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German Pages VIII, 248 [256] Year 2019
Kulturtransfer und Verlagsarbeit
Schriftenreihe des Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen an der RGGU Moskau herausgegeben von Dirk Kemper und Elisabeth Cheauré Wissenschaftlicher Beirat: Ekaterina Dmitrieva (Moskau) Weertje Willms (Freiburg) Paweł Zajas (Posnán) Aleksej Žerebin (St. Petersburg)
Band 16 · 2019
Dirk Kemper, Paweł Zajas, Natalia Bakshi (Hg.)
Kulturtransfer und Verlagsarbeit Suhrkamp und Osteuropa
Wilhelm Fink
Für alle Zitate aus dem Siegfried Unseld Archiv (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach gilt: © Siegfried Unseld/Suhrkamp Verlag
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2019 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-6409-5 (paperback) ISBN 978-3-8467-6409-1 (e-book)
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . vii Dirk Kemper: Kulturtransfer und Verlagsarbeit – Suhrkamp und Osteuropa. Überlegungen zum Umgang mit dem Siegfried Unseld Archiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Katharina Raabe: Fortsetzung oder Neuanfang? Das Osteuropa-Programm des Suhrkamp Verlags seit 2000. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Rafael Y. Schögler: Suhrkamp, Theorie und Translationspolitik. Erste Rekonstruktionsversuche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Paweł Zajas: Zbigniew Herbert und Siegfried Unseld. Die Autor-Verleger-Beziehung als Faktor des Literaturtransfers . . . . . . . 57 Wiesław Małecki: Soziologie und Philosophie aus Osteuropa im Suhrkamp Verlag 1950–2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Matthias Schwartz: „Eine Vision anderer Zeiten und Welten“. Der Osten Europas und die „Phantastische Bibliothek“. . . . . . . . . . . . . . . 85 Natalia Bakshi: Suhrkamp und die russische Literatur. Mittlerfiguren 1950–1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Dirk Kemper: Russische Literaturtheorie – made by Suhrkamp . . . . . . . . . . 141 Mirosława Zielińska: Der Suhrkamp Verlag als Vermittlungsinstanz polnischer Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Michael Špirit: Zur tschechischen Literatur im Programm des Suhrkamp Verlags . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Katharina Raabe: Bibliographie des Suhrkamp-Osteuropaprogramms 2000 bis 2016 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Beiträgerverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Publikationsreihe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Vorwort Der vorliegende Band geht auf eine Tagung zurück, die das Institut für russisch- deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen (IRDLK) an der RGGU1 sowie das Deutsche Literaturarchiv Marbach vom 07. bis 08. April 2016 im DLA durchgeführt haben. Auf der Seite des IRDLK fügt sich die Veranstaltung in den zentralen Forschungsschwerpunkt zur Kulturtransferforschung ein; auf der Seite des DLA in eine Reihe von Veranstaltungen, die im Rahmen des „Suhrkamp- Forschungskollegs“2 der wissenschaftlichen Bearbeitung des Siegfried Unseld Archivs (SUA) in Marbach dienten. Die Organisatoren der Tagung und Herausgeber des Bandes danken Herrn Dr. Marcel Lepper und Frau Dr. Anna Kinder vom DLA für ihre vielfältige Unterstützung, dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) für die Förderung der Drucklegung im Rahmen der IRDLK-Reihe.
1 Näheres: http://irdlk-moskau.ru. 2 Näheres: https://www.dla-marbach.de/forschung/suhrkamp-forschungskolleg/.
Dirk Kemper
Kulturtransfer und Verlagsarbeit – Suhrkamp und Osteuropa
Überlegungen zum Umgang mit dem Siegfried Unseld Archiv 1
Suhrkamps Publikationen aus Osteuropa
Mit einem Osteuropa-Programm – bescheidener: mit Publikationen von Texten aus osteuropäischen Sprachen – hat der Suhrkamp-Verlag schon früh begonnen. Je nach Vorliebe erinnert man sich vielleicht an Autoren wie M arina Cvetaeva oder Stanisław Lem, an Denker wie Michail Bachtin oder Jurij Lotman, an die russischen Formalisten, die alle mit dem Label „Suhrkamp“ verbunden waren und sind. Doch zum Kernbereich des Verlagsgeschäfts in Frankfurter Zeit gehörte Osteuropa gewiss nicht. Das mag sich in Berliner Zeit tendenziell geändert haben, seit Katharina Raabe als Lektorin diesen Bereich betreut. Der Suhrkamp-Verlag kann für die ersten fünfzig Jahre seiner Arbeit kaum für sich in Anspruch nehmen, einen osteuropäischen Dichter entdeckt, in besonderer Weise gefördert und auf dem bundesdeutschen Markt durchgesetzt zu haben; allenfalls die Russin Marina Cvetaeva, der Tscheche Bohumil Hrabal, der Ungar Konrád György und der Pole Zbigniew Herbert kommen hier in Betracht, während man mit Lem eher gute Geschäfte machte. Lohnt sich vor diesem Hintergrund ein Forschungsprogramm „Suhrkamp und Osteuropa“? In jedem Falle. Die geringe Quantität der Übersetzungen osteuropäischer Bücher (deutschsprachige Originalbeiträge osteuropäischer Autoren gab es nur in Ausnahmefällen) spielt zunächst keine Rolle. Suhrkamp agierte auf diesem Felde nicht wesentlich anders als andere bundesdeutsche Verlage mit breit aufgestelltem Programm wie etwa die Häuser S. Fischer oder Hanser. Auf Osteuropa spezialisierte Fachverlage zu untersuchen wäre ein anderes Feld. Mit Suhrkamp aber steht ein Verlagshaus zur Untersuchung an, das für sich programmatisch in Anspruch nahm, „mit zeitdiagnostischer Sinnlichkeit“1 zu operieren, anders gewendet: ein Verlagshaus, dessen Programm geistige, gesellschaftliche, kulturelle Veränderungen abbilden und 1 Unseld bei Stoehr 1994, S. 54.
© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764091_002
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repräsentieren, teils auch gezielt fördern wollte. Diese gesellschaftlichen und kulturgeschichtlichen Rahmenbedingungen kontextuieren das Agieren des Verlages. Im Feld der sich wandelnden deutsch-russischen Beziehungen in Politik und Kultur beispielsweise ist der Verlag einerseits Akteur (wenn Unseld an Konsultationen der Bundesregierung zur Osteuropapolitik teilnimmt oder mit einer Organisation wie Inter Nationes kooperiert), andererseits ist das Verlagsprogramm selbst eine Ausdrucksseite der Dynamik in den Beziehungen zwischen der Verlagsgründung 1950 und dem Jahr 2000. In besonderer Weise bildet die Verlagsarbeit den Ort, an dem sich Transfer und Transformation osteuropäischen Gedankengutes vollzieht. Zum Transfer stehen Fragen wie diese an: Wer regt Übersetzungen an, ein Lektor, ein Ideengeber aus dem Kreise der Übersetzer oder ein osteuropäischer Autor selbst? Bleiben Bücher osteuropäischen Ursprungs Zufallsprodukte, oder sucht der Verlag sie durch die Bildung von Buchreihen zu profilieren? Wie bildete der Verlag Osteuropakompetenz? Fallen Entscheidungen allein unter kommerziellen Aspekten, oder werden Titel aus übergeordneten Aspekten mitfinanziert? Schließlich zur Transformation: Wie wird ein osteuropäisches Buch durch Gestaltung, Reihenzugehörigkeit, Werbung, Vor- oder Nachworte an den deutschen Leser vermittelt? Wo wird ein „aufnehmendes Bedürfnis“ beim Publikum lokalisiert, und welche „entgegenkommende Strömung“ kann, darf, soll der Leser in osteuropäischen dem Buch erkennen, die es ihm ermöglicht, es auf der Karte seiner Lesebiographie zu positionieren. Welche Stichworte liefert, welche Brücken baut ihm der Verlag dafür? All das sind Fragen aus dem Kernbereich der Kulturtransferforschung, und sie leiten die Beiträge in diesem Band an. Der Zugriff auf das Siegfried Unseld Archiv (SUA)2 in Marbach stellt für die Beantwortung dieser Fragen einen Glücksfall dar, auch wenn das Archiv allein nicht ausreicht, um Antworten zu formulieren. Wir kommen darauf zurück. Doch zunächst gilt es, erst einmal zu quantifizieren, wovon wir sprechen, wenn vom Osteuropa-Programm des Verlags die Rede ist. Nach Ausweis der Bibliographie des Suhrkamp Verlages 1950–2000 von Wolfgang Jeske verlegte Suhrkamp im Berichtszeitraum 12.302 „Novitäten“, wie sich Unseld im Geleitwort ausdrückt. Er rechnet also, ohne dass dies ausdrücklich gesagt würde, Neuauflagen nicht mit. Entsprechend viele Datensätze haben wir im Hinblick auf die Herkunftssprache des Originaltextes (und nicht auf die Nationalität der Autoren und auch nicht bezogen auf Länder) ausgewertet. Ein erstes beachtenswertes Ergebnis ergibt sich für den Anteil der Übersetzungen aus fremden Sprachen insgesamt: Mit 38% machten die Überset2 Einführend zu Struktur und Geschichte des SUA: Amslinger et al. 2015.
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zungen mehr als ein Drittel der bis 2000 erschienenen Titel aus. Wer ist dafür zuständig? Gibt es Regionalreferate? Wie bildet sich dieser Übersetzungsanteil in der Struktur der Mitarbeiterschaft ab, die bei Unselds Eintritt in den Verlag gerade mal sieben Personen umfasste, im Jahre 2000 aber 145?3 Nur 4,8 Prozent (595 von 12.302) des Verlagsprogramms aber entfielen auf Bücher aus osteuropäischen Sprachen, und zwar in folgender Verteilung: Polnisch 204 Russisch 169 Tschechisch 94 Ungarisch 60 Rumänisch 30 Serbisch 14 Serbokroatisch 13 Slowenisch 4 Kroatisch 4 Georgisch 3 Auf den Berichtszeitraum von 1950 bis 2000 bezogen, ergibt sich folgende Entwicklung:
Abb. 1.1
Die Publikationen aus Übersetzungsvorlagen in russischer und polnischer Sprache zeigen einige Besonderheiten, ohne dass die nachfolgenden Kurven monokausal etwa auf das jeweilige außen- oder kulturpolitische Verhältnis bezogen werden dürften. Wie die Untersuchungen zu beiden Sprachräumen 3 Vgl. Unseld: Geleitwort, S. VII.
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zeigen werden, unterliegt das Verlagsgeschäft einer Vielzahl von bedingenden Faktoren, die sich häufig nicht aus Rahmenbedingungen ableiten lassen, sondern kontingent ausnehmen:
Abb. 1.2
Abb. 1.3
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Für Ideengeschichtler verboten?
Was ist das Siegfried Unseld Archiv in Marbach? Wovon zeugt es? Welches Potential für die Forschung birgt es? Zwei diametral entgegengesetzte Antworten sind möglich: Die euphorische versteht das SUA als Kernarchiv zur Erschließung der Ideen- und Kulturgeschichte der mittleren Bundesrepublik: „Das Suhrkamp Archiv stellt einen wesentlichen Bestandteil des geistigen Erbes der Bundesrepublik Deutschland dar“, hieß es seinerzeit in einer Pressemitteilung des Verlags anlässlich des Verkaufs des SUA.4 Der Forschungsoptimismus dieser Ansicht speist sich vor allem aus der enormen Wirkung, die der sogenannten „Suhrkamp-Kultur“ von Mitte der sechziger bis Mitte der achtziger Jahre zugeschrieben wird. Die Erforschung des SUA steht in dieser Hinsicht erst am Anfang, und ihr wohnt ein enormes Potential inne. Als Verlag war Suhrkamp keineswegs „nur“ Mittler zwischen Autor und Leser; seine – wie auch immer zu beschreibende – Ausnahmestellung im Feld der literarischen und wissenschaftlichen Öffentlichkeit erlaube es ihm vielmehr, auf beide Seiten tiefgreifend einzuwirken. Ein Autor, sei es ein junges literarisches Talent oder ein arrivierter Fachwissenschaftler, konnte durch die Akzeptanz des Hauses zum „Suhrkamp-Autor“ werden, was in der Blütezeit des Verlages einer medialen Nobilitierung gleichkam.5 Auf den Leser wirkte der Verlag, indem er Texte nicht einfach verlegte, sondern in ein eigenes Diskurssystem einbettete. Eine wissenschaftliche Abhandlung wurde phasenweise anders rezipiert, wenn sie zwischen den farbigen Buchdeckeln der „edition suhrkamp“ erschien, weil ihr allein auf Grund dieser medialen Vermittlungsform suhrkamp-spezifische Diskursregeln zugewiesen wurden, etwa die Forderungen nach Kürze, gebändigter Anmerkungswut, P rägnanz und/oder Streitbarkeit. Kurz, eine solche Suhrkamp-Publikation weckte die Erwartung, Höhenkamm der aktuellen Theoriediskussion zu sein. All das steht hinter der Unseldschen Metapher vom Verlag „mit zeitdiagnostischer Sinnlichkeit“,6 deren wissenschaftliche Entfaltung noch aussteht. Wo aber ‚Wirkung‘ konstatiert werden kann, ist der Ideengeschichtler immer geneigt, auch eine ‚Wirkungsabsicht‘ zu unterlegen, denn allein die Relation von Absicht und Wirkung erlaubt es ihm, die Fessel der bloßen Beschreibung abzustoßen und zur Erklärung im weiteren Sinne vorzustoßen. ‚Erklärung‘ 4 Pressemitteilung: Suhrkamp und Insel Archive gehen an das Deutsche Literaturarchiv Marbach: http://www.suhrkamp.de/download/Sonstiges/Pressemitteilung_Archiv.pdf. 5 Vgl. Amslinger et al. 2015, S. 191, 212. 6 Stoehr 1994, S. 54.
