau des Jerusalemer Tempels zuzuschneiden, von denen es in 1Reg 6,7 heißt: lzrbylk-lk }zrghw twbqmw hnbn (sm hml#-}b) wtnbhb tybhw 215.wtnbhb

tybb hm#n-)l

Über das genaue Verständnis dieser Bibelstelle herrscht an zwei Stellen des babylonischen Talmud (bSota 48b; bGittin 68a) eine Meinungsverschiedenheit: Aufgrund des Verbots des Pentateuch, einen Altar aus behauenen, mit Hilfe eiserner Geräte geformten Steinen zu errichten (Ex 20, 22), stellt sich den Talmudweisen die Frage, wie Salomo den Tempel bauen und gleichzeitig besagtes Verbot beachten konnte. Die einen erklären, die Steine seien bereits im Steinbruch paßfertig gehauen und an der Tempelstätte nur noch zusammengefügt worden, während die anderen Salomo den rym# benutzen lassen. Daran schließt sich eine längere Erzählung darüber an, wie Salomo in den Besitz des Wurms gekommen ist: Salomo weiß nicht, wie er den Tempel ohne Zuhilfenahme eiserner Gerätschaften erbauen soll, also befragt er die ihm dienenden Geister, die ihn auf den rym# hinweisen. Dessen Aufenthaltsort kennt jedoch nur der Dämonenfürst Aschmodai. Dieser haust in einer Zisterne, die Salomo mit Wein anfüllen läßt, wodurch es ihm schließlich gelingt, den betrunkenen Aschmodai zu überwältigen. Der Dämon erklärt dem König, der rym# befinde 215 „Und das Haus, als es erbaut wurde, aus völlig zugehauenen Steinen wurde es erbaut, und Hämmer und Äxte, alles eiserne Gerät, wurde nicht gehört in dem Haus, als es erbaut wurde.“

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sich in der Obhut des Wiedehopfs.216 Salomo läßt daraufhin ein Küken des Wiedehopfs entführen und stellt dieses unter einer Glasschale zur Schau. Der Wiedehopf naht zur Rettung seines Nachwuchses und erkennt, daß er durch das Glas von ihm getrennt ist. Er kehrt zu seinem Nest zurück, holt den rym# und befreit sein Küken, während Salomo den Wunderwurm an sich bringt. Der König erbaut mit Hilfe des Wurms den Tempel, in dem der rym# bis zu dessen Zerstörung verbleibt, aufbewahrt in einer Bleischachtel, die mit Lumpen und Haferbrei gefüllt ist. Dieser Kreis talmudischer Erzählungen findet sich in allen klassischen nachtalmudischen Texten des Judentums, vor allem in den großen Bibelkommentaren, also zum Beispiel bei dem Provenzalen David Kimchi (1160–1236)217, beim Katalanen Nachmanides (1194–1270)218 oder wiederum auch bei Raschi aus Troyes (1040–1105)219, dem innerjüdisch wirkmächtigsten Kommentar überhaupt. Raschi diskutiert an mehreren Stellen seines Kommentars die genaue Beschaffenheit des rym#, namentlich dort, wo das hebräische Lexem im Bibeltext auftaucht und gemeinhin mit „Diamant“ oder „Dornen“ übersetzt wird.220 Dieses Wortverständnis findet sich bereits in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts bei Menachem ben Saruk aus Cordoba, dem Verfasser des ersten hebräischen Wurzelwörterbuchs. Raschi zitiert in seinem Kommentar zu Is 5,6 Menachems Ansicht, mit rym# sei stets eine Art Dornenkraut gemeint. Raschi wendet sich jedoch gegen diese Meinung und beharrt darauf, daß das Lexem auch hier ebenjenen geheimnisvollen Wurm bezeichne, der zum Bau des Tempels verwendet wurde.221 Die genaue Lexembedeutung hat also bereits die jüdischen Kommentatoren des Mittelalters immer wieder vor große Schwierigkeiten gestellt. Dies zeigt schließlich auch das Beispiel einer Glosse zum yr+yw rwzxm (‚Festtagsgebetbuch von Vitry‘) Simchas ben Samuel aus dem frühen 12. Jahrhundert. Dort wird das Lexem rym# aus Awot V,6 durch das altfranzösische Lehnwort +m#byq#) oschier-basmet „Kerbbal216 Der Vogel heißt im Text des Talmud rbh lwgnrt, was dem biblischen tpykwd entspricht. Er erscheint bereits in den biblischen Listen zum Genuß verbotener Vögel (Lev 11,19, Deut 14,18) und wird gemeinhin mit dem Auerhahn oder Wiedehopf identifiziert, vgl. Targum Onkelos und Targum Jonatan zu Lev 11,19 und Deut 14,18, bGittin 68b, bChullin 63a, Raschi zu Lev 11,19 und Deut 14,18, der zudem den Hinweis gibt, der betreffende Vogel heiße afrz. )““pwrh herupé. Die Vulgata identifiziert den tpykwd ebenfalls mit der upupa. Die Targumim und bGittin 68b nennen ihn auch )rw+ rgn, also „Bergzersplitterer“; in dieser Bezeichnung findet sich vielleicht die Ursache für die Verbindung des Vogels mit dem rym#-Motiv. 217 Vgl. Redak zu 1Sam 1,11, 1Reg 6,7, Is 5,6;7,24.25;27,4;32,13, Ier 17,1, Ez 3,9, Zach 7,12. 218 Vgl. Ramban zu Ex 25,7, Lev 25,5. 219 Vgl. Raschi zu 1Reg 6,7, Is 5,6.7;7,25;9,17;27,4;32,13, Ier 17,1, Ez 3,9, Zach 7,12. 220 Dies ist der Fall in Is 5,6;7,23–25;9,17;27,4;32,13, Ier 17,1, Ez 3,9 und Zach 7,12. 221 Diese Ansicht wiederholt Raschi mehrmals auch an anderen Stellen, vgl. z.B. seinen Kommentar zu Zach 7,12 oder zu bSota 48b und bGittin 68a.

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sam“ erläutert,222 also wie bei Menachem ben Saruk sozusagen seiner Transzendenz entkleidet und biologisch vereindeutigt. Soweit also die Informationen, die antike und mittelalterliche hebräische Quellen liefern. In Texten christlicher Autoren der Spätantike und des Mittelalters sind diese Informationen auf unterschiedliche Weise rezipiert worden. Die Diskussion um das richtige Verständnis des biblischen Begriffs rym# findet sich auch in den Schriften christlicher Theologen der Antike und des Mittelalters. Der Kirchenvater Hieronymus (350–420), dessen enger Austausch mit jüdischen Gelehrten seiner Zeit außer Frage steht, hatte es mit vepres, also „Dornstrauch“, übersetzt.223 Dagegen hatte der Fuldaer Abt Hrabanus Maurus (780–856) rym# als lapis adamantinus erklärt.224 Seine Interpretation ist im späteren Mittelalter auch von lateinischen Predigern genutzt worden: In einer Abendmahlspredigt des 13. Jahrhunderts findet sich die auf Ier 17,1 bezogene Texterläuterung: adamantino, quod Hebraice dicitur samir.225 Daneben hat auch der Kreis von Erzählungen über Salomos Wunderwurm Eingang gefunden in die gelehrte christliche Literatur des europäischen Mittelalters. Der erste Beleg dafür findet sich in der ‚Historia scholastica‘ des Petrus Comestor (1100–1179), der wie Raschi aus Troyes stammte. Petrus hat für seine fortlaufende Darstellung der biblischen Geschichte des öfteren jüdische Quellen herangezogen und weiß im achten Kapitel zum dritten Buch der Könige unter der Überschrift ‚De operariis Templi‘ folgendes zu berichten: Fabulantur Judaei, ad eruderandos lapides celerius, habuisse Salomonem sanguinem vermiculi, qui tamir dicitur, aspersa marmora facile secabantur, quem invenit hoc modo. Erat Salomoni struthio habens pullum, et inclusus est pullus sub vase vitreo. Quem cum videret struthio, sed 226 habere nequiret, de deserto tulit vermiculum, cujus sanguine linivit vitrum, et fractum est.

Im Gegensatz zur talmudischen Überlieferung ist bei Petrus aus dem rym# also ein tamir geworden, es ist auch nicht mehr der Wiedehopf, sondern der Strauß, der ihn verwahrt, und nur noch das Blut des Würmchens besitzt die sagenhafte Schneidekraft, nicht das Tier als Ganzes.227 Voll222 223 224 225 226 227

Vgl. GOLDSCHMIDT (Hrsg.): rwzxm, Kap. 428. Vgl. PL, Bd. 23, Sp. 811. Vgl. PL, Bd. 111, Sp. 944f. Vgl. PL, Bd. 208, Sp. 843. PL, Bd. 198, Sp. 1353f. Wie diese Veränderungen entstanden sind, läßt sich nur vermuten: Bei den unterschiedlichen Namensformen könnte eine Verlesung von # und + Ursache der Änderung sein. Strauß und Wiedehopf gehören beide zu den zum Verzehr verbotenen Vogelarten, doch werden sie nicht im gleichen Bibelvers genannt (Wiedehopf in Lev 11,19, Deut 14,18; Strauß in Lev 11,16, Deut 14,15), so daß hier wohl kaum der Grund für eine Verwechslung zu suchen ist. Zu den bereits in die antiken Naturenzyklopädien zurückreichenden Vor-

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ständig verschwunden ist zudem der Dämonenfürst Aschmodai. In dieser Form findet sich die Erzählung in einer Reihe späterer theologischer Werke mit mehr oder minder enzyklopädischem Anspruch. Sie ist unter anderem aufgenommen worden in die ‚Otia Imperalia‘ III,104 des Gervasius von Tilbury (1140–1220),228 ins ‚Speculum Naturale‘ XX,170229 und ins ‚Speculum Doctrinale‘ XV,123230 des Vinzenz von Beauvais (1184–1264) und in ‚De animalibus‘ XVI,43 von Albertus Magnus (1193–1280).231 Schließlich findet sie sich auch im ‚Speculum humanae salvationis‘232 und als späterer Zusatz in den ‚Gesta Romanorum‘, wo die ursprünglich talmudische Erzählung sogar christologisch und typologisch gedeutet wird: Legitur in scolastica hystoria, quod Salomon habebat strucionem habentem pullum, quem pullum Salomon in quadam cavea vitrea nutriebat. Cum pullum suum strucio habere non posset, vermem quendam de stercore portavit, de cuius sanguine ipsam caveam linivit, et continuo fracta fuit et sic pullum extravit. Moraliter. Iste vermis est Christus de quo dicit psalmus: Ego sum vermis et non homo etc. Vermis enim non nascitur per generacionem carnalem, sed de humore terre et virtute radii solaris producitur. Et sicut vermis habet patrem in celo scil. solem, et matrem in terra scil. terream humorem, sic habuit Christus in celo patrem sine matre et in terra matrem sine patre. Pulli inclusi in cavea errant sancti patres inclusi in cavea infernali. Sed venit iste vermiculus et virtute sanguinis sui caveam illam confregit et sanctos patres inde eduxit.233

Diese christologische Deutung des rym#-Motivs findet sich bereits in einer lateinischen Predigt über Jesu Auferstehung des Garnerius von Rochefort (1140–1225), der den Vers aus Ps 21,7: Ego autem sum vermis, et non homo, wie die ‚Gesta Romanorum‘ auf Jesu Passion bezieht und durch das präfigurative Exempel des rym# auslegt: Vis audire signanter quis vermiculus? Ipse est Thamir, cujus sanguine struthio vitrum fregit, ut fracto vitro fetum gaudens reciperet. Ipse est Thamir, cujus sanguine duritiam lapidum Salomon secari docuit et poliri.234

Neben der gelehrt-lateinischsprachigen existiert nun auch eine volkssprachige christliche Rezeption des Stoffs. Bereits in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, also ungefähr zeitgleich mit der ‚Historia scholastica‘, findet sich in dem sogenannten ‚Lob Salomons‘235 die jüdische Exegese-

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stellungen über das besonders schneidende Blut bestimmter Tiere vgl. OHLY: Diamant, S. 72–188. Vgl. LIEBRECHT (Hrsg.): ‚Otia‘, S. 49. Vgl. Vincentius ‚Speculum Naturale‘, Sp. 1553. Vgl. Vincentius ‚Speculum Doctrinale‘, Sp. 1458f. Vgl. BORGNET (Hrsg.): Opera, Bd. 12, S. 581. Vgl. LUTZ/PERDRIZET (Hrsg.): ‚Speculum’, Bd. 2, S. 54. OESTERLEY (Hrsg.): ‚Gesta’, Nr. 256, app. 60, S. 662. PL, Bd. 205, Sp. 702. Vgl. HAUG/VOLLMANN (Hrsg.) ‚Lob‘, S. 702–717; WAAG/SCHRÖDER (Hrsg.): ‚Lob‘, Bd. 1, S. 43–55.

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tradition ausgeschrieben. Die in der berühmten Handschrift des Augustiner-Chorherrenstifts Vorau in der Steiermark überlieferte Erzählung,236 die im Gegensatz zur lateinischen Literatur wohl zur Belehrung der Laienbrüder des Stifts gedient hat, kennt in den Strophen 6 bis 9 (v. 51– 116)237 die Geschichte von Salomo und Aschmodai. Der Abschnitt wird mit folgender Quellenberufung eingeleitet: Ein herro hiz Heronimus (sin scripft zelit uns sus), der heti ein michil wundir uzzir einim buchi vundin, uzzir Archely (daz habint noch di Crichi) (v. 51–56)

Schon JOSEPH DIEMER, der erste Herausgeber der deutschen Gedichte der Vorauer Handschrift, hatte sich vor dieser Quellennennung ratlos gezeigt. Er schreibt: „von diesem Heronimus und dem buche der archeley finde ich nirgends etwas“238, und verweist anschließend auf die Version in der ‚Historia scholastica‘. Doch keine der oben erwähnten lateinischen Fassungen der rym#-Sage kann die Vorlage für die Version des ‚Lob Salomons‘ gewesen sein,239 denn zu frappant sind die Unterschiede: Im frühmittelhochdeutschen Gedicht taucht der Dämonenfürst Aschmodai in Form eines Drachen wieder auf (v. 59), dagegen fehlt jegliche Erwähnung eines Vogels, der den rym# hütet. Dieser, der einfach ein dir (v. 90) genannt wird, wird auf den Rat des Drachen hin von Salomo im Libanon gefangen und mit Hilfe seiner Adern wart daz hus zi Hiersalem / giworcht ani alliz isin (v. 115f.). Eindeutig erkennbar sind jedoch auch die Unterschiede zur talmudischen Version der Erzählung. Dieser Quellenbefund führte WILHELM SCHERER 1878 zu folgendem Resümee: 236 Vgl. POLHEIM (Hrsg.): Gedichte, fol. 98va–99va. 237 Bis heute ist es umstritten geblieben, ob diese Strophen einen originären Bestandteil des ‚Lob Salomons‘ darstellen, oder ob sie „ein ursprünglich ganz selbständiges stück oder ein bruchstück eines grösseren gedichts“ (MSD, Bd. 2, S. 225) repräsentieren. Der Ansicht von MSD haben sich eine Reihe von Interpreten angeschlossen, vgl. PIPER (Hrsg.): Dichtung, S. 207; SCHAMMBERGER: Gedichte, S. 32; MAURER (Hrsg.): Dichtungen, Bd. 1, S. 319, vgl. dagegen SCHWIETERING: Dichtung, S. 71; GANZ: Unity, S. 59; SCHRÖDER: Form. 238 DIEMER (Hrsg.): Gedichte, S. 43; vgl. auch MSD, Bd. 2, S. 225: „die unmittelbare quelle der erzählung habe ich nicht ermitteln können: archeli v. 5 ist ohne zweifel entstellt aus archaeologia. aber mittelbar ist sie abgeleitet aus einer rabbinischen sage, die Eisenmenger (entdecktes judentum 1,350ff.) aus einem talmudischen tractat mitteilt.“ Der Verweis auf EISENMENGER: Judenthum, zeigt, welch unzureichender Hilfsmittel sich die ältere Forschung für unser Frageinteresse bedient hat. Noch der Herausgeber der ‚Weltchronik‘ Jans’ von Wien verweist als Fundstelle für jüdische Parallelüberlieferungen häufig auf die antijüdische Talmudkompilation des Frankfurter Orientalisten EISENMENGER (1654–1704), vgl. z.B. STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. 36 Anm. 2 u. 88 Anm. 2. 239 Vgl. GANZ: Unity, S. 52.

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Die nähere quelle, aus der der dichter schöpfte, ist uns unbekannt. aber das griechische archêly kann kaum etwas anderes bedeuten als die Jüdische archäologie des Josephus. die hier erzählte geschichte kommt allerdings nicht darin vor; [...] Die entferntere quelle ist der tractat Gittin fol. 68 des Talmud.240

Erst knappe 50 Jahre später brachte SAMUEL SINGER neues Licht in die verzwickte Quellenfrage.241 Er edierte einen kurzen lateinischen Text aus einer um 1170/80 in Regensburg illuminierten Handschrift des ambrosianischen ‚Hexaemeron‘ – heute München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 14399 –, über den PETER GANZ folgendes festhält: On fol. 183v someone entered a fable about a dragon: [...] It does look as if the Middle High German poet took his story from a similar Latin text [...] The Munich text itself cannot have been the source, for even if the Vorau manuscript was written in Regensburg and the Clm 14399 was in Regensburg at that time, it must be remembered that the poem was copied from an older manuscript.242

SINGER selbst hatte sogar noch vorsichtiger formuliert und sich keineswegs darauf festgelegt, daß die gemeinsame Quelle der lateinischen und der frühmittelhochdeutschen Erzählung lateinischsprachig gewesen sein muß.243 Doch diese Vorsicht hat nicht verhindert, daß für WERNER SCHRÖDER mit der lateinischen Fassung der Münchener Handschrift die Quelle des Autors des ‚Lob Salomons‘ gefunden zu sein scheint.244 Meines Erachtens spricht mindestens ebensoviel dafür, die Quelle der frühmittelhochdeutschen Version in einer originären jüdischen Überlieferung zu vermuten. Diese Vermutung kann gestützt werden, wenn man mit HERMANN MENHARDT davon ausgeht, daß das ‚Lob Salomons‘ in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts am Mainzer Bischofshof entstanden ist.245 Seit dem späten 9. Jahrhundert existierte in Mainz eine der bedeutendsten jüdischen Gemeinden im Reich,246 deren von Rabbenu Gerschom (960–1040), der sogenannten „Leuchte des Exils“ (hlwgh rw)m), mitbegründeten Talmudschule überregionale Bedeutung zukam. Die langanhaltende Vorbildstellung der Mainzer Gemeinde für das aschkenasische Judentum hat der 240 SCHERER: Litteratur, S. 19. Die besondere Quellenlage des ‚Lob Salomons‘ hat bei einigen älteren Interpretationen scheinbar auch die Beurteilung seines literarischen Anspruchs und seiner literarhistorischen Bedeutung bestimmt: Für JOHN MEIER zeigen sich in der Erzählung „die barocken einfälle und die auf den effect berechnete, die einfachheit aufputzende art der spielmannspoesie“ (MEIER: Studien, S. 95). HEINRICH SCHAMMBERGER charakterisiert den anonymen Autor folgendermaßen: „Man darf ihn also wohl [...] für einen Spielmann halten, der in der Hauptsache den Stoff einer alten jüdischen Sage in leichte Verse faßte“ (SCHAMMBERGER: Gedichte, S. 32). 241 Vgl. SINGER: Salomo, S. 97f. 242 GANZ: Unity, S. 52f. 243 Vgl. SINGER: Salomo, S. 98. 244 Vgl. SCHRÖDER: ‚Lob‘, Sp. 876. 245 Vgl. MENHARDT: Herkunft, S. 424. 246 Vgl. dazu GJ, Bd. 1, S. 174–223.

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Wiener Rabbiner Jizchak Or Sarua (1180–1250) um 1224 wie folgt zusammengefaßt: hrwt t)cy {#m )lh )““ryp#b#w )““#mrwwb#w )““cngmb# wnytwbr lkb#w swnyrb# twlyhqh lk wdswn# {wym wghn)lh l)r#y lkl 247.wnl# twyklmw znk#) jr)

In der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts, also zur Zeit der Abfassung des ‚Lob Salomons‘, wirkte in Mainz eine Reihe bedeutender jüdischer Gelehrter, in deren einflußreichen Schriften der rym#-Stoff an mehreren Stellen Verarbeitung gefunden hat. Meines Erachtens ist damit zumindest die Möglichkeit – und vielleicht auch die wahrscheinliche Möglichkeit – gegeben, daß der anonyme Autor des frühmittelhochdeutschen Gedichts sein erweitertes Wissen um den rym# dem direkten Kontakt des Mainzer Bischofshofs zur jüdischen Gemeinde der Stadt verdanken könnte.248 Mit diesem Beispiel aus der Frühzeit der mittelhochdeutschen Literatur ist die volkssprachliche Rezeption der rym#-Sage jedoch keineswegs beendet. Im Gegensatz zur lateinischen Rezeption, die im Grunde ein beständiges Kopieren der Version der ‚Historia scholastica‘ darstellt, zeigen sich hier im Laufe des 13. und 14. Jahrhunderts unterschiedliche Rezeptionsstränge und -arten. So adaptiert der anonyme Verfasser des nach 1291 entstandenen ‚Reinfried von Braunschweig‘249 den Stoff als Einschuberzählung in seinem Liebes- und Abenteuerroman. Demnach schenkt die Amazonenkönigin Reinfried ein krefterîchez krût (v. 20779) zur Herstellung eines eisenfreien Schiffs, um der vernichtenden Anziehungskraft des Magnetbergs entrinnen zu können. Das Kraut ist nämlich derart beschaffen, das alles, swâ man ez überstrîchen / siht, daz teilet sich enzwei (v. 20788f.). Auf diese Behauptung hin sieht sich der Erzähler des ‚Reinfried von Braunschweig‘ mit einem fiktiven Zuhörereinwand konfrontiert: ‚waz krûtes kan zerbrechen holz und stein, tuoch unde kleit, als uns dîn zunge hât geseit? ez ist ein spelmaere.‘ (v. 20854–20857)

Diesen Einwand entkräftet der Erzähler jetzt durch die Wiedergabe der rym#-Erzählung nach der Fassung, wie sie seit der ‚Historia scholastica‘ (v. 20860–20970) bekannt ist, allerdings mit zwei bedeutsamen Veränderungen: Im Gegensatz zu seiner Quelle der wâren schrifte (v. 20859) nennt 247 Isaak: rw), Bd. 1, Kap. 752/9, S. 218: „Von unseren Lehrern in Mainz, Worms und Speyer ist die Lehre ausgegangen für ganz Israel, und seitdem Gemeinden in den Rheinlanden, in ganz Deutschland und in unseren Königreichen gegründet worden sind, hat man sich dort an ihre Vorschriften gehalten.“ 248 Zu den auch literarisch fruchtbaren Kontakten zwischen Juden und Christen im mittelalterlichen Mainz vgl. DAXELMÜLLER: Emmeram, S. 4–26. 249 Vgl. BARTSCH (Hrsg.): ‚Reinfrid‘.

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der Erzähler keinen Namen für das wundersame Schneidewerkzeug und, was vor allem verwundert, er bezeichnet es als krût – der rym# ist von einem Tier zu einer Pflanze mutiert.250 Der anonyme Verfasser des ‚Reinfried von Braunschweig‘ entscheidet sich also dazu, die Erzählung von Salomos Tempelbau mit den Interpreten des Begriffs rym# in Einklang zu bringen, die wie Hieronymus oder Menachem ben Saruk hinter dem Lexem ein schneidendes Dornenkraut sehen. Man kann dies wie GUNDA DITTRICH als „Reduktion auf das vernunftgemäß Verfügbare“251 bewerten, fest steht jedenfalls, daß der Text durch seine spezifischen Veränderungen eine heilsgeschichtliche oder christologische Deutung stark erschwert,252 wenn nicht gar unmöglich macht. Auch Konrad von Megenberg fügt in sein ‚Buch der Natur‘ (1348– 1350) ein Kapitel ‚Von Salomôns wurm‘ (III,23) ein, das zwar auf den Fassungen des Petrus Comestor und der ‚Gesta Romanorum‘ fußt, darüber hinaus aber noch zusätzliche Informationen liefert: Thamur oder samier haizt Salomôns wurm. dâ von sagt man in der geschrifft, diu scolastica historia haizt, daz Salomôn des tempels stain dâ mit tailt und zeprach und daz ain strauz ain hertez glas dâ mit zeprach, dar umb, daz er sein jungez sträuzel her aus naem. Der wurm der mag unsern herren Jêsum Christum bedäuten, wan unsers herren pluot, daz er vergôz an dem hailigen cräuz, hât sô grôz kraft, daz ez die staineinen herzen erwaicht zuo dem mitleiden unsers herren marter.253

Diese zusätzlichen Informationen entstammen wiederum einer lateinischen Vorlage, nämlich Konrads Hauptquelle, Thomas’ von Cantimpré um 1240 entstandenem ‚Liber de natura rerum‘254. Konrads rym#-Kapitel entspricht dem von Thomas in allen Einzelheiten,255 nur das Ende ist um eindringliche Ermahnungen zur Gottesliebe erweitert, die in dem Ausruf gipfeln: eyâ, kêr wider, mein sêl, kêr wider zuo deinem pesten freund.256 Konrad hat also wohl nicht in direktem Kontakt mit jüdischen Gewährsleuten gestanden, wenngleich sich in seinem Werk Quellenverweise auf ain püechel ains 250 Diese Mutation erklärt RETTELBACH: Studien, Bd. 2/1, S. 74 Anm. 115, als Verständnisfehler beim Übersetzen aus dem Lateinischen: „struthio könnte einmal mißverstanden als struthion, Seifenkraut, aufgefaßt worden sein“. Allerdings fehlt hier, wie auch in der ‚Weltchronik‘ Rudolfs von Ems, wo der rym# das erste Mal in einem deutschen mittelalterlichen Text als Kraut auftaucht, jegliche Erwähnung des Straußen. 251 DITTRICH-ORLOVIUS: Verhältnis, S. 127. 252 Vgl. RIDDER: Aventiureromane, S. 72f. u. 318f.; VÖGEL: Naturkundliches, S. 100f. 253 PFEIFFER (Hrsg.): ‚Buch‘, S. 307. 254 Vgl. BOESE (Hrsg.): ‚Liber’. In unserem Zusammenhang spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle, daß „Konrad von Megenberg seiner Bearbeitung des ‚Liber de natura rerum‘ Handschriften jener Textfassung zugrunde legte, die nicht mehr von Thomas von Cantimpré selbst redigiert wurde“ (HAYER: Konrad, S. 9). Diese Fassung, der sogenannte ‚Thomas III‘, wird von BENEDIKT KONRAD VOLLMANN zur Edition vorbereitet. 255 Vgl. BOESE (Hrsg.): ‚Liber’, IX,44. 256 PFEIFFER (Hrsg.): ‚Buch’, S. 308.