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wiederum meint das Kerngeschäft einer jeden Geschichtsschreibung, die die zunächst isolierten oder atomisierten Daten und Fakten in die Struktur wissenschaftlich begründeter Kohärenz überführen will. ‚Kohärenz‘ kommt aber nur zustande, wenn man die Daten und Fakten gemäß einer vorgegebenen Ordnungsidee, einer externen Logik auswertet und in Beziehungsgefüge setzt. Darin liegt eine große Gefahr auch für unser Unternehmen: Angeleitet durch unsere retrospektive Sicht auf die Geschichte der Suhrkamp-Kultur unterlegen wir den Daten und Fakten nachträglich eine deutende Logik, und sind gleichzeitig davon überzeugt, das Material selbst verbürge diese Logik. Diese zirkuläre Falle heißt Sinnpräsupposition, und sie begleitet den Ideenund Kulturgeschichtler auf Schritt und Tritt. Die zweite Antwort auf die oben aufgeworfenen Fragen fällt geradezu sarkastisch aus, weil sie dem Ideen- und Kulturgeschichtler eben diese Gefahr der Sinnpräsupposition vor Augen führen will. Marbach habe mit dem SUA eigentlich nur einen ungeheuren Berg von Altpapier eingekauft,7 der von nichts anderem als von Kontingenz im Alltagsgeschäft des Verlages zeuge.8 Faktoren der Ideen- und Kulturgeschichte seien die Bücher, die Suhrkamp verlegt hat, nicht aber die Geschäftskorrespondenz, die darüber geführt wurde. Kontingenz meint hier, dass eine bestimmte Verlagsentscheidung zwar aus den überlieferten Zeugnissen heraus begründbar, aber keiner deutenden Logik einzuschreiben ist. Beide Positionen sind sehr ernst zu nehmen; eine einfache Entscheidung wäre fahrlässig. Die euphorische und die sarkastische Antwort zusammengenommen definieren nämlich die methodologische Herausforderung, vor der wir mit unserem Tagungsthema stehen. 3
Gegenstandsbereich: Tagesgeschäft, nicht Geschichte
Die zeitlichen Verhältnisse sind genau zu beachten. Die Akten im SUA entstammen größtenteils dem Tagesgeschäft. Sie erzählen viele Geschichten (im Plural), aber nicht die eine Geschichte (im Singular). Was uns so leicht über die Lippen kommt, nämlich Begriffe wie ‚Ideen- und Kulturgeschichte‘, meint bekanntlich Konstruktionen post festum, also Zuschreibungen, die nur aus der Retrospektive getroffen werden können. Das unmittelbare Agieren des Verlags 7 Vgl. auch Kinder 2015, S. 221: „Es muss, durch die Realisation konkreter Forschungsprojekte, der Nachweis erbracht werden, dass ein Archiv mehr ist als eine Rumpelkammer, sich darin mithin mehr als nur Altpapier findet, es tatsächlich Schätze zu heben gilt.“ 8 Vgl. dazu auch Katharina Raabe in diesem Band.
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im Tagesgeschäft war jedoch solchen Konstruktionen gegenüber vollkommen blind. Das heißt nicht, dass es unmotiviert geschah, aber diese Motivationen lagen auf einer völlig anderen Ebene als die nachträglichen, Kohärenz stiftenden Erzählungen einer Ideen- oder Kulturgeschichte. Eingedenk solcher Überlegungen haben wir zunächst einen möglichst neutralen Begriff für den Konferenztitel gewählt, nämlich ‚Verlagsarbeit‘ und eben nicht ‚Verlagsstrategie‘ oder ‚Verlagspolitik‘ – auch wenn wir natürlich die Hoffnung nicht aufgeben, neben der merkantilen noch eine andere ‚Strategie‘ im Osteuropageschäft identifizieren zu können. Nur darf diese eben nicht präsupponiert, sondern muss mühsam aus Einzelfallstudien erarbeitet werden. So haben wir die Tagung angelegt. Doch ist hier mehr als nur Vorsicht geboten. Sicher erscheint nur, dass Suhrkamp – wie jeder Verlag – Bücher in kommerzieller Absicht produzierte. Ob der Verlag „mit zeitdiagnostischer Sinnlichkeit“ daneben auch eine konsistente Wirkungsabsicht verfolgte, etwa der Art, Diskurse in Westdeutschland durch Importe aus Osteuropa nicht nur zu bereichern, sondern diese auch zu steuern, darf mehr als bezweifelt werden.9 Unzweifelhaft jedoch hatten die Suhrkamp-Publikationen Wirkung auf solche Diskurse, aber der Begriff der ‚Wirkung‘ darf nicht von der Produktionsseite her gefasst und als ‚Strategie‘ oder ‚Politik‘ verstanden werden, sondern allein von der Rezeptionsseite, auf der der Begriff ‚Wirkung‘ einen Effekt von Rezeptionsprozessen beschreibt.10 Unser Gegenstandsbereich ist also zunächst das Tagesgeschäft des Verlages mit allem, was dazugehört: von der Buchidee bis zur Realisierung, von der Arbeit des Lektorats bis zur Marketingstrategie, vom Manuskript bis zum Buchdruck, von der Sprachform bis zur Umschlaggestaltung. Diese Elemente liegen zeitlich eng beieinander; von einer weit gespannten Diachronie erzählen die entsprechenden Akten im SUA nichts. Gerade deshalb muss unser Blick hinausgehen über das in Marbach Archivierte, auf die Rezeptionsseite des Verlegten, das nicht einfach gedruckte Texte meint, sondern designte „Suhrkamp-Produkte“. Diese waren zwar vom Verlag als solche konzipiert, 9 Vgl. dazu Siegfried Unseld, der hier natürlich nicht über das Tagesgeschäft im Verlag spricht, sondern ein Image des Verlages für die Öffentlichkeit entwirft: „Wenn wir mit der Wahl [junger Autoren] Glück haben, – und das hatten wir oft – so wächst der Verlag organisch, gewissermaßen in Jahresringen, und er wächst nicht nach irgendwelchen Absichten, sondern nach dem inneren Kalender seiner Autoren.“ Stoehr 1994, S. 44 (Hervorhebung DK). 10 Zur Rolle des Lesers vgl. analog auch Siegfried Unseld: „Das Buch durchläuft ja Prozesse: als Manuskript ist es ein geistiges Produkt, als Buch wird es zur Ware und kommt auf den Markt, und in der Hand des Lesers wird es wieder zum geistigen Produkt.“ Stoehr 1994, S. 46.
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erlangten ihren Status aber erst in der Rezeption. George Steiners berühmte Begriffsprägung „Suhrkamp-Kultur“ war genau das, nämlich ein Effekt der Rezeption anlässlich der Besprechung von Adornos Gesammelten Schriften: Like Bloch and Walter Benjamin, Adorno has profited formidably from what one may call ‚the Suhrkamp culture‘ which now dominates so much of German high literacy and intellectual ranking.11
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Transfer- und Transformationsforschung
Die methodische Trennung von konzipierender Verlagsarbeit und den Effekten der Rezeption dient auch dazu, den Suhrkamp-Verlag nicht leichtfertig zum agierenden Subjekt der Kulturgeschichte zu machen. Als was aber wollen wir ihn dann auffassen, wenn es um das Geschäft mit osteuropäischen Autoren und Büchern geht? Der methodische Ansatz der Kulturtransferforschung, wie er sich durch und mit Michel Espagne entwickelt hat, bietet dazu wohltuende Distanzierungsmöglichkeiten an. Im Fokus der Transferforschung stellt der Verlag zunächst eine Mittlerinstitution dar, seine Akteure – vom Übersetzer, Redakteur, Reihenherausgeber bis zum Verlagschef – werden als Mittlerfiguren aufgefasst. Ihr Zusammenspiel bei jedem einzelnen Übersetzungsprojekt erscheint entweder als überkomplex oder als durchgängig kontingent. In jedem Falle scheint es schwierig, über empirische Reihenbildung zu Gesetzmäßigkeiten oder auch nur tragfähigen Arbeitshypothesen allgemeiner Art zu gelangen. Die Allgegenwärtigkeit von Kontingenz scheint nicht abzuweisen. Ob der Vorschlag für ein Übersetzungsprojekt realisiert wurde, hing zum Beispiel davon ab, zu wem im Verlag der Kontakt aufgenommen wurde: Busch reagierte anders als Urban et cetera. So bleibt zunächst nur die Einzelfallanalyse. Diese setzt voraus, dass man sich der unterschiedlichen Funktion und differenten Logik der beteiligten Mittlerfiguren bewusst ist. Im Falle meines später zu behandelnden Beispiels des russischen Sachbuchs sind dies mindestens vier: Übersetzer – Seiner Funktion nach tritt der Übersetzer bei Suhrkamp in zweifacher Weise auf, nämlich zunächst als typischer Ideengeber, dann natürlich als Realisierender des Projekts. Gerade die erste Funktion als Ideengeber erscheint im Verlagsgeschäft außerordentlich wichtig, auch wenn diese
11 Vgl. Steiner 1973, S. 255.
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in der Selbstreflektion der Berufsgruppe selten explizit wird.12 Freiberufliche Übersetzer arbeiten in der Regel parallel mit verschiedenen Verlagshäusern zusammen und versuchen entsprechend, das sie – fachlich, persönlich wie kommerziell – Interessierende irgendwo zu platzieren. Bei seiner Verlagswahl für den ersten Vorschlag kann der Übersetzer sich am Verlags- oder Reihenprofil orientieren, in der Regel aber werden bestehende Kontakte und Projekterfahrungen mit dem jeweiligen Verlagshaus wichtiger sein. Seiner Expertise nach vertritt der Übersetzer die fremdkulturelle, osteuropäische Seite, für die er häufig als Slawist ausgewiesen ist. Beide Aspekte sind zu beachten: Er ist Experte für das fremdkulturelle Literatur- beziehungsweise Wissenschaftssystem, nicht in erster Linie für das eigenkulturelle und den deutschen Markt. Und gerade, wenn es um das Sachbuch geht, argumentiert er häufig aus fachwissenschaftlicher Perspektive, die sich durchaus von der Logik der Verlagswelt unterscheidet. Fachgutachter – Gutachter können herangezogen werden, um die Expertise der Ideengeber abzusichern, denn diese waren nicht immer Fachleute im engeren Sinne. Suhrkamp unterhielt ein weites Feld von Ideengebern, bestehend aus einmal gewonnenen Autoren oder deren Mitarbeitern, gelegentlich auch Ehefrauen, aus ausländischen Verlagsmitarbeitern et cetera. Die Marker für den Fachgutachter stimmen im Wesentlichen mit denen des Übersetzers überein: fremdkulturelle Expertise und fachwissenschaftliche Perspektive. Lektor – Als Vertreter des Verlages agiert der Lektor aus einer gänzlich anderen Expertise und Logik heraus. Eine kühne Metapher soll dies verdeutlichen: Mit jedem Buchprojekt schließt ein Verlag eine Wette ab, eine Wette auf die Leser- wie auf die Käuferlust. Wie in jedem Wettbüro sucht man das Risiko zu minimieren und kalkulierbar zu machen. Darin besteht die Funktion des Lektors. Seiner Expertise nach beurteilt er (zumindest auch) das aufnehmende, eigenkulturelle Literatur- oder Wissenschaftssystem und in Verbindung damit die Bedürfnisse des aufnehmenden Buchmarktes. Seine Perspektive kann und darf daher nicht die einer Fachwissenschaft sein, auch wenn er eine solche der persönlichen Ausbildung nach vertritt. Suhrkamp hat immer auch fachwissenschaftliche Bücher verlegt, war aber nie der Verlag einer oder mehrerer Fachwissenschaften. Der Lektor im Auslandsgeschäft ist letztlich ein Transformationsexperte. So wie der Übersetzer den Text von einer Sprachkultur in die andere transferiert, transformiert der Lektor die Übersetzung des fremdkulturellen Buches 12 Etwas Analoges zum Sammelband Der Autor, der nicht schreibt. Versuche über den Büchermacher und das Buch (1989), in dem das Selbstverständnis des Verlagslektors zum Gegenstand der Reflexion wird, konnte ich für die Übersetzer nicht finden.
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in den eigenkulturellen Bereich des Verlags- und Reihenprofils wie in den des deutschsprachigen Buchmarktes. Darin liegt eine besondere Form der abgedunkelten Autorschaft, die die entgegenkommende Strömung im fremden Buch mit den aufnehmenden Bedürfnissen des eigenen Systems und Marktes vermittelt. Wie diese nostrifizierende Transformation vonstatten geht, sieht man am Lektor als Redakteur. Busch trug überhaupt keine Bedenken, selbst in die Übersetzung russischer Lyrik – also aus einer Sprache, die er nicht beherrschte, – tief einzugreifen. Das mutet zunächst banal an, verdeutlicht aber, wie konsequent Busch seinen eigenkulturellen Standpunkt wahrnahm, indem er die Übersetzung nicht als Übersetzung auf Sprachrichtigkeit, Adäquatheit, Funktionalität und ähnliches hin überprüfte, sondern sie als deutschen, als eigenkulturellen Text las, der in sich stimmig sein und funktionieren musste. Die Übersetzung aus dem Russischen war für ihn nicht die Übertragung von einer Sprache in die andere, sondern die Transformation des fremden Buches in ein Suhrkamp-Produkt, das sich an so schwer zu fassende Größen wie Reihen- und Verlagsprofil anzupassen hatte. Wir kommen hier in den Bereich von Soft Skills in weicher Terminologie wie etwa ‚Gespür‘, ‚Empfindung‘, ‚untrügliche Nase‘, die nur aus der Verlags-Kommunikation heraus vermittelt sein können – und deshalb nicht stringent „aktenkundig“ sind. Diese Überlegung führt uns aber konsequent zur Metapher des Wettbüros zurück. Verlagsleitung – In meinem Arbeitsbereich, dem russischen Sachbuch, spielte die Verlagsleitung in den Akten keine Rolle. Das mag zum einen mit der Textsorte zu tun haben, zum anderen damit, dass Busch im Bereich der edition weitgehend autonom agieren konnte. Nur indirekt spielen andere und höhere Instanzen des Verlages eine Rolle, dies aber in aufschlussreicher Weise. Als Peter Urban 1966 bei Suhrkamp als Lektor einstieg, trat er habituell zunächst als Fachwissenschaftler, als Slawist auf. Nachdem er sich auf seiner Schreibmaschine einen „Schklowskij“ mit -sch- und -w- abgerungen hatte, setzte er in Klammern hinzu: „jetzt schreib ich ihn schon à la Suhrkamp, schrecklich!“13 Er selbst pflegte die wissenschaftliche Transliteration mit diakritischen Zeichen, was die Schreibmaschine nicht hergab und von Hand nachbearbeitet werden musste. Ebenfalls aus der fachwissenschaftlichen Perspektive eines Slawisten entwickelte er eigene Buchprojekte, so eine „Literaturgeschichte aus formalistischer Perspektive (und ich hoffe, man kann dann alle anderen Literaturgeschichten wegwerfen).“14 Gemeint war natürlich eine russische Literaturgeschichte, kompiliert aus Schriften der russischen Formalisten Ėjchenbaum, 13 S UA: Peter Urban an Alexander Kaempfe, 04. Aug. 1966, DLA. 14 Ebd.
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Šklovskij, Tynjanov, Žirmunskij und anderen. Das war fachlich hoch ambitioniert und hätte den besonderen Clou geboten, die vermeintlichen Verächter des Historischen zu historiographischen Autoren zu machen. Doch darin lag gerade nicht die Funktion des Suhrkamp-Lektors. Wenig später berichtet er entsprechend: „Mein Literaturgeschichte-Plan stößt ein bißchen auf passiven Widerstand“,15 und er wurde auch nie realisiert. Indem wir im Sinne der Kulturtransferforschung nicht so zweifelhafte Entitäten wie ‚Ideen‘ im Austausch untersuchen, sondern ganz konkret die materielle Seite des Transferprozesses über vielfältige Mittlerstationen, stellen wir gleichsam die Forschung von der Software, auf der die Ideengeschichte läuft, um auf die Hardware, die Sache der Kulturtransferforschung ist. 5
Entgegenkommende Strömung und aufnehmendes Bedürfnis
Der Begriff der ‚(Kultur)Transferforschung‘ ist inzwischen fest etabliert, doch der Sache nach wäre die Formulierung ‚Transfer- und Transformationsforschung‘ funktionaler, weil so gleich der zweite Aspekt den ihm gebührenden Stellenwert fände. Der Transfer aus einer Ausgangskultur in eine neue Zielkultur verändert nämlich das Transferierte erheblich, indem es den Bedürfnissen und Interessen der aufnehmenden Kultur anverwandelt wird. ‚Anverwandlung‘ stellt in diesem Zusammenhang eine fruchtbare Metapher dar, die jedoch der Explikation bedarf. Espagne hat diesen Aspekt sehr früh exponiert:16 Hegel in Frankreich ist eben nicht Hegel in Deutschland; die aufnehmende Kultur akkulturiert ihn, transformiert ihn, und zwar ausschließlich gemäß ihrer eigenkulturellen Interessenlage. In französischen Diskursen spielt – z ugespitzt gesagt – der ‚deutsche Hegel‘ keine Rolle, nur der ‚französische Hegel‘, der Ergebnis eines Nostrifizierungsprozesses ist. Im Lichte unseres Konferenzthemas haben wir es – zumindest modellhaft – mit einem doppelten Nostrifizierungsprozess zu tun: Das osteuropäische Buch muss nicht nur auf die Interessenlage der aufnehmenden deutschsprachigen Kultur bezogen und dieser entsprechend transformiert, es muss auch der Suhrkamp-Kultur akkulturiert und im Hinblick auf Verlags- und Reihenprofil transformiert werden. Kurz, das osteuropäische Buch musste nicht einfach ein deutsches Buch, sondern ein Suhrkamp-Produkt werden. Unsere Aufgabe wäre es demnach, entsprechende Transformationsfaktoren oder sogar Transformationsregeln zu identifizieren. Hier wird die Sache 15 S UA: Peter Urban an Alexander Kaempfe, 15. Sept. 1966, DLA. 16 Vgl. Espagne/Werner 1985, S. 504 ff.
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jedoch vertrackt, denn wo und durch wen werden solche Transformationsregeln verschriftlicht? Bleiben wir zunächst bei der zweiten Transformation, derjenigen in die Suhrkamp-Kultur. Wir hatten bereits darauf hingewiesen, dass zwei Faktoren ein Buch zu seinem Suhrkamp-Produkt machen, einerseits die k onzipierende Verlagsarbeit (einschließlich des genialen Designs von Willy Fleckhaus), andererseits die Effekte der Rezeption. Was die konzipierende Verlagsarbeit angeht, so ist das SUA selbstverständlich die erste Quelle. Und dennoch wird es eher den Ausnahmefall darstellen, dass Transformationsregeln dort explizit formuliert sind; sie bleiben „implizites Wissen“. Was Insider und Herausgeber über den Verlag und seine Reihen geschrieben haben, unterliegt zumeist nach außen der Logik des Marketings, nach innen dem behutsamen Umgang mit einem Ideengeber, der zu „pflegen“ war. Die Marketingtexte beschreiben das Verlagsprodukt, nicht aber die Logik des Tagesgeschäfts im Verlag. Diese Logik des Tagesgeschäfts resultiert vielmehr aus Erfahrungswissen, das sich aus verlagsinternen Handlungsmustern und verlagsinterner Kommunikation speist und seine Ausdrucksseite nicht in Regellisten, sondern in einer besonderen, kreativen Fähigkeit des Verlagsmitarbeiters findet. Busch oder Fellinger beispielsweise waren beziehungsweise sind keine Versicherungssachbearbeiter, die ein Regelcorpus exekutier(t)en, sondern höchst kreative Köpfe, die das Reihenprofil der „edition“ selbst hervorbrachten, und zwar mit jeder Entscheidung immer neu, denn ihr handlungsleitendes Erfahrungswissen akkumulierte und veränderte sich. Der Lektor als Reihenherausgeber fungiert also ganz im Sinne des Titels der Busch zugedachten Festschrift, nämlich als Der Autor, der nicht schreibt – er bleibt Der unsichtbare Zweite.17 Dieses handlungsleitende Erfahrungswissen ist also individueller Art, zudem veränderlich und bedarf schließlich im Lichte der modernen Handlungstheorien durchaus nicht der Verbalisierung. Es hinterlässt aber im überlieferten Archiv Spuren, derer wir habhaft werden können. Immer wieder können wir beispielsweise umfangreiche Register von Buchideen (in unserem Falle in Form von Übersetzungsvorschlägen) mit Registern der realisierten Buchprojekte abgleichen und gewinnen so die Basis empirischer Gleichförmigkeit, die zu vorsichtigen Hypothesenbildungen berechtigt. Etwas einfacher stehen die Dinge um den ersten, fundamentalen Nostrifizierungsprozess eines fremdkulturellen Buches in die aufnehmende, deutschsprachige Kultur. Dazu sei ein Modell von Faktoren vorgeschlagen, das – so oder in Abwandlung – für unsere Arbeit nützlich sein mag: 17 So der Titel bei Schneider 2005.
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Als erster Faktor können aktueller Zustand, Verfasstheit und Genese der aufnehmenden Kultur in Betracht genommen werden. Als Beispiel hat Espagne darauf hingewiesen, dass die Transformation eines deutschen Philosophen in den französischen Kulturraum wesentlich dadurch bedingt war, dass das Wort ‚Philosophie‘ im Deutschen und Französischen je nach Transferzeitpunkt dem Begriffsinhalt nach etwas ganz anderes meinte.18 Entsprechendes gilt für das Literatursystem: Gattungen, Sujets, Vorstellungen etwa von ‚Moderne‘ oder ‚Avantgarde‘ können in nationalsprachlicher Tradition höchst unterschiedlich ausgeprägt sein und in dieser Differenz zu Faktoren der Transformation werden. Als zweiter Faktor sollte das aufnehmende Bedürfnis in der Zielkultur bestimmt werden. Aus der inneren Spannung der deutschsprachigen literaturtheoretischen Diskussion beispielsweise lassen sich die aufnehmenden Bedürfnisse für die Suhrkamp-Übertragungen der russischen Formalisten, später von Bachtin und Lotman bestimmen. Ein solches Bedürfnis muss vorhanden und ausgeprägt sein, denn es stellt gleichsam die Antriebskraft für den Transformationsriemen dar. Bücher können unter diesem Aspekt auch zu früh erscheinen und relativ wirkungslos bleiben, oder aber ihnen wird Wirkung (als Effekt von Rezeption im oben entwickelten Sinne) erst später zuteil, wenn entsprechende Bedürfnisse stärker und klarer ausgeprägt sind. Als dritten Faktor kann das aufnehmende Bedürfnis eine entgegenkommende Strömung (nach Aleksandr Veselovskij) im fremdkulturellen Objekt identifizieren. Etwas im Eigeninteresse Liegendes muss bereits im Fremden vorhanden sein, um den Transformationsprozess überhaupt zu ermöglichen. In diesem Sinne könnte zwar alles übersetzt, aber keineswegs alles transformiert werden, was für das Verlagsgeschäft von entscheidender Bedeutung ist. Die Berücksichtigung dieser drei Faktoren führt über das Archiv hinaus. Das SUA kann, es muss dazu aber keineswegs brauchbares Material enthalten. Nahegelegt wird uns vielmehr die diskurs- und wissenschaftsgeschichtliche Rekonstruktion der Phase von der ersten Buchidee bis zu Auslieferung. Aber auch die Phasen davor und danach sind von großem Belang. Heuristisch mag für unsere Arbeit ein Drei-Phasen-Modell nützlich sein, wobei der Verlag, sofern kein Verlagsarchiv zugänglich ist, wie eine Black Box zu behandeln wäre: 1. Jede Übersetzung hat ihre Geschichte vor der Übersetzung. Dazu gehört zum einen die Produktions- und Rezeptionsgeschichte des Buches im ursprünglichen, fremdkulturellen System; zum anderen seine internationale Übersetzungs- und Rezeptionsgeschichte. Hier lassen sich wertvolle Hinweise auf das aufnehmende Bedürfnis auch im deutschsprachigen System gewinnen. 18 Vgl. u.a. Espagne 2006, S. 16 f.
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Dabei empfiehlt es sich, allgemein zu untersuchen, was alles auf die Black Box des Verlages einwirken konnte und sich nicht auf den Nachweis zu beschränken, was tatsächlich auf den Verlag einwirkte und auch noch Spuren im Archiv hinterlassen hat. Das hieße nämlich, sich von der Zufälligkeit des Verschriftlichten und Überlieferten abhängig zu machen. 2. Für die Phase der Projektrealisation von der Idee bis zum Druck ist das SUA einschlägig. Aber es wäre auch hier naiv zu erwarten, aktuellen Zustand, Verfasstheit und Genese der aufnehmenden Kultur sowie deren aufnehmendes Bedürfnis ausreichend dokumentiert zu finden. 1965 beispielsweise erscheinen zeitgleich die deutsche Übersetzung des russischen Formalisten Boris Ėjchenbaum bei Suhrkamp in Deutschland und die französische Auswahl von Texten der formalen Schule in der Edition von Tzvetan Todorov in Frankreich. Die deutsche Edition wurde mit Interesse zur Kenntnis genommen, die französische entfaltete nachhaltige Wirkung, weil in Frankreich die Strukturalismusdebatte viel weiter fortschritten war. Die andere Verfasstheit des französischen Diskurses konnte ein aufnehmendes Bedürfnis mit klarer Transformationsrichtung ausbilden, was in Deutschland erst möglich war, als die französische Strukturalismusdebatte wenige Jahre später intensiv rezipiert wurde. Ein solcher Befund ist aus dem Archiv allein nicht zu gewinnen. 3. Beschreibbar wird die vielbeschworene Suhrkamp-Kultur als Effekt der Rezeption in besonderer Weise in der Phase nach dem Erscheinen des Buches. Hier werden auch aufnehmendes Bedürfnis und identifizierte entgegenkommende Strömung eigentlich sichtbar, weil sie explizit zum Gegenstand der Reflexion werden. Das auf diesem Feld Erschlossene gibt zudem eine Handhabe, die Phase der Verlagsarbeit zu beurteilen. Im Falle des letztgenannten Beispiels von Ėjchenbaum lässt sich erkennen, dass die Transformation in ein Suhrkamp-Produkt sehr viel besser gelungen war als die Transformation in die deutschsprachige Zielkultur gemäß eines aufnehmenden Bedürfnisses. Das liegt eindeutig an den Mittlerfiguren: Der zwar noch sehr junge, aber brillante Tzvetan Todorov, der 1963 aus Bulgarien nach Paris gekommen war, verfügte über eine Innenperspektive auf die französischen Debatten, die Alexander Kaempfe als Ideengeber und Übersetzer des deutschen Bandes abging; zudem hatte Todorov die Weitsicht, Roman Jakobson für ein Vorwort zu gewinnen, während der deutsche Leser mit einem extrem knappen und in keiner Weise instruktiven Nachwort Kaempfes – mit dem Busch übrigens auch unzufrieden war19 – Vorlieb nehmen musste.
19 Vgl. DLA SUA: Günther Busch an Alexander Kaempfe, 09. März 1965: „Unzufrieden bin ich mit Ihrer Nachbemerkung“, die zu diesem Zeitpunkt als Entwurf vorlag.