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grôzen maisters in der jüdischait257 finden. Solche Hinweise gehen jedoch ebenfalls bereits auf seine lateinische Vorlage zurück.258 Auch in anderen deutschsprachigen Werken des späteren Mittelalters, die entweder direkt auf lateinische Quellen zurückgehen oder doch sehr grundsätzlich durch solche beeinflußt sind, wird das rym#-Motiv zitiert, wobei hier die christologische Deutung dominiert, die sich zum Beispiel in den ‚Gesta Romanorum‘ findet. So dient das Motiv im ‚Renner‘259 des Bamberger rector scolarum Hugo von Trimberg, das spätestens 1313 vollendet vorlag, zur Herausstreichung der sündenlösenden Kraft des Bluts, das Jesus am Kreuz vergoß:260 Des wurmes bluot, mit dem vil schôn Der wîse künic Salomôn Des tempels marmelsteine spielt Und von einem strûze den sin behielt, Der mit dem bluote ein glas zebrach, In dem er sîne jungen sach Gevangen: des wurmes bluot besunder Hât grôze kraft und michel wunder: Waz krefte hât denne daz reine bluot Des herren, der alliu wunder tuot Und durch uns sünder leit den tôt, Der müeze uns helfen ûz aller nôt? (v. 18901–18912)

In der deutschen Bearbeitung des ‚Speculum humanae salvationis‘ des Bischofszeller Chorherrn Konrad von Helmsdorf,261 die vermutlich aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts stammt, präfiguriert die besondere Kraft des rym# hingegen Jesu Erlösung der in der Hölle schmachtenden Erzväter: Das Jhesus diser helle gluot Lasst und brach mit sinem bluot, Das was hievor bezaichnet schon Byainem struss, den Salomon Sin kind verwúrket inain glas. Und do es do dar inne was, Do flog der alt struss ze hand Da er bald ainen wurme fand Und baiss, bis es ward so nass Von bluot, und straich das an das glas. Des spielt sich do das glas geschwind, Da mit so ward er loesst sin kind. (v. 2455–2466) 257 258 259 260 261

PFEIFFER (Hrsg.): ‚Buch’, S. 469. Vgl. BOESE (Hrsg.): ‚Liber’, XIV,70: libellus cuiusdam philosophi Iudeorum. Vgl. EHRISMANN (Hrsg.): ‚Renner‘. Vgl. dazu auch OHLY: Diamant, S. 139. Vgl. LINDQVIST (Hrsg.): Konrad.

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Besonders beliebt und erfolgreich war der rym#-Stoff schließlich noch in einer weiteren Gattung der deutschsprachigen, christlichen Literatur, nämlich in den gereimten Weltchroniken. Schon Rudolf von Ems erwähnt das Motiv, tut es in seiner um 1240/50 entstandenen ‚Weltchronik‘ aber noch in sechs Versen kurz ab, wenn er die Tätigkeit der Bauleute am salomonischen Tempel wie folgt beschreibt: si namen einis wurmis bluot, der hiez Tamur, als ich ez las. ein krut ouh sus genennit was: des saph mischten si darin und bestrichin her und hin die steine und besniten si zehant (v. 32596–32601).

Bereits bei Rudolf haben sich also, ähnlich wie später im ‚Reinfried von Braunschweig‘, die Interpretationen des rym# als Tier und als Pflanze vermischt, doch bietet er in seiner knappen Darstellung kein eigenes Deutungsangebot. Dagegen nimmt das Geschehen in der zwanzig bis dreißig Jahre jüngeren ‚Weltchronik‘ Jans’ von Wien immerhin fast zweihundert Verse ein (v. 12031–12206) – und dies ist bei weitem nicht die einzige Stelle dieses Werks, an der originär jüdisches Traditionsgut verarbeitet worden ist.262 Hinweise darauf, daß Jans seine Kenntnis des Motivs unter anderem seinem direkten Kontakt mit Wiener Juden verdanken könnte, liefert – wie bereits zuvor kurz ausgeführt – auch seine Behandlung der rym#-Erzählung:263 Er nennt für den Wurm nicht nur, nâch der geschrift der pfafheit (v. 12073), den seit Petrus Comestor bekannten Namen Tantyr (v. 12075), sondern explizit auch noch eine abweichende Bezeichnung: daz widersagent di juden gar: si sprechent, diser nam sî wâr, wan er den juden niht ist swaer: si heizent in Zomêr. (v. 12077–12080)

Daß diese Bemerkung durchaus wörtlich verstanden und als ein Beweis für einen unmittelbaren Kontakt Jans’ mit jüdischen Gewährsleuten bewertet werden kann, verdeutlicht die Form Zomêr. Mit ihrem o-Laut in der ersten Silbe entspricht sie der aschkenasischen Aussprache des hebräischen Lexems ryimf$: schomir. Im weiteren Verlauf der Erzählung bevorzugt Jans übrigens die jüdische Bezeichnung Zomêr gegenüber dem von christlichen Autoritäten vertretenen Tantyr (v. 12151). Seine Gesamtdarstellung gewichtet jedoch völlig anders als alle bisher erwähnten hebräischen und lateinischen Quellen: Zunächst erteilt ein Engel Salomo im 262 Vgl. dazu GEITH: Enikel, Sp. 567, und die Auflistung solcher Stellen bei STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. LXVIII. 263 Vgl. dazu auch DUNPHY: wunder, S. 226f.

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Traum den Auftrag, den Tempel Davids zu vollenden, ohne eiserne Gerätschaften zu verwenden (v. 12031–12057). Salomo sinnt einen Monat lang über die Lösung dieses Paradox nach, bis ihm eines nachts aufgrund seiner Weisheit wie von selbst der rym# einfällt (v. 12058–12070). Er schickt nach seinen Ratgebern, doch niemand weiß eine Antwort auf die Frage, wie der Bau ohne eiserne Geräte zu bewältigen ist (v. 12091– 12147). Schließlich sendet Salomo Boten in die weitentfernten Länder, swâ man den wurm vant (v. 12150), und verspricht jedem, der einen rym# zu ihm bringt, zwelf pfunt guldîner pfenning (v. 12154). Daraufhin bringen zahlreiche Menschen eine Vielzahl von rym#-Exemplaren nach Jerusalem (v. 12148– 12160). Salomo läßt die Würmer zerschneiden, das Blut in Glasgefäße füllen und mit Federn von den Bauleuten auf die Steine zum Tempelbau streichen, die dadurch geteilt werden (v. 12161–12206). In ähnlicher Form erscheint Salomos Wunderwurm in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts schließlich auch in der unter dem Namen Heinrichs von München bekannten ‚Weltchronik‘264. Wieder fällt die Angabe einer direkten Vorlage äußerst schwer. Zwar entspricht diese Version der ‚Historia scholastica‘ dadurch, daß sie „einen Strauß als beteiligten Vogel nennt und ebenfalls die Aschmodei-Vorgeschichte wegläßt“265, doch macht eine Reihe von Divergenzen eine direkte Abhängigkeit wiederum unmöglich.266 Letztlich liegt hier wohl eine Kontamination von Material der ‚Erweiterten Christherre-Chronik‘ und der Weltchroniken Rudolfs von Ems und Jans’ von Wien vor,267 denn wiederum taucht der rym# als eine Kombination von Tier und Pflanze auf: Do huob er sich vnd flog auz, vnd pracht do zehant der selb strauz Einen wurem, der hiez Thamyr, alz ich ez laz, vnd ein chraut, daz auch also genant waz (v. 75–78).

Es zeigt sich also, daß der rym#-Stoff im europäischen Mittelalter überproportional häufig in nichtjüdischer Literatur verarbeitet worden ist, ansonsten aber meines Erachtens eine durchaus paradigmatische Behandlung einer jüdischen Erzählung in christlichen Texten erfahren hat. Wie am Beispiel des ‚Lob Salomons‘ gezeigt, kann ein Blick auf die hebräische exegetische Literatur der aschkenasischen Rabbinen des Hochmittelalters nähere Aufklärung über mögliche Quellenbezüge bieten. Über diese mehr oder minder klassisch-heuristische Arbeit hinaus liefert das Konzept des 264 265 266 267

Vgl. RETTELBACH: Studien, Bd. 2/2, S. 23–25. RETTELBACH: Studien, Bd. 2/1, S. 74. Vgl. RETTELBACH: Studien, Bd. 2/1, S. 74; GICHTEL: ‚Weltchronik‘, S. 362f. Vgl. RETTELBACH: Studien, Bd. 2/1, S. 73.

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Kulturtransfers jedoch zudem Möglichkeiten zum Verständnis der spezifischen Funktionen des rym#-Stoffs in christlicher Literatur des Mittelalters. 2.2. Formen der Kontextualisierung eines jüdischen Motivs in christlicher Überlieferung Man sollte die zuvor beschriebenen, verschiedenen Stufen der christlichen Motivrezeption nun nicht als einen beständig fortschreitenden Prozeß der Quellen- und Textkorrumpierung lesen, wie es vor allem Vertreter der historischen Motiv- und Erzählforschung getan haben.268 Meines Erachtens zeigen sich am Beispiel des rym# die veränderten Bedeutungen, die dem hebräischen Lexem und dem jüdischen Motiv in den Literaturen der rezipierenden Kultur zukommen konnten. Dabei fallen deutliche Unterschiede zwischen drei verschiedenartigen Formen der Kontextualisierung ins Auge, deren Differenzen aus dem jeweiligen Interesse der am Kulturtransfer beteiligten christlichen Autoren resultieren. Die erste Möglichkeit wird durch Hieronymus und Hrabanus Maurus repräsentiert: beide nutzen ihr Wissen um die Bedeutung des hebräischen Lexems rym# zur Übersetzung schwieriger Textpassagen der hebräischen Bibel. Ihre Übersetzungsvorschläge „Dornstrauch“ bzw. „Diamant“ sind im Grunde rein diesseitiger Natur, sie übertragen einen problematischen fremdsprachigen Begriff für etwas Unbeseeltes, Hartes und Scharfes in adäquate, handfeste Naturvorstellungen des spätantiken und frühmittelalterlichen Christentums. Man könnte ihr Interesse also als „sprachlich-naturwissenschaftlich“ beschreiben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, auf die ich gleich noch zu sprechen komme, ist diese Form der Kontextualisierung des Begriffs rym# in christlichen Texten auf die Ebene der lateinischsprachigen Literatur beschränkt geblieben. In einem weiteren, umfangreicheren Teil der zitierten Quellen wird dagegen nicht mehr auf diesseitige, sondern auf mirakulöse Bedeutungsvarietäten des Begriffs rym# zurückgegriffen. Dabei lassen sich wiederum zwei sehr unterschiedliche Kontextualisierungsformen ausmachen, deren Interesse „typologischer“ bzw. „literarischer“ Art ist. Im ersteren Fall wird das ursprünglich fremde Motiv des Wunderwurms ausschließlich unter Bezug auf die erste christliche Ausgangsquelle – die Fassung der ‚Historia scholastica‘ – rezipiert und, bis hin zu einer 268 Vgl. z.B. GRIMM/GRIMM: Sage, S. 89–95; DIEMER: Gedichte, S. 43; LIEBRECHT (Hrsg.): ‚Otia’, S. 158f.; MSD, Bd. 2, S. 225.

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christologischen Interpretation, weiter ausformuliert. Meines Erachtens könnte man diese Form der Einpassung des Stoffs in einen neuen Kontext auch mit dem Terminus der „Dekontextualisierung“ beschreiben: die Erzählung wird aus ihrem originären Erzählzusammenhang entfernt und in einen gänzlich neuen Zusammenhang integriert. Der Ursprungskontext des rym#-Stoffs ist die homiletische Ausgestaltung des biblischen Berichts über Salomos Tempelbau in den autoritativen Quellen des spätantiken Judentums. Der neue Kontext, in den die christlichen Bearbeiter das Motiv integrieren, ist die Christologie. Der Tempelbau, wenn er denn überhaupt noch erwähnt wird, dient nurmehr als ekklesiologische Präfiguration, und der Wunderwurm selbst wird zu einer „der wenigen außerbiblischen Präfigurationen Christi“269. Das ursprünglich fremde Motiv wird damit aller Kennzeichen seiner Ausgangskultur entkleidet und zu einem immanenten Bestandteil der adaptierenden Kultur. Diese Kontextualisierungsform repräsentieren vor allem zahlreiche gelehrte lateinische Quellen, aber auch einige volkssprachige Texte greifen diese Möglichkeit auf. Diese Texte stehen zumeist in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu lateinischen Vorlagen, wie zum Beispiel Konrads von Megenberg ‚Buch der Natur‘ zum ‚Liber de natura rerum‘ Thomas’ von Cantimpré. Diese Form der Kontextualisierung – und somit die Kenntnis des rym#-Motivs bei christlichen Autoren und Rezipienten – scheint im Hoch- und Spätmittelalter recht verbreitet gewesen zu sein. Dies zeigen lateinische wie deutschsprachige Beispiele, in denen der Stoff nur noch kurz angerissen werden muß, um beim entsprechenden Publikum in Erinnerung gerufen zu werden, wie in einer Predigt des Garnerius von Rochefort, im ‚Renner‘ Hugos von Trimberg und in Konrads von Helmsdorf ‚Spiegel des menschlichen Heils‘. Daß Texte, die das rym#-Motiv typologisch kontextualisieren, immer direkt oder indirekt auf die erste christliche Ausformulierung des Motivs zurückgreifen, bedeutet keineswegs, daß es nicht auch Beispiele einer Aktualisierung oder Konkretisierung der Erzählung gibt. So untermauert Gervasius von Tilbury die Glaubwürdigkeit seines Berichts über den rym# durch den Hinweis, daß in seiner Jugend unter Papst Alexander III. (1159–1181) in Rom eine Phiole gefunden worden sei, in der sich eine Flüssigkeit befunden habe, die jeden Stein schneiden und modellieren konnte.270 Soweit also die christliche Adaptationsform, die ich als typologische Kontextualisierung beschreiben möchte. Im Falle der literarischen Kontextualisierung bedient der rym# dagegen Intentionen, die über die Strategie der typologischen Kontextualisierung hinausreichen. Diese Texte implizieren zum Teil den direkten Zugriff auf jüdische Quellen und jüdische 269 RETTELBACH: Studien, Bd. 2/1, S. 74. 270 LIEBRECHT (Hrsg.): ‚Otia’, S. 48f.

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Vermittler, also einen Weg, der an den vorhandenen christlichen Quellenfassungen vorbei bzw. über diese hinaus geht. Der Rekurs auf die Ausgangskultur, die Hervorhebung der ursprünglichen Fremdheit des Motivs, wird hier im Gegensatz zur typologischen Kontextualisierung teilweise bewußt gesucht, um die literarische Faszinationskraft des eigenen Textes zu steigern. Dabei kann der rym# sowohl in einem nachklassischen minneRoman wie dem ‚Reinfried von Braunschweig‘ erscheinen als auch in den großen Weltchroniken des 13. und 14. Jahrhunderts. Jedenfalls wird in allen diesen Texten das fremde Motiv in seinem ursprünglichen Erzählzusammenhang kontextualisiert: Den narrativen Rahmen bildet stets der salomonische Tempelbau, wobei die konkrete Ausgestaltung nichtsdestoweniger differieren kann. Einige Texte greifen auf die Vorstellung zurück, der rym# sei ein Kraut (z.B. der ‚Reinfried von Braunschweig‘). Andere nutzen die Vorstellung vom wunderbaren Wurm (z.B. Jans von Wien). Wieder andere kombinieren diese beiden Möglichkeiten (z.B. Rudolf von Ems und Heinrich von München). Als besonders offen für diese Kontextualisierungsstrategie zeigt sich somit die volkssprachige Weltchronistik. Warum unter allen mittelalterlichen Textgattungen gerade diese sich als so empfänglich für Erzählgut nichtchristlicher Provenienz zeigt, muß noch geklärt werden. Jüdische Stoffe werden vor allem für den alttestamentlichen Teil aufgegriffen: vermutlich hat der gemeinsame Bezug auf die gleiche Ausgangsquelle den interkulturellen Austausch begünstigt, ja nahegelegt, zumal die Weltchroniken vor der Entstehung vollständiger deutscher Bibelübersetzungen im 15. Jahrhundert den christlichen Laien auch als Bibelersatz dienten. Vielleicht liegt hierin auch einer der Gründe dafür, daß – wie bereits weiter oben bemerkt – Chronistik im Mittelalter eher eine christliche als eine jüdische Textgattung darstellt. Dabei muß ebenfalls noch einmal betont werden, daß Jans’ reiche Kenntnis jüdischer Erzählvarianten mit dem Kontakt erklärt werden kann, „in dem er [...] mit der Wiener jüdischen bevölkerung gestanden haben mag“271. Immerhin besaß Wien die „bedeutendste Judengemeinde in der Passauer Diözese“272, deren Mitglieder vor allem „mit Klöstern und Vertretern der Spitzenschicht“273 in geschäftlicher – und damit in direkter – Verbindung standen. Zwar reicht die jüdische Ansiedlung in Wien nicht vor den Beginn des 13. Jahrhunderts zurück, doch bereits fünf Jahrzehnte später hatte sich die Gemeinde auch intellektuell so weit etabliert, daß der Rabbiner Abigdor ben Elia Hakohen ein Lehrhaus führen konnte.274 Hin271 272 273 274

STRAUCH (Hrsg.): Werke, S. LXVIII; vgl. auch DUNPHY: wunder, S. 226; KUGLER: Jans, S. 224f. KNAPP: Literatur, S. 358. LOHRMANN: Juden, S. 110. Vgl. SPITZER: Bne, S.163f.

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reichend vorgebildete Gesprächspartner konnte Jans unter den Juden seiner Heimatstadt also durchaus finden. Engeren Kontakt zwischen Juden und Christen ermöglichte in diesem Fall vielleicht auch eine strukturell ähnliche soziale Verortung: Jans’ Stand als Ritterbürger entsprach der gesellschaftlichen Rolle der führenden, mit Geldgeschäften befaßten jüdischen Familien in Wien, die wie ihre christlichen Zeitgenossen eine oligarchische Spitzenschicht bildeten, die das Rückgrat der jeweiligen Gemeinde darstellte.275 Daß gerade Vertreter städtischer jüdischer Oligarchien seit dem Hochmittelalter ein veritables Interesse an der Partizipation an der koterritorialen höfischen Kultur hegen konnten, verdeutlicht der bereits erwähnte Fund von Fresken mit Motiven aus der Minnelyrik in einem Haus, das sich bis zur Ermordung und Vertreibung der Zürcher Juden im Jahre 1349 in jüdischem Besitz befunden hatte.276 So ist es nicht übertrieben, wenn FRITZ PETER KNAPP darauf hingewiesen hat, daß Jans von Wien „als herausragender Zeuge des jüdisch-deutschen Kulturtransfers viel größere Aufmerksamkeit verdienen [würde], als ihm bisher zuteil wurde“277. Bei ihm ist die literarische Kontextualisierung der rym#-Erzählung am stärksten von den Polen Identifikation und Distanz geprägt:278 Im Zitat des Motivs macht er sich das Zitierte zu eigen, doch gleichzeitig spricht er das Zitierte in der Namensform Zomêr mit fremder Zunge. Bei allen unterschiedlichen und voneinander abweichenden Kontextualisierungsformen des rym#-Stoffs in christlicher Überlieferung fällt ein Aspekt deutlich auf: Im Falle der lateinischen Texte finden wir Autoren aus den verschiedensten europäischen Völkern, im Falle der volkssprachigen Texte dominiert eindeutig der deutsche Sprachraum. Ein Versuch, diese Dominanz zumindest thesenhaft zu erläutern, bildet den Abschluß dieser Überlegungen, der damit zugleich an bereits weiter oben ausführlicher dargestellte Zusammenhänge anknüpft. Die Möglichkeit des Kulturtransfers zwischen Juden und Christen im Mittelalter wird ursächlich durch zwei Determinanten bestimmt: Es muß ein Raum vorhanden sein, in dem Vertreter beider Gruppen miteinander in Kontakt treten können, und es muß eine Kommunikationsmöglichkeit existieren, auf die beide Seiten für ihren Austausch zurückgreifen können, eine gemeinsame Sprache. Das deutsche Mittelalter hält diese Determinanten in geradezu exemplarischer Weise bereit. Der deutsche Sprachraum entwickelte sich für das mitteleuropäische Judentum seit dem 10. Jahrhundert zu einem eigenen Referenzpunkt na275 276 277 278

Vgl. LOHRMANN: Juden, S. 106. Vgl. dazu GERHARDT: Zürich, S. 103–110; WENZEL: Fund, S. 417–426. KNAPP: Literatur, S. 245. Vgl. zu diesen Charakteristika des Zitierens EBACH: Zitat, S. 27f.

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mens znk#) „Aschkenas“279. Von dort empfing dieser Teil der Judenheit wesentliche Prägungen: Es entwickelten sich eine spezifische Gottesdienstordnung, spezifische Bräuche, eine spezifische, zum Teil von der Volkssprache der nichtjüdischen Majorität geprägte Aussprache des Hebräischen und schließlich eine dem Deutschen nahverwandte indoeuropäische Sprache, das Jiddische. Das aschkenasische Judentum formierte sich mithin unter beständigem Rückbezug auf seinen speziellen geographischen Ort innerhalb der jüdischen Diaspora. Zugleich bildete Aschkenas neben der iberischen Halbinsel in dieser Epoche ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit. Daß dem deutschen Sprachraum eine solche Bedeutung für die Entwicklung und Geschichte des mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Judentums zukommen konnte, hängt selbstredend auch mit außerjüdischen Prozessen zusammen. Vor allem die Tatsache, daß seit der Mitte des 13. Jahrhunderts die übrigen westeuropäischen Länder sukzessive den Juden das Ansiedlungsrecht entzogen, spielt hier eine wichtige Rolle. Das soeben umrissene Bild vom deutschen Mittelalter als Kontaktzone zwischen Juden und Christen wird in der Forschung unter Hinweis auf die zahlreichen zwischen den beiden Gruppen vorhandenen Spannungen des öfteren negiert.280 Tatsächlich existierte mit den Juden Europas ja neben der christlichen Majorität im gleichen geographischen Raum eine Minorität, die in weiten Teilen des Kerngebiets der lateinischen Christenheit zugleich die einzige kulturell-religiöse Minderheitengruppe überhaupt darstellte. Die Fremdheit des Anderen, die doch nach THOMAS MACHO „ein unverzichtbares Apriori der Gruppenkonstitution und der intersubjektiven Definition kollektiver Realität“281 darstellt, wurde somit für beide Seiten problematisch: Die einen erschienen den anderen als das kulturell Fremde, das doch zugleich das topographisch Eigene war.282 Der drohende Verlust der kulturellen Eindeutigkeit und die Furcht vor einer Kette allmählicher Übergänge, die vom äußeren Feind zum inneren Feind, seinem Komplizen, sozusagen seiner Emanation führten, beschwor auf beiden Seiten Abwehrreaktionen herauf, die sich vor allem auf dem Gebiet des

279 Die Bezeichnung ist – wie bereits weiter oben ausführlich dargelegt – biblischen Ursprungs, sie entstammt der Völkertafel der Genesis. Das Siedlungsgebiet des unter den Söhnen Gomers aufgeführten Aschkenas (Gen. 10,3; Vulgata Ascenez) wird bereits in den aramäischen Bibelübertragungen der ersten Jahrhunderte mit )ynmrg (garmanja) identifiziert, vgl. Targum Jonatan und Targum Jeruschalmi zu Gen. 10,2; vgl. auch bJoma 10a, jMegilla I 71b. 280 Vgl. dazu aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive TOCH: Juden, S. 120–122. 281 MACHO: Todesmetaphern, S. 287. 282 Diese spezifische Problematik ist keineswegs auf das Mittelalter und die Frühe Neuzeit beschränkt geblieben, vgl. dazu WEIGEL: „Frauen“, S. 333–351.