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Deutungshoheit des Verlages
1990 erschien Die Geschichte des Suhrkamp-Verlages, Berichtszeitraum 1. Juli 1950 bis 30. Juni 1990; zum fünfzigsten Verlagsjubiläum legte Suhrkamp dann eine erweiterte Fassung mit dem Berichtszeitraum bis 30. Juni 2000 vor. Das Verfahren dieser Hausgeschichtsschreibung erscheint für unseren Tagungszusammenhang durchaus relevant, denn es mutet an, als hätten die Verantwortlichen seinerzeit bereits alle die Kautelen berücksichtigt, die wir oben für unsere Arbeit zusammengestellt haben. Die Falle der Sinnpräsupposition wird konsequent umgangen. Stattdessen wird eine klassische Annalistik praktiziert, wie sie von den Protokollanten des römischen Senats entwickelt wurde. Vorgelegt werden reine Jahresberichte, in denen sich das Faktische des Verlagsgeschäfts zusammengestellt findet: Wie veränderte sich die innere Struktur des Verlages? Wer tat was? Welche Autoren kamen hinzu? Welche Editionen waren bedeutsam? Welche Faktoren der politischen und sonstigen Ereignisgeschichte wurden als für die Verlagsarbeit relevant angesehen? Diese Annales erzählen also im vormodernen Sinne viele Geschichten im Plural, aber nicht die eine Geschichte im Singular. Auf eine externe Geschichtslogik, die Kohärenz stiftete, wird bewusst verzichtet. Das gilt auch noch für Raimund Fellingers Kleine Geschichte der edition suhrkamp von 2003, auch wenn hier die Jahreszahlen nicht mehr offen als Gliederungsprinzip genutzt werden. Natürlich wird auch in der Annalistik eine Art von Deutungshoheit praktiziert, indem aus der Fülle des Materials, das die Daten des jeweiligen Jahres bietet, ausgewählt, organisiert und hierarchisiert wird. Der Abgleich zum Beispiel mit Unselds Chroniken, die sehr viel mehr Material bieten, kann diese Prozesse erhellen. Es bleibt aber im Bereich der Verlagsgeschichtsschreibung bei einem bewussten Verzicht auf ein Kohärenz stiftendes Narrativ. Anders verhält es sich jedoch im Bereich der Verlegertexte, also der großen Konvolute von Büchern, Aufsätzen, Interviews et cetera, die vor allem Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld verfasst haben. Hier gibt es zweifellos ausgeprägte Verlegernarrative, die aber der Hausgeschichtsschreibung nicht als Suhrkamp-Narrative aufgezwungen wurden. 7
Narrative Hoheit
Für die Wissenschaft schafft das Freiraum. Selbstverständlich gibt es „Verleger-Narrative“ zu Peter Suhrkamp und Siegfried Unseld, die im Verlag penibel ausgearbeitet und zum Beispiel durch die Publikation von Verleger-
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Korrespondenzen oder Unselds legendärer Chronik initiiert und gepflegt wurden.20 Für den engen Bereich der hauseigenen Verlagsgeschichtsschreibung gilt das aber weniger. Wir müssen nicht erst die sedimentierten Schichten eines „Suhrkamp-Narrativs“ aufbrechen und abtragen, um eine Außenperspektiven der beteiligten Wissenschaften zu ermöglichen. Für die Tagungskonzeption haben wir diese Offenlassung des Deutungsfeldes auch als Bestätigung dafür genommen, Verlagsinsider zwar aus guten Gründen mit einzubeziehen, dabei aber nicht den Ansatz zu verfolgen, dass Suhrkamp nur durch Suhrkamp zu beschreiben und zu deuten sei. Ihre Aufgabe ist eine andere: Der Insiderblick und ihre Erfahrungswissen sollen in ein produktives Spannungsverhältnis zu den Beschreibungsverfahren der Fachwissenschaften treten, sollen diese ergänzen, gegebenenfalls korrigieren oder ihnen auch widersprechen. Literatur Amslinger, Tobias; Grüne, Marja-Christiane; Jaspers, Anke: Mythos und Magazin. Das Siegfried Unseld Archiv als literaturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand. In: Wirtz, Irmgard; Weber, Ulrich; Wieland, Magnus (Hg.): Literatur – Verlag – Archiv. Göttingen: Wallstein; Zürich: Chronos, 2015 (= Beide Seiten. Autoren und Wissenschaftler im Gespräch, 4), S. 183–214. Der Autor, der nicht schreibt. Versuche über den Büchermacher und das Buch. [Günther Busch zum 60. Geburtstag] Hg. v. Rebekka Habermas und Walter H. Pehle. Frankfurt a.M.: Fischer, 1989. Ėjchenbaum, Boris Michajlovič (1965): Eichenbaum, Boris: Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur. Ausgewählt und aus dem Russischen übersetzt von Alexander Kaempfe. 1.-8. Tsd. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= edition suhrkamp, 119). Espagne, Michel; Werner, Michael (1985): Deutsch-französischer Kulturtransfers im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C.N.R.S. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 13, S. 502–510. Espagne, Michel (2006): Jenseits der Komparatistik. Zur Methode der Erforschung von Kulturtransfers. In: Europäische Kulturzeitschriften um 1900 als Medien transnationaler und transdisziplinärer Wahrnehmung. Bericht über das zweite Kolloquium der Kommission „Europäische Jahrhundertwende – Literatur, Künste, Wissenschaften um 1900 in Grenzüberschreitender Wahrnehmung“ (Göttingen, am 4. und 5. Oktober 2004). In Zusammenarbeit mit Susanne Friede hrsg. von Ulrich Mölk. Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht, S. 13–32. 20 Vgl. dazu Amslinger et al. 2015, S. 196–199; 207–212.
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Die Geschichte des Suhrkamp-Verlages (1990). 1. Juli 1950 bis 30. Juni 1990. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Die Geschichte des Suhrkamp-Verlages (1991). 1. Juli 1950 bis 30. Juni 1990. 2. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Die Geschichte des Suhrkamp-Verlages (2000). 1. Juli 1950 bis 30. Juni 2000. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kinder, Anna (2015): Von Schätzen und Regenwürmern. Zum literaturwissenschaftlichen Forschungspotential von Verlagsarchiven. Eine Problemskizze. n: Wirtz, Irmgard; Weber, Ulrich; Wieland, Magnus (Hg.): Literatur – Verlag – Archiv. Göttingen: Wallstein; Zürich: Chronos (= Beide Seiten. Autoren und Wissenschaftler im Gespräch, 4), S. 215–224. Kleine Geschichte der edition suhrkamp (2003). Redaktion Raimund Fellinger. Mitarbeit Wolfgang Schopf. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Schneider, Ute (2005): Der unsichtbare Zweite. Die Berufsgeschichte des Lektors im literarischen Verlag. (Habil. Mainz 2001) Göttingen: Wallstein. Steiner, George (1973): Adorno: love and cognition. In: The Times Literary Supplement 1973, 9 March, S. 253–555. Todorov, Tzvetan (Ed.) (1965): Théorie de la littérature. Textes des Formalistes russe réunis, présentés et traduits par T.T. Préface de Roman Jakobson. Paris : Éditions du Seuil (= Coll. Tel Quel). Urban, Peter (2011): Die Ungeheuerlichkeit. Erinnerungen an einen gescheiterten Versuch, Verlagsarbeit zu demokratisieren. In: Boehlich, Walter et al.: Chronik der Lektoren. Von Suhrkamp zum Verlag der Autoren. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, S. 77–102.
Katharina Raabe
Fortsetzung oder Neuanfang?
Das Osteuropa-Programm des Suhrkamp Verlags seit 2000 Programmlinien zu definieren, Auswahlkriterien und Profilierung eines Verlagsprogramms zu beschreiben, präzise zu benennen, welche ästhetischen Traditionen des Verlags seit 2000 aufgegriffen, welche Akzente neu gesetzt wurden, sollte den Buchwissenschaftlern überlassen bleiben. Die Unberechenbarkeit der literarischen Produktion, die Unabsehbarkeit der Zeitläufte bringt es mit sich, dass wir als Lektoren erst im Prozess des Suchens, Entdeckens und Konzipierens so etwas wie ein halbwegs konsistentes Programm zustande bekommen; dass wir erst während der Arbeit, lesend, schreibend, diskutierend herausbekommen, was wir gesucht haben. Vermutlich ahnen die mit der Materie befassten Forscher gar nicht, wie stark Subjektivität und Kontingenz, Intuition und persönliche Durchsetzungskraft die Programmarbeit im Verlag bestimmen. Sie ist viel unsystematischer, ja willkürlicher als gemeinhin angenommen. Man könnte von einer eigentümlichen poiesis reden, der sich Lektoren und Programmmacher verschrieben haben: wir machen Bücher, von der vagen Idee bis zum Abzeichnen der Blaupause. Diese poiesis hat eine handwerkliche und eine kommunikative Dimension. Bücher entstehen aus dem Gespräch über die Lektüre, in einem Raum der Diskurse. Der Suhrkamp Verlag – beileibe nicht nur er! – vertritt den Anspruch, dass Themen, die die Gesellschaft, „die Welt“ bewegen, auch uns bewegen, dass wir ihnen Resonanz verschaffen, im besten Fall zur Klärung, zur Aufklärung beitragen. Die Literatur aus Osteuropa stand stets am Rand; was sich in den Ländern jenseits des Eisernen Vorhangs abspielte, war aus vielerlei Gründen jahrzehntelang nicht Teil dessen, was „uns“ bewegt. Nach dem Mauerfall hat sich das geändert: Die postkommunistische Situation, der Abschied von der Utopie, das veränderte Koordinatensystem, in dem sich die Linke, also auch der Suhrkamp Verlag als Institution linker Theorie, neu verorten musste, betraf den Westen wie den Osten.
© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764091_003
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Katharina Raabe
Poetische Kraftfelder
„Die Literatur hat eine neue Hauptstadt erhalten, sie heißt Dukla“, schrieb Thomas Steinfeld im Aufmacher der FAZ-Buchmessenbeilage1 im Oktober 2000, dem Jahr, in dem Polen sich als Gastland der Frankfurter Buchmesse präsentierte. Sein enthusiastisches Urteil galt einem Prosaband des polnischen Autors Andrzej Stasiuk. „Um vier Uhr früh hebt die Nacht langsam ihren schwarzen Hintern, steht vollgefressen vom Tisch auf und geht schlafen“,2 lautet der erste Satz – ein Satz, mit dem der Suhrkamp Verlag sein neues Osteuropa-Programm begann, das damals nicht als solches gedacht, geschweige denn deklariert wurde. Erschienen war das Buch eines neuen Autors, dem der Verlag eine Zukunft geben wollte; die fulminante Rezeption war ein Glücksfall, mit dem Erfolg bei der Kritik und den Lesern hatte niemand gerechnet. „Es wird keine Handlung geben, keine Geschichte, zumal in der Nacht, wenn der Raum der Orientierungspunkte beraubt ist, wenn wir von Rogi nach Równe fahren und weiter über Miejsce Piastowe. Wir reisen zwischen den Namen in einer Tinktur aus reiner Idee. Die Wirklichkeit leistet keinen Widerstand, und deshalb sind alle Geschichten, alle Folgen, all die alten Ehen von Ursache und Wirkung gleichermaßen jeder Bedeutung beraubt.“3 Absage an ein handlungsgetriebenes Erzählen. Aufkündigung des Kausalzusammenhangs im Namen der „reinen Idee“ – ein Bekenntnis zu einem poetischen Programm der Moderne. Nachzulesen in zahlreichen Büchern des alten Suhrkamp-Programms, zum Beispiel in Ulrich Pothasts Abhandlung Die eigentlich metaphysische Tätigkeit. Schopenhauers Ästhetik und ihre Anwendung durch Samuel Beckett aus dem Jahr 1982. Erst die aus der kausalitätsunterworfenen Alltagswahrnehmung, der Gewohnheit herausgerissene Anschauung wird jener ästhetischen Erfahrung teilhaftig, für die bei Schopenhauer die Idee steht. Nicht nur die Kausalität, auch die Kategorien Zeit und Raum, die Schopenhauers Lehrer Kant zufolge unsere Erfahrung strukturieren, will Stasiuk aufgehoben wissen. „Die Zeit, der stille und allgegenwärtige Feind der Phantasie 1 Thomas Steinfeld: Ich kenne den Weg zum durchsichtigsten Ort der Welt. Wenn der Himmel durch zu große Leere schreckt, suchen wir nach Zeichen auf der Erde. Andrzej Stasiuk findet den Geist der Karpaten und gründet eine neue Hauptstadt der Literatur. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17. 10. 2000. 2 Stasiuk 2000, S. 7. Die Originalausgabe erschien 1997 u.d.T. Dukla im ersten Programm des Verlags Czarne, den Stasiuk mit seiner Frau Monika Sznajderman in dem gleichnamigen Beskidendorf in Südostpolen gegründet hatte. 3 Ebd., S. 8.
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und des schöpferischen Tuns“, schreibt Stasiuk im Zusammenhang mit dem polnischen Exilschriftsteller Zygmunt Haupt, „wird in seiner [Haupts] Prosa vernichtet. […] Die Sprache – eine im Grunde leichte, launische, verschwenderische und überflüssige Substanz – verdrängt, entgegen den Gesetzen der Schwerkraft, die schwere und unheimliche Materie der Zeit. Das Wunderbare ist stets die Aufhebung der physikalischen Gesetze, es negiert […] den Raum oder die Vergänglichkeit.“4 Stasiuks Verfahren einer peregrinischen, einer wandernden, seine fremde oder als unbekannt empfundene Landschaften durchstreifende Prosa folgt dem Prinzip des Schweifens, Reflektierens und Benennens. Ortsname. Punkt. Eine Frage schließt sich an („Woher stammen solche Namen?“) oder ein Wahrnehmungsblitz: der himmelblaue Bus, seine Räder halb im Schnee versunken in Samoklęski. Tageszeit, markanter Ort (Pielgrzymja, die Kneipe eines Bassisten), Wetterverhältnisse. Die Prosa schwingt zwischen sinnlichem Detail und Suche nach der Idee hin und her, und diese Bewegung bestimmt ihren Rhythmus: Vergleicht man Passagen aus Dukla und Passagen wie diese (aus Stasiuks zitiertem Nachwort zu Haupts Prosaband Ein Ring aus Papier), fällt die Ähnlichkeit sofort auf. Beide Bücher sind in Polen Ende der neunziger Jahre erschienen. Dukla steht zweifellos stärker als andere Texte Stasiuks unter dem Eindruck der erneuten Lektüre Haupts, den Stasiuk (neben Andrej Platonow und Samuel Beckett) als einen seiner Lehrer betrachtet und den er 1999 in seinem Verlag Czarne herausbrachte – die erste Veröffentlichung Haupts in Polen überhaupt. (Das Buch war 1963 in Paris im Instytut Literacki, dem Exilverlag der Zeitschrift Kultura, erschienen – und fehlte in der Polnischen Bibliothek des Suhrkamp Verlags.) „Domaradz. Nebel steigt auf. Er enthüllt Heuschober, schwarze Zäune und spitze Dächer. Die Luft ist dunkelgrün. Der dichte Himmel reißt sich los vom Horizont. In diesem Riß sieht man den Glanz einer anderen Welt. Die starben, dachten, dort sei es, wo sie hingehen.“5 Wer Theodor W. Adornos Text „Glück und vergebliches Warten“, die vierte der zwölf „Meditationen zur Metaphysik“ aus der Negativen Dialektik im Ohr hat (und welcher Proust-Leser meiner Generation hätte das nicht?), hört das Echo: „Man glaubt, wenn man hingeht, so wäre man in dem Erfüllten, als ob es wäre.“6 Restbestände der kritischen Theorie in der Landschaftsprosa eines polnischen Schriftstellers? Fortleben ihrer kryptotheologischen Motive in der 4 Stasiuk 2003, S. 324. 5 Stasiuk 2000, S. 9. 6 Adorno 1975, S. 366.
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Geopoetik osteuropäischer Autoren, die im Verfall, in den unscheinbaren, verrottenden Dingen ein Licht der Erlösung aufscheinen sehen? „Kein Licht ist auf den Menschen und Dingen, in dem nicht Transzendenz aufschiene.“7 Der Beschreibung dieser Art von Licht widmet Stasiuk die ersten dreißig Seiten seines Buches. Das Unterdrückte und Erniedrigte wandert in die Landschaft ein, ohne dass Stasiuk Armut und Ausbeutung verklären würde. Doch das analytische Instrumentarium einer linken Theorie ist ihm obsolet. Ich weiß auch nicht, ob er Adorno gelesen hat. Dass Einsprengsel von Adornos negativer Dialektik im Werk eines Autors aus dem postkommunistischen katholischen Polen manifest werden, scheint mir unbestreitbar und wäre in seiner Tragweite erst noch zu untersuchen. „Unten“ ist zugleich soziologisch und geologisch zu verstehen – als „Bodensatz“ der Modernisierung: die auf der Strecke gebliebenen Bewohner verödender Landstriche, die mit dem seit 1989 sich beschleunigenden Wandel, der sogenannten Transformation, nicht Schritt halten können. Dass die Dinge zu leuchten beginnen und der Erzähler die „Leere der Welt“ zu spüren meint, die sich auf dem Marktplatz der Kleinstadt Dukla im Südosten Polens sammelt, hat benennbare soziologische Voraussetzungen: Mit dem Ende der kollektiven Landwirtschaft und dem Verschwinden der staatsozialistischen Versorgungssysteme zerbricht das gesellschaftliche Gefüge der dörflichen und kleinstädtischen Welt. Arbeitslose, Trinker, Bastler, Händler. Dinge, Geräte, Installationen, Vorrichtungen, von alten, irreparablen Autos bis zu stillstehenden Förderanlage werden im Auge des Dichters zu ästhetischen Objekten – zu einer Figur der Moderne. Mehr noch: wie die Namen speichern auch sie Geschichte; sie sind Träger eines Gedächtnisses, das verwaist in seinen Rückständen lebt. Der deutsche Titel (den fortan fast alle ausländischen Verlage übernahmen) Die Welt hinter Dukla greift die metaphysischen Intuitionen des Buches auf, ist aber wörtlich zu verstehen: Diese Welt ist auf den Karten verzeichnet, Südostpolen, die Grenzen sind nah, die slowakische: zwanzig Minuten; die ukrainische: eine Stunde; die rumänische: anderthalb Stunden. Hinter dem alten galizischen Städtchen öffnet sich ein Raum, aus dem der ewige Wind direkt hereinweht auf den Marktplatz: Sibirien, Alaska – Osten8. Siebzehn „Stasiuks“ hat Suhrkamp zwischen 2000 und 2016 veröffentlicht. Zehn Jahre lang hat der Verlag die Weltrechte vertreten und den scheuen Schriftsteller als einen der wichtigsten europäischen Autoren der Gegenwart international durchgesetzt. Die Erkundung der Geographie, „poetische Land7 Ebd., S. 396f. 8 2016 erschien Renate Schmidgalls Übersetzung von Andrzej Stasiuk Wschód (2014) u.d.T. Der Osten, eine Summe seines Schreibens und Reisens.
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vermessung“ (FAZ), das Ergründen nicht nur der topographischen Gegebenheiten, sondern der existenziellen und moralischen Verfasstheit in den Ländern östlich des ehemaligen Eisernen Vorhangs markierten fortan das Kraftfeld, auf dem sich das Programm entwickelte. Je stärker die Bücher, desto konturierter das Gelände. Ich arbeitete mich unmerklich vor, entlang der alten Strecke des „Zug 76“,9 der einst von der Ostsee ans Schwarze Meer fuhr, ließ aus dem Weißrussischen, Litauischen, Ukrainischen übersetzen, formulierte Fragen, versuchte mich an der paradoxen Aufgabe, die Grenzen unklarer Areale abzustecken, inspiriert und mit Expertise unterstützt von unseren Autoren, Übersetzern und Lesern in vielen Sprachen und mit einer Welterfahrung, die meine eigene Unkenntnis kompensieren musste. Was wäre das Programm ohne die historische Tiefe, die ich Martin Pollacks Galizien- und Sarmatien-Expertise10 und Ilma Rakusas Kenntnis der russischen Literatur, der jugoslawischen und ungarischen Moderne verdanke? „Nur wenn die Bücher eines Verlags miteinander sprechen, spricht auch sein Programm – zu den Lesern“, schrieb der legendäre Lektor Günther Busch, der von 1963 bis 1979 die ersten 1000 Bände der „edition suhrkamp“ verantwortete.11 Unter den günstigen Bedingungen, nämlich einer enormen Lebendigkeit der Literatur in den Ländern des Umbruchs, aber auch der Bereitschaft des Verlags, dieses Neue sichtbar zu machen, war das keine übermäßig schwierige Aufgabe.
9 Potyah76 (Zug 76) hieß eine Internetseite, die der ukrainische Schriftsteller Juri Andru- chowytschs mit Freunden gegründet hatte. Der alte Zug 76, der einst zwischen Danzig und Varna verkehrte und Anfang der 2000er Jahre nur noch zwischen Lemberg und Czernowitz fuhr, sollte im Internet kursieren, um Schriftsteller innerhalb der Ukraine miteinander zu verbinden und ihre Kontakte zu den Kollegen jenseits der Grenze (vor allem zu Belarus, Litauen, Polen und den Ländern des Balkan) zu stärken. 10 Martin Pollack, Jg. 1944, österreichischer Journalist, Autor und Übersetzer polnischer Literatur (u.a. Ryszard Kapuściński, Wilhelm Dichter, Daniel Odija); 1987–1998 Korrespondent des SPIEGEL in Wien und Warschau. Sein Debüt Nach Galizien. Von Chassiden, Huzulen, Polen und Ruthenen. Eine imaginäre Reise durch die verschwundene Welt Ostgaliziens und der Bukowina (1984) war einer der frühesten Beiträge zur Erforschung der vergessenen Provinzen im Osten Europas. 2005 gab er im Auftrag der S. Fischer Stiftung und in Zusammenarbeit mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung die bahnbrechende Anthologie Sarmatische Landschaften. Nachrichten aus Litauen, Belarus, der Ukraine, Polen und Deutschland heraus, für die er bei 23 Schriftstellern aus diesen Ländern Essays und Reportagen in Auftrag gegeben hatte. 11 Busch 1994, S. 38.
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Aufbruch an den Rändern
Dass die europäische Wende den Osten und den Westen gleichermaßen betroffen hätte, wie ich oben suggeriert und am Beispiel Stasiuks zu zeigen versucht habe, stimmt natürlich nicht. Wahrnehmung und Kenntnisse blieben asymmetrisch. Das bildet sich auch in der Verlagsstruktur ab: die Leiter und Mitarbeiter im fremdsprachigen Lektorat, nicht nur im Suhrkamp Verlag, sondern in der gesamten alten Bundesrepublik, waren Amerikanisten, Romanisten, bestenfalls Skandinavisten, aber keine Slawisten. (In der DDR verhielt es sich umgekehrt.) Slawistische Kompetenz kam von außen, lag in den Händen von Kollegen, die dem Lektorat zuarbeiteten, Vorschläge machten und übersetzten (wie 1959 bis 1966 Gisela Drohla). Bis auf Peter Urban (1966 bis 1969), Angela Martini (1987– 1991) und Olaf Irlenkäuser (1996–1998) gab es keinen angestellten Lektor für osteuropäische Literatur, geschweige denn einen Programmleiter mit dieser Kompetenz. Die Gewichtung innerhalb des Verlags entspricht der Wahrnehmung der osteuropäischen Literatur in der literarischen Öffentlichkeit und auf dem Buchmarkt: Sie existiert, aber am Rande, als Nischenphänomen. Der Grund ist ein ökonomischer: Es gab nie einen dem Geisterhaus Isabel Allendes vergleichbaren Verkaufserfolg, der eine verlegerische Entscheidung nach sich gezogen hätte wie die des Jahres 1984: ein eigenes Lateinamerika- Lektorat einzurichten mit systematisch die Märkte durchkämmendem Scout „draußen“ (Michi Strausfeld) und philologisch exzellentem Lektorat im Haus (Jürgen Dormagen), das eine neue Generation von Übersetzern aus dem Spanischen und – in geringerem Maß – aus dem Portugiesischen fördern und prägen konnte. Der Achtungserfolg Stasiuks im Herbst 2000 bot die Chance, eine Vielzahl von Titeln für die verschiedenen Reihen des Verlags vorzuschlagen. Die Minutennovellen von István Örkény, übersetzt von Terézia Mora, waren zwei Jahre später ein nächster Coup: Der Leitartikel der FAZ am Tag der Buchmesseeröffnung empfahl unter 80.000 Neuerscheinungen dieses Buch! Der waghalsige Versuch, eine bislang stumme Literatur, die ukrainische, erstmals überhaupt auf den Markt zu bringen, gelang mit Juri Andruchowytschs Essaysammlung Das letzte Territorium, verlegt im Jubiläumsprogramm der „edition suhrkamp“ 2003. Nicht von deutschen Slawisten, sondern von ukrainischen Germanisten kamen Hinweise auf weitere wichtige Akteure der Gegenwartsliteratur; der LiteraturWerkstatt Berlin ist die Begegnung mit dem sehr jungen Serhij Zhadan aus der ostukrainischen Metropole Charkiw zu verdanken, dem „Klub der Polnischen Versager“ die mit Sabine Stöhr, seiner künftigen Übersetzerin. Ohne sie hätte es auch für Andruchowytsch keine Zukunft in deutscher Sprache gegeben.
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Verglichen mit dem Lateinamerika-Programm blieb das osteuropäische eine low-budget-Veranstaltung: viel Prestige, geringe Umsätze. Dazu kam, dass wir es nicht mit einer, allenfalls zwei, sondern mit einem guten Dutzend Sprachen zu tun hatten. Nicht die Erfahrung, dass es eine Nachfrage nach osteuropäischen Titeln gibt, zählte, sondern die Entscheidung des Verlags, dem Publikum Autoren und Bücher zuzumuten, die uns überzeugten, weil sie, wie ich am Fall Stasiuks gezeigt habe, zu uns sprachen. Mitnichten spiegelt sich in der Auswahl das wider, was in den jeweiligen Ländern Furore macht. Hingegen können einschneidende zeitgeschichtliche Ereignisse wie Budapest 1956, Prag 1968, Danzig 1980, die Wende 1989 bis hin zur Annexion der Krim 2014 als Verstärker des erst zögerlich Wahrgenommenen dienen (Bohumil Hrabal war schon Autor des Verlags, als der Prager Frühling begann, dasselbe gilt für Juri Andruchowytsch und die Orange Revolution 2004). Sie können aber auch die Entdeckung und Wiederentdeckung befördern: Autoren aus dem zerfallenden Jugoslawien wie Aleksandar Tišma oder Bora Ćosić fanden sich, wie letzterer es 1999 nach den Bombenabwürfen auf Belgrad ausdrückte, in der Rolle des Kriegs- und Krisengewinnlers wieder. Bis zur Zäsur des 11. September 2001 waren nachdenkliche Menschen im zusammenwachsenden Europa damit beschäftigt, von überkommenen Geschichtsbildern Abschied zu nehmen. Der Titel von Karl Schlögels Essay „Die Mitte liegt ostwärts“ (1986)12 wurde als Aufforderung verstanden, die Blickrichtung zu ändern und sich den Hinterlassenschaften des totalitären 20. Jahrhunderts zuzuwenden: zu begreifen, welche blühenden mitteleuropäischen, oftmals deutschsprachigen Kultur-und Bildungsmilieus ausgelöscht wurden; zu erkennen, dass deutsche Reisende jenseits von Elbe, Oder, Weichsel und Bug keinen Schritt tun können, ohne an ein Massengrab zu stoßen, in dem die Opfer ihrer Väter und Großväter liegen; zu bedenken, dass Jorge Semprun 1995 in Buchenwald mahnte, man müsse das „halbseitig gelähmte europäische Gedächtnis“ überwinden, indem die Millionen Opfer des sowjetischen Gulags in das eigene Geschichtsbewusstsein aufgenommen werden. Das Werk von Imre Kertész konfrontierte die deutschen Leser mit einer radikal fremden Art, von der Ermordung der europäischen Juden und dem Überleben im Stalinismus zu sprechen. Junge Autoren in Polen, Tschechien und Deutschland schrieben über die Vertreibung der Deutschen und anderer Minderheiten am Ende des Zweiten Weltkriegs. Die Kollaboration lokaler Kräfte mit den deutschen Mordkommandos, die Vertreibungsaktionen und die Shoah in Osteuropa waren Themen, denen die deutsche, aber auch die Gesellschaft der jungen unabhängigen Staaten wie Litauen, Lettland, die Ukraine nicht ausweichen konnte. 12 Vgl. auch Schlögel 2002.