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theologisch fundierten Rechts niederschlugen.283 Allein die nachdrückliche Regelmäßigkeit, mit der sich die geistlichen Autoritäten beider Seiten dazu veranlaßt sahen, solcherlei Verbote auszusprechen, spricht bereits dafür, daß in der Lebensrealität interkulturelle Kontakte der einen oder anderen Art wesentlich häufiger waren, als man gemeinhin anzunehmen bereit ist. Die weit verbreitete Vorstellung von einer vor der Epoche der europäischen Aufklärung streng eingehaltenen Scheidung zwischen jüdischer und christlicher Alltagswelt hängt meines Erachtens ursächlich mit der Perspektive des modernen Betrachters zusammen, der auf eine lang vergangene Epoche quasi durch ein Prisma der Verfolgungsgeschichte blickt. Diese schier endlos erscheinende Geschichte der Verfolgung verdunkelt zumeist den Blick der heutigen Interpreten für die Spuren des Kulturtransfers zwischen Juden und Christen während der Jahrhunderte des Hoch- und Spätmittelalters, die sich vor allem in der deutschsprachigen Literatur finden lassen. In beiden an diesem Transfer beteiligten kulturellen Gruppen existierten gleichgeartete sprachliche Dichotomien: Latein und Hebräisch als jeweilige Sprache der Gebildeten, die nur innerhalb der jeweiligen Gruppe wirken konnten und somit Kontaktbarrieren bildeten, und die Volkssprache als hauptsächliches Mittel des Kulturtransfers, sozusagen die lingua franca, die Juden und Christen verbinden konnte. Ein Produkt dieses Transfers ist die vielschichtige Adaptationsgeschichte des rym#-Motivs in christlichen Quellen des hohen und späten Mittelalters. Die einzelnen Stufen bilden eine an vielen Stellen unterbrochene und die Richtung wechselnde Treppe, jede einzelne von ihnen repräsentiert ein dialektisches Bild, in dem das Vergangene gleichsam momentan und schlaglichtartig aufblitzt.284 Sie sind Teile eines historischen Kaleidoskops, eines bruchstückhaften Mosaiks christlicher Auseinandersetzung mit den Traditionen der jüdischen Kultur im europäischen Mittelalter. Sie liefern damit zugleich Bausteine einer mediävistischen Kulturwissenschaft, die HANS-WERNER GOETZ beschrieben hat als „breit konzipierte Erforschung menschlicher Existenz, menschlichen Lebens, Denkens und Fühlens, der Sprachlichkeit und Verständigung im Mittelalter, des sozialen Umgangs miteinander, in all seiner – ‚multikulturellen‘ – Differenzierung“285. 283 Sei es in den kanonistischen Regelungen des vierten Laterankonzils 1215, die die Erkennbarkeit der fremden Minorität unter anderem durch äußerlich sichtbare Kennzeichen abzusichern suchten, vgl. ARREG, Nr. 395. Oder sei es in den wiederholten rabbinischen Verboten des Genusses von Wein, der von Nichtjuden hergestellt worden war, vgl. dazu EISENSTEIN: rcw), S. 168f. Beide Regelungen dienen vorrangig dazu, die sozialen Kontakte zwischen den beiden Gruppen möglichst zu beschränken. 284 Vgl. dazu BENJAMIN: Begriff, S. 691–704. 285 GOETZ: Kulturwissenschaft, S. 9.

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C.III. Polemische Literatur und die Anfänge der christlichen Talmudübersetzung Ein Ort des polemischen kulturellen Kontakts findet sich vor allem in den zahlreichen religiösen Disputationen, die während des gesamten Mittelalters den Juden Europas zwangsweise von der christlichen Kirche auferlegt wurden. Ihre Tradition reicht bis in die Antike zurück – die erste fand wohl schon zwischen 156 und 161 statt –, doch Konjunktur hatten jüdischchristliche Religionsdispute vor allem während des Hoch- und Spätmittelalters. Eine der berühmtesten Disputationen des 13. Jahrhunderts war die von 1263 in Barcelona, in der einer der bedeutendsten jüdischen Bibelkommentatoren des Mittelalters, Nachmanides (1194–1270), der Hauptvertreter der jüdischen Seite war. Die Disputationen späterer Jahrhunderte, deren Abhaltung vor allem vom Dominikanerorden gefördert und durchgeführt wurde, hatten zumeist eher den Charakter christlicher Zwangspredigten als von Diskussionen zweier gleichberechtigter Partner. 1. Die Dialogliteratur vor Beginn der christlichen Talmudübersetzungen Diese Art der interkulturellen Polemik hat neben realen jüdisch-christlichen Begegnungen auch zur Ausbildung einer breiten literarischen Tradition geführt, die schon um ca. 500 mit der ‚Altercatio Simonis Iudaei et Theophili Christiani‘286 einsetzt. Die überwiegende Mehrzahl dieser fiktiven Religionsdisputationen, die im 15. Jahrhundert sogar in der Form des Fastnachtspiels auftreten können,287 zielt auf den Beweis christlicher Zentraldogmen wie Jungfrauengeburt oder Jesu Göttlichkeit aus alttestamentlichen Schriftstellen – die jüdischen Gegner sollen sozusagen mit ihren eigenen Waffen geschlagen und von der Richtigkeit des christlichen Glaubens überzeugt werden –, doch gibt es auch hier Ausnahmen. Zwei nahezu zeitgleich entstandene Werke versuchen, die Wahrheit ihrer jeweiligen Religion in einem fiktiven Gespräch zu erweisen, indem den Gegenseiten nichtsdestoweniger Gelegenheit gegeben wird, ihre Positionen objektiv darzustellen: Judas ben Samuel ha-Levi (1085–1140) yrzwkh rps288 (‚Buch des Chazaren’) und Petrus Abaelards (1079–1142) ‚Dialogus inter Philosophum, Iudaeum et Christianum‘289.

286 287 288 289

Vgl. VON HARNACK (Hrsg.): ‚Altercatio‘. Vgl. VON KELLER (Hrsg.): Fastnachtspiele, Bd. 1, Nr. 1, S. 1–33. Vgl. CASSEL (Hrsg.): Jehuda. Vgl. THOMAS (Hrsg.): Petrus.

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Klassische Vertreter eines polemisch-antijüdischen, christlich-theologischen Diskurses finden wir unter anderen in den beiden Lyoner Erzbischöfen Agobard (769–840) und Amulo (gest. 852). Beide polemisierten gegen jüdischen Einfluß und Irrglauben:290 Agobard widmete allein fünf der insgesamt 18 sicher von ihm stammenden Briefe diesen Themen291 und sein Nachfolger Amulo verfaßte eine entsprechende Streitschrift.292 Das Judenbild, das die beiden christlichen Kleriker in ihren Texten entwerfen, entspricht den traditionellen antijüdischen Grundsätzen christlicher Theologie, die Agobard in Aussagen zusammenfaßt wie: non solum mendaces, sed et Antichristos esse Iudeos, qui, cum negent Filium, frustra confitentur Patrem,293 oder: inimici sunt ueritatis, super omnes infideles, incredulos uel hereticos detestandi sunt Iudei, quia nullum genus hominum inuenitur, cui ita libeat maledicere Dominum.294 Vor allem in seinen Schriften werden jedoch darüber hinaus, gerade durch das Ziel der polemischen Abgrenzung, sowohl recht eingehende Kenntnisse des Alltags seiner jüdischen Zeitgenossen als auch enge soziale Kontakte zwischen Juden und Christen deutlich. So beschwert er sich in einem Brief an Ludwig den Frommen aus den Jahren 826/827 unter anderem wie folgt über den Lebenswandel der Juden: Haec passi sumus a fautoribus Iudeorum, non ob aliud, nisi quia praedicauimus christianis [...], ne femine christiane cum eis sabbatizarent, et ne diebus dominicis operarentur, ne diebus xlme cum eis pranderent, et mercennarii eorum isdem diebus carnes manducarent, ne quilibet christianus carnes a Iudeis immolatas et deglubatas emeret et aliis christianis uenderet, ne uinum illorum biberent, et alia huiusmodi. Est enim Iudeorum usus, ut, quando quodlibet pecus ad esum mactant, [...] hec tamquam inmunda a Iudeis repudiata christianis uendantur, et insulta290 Neben den beiden Bischöfen trat im Lyon der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts zudem ein Diakon namens Florus (gest. um 860) schriftstellerisch gegen die Juden auf: der Text von ‚De fugiendis contagiis Iudeorum‘ ist ediert bei BLUMENKRANZ (Hrsg.): Compilations, S. 227–254; vgl. dazu SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 1, S. 130. Über das Verhältnis zwischen Florus und den Bischöfen, denen er als Sekretär diente, in bezug auf ihre jeweiligen antijüdischen Schriften haben BLUMENKRANZ: Compilations, S. 563f., und CHARLIER: Manuscrits, S. 80, die These aufgestellt, im Diakon den eigentlichen Verfasser der wesentlichen Texte zu sehen, ihm also über seinen eigenen Traktat ‚De fugiendis contagiis Iudeorum‘ hinaus auch Agobards ‚De Iudaicis superstitionibus et erroribus‘ und Amulos ‚Epistola seu liber contra Judaeos‘ zuzuschreiben. Dieser Ansicht sind zuerst BOSHOF: Erzbischof, S. 138, und darauf aufbauend ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, S. XIVf., entschieden entgegengetreten, die dafür argumentieren, daß Florus’ Text durch die Schriften Agobards und Amulos inspiriert worden ist und nicht umgekehrt. 291 Vgl. ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 6, 10–12 u. 14, S. 113–117, 183–221 u. 229–234; DÜMMLER (Hrsg): Agobardi ‚Epistolae‘, Nr. 4 u. 6–9, S. 164–166 u. 182–201; vgl. auch SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 1, S. 142; BOSHOF: Erzbischof, S. 102f.; WILLIAMS: Adversus Judaeos, S. 348–357; ARREG, Nr. 84–97. 292 Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 141–184; vgl. auch SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 1, S. 144; WILLIAMS: Adversus Judaeos, S. 358–365; ARREG, Nr. 105–110. 293 ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 214. 294 ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 205.

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rio uocabulo christiana pecora appellentur. De humore uero, quod et ipsi inmundum fatentur, et non eo utuntur, nisi ad uendendum christianis, si contigerit, ut in terram defluat quolibet loco licet sordido, festinantes auriunt iterum de terra et ad conseruandum in uasa remittunt. Qualiter uero et alia improbanda circa illud agant, non solum de christianis, sed et de Iudeis multi sunt testes. Quod autem Dominum nostrum Iesum Christum et christianos in omnibus orationibus suis sub Nazarenorum nomine cotidie maledicant, non solum beatus Hieronimus [...] testis est, sed et de ipsis Iudeis plerique testantur.295

Bereits in der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts haben wir mit Agobards Brief einen ‚Adversus Judaeos‘-Text vor uns, der wesentliche Beschuldigungen enthält, die späterhin zum Standardrepertoire lateinischer und volkssprachiger judenfeindlicher Schriften gehören und die uns daher im Laufe unserer Spurensuche auch noch häufiger begegnen werden. Sein christlicher Verfasser zeigt sich vertraut mit einer Reihe ritueller jüdischer Vorschriften, auf denen er seine Argumentation aufbaut, namentlich mit dem Verbot des Genusses der hinteren Körperteile des Großviehs und nichtjüdischen Weins. Die erstgenannte Vorschrift leitet sich von dem biblischen Verbot ab, den nervus ischiaticus des Schlachtviehs zu verzehren (Gen 32,33). Da die Prozedur der Entfernung dieses Sehnenstrangs äußerst kompliziert ist, hatte es sich schon in talmudischer Zeit unter den Juden eingebürgert, den gesamten hinteren Körperteil des Viehs nicht zu verzehren, sondern an Nichtjuden zu verkaufen.296 Agobards Äußerungen über den Wein der Juden hängen dagegen mit dem talmudischen Verbot von }yy {+s („allgemeinem Wein“) zusammen, das nach bAwoda Sara 29b und 36b aus dem Verbot von ßsn }yy („geweihtem Wein“) abgeleitet ist und eigentlich nicht nur den Genuß, sondern auch den Profit an beiden Weinsorten untersagt (h(nh rws)).297 Grund für dieses Verbot war zunächst die Fernhaltung vom Götzendienst, mittelalterliche Autoritäten wie Maimonides (1135–1204) in seinem twwcmh rps (‚Buch der Gebote‘) fügten dem noch die Vermeidung von Geschlechtsverkehr mit Nichtjuden 295 ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 11, S. 192f. 296 Vgl. dazu mChullin VII; CHAVEL (Hrsg.): Commandments, Bd. 2, Nr. 183, S. 180f.; EISENSTEIN: rcw), S. 73f. Diese Vorschrift hat im weiteren Verlauf des deutschen Mittelalters des öfteren Niederschlag in christlichen Texten gefunden, so enthält z.B. das Privileg, das Bischof Rüdiger von Speyer 1084 der neugegründeten jüdischen Gemeinde erteilte, folgenden Passus: Carnes mactatas, quas viderint sibi illicitas secundum legis sue sanctionem, licite vendant christianis, licite emant eas christiani (ARREG, Nr. 168, S. 70). Insbesondere im Spätmittelalter war diese Regelung häufiger Anlaß zu Streitigkeiten zwischen jüdischen und christlichen Metzgern, wie z.B. die Mainzer Ratsprotokolle des 15. Jahrhunderts zeigen, in denen das von Juden an Christen verkaufte Fleisch als boses fleisch bezeichnet wird, vgl. MENCZEL: Beiträge, S. 50. Eventuell ist auch wîhfleisch, das im ‚Kleinen Lucidarius‘ (II, v. 1072) erscheint und das BMZ, Bd. 3, S. 340, sowie LEXER, Bd. 3, Sp. 818 nur mit „geweihtes Fleisch“ übersetzen, eine christliche Bezeichnung für das Fleisch geschächteter Tiere, da den weiteren Kontext der Stelle die Judenpolemik des Autors bildet. 297 Vgl. dazu EISENSTEIN: rcw), S. 168f.

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hinzu.298 Die Behauptung schließlich, die Juden verfluchten in allen ihren Gebeten Jesus und die Christen, wird, wie Agobard selbst schreibt, durch die Autorität des Kirchenvaters Hieronymus (350–420) beglaubigt, der genau dieses in seinem Jesaja-Kommentar XIV,lii,4 geschrieben hatte:299 in synagogis uestris, qui diebus ac noctibus blasphemant Saluatorem, et sub nomine, ut saepe dixi, Nazarenorum, ter in die in Christianos congerunt maledicta. Abgesehen von dem zuletzt genannten Punkt, den Agobard aus christlich-theologischer Traditionsliteratur gekannt haben dürfte und dessen vermeintliche Bestätigung durch jüdische Zeugen wohl nur der Absicht größerer Nachdrücklichkeit geschuldet ist, sind die anderen von ihm angeführten Beschuldigungen zugleich ein Hinweis auf seine eigenen Kenntnisse des religiös fundierten Alltags seiner jüdischen Zeitgenossen wie auch Ausweis des persönlichen Verkehrs zumindestens zwischen den Juden des Karolingerreichs und ihren christlichen Hausangestellten.300 Darüber hinaus kennt Agobard, wiederum in einem Schreiben an den Kaiser, das er 826/827 zusammen mit den Bischöfen Bernhard von Vienne und Faof von Chalon verfaßte, auch eine Reihe der traditiones phariseorum, quas hodie deuterosis uocant,301 womit eigentlich an einer Stelle in den Briefen des Hieronymus302 die Mischna, der ältere, zwischen dem zweiten vorchristlichen und dritten nachchristlichen Jahrhundert entstandene Teil der talmudischen Überlieferung gemeint ist: Hieronymus griechisches deuterw/seij und Agobards lateinisches deuterosis entsprechen dem hebräischen twyn#m (wörtlich „Wiederholungen“), der Bezeichnung der einzel298 Vgl. CHAVEL (Hrsg.): Commandments, Bd. 2, Nr. 194, S. 190. 299 Vgl. auch seinen Amos-Kommentar I,i,12: hodie in synagogis suis sub nomine Nazarenorum blasphemant populum christianum. Zum Verhältnis des Hieronymus zu seinen jüdischen Lehrern vgl. STEMBERGER: Hieronymus, S. 347–364; RAHMER: Traditionen, S. 217; GERSON: Commentarien, S. 19. Vor Hieronymus hatte schon Justinus Martyr im zweiten nachchristlichen Jahrhundert vom vermeintlich christenfeindlichen, sogenannten „Ketzersegen“ ({ynymh tkrb) der Juden berichtet, vgl. ‚Dialogus cum Triphone‘ 16,4 u. 96,2. Vgl. dazu auch NULMAN: Encyclopedia, S. 354; ELBOGEN: Gottesdienst, S. 36–39; HERFORD: Problem, S. 359–369; BLOCH: Israel, S. 48; KRAUSS: Imprecation, S. 515–517; GOLDFAHN: Ursprung, S. 167. 300 Vgl. auch Agobards eigene Aussage: Quod nobis non minime notum est, qui cotidie pene cum eis loquentes mysteria erroris ipsorum audimus (ACKER [Hrsg.]: Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 205), mit dem er und die Mitunterzeichnenden Bischöfe von Vienne und Chalon dem Kaiser die Wahrheit der superstitiones et errores der Juden beglaubigen. 301 ACKER (Hrsg): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 207. 302 Vgl. HILBERG/KAMPTNER (Hrsg.): Hieronymi ‚Epistulae‘ CXXI,10,19: quantae traditiones pharisaeorum sint, quas hodie deuterw/seij uocant, et quam aniles fabulae, reuoluere nequeo [...] pleraque tam turpia sunt, ut erubescam dicere; vgl. auch seinen Jesaja-Kommentar III,viii,11/15: traditiones et deuterw/seij suas legis; in ähnlichem Zusammenhang bei Isidor von Sevilla ‚Etymologiae‘ VIII,4,3: Nam Pharisaei ex Hebraeo in Latinum interpretantur Divisi, eo quod traditionum et observationum, quas illi deuterh/seij vocant, iustitiam praeferunt. Vnde et divisi vocantur a populo, quasi per iustitiam.

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nen Lehrsätze der Mischna.303 Bei Agobard sind damit aber eher die erbaulich-erzählenden Bestandteile des Talmud gemeint (twdg)), so kennt er zum Beispiel talmudische Erzählungen über Gottes Körperlichkeit304 oder Teile der spätantik-jüdischen Jesus-Sage (w#y twdlwt).305

303 Vgl. FUNKENSTEIN: twrwmth, S. 138 Anm. 48; WILLIAMS: Adversus Judaeos, S. 352 Anm. 3. In dieser Bedeutung erscheint deuterosis zu Beginn des 11. Jahrhunderts auch in einem ahd. Text, in der kommentierenden Psalmenübersetzung Notkers III. von St. Gallen (950–1022): Notker erläutert die iniqui fabulationes aus Ps 118,85 wie: Soliche hábent misseliche professiones. Iudeorum litere so gescribene heîzzent deuterosis. an diên milia fabularum sint. ane den canonem diuinarum scripturarum. Sameliche habent heretici. an iro uana loquacitate. Habent ouh soliche seculares litere. Vuaz ist ioh anderes daz man marcholfum saget sih éllenon uuider prouerbiis salomonis? An diên allen sint uuort scôniû. âne uuârheit (TAX (Hrsg.): Notker der Deutsche, S. 460). Notkers Quelle sind jedoch nicht die Schriften des Hieronymus, sondern Augustins ‚Enarrationes in Psalmos‘ zur Stelle (vgl. TAX (Hrsg.): Notker latinus, S. 599; HENRICI: Quellen, S. 315). Bemerkenswert ist an dieser Stelle, neben dem Vorkommen des Begriffs deuterosis als Bezeichnung für nachbiblische jüdische Schriften in einem volkssprachigen Text lange vor der christlichen „Entdeckung“ des Talmud im 12./13. Jahrhundert, zudem die Verbindung, die Notker zwischen spezifisch jüdischen Überlieferungen, an diên milia fabularum sint, und dem ‚Salomo und Markolf‘-Stoff herstellt: zum einen ist Notker der älteste erhaltene Beleg für die Existenz dieses Stoffs (vgl. BENARY (Hrsg.): ‚Salomon et Marcolfus‘, S. VII), zum anderen gehört just dieser Stoff zu den europäischen Erzähltraditionen des Mittelalters, deren jüdische Herkunft und jüdische Vermittlung bereits des öfteren erwogen und diskutiert wurde. 304 Vgl. ACKER (Hrsg): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 205f.: Dicunt denique Deum suum esse corporeum et corporeis liniamentis per membra distinctum, et alia quidem parte illum audire ut nos, alia uidere, alia uero loqui uel aliud quid agere; ac per hoc humanum corpus ad imaginem Dei factum, excepto quod ille digitos manuum habeat inflexibiles ac rigentes, utpote qui nil manibus operetur; sedere autem more terreni alicuius regis in solio, quod a IIIIor circumferatur bestiis, et magno quamuis palatio contineri; cogitare etiam illum multa superflua et uana, que, quia ad effectum cuncta uenire nequeant, uertantur in demones; vgl. dazu bBerachot 3a u. 59a; BLUMENKRANZ: Auteurs, S. 165. 305 Vgl. ACKER (Hrsg): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 206f.: Nam et in doctrinis maiorum suorum legunt, Iesum iuuenem quendam fuisse apud eos honorabilem et magisterio baptiste Iohannis eruditum, quam plures habuisse discipulos, quorum uni propter duritiam et hebitudinem sensus kephae, id est petre, nomen inposuerit. Et cum expectaretur a populo ad diem festum, quosdam ei de scola sua pueros occurisse, qui illi ex honore et reuerentia magistri cantauerint: Osanna filio David. Ad extremum uero propter plura mendatia accusatum, Tyberii iudicio in carcerem retrusum, eo quod filia ipsius, cui sine uiro masculi partum promiserat, lapidis conceptum intulerit; inde etiam ueluti magum detestabilem furca suspensum, ubi et petra in capite percussum; atque hoc modo occisum, iuxta quendam aqueductum sepultum, et Iude cuidam ad custodiam commendatum; noctu uero subita aqueductus inundatione sublatum, Pilati iussu per duodecim lunas quesitum nec usque inuentum. Tunc Pilatum huiusmodi ad eos promulgasse legem: Manifestum est, inquit, resurrexisse illum, sicut promiserat, qui et a uobis per inuidiam peremptus est, et neque in tumulo neque in ullo alio inuenitur loco. Et ob hanc causam praecipio, ut adoretis eum; quod qui facere noluerit, partem suam in inferno futuram esse cognoscat. Haec autem omnia ideo et seniores eorum confinxerunt, et ipsi stulta obstinatione lectitant, ut talibus commentis tota et uirtutis et passionis Christi ueritas euacuetur, et ut adoratio non ei ut Deo ueraciter exhiberi debeat, sed Pilati tantum lege illi delata sit. Sed et Petrum nequaquam per angelum secundum fidem nostram de carcere eductum, sed Herodis misericordia, apud quem plurimum eius sapientia fuerit conlaudata; vgl. dazu HORBURY: Literature, S. 203; STRACK: Jesus, S. 14; KRAUSS (Hrsg.): Leben Jesu, S. 5–7; BHM, Bd. 5, S. 60–62, Bd. 6, S. 9–14 u. 155f.

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Sein Amtsnachfolger Amulo greift diese Themen 846 erneut auf306 – ein besonders pathologischer Punkt ist bei ihm zudem die Furcht, die christliche Dienerschaft lasse sich von ihren jüdischen Herren etiam constuprentur –, um aufgrund dieser Anschuldigungen nachdrücklich vor jeglicher Form christlich-jüdischen Kontakts und insbesondere vor Diskussionen über theologische Fragen zu warnen.307 Zugleich erweitert Amulo das Repertoire als verwerflich eingestufter talmudischer Stoffe in den Kapiteln 10–13 und 39–40 seiner Schrift um einige weitere Beispiele, die Agobard noch nicht erwähnt hatte.308 Unter anderem schreibt er, daß die Juden das Evangelium, quod nos Graeco eloquio intelligimus bonum nuntium, ipsi propria lingua malitiosissime immutantes vocant havongalion, quod interpretatur Latine iniquitatis revelatio;309 daß die Juden unter Berufung auf die Autorität eines ihrer großen Lehrer, qui vocabatur Josue Ben Levi, an das Kommen zweier Messiasse glauben;310 daß zwei der bedeutendsten Weisen der Mischnazeit Sammai et Hellel hießen;311 daß das Christentum in hebräischen Texten als adoratio Bel sowie der Begründer der christlichen Religion als Ussum Hamizri, quod dicitur Latine, Dissipator Aegyptius, geschmäht werden;312 schließ306 Vgl. zur inhaltlichen Abhängigkeit Amulos von Agobard die Ausführungen ACKERs (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, S. XV: „Il suffit de comparer les chapitres LII–LVIII d’Amolon [...] avec le texte parallèle d’Agobard [...] pour constater que, mise à part l’omission de quelques lignes [...] la disposition des témoignages est exactement la même: [...]. La ressemblance est trop frappante pour être l’effet du hasard, et on doit en déduire qu’Amolon a, tout simplement, copié son prédécesseur. Il est d’ailleurs évident qu’en d’autres endroits aussi les écrits antijuifs d’Agobard ont inspiré son successeur; [...] Amolon était cependant assez original pour étoffer son ouvrage d’éléments nouveaux“. 307 Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 170f.; in ganz ähnlicher Weise hatte schon Agobard in seinem letzten antijüdischen Brief argumentiert, den er vermutlich 827/828 an Erzbischof Nibridius von Narbonne richtete, vgl. ACKER (Hrsg.): Agobardi ‚Opera‘, Nr. 14, S. 231–234; zum Datum des Schreibens vgl. BOSHOF: Erzbischof, S. 128; anders DÜMMLER (Hrsg.): Agobardi ‚Epistolae‘, S. 182 u. 185. 308 Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 146–149 u. 167–169. Sowohl Agobard als auch Amulo verweisen zumeist auf die Autorität Hieronymus, allerdings finden sich eine Reihe von Aggadot, die die beiden Erzbischöfe in ihren Schriften unter Berufung auf den Kirchenvater erwähnen, nicht in dessen Werken, vgl. dazu WILLIAMS: Adversus Judaeos, S. 352. 309 Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 146; vgl. dazu bSabbat 116a. Vereinzelt hatte schon Agobard Hebraica in seinen antijüdischen Briefen erwähnt, vgl. racha, id est firmamentum, oder araboth, in quo Dominum astruunt residere (ACKER [Hrsg.]: Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 206). 310 Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 148f.; vgl. dazu bSanhedrin 98a und BHM, Bd. 2, S. 48–51. 311 Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 149; vgl. dazu z.B. mAwot I,12, aber auch Hieronymus zu Jes III,viii,11/15: Sammai et Hellel, ex quibus orti sunt scribae et pharisaei, quorum suscepit scholam Akibas, quem magistrum Aquilae proselyti autumat et post eum Meir, cui successit Ioannan filius Zachai, et post eum Eliezer, et per ordinem Telphon, et rursum Ioseph Galilaeus, et usque ad captiuitatem Hierusalem Iosue. 312 Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 149 u. 167f.; vgl. dazu z.B. AGUS (Hrsg.): Responsa, S. 46. Ähnlich hatte schon Agobard geschrieben, daß die Juden christianos idola asserunt adorare, et uirtutes, que apud nos sanctorum intercessionibus obtinentur, a diabolo fieri dicere non exhorrescunt (ACKER [Hrsg.]: Agobardi ‚Opera‘, Nr. 12, S. 207).