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3 Goldgräberstimmung Politiker betonen gern, dass Literatur uns die Befindlichkeiten und Weltsicht von Menschen in fremden Kulturen besser vermitteln kann als Zeitungslektüre oder Geschichtsbücher. Skepsis ist angebracht. Doch es wäre dumm gewesen, die Chancen auszuschlagen: Die Stimmung war günstig. Dank der Übersetzungsförderungsprogramme des Auswärtigen Amtes, der Robert Bosch Stiftung und anderer, fühlten sich Lektoren und Verleger in Deutschland, Österreich und der Schweiz ermuntert, neben einem verstärkten Engagement für die russische Literatur auch Bücher aus den sogenannten kleinen Sprachen in Betracht zu ziehen; die Frankfurter Buchmesse mit ihren Schwerpunkt- Themen Ungarn 1999, Polen 2000, Litauen 2002, Russland 2003, die Länderschwerpunkte der Leipziger Buchmesse (zuletzt 2012–2014 „tranzyt – Belarus, Polen, Ukraine“, kuratiert von Martin Pollack) beförderten das Engagement für Autoren, Übersetzer, Verleger aus Mittel- und Osteuropa. In einer solchen Epoche Bücher zu machen bedeutete für eine Lektorin, sich mit eigenen Augen eine Vorstellung zu verschaffen, was in den Ländern Osteuropas vor sich ging. Wie die Menschen (und unsere Autoren!) lebten, durch welche Straßen sie gingen, wie es in ihrem Verlag aussah und in ihren Buchhandlungen, wer ihre Bücher kaufte – oder gerade nicht. In welchen Bussen sie fuhren, wer ihre Nachbarn waren, was es zum Frühstück gab. Oft waren es Reisen und längere Aufenthalte, Begegnungen, die nicht nur die arbeitsnotwendigen Kontakte und Netzwerke erweiterten, sondern etwas auslösten: die vage Idee zu einem Buch. Ein überwachsener jüdischer Friedhof bei Merkine in Litauen, den nur die Karte des Naturschutzvereins verzeichnete; eine Ausstellung in Amsterdam mit Fotos vom zerstörten Grosny; das Gefühl, „Geschichte wird gemacht“, das in Belgrad im November 2000, kurz nach dem Sturz des Machthabers Slobodan Milošević mit Händen zu greifen war, ähnlich wie in Kiew im April 2014, nach der Revolution des Euromaidan. Stets kam etwas in Gang, was in ein Buch mündete. In Russland hingegen versuchte ich mir darüber klarzuwerden, warum ich trotz der jungen, professionell arbeitenden literarischen Agenturen nur wenige neue Texte fand, die mich überzeugten. Umso wichtiger wurden die großen kultur- und zeitdiagnostischen Essays des Moskauer Philosophen Michail Ryklin. Diese Arbeit bedeutete, für die Autoren da zu sein, Kontakte für sie zu knüpfen, ihnen Wege zu bahnen, etwa zu einem Stipendium, das ihnen Sicherheit und Ruhe verschaffen würde. Dank der Stiftung Preußische Seehandlung konnten unbekannte junge Autoren und Übersetzer ein paar Wochen im Literarischen Colloquium Berlin am Wannsee wohnen und arbeiten. Fast jeder osteuropäische Autor von Rang hat inzwischen ein Jahr als Gast des
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DAAD-Künstlerprogramms in Berlin oder als Fellow am Wissenschaftskolleg verbracht. Markante Ereignisse waren zu dokumentieren: Im Jahr 2002 ging die Verhandlung über den größten Massenmord in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg zu Ende; ein General der bosnischen Serben wurde wegen Völkermords verurteilt. Wir publizierten Protokolle aus dem Jugoslawientribunal in Den Haag: Srebrenica. Ein Prozess. Auf dem Höhepunkt der sogenannten Antiterrorkampagne Präsident Putins in der russischen Kaukasusrepublik Tschetschenien – und zum Buchmessenschwerpunkt Russland – erschien Der Krieg im Schatten. Russland und Tschetschenien (2003). Die Titelformulierung löste Empörung bei der offiziellen Moskauer Delegation aus. Am 1. Mai 2004 traten acht osteuropäische Länder der EU bei; der rechte Zeitpunkt, um Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa von Andrzej Stasiuk und Juri Andruchowytsch herauszubringen, das in Polen bereits zum Millenniumswechsel erschienen war. Bücher erschienen, die auf die Ermordung Zoran Djindjićs, auf die Orange Revolution, die Repressionen in Belarus, die Protestbewegung in Russland, den Euromaidan, den neuen Nationalismus in Polen antworteten.13 Viele Buchprojekte entstanden in Diskussionen mit den Autoren, vor allem mit Andrzej Stasiuk, Monika Sznajderman und Juri Andrucho-wytsch. Mehr noch als Historiker, Politik- und Gesellschaftswissenschaftler, deren Beiträge unverzichtbar waren, um die Voraussetzungen für die Rezeption zu schaffen oder die Akzeptanz der Bücher zu erleichtern, waren es die literarischen Autoren, die uns den europäischen Kontinent mit neuen Augen sehen ließen: Verfall und Palimpsest ließen sich als Eigentümlichkeit nicht nur des östlichen, sondern ganz Europas entdecken. Am Vorabend der EU-Osterweiterung, auf einem Spaziergang durch das frühere Scheunenviertel in Berlin, wurde das mehrteilige Projekt Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas geboren. Literarische Anthologien entstanden, die Landschafts- und Geschichtsräume in alle Himmelsrichtungen erkundeten und in enger Zusammenarbeit mit dem polnischen Verlag Czarne Form annahmen. Jede dieser Anthologien (Odessa Transfer, Alphabet der polnischen Wunder, Totalny Futbol) wurde im Rahmen von Festivals, Veranstaltungen, Ausstellungen, Symposien präsentiert, deren Sinn darin bestand, den Büchern 13 Siehe die Titel von Julija Bogoeva/Caroline Fetscher (Hg.), Florian Hassel (Hg.), Jens Becker/Achim Engelberg (Hg.), Mykola Rjabtschuk, Artur Klinau, Valentin Akudowitsch, Mischa Gabowitsch, Juri Andruchowytsch (Hg.), Katharina Raabe/Manfred Sapper (Hg.) in der Bibliographie im Anhang.
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eine Aura zu geben, Neugier zu wecken, Autoren einzuladen und immer mehr Menschen für ihre Texte zu gewinnen, für das Fremd-Vertraute zu sensibilisieren, das sie umgibt. 4 Kontinuitäten Mit der Verpflichtung auf einen bestimmten literarischen Anspruch und in dem Selbstverständnis, dass Bücher die geistige Situation der Zeit zum Ausdruck bringen sollten, habe ich versucht, nicht nur Traditionslinien des Verlags aufzugreifen, sondern auch die andernorts begonnene Arbeit fortzuführen. Das neue Osteuropa-Programm bei Suhrkamp profitierte von der Verlagskrise bei Rowohlt Berlin. Das 1990 gegründete Tochterunternehmen des Rowohlt Verlags in Reinbek mit Michael Naumann, Ingke Brodersen und Ingrid Krüger hatte sich der publizistischen Begleitung der europäischen Wende verschrieben und in einem kleinen literarischen Programm Autoren wie Imre Kertész und Péter Nádas (der 1979 auf Deutsch bei Suhrkamp debütiert hatte14), Andrej Bitow und Ljudmila Petruschewskaja und junge Autoren aus Tschechien, Serbien und Polen herausgebracht. Siegfried Unseld wurde kurzzeitig neuer Verleger von Imre Kertész. Die beiden Männer verband eine spontane, sehr herzliche Freundschaft. Zwei Wochen, nachdem Kertész den Nobelpreis erhalten hatte, starb Unseld – eine tragische Koinzidenz. Die Bindung des Autors an den Suhrkamp Verlag hat den Tod Unselds nicht überlebt. Auch Andrzej Stasiuks poetische Prosa Dukla hätte bei Rowohlt Berlin erscheinen sollen, wo ich seit 1993 als Nachfolgerin von Ingrid Krüger tätig war. In der Folge des Managementwechsels wurde der Titel aus dem Programm genommen. Stasiuk schrieb einen zornigen Brief an die neue Verlagsspitze und kündigte seinen Vertrag. Mit Einverständnis des Autors und seines Übersetzers Olaf Kühl schickte ich den deutschen Text an den Suhrkamp Verlag. Glücklicher hätte die Geschichte nicht beginnen können. Zwischen Siegfried Unseld und seinem neuen Autor gab es eine sprachlose, von Wärme und Skepsis getragene Sympathie: Stasiuk sah in Unseld einen Vater, dessen Vorbehalte er zugleich spürte, ein Misstrauen, das weniger ihn selbst meinte als den Polen in ihm, der es auf Unselds Jaguar abgesehen haben könnte. So jedenfalls hat er es in seinem liebevoll-sarkastischen Nachruf auf den Verleger beschrieben. Unseld, der sogleich Peter Handke die Lektüre ans Herz legte, bekundete Interesse an Stasiuks kleiner Autobiographie Wie ich Schriftsteller wurde, die schon ein Jahr später in der „edition suhrkamp“ erschien und mehrfach nachgedruckt werden musste. 14 Nádas 1979.
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Der Verlag macht keine Bücher, sondern Autoren – diese Devise galt damals, im Herbst 2000, noch ungebrochen. Unseld musste sich allerdings genau anschauen, wen er sich ins Haus holte. Der Ungar László Darvasi, zwei Jahre jünger als Stasiuk, und der in Berlin und Rovinj lebende serbische Autor Bora Ćosić wurden mit ihren Weltrechten und dem Versprechen künftiger Bücher an Bord genommen, ebenso Andrej Bitow und Jáchym Topol, dessen Bücher zuvor bei Volk & Welt erschienen waren. Für Ćosić war es eine Rückkehr. Wie unsere Klaviere repariert wurden hieß der Band mit satirischen Geschichten, die Peter Urban 1969 in der „edition suhrkamp“ in eigener Übersetzung herausgebracht hatte. Unmittelbar danach hätte Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution folgen können, doch aufgrund des Zerwürfnisses Urbans mit dem Verlag15 kam es nicht mehr dazu. Erst 1994 erschien das Buch auf Deutsch – bei Rowohlt Berlin. Suhrkamp übernahm den Klassiker 2002 ins Taschenbuch. Alterswerke des Dichters im Berliner Exil folgten, vor allem das große Prosabuch Das Land Null. Wie Fortsetzung und Neubeginn sich im Jahr 2000 überschneiden, lässt sich an einem Werk des anderen großen Vermittlers ablesen: Karl Dedecius. Mit dem Erscheinen von Aleksander Wats Erinnerungen Jenseits von Wahrheit und Lüge als Band 50 der „Polnischen Bibliothek“ kam die mit der Robert Bosch Stiftung initiierte Reihe zum Messeschwerpunkt 2000 an ihr Ende. Dieter Bingen, Dedecius‘ Nachfolger als Direktor des Polen-Instituts Darmstadt, regte eine Fortsetzung an. Unter dem Titel „Denken und Wissen“ sollte eine auf zehn Bände angelegte Polnische Bibliothek mit geisteswissenschaftlichen Texten von Henryk Elzenberg bis Józef Tischner erscheinen. Ich überredete Karl Dedecius, seine Autobiographie zu schreiben. Sie kam 2006 zu seinem 85. Geburtstag heraus. Eine zweisprachige Anthologie Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts und Meine polnische Bibliothek folgten. Während der zweieinhalb Jahre seines Wirkens als Lektor hatte Peter Urban dem osteuropäischen Programm Prägnanz und Profil gegeben. Frisch aus Belgrad zurück, in engem Kontakt mit Vladimír Kafka und dem Autorenpaar Josef Hiršal und Bogumila Grögerová in Prag, überzeugte er Günther Busch und Siegfried Unseld davon, die jungen, der Avantgarde nahestehenden Autoren in die „edition suhrkamp“ aufzunehmen: Milan Nápravník, Vĕra Linhartová, Ivan Vyskočil, Josef Jedlička und ihre serbischen Altersgenossen aus Belgrad: Danilo Kiš, Bora Ćosić, Mirko Kovač und Lyriker wie Oskar Davičo, Vasko Popa und Miodrag Pavlović. Als Übersetzer aus dem Tschechischen und Serbokroatischen hat der 25jährige Slawist zielsicher die bedeutendsten Autoren der damaligen Moderne für den Verlag entdeckt und ihren Büchern die erforderlichen Kommentare und instruktive Nachworte beigegeben, die das 15 Vgl. den Beitrag von Natalia Bakshi in diesem Band.
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jeweilige Werk in den Kontext der im Westen unbekannten Traditionen stellten und sich zu kleinen Literaturgeschichten auswuchsen. Aus einer Bemerkung Urbans zur Platzierung von Kis‘ Garten, Asche im Insel Verlag geht hervor, dass Siegfried Unseld wenig Interesse an der osteuropäischen Literatur hatte und seinen Lektor gewähren ließ, ihn aber auch mit Fehlentscheidungen konfrontierte.16 Eine Haltung, an der sich auch in späteren Jahren nichts geändert hat. Peter Urban half mir 1993, die Adresse von Bora Ćosić herauszufinden, und stand mir beim Lektorieren der Weltrevolution mit Rat zur Seite. Ihm habe ich grundsätzliche Erkenntnisse über das Übersetzen aus slawischen Sprachen zu verdanken. Viele Jahre lang standen wir im Kontakt. Er entschloss sich sogar, wieder für seinen alten Verlag zu übersetzen: zwei Bände seines Autors Miodrag Pavlović und eine Revision von Miloš Crnjanskis Kommentare zu Ithaka, die 2011 zusammen mit einer Neuauflage des von Ilma Rakusa 1993 angeregten Tagebuch über Čarnojević zum Serbien-Schwerpunkt der Leipziger Buchmesse erschienen. Neben Peter Urban war es Ilma Rakusa, bei der ich seit den frühen neunziger Jahren Auskunft suchte und die ich hin und wieder um Begutachtung von serbokroatischen und ungarischen Manuskripten für Rowohlt Berlin bat. Die Verbindung mit ihr, die dem Suhrkamp Verlag seit 35 Jahren als Beraterin zur Verfügung steht, garantierte eine innere Kontinuität des Programms über Brüche und Neuanfänge hinweg. 5
Osteuropa – ein Anachronismus?
Suhrkamp habe sich „zum deutschen Markführer für osteuropäische Literatur gemausert“, hieß es bereits 2006.17 Seit Herbst 2001 sind jährlich etwa zehn bis zwölf Titel erschienen. Nicht gezählt die Werke älterer Hausautoren wie György Konrád, Bohumil Hrabal, Zbigniew Herbert und Stanisław Lem sowie Editionen, die – wie die Polnische Bibliothek „Denken und Wissen“ – außerhalb des Verlags angeregt wurden: im Rahmen verschiedener Exzellenzcluster (Ludwik Fleck, Juri Lotman) oder als Initiativprojekt der Bundeskulturstiftung wie das von Boris Groys kuratierte Projekt zur „Postcommunist Condition“.18 16 Urban 2011, S. 83f. 17 Joachim Güntner: Mekka der unabhängigen Verlage. Die Leipziger Buchmesse ohne dominante Trends, doch mit wachsender Größe und Bedeutung. Neue Zürcher Zeitung, 20. 3. 2016. 18 Siehe die Bibliographie im Anhang.
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Kein anderer Verlag hat innerhalb von fünfzehn Jahren eine vergleichbare Anzahl osteuropäischer Bücher unterschiedlicher Genres herausgebracht, Romane, Erzählungen, poetische Prosa, Lyrik, Essays, wissenschaftliche Monographien, Lebenserinnerungen, Biographien. Suhrkamp übt auch international eine gewisse Orientierungsfunktion aus. Dennoch: hat sich der Begriff Osteuropa nicht überlebt? Aus Unbehagen an der Exotisierung hatte ich unsere Autoren vor fünf Jahren gefragt, ob sie sich eigentlich selbst als Osteuropäer bezeichnen würden. Und ob es eine osteuropäische Literatur überhaupt (noch) gibt. Gehört ihre Arbeit, gerade wenn sie als Kinder aus dem zerfallenden Jugoslawien, der untergegangenen Sowjetunion in eine deutsch- oder englischsprachige Umgebung übergesiedelt sind, nicht längst zu einer anders kontextualisierten, einer globalen Literatur? Welche Gemeinsamkeit sollte es denn geben zwischen der ungarischen Autorin Zsófia Bán, die in Brasilien aufgewachsen war, und ihrer dreißig Jahre jüngeren russischen Kollegin Alissa Ganijewa aus Dagestan? Gehört Katja Petrowskaja, ihre Deutsch schreibende, aus Kiew stammende Kollegin russischer Muttersprache, zur osteuropäischen Literatur? Gibt es, von der Vielsprachigkeit auf kleinstem Raum abgesehen, eine verallgemeinerbare osteuropäische Erfahrung? Im Jahr 2008, auf halber Strecke zwischen Herbst 2000 und heute, hat der Verlag als Werbemittel einen Osteuropa-Katalog herausgebracht. Ein erster Versuch, das leidige Etikett loszuwerden, zeigt die Wahl des Titels: Die Welt hinter Dukla. „Die literarische Landkarte Osteuropas“, behauptete das Editorial, „wird von Jahr zu Jahr bunter. In einer radikal veränderten Welt zu leben, Wand an Wand mit dem Absurden, bringt wunderbare Erzählkunst hervor […].“ Doch gab es überhaupt einen gemeinsamen Nenner für die Bücher des vielsprachigen Programms? Unbekannte Landschaften, durchzogen von neuen Staatsgrenzen, dank dieser Grenzen eine zunehmend genauere Bestimmung ihrer Heterogenität; die vergessene oder nie erzählte historische Geschichte der Bewohner dieser Landschaften; die Geschichten der Erschütterung, Geschichten aus der unmittelbaren Gegenwart im Zeichen des radikalen Bruchs, der Unsicherheit der Existenz. Taugten diese Topoi zur Benennung dessen, was die Autoren des Programms verbindet? Stasiuks Suhrkamp-Debüt hatte in diese Richtung gewiesen: den Texten haftet ihre Herkunft, die Atmosphäre einer Region an, die sich in einem rasanten Wandel befand. „Diese Gegend“, sagte einmal Juri Andruchowytsch „verfügt über ein riesiges, noch lange nicht ausgeschöpftes Potenzial an Geschichten. Sie können die Welt erschüttern wie einst die lateinamerikanischen Romane“. Es waren die Autoren meiner Generation – neben Stasiuk und
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ndruchowytsch Jáchym Topol, László Darvasi, Dževad Karahasan, Mircea A Cărtărescu, die zwischen 1978 und 1988 zu schreiben begonnen hatten und nun den Prozess der Emanzipation aus dem bevormundenden, aber auch behütenden Staatssozialismus am eigenen Leibe erfuhren. Neue, adäquate Formen, eine Sprache zu finden für das konvulsivische „Werden im Vergehen“, war eine Herausforderung, der sie sich zu stellen hatten. Stasiuk, der mit zwanzig Jahren wegen Desertion aus dem Militärdienst im Gefängnis saß, hatte sich bereits 1986 aus Warschau in die Beskiden zurückgezogen. Literarischer Autodidakt, unermüdlicher Leser, hochempfindlich, mit einem Instinkt für Ungerechtigkeiten und Lügen begabt, wurde er zum poetischen Chronisten seiner Hinterwelt: einer Welt voller Geister und Gespenster von Verstorbenen, Ermordeten, Abwesenden. Die Schriftsteller der nächsten und übernächsten Generation (György Dragomán, Joanna Bator, Katja Petrowskaja, Serhij Zhadan, Alissa Ganijewa und andere) wurden erwachsen, als die alten Regime untergingen beziehungsweise sie haben sie gar nicht mehr bewusst erlebt. „Als Schriftsteller hat mich die Erfahrung der Macht geprägt und ihre zwangsläufige Folge, das innere und äußere Exil“, antwortet György Dragomán auf meine Frage nach der osteuropäischen Literatur, und dass sie überall dort entstehe, „wo die politische Gewalt den Schriftsteller aufs absurdeste isoliert und ausliefert“.19 Damit wäre diese Literatur heute so aktuell wie jede andere, die ihre Leser ernstnimmt. Damit sie uns auch weiterhin erreicht, braucht es noch weit mehr gute Übersetzer, engagierte Verlage, mutige Buchhändler, neugierige Leser. Auch wenn wir in einer krisenhaften Zeit der neuen Nationalismen, der aggressiven Abschottung leben – dank der neuen Medien (und so lange das Internet noch frei ist) sind sich die literarischen Akteure so nah wie noch nie. In Russland wird schon wieder von einem neuen Samisdat geredet, nicht nur dort, auch in Polen und Ungarn geschieht etwas, was wir nicht für möglich halten: die freie Rede ist in Gefahr. Das aber betrifft uns als Vermittler unmittelbar. Vielleicht wird es bald wieder nötig sein, von den besten unserer Vorgänger zu lernen und uns an ihre Kreativität und Unbeugsamkeit zu erinnern. In bester Suhrkamp-Tradition.
19 Auf der Internetseite des Verlags: http://www.suhrkamp.de/debatte_gibt_es_eine_ osteuropaeische_literatur_679.html.
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Literatur Adorno, Theodor W. (1975): Negative Dialektik. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= stw 113). Busch, Günther (1994): Vier Fußnoten zur Zukunft der Bücher. In: Klaus Wagenbach (Hg.): Wieso Bücher? Berlin: Wagenbach. Nádas, Péter (1979): Ende eines Familienromans. Aus dem Ungarischen von HansHenning Paetzke. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Schlögel, Karl (2002): Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. München: Hanser. Stasiuk, Andrzej (2000): Die Welt hinter Dukla. Aus dem Polnischen von Olaf Kühl. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Stasiuk, Andrzej (2003): Die Barbarei des Sehens und die Kultur des Ausdrucks. In: Zygmunt Haupt: Ein Ring aus Papier. Erzählungen. Aus dem Polnischen übersetzt und mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Mit einem Essay von Andrzej Stasiuk. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 321–330. Urban, Peter (2011): Die Ungeheuerlichkeit. Erinnerung an einen gescheiterten Versuch, Verlagsarbeit zu demokratisieren. In: Chronik der Lektoren. Von Suhrkamp zum Verlag der Autoren. Frankfurt am Main: Verlag der Autoren, S. 77–102.
Rafael Y. Schögler
Suhrkamp, Theorie und Translationspolitik Erste Rekonstruktionsversuche
Die Vermittlung von Wissenschaft läuft nicht zufällig oder gleichmäßig ab. Präferenzen für bestimmte Konzepte, Theorien oder Ergebnisse folgen auch keinem linearen Fortschrittskonzept. Die Wissens- und Wissenschaftssoziologie setzt sich daher bereits seit geraumer Zeit mit jenen Mechanismen, Praktiken und Mustern auseinander, welche für die Verbreitung und Vermittlung von Wissen verantwortlich sind. Die Etablierung einzelner Disziplinen, Denkrichtungen oder Schulen der Geistes- und Sozialwissenschaften ist gebunden an der Produktion, Reproduktion, Vermittlung und Zirkulation von Wissen. Ein wichtiges Medium für die Verbreitung und Vermittlung von Ideen in diesen Bereichen war und bleibt das Buch. Eine wichtige vermittelnde Praxis ist jene der Übersetzung. Für das literarische Feld konnte bereits eindrucksvoll gezeigt werden, wie Übersetzung neue Stilrichtungen oder Genres mitgestalten kann,1 für den wissenschaftlichen Bereich steht diese Form der Auseinandersetzung mit Übersetzung und Wissen erst am Anfang. Ziel dieses Beitrags ist die Ausdifferenzierung unterschiedlicher Ebenen von Translationspolitik anhand des Beispiels der „Theorie“-Reihe im Suhrkamp Verlag. Es wird dabei argumentiert, dass Übersetzung als ein Kernbestandteil der „Theorie“-Reihe verstanden wird, der sich quantitativ und qualitativ messen lässt. Es wird versucht, das Fehlen eines Osteuropa-Fokus anhand der translationspolitischen Ausrichtung der Reihe zu erklären. Die Entwicklung von Präferenzen für bestimmte Werke, AutorInnen oder Ideen in den Sozial- und Geisteswissenschaften haben häufig mit Anerkennung – und nicht lediglich mit der Qualität der Idee an sich – zu tun. Merton stellt hierfür eine Analogie zum biblischen Matthäus her. Er beschreibt damit jenen Mechanismus, dass diejenigen mehr erhalten, die bereits viel haben oder exakter, dass jene, die viel Anerkennung erhalten, für ihre weitere Arbeit überproportional viel Anerkennung bekommen, was schließlich zu einer Ressourcenkonzentration führt.2 Allgemeiner kann man auf Bourdieus feldtheoretische Konzeption und die Beschreibung des Homo Academicus, die dort aufgezeigten Netzwerke, Machtverhältnisse, Austauschformen und 1 Gouanvic 1999. 2 Merton 1968.
© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764091_004
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institutionellen Verbindungen verweisen. So wichtig die meritokratische Idee des „Ethos“ der Wissenschaft3 als ein leitendes Element bei der Organisation des wissenschaftlichen Feldes bleibt, so sehr sind auch institutionelle Einrichtungen, Grabenkämpfe und Positionierungsversuche im Kampf um Anerkennung und Mitbestimmung bei der Reproduktion eines Feldes von Bedeutung. Kürzlich hat Baert4 das Konzept der Positionierung wiederbelebt, um die eigene und gegenseitige Positionierung und vor allem auch Veränderungen in der Positionierung von AkteurInnen zu beschreiben. Die Untersuchung von Positionierung wird dabei anhand von „intellektuellen Interventionen“ untersucht und bezieht sich besonders auf die Effekte dieser und nicht so sehr auf die Motive oder Ziele, welche hier verfolgt werden. Eine Prämisse ist dabei, dass die Positionierung nicht ausschließlich vom Inhalt der Interventionen abhängt, sondern ebenso von der Anzahl und der Form dieser. Form, meint hier beispielweise das gewählte Medium beziehungsweise die Reputation einer Fachzeitschrift, eines Verlags oder gar einer Reihe, in der eine Intervention publiziert wird. Im Fall Suhrkamp ist das Phänomen der „Suhrkamp-Kultur“ und des Status des „Suhrkamp-Autors“ wohl ohne weitere Ausführung ein allzu gutes Beispiel für die Form der Positionierung und Verwendung sowie Bildung von Reputation (siehe andere Beiträge dieses Bandes). Translation und Translationspolitik im wissenschaftlichen Feld existiert nicht unabhängig von diesen statusreproduzierenden Mechanismen. Es wird daher erwartet, dass Translation in einer Reihe eines angesehenen, breitgefächerten Verlags, wie es Suhrkamp war und ist, zu ebendieser Reproduktion etablierter Kräfte führt. Die Etablierung einzelner Individuen in einem spezifischen Feld, aber auch ganzer Disziplinen oder bestimmter Denktraditionen, Schulen und Grundbegriffe ist in der Regel zunächst an (national)sprachliche Grenzen und an die damit verbundenen Institutionen und Anerkennungsmechanismen gebunden. Das kulturelle Kapital der TeilnehmerInnen im Feld, die historische Bedeutung unterschiedlicher Verkehrssprachen und das Mittel der Abstraktion führen jedoch zu einer selektiven Internationalisierung des wissenschaftlichen Feldes. Selektiv im Sinne einer Diskriminierung einiger weniger, denen über Sprachgrenzen hinweg Beachtung geschenkt wird. Selektiv auch in dem Sinne, dass diese vermittelten Äußerungen nur von einem Teil des wissenschaftlichen Feldes wahrgenommen werden. Ein Element der Sprachgrenzen überschreitenden Wissenschaftspraxis ist Translation, und diese passiert ebenso wenig zufällig, wie die wissenschaftliche Konsekrationsarbeit allgemein. Um das Phänomen der Translation im wissenschaftlichen Feld begreifen