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lich kennt auch Amulo wie vor ihm bereits Agobard den Nukleus der jüdischen Leben Jesu-Tradition: Dominum nostrum Jesum Christum maledicant, confitentes eum esse impium et filium impii, id est, nescio cujus ethnici, quem nominant Pandera: a quo dicunt matrem Domini adulteratam, et inde eum in quem nos credimus, natum.313 Den direkten Anlaß für Amulos Warnung vor jüdisch-christlichen Religionsgesprächen bildet der Fall des diaconus palatinus Bodo,314 der weithin für Aufsehen im Frankenreich sorgte.315 So berichtet unter anderem Prudentius von Troyes (gest. 861) in den ‚Annales Bertiniani‘, Bodo sei 839 zum Judentum übergetreten und ins muslimische Saragossa geflohen: Sicque circumcisus, capillisque ac barba crescentibus, et mutato potiusque usurpato Eleazari nomine, accinctus etiam cingulo militari, cuiusdam Iudaei filiam sibi in matrimonium copulavit.316 Doch auch über das konkrete Beispiel hinaus zeigt Amulos Warnung deutlich, daß es zu dieser Zeit christlich-jüdische Religionsgespräche gegeben haben muß, die nicht von den theologischen Instanzen des Christentums legitimiert und überwacht wurden, und daß im Rahmen dieses Kontakts auch kultureller Transfer zwischen Juden und Christen stattgefunden haben kann, quantum autem eorum [sc. Judaeorum] nefanda societas, et venenatum colloquium proficiat ad impietatem.317 Zugleich stellen Agobards und Amulos Werke den „noch recht unbeholfen[en]“318 Beginn christlicher Talmudgegnerschaft dar.319 2. Die christlichen Talmudübersetzungen und ihre Auswirkungen auf die Dialogliteratur Ab der Mitte des 13. Jahrhunderts wurde die thematische Bandbreite der Dialogliteratur wesentlich erweitert, da sich die christlichen Autoren mit Hilfe jüdischer Konvertiten eine ihnen zuvor weitgehend unzugängliche Textgattung, den Talmud, erschlossen.320 In den Jahren zwischen 1240 313 Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 169; vgl. dazu bSanhedrin 106b; bSota 47b; BHM, Bd. 5, S. 60–62, Bd. 6, S. 9–14 u. 155f.; EISENSTEIN (Hrsg.): {yxwqyw rcw), S. 228–239; KRAUSS (Hrsg.): Leben Jesu, S. 38–50 . 314 Vgl. Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 171. 315 Vgl. STOW: Minority, S. 58f.; ARREG, Nr. 103; DÜMMLER: Proselyten, S. 446; einschränkend WILLIAMS: Adversus Judaeos, S. 363; zur Haltung gegenüber Proselyten in jüdischen Quellen des Mittelalters vgl. grundsätzlich KATZ: Exclusiveness, S. 77–81. 316 WAITZ (Hrsg.): ‚Annales Bertiniani‘, S. 17. Bodo ist, allerdings wohl vor seiner Konversion, auch ein Gedicht Walahfrids Strabo (808–849) gewidmet, vgl. DÜMMLER (Hrsg.): Walahfridi ‚Carmina‘, Nr. 34, S. 386: Ad Bodonem yppodiaconum. 317 Amulonis ‚Epistola‘, Sp. 171. 318 SCHRECKENBERG: Adversus-Judaeos-Texte, Bd. 3, S. 103. 319 Vgl. auch STOW: Minority, S. 33–36. 320 Vgl. PATSCHOVSKY: „Talmudjude“, S. 13–27.

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und 1248 fanden in Paris auf Betreiben des getauften Juden Nicolaus Donin mehrere Untersuchungen des Talmud statt, die mit der Beschlagnahme und Verbrennung einer großen Menge von Handschriften endeten.321 Am 15. Mai 1248 fällte der päpstliche Legat Bischof Odo von Tusculum das endgültige Verdammungsurteil super quibusdam libris Judeorum, qui Talmud appellantur.322 Eine eingehende Inspektion des Talmud per viros discretos et expertos in talibus Deum timentes et zelum habentes fidei christiane habe ergeben, daß die jüdischen Schriften errores innumerabiles, abusiones, blasfemias et nepharia enthalten und es daher nicht möglich ist, sine fidei christiane injuria tolerari.323 Unter den Experten, die am Ende des Urteils namentlich aufgezählt werden, erscheint auch ein gewisser frater Theobaldus de Sexannia,324 vermutlich ebenfalls ein ehemals jüdischer Konvertit,325 dem ein bis heute unedierter, in zahlreichen Handschriften326 und frühen Drucken327 erhaltener lateinischer Text zugeschrieben wird: die ‚Excerpta Talmudica‘. Der Text beginnt und endet wie folgt: Thalmut est Doctrina. Et diuiditur in quatuor libros quorum quilibet eorum appellatur Cefer in genere. Et nos omnes libros Moysi vocamus Bibliam. Habet tamen quilibet liber nomen speciale. Primus vocatur Joes id est terminus. Secundus vocatur. Naasim id est mulieres Tercius vocatur. Mirisaim id est sanctuaria Quartus vocatur. Nessubor id est saluator. hunc librum thalmut preferunt iudei libris. Moysi et prophetis. bet ad magis credendum thalmut fabulis addunt fabulas dicentes quod deus sedeat et studeat in libro thalmut. [...] Plura de eodem dicunt et sunt scripta in libro thalmut que vere non licent loqui. Sed de erroribus iudeorum hec sufficiant. QValiter ciuitas Jherusalem propter necem domini vastata sit per Titum et Vespasianum dicit Josephus iudeus. xiiij. sic Sub tito captiuati sunt iudeorum. cc. xv. milia. Jtem quinquaginta et. xxx. milia venditi sunt. Jtem. xxxv. milia se mutuo occiderunt Jtem murus Jherusalem ascendi 321 Vgl. LAWALL: Talmudverbrennungen, Sp. 451f. Zu den Auswirkungen, die die christliche Verfolgung des Talmud auf das aschkenasische Judentum hatte, vgl. z.B. KANARFOGEL: Education; YUVAL: Scholars; BREUER: twnbr; HABERMAN: twrzg. 322 Vgl. DENIFLE/CHATELAIN (Hrsg.): Chartularium, Bd. 1, Nr. 178, S. 209. 323 Vgl. DENIFLE/CHATELAIN (Hrsg.): Chartularium, Bd. 1, Nr. 178, S. 209. 324 Vgl. DENIFLE/CHATELAIN (Hrsg.): Chartularium, Bd. 1, Nr. 178, S. 211. 325 Vgl. DENIFLE/CHATELAIN (Hrsg.): Chartularium, Bd. 1, S. 211 Anm. 12. 326 Vgl. z.B. Erfurt, Universitätsbibliothek, Cod. Amplon. 2° 338; München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 311, clm 26847; Paris, Bibliothèque nationale, Ms. lat. 16558; Prag, Státní knihovna vPraze, V.C. 18. 327 Vgl. z.B. ‚Thalmut Obiectiones in dicta Thalmut seductoris Judeorum’, Augsburg, ca. 1495, bei Johann Schaur, benutztes Exemplar: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, 183 Theol. (olim Inc. Guelf. 2574), als sechster Faszikel eines Sammelbands mit sechs Inkunabeln und Frühdrucken, umfaßt zehn unpaginierte Bll. inklusive Titelbl., einspaltig in kleinem Quartformat gedruckt, Titelbl. mit vier, den Titel quadratisch einfassenden Rundmedaillons, in denen jeweils ein vollbärtiger Männerkopf mit phrygischer Mütze oder über den Kopf gezogenem Tuch abgebildet ist; ‚Thalmut. Obiectiones in dicta Talmut seductoris iudeorum’, Wien, vor 1500, bei Johann Winterburg, benutztes Exemplar: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, 69.2 Qu. 4o (olim Inc. Guelf. 2575), als neunter Faszikel eines Sammelbands mit 13 Inkunabeln und Frühdrucken, umfaßt acht unpaginierte Bll. inklusive Titelbl., einspaltig in Quartformat gedruckt.

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non poterat congestione cadauerum. et erat ciuitas plena cadaueribus. ita quod vie ciuitatis clauderentur cadaueribus et super cadauera irentur. Jtem in iordane flumine plurima multitudo submersa fuerat. Jtem plurimi iudeorum ventros excoritati et aperti sunt propter aurum. quod degluciauerunt. Jtem per totam ciuitatem erat sanguis tantus vt etiam in domibus ignem extingueret. et omnes riuuli et fontes plene essent sanguine. Jtem fames tam crudelis erat vt plures et infiniti propios pueros comederent. Jtem Josephus Jacobus frater Jhesu fuit tante sanctitatis vt destructo. Jherusalem et calamitates quas passi fuerant iudei per Titum eis acciderit propter necem Jhesu et Jacobi. Cum ergo iudei sepissime peccata grandia et maxima commiserunt per ydolatriam et cetera multa et tamen nunquam tam acriter passi sunt. ergo patet ergo quod grande 328 peccatum commiserunt quod Christum verum regem occiderunt.

Diese erste Sammlung ins Lateinische übersetzter rabbinischer Zitate329 wurde für die Erstellung zahlreicher späterer Vertreter der christlichen Dialogliteratur übernommen, vor allem für den ebenfalls noch nicht edierten ‚Passauer Anonymus‘. Diese „fast enzyklopädisch anmutende Sammlung von Argumentationsmaterial theologisch-dogmatischer Natur zur Verteidigung der fides catholica“330 stellt in ihrem quantitativ umfangreichsten Teil, der allerdings nur in vier der insgesamt rund 60 Handschriften überliefert ist,331 ein „Muster für eine Diskussion mit Juden über Glaubensfragen“332 dar. Die zwischen 1260 und 1266 entstandene „materialreichste mittelalterliche Schrift über und gegen die Juden“333 ist bis heute in der 328 Zitiert nach dem Augsburger Druck von Schaur, fols. 1v u. 10v. Die entsprechenden Passagen im Wiener Druck von Winterburg, fols. 2r u. 7v–8r, lauten: THalmut est doctrina iudeorum Et diuiditur in quatuor libros. quorum quilibet eorum appellatur Cefer in genere prout nos omnes libros moysi vocamus Bibliam. habet tamen quilibet liber nomen speciale. Primus vocatur Johes. id est terminus. Secundus vocatur Naasim. id est mulieres. Tercius vocatur mirissaim. id est sanctuaria. Quartus vocatur Nessubos. id est saluator hunc librum thalmut preferunt Judei libris moysi et prophetis et ad magis credendum thalmut fabulis addunt fabulas dicentes quod deus sedeat et studeat in libro thalmut [...] Plura de eodem dicunt et sunt scripta in libro thalmut que vere non licent loqui. Sed de erroribus iudeorum hec sufficiant. QValiter ciuitas íherusalem propter necem domini vastata sit per Titum et Vespasianum dicit iosephus Judeus. xiiij. Sub tito captiuati sunt iudeorum. CC. xv. milia. Jtem quinquaginta et. xxx. milia vendita sunt Jtem. xxxv. milia se mutuo occiderunt. Jtem murus iherusalem ascendi non poterat congestione cadauerum. et erat ciuitas plena cadaueribus. ita quod vie ciuitatis. clauderentur cadaueribus et super cadauera iretur Jtem in iordane flumine plurima multitudo submersa fuerat. Jtem plurimi ventres iudeorum ex coriati et aperti sunt propter aurum quod degluciauerunt. Jtem per totam ciuitatem erat sanguis tantus vt etiam in domibus ignem extingueret. Et omnes riuuli et fontes pleni esset sanguine Jtem fames tam crudelis erat vt et infiniti propuos pueros comederent. Jtem iosephus Jacobus frater Jesu fuit tante sanctitatis vt destructo iherusalem et calamitates quas passi fuerant Judei per Titum eis acciderit propter necem Jesu et Jacobi. Cum ergo iudei sepissime peccata grandia et maxima commiserint per ydolatriam et cetera multa. et tamen nunquam tam acriter passi sunt patet ergo quod grande peccatum commiserunt quod christum verum regem occiderunt etc. 329 Sie ist nicht verzeichnet bei BISCHOFF: Geschichte. 330 PATSCHOVSKY: Anonymus, Sp. 320. 331 Vgl. PATSCHOVSKY: Anonymus, Sp. 321; PATSCHOVSKY: ‚Anonymus‘., S. 169. Die betreffenden Handschriften sind Erfurt, Universitätsbibliothek, Cod. Amplon. 4° 149; München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 311, clm 2714 und clm 9558. 332 PATSCHOVSKY: ‚Anonymus‘, S. 196. 333 PATSCHOVSKY: ‚Anonymus‘, S. 171.

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Forschung nahezu unbeachtet geblieben, obwohl sie die direkte Vorlage für die deutschsprachige Rezeption der ‚Excerpta Talmudica‘ darstellt. Vor 1330 übersetzte der anonyme Verfasser des ‚Österreichischen‘ oder ‚Klosterneuburger Evangelienwerks‘334 auszugsweise den ‚Passauer Anonymus‘. Die nur in einer Handschrift des späten 15. Jahrhunderts (Wien, Österreiche Nationalbibliothek, cod. vind. 2846)335 erhaltene Übersetzung enthält auf fol.119ra–127va auch den Abschnitt Von der juden jrrsall vnd von jrem vngelauben, den wiederum Michel Beheim (1416/21–1474/78)336 für seine ‚Contra Iudeos-Lieder‘337 benutzte. Beheim hat also die Tradition der ‚Excerpta Talmudica‘ aufgegriffen, aus ihrem ursprünglichen, gelehrttheologischen Kontext gelöst und in die volkssprachige Dichtung eingeführt.338 Auf diesem Weg ist ihm Hans Folz (1435/40–1513)339 in einer Reihe von Fastnachtspielen und Reimpaarsprüchen gefolgt; dessen eigenhändige Abschrift von Talmudexzerpten340 geht allerdings wohl auf einen anderen Überlieferungsstrang der lateinischen Talmudübersetzungen zurück, die so genannte ‚Pharetra fidei contra Judeos’341, der wie die ‚Excerpta Talmudica’ eine zeitlich lange und geographisch breite hand- wie druckschriftliche Überlieferungstradition aufweist. Die Popularisierung der Vorstellung einer blasphemischen und widerchristlichen jüdischen „Geheimlehre“ unter dem Sammelbegriff und Signalwort talmut, und sei es auch nur in rudimentärer Form, in Texten in der deutschen Volkssprache setzt jedoch nicht erst im Laufe des 14. Jahrhunderts ein. Der früheste Beleg für diese Vorgehensweise findet sich vielmehr schon nach der Mitte des 13. Jahrhunderts bei Berthold von Regensburg, also wenige Jahre nach den spektakulären Pariser Prozessen: die jüden gloubent in einem hûse, daz sie in einem andern niht engloubent; und er gloubet sô kranc dinc von gote, daz erz sînen kinden ungerne seite. Wan sie sint ze ketzern worden unde brechent ir ê an allen dingen. Ez sint ir zwelfe zuo gevarn unde habent ein buoch gemachet, daz 334 Vgl. GÄRTNER: ‚Evangelienwerk‘, Sp. 1256. Zu dieser Bearbeitung vgl. auch RÖLL: Zeugnis, S. 1–4; KNAPP: Nikolaus, S. 293–308. 335 Vgl. dazu MENHARDT: Verzeichnis, Bd. 1, S. 417–419. 336 Vgl. MÜLLER: Beheim, Sp. 672–680. 337 Vgl. GILLE/SPRIEWALD (Hrsg.): Gedichte, Bd. 2, Nr. 203–234, S. 224–326. 338 Vgl. auch die z.T. ähnlichen Quellen des Teichners, die NIESNER: Juden, S. 40–57, untersucht hat. 339 Vgl. PRZYBILSKI: Hebräischkenntnissen, S. 323–326. 340 Vgl. MAYER (Hrsg.): Meisterlieder, S. 372–384 u. 387–401. 341 Vgl. ‚Pharetra fidei catholice siue ydonea disputatio inter Christianos et Judeos in qua per pulchra tanguntur media et rationes quibus quiuis cristifidelis tam ex prophetis suis proprijs quod ex nostris eorum erroribus faciliter poterit obuiare’, Leipzig, 1495, bei Konrad Kachelouen, benutztes Exemplar: Wolfenbüttel, HAB, E 203 Helmst. 4o, als zweiter Faszikel eines Sammelbands mit sechs Inkunabeln und Frühdrucken, umfaßt zehn unpaginierte Bll. inklusive Titelbl., einspaltig in Quartformat gedruckt.

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heizet dalmut. Daz ist allez sament ketzerîe, unde dâ stêt sô verfluochtiu ketzerîe an, daz daz übel ist daz sie lebent. Ez seit unde seit sô boesiu dinc, diu ich ungerne reden wolte. Frâget mir einen jüden, wâ got sî unde waz er tuo, sô sprichet er: ‚er sitzet ûf dem himel unde gênt im diu bein her abe ûf die erden.‘ Owê, lieber got, sô müestest dû zwô lange hosen hân nâch der rede.342

Im weiteren Verlauf der zweiten Hälfte des 13. und des frühen 14. Jahrhunderts erfreut sich gerade dieses neuartige antijüdische Wissen größerer Beliebtheit in einer Reihe im weiteren Sinne „propagandistischer“ Literaturgattungen wie der Sangspruch- oder Heiligenlegendendichtung sowie der didaktischen Satire. Unter den Spruchdichtern dieses Zeitraums widmet sich zuerst Pseudo-Konrad von Würzburg dem Thema: Ave Marîa! grunt rehtes gelouben! we der veigen, touben, argen Juden kint, diu niht ruochen walten des, daz si behalten möhte wol vor arger helle pine. Talamuot hat si vil gar betoubet unde ir ere beroubet vor manigem Gotes kneht, da si bispel sahen: daz wil in versmahen, davon si deme Gotes zarten schrine Enpfallen sint umbe ir valschen gelouben vunt. wol hin zuo des leiden tiuvels tische, ohse mit dem vische, in der helle grunt, da ir Gotes ougen gar ane allen lougen niemer me beschouwet in deme schine! (MSH III, Nr. 127,II,34)343

Unter den späteren deutschen Spruchdichtern sind ein Anonymus und Pseudo-Regenbogen im 14. und 15. Jahrhundert Pseudo-Konrad gefolgt. Der inhaltlich dem zuvor zitierten Spruch nahestehende, im Ton des Leichs Walthers von der Vogelweide gehaltene,344 fragmentarische Text eines anonymen Dichters eröffnet die um 1330 entstandene ‚Jenaer Liederhandschrift‘: Vve in des vnde nymmer wol. Ir pin sich nicht vuorenden sol. Der grozten pyne sint si vol Der das ist in abgrvnde. Gamalyel yn kvnde. 342 PFEIFFER/STROBL/RUH (Hrsg.): Berthold, Bd. 1, Nr. XXV, S. 401f. 343 Vgl. dazu RSM, Bd. 4, 1KonrW/6/100a; der Spruch ist überliefert in Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 350, ist also auf keinen Fall jünger als 1325, eventuell gehört er sogar noch vor die Jahrhundertwende. 344 Vgl. WACHINGER: ‚Liederhandschrift‘, Sp. 512; der Spruch ist nicht ins RSM aufgenommen, vgl. RSM, Bd. 1, S. 186.

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258 An thalamot die vunde Die valschen vunde rouben. yr synne rechtes gelouben.345

Zu dem unter dem Namen Regenbogens überlieferten Spruchcorpus ‚Der jüden krieg‘346 gehört in einer Fassung des 15. Jahrhunderts347 schließlich auch die folgende Strophe: Du valscher Jude, daz betrahte, wie Got der vater Got den tou gesegent hat. Isaias sprach: ‚Got mensche wart von einer kiuschen maget also here.‘ Judische diet gar ungeslahte, nim den gelouben, ruof an gar an missetat den Got, der leit die marter hart; nach sinem tot gienk Kristus in sin ere. Dich, Jud’, talmut gelichet eben Got vater sant’ den sun her uz dem trone. Kristus den gelouben hat gegeben, diu junkvrou treit im himelrich’ die krone. do sie den suezen touw’ enpfienk, der von dem himel kam; des si gelobet, meit, din werder nam! ach, Jud’, war wiltu haben vluht am jungsten tak vor Kristus dem rihter? Marîa diu gebar die vruht, an dem ervüllet wart der Juden ger, do er uf sinem rükke truok daz kriuz’ uf calvarie gar sunder scham unt do er an dem kriuze hienk. 348 ach, Jud’, du bist an dinem gelouben lam! (MSH III, Nr. 126,V,8)

Auf noch weitaus aggressivere Weise hatte sich vor den zitierten Sangspruchdichtern, in den Jahren zwischen 1292 und 1294, der anonyme Autor des ‚Kleinen Lucidarius‘ geäußert: ez waer wol, der in verbut ir ketzerlîchez Talmut, ein buoch valsch und ungenaem. verfluochte juden widerzaem, ir gêt den rehten hellestîc. (II, v. 1185–1189)

345 HOLZ (Hrsg.): Liederhandschrift, S. 1; vgl. auch MSH III, Anonymus XXXVII. 346 Vgl. dazu auch NIESNER: juden, S. 341–344. 347 Überliefert ist diese Strophe lediglich in der ‚Weimarer Liederhandschrift‘ (Weimar, Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, Q 564) aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts; die Überlieferung des Spruchcorpus ‚Der jüden krieg‘ setzt jedoch bereits im ersten Viertel des 14. Jahrhunderts ein, nämlich in der gleichen Handschrift, in der sich auch der oben zitierte Pseudo-Konrad von Würzburg findet. 348 Vgl. dazu RSM, Bd. 5, 1Regb/4/1g.

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Schließlich diente der Talmud respektive dessen vermeintlicher Überwindung durch das Wirken einer christlichen Heiligen um 1300 auch dem ebenfalls anonymen Verfasser des ‚Lebens der heiligen Elisabeth‘ als Motiv: Auch mac die blinde judesh e Haben ungemaches we: Der bose ungeloube ist ouch iezu Verwunden ordenliche nu, Alse iz wol prufet ieder man, Der warheit wol geprufen kan, Daz alle ir sache luget, Ir dalmot si bedruget. Diz hat die reine frouwe clar Gemachet alles uffenbar; Herliche iz ouch bewiset hat Ir gloube in seleclicher tat, Di si von godes crefte, Von sunder mahelschefte Die here frouwe Elizabet Sa zeichenliche noch beget. (v. 10115–10130)

Auffällig ist die weite geographische Verbreitung, die das Wissen von der Existenz und Bedeutung des Talmud, der selbst in diesen frühen Zeugnissen zumeist nur noch genannt zu werden braucht, um die gewünschten Assoziationen beim christlichen Publikum hervorzurufen, in den Jahrzehnten zwischen 1250 und 1300 gerade in volkssprachigen Texten im deutschen Sprachraum gefunden hat. Mit den jeweiligen Wirkungsorten der genannten Autoren – Marburg im Norden, Regensburg im Nordosten und Niederösterreich im Südosten – sind große Teile des oberdeutschen und mitteldeutschen Raums eingeschlossen. Die deutschsprachige Adaptation dieser spezifischen Form des mittelalterlichen Kulturtransfers zwischen Juden und Christen hat demnach schon kurze Zeit nach ihrem europäischen Höhepunkt des Talmudprozesses in Paris, der aus dem Interesse einiger christlicher Theologen am Hebräischen und an der hebräischen Literatur seit dem frühen 12. Jahrhundert resultierte, in vergleichsweise breiter Form und in unterschiedlichsten literarischen Gattungen eingesetzt. Zeitgleich existierten in der deutschen Literatur des späten Mittelalters selbstredend auch Formen der polemischen Dialogliteratur fort, die sich inhaltlich unbeeinflußt von dem neuen talmudisch-midraschischen Wissensbestand der christlichen Theologen zeigten. Einer dieser im deutschen Sprachraum am weitesten verbreiteten Texte ist Irmhart Ösers ‚Epistola Rabbi Samuelis’349, die die klassischen Streitpunkte zwischen christlicher und 349 Vgl. ‚Epistola Rabbi Samuelis Jsrahelite missa ad Rabbi Ysaac magistrum Synagoge in subiulmeta. ciuitate regis Morochorum. Qua iudeus ille catecuminus. aridam iudeorum de Messia spem stimulans. ipsos. necnon eorum posteros. sua spe super testimonijs legis et prophe-

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jüdischer Bibelexegese verhandelt wie unter anderem die christologischpräfigurative Deutung verschiedener Passagen des Alten Testaments, das Konzept der göttlichen Trinität oder die unverletzte Jungfräulichkeit Mariens. Ösers Text wählt die Form eines – selbstredend fiktiven, vom zeitgenössischen Publikum aber als Übersetzung eines Originals verstandenen – Briefs eines jüdischen Gelehrten namens Samuel an den magister synagogae Isaak, in dem der Adressat über die Wahrheit des christlichen Glaubens, die Samuel durch das vertiefte Studium der heiligen Schriften offenbart wurde, aufgeklärt wird: JNcipit Epistola quam misit Rabbi Samuel Jsrahelita Oriundus de ciuitate Sem regis Morochorum ad Rabbi Jsaac magistrum Synagoge que est in subiulmeta in predicto regno. Anno domini Millesimo. […] COnseruet te deus o frater et permanere te faciat vsque quo terminetur nostra captiuitas: et congregetur ista nostra dispersio. et appropinquet spes nostra et signet deus beneplacitum suum super vitam nostram. Amen. […] € Capitulum Primum DEsidero domine mi certificari per te ex testimonijs legis et prophetarum et aliarum scripturarum: quare nos iudei generaliter percussi sumus a deo in captiuitate ista in qua sumus350.