3 Siehe hierzu in deutscher Übersetzung: Merton 1985. 4 Baert 2012.
Suhrkamp, Theorie und Translationspolitik
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und erforschen zu können, bieten sich unterschiedliche Begrifflichkeiten an. Zwei dieser Begriffe sind jene der Translationskultur und Translationspolitik. Die Differenzierung der zwei oben genannten Begriffe erlaubt eine konzeptgeleitete Untersuchung der Translationspolitik des Suhrkamp Verlags beziehungsweise der „Theorie“-Reihe, basierend auf bibliographischen Daten und Archivmaterialien der SUA-Bestände im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Kemper (in diesem Band) spricht in diesem Zusammenhang von einer BlackBox der Verlagsarbeit, warnt jedoch davor, eine Geschichte des Verlags aus dem Marbacher Archiv heraus zu interpretieren. Stattdessen soll mit bestimmten Fragen an die Archive herangegangen werden. Auf theoretische Überlegungen folgend, behandelt der vorliegende Beitrag die Frage der Translationspolitik in der „Theorie“-Reihe zunächst ohne Öffnung der Black-Box. Der Versuch einer kategorisierten Darstellung der produzierten Bände zeigt jene Sprachen, Personen und Traditionen, die stark oder weniger stark Einzug in die „Theorie“-Reihe gefunden haben. In einem zweiten Schritt dienen ausgewählte Materialien aus dem Archiv dazu, die translationsverbundenen Praktiken des Verlags oder spezifischer des Herausgebergremiums der „Theorie“-Reihe aufzuzeigen. Diese Spaltöffnung der Black-Box bietet zusätzliche Erklärungen für das zuvor gezeichnete Bild der Translationspolitik. 1
Translationskultur und Translationspolitik
Will man die Konzeptionen der Translationspolitik in der Translationswissenschaft verstehen, ist es hilfreich, zunächst den Begriff der Translationskultur heranzuziehen, der weiter gefasst ist, jedoch auch als Grundstein für jedwede Form der Translationspolitik verstanden werden kann: Unter Translationskultur ist das historisch gewachsene, sich aus der dialektischen Beziehung zur Translationspraxis entwickelnde, selbstreferentielle und selbstregulierende Subsystem einer Kultur zu verstehen, das sich auf das Handlungsfeld Translation bezieht. Sie besteht aus einem Set von gesellschaftlich etablierten, gesteuerten und steuerbaren Normen, Konventionen, Erwartungshaltungen, Wertvorstellungen und habitualisierten Verhaltensmustern aller in der jeweiligen Kultur aktuell oder potentiell an Translationsprozessen beteiligten Handlungspartner.5
Prunč bezieht sich hier sowohl auf Erwartungshaltungen an bestimmte Texte, die in funktionalen Ansätzen der Translationswissenschaft aufgearbeitet wurden, wie auch auf die soziale Verankerung, die in Normen und h abitualisierten 5 Prunč 2007, S. 331.
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Verhaltensmustern zu finden sind.6 Normen und Konventionen werden in dieser Sicht von Translationskultur stets ausgehandelt, sind veränderbar und finden sich auf unterschiedlichen Ebenen wieder. Es geht dabei vor allem um ein gesamtheitliches Bild des translatorischen Handelns. Wie Wolf 7 festhält, lässt sich hier eine Nahbeziehung zur Feldterminologie finden, wenngleich bedeutende Unterschiede in der Operationalisierung und Schärfe der Begriffe existieren. Für den Bereich der Verlagsarbeit ist dieser Begriff jedoch zu weit und unbestimmt, wenngleich auch der Versuch unternommen werden könnte, die Normen und Verhaltensmuster im Verlag nachzuzeichnen. Das Konzept der Translationskultur beinhaltet auch eine Langlebigkeit, die in einem Verlag nicht unbedingt gegeben sein muss. Richtet man nun das Augenmerk auf den Begriff der Translationspolitik, werden die Multidimensionalität dieses Begriffs in der Translationswissenschaft deutlich und gewisse Überschneidungen mit dem Translationskulturbegriff von Prunč ersichtlich. Unter Translationspolitik kann gemeint sein: die Art und Weise der Übersetzung auf textueller Ebene, die Translationspolitik als eine Behandlung der Rolle der TranslatorInnen (als Personen), der Translation (als Praxis) oder auch der Translate (als Produkte) in einer Gesellschaft oder – recht simpel – die Differenzierung von Selektionsmechanismen bei der Produktion von Übersetzungen. Richtet man die Aufmerksamkeit zunächst auf die Verwendung dieses Begriffs in den 1950-er Jahren, wird dort mit Translationspolitik vor allem die Art und Weise der Übersetzung gemeint. Die englische Bezeichnung „policy“ wurde dazu verwendet, um Präferenzen der ÜbersetzerInnen auf der textuellen Übersetzungsebene zu beschreiben.8 Später wurden hierfür Bezeichnungen wie ‚Übersetzungsstrategien‘,9 oder auch ‚Übersetzungsnormen‘10 gewählt. Die „Politik“ ist hier vornehmlich auf der Individualebene verortet, wenngleich das, was die Normen oder Strategien bestimmt, von einem übergeordneten Kollektiv (unter Umständen würde hier auch wieder ein Teil des Translationskulturbegriffs passen) bestimmt wird. Meylaerts zitiert als zweite Nennung einer „translation policy“ das Werk von James S. Holmes, welcher in den Siebzigern das Forschungsprogramm der Translationswissenschaft beschreibt. Translations- oder hier wohl eher Übersetzungspolitik wird dabei eine sehr vage Bedeutung gegeben: „The task of the 6 Für eine nähere Diskussion des Begriffs siehe Wolf 2010, S. 22–23. 7 Wolf 2010, S. 28. 8 Vgl. Meylaerts 2011, S. 163–164. 9 Chesterman 1993. 10 Toury 1995.
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translation scholar in this area is to render informed advice […] in defining the place and role of translators, translating, and translations in society at large“.11 Konkreter geht es hierbei um die Bestimmung der Position der TranslatorInnen, der Translation als auch der Translate, das heißt der Auswahl jener Werke, die in einer Gesellschaft relevant sind. Der Aufruf, eine solche Translationspolitik als Aufgabe des/der wissenschaftlich arbeitenden Akteurs/in zu machen, nimmt der Konzeption an Wirkungsstärke. Etwas reduktionistisch ausgedrückt, kann in diesem Verständnis ein Engagement in Organisationen wie Berufsverbänden oder dergleichen als Ausdruck der Handlungsebene von Translationspolitik verstanden werden. Abstrakt betrachtet, finden sich hier jedoch interessante Elemente, die mit Machtkämpfen, Selektion und der Bestimmung einer Programmatik zu tun haben. Die empirische Frage nach der Verantwortlichkeit zur Gestaltung dieser Translationspolitik gehört jedoch von berufspolitischen Forderungen getrennt. Toury geht in seinem Werk, welches sich vornehmlich mit dem Konzept der Normen – vor allem auf textueller Ebene – auseinandersetzt, auf den Aspekt der Übersetzungspolitik im Kontext der Selektion von Translaten ein. Er spricht dann von einer Übersetzungspolitik, wenn die Auswahl jener Texte, die für die Übertragung in eine Sprache zu einem gewissen Zeitpunkt oder Zeitraum ausgewählt wurden, keine Zufallsauswahl darstellt. Er spricht dabei nicht nur von strategischen Entscheidungen auf einer gesellschaftlichen Makroebene, sondern meint expliziert: Different policies may of course apply to different subgroups, in terms of either text-types (e.g. literary vs. non-literary) or human agents and groups thereof (e.g. different publishing houses).12
Diese Differenzierung und Einschränkung des Translationspolitik-Begriffs auf kleinere Subgruppen und deren Handlungsweisen, Selektionsabläufe und Präferenzen entspricht zum Teil bereits den Anforderungen für einen Umgang mit Translationspolitik in der Verlagsarbeit und der Programmgestaltung bei Suhrkamp. Reine Meylaerts selbst spricht sich für eine noch engere Definition des Begriffs aus, welche die Verlagsarbeit im Grunde ausschließen würde, und stellt politische Institutionen, insbesondere im Kontext von Nationalstaaten, in den Vordergrund: a policy refers to the conduct of political and public affairs by a government or an administration. Regulating important aspects of people’s lives among which 11 Holmes 2000, S. 182. 12 Toury 1995.
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Rafael Schögler their right to participatory citizenship, policies are not neutral but rather interventionist. Similarly, a translation policy is to be defined as a set of legal rules that regulate translation in the public domain: in education, in legal affairs, in political institutions, in administration, in the media.13
Meylaerts verwendet hier eine äußerst restriktive Definition von Übersetzungspolitik, die sich auf die Handlung und das Definieren von Handlungsräumen durch politische Institutionen und deren AkteurInnen beschränkt. Noch enger wird der Begriff dadurch, dass hier insbesondere formelle, juristische, festgeschriebene Regulierung von Sprach- und Übersetzungspolitik gemeint ist. Konkret äußert sich dies beispielsweise in Verträgen, die über die Rechte von Minderheitensprachangehörigen bestimmen, wie dies beispielsweise bei der Übersetzung von Rechtstexten in der Europäischen Union der Fall ist. Der einfach gehaltene, politikwissenschaftliche „policy“-Begriff beinhaltet zumindest drei Dimensionen: den programmatischen Charakter einer „policy“, das heißt Ziele, Handlungsfelder, Einschränkungen der Handlungsfähigkeit der AkteurInnen; die Praktiken, das heißt die tatsächliche Umsetzung und den Umgang mit den programmatischen Äußerungen; und die Konsequenzen, das heißt, was ist durch die „policy“ passiert. Diese drei Elemente können als abhängig voneinander betrachtet oder auch als unabhängige Entitäten verstanden werden. Unabhängigkeit bedeutet, dass es auch Konsequenzen, Ergebnisse oder Praktiken geben kann, die nicht Teil der Ziele beziehungsweise der programmatischen Äußerungen sind. Umgekehrt ist dies natürlich auch möglich. Trotz unterschiedlicher definitorischer Ausrichtungen bleibt die Auseinandersetzung mit Translationspolitik verbunden durch das Interesse an Steuerungsprozessen, welche die Selektion, Produktion und Rezeption von Übersetzungen beeinflussen. Die „nicht-Beliebigkeit“ bei der Selektion, aber auch die Umsetzung von translatorischen Projekten werden in der Translationswissenschaft im Zuge der sogenannten kulturellen Wende14 von Bassnett und Lefevere entwickelt. Sie behandeln Translation als „Rewriting“, darunter verstehen sie das Neu-Schreiben und die „Manipulation“ eines Originals. Damit können Übersetzungen, aber auch Anthologien, Kommentare, Kritiken, kritische Editionen gemeint sein. Für Bassnett und Lefevere ist hier wichtig, dass diese Manipulationen nicht beliebig sind, sondern durch gewisse Machtverhältnisse (auch implizit) gesteuert werden. Diese Steuerung bezeichnen sie als Patronage-System. Dieses System kontrolliert sowohl die Auswahl als auch 13 Meylaerts 2011, S. 165. 14 Das heißt, eine Wende hin zum Aspekt der Kultur als untersuchenswerte Dimension im Kontext der Translation.
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die Art der Übersetzung und somit Manipulation. Wolf rekonstruiert treffend die Bedeutsamkeit einer theoretischen und empirischen Auseinandersetzung mit der Produktion von Rewritings bei Bassnett und Lefevere.15 Wolf schreibt hierzu: Die Untersuchung der […] Steuerungsprozesse, seien sie hemmend, bremsend, ablehnend oder fördernd, gibt Aufschluss sowohl über den Stellenwert von Übersetzung in einer Kultur als auch darüber, welche Manipulationen für und wider das Phänomen Translation getätigt werden, was auch unter dem Schlagwort ‚Übersetzungspolitik’ subsumiert werden könnte.16
Wie weiter unten gezeigt werden soll, können auch auf Ebene der Verlage solche Steuerungsprozesse und der Stellenwert von Übersetzung nachgezeichnet werden. Die bis hierhin erwähnten Translationspolitik-Begriffe haben die textuelle Ebene, die Selektionsebene (von Gideon Toury bis zur Translationssoziologie) und die institutionell-politische (hier mit den Erklärungen von Meylaerts) Ebene umfasst. Den Begriff auf die institutionell-politische Ebene zu begrenzen, führt zu einem Reduktionismus des Begriffs, der nicht einmal in der Kerndisziplin der Policy-Forschung Anwendung findet. Diese Einschränkung für den translatorischen Kontext vorzunehmen, mag die Grenzen des Begriffes schärfen, führt jedoch zugleich dazu, dessen Erklärungskraft in nichtpolitisch-institutionalisierten Bereichen zu ignorieren. Bezieht man sich auf das literarische und wissenschaftliche Feld – und dabei auf den Bereich der Buchübersetzungen – enthält Translationspolitik unterschiedliche Dimensionen, die bei der Erforschung kultureller und intellektueller Transferleistungen untersucht werden können. Auf institutionalisierter Ebene könnten politische Initiativen zur Förderungen und Auszeichnung von Übersetzungen als ein wichtiges Element herangezogen werden (siehe Rude-Porubská17 für Übersetzungspreise in Deutschland). Die programmatische, das heißt inhaltliche Ausrichtung dieser institutionellen Strukturen, sind jedoch abhängig vom kulturellen Kanon, den involvierten AkteurInnen und den politischen Verhältnissen. Übergeordnet wurde der Translationskulturbegriff eingeführt. Dieser Begriff umfasst Dimensionen wie beispielsweise Normen, kulturelle Präferenzen, das Zusammenspiel von unterschiedlichen Institutionen und auch gesellschaftlichen Bereichen. Die Translationspolitik hingegen wird zumeist 15 Bassnett/Lefevere 1998; Wolf 2012. 16 Wolf 2012, S. 49. 17 Rude-Porubská 2014.
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enger