Nach insgesamt 27 Kapiteln, in denen Samuel seinem Briefpartner stellvertretend für die gesamte Judenheit die eigene Glaubensblindheit vor Augen führt und sich schließlich für eine Konversion zum Christentum ausspricht, folgen dem Text der ‚Epistola’ vor allem in der druckschriftlichen Überlieferung häufig noch zwei Anhänge verwandten Inhalts: zum einen das ‚Testament der 12 Patriarchen’351, zum anderen der – ebenfalls fiktive – Brief des Pontius Pilatus an den römischen Kaiser Tiberius über die Kreuzigung Jesu – neben dem sogenannten testimonium Flavianum der wichtigste außerbiblische Beleg, den die christliche Theologie seit der Spätantike für den Erweis der Historizität von Leben und Passion Christi herangezogen hat. Darin wird nicht nur von den Wundern, die Jesus gewirkt hat, sondern vor allem von der Verantwortung der Juden an der tarum de venturo Messia esse frustratos. iam mirando tandem timendo et expauescendo: apertissime demonstrat. Annexa est etiam in fine Pontij pilati. de indubitata hiesu resurrectione. epistola ad Tiberium imperatorem’, Nürnberg, 19.3.1498, bei Kaspar Hochfelder, benutztes Exemplar: Wolfenbüttel, HAB, 69.2 Qu. 4o (olim Inc. Guelf. 2394), als elfter Faszikel eines Sammelbands mit 13 Inkunabeln und Frühdrucken, umfaßt 22 unpaginierte Bll. inklusive Titelbl., zweispaltig ab fol. 2r, mit 27 durchgezählten Kapiteln und zwei Anhängen in Ouartformat gedruckt: Jmpressa est Epistola Rabbi Samuelis: vna cum testimonijs duodecim patriarcharum Epistola quam pontij Pilati huic annexis. arte literaria perfamati Casparis hochfeders nuerenbergensis. decimanona Martij. Anno saluatoris nostri. M. cccc. xcviij. (fol. 22rb). 350 Zitiert nach dem Nürnberger Druck von Hochfelder, fol. 1v–2ra. 351 So auch im von mir eingesehenen Nürnberger Druck: Et hec frater alphunsius bonihominis hispanus. amore et instancia fratris hugonis magistri eius de ordinis predicatorum ad translationes quas idem hugo fecit nuper de Epistola Samuelis. addidit € Explicit Epistola Rabbi Samuelis quam scripsit ad Rabbi ysaac magistrum synagoge etc. € Ad hec veniunt duodecim patriarcharum testimonia. argumentum samuelis in promissa sua epistola confortantia. non omittenda: qui patriarche de venturo christo loquentes. apertissime eius diuinitatem significauerunt (fol. 20rb–20va).

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letztendlichen Hinrichtung des Gottessohns berichtet sowie von dessen Auferstehung: Sequitur epistola quam misit pontius pilatus Tiberio imperatori romano. POntius pilatus imperatori Tiberio salutes dicit. Nuper accidit et ego ipse probaui iudeos pro eorum inuidiam se suo super posteros crudeli damnatione perijsse. Cum promissum haberent patres eorum cum deus eorum mitteretur de celo sancto suo quo eorum rex merito diceretur. et hunc cum promissum haberent per virginem missurum. denique cum illic esset et vidissent eum iudei cecos illuminasse. leprosos mundasse. paraliticos curasse demones a corporibus obsessis effugasse. mortuos resuscitasse. ambulasse siccis pedibus super vndas maris. imperasse ventis. et alia multa fecisse miracula. propterea magna multitudo populi iudeorum ipsum esse filium dei dicerent. ducti sunt contra eum inuidia. mentientes dixerunt quidam eum esse magum et contra legem eorum agere. Ego autem credidi verbis eorum ita esse. et tradidi eum flagellis cesum arbitrio eorum. Jpsi autem crucifixerunt eum in ligno. et mortuum sepelierunt. et sepulture custodes adhibuerunt. Jpse vero militibus pretorij mei monumentum custodientibus et signantibus. tertia die resurrexit de monumento. Jntantum autem excessit inuidia et malignitas iudeorum vt darent pecuniam militibus meis. dicentes. dicite quod vobis dormientibus venerunt discipuli eius et furati sunt corpus eius et secum detulerunt. Milites autem mei cum accepissent pecuniam. veritatem et que facta sunt tacere non potuerunt. sed eum vere resurrexisse et vidisse testati sunt. et pecuniam ab eis recepisse. Hec omnia tibi cesar direxi. ne aliter quisquam contra veritatem mentiatur. et ne existimet fore credendum mendatijs iudeorum Ad te omnia scripsi que facta sunt de Jesu nazareno in pretorio meo etc.352

Die invidia et malignitas Judaeorum stehen somit auch in diesem vermeintlich nichtchristlichen Zeugnis für die Wahrheit der christlichen Heilslehre im Zentrum der Aussage. An der Verfestigung dieses Bilds wirkten unterschiedlichste Formen der polemisch-antijüdischen, christlichen Dialogliteratur während der gesamten europäischen Vormoderne mit – nicht zuletzt auch durch den Rekurs auf jüdische – oder ehemals jüdische – Gewährsleute sowie durch den Einbezug von originär jüdischen Stoffen und Quellen. Die Verwendung – angeblicher oder tatsächlicher – Exzerpte der talmudischen Überlieferung in volkssprachlich-christlicher Literatur des deutschen Mittelalters endet, wie bereits angedeutet, nicht mit dem 14. Jahrhundert. Einen Höhepunkt dieser Form polemischen Kulturtransfers an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit bildet vielmehr das vielschichtige Oeuvre des Nürnberger Handwerkerdichters Hans Folz (1435/40–1513). Den Kulminationspunkt bilden dabei drei Fastnachtspiele, die Folz ab den späten 1470er Jahren bis in die erste Hälfte der neunziger Jahre des 15. Jahrhunderts verfaßte.353 Das vermutlich jüngste

352 Zitiert nach dem Nürnberger Druck von Hochfelder, fol. 21vb–22rb. 353 Vgl. VON KELLER (Hrsg.): Fastnachtspiele, Bd. 1, Nr. 1, S. 1–33, Nr. 20, S. 169–190, u. Bd. 2, Nr. 106.

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der drei Spiele, der ‚Herzog von Burgund’354 vereinigt alle zentralen Charakteristika und soll deshalb hier als letzte literarische Spur des polemischen Kulturtransfers zwischen Juden und Christen im deutschen Mittelalter näher dargestellt und analysiert werden. Obwohl dieses Spiel ohne Autornennung überliefert ist, gibt es einige Hinweise, die Folz als Verfasser nahelegen. Zum einen zeigen sich Übereinstimmungen in der sprachlichen Ausformung der Narrenrollen mit derjenigen, die sich in der sicher für Folz bezeugten Druckfassung des Fastnachtspiels ‚Salomon und Markolf’355 findet. Zum anderen weist aber auch die Verwendung einer Art Pseudohebräisch auf Folz als Autor hin, da im Nürnberger Raum nur von ihm Texte erhalten sind, die sich auf diese Weise antijüdisch äußern.356 Zwar gibt es auch vor und nach Folz Fastnachtspiele, in denen Juden verhöhnt werden, doch Antijudaismus als eine zentrale Aussageabsicht des Textes findet sich nur in Folzschen Spielen und Reimpaarsprüchen. Das Spiel muß nach 1486 entstanden sein, da der spätere Kaiser Maximilian I. (1459–1519) schon als römischer König erwähnt wird (v. 9) – diesen Titel erhielt er im genannten Jahr. Bei dem im Spiel selbst nicht näher identifizierten jungen Herzog von Burgund handelt es sich um Maximilians Sohn Philipp den Schönen (1478–1506). Als terminus ante quem gilt 1493, das Schlußjahr des unikalen handschriftlichen Überlieferungsträgers.357 Das Spiel ist wesentlich umfangreicher als die meisten anderen Nürnberger Fastnachtspiele des 15. Jahrhunderts. Dies zeigt sich auch an der für einen Text dieser Art eminent hohen Zahl von Akteuren – immerhin treten mindestens 26 Personen auf. Doch auch die Gesamtstruktur des Stücks weist eine anspruchsvollere Durchformung auf als andere Handlungsspiele: Zahlreiche retardierende Momente, wie z.B. ein zweimaliges Gottesurteil, hemmen immer wieder das Erreichen des erwarteten Endes – des Siegs über die Juden und ihrer Demütigung – und bieten stets aufs neue Gelegenheit dazu, die Verworfenheit und Lächerlichkeit der Juden zu demonstrieren. Drei soziale Schichtungen lassen sich in dem Stück erkennen: Vertreter der höheren Stände – der Herzog, sein ritterliches Gefolge und die Sibylle mitsamt ihren Jungfrauen –, der marginalisierten Gesellschaftsschichten – die Juden mitsamt ihrem Messias nach seiner Entlarvung – sowie als dritte Gruppe die beiden Narrenfiguren, denen eine Sonderrolle zukommt. 354 355 356 357

VON KELLER (Hrsg.): Fastnachtspiele, Bd. 1, Nr. 20, S. 169–190. VON KELLER (Hrsg.): Fastnachtspiele, Bd. 1, Nr. 60. Vgl. dazu PRZYBILSKI: Hebräischkenntnissen, S. 323–326.

Dabei handelt es sich um Claus Spauns Sammelhandschrift mit Fastnachtspielen (Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. Hs. G 4° 438); der Spieltext findet sich fol. 109v–124r. Zur Hs. vgl. SIMON: Fastnachtsspieltradition, S. 68.

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Folz hat in diesem Spiel zahlreiche antijüdische Traditionen miteinander verflochten. Zwei der wichtigsten literarischen Quellen für seine Arbeit sind die Antichristberichte und die christliche Umdeutung der SibyllenWeissagungen, ein weiterer, überwiegend bildlich belegter Traditionsstrang ist der der sogenannten „Judensau“. Der seit dem frühen Hochmittelalter einflußreichste und in ganz Zentraleuropa am weitesten verbreitete Bericht vom Leben, Wirken und Scheitern des Antichrist ist die ‚Epistola de ortu et tempore Antichristi’358 des Abts Adso von Mentier-en-Der (910/15–992). Seine ‚Epistola’ entstand zwischen 949 und 954 und ist exemplarisch für die mittelalterlichen Antichristvorstellungen, so daß es nicht verwundert, daß sie zur vorrangigen Quelle für die Antichristspiele des Mittelalters wurde. Der Antichrist ist in Adsos Text ein in Babylon geborener Jude aus dem Stamme Dan, dessen Zeugung vom Teufel selbst veranlaßt wird. Er wächst unter der Obhut des Satan und falscher Propheten auf. Nachdem er nach Jerusalem übergesiedelt ist, verfolgt er die dort lebenden Christen, läßt sich beschneiden, gibt sich als Sohn Gottes aus, baut den Tempel wieder auf, nimmt darin Wohnung und versteht es schließlich, den Juden weiszumachen, er sei der ihnen verheißene Messias. Nach einer dreieinhalb Jahre währenden Weltherrschaft wird der Antichrist vom wiedergekehrten Jesus besiegt und auf dem Ölberg getötet. Die zweite Tradition, derer sich Folz bedient, die der ‚Oracula Sibyllina’359, ist ebenfalls ein im ganzen Mittelalter oft rezipierter Stoff, der auf die lateinische Übersetzung einer anonymen griechischen Sammlung von Weissagungen zurückgeht, die im 5. Jahrhundert zusammengestellt wurde. Diese Sammlung vereinigt die damals noch bekannten Sibyllendichtungen – die alten, in Rom aufbewahrten sibyllinischen Bücher waren im Jahre 400 vernichtet worden – und enthält jüdische Bestandteile, die teilweise vor die Zeitenwende zurückreichen, sowie große Partien christlichen Ursprungs. Der Inhalt betrifft vor allem das öffentliche Leben, prophezeit werden meist Katastrophen, am Ende steht der Ausblick auf das messianische Friedensreich. Der unmittelbare Vorläufer der deutschsprachigen Sibyllinik des Mittelalters ist die sogenannte „Tiburtinische Sibylle“, die oft mit der Königin von Saba gleichgesetzt wird. Sie wird im Gespräch mit dem römischen Kaiser Augustus dargestellt, dem sie die Zukunft des Römischen Reichs, der Kirche und die Ankunft des Antichrist prophezeit. Im Kreis der Erzählungen über die Tiburtinische Sibylle werden die deutsche Kaisersage und die Kreuzholzlegende mit der Antichristthematik

358 Vgl. VERHELST (Hrsg.): ‚Epistola’. 359 Vgl. GEFFCKEN (Hrsg.): Texte.

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verbunden. Auch Adso bediente sich bei der Erarbeitung seiner ‚Epistola’ der Tiburtinischen Sibylle. „Judensäue“ werden Darstellungen von äußerlich als Juden gekennzeichneten Personen genannt, die eine Sau liebkosen und an ihren Zitzen saugen. Sie sind vor allem in der bildenden Kunst des Mittelalters vom 13. bis zum 16. Jahrhundert anzutreffen. Diese Darstellungen lassen sich sowohl an Sakral- als auch an Säkularbauten in verschiedenen Formen fast ausschließlich im deutschen Sprachraum nachweisen. Die grundlegende Arbeit zur bildlichen Tradition der „Judensau“ verzeichnet insgesamt 37 Belege in der mittelalterlichen Architektur.360 Die „Judensau“ ist die mit Abstand diffamierendste Allegorie der Juden im Mittelalter, da sie die Juden zum einen mit einem Tier in Verbindung bringt, das als das bekannteste Beispiel der durch die jüdische Religion zum Verzehr verbotenen Tiere angesehen werden kann, zum anderen die Ausgestaltung dieser Verbindung oft pseudogenealogische und sodomitische Züge trägt.361 Zu diesen literarischen bzw. ikonographischen Traditionen treten jedoch noch weitere, mehr oder minder außerliterarische Quellen, auf die Folz bei der Ausgestaltung von ‚Der Herzog von Burgund’ zurückgegriffen hat. Da sind zum einen die zahlreichen religiösen Disputationen, die während des gesamten Mittelalters den Juden in Europa – in der Regel zwangsweise – von der christlichen Kirche auferlegt wurden. Zwar gab es auch hier eine literarische Tradition, die, wie eingangs dieses Kapitels erwähnt, schon um ca. 500 mit der ‚Altercatio Simonis Judaei et Theophili Christiani’ einsetzt, doch waren christlich-jüdische Religionsdisputationen keine rein fiktive Erscheinung, sondern auch real erfahrbare Ereignisse, von denen das erste wohl schon zwischen 156 und 161 stattfand. Eine der berühmtesten Disputationen des Hochmittelalters war die von 1263 in Barcelona, in der einer der bedeutendsten jüdischen Bibelkommentatoren seiner Zeit, Mose ben Nachman, der Hauptvertreter der jüdischen Seite war. Zu Folzens Lebzeiten wurde in Nürnberg und den umliegenden größeren Städten eine Reihe von Disputationen abgehalten, die der Dominikanermönch Petrus Nigri leitete; sie hatten allerdings eher den Charakter von christlichen Zwangspredigten als von Diskussionen zweier gleichberechtigter Parteien. Eine weitere historische Erscheinung, die Folz in seinem Spiel aufgreift, ist die des öfteren bei den Juden des Mittelalters anzutreffende messianische Hoffnung, die sich an politischen Umwälzungen oder am Auftreten von charismatischen Persönlichkeiten festmachte. Im 15. Jahrhundert 360 Vgl. die Karte zu Beginn von SHACHAR: Judensau. 361 Vgl. SCHRECKENBERG: Juden, S. 21 u. 343–349.

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war es vor allem der Fall Konstantinopels 1453, der sowohl die Gemeinden Spaniens als auch des Judentums in Ostmitteleuropa mit großen messianischen Hoffnungen und Spekulationen erfüllte. Wie bereits erwähnt, gehört dieses Stück in eine Reihe antijüdischer Fastnachtspiele und Reimpaarsprüche aus der Feder von Hans Folz. Es muß daher auch im Zusammenhang mit diesen weiteren Texten gesehen werden. Im ‚Herzog von Burgund’ gelingt Folz die literarische Inszenierung antijüdischer Stereotypien sicherlich am wirkungsvollsten, doch verdankt sein drittes antijüdisches Spiel seine Wirkkraft nicht zuletzt auch den Vorübungen, die seine anderen Texte darstellen:362 Um das Jahr 1474 veröffentlichte Folz sein erstes judenfeindliches Fastnachtspiel, ‚Die Disputation’363. Er unterhielt zu diesem Zeitpunkt bereits freundschaftliche Beziehungen zu einigen der einflußreichsten Männer des Nürnberger Patriziats, vor allem zu Anton Haller, der seit 1467 Genannter und damit Mitglied des Größeren Rats war. Schon ein Jahr später wurde ein weiteres antijüdisches Fastnachtspiel von Folz, der ‚Kaiser Constantinus’364, in Nürnberg aufgeführt. 1479 veröffentlichte Folz zwei antijüdische Reimpaarsprüche, ‚Die Wahrsagebeeren’365 und ‚Christ und Jude’366. Sie wurden auf der gleichen Offizin gedruckt, aus der vier Jahre später auch der dritte judenfeindliche Reimpaarspruch, ‚Der falsche Messias’367 hervorging, der inhaltlich allerdings keine engeren Beziehungen zum ‚Herzog von Burgund’ aufweist. Zwischen 1486 und 1493 verfaßte Folz schließlich sein drittes und letztes antijüdisches Fastnachtspiel. Der Vater des in diesem Text auftretenden Fürsten, der spätere Kaiser Maximilian I., besuchte 1491 Nürnberg. Der Rat der Stadt hatte ihn bereits seit 1473 des öfteren um das Recht zur Ausweisung der in Nürnberg lebenden Juden gebeten, was ihnen schließlich 1498 gewährt wurde.368 Im Jahr des kaiserlichen Besuchs veröffentlichte Folz einen weiteren judenfeindlichen Reimpaarspruch, ‚Jüdischer Wucher’369, in dem er die Bamberger Judenvertreibung von 1478 mit folgenden Worten als vorbildhaft pries:

362 Vgl. dazu SCHIEL: würm, S. 147–177; SCHÖNLEBER: schant, S. 163–182; WENZEL: Judden, S. 189–265. 363 VON KELLER (Hrsg.): Fastnachtspiele, Bd. 1, Nr. 1, S. 1–33. 364 VON KELLER (Hrsg.): Fastnachtspiele, Bd. 2, Nr. 106. 365 FISCHER (Hrsg.): Reimpaarsprüche, Nr. 9, S. 60–72. 366 FISCHER (Hrsg.): Reimpaarsprüche, Nr. 27, S. 226–242. 367 FISCHER (Hrsg.): Reimpaarsprüche, Nr. 12, S. 92–98. 368 Vgl. dazu TOCH: nutz, S. 1–21. 369 FISCHER (Hrsg.): Reimpaarsprüche, Nr. 37, S. 310–318.

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Literarische Spuren

Desgleichen hör ich künden mer. Wie unser geistlich prelat und her, Her Philip pischoff von Bamperg, Auch hab getan ein götlich werck Der jüden halb und die vertriben, Ewig verpant und außgeschriben. (v. 237–242)

Innerhalb der hier kurz vorgestellten Texte ist eine fortschreitende inhaltliche und stilistische Radikalisierung des Folzschen Ressentiments erkennbar.370 Waren zum Beispiel ‚Die Disputation’ und ‚Kaiser Constantinus’ noch mehr oder weniger „zahme“, im Grunde nur auf die polemisierende Verhöhnung der religiös verstockten Juden zielende Texte, so verfolgt ‚Der Herzog von Burgund’ neben diesem Ziel ganz ausdrücklich die Vertreibung der Juden, wenn nicht sogar ihre physische Vernichtung. In diesen Absichten stimmte der Autor Hans Folz mit der Politik des Rats der Stadt Nürnberg überein. Eventuell ist hier einer der Gründe dafür zu finden, wie es einem nicht in Nürnberg Geborenen, der erst 1459 das Bürgerrecht erworben hatte, gelingen konnte, einen rasanten sozialen Aufstieg zu vollbringen und seit 1486 als Meister bzw. seit 1498 als geschworner meister der Wundarznei und des Barbierhandwerks zu amtieren, also als von allen Meistern seiner Zunft gewählter Meister, der die Einhaltung der Handwerksordnung überwachte, gegenüber der Stadt berichtspflichtig war und die Belange seines Handwerks vor dem Rat vertrat.371 Die literarischen Spuren eines polemischen Kulturtransfers zwischen Juden und Christen im deutschen Mittelalter erweisen sich vor dem Hintergrund der vorhandenen Quellen somit als Konstante in einer zunehmend auf Ab- und Ausgrenzung hin orientierten Relation der christlichen Majorität zur jüdischen Minorität, die mit dem Anbruch der Frühen Neuzeit für die europäischen Juden in der Tat den Status einer “alienated minority“ bedeutete, wie ihn zahlreiche Historiker bereits für die vorhergehenden Jahrhunderte postulieren.372

370 Vgl. dazu MARTIN: Representations, S. 125–136. 371 Vgl. dazu JANOTA: Folz, S. 74–91. 372 Zu diesem Terminus vgl. speziell STOW: Minority; allgemein KATZ: Exclusiveness.

Der jüdische Spruchdichter

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C.IV. Das Bild des jüdischen Spruchdichters: Süßkint von Trimberg Mit Süßkint von Trimberg373 gab es in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts entweder den ersten jüdischen Dichter deutscher Sprache, oder ein nichtjüdischer Spruchdichter konnte in seinen Werken zu dieser Zeit sich selbst als jüdisches Ich stilisieren,374 was in beiden Fällen in Bedeutung und Tragweite enorm ist. Daß Juden im Hochmittelalter durchaus höfische Kultur rezipieren und diese in ihr Alltagsleben integrieren konnten, verdeutlichen zum Beispiel die 1996 in einem Patrizierhaus in Zürich entdeckten Fresken mit Motiven aus der Minnelyrik, das sich bis zur Ermordung und Vertreibung der Zürcher Juden 1349 in jüdischem Besitz befunden hatte.375 Wenn man gegen die Aussagekraft dieses Fundes auch einwenden kann, daß es durchaus nicht erwiesen ist, ob die jüdischen Hausbesitzer den bereits nach Wünschen eines christlichen Auftraggebers ausgestalteten Saal nicht einfach übernommen hatten,376 so verdeutlicht ein Hinweis im dritten Buch der ‚Magdeburger Schöppenchronik‘ zweifellos eine aktive jüdische Teilhabe am höfischen Betrieb des späten 14. Jahrhunderts: Im jar 1384 in der fasten hadden die juden einen hoff zu Weissenfels und stachen und tornirten da.377 Nichtsdestoweniger deutet in Süßkints Fall vieles darauf hin, daß das Bild vom jüdischen Spruchdichter eine Machination aus dem Rollenspiel des „historischen“ Dichters und verschiedenen Rezeptionshaltungen des 14. Jahrhunderts darstellt, die sich in Form des Dichterbilds in der Manessischen Liederhandschrift auch illustratorisch, also in einem anderen kulturellen Medium, niedergeschlagen hat. Diese – vielleicht mehr als rein literarische Chiffre – wäre somit zugleich eine Spur und ein Produkt des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im deutschen Mittelalter. Im Gegensatz zu den zuvor abgehandelten Punkten unserer Suche gehen wir im folgenden also einer Wirkung nach, die kultureller Kontakt und Transfer zwischen jüdischer und christlicher Sphäre in der volkssprachigen Literatur des deutschen Mittelalters gehabt hat. Darzustellen, wie sich Kulturkontakt und -transfer im Bild des jüdischen Spruchdichters im doppelten Wortsinn verdichten, wird vorrangiges Ziel dieses Kapitels sein.378 373 Vgl. KLD, Bd. 1, S. 421–425. 374 Vgl. dazu WEIGAND: Süßkint, S. 3–17; GERHARDT: Süßkind; MURDOCH: 1250, S. 21–26; FLADE: Juden, S. 11–14; STRAUSS: Süsskint, S. 19–30. 375 Vgl. WILD: Zeugen, S. 267–269; WENZEL: Fund, S. 417–426. 376 Vgl. GERHARDT: Zürich, S. 104–106. 377 JANICKE (Hrsg.): ‚Schöppenchronik‘, S. 287. Vgl. auch BERLINER: Leben, S. 28, der allerdings 1386 als Jahr des Weißenfelser Turniers angibt. Zur Teilhabe aschkenasischer Juden am Turnierwesen vgl. aus jüngerer Zeit ausführlich WENNINGER: Rittern, S. 35–82, sowie SHATZMILLER: Juden, S. 13–19. 378 Im folgenden schließe ich mich primär der überaus präzisen und textnahen Interpretation

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1. Biographische Spuren In die Große Heidelberger oder Manessische Liederhandschrift aus dem ersten Drittel des 14. Jahrhunderts, die umfangreichste Anthologie mittelhochdeutscher Lyrik, hat eine Reihe von Autoren Aufnahme gefunden, deren Lieder und Sprüche allein in diesem Codex überliefert sind.379 Ein schmales Textcorpus von zwölf Strophen verdient dabei besondere Aufmerksamkeit; denn der zugeordnete Autor fällt ganz aus dem Rahmen der sonst aufgenommenen Dichter: er wird angekündigt mit den Worten Süeskint der Jvde von Trimperg.380 Süßkint ist nicht nur der einzige jüdische Lyriker in der Manessischen Handschrift, er ist beinahe der einzige jüdische Autor des deutschen Mittelalters überhaupt, von dem wir Zeugnis besitzen.381 Die Identifizierung in der Überschrift, mit der das Exzeptionelle an Süßkint, seine Zugehörigkeit zum Judentum, betont wird, findet ihre Entsprechung in der Gestaltung der Miniatur.382 Süßkint wird unverkennbar als zeitgenössischer Jude dargestellt, also mit pileus cornutus und langem Bart. Gleichwohl sind in der mediävistischen Forschung schon früh Über-

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des Süßkintschen Strophencorpus an, die BAUSCHKE: Süßkind, S. 61–86, vorgelegt hat, allerdings mit einer Reihe divergierender Schlußfolgerungen. Über Handschrift C grundlegend JAMMERS: Liederbuch; KUHN: Voraussetzungen, S. 80– 105 u. 188–192. Dieses und alle nachfolgenden Zitate aus Liederhandschrift C nach der Transkription anhand der Autopsie von Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 848 bei BAUSCHKE: Süßkind, S. 61–86. Eindeutig in den Bereich des persönlichen Kontakts von Juden und Christen gehört die Entstehungsgeschichte des ‚Niuwen Parzifal‘ (SCHORBACH (Hrsg.): ‚Parzifal‘). Dieser in einer Handschrift zwischen Buch XIV und XV plazierte Einschub in Wolframs ‚Parzival‘ wurde 1331/36 von den Straßburger Bürgern Claus Wisse und Philipp Colin mit Unterstützung des Juden Samson Pine aus dem Französischen übertragen. Er erweitert die zweite Gawanpartie um fast 37.000 Verse. Der Dank, den die beiden christlichen Autoren ihrem jüdischen Mitverfasser im Epilog des Werks abstatten (v. 36827–36836) wird zumeist dahingehend verstanden, daß Pine lediglich die französischsprachige Vorlage übersetzt habe, da es Colin und Wisse an hinreichenden Sprachkenntnissen mangelte, vgl. WITTMANNKLEMM: Studien, S. 6f. u. 146f.; SCHORBACH (Hrsg.) ‚Parzifal’, S. XXf., XXXI u. XLIf.: Ein jude ist Sampson Pine genant, / der het sine zit ouch wol bewant / an dirre oventure. / Er tet unz die stüre, / waz wir zuo rimen hant bereit, / do het er unz daz tüchsch geseit / von den oventuren allen gar. / Ich wünsche daz er wol gevar / als ein jude noch sinre e: / er enbegerte anders nüt me. Entgegen dieser Ansicht legen einzelne motivliche Besonderheiten im ‚Niuwen Parzifal‘ eine weitaus engere literarische Kooperation von Juden und Christen nahe, als gemeinhin angenommen, so daß Pine mit einigem Recht als weiterer früher jüdischer Autor in der deutschen Literaturgeschichte angesehen werden kann, vgl. dazu auch GERHARDT: Zürich, S. 109f. Daß mit Chrétien de Troyes ein ursprünglich jüdischer Autor bereits am Anfang der Geschichte des Artusromans gestanden habe, legt RUHE: Darius, S. 847–855, nahe; vgl. dazu auch POIRION (Hrsg.): Oeuvres, S. XII. Farblicher Abdruck der Autorenbilder in WALTHER/SIEBERT: Codex; speziell zum Süßkint-Bild JAHRMÄRKER: Miniatur, S. 330–346.

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legungen angestellt worden, ob der historische Süßkint tatsächlich ein Jude gewesen sei oder ob nicht vielmehr der Maler in seinem Bestreben nach personifizierender Bildgestaltung die Zuordnung zur jüdischen Religionsgemeinschaft aus einer Spruchzeile, die sich im anschließenden Textcorpus findet, erschlossen habe.383 So heißt eine Passage in Süßkints Oeuvre: ich wil in alter juden leben / mich hînnan fürwert ziehen. Auf den ersten Blick betrachtet gibt es gute Gründe, Süßkints Judentum nicht in Abrede zu stellen, denn die Personenbezeichnung lautet nicht einfach nur der Jvde, womit sie schablonenhaft unkonkret bliebe, sondern der Dichter erhält einen üblichen – jüdischen – Beinamen, und der Herkunftsort Trimberg wird hinzugefügt. Damit nennt die Manessische Handschrift einen historisch verifizierbaren Juden, dem man noch im 14. Jahrhundert die Autorschaft an den zwölf überlieferten Spruchstrophen zugetraut hat. Daß es bisher nicht möglich gewesen ist, mit letzter Sicherheit den historischen Autor Süßkint von Trimberg zu ermitteln, hängt zum einen mit den allgemeinen Unsicherheiten in der Identifizierung mittelhochdeutscher Lyriker zusammen, hat aber im speziellen Fall Süßkints wiederum mit seiner Sonderposition als Jude zu tun. Es gibt eine Reihe von urkundlichen Erwähnungen verschiedener Juden, die den Beinamen Süßkint tragen, häufig in Verbindung mit dem „heiligen Namen“ Alexander. Die Belege reichen von der Mitte des 12. bis in das 16. Jahrhundert hinein, es existiert also eine ganze Reihe von Trägern dieses Namens.384 Als Spruchdichter ist keiner der Genannten apostrophiert, doch das entspräche auch nicht den Gepflogenheiten. Die verschiedenen Juden namens Süßkint sind vielmehr deshalb urkundlich belegt, weil sie in Rechtssituationen auftreten. Sie erscheinen alle als in ihre städtischen Gesellschaften integriert; der spezifische urkundliche Kontext weist sie als besitzend, über größere Geldmittel verfügend aus. Daher kann die Identifizierung einer dieser Personen namens Süßkint mit dem Dichter nur spekulativ anhand von Indizien erfolgen. Aufgrund literarhistorischer Erwägungen läßt sich die Suche nach dem Autor Süßkint von Trimberg indes auf die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts konzentrieren. Mit Argumenten, die die Stilistik und Motivik der Sprüche betreffen, muß das tradierte Textcorpus in den Zeitraum zwi383 So z.B. die Überlegung von STRAUSS: Süsskint, S. 19–30. Gegen die jüdische Identität von Süßkint spricht sich besonders DE BOOR (Hrsg.): Mittelalter, S. 708f., aus. Diskussion und Kritik der Positionen durch WENZEL: Süßkind, S. 284–289, sowie durch GERHARDT: Süßkind, S. 172–179. 384 Abdruck und Bewertung der Belege samt umfassendem Forschungsbericht bzw. Forschungskritik bei GERHARDT: Süßkind, S. 38–67. Meine nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf die ebd. zusammengestellten Informationen.

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schen 1200 und 1250 datiert werden.385 Zudem weist die Sprache einige mitteldeutsche Eigenarten auf, so daß auch der geographische Raum eingegrenzt werden kann.386 Für die Identifizierung des Autors ist in der Forschung daher an erster Stelle ein Süßkint aus Würzburg ins Gespräch gebracht worden.387 Urkundliche Belege dieser Person existieren für die Jahre 1218 und 1225 (Judaeo Süzkint nomine bzw. Judaeum Súzkint). Diese Autorspekulation besitzt große Plausibilität. Noch ein anderer Träger gleichen Namens, der urkundlich 1238 in Konstanz beim Verkauf eines Hauses durch den Erzbischof von Trier contra Suzekindum Iudeum an das St. Floriansstift vermerkt ist, käme als Dichterperson theoretisch in Frage.388 Eine letzte Identifizierungshypothese ergibt sich schließlich aus einem Eintrag in das Memorbuch von Schlüchtern, in dem von 1235 an Todesdaten und Namen der verstorbenen Gemeindemitglieder festgehalten wurden, und das einen qrbmyr+m +nyqzwz hnwxmh qxcy “r („Herr Isaak, genannt Süßkint, aus Trimberg“) verzeichnet. Seine Erwähnung folgt auf den Eintrag der 34 Opfer des Ritualmordprozesses von Fulda 1235. Da das Judenregal für das Dorf Trimberg und den Raum Schlüchtern die Herzöge von Franken innehatten und diese auch Bischöfe von Würzburg waren, scheint eine Gleichsetzung dieses Süßkint mit dem eben erwähnten Würzburger Süßkint durchaus möglich. Die gegenläufigen Versuche, Süßkints jüdische Identität grundsätzlich als reines Konstrukt der Rezeption zu begreifen und damit abzustreiten, resultieren aus dem Bedürfnis, auf den besonderen Umstand zu reagieren, daß ein Jude Aufnahme in das so genannte „Königliche Liederbuch“ finden konnte.389 Es stellt sich dabei wiederum die grundsätzliche Frage, inwiefern Juden an der literarischen Kommunikation in der deutschen Vormoderne partizipierten. EDITH WENZEL hat eine Reihe von Hinweisen zusammengetragen, die für ein jüdisches Interesse an mittelhochdeutscher Literatur sprechen:390 aus dem {ydysx rps des Juda ben Samuel ergibt sich die Beliebtheit von höfischen Erzählungen bei einem jüdischen Publikum,391 und das mittelhochdeutsche Brautwerbungsepos ‚Dukus Horant’, um 1300 entstanden, wurde in hebräischen Buchstaben niedergeschrieben, ist also offenbar Ausdruck eines jüdischen Literaturbetriebs im 385 WACHINGER: Süßkind, Sp. 548–552, mit weiterführenden Literaturangaben; ergänzend GERHARDT: Süßkind, S. 67–69. 386 WACHINGER: Süßkind, Sp. 550. Dialektale Eigenarten des Mitteldeutschen weist KLD, Bd. 1, S. 513–516, an den Reimen der Süßkint-Texte nach. 387 So zuerst MSH, Bd. 4, S. 537. Relativierende Überlegungen dazu bei GERHARDT: Süßkind, S. 51. 388 Vgl. GERHARDT: Süßkind, S. 43. 389 Vgl. hierzu WAPNEWSKI: Fremder, S. 111–125; WAPNEWSKI: Ton, S. 268–284. 390 Vgl. WENZEL: Süßkind, S. 284–298. 391 So schon DINSE: Entwicklung, S. 21.

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deutschen Mittelalter. Die jüdische Bevölkerung von Aschkenas partizipierte im 13. Jahrhundert damit aktiv an der christlichen Dichtkultur, und zwar als Rezipienten und als Produzenten. Vor diesem Horizont verliert die Aufnahme eines jüdischen Lyrikers in eine mittelhochdeutsche Liederhandschrift ihren außergewöhnlichen Charakter. Indes handelt es sich hier um einen Variationsfall: ein christliches Publikum rezipiert die Texte eines jüdischen Autors. Daß es sich dabei jedoch nicht um christliches Interesse an jüdischer Literatur handelt, sondern sich vielmehr ein jüdischer Autor auf die literarischen Vorlieben eines christlichen Publikums einläßt, soll anhand einiger genauerer Textinterpretationen gezeigt werden. 2. Literarische Spuren Das in Liederhandschrift C unter Süßkints Namen überlieferte Textcorpus besteht aus zwölf Sangspruchstrophen, die inhaltlich und formal mit den Gattungskonventionen der Spruchdichtung im Zeitraum von 1200 bis 1250 korrespondieren: In einzelnen Strophen, die jeweils Sinneinheiten bilden und deren metrischer Bau eine übereinstimmende sangbare Melodie anzeigt, werden traditionelle Themen der Gnomik wie der Lebensführung und der Didaxe verhandelt.392 Der metrische Bau sowie das Reimschema der Strophen erlauben es, Süßkints Werk in sechs Töne zu untergliedern (I–VI), wobei einzelne Sprüche der gleichen Melodie folgen können (I,1– 3; III,1+2; IV,1–3; V, 1+2), manche Töne jedoch nur durch eine Strophe repräsentiert sind (II; VI).393 Da konkrete politische Aussagen wie in der Spruchdichtung Walthers von der Vogelweide oder Reinmars von Zweter bei Süßkint fehlen, mangelt es auch an entsprechenden faktischen Anhaltspunkten, die deutlichere Datierungshinweise liefern könnten. So bleibt Süßkints Textcorpus relativ konturlos in der Gesamtüberlieferung des Sangspruchs. Daß es nicht in der Gruppe der namenlosen Sänger untergegangen ist, hängt meines Erachtens allein mit der jüdischen Identität seines Verfassers zusammen. Für ein Verständnis der Texte hat sich dieser Umstand jedoch eher hemmend ausgewirkt. Denn das primäre Interesse der Forschung hat sich immer wieder auf die Rekonstruktion biographischer Substrate und die Suche nach speziell Jüdischem konzentriert, im konkreten Fall besonders auf die Frage danach, ob der historische Autor in der Tat Jude gewesen sei. Auch HELMUT DE BOOR versteht die Texte vor dem Horizont dieser Biographiediskussion, wenn er sagt, der als Süßkint bezeichnete Autor 392 Zur allgemeinen Einführung in die Gattung vgl. TERVOOREN: Sangspruchdichtung. 393 In der Einteilung folge ich der Forschung, vgl. z.B. KLD.

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könne nicht Jude gewesen sein, sondern hinter ihm stehe ein christlicher Wanderdichter aus der Gegend von Bamberg, da die christliche Haltung der religiösen Sprüche auf einen nichtjüdischen Verfasser hinweise.394 Schauen wir uns daher einige für unser Thema besonders einschlägige Süßkintsche Sprüche genauer an, zunächst die beiden Strophen des dritten Tones, die sich untereinander über das Thema „Lobpreis der rechten Ordnung“ verbinden lassen: Küng herre, hôchgelopter got, waz dû vermacht! dû liuchtest mit dem tage unde vinsterst mit der nacht. dâ von diu welt vil fröide unde ruowe hât. küng, aller êren dir noch nie gebrast, wie den tag dû zierest mit der sunnen glast und ouch diu nacht dîns mânen liecht wol stât. dû bernst himel mit den stern. din schônheit iemer mag gewern. du hâst ze geben gâbe vil der nicht zergât. (III,1) Irs man krôn ist daz vil reine wîp; iemer in wol êret ir wol werder lîp. er saelic man dem diu guote sî beschert; der mag sunder zwîvel mit ir sîn jâr willeclîch vertrîben stille und offenbâr. er sich mit ir sünden unde schanden wert. mit hôher stet ist sî bedacht; ir liecht fiur löschet nit in nach. ir hôhez lop mit der meiste menge vert. (III,2)

Im Lob Gottes wird allein der Schöpfergott angesprochen. Die preisende Diktion, die direkten Apostrophen und der abschließende Hinweis auf die ewige Dauer göttlichen Wirkens aktualisieren Darstellungsmomente, die an das Gebet erinnern, so daß PETER WAPNEWSKI von einem „Gebetshymnus“395 gesprochen hat, bei dem vor allem auffällt, daß keinerlei Anspielungen auf die christliche Trinität, die Gottesmutter oder das Heer der Heiligen enthalten sind – der Spruch bleibt vielmehr rein monotheistisch in einem der Vorstellungswelt des mittelalterlichen Judentums entsprechenden Sinn. Ähnlich allgemein perspektiviert ist auch das Lob der tugendhaften Ehefrau. Ihre Qualitäten werden kaum konkretisiert. Alles kreist um die staete und um die Spiegelung durch die Umwelt. Sie ist die urteilende Instanz, welche über die êre entscheidet. Da in dem von Süßkint entworfenen Bild das Ansehen des Mannes ursächlich an das Verhalten sei394 Vgl. DE BOOR: Mittelalter, S. 708f. 395 WAPNEWSKI: Fremder, S. 128.

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ner Ehefrau geknüpft ist, weist der Dichter der Frau eine zentrale Position im Spannungsfeld von Gesellschaft und Ehe zu, unterwirft die Frau aber zugleich einer besonderen Verantwortung, da ihre êre auf beide Ehepartner zurückfällt. Eine speziell jüdische Perspektive Süßkints auf die Bedeutung der Ehefrau ist von der Forschung zwar bisher zurückgewiesen worden,396 meines Erachtens jedoch mit wenig überzeugenden Verweisen auf vermeintlich ubiquitäre Parallelen bei anderen Spruchdichtern. Süßkint spielt hier schließlich erkennbar auf Prov 31,10–31 an, eine im Judentum nach den Anfangswörtern als lyx t#) (Vulgata: mulier fortis) bekannte biblische Passage, die seit dem hohen Mittelalter fester Bestandteil der häuslichen Feier des Sabbatabends sowohl im aschkenasischen wie im sefardischen Ritus ist.397 Die Hinweise auf die biblische Vorlage sind sowohl indirekter wie direkter Art: zum einen in der starken Betonung der Bedeutung des öffentlichen Ansehens, die ein zentrales Thema beider Texte darstellt, zum anderen in einem wörtlichen Zitat von hrn hlylb hbky )l (Prov 31,18: non exstinguetur in nocte lucerna eius) im achten Vers von Süßkints Spruchs. Insbesondere die Übersetzung von rn („Licht“) durch liecht fiur im Gegensatz zur aus der Vulgata bekannten, wesentlichen konkreteren lucerna verdeutlicht, daß hinter III,2 eine genauere Kenntnis des hebräischen Ausgangstextes zu vermuten ist, die einem christlichen Spruchdichter der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts in keinem Fall zuzutrauen wäre. Die sich in der Handschrift anschließenden drei Strophen in Ton IV behandeln eine Reihe unterschiedlicher Gesichtspunkte, die insgesamt jedoch alle die Rolle des Einzelmenschen in der irdischen Gesellschaft und der göttlichen Ordnung diskutieren. Im dritten und letzten Spruch der Melodie werden in einer generelleren Perspektivierung Reichtum und Armut in das Gefüge der Weltordnung gestellt (IV,3): Hatte rîcher mel, der arme dâ bî eschen hât; dar an gedenke ein wîser man, daz ist mîn rât. und lach dir nit den armen sîn ze smehe zeinem friunde: vil lîchte kumet diu stunde daz er sîn bedarf. dâ von sî rîcher gen dem armen nicht ze scharf. kuo sunder hagen den sumer nicht wol getuon künde. wie man den esel hât unwert, doch was er ie gereite, wâ man ie sînes dienstes gert, daz er in nie verseite. 396 Vgl. vor allem GERHARDT: Süßkind, S. 155f. 397 Vgl. dazu NULMAN: Encyclopedia, S. 74f.; anders ELBOGEN: Gottesdienst, S. 112, der die Rezitation dieser Verse erst im 16. Jahrhundert entstanden sein läßt: „Was sonst noch in den Gebetbüchern an dieser Stelle steht, stammt aus den kabbalistischen tb# ynwqt und ist auch dort für die häusliche Feier bestimmt.“

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hetti nieman zuo armuoten pflicht, der rîchen rîchtuon waer ein wicht: wer solt dann dienen, ob der arme waere nicht. guot was ie daz baste, daz man den sac dâ mit verbunde.

Die Armut hat ihren sozialen Sinn, weil sie es den Reichen überhaupt erst ermöglicht, mildtätig zu wirken und durch Almosen für das eigene Seelenheil zu sorgen; daraus entsteht andererseits auch die Verpflichtung der Besitzenden, für die Armen Verantwortung zu übernehmen und sie materiell zu unterstützen. Hiermit formuliert Süßkints Spruch meines Erachtens nicht einfach eine Variation zum in der Sangspruchdichtung gängigen Heischemotivik, sondern vielmehr eine zentrale Idee des talmudischen Konzepts von {ydsx twlymg („Taten der Barmherzigkeit“), wie es sich mit den entsprechenden gesellschaftlichen Verpflichtungen verknüpft unter anderem in bBerachot 18a, bSchabbat 127a, bSukka 49b, bKetubot 50a, bNedarim 39b, bBaba Batra 10a oder bMegilla 3b ausgeführt findet. Die Armut bleibt auch im weiteren Zusammenhang von Süßkints Sprüchen zentral im Fokus, besonders in zwei Strophen, die schon des öfteren als inhaltlich zusammengehörig gedeutet wurden. Der erste Spruch behandelt die Armutsthematik nicht abstrakt, sondern vielmehr in der Form eines autoreferentiell-biographisierten Selbstaussage (V,l): Wâhebûf unde Nichtenvind tuot mir vil dicke leide. her Bîgenôt von Darbîôn der ist mir vil gevaere. des weinent dicke mîniu kint, boes ist ir snabelweide: er hât sî selten sat getân, biz ûf die fröidenbaere. in mînem hûs her Dünnehabe schaffet mir ungeraete, er ist zer welt ein müelich knabe:. ir milten, helfent mir des boesewichtes abe, er swechet mich an spîse und ouch an waete.

Bereits die Verwendung metaphorischer Namen verdeutlicht die artifizielle Rhetorizität des Spruchs, der sich damit als literarische Fiktion zu erkennen gibt. Für die sprechenden Namen gibt es eine Reihe von Parallelen in der mittelhochdeutschen Spruchlyrik, die EDITH WENZEL gesammelt hat.398 Der Heischegestus gehört zur gnomischen Topik der Sangspruchdichtung, wird aber zugleich durch die bei Süßkint stattfindende Verkeh398 Belege bei WENZEL: Süßkind, S. 287f.; literarische Parallelen stellt auch WAPNEWSKI: Ton, S. 278f., zusammen.

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rung parodistisch gebrochen. Die biographistische Deutung resultiert aus der expliziten Verkennung der rhetorischen Grundstruktur des Spruchs, ebenso wie das Haussorgemotiv, bei dem der Sprecher sich als besorgter Familienvater geriert, unter anderem Parallelen in der Lyrik Neidharts und der Epik Wolframs von Eschenbach kennt, somit ebenfalls ein literarisches Motiv ist, das Süßkint verwendet, ohne damit auf reale Gegebenheiten anzuspielen.399 Der Schluß, der historische Dichter habe zwei hungrige Kinder besessen, die er nur bedingt satt machen konnte, ist daher verfehlt,400 hat jedoch in der Forschung bereits des öfteren als Verständnishintergrund für die zweite Strophe dieses Tons gedient, die zugleich für unsere Frage von zentraler Bedeutung ist (V,2): Ich var ûf der tôren vart mit mîner künste zwâr. daz mir die herren nicht went geben, daz ich ir hof wil vliehen und wil mir einen langen bart lân wachsen grîser hâre: ich wil in alter juden leben mich hinnân fürwert ziehen. mîn mantel, der sol wesen lanc, tief under einem huote. dêmüeteclich sol sîn mîn ganc, und selten mê gesingen hovelîchen sanc, sîd mich die herren scheident von ir guote.

Daß im Kontext der Frage nach der Identität des historischen Süßkint gerade dieser Spruch das meiste Interesse der Interpreten auf sich gezogen hat, ist ohne größere Erklärungen verständlich. Es ergeben sich dabei grundsätzlich zwei denkbare Möglichkeiten: Der Sprecher ist entweder Christ und droht als Reaktion auf die ausbleibende materielle Würdigung seiner Kunst eine Konversion zum Judentum an, oder ein in die Majoritätskultur integrierter Jude bringt stilisiert seine Dichtung mittels scheinbarer biographischer Details, um seiner – nichtsdestoweniger rein literarisch bleibenden – Drohung besonderes Gewicht zu verleihen und zugleich sei399 Vgl. Neidharts ‚Winterlied 11’, VII,1–3: Mich hât ein ungetriuwer tougenlîchen an gezündet, / hât mir vil verbrant, des mîniu kindel solten leben; / diu leit sîn unserm trehtîn und den vriunden mîn gekündet, sowie Wolframs ‚Parzival’ 184,29–185,5: wan dâ ich dicke bin erbeizet / und dâ man mich hêrre heizet, / dâ heime in mîn selbes hûs, / dâ wirt gefreut vil selten mûs, / wan diu müese ir spîse steln. / die dörfte niemen vor mir heln: / ine vinde ir offenlîche niht. Allgemein zu diesem Motiv vgl. SCHWOB: hûssorge, S. 77–97. 400 Vgl. SIEVERS: Juden, S. 31; ROSENTHAL: Süßkind, S. 85. Selbst KARL STACKMANN hat in diesem Sinne biographistisch spekuliert: „Da spürt man durch die Schablone der Armutsklage hindurch die Stimme echter menschlicher Not und unmittelbarer Sorge“ (STACKMANN, Süßkind, Sp. 350).

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ne eigene Sonderstellung scherzhaft ins eigene dichterische Werk einzuschreiben. Er droht also damit, die Integration aufzugeben und, ob wieder oder erstmalig, muß dahingestellt bleiben, nach jüdischem Brauch zu leben. Derartig grundsätzliche Drohungen eines Sängers, das Singen aufgrund ausbleibenden Lohns aufzugeben, sind vor allem aus dem Minnesang bekannt, wie parallele Formulierungen bei Heinrich von Morungen (MF 127,34) oder Walther von der Vogelweide (L. 72,31) zeigen. Auch die offensichtlich biographische Stilisierung einer literarischen Aussage gehört schon seit der rheinischen Minnelyrik zum Repertoire volkssprachlichen Dichtens, wie ein Lied Kaiser Heinrichs VI. zeigt, in dem der Grad der affektiven Bindung des Sängers an seine Minnedame mit der Bereitschaft zum Verzicht auf die eigene Herrschermacht verdeutlicht wird (MF 5,36). Ein ähnlich avanciertes Beispiel liefert wiederum Walther mit seinem Absagelied, in dem er die personifizierte Frau Welt ihren Dialogpartner mit Walther anreden läßt (L. 100,24). In all diesen Fällen soll die Überblendung von Rollen-Ich und historischem Dichter eine besondere Authentizität und Nachdrücklichkeit der Aussage des jeweiligen Lieds suggerieren. Grundsätzliche Voraussetzung für das Gelingen dieses literarischen Topos ist jedoch, daß die historisch-faktitive Relationierung korrekt ist, daß mithin Heinrich VI. tatsächlich ein Herrscher ist, der auf seine Herrschaft zugunsten der minne verzichten könnte, daß der Verfasser des Absagelieds tatsächlich ein Sänger ist, der Walther heißt – und daß eben Süßkint von Trimberg tatsächlich ein Jude ist. In Spruch V,2 kombiniert Süßkint diese beiden, vor ihm bereits gängigen rhetorischen Strategien miteinander und verstärkt dadurch den topischen Drohgestus noch zusätzlich. Er spielt somit sowohl mit seiner eigenen jüdischen Identität als auch mit dem literarischen Kenntnis- und Erwartungshorizont seines – christlichen – Publikums, daß dieses literarische Spiel schließlich durchschauen können mußte, um es überhaupt goutieren zu können. Ein Problem im kulturell-antagonistischen Sinne stellte das Judentum Süßkints für sein zeitgenössisches Publikum augenscheinlich nicht dar; die Problematisierung dieses interkulturellen Transfers blieb vielmehr der modernen Forschung überlassen.401

401 Vgl. in diesem Sinne vor allem WENZEL: Süßkind, S. 298. WAPNEWSKI akzeptiert die jüdische Identität Süßkints, deutet Spruch V,2 jedoch mit einem problematischen biographistisch-ethnisierenden Impetus: „So daß die Quintessenz dieser Strophe zu interpretieren wäre als das Bekenntnis einer Heimkehr. Der Jude Süßkind hat sein Glück in der Welt der anderen versucht, ist unter die fahrenden Sänger gegangen, ist in und an dieser fremden Lebensform gescheitert, der verlorene Sohn kehrt zurück zu seinen Ursprüngen, legt sich den alten Mantel wieder um, will künftig sein was er von je war“ (WAPNEWSKI: Ton, S. 282f.).

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3. Der Jude Süßkint – ein Vexierbild? Meine Analyse der Sprüche hat gezeigt, daß die vor allem in der Forschung des 19. und 20. Jahrhunderts aufgeworfene Frage nach der reinen Möglichkeit der Existenz eines jüdischen Dichters in der deutschen Vormoderne an den Spezifika des unter Süßkints Namen überlieferten Textcorpus vorbeigeht. Sie ist oftmals begünstigt durch eine allgemeine antisemitische oder zumindest doch antagonistische Haltung der älteren Forschung, ist zudem von einem rein biographistischen Interesse geleitet und endet daher häufig in Aporien. Süßkints Strophen bleiben bis auf wenige Ausnahmen im inhaltlichen wie formalen Rahmen der traditionellen Sangspruchdichtung, erfüllen somit primär die literarischen Vorlieben seines zeitgenössischen Publikums, das sein Werk durchaus geschätzt haben dürfte, wie das reine Faktum der Überlieferung der Strophen, noch dazu in der Manessischen Liederhandschrift, belegt. Süßkints formale wie inhaltliche Beherrschung der Gattung Sangspruchdichtung sowie das erfolgreiche Eingehen auf die literarische Erwartungshaltung seiner Rezipienten machen deutlich, daß es sich bei ihm um einen in die höfische Kultur der christlichen Majorität des 13. Jahrhunderts integrierten Berufsdichter gehandelt hat, dem keineswegs ein Außenseiterstatus zuzuschreiben ist. Eine gewisse Sonderstellung erhält er nichtsdestoweniger, und zwar von den Produzenten der Manessischen Handschrift, dem einzigen erhaltenen Überlieferungszeugnis: durch die explizite Benennung als der Jvde wird dem Betrachter veranschaulicht, daß Süßkint sich von den anderen Dichtern in dieser Hinsicht unterscheidet. Dadurch wird aber auch deutlich, daß die Sammler und Hersteller des Codex im frühen 14. Jahrhundert einem Juden die Autorschaft an dem spezifischen Spruchcorpus sowie die Zugehörigkeit zum höfischen Literaturbetrieb zugetraut – und sie zugleich nicht problematisiert haben: die Miniatur, die Süßkints Strophencorpus vorangestellt ist, bleibt stilistisch völlig in der Reihe der weiteren Autorenbilder.402 Abgesehen vom pileus cornutus fehlen irgendwelche diskriminierenden Attribute, wie etwa die seit dem IV. Laterankonzil verbindlich gemachte äußerliche Kennzeichnung der Kleidung oder ein auf das Stereotyp vom Wucherjuden verweisender Geldsack, ein Schächtmesser sowie die aus der Judas-Ikonographie geläufigen roten Haare – polemisch-diffamierende Attribute, welche die zeitgenössische Bildkunst durchaus bereitgestellt hätte.403 Die „typisch jüdische Hakennase“404, die GUSTAV ROETHE 402 Kunsthistorische Beobachtungen zur Miniatur Süßkints in der Manessischen Liederhandschrift unter Berücksichtigung der entsprechenden Forschung bei JAHRMÄRKER: Miniatur, S. 330–346. 403 Vgl. dazu ausführlich BLUMENKRANZ: Juden. 404 ROETHE: Süßkind, S. 335.

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auf der Miniatur gesehen hatte, läßt sich ebenfalls in keiner Weise wiederentdecken. Die Darstellung des jüdischen Dichters korrespondiert vielmehr gänzlich mit dem allgemein zu konstatierenden idealisierenden Gestus der Illustratoren der Manessischen Liederhandschrift. Damit fügen sich Autor und Werk problemlos in die Dichterreihe des Codex ein und liefern ein bemerkenswertes Beispiel für kulturellen Austausch zwischen Juden und Christen, der sowohl im 13. Jahrhundert als auch noch in den Jahrzehnten vor den Pestpogromen Mitte des 14. Jahrhunderts möglich und rezipierbar war. Mit Süßkint von Trimberg gab es somit in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts meines Erachtens in der Tat den ersten namentlich bekannten jüdischen Dichter deutscher Sprache. Süßkint bildet daher zugleich eine Spur und ein Produkt des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im deutschen Mittelalter, in dem sich Kulturkontakt und -transfer im Bild des jüdischen Spruchdichters im doppelten Wortsinn verdichten. Ihm, was seine Bedeutung für unser Verständnis der Sphäre künstlerischen Schaffens in der deutschen Vormoderne betrifft, im Bereich der Bildkunst an die Seite zu stellen wäre eventuell Joel ben Simon, genannt Feibusch Aschkenasi, der zwischen 1440 und 1485 als Schreiber und Illustrator im Rheinland, in Süddeutschland und Oberitalien wirkte.405 Obwohl von ihm allein mehr Arbeiten identifiziert werden konnten als von irgendeinem anderen jüdischen Handschriftenkopisten des europäischen Mittelalters, ist er quellenmäßig außerhalb seiner eigenen Werke bisher nicht faßbar. Alle Informationen stammen somit aus den Kolophonen von Handschriften, die er entweder geschrieben oder illustriert oder sowohl geschrieben als auch illustriert hat. Er stammte vermutlich aus Köln, lebte zudem in Bonn und arbeitete vermutlich nach 1450 primär für oberitalienische jüdische Auftraggeber. Die Mehrzahl der ihm zugewiesenen Werke sind liturgischer Natur, neben Gebetbüchern insbesondere Handschriften mit der Liturgie der abendlichen Feier der ersten beiden Tage des Pessachfests (xsp l# twdgh). Gewöhnlich zeichnete er als der Schreiber der Handschriften, wenngleich dies nicht ausschließt, daß in diesen Fällen auch die Illustrationen von ihm stammen, wie zum Beispiel in der ‚Ersten Nürnberger Haggada’, entstanden vor 1449 (Jerusalem, Schocken 405 Vgl. zur Biographie GUTMANN: Buchmalerei, S. 102. Des weiteren wäre in diesem Zusammenhang auch noch an den anonymen Kopisten der Dresdner ‚Iwein’-Handschrift zu denken (Dresden, Sächsische Landes- und Universitätsbibliothek, M 175): Seine gegen christliche Gottesvorstellungen gerichtete Texteingriffe, seine eigenen Explicitverse und seine Einrichtung der Handschrift durch hebräische Wortreklamanten legen den Schluß nahe, daß hier ein jüdischer Berufsschreiber einen höfischen Roman für ein christliches Publikum kopierte.

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Library, Ms. 24086), der um 1450 vollendeten ‚Ersten New Yorker Haggada’ (New York, Jewish Theological Seminary of America Library, Ms. Mic. 4481), einem Gebetbuch von 1449 (Parma, Biblioteca Palatina, Ms. 3144), einem Gebetbuch von 1452/1453 (Turin, Biblioteca Nazionale Universitaria, Ms. A. III. 14), einem Gebetbuch von 1469 (London, British Library, Ms. Add. 26957), der ‚Washingtoner Haggada’, abgeschlossen zu Beginn des Jahres 1478 (Washington, Library of Congress, Hebr. Ms. I), oder in Redaks Psalmenkommentar mit dem für Joels Tätigkeit spätesten nachweisbaren Datum 1485 (Parma, Biblioteca Palatina, Ms. 2841). In anderen Handschriften bezeichnet sich Joel hingegen als Illustrator wie zum Beispiel in der nach 1450 entstandenen ‚Londoner Haggada’ (London, British Library, Ms. Add. 14762),406 während er sich in manchen Fällen explizit als gleichzeitig verantwortlich für den Text als auch für die Illustrationen nennt, so vor allem in der ‚Zweiten New Yorker Haggada’ von 1465/1466 (New York, Jewish Theological Seminary of America Library, Ms. Mic. 8279). Seine Illustrationstechnik ist von deutlicher Emphase geprägt, die sich sowohl in der Federführung wie auch in der Farbigkeit der Miniaturen niederschlägt.407 Da ihm um die 20 Handschriften zugewiesen werden, ist in der Forschung diskutiert worden, ob Joel eine Werkstatt vergleichbar der chronologisch vorgängig aktiven Lauber-Werkstatt geleitet habe,408 womit seine Bedeutung für eine spezifische Form bildkünstlerischen Kulturtransfers zwischen Christen und Juden ähnlich groß wäre, wie Süßkints Bedeutung für den jüdisch-christlichen Austausch im Medium der volkssprachlichen Literatur.

406 Vgl. EDMUNDS: Place, S. 25–34. 407 Vgl. zum Beispiel die Abbildung von fol. 7v aus der ‚Londoner Haggada’ bei GUTMANN: Buchmalerei, Taf. 32. 408 Vgl. BEIT-ARIÉ: Joel, S. 25–39; zur mindestens zwischen 1427 und 1467 tätigen, elsässischen Werkstatt Diebold Laubers vgl. vor allem SAURMA-JELTSCH: Spätformen; RAPP: Bilder.

D. Zusammenfassung Unsere Spurensuche hat durch die Fokussierung auf die Rolle der deutschen Volkssprache und ihre literarischen Zeugnisse neben den fachspezifisch-altgermanistischen Ergebnissen zugleich eine Basis für eine grundsätzliche (Neu-)Bewertung des interkulturellen Verhältnisses von Juden und Christen zwischen 1150 und 1500 erbracht. Spuren des Transfers jüdischer Motive und Stoffe in die christliche Literatur des deutschen Mittelalters wurden aufgezeigt, die sich als wesentlich zahlreicher und vielfältiger herausstellten, als bisher angenommen, und sich keinesfalls auf eine subliterarische Ebene und die Epoche der frühmittelhochdeutschen Literatur beschränkten, sondern sowohl in geistlichen und weltlichen Zusammenhängen, in höfischer und (patrizisch-)städtischer Literatur zu finden waren. Unser Bild der mittelalterlichen deutschsprachigen Literatur wurde somit um einen bedeutsamen Aspekt vervollständigt. Zudem wurde ein weiterer Beitrag dazu geleistet, das Verhältnis von Juden und Christen, von Judentum und Christentum für das deutsche Mittelalter flächendekkend verstehen zu können. Die Suche nach den Spuren kulturellen Kontakts und Austausches zwischen Juden und Christen in der volkssprachlichen Literatur des deutschen Hoch- und Spätmittelalters fand in dieser Studie unter Bezugnahme auf bestimmte methodische und hermeneutische Prämissen statt (A.I.): Mittelalterliche Kultur wurde als allumfassendes, performatives gesellschaftliches Programm verstanden, das veränderlichen Einflüssen von Majorität und Minoritäten ausgesetzt und somit in seinem „Wesen“ und seinen Hervorbringungen hybrid ist. Der Transfer zwischen der an der Kultur des europäischen Raums beteiligten Mehrheit und den Minderheiten vollzieht sich durch das Medium „Text“, das in den Austauschbeziehungen zwischen Juden und Christen insbesondere in der Form des literarischen Stoffs oder Motivs zwischen den kulturellen Archiven wandern kann. Vorrangige Träger dieses Transfers sind Personen – und nicht etwa überpersonale „Strukturen“ – die auf der Grenze zwischen den Kulturen existieren, in einem kulturellen Zwischenraum, der zugleich der Ort des Kulturtransfers an sich ist. Diesen Ort bewohnen während des Mittelalters in erster Linie Konvertiten, die durch kulturelle Übersetzung ihrer neuen Bezugsgruppe Bruchstücke der Kultur vermitteln, die sie verlassen haben, wobei sie da-

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für stets bereits existente literarische Formen ihrer neu angenommenen Kultur verwenden. Andere Beispiele des Kulturtransfers, die von Personen übermittelt worden sind, die sich im Gegensatz zu Konvertiten nur zeitweilig im Bereich des darüber Hinausgehenden befunden haben, sind zumeist subliterarischer Natur und daher oft verschüttet. Um sie – oder doch zumindest die Möglichkeit ihrer Existenz – wieder aufzudecken, bedurfte es in dieser Arbeit einer Literaturhistorie, die sich der Archäologie des Marginalisierten annahm. Die eingehende Darstellung und kritische Würdigung der bisherigen Forschung (A.II.) zeigte deutlich das Fehlen stärker detailbezogener inhaltlicher Vorarbeiten. Gerade der eingehende Blick in die ältere Forschung ließ nichtsdestoweniger schon eine Reihe von Themen, Stoffen, Werkgattungen und Autoren hervortreten, deren Bedeutung für den jüdisch-christlichen Kulturtransfer im deutschen Mittelalter im folgenden ausführlich nachgegangen wurde, wie zum Beispiel die Rolle der deutschen Volkssprache, der Alexander-Stoff, die Weltchronistik oder Süßkint von Trimberg. Die Thesen und Ergebnisse der älteren und neueren Forschung wurden somit an konkreten Beispielen überprüft und weitergeführt, so daß ein zugleich vollständigeres und genaueres Bild des Untersuchungsfelds entstand. Durch die in Kapitel A.I. dargelegte Kombination kulturtheoretischer und literarhistorischer Herangehensweisen und Methoden eröffneten sich zudem neue Möglichkeiten der Analyse und Interpretation, um anhand unseres Untersuchungsgegenstands die spezifischen Funktionsweisen des jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter näher zu beschreiben. Auf einer breiten, sowohl lateinische, deutsche wie hebräische Quellen einschließenden Textbasis konnten sodann wesentliche historische Spuren des jüdisch-christlichen Kulturtransfers beschrieben werden, wobei deutsches Mittelalter und deutsche Volkssprache als Kontaktraum (B.I.) und Kontaktmedium (B.II.) kulturellen Austauschs im Zentrum standen. Drei voneinander unterschiedene, mögliche Formen und Stadien kulturellen Transfers zwischen mittelalterlichen Juden und Christen wurden dabei deutlich: 1. Ein mündlicher, vorschriftlicher und direkter Transfer im 11. und 12. Jahrhundert, in dem originär jüdische, darüber hinaus aber auch im weiteren Sinne orientalische Motive und Erzählstoffe vom jüdischen ins christliche kulturelle Archiv übermittelt werden. Ermöglicht wird dieses erste Stadium jüdisch-christlichen Kulturtransfers durch die Tatsache, daß die jüdische Seite sowohl im Orient wie im Okzident beheimatet ist und zwischen beiden geographischen Entitäten bereits vor der Zeit der Kreuzzüge enge direkte wie indirekte Beziehungen existieren. Literarischen Niederschlag hat diese Form kulturellen Austauschs, wie ausführlich gezeigt

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wurde, im deutschen Mittelalter unter anderem im ‚Ruodlieb‘, vor allem aber ab der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts in so unterschiedlichen volkssprachigen Werken wie dem ‚Herzog Ernst‘, ‚Salman und Morolf‘, ‚Reinhart Fuchs‘, oder den gereimten Weltchroniken Rudolfs von Ems, Jans’ von Wien und Heinrichs von München gefunden. In einzelnen Fällen, so zum Beispiel bei Jans von Wien, lebte diese Art jüdisch-christlichen Kulturtransfers im späteren Mittelalter noch einmal auf. 2. Ein zunächst mündlicher, sehr bald aber schon verschriftlichter, direkter, allerdings in der Form kultureller Übersetzung ablaufender Transfer im gleichen Zeitraum, in dem durch jüdische Konvertiten weitere Stoffe, zum Teil bereits unter der Sammelbezeichnung „Talmud“ (deuterosis, doctrina), dem christlichen Kulturbereich zugänglich gemacht werden. Dieses zweite Stadium unterscheidet sich vom ersten zum einen durch seinen Medialitätscharakter (Mündlichkeit versus Schriftlichkeit), zum anderen durch seine Trägerschaft. Zwar handelt es sich auch in diesen Fällen um Personen, die durch eine direkte, biographische Verbundenheit mit dem jüdischen Kulturbereich gekennzeichnet sind, doch im Gegensatz zu den Trägern der ersten Form jüdisch-christlichen Kulturtransfers haben sie durch ihren Religionswechsel diesen kulturellen Hintergrund verlassen und gegen einen gänzlich neuen Hintergrund eingetauscht. Daher spielt in dieser Form des kulturellen Transfers das apologetische Moment, die Suche des Transferenten nach einer Bestätigung seines Neuchristentums in der polemischen Abgrenzung oder Umwertung jüdischer Texttraditionen eine konstitutive Rolle. Literarisch schlägt sich diese Form vor allem in lateinischen, im späteren Mittelalter auch in volkssprachigen Erzählsammlungen nieder wie der ‚Disciplina clericalis‘ des Petrus Alfonsi und ihren altfranzösischen Prosa- und Versbearbeitungen, den ‚Gesta Romanorum‘, den verschiedenen Versionen der ‚Historia septem sapientum‘ und des ‚Dolopathos‘, Johannes’ von Capua ‚Directorium vitae humanae‘, dem ‚Novellino‘, Steinhöwels ‚Esopus‘ oder Paulis ‚Schimpf und Ernst‘. 3. Ein zuerst ebenfalls mündlicher, jedoch zum Teil schon im Entstehungsprozeß verschriftlichter, indirekter Transfer, in dem christliche Theologen im 12. und 13. Jahrhundert hebräische Quellen ihrer jüdischen Zeitgenossen rezipieren und adaptieren. Dieses dritte Stadium jüdisch-christlichen Kulturtransfers im Mittelalter stellt sozusagen gleichermaßen die Synthese und Abschaffung der ersten beiden Stadien dar, insofern es mit der Befragung jüdischer oder ehemals jüdischer Gewährsleute beginnt, nach der Überführung des neugewonnenen Wissens in den christlich-theologischen Diskurs aber den Charakter eines tatsächlichen Transferprozesses gänzlich einbüßt und zu einem eigenständigen und -gesetzlichen Diskussionsgegenstand der theologischen Literatur des westeuropäischen Christentums wird. Auf das kulturelle Milieu, aus dem die transferierten Texte ursprünglich

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stammen, wirkt sich diese Form des Kulturtransfers jedoch besonders nachdrücklich aus, da die Texte bereits ab der Mitte des 12. Jahrhunderts als polemische Waffe verwendet werden – zunächst gegen „Feinde im Inneren“, also konkurrierende christliche Theologen, die mit dem Vorwurf der judaisierenden Häresie konfrontiert werden, sodann aber gegen die originären Tradenten selbst in der Form von Religionsdisputationen, Talmudprozessen und Bekehrungspredigten. Literarisiert wurde dieser polemische Kulturtransfer zunächst wiederum in lateinischen Texten wie den Kommentaren der Viktoriner zum Alten Testament, der ‚Historia scholastica‘ des Petrus Comestor, Theobalds von Sézanne ‚Excerpta talmudica‘ oder dem ‚Passauer Anonymus‘, ab dem späteren 13. Jahrhundert aber auch in deutschsprachigen Werken wie der Sangspruchdichtung – zum Beispiel bei Pseudo-Konrad von Würzburg oder Pseudo-Regenbogen – im ‚Kleinen Lucidarius‘, in den Schriften des ‚Österreichischen Bibelübersetzers‘, Michel Beheims oder Hans Folz’. Kultureller Kontakt und Austausch zwischen Juden und Christen im Mittelalter konnten zudem als eng verknüpft mit vier erzählerisch-intentionalen Haltungen bestimmt werden, die nicht unbedingt in einer streng unterscheidbaren zeitlichen Abfolge einander abgelöst haben, sondern durchaus gleichzeitig anzutreffen waren, und die auf die Begriffe Aneignung, Polemik, Diffamierung und Abgrenzung gebracht wurden. Aneignung bezeichnet hierbei das Stadium der produktiven Beschäftigung mit der jeweils anderen Kultur, ihren Traditionen und Trägern, das sich in persönlichen Kontakten zwischen Juden und Christen, in der Übernahme von Stoffen und Motiven, aber auch in Übersetzungen der Quellenschriften der jeweils anderen Seite ausdrückte und niederschlug. Antrieb für diese Art des interkulturellen Transfers war zumeist die Absicht, die Überlieferung der anderen Seite in das eigene Bezugs- und Bedeutungssystem zu integrieren. In den Stadien der Polemik und Diffamierung, die bereits zum Stadium der Abgrenzung hinüberleiten, stand dagegen der Wunsch im Vordergrund, die Kultur des Anderen öffentlich in – tatsächlichen oder literarischen – Auseinandersetzungen abzuwerten, sei es durch Angriffe gegen die Texttraditionen oder gegen die Vertreter der Gegenseite. Allerdings setzen Polemik und auch Diffamierung immer noch die Wahrnehmung des Anderen voraus, die auch darauf zielen kann, die Gegenseite von der Richtigkeit der eigenen Anschauung zu überzeugen, so daß sie nicht gleichzusetzen ist mit Abgrenzung. Polemik ist somit noch eine Form des Kontakts, Abgrenzung dagegen ist Kontaktabbruch oder Kontaktvermeidung. Das Stadium der Abgrenzung ist nämlich im Gegensatz zu allen anderen zuvor beschriebenen Stadien durch die Exulierung des Anderen geprägt, durch den Rückzug auf die Teile der Überlieferung, die als originär eigene verstanden werden, und die – ideologische wie reale –

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„Säuberung“ des jeweiligen Kulturraums von den als deviant eingestuften Strömungen. Das kulturell Andere wird nicht mehr als Möglichkeit wahrgenommen, das Wissen des eigenen Archivs zu bereichern, sondern als Gefahr für die jeweilige kulturelle Identität verstanden – es bilden sich streng voneinander geschiedene Inseln des Eigenen und des Fremden. Die sich anschließenden detaillierten Fallstudien widmeten sich den literarischen Spuren des jüdisch-christlichen Kulturtransfers, konkret dem subliterarischen Transfer jüdischer Erzählstoffe in höfische Literatur während des 12. und 13. Jahrhunderts am Beispiel des Motivs des Lebermeers und der Werke Rudolfs von Ems (C.I.), den wandernden Erzählmotiven und ihrer Adaptation in die gereimte volkssprachliche Weltchronistik des 13. und 14. Jahrhunderts unter besonderem Augenmerk auf die ‚Weltchronik’ des Jans von Wien (C.II.), der polemisch-antijüdischen Dialogliteratur vom Frühmittelalter bis zum Beginn der Frühen Neuzeit und ihrem spezifischen Verhältnis zu den Anfängen der christlichen Talmudübersetzung seit dem späten 12. und frühen 13. Jahrhundert (C.III.), sowie dem Bild des jüdischen Spruchdichters Süßkint von Trimberg, der als erster namentlich bekannter jüdischer Dichter der deutschen Literaturgeschichte erwiesen werden konnte (C.IV.). Ein zentrales Ergebnis dieser Fallstudien stellt der Nachweis der immensen Bedeutung dar, die Europas Juden während des Mittelalters nicht nur als Vermittler schriftlich fixierter literarischer Traditionen wie im Falle Petrus Alfonsis, sondern auch subliterarisch transferierter Stoffe zukam. Erst die Kreuzzüge führten in der Geschichte des Mittelalters größere Massen von Christen in den Orient und zwangsläufig zu Kontakten mit der muslimischen Kultur. Dagegen verfügten die europäischen Juden schon weitaus früher über direkte und intensive Kontakte in den Machtbereich des Islam. Diese Kontakte boten beste Voraussetzungen für den Transfer literarischer Stoffe aus der Kultur des Orients in die des Okzidents, zu der somit auch die hebräische Literatur und deren Träger in Europa gehörten. Die weiteren literarischen Adaptationen solcher Stoffe haben zumeist die tendenzielle Offenheit des transferierten Erzählguts dazu genutzt, es auf unterschiedlichste Weise zu kontextualisieren. Neben die Darstellung und breitere Ausstaffierung durch andere, oftmals ebenfalls orientalische Motive tritt recht schnell die Interpretation im Sinne christlich-typologischen Denkens. Diese erzählerische Offenheit ist meines Erachtens ein Grundcharakteristikum transferierter Erzählstoffe. Sie ist bewußter Ausdruck einer veränderbaren Bedeutung, die fremden literarischen Traditionen im Rahmen einer rezipierenden und adaptierenden Kultur zukommen können. Die unterschiedlichen Adaptationsformen allgemein orientalischer oder originär jüdischer Stoff- und Motivtraditionen verdeutlichen die dynami-

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sche, in gewisser Hinsicht chaotische, zumindest aber schwer antizipierbare Hybridität literarischen Transfers. Das in dieser Untersuchung umrissene Bild vom deutschen Mittelalter als Kontaktzone zwischen Juden und Christen wird in der Forschung unter Hinweis auf die zahlreichen zwischen den beiden Gruppen vorhandenen Spannungen bis heute immer wieder negiert. Tatsächlich existierte mit den Juden Europas ja neben der christlichen Majorität im gleichen geographischen Raum eine Minorität, die in weiten Teilen des Kerngebiets der lateinischen Christenheit zugleich die einzige kulturell-religiöse Minderheitengruppe überhaupt darstellte. Die Fremdheit des Anderen wurde somit für beide Seiten problematisch: Die einen erschienen den anderen als das kulturell Fremde, das doch zugleich das topographisch Eigene war. Der drohende Verlust der kulturellen Eindeutigkeit und die Furcht vor einer Kette allmählicher Übergänge, die vom äußeren Feind zum inneren Feind, seinem Komplizen, sozusagen seiner Emanation führten, beschwor auf beiden Seiten Abwehrreaktionen herauf, die sich vor allem auf dem Gebiet des theologisch fundierten Rechts niederschlugen. Allein die nachdrückliche Regelmäßigkeit, mit der sich die geistlichen Autoritäten beider Seiten dazu veranlaßt sahen, solcherlei Verbote auszusprechen, spricht bereits dafür, daß in der Lebensrealität interkulturelle Kontakte der einen oder anderen Art wesentlich häufiger waren, als man gemeinhin anzunehmen bereit ist. Die weit verbreitete Vorstellung von einer vor der Epoche der europäischen Aufklärung streng eingehaltenen Scheidung zwischen jüdischer und christlicher Alltagswelt hängt meines Erachtens ursächlich mit der Perspektive des modernen Betrachters zusammen, der auf eine lang vergangene Epoche quasi durch ein Prisma der Verfolgungsgeschichte blickt. Diese schier endlos erscheinende Geschichte der Verfolgung verdunkelt zumeist den Blick der heutigen Interpreten für die Spuren des Kulturtransfers zwischen Juden und Christen während der Jahrhunderte des Hoch- und Spätmittelalters, die sich – wie in den vorhergehenden Kapiteln ausführlich dargestellt und nachgewiesen – vor allem in der deutschsprachigen Literatur finden lassen.

Handschriften und frühe Drucke I. Handschriften Basel, Universitätsbibliothek, Ms. Nr. 23: hebr.-afrz. Glossar Bonn, Universitätsbibliothek, Hs. 218: ‚Contra malum malannum’ Cambridge, University Library, Ms. Pembroke 45: Andreas von St. Viktor ‚Explanatiunculae‘ Douai, Bibliothèque municipale, Ms. 199: Petrus Venerabilis ‚Adversus Judaeos‘ Douai, Bibliothèque municipale, Ms. 381: Petrus Alfonsi ‚Dialogi’ Dublin, Trinity College, MS. 1224: Akten der römischen Inquisitionskongregation Dublin, Trinity College, MS. 1227: Akten der römischen Inquisitionskongregation Erfurt, Universitätsbibliothek, Cod. Amplon. 2° 338: Theobald von Sexannia ‚Errores Judeorum in Talmut’ Erfurt, Universitätsbibliothek, Cod. Amplon. 4° 149: ‚Passauer Anonymus’ Florenz, Biblioteca Laurentiana, Plut. LXXXIX super 15: Heinrich Capellanus ‚Adversus Judaeos’ Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 350: Ps.-Konrad von Würzburg Heidelberg, Universitätsbibliothek, cpg 848: ‚Große Heidelberger Liederhandschrift’ Jerusalem, Jewish National and University Library, Ms. Heb. 4° 6130: aschken. Haggada Jerusalem, Schocken Library, Ms. 24086: ‚Erste Nürnberger Haggada’ Leipzig, Universitätsbibliothek, Ms. 1099: hebr.-afrz. Glossar London, British Library, Ms. Add. 14762: ‚Londoner Haggada’ London, British Library, Ms. Add. 26957: aschken. Gebetbuch London, British Museum, Ms. Add. 27089: Benjamin von Tudela ‚Buch der Reisen’ Montpellier, Ecole de Médicine, Ms. 341: Stephan Langton, hebr.-lat. Vokabular München, Bayerische Staatsbibliothek, chm 5: Raschi, Bibelkommentar München, Bayerische Staatsbibliothek, chm 95: bab. Talmuld München, Bayerische Staatsbibliothek, chm 347: jidd. ‚Barlaam und Josaphat’ München, Bayerische Staatsbibliothek, chm 404: Josef von Höchstadt ‚Blütenlese der Gerechtigkeit’ München, Bayerische Staatsbibliothek, chm 405: Josef von Höchstadt ‚Blütenlese der Gerechtigkeit’ München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 311: Theobald von Sexannia ‚Errores Judeorum in Talmut’; ‚Passauer Anonymus’ München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 399: Konrad von Mure ‚Fabularius’ München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 2714: ‚Passauer Anonymus’ München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 9558: ‚Passauer Anonymus’ München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 10247: Hugutio von Ferrara ‚Summa in decretum Gratiani’

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Handschriften und frühe Drucke

München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 14403: Stephan von Tournai ‚Summa decretorum’ München, Bayerische Staatsbibliothek, clm 26847: Theobald von Sexannia ‚Errores Judeorum in Talmut’ New York, Jewish Theological Seminary of America Library, Ms. Mic. 4481: ‚Erste New Yorker Haggada’ New York, Jewish Theological Seminary of America Library, Ms. Mic. 8279: ‚Zweite New Yorker Haggada’ Oxford, Bodleian Library, Ms. Opp. 20: ‚Exempel von Rabbi Simon und dem gerechten Metzger’, Tanchuma A Oxford, Bodleian Library, Ms. Opp. 1566: Juda der Fromme, Exempelsammlung Oxford, Bodleian Library, Ms. Opp. 1567: Juda der Fromme, Exempelsammlung Oxford, Bodleian Library, Ms. Opp. add. 4° 136: Eisik Wallich ‚Liederbuch’ Oxford, Bodleian Library, Ms. Or. 3: Raschi, Bibelkommentar mit lat. superscriptio Oxford, Bodleian Library, Ms. Or. 62: Raschi, Bibelkommentar mit lat. superscriptio Oxford, Corpus Christi College, Ms. 6: Raschi, Bibelkommentar mit lat. superscriptio Paris, Bibliothèque Mazarine, Ms. 175: Andreas von St. Viktor ‚Explanatiunculae‘ Paris, Bibliothèque nationale, Ms. fonds de Sorbonne 1343: Theobald von Sexannia ‚Errores Judeorum in Talmut’ Paris, Bibliothèque nationale, Ms. hébr. 301: hebr.-afrz. Glossar Paris, Bibliothèque nationale, Ms. hébr. 302: hebr.-afrz. Glossar Paris, Bibliothèque nationale, Ms. lat. 16558: Theobald von Sexannia ‚Errores Judeorum in Talmut’ Parma, Biblioteca Palatina, Ms. 2780: hebr.-afrz. Glossar Parma, Biblioteca Palatina, Ms. 2841: Redak, Psalmenkommentar Parma, Biblioteca Palatina, Ms. 2924: hebr.-afrz. Glossar Parma, Biblioteca Palatina, Ms. 3144: aschken. Gebetbuch Prag, Státní knihovna vPraze, V.C. 18: Theobald von Sexannia ‚Errores Judeorum in Talmut’ Rom, Bibliotheca Vaticana, Cod. vat. lat. 1443: Innozenz IV., Verurteilung des Talmud Stuttgart, Württembergische Landesbibliothek, Cod. HB VI 106: Konrad von Mure ‚Fabularius’ Troyes, Bibliothèque municipale, Ms. 1385: Stephan Langton, hebr.-lat. Vokabular Turin, Biblioteca Nazionale Universitaria, Ms. A. III. 14: aschken. Gebetbuch Washington, Library of Congress, Hebr. Ms. I: ‚Washingtoner Haggada’ Weimar, Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek, Q 564: ‚Weimarer Liederhandschrift’ Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. vind. 590: Theobald von Sexannia ‚Errores Judeorum in Talmut’ Wien, Österreichische Nationalbibliothek, cod. vind. 2846: Österreichischer Bibelübersetzer ‚Judentraktat’

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Personen- und Werkregister Abigdor ben Elia ha-Kohen 222, 228, 243 Abraham ibn Chisdai 65, 216 Adam von Bremen 94, 195f., 203 Ademar von Chabannes 100 ‚Ad frasin‘ 186 Adso von Mentier-en-Der 263f. Agobard von Lyon 75–81, 84, 94f., 101, 108, 112, 248–253 ‚Akedass Jizhak‘ 66 Alanus ab Insulis 126 Albert der Große 233 Albert von Metz 101 Alexander III. 96, 242 Alexander der Große 56, 216f., 221 Alfons I. von Aragon 106 Alfons von Valladolid 98 Alkuin 82, 117 ‚Altercatio Simonis Iudaei et Theophili Christiani‘ 247, 264 ‚Althochdeutsches Schlummerlied‘ 46 Ambrosiaster 99 Ambrosius von Heiligenkreuz 218 Ambrosius von Mailand 235 Amulo von Lyon 75f., 79–81, 84, 94f., 101, 248, 252f. Andreas von St. Viktor 119–122 ‚Annales Herbipolenses‘ 149 ‚Annales Marbacenses‘ 147 ‚Annales Quedlinburgenses‘ 99 ‚Annales regni Francorum‘ 74 Anselm von Canterbury 116 Anselm von Köln 164 Arnulf der Erzprior 116 Ascher ben Jechiel → Rosch Augustinus, Aurelius 78, 112, 124, 129, 152, 188, 251 ‚Awroham owinu‘ 66 Bardo von Mainz 50 ‚La Bataille d’Aliscans‘ 203 Beheim, Michel 133, 138, 180, 256, 283 Benjamin ben Jona 197–201, 205 Berechja ben Natronai 65 Bernhard von Breidenbach 66

Bernhard von Clairvaux 151 Bernhard von Vienne 78, 250 Berthold von Regensburg 52f., 96f., 102f., 134, 146f., 151, 256f. Bodo der Diakon 80f., 91, 253 Bonjohannes von Messina 105 ‚Brandans Meerfahrt‘ 202 Brant, Sebastian 32 Bruno von Trier 95 ‚Das Buch des Aufrechten‘ 226f. Burchard von Worms 96, 116 Buxtorf, Johannes 48 ‚Cambridger Handschrift‘ 66, 154, 156 Chrétien de Troyes 268 Clemens V. 129 Colin, Philipp 54, 268 ‚Contra malum malannum‘ 183–190 ‚Contra sagittam diaboli‘ 187 ‚Contra vermes‘ 187 David ben Josef Kimchi → Redak ‚David und Goliath‘ 90 David von Augsburg 52f. ‚Dolopathos‘ 138, 179, 282 ‚Doniel‘ 66 Donin, Nicolaus 104f., 130, 254 ‚Dukus Horant‘ 154, 270 Dulcini, Isaak 98 Eckhart → Meister Eckhart Ekkehard IV. von St. Gallen 55 Elasar ben Isaak 93, 99 Elasar ben Juda 52, 83, 101 Elasar ben Pedat 107 Elia ha-Kohen 84 Elieser ben Natan → Raben Engelbert I. von Köln 88 Enikel, Jans → Jans von Wien Ephraem der Syrer 71 ‚Epistola Pontii Pilati‘ 260f. ‚Eulenspiegel‘ 154 Evrard 75

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Personen- und Werkregister

Faof von Chalon 78, 250 Feibusch Aschkenasi → Joel ben Simon Feuchtwanger, Heinrich 151 Flavius Josephus 119 Florus von Lyon 75, 248 Folz, Hans 133, 138, 180, 256, 261–266, 283 ‚Fortunatus‘ 154 Freidank 53, 58–60, 147 Friedrich II. 47, 88, 220 Friedrich II. von Österreich 90, 220 Fulbert von Chartres 101 Gagliego, Giovanni 92 Gamliel ben Simon 112, 161f. ‚Gan Eden‘ 66 Garnerius von Rochefort 233, 242 Gaufridus Grossus 142 Geiler von Kaysersberg, Johannes 31 Gerald von Wales 91 Gerschom ben Juda 88, 92, 99f., 235 Gervasius von Tilbury 233, 242 ‚Geschichte der Oberhäupter‘ 85 ‚Gesta Karoli magni‘ 75 ‚Gesta Romanorum‘ 31, 55, 138, 179, 233, 237f., 282 ‚Gesta Treverorum‘ 95 Goscelin von Canterbury 188 Gottesfreund vom Oberland 113–115 Gratian 96, 99, 116, 120, 122, 146 Gregor IX. 107, 124, 129, 131 Gregor von Tours 181 Guibert von Nogent 142f. Guido von Cîteaux 142 Gumpchen von Mainz 173 Gumprecht von Mainz 173 Haller, Anton 265 von Hardenberg, Georg Friedrich Philipp → Novalis Hartlieb, Johannes 148 Hartmann von Aue 58f., 278 Harun ar-Raschid 74 Heinbuche von Langenstein, Heinrich 152 Heinrich II. 101f. Heinrich IV. 87f., 90, 106 Heinrich VI. 276 Heinrich I. von England 106 Heinrich XVI. von Bayern-Landshut 151 Heinrich der Elsässer 58, 137, 179, 282 Heinrich der Glichesaere → Heinrich der Elsässer Heinrich von Kappenberg 110 Heinrich von Kröllwitz 204

Heinrich von Morungen 276 Heinrich von München 137, 179, 228, 240, 243, 282 Heinrich von Parma 101 Helmold von Bosau 181 Héloïse 118 Herder, Johann Gottfried 10f. Hermann von Scheda 89, 95, 97, 106, 109– 113, 115f. ‚Herzog Ernst‘ 63, 137, 179, 193, 200–202, 205, 217, 282 Hieronymus, Sophronius Eusebius 71, 74, 77f., 80, 112, 117, 121f., 232, 237, 241, 250f. ‚Historia duorum Christi militum‘ 216 ‚Historia infidelis mulieris‘ 24 ‚Historia septem sapientum‘ 138, 179, 282 ‚Historia von den sieben weisen Meistern‘ 31, 154 Hochfelder, Kaspar 260f. Honorius Augustodunensis 220 Horatius Flaccus, Quintus 60 Hrabanus Maurus 232, 241 Hugo von St. Viktor 119–122, 125 Hugo von Trimberg 118, 151, 171, 175, 238, 242 Hugutio von Ferrara 96, 99, 146 Ila 107 Innozenz IV. 124, 131 Irnerius von Bologna 120 Isaak ben Josef 131 Isaak ben Mose → Isaak Or Sarua Isaak der Jude 74 Isaak Or Sarua 82, 236 Isaak von Trimberg 270 Isidor von Sevilla 72, 78, 118, 181, 191, 195f., 250 Israel Isserlein 48f., 54, 152, 160, 163f., 171f. ‚Iter ad Paradisum‘ 56 Ivo von Chartres 96, 116 Jakob Anatoli 47 Jakob ben Ascher 140 Jakob ben Juda Weil 49, 160, 171, 173 Jakob ben Jekutiel 100 Jakob ben Mose ha-Levi Molin → Maharil Jakob ben Meir → Rabbenu Tam Jakob von Voragine 31 Jans von Wien 62, 137, 179, 218–228, 234, 239f., 243f., 282, 284 Jechiel ben Josef 130f. Jeklin von München 165

Personen- und Werkregister ‚Jenaer Liederhandschrift‘ 134, 257 Joel ben Simon 278f. Johann II. von Kastilien 98 Johann von Habsburg-Laufen 169 Johann von Soissons 143 Johann von Speyer 87 Johannes XXII. 145 Johannes von Capua 32, 65, 103, 105, 138, 179, 282 Jonatan ben Usiel 72, 231, 245 Josef ben Isaak Bechor Schor 120, 158 Josef ben Matitjahu → Flavius Josephus Josef ben Mose 160, 164 Josef ben Simon 158 Josef ben Simon Karo 120, 158 Josua der Jude 95 Juda ben David → Hermann von Scheda Juda ben Salomo 47 Juda ben Samuel → Juda der Fromme Juda ben Samuel ha-Levi 247 Juda der Fromme 52f., 65, 83, 170, 270 Juda Romano 47 Jude, Michael → Michael de Leone Justinus der Märtyrer 77, 250 Kachelofen, Konrad 256 ‚Kaiserchronik‘ 65, 170, 220 Kalonymos ben Juda 83 Kalonymos ben Kalonymos 47 Karl der Große 74f., 83 Karl IV. von Frankreich 145 Kalteisen, Heinrich 151f. Kaufringer, Heinrich 94 ‚Kleiner Lucidarius‘ 53, 77, 102, 135f., 138, 148, 150f., 180, 218, 249, 258, 283 ‚Klosterneuburger Evangelienwerk‘ → ‚Österreichischer Bibelübersetzer‘ Konrad I. von Kärnten 101 Konrad der Pfaffe 94 Konrad der Priester 146 Konrad von Helmsdorf 238, 242 Konrad von Megenberg 237f., 242 Konrad von Mure 105 Konrad von Weinsberg 164 Konrad von Würzburg 53, 134f., 138, 180, 203f., 257f., 283 Konstantin der Große 74 ‚Kudrun‘ 203 Lantfrid 74 Lauber, Diebold 279 ‚Das Leben Alexanders des Makedonen‘ 217

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‚Das Leben der heiligen Elisabeth‘ 136, 147, 259 ‚Das Leben Jesu‘ 56, 79f., 251, 253 ‚Das Lob Salomons‘ 65, 233–236, 240 ‚Löwenfabel‘ 66 ‚Lucidarius‘ 192, 196 Ludwig der Fromme 75f., 248 Ludwig III. 151 Ludwig VI. von Frankreich 119 Ludwig VII. von Frankreich 128 ‚Magdeburger Schöppenchronik‘ 267 ‚Magelone‘ 154 Maharam Rothenburg 48, 99, 140 Maharil 48f., 154, 160, 171f., 190 Maimonides → Rambam ‚Mainzer Anonymus‘ 42, 87 Manegold von Neuenburg 75 Marner 53 Martin V. 91 Maximilian I. 262, 265 Meir ben Baruch → Maharam Rothenburg Meister Eckhart 52 Menachem ben Saruk 158f., 231f., 237 Menlin von München 165 ‚Merigarto‘ 191–196 Merswin, Rulman 113 Meschullam ben Kalonymos 83f. Michael de Leone 169 Michelmann von Iphofen 75 Midrasch 44, 56, 59, 61, 71, 90, 106, 108, 112, 119, 124, 126–128, 131f., 199, 206, 208, 213, 222, 225–227, 259 Minne von Zürich 169 Mirlyd von Herlham 91 Mischna 60,78, 80, 112, 163, 171, 230, 250– 252 Mordechai ben Hillel 99 Mordechai ben Menachem 169 Mose ben Isaak ha-Levi Minz 49, 54, 171–173 Mose ben Jakob 130 Mose ben Jekutiel 87 Mose ben Kalonymos 83 Mose ben Maimon → Rambam Mose ben Menachem 169 Mose ben Nachman → Ramban Mose ben Salomo 47 ‚Münchner Oswald‘ 61 Nachmanides → Ramban ‚Von der Nachtigall‘ 90 Natronai ben Isaak 95 Neidhart 163, 275

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Personen- und Werkregister

Nigri, Petrus 264 Nikolaus von Heiligenkreuz 218 Nissim ben Jakob 55, 206, 208–211, 213f. ‚Nizzachon vetus‘ 165 Notker III. von St. Gallen 78, 112, 251 Novalis 10f. ‚Novellino‘ 138, 179, 282 Odo von Châteauroux 130f. Odo von Tusculum 254 Onkelos 46, 231 ‚Oracula Sibyllina‘ 263f. ‚Orendel‘ 194, 202 Öser, Irmhart 259f. ‚Österreichischer Bibelübersetzer‘ 133, 138, 180, 218, 256, 283 Ott der Jude 98 Otte 63 Otto II. 83 Otto II. von Freising 216 Ovidius Naso, Publius 60 ‚Pantschatantra‘ 22, 24, 32, 55, 103 ‚Passauer Anonymus‘ 132f., 138, 180, 255f., 283 Pauli, Johannes 32, 54, 103, 138, 179, 282 Paulus Christiani 105 Paulus de Santa Maria 98 Perpignano, Christophoro 92 ‚Petirass Aheron‘ 66 Petrus Abaelardus 118, 120, 125, 247 Petrus Alfonsi 31–33, 58, 65, 103, 105–109, 111–113, 115f., 125–128, 132, 137, 179, 204f., 282, 284 Petrus Comestor 119–121, 123, 138, 180, 222, 224, 232f., 237, 239, 241, 283 Petrus Venerabilis 125–129, 132 Philipp VI. von Frankreich 145 Philipp I. von Spanien 262 ‚Physiologus‘ 55 Pine, Samson 51, 54, 268 Plautus, Titus Maccius 60 ‚Prosa-Lancelot‘ 46, 56 Prudentius von Troyes 80, 253 Quintus Serenus 182 Rabbenu Tam 94, 99, 120f. Raben 48, 88, 94, 158 Radulfus Glaber 100, 142f. ‚Raffelstettener Zollordnung‘ 151 Raimund von Pennafort 128f. Rambam 14, 42, 47f., 77, 119, 130, 226, 249

Ramban 231, 247, 264 ‚Rappoltsteiner Parzifal‘ → Colin, Philipp; Pine, Samson; Wisse, Claus Raschbam 120f., 127 Raschi 46, 48, 58, 65, 118, 120f., 123, 127, 131, 157–159, 188f., 199, 225, 231f. Rather von Verona 185 Raynard von Sens 143 Redak 231 Regenbogen 53, 134f., 138, 180, 257f., 283 ‚Reinfried von Braunschweig‘ 63, 236f., 239, 243 ‚Reinhart Fuchs‘ → Heinrich der Elsässer Reinmar von Zweter 53, 271 Richard von St. Viktor 119f., 122 Richold von Mainz 75 Reuchlin, Johannes 48 Robert der Fromme 100 Robert von Anjou 47 Robert von Reading 91 Rosch 140, 163 Rudolf von Ems 44, 55, 63, 137, 177, 179, 206f., 209–217, 219, 228, 239f. 243, 282, 284 Rudolf von St. Trond 95, 97, 110 Rudolf von Steinach 206, 215 Rudolf von Schlüsselberg 24 Rüdiger von Speyer 77, 249 Rufinus von Bologna 122 Rumelant von Sachsen 53 ‚Ruodlieb‘ 137, 282 Rupert von Deutz 95, 97, 110 Ruppel, Berthold 105 Ruthard von Mainz 87 Saadja ben Josef 125 Sachs, Hans 32 ‚Salman und Morolf‘ 24, 61, 65, 137, 179, 282 Salomo ben Isaak → Raschi ‚Salomo ben Samson-Chronik‘ 86–88, 91, 94 ‚Salomo und Markolf‘ 78, 251, 262 Samuel ben Kalonymos → Samuel der Fromme Samuel ben Meir → Raschbam Samuel der Fromme 83 Schalom ben Isaak 152 Schaur, Johann 254f. Schemarja ben Elia 47 ‚Die Schildbürger‘ 154 ‚Schmuelbuch‘ 66 ‚Das Schneekind‘ 90 ‚Schwabenspiegel‘ 66 ‚Seifried Helbling‘ → ‚Kleiner Lucidarius‘

Personen- und Werkregister Sextus Amantius 90 Sigimund 74 Simcha ben Samuel 231 Simon ben Isaak ben Abun 100 Steinhöwel, Heinrich 31, 106, 138, 179, 282 Stephan III. von Bayern 165 Stephan Harding 117–120 Stephan Langton 123 Stephan von Tournai 96 Süßkint von Konstanz 270 Süßkint von Trimberg 50, 54, 58, 66, 70, 267– 279, 281, 284 Süßkint von Würzburg 270 Susman von Zürich 169 Tacitus, Publius Cornelius 194–196 Talmud 38, 44, 53, 55f., 58f., 62f., 68, 76–79, 81, 84, 93, 98, 104–108, 112, 119f., 124– 133, 136–138, 140, 157, 161, 176, 179f., 188, 190, 207, 216, 221, 226, 230–235, 247, 249–256, 259, 261, 274, 282–284 Tannhäuser 58 ‚Targum Jeruschalmi‘ 72, 245 Theobald von Sézanne 68, 131–133, 138, 180, 254f., 283 ‚Das Testament der zwölf Patriarchen‘ 260 Thietmar von Merseburg 83 Thomas von Cantimpré 52, 147, 237, 242 ‚Traktat von den Grabesleiden‘ 108

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Ulrich von Lichtenstein 53 Varnhagen von Ense, Rahel 66 ‚Vita Godefridi comitis Cappenbergensis‘ 111 Vinzenz von Beauvais 31, 233 Walahfrid Strabo 81, 253 Walther von der Vogelweide 53, 58–60, 66, 134, 257, 271, 276 ‚Weimarer Liederhandschrift‘ 135, 258 Wenssler, Michael 105 ‚Wessobrunner Schöpfungsgedicht‘ 66 Wezelin 91, 101f. Wido von Kappel 216 ‚Widuwilt‘ 64, 154 ‚Wiener Pferdesegen‘ 187 Wilhelm der Erzdiakon 116 Wilhelm von Auvergne 130 Wilhelm von Champeaux 119 Winterburg, Johann 254f. Wirnt von Gravenberc 64, 154 Wisse, Claus 54, 268 Wolflein von Lochamen 50, 54 Wolfram von Eschenbach 50, 56, 58f., 62, 94, 202f., 268, 275 ‚Zürcher Arzneibuch‘ 186, 190 ‚Zürcher Urfehdebriefe‘ 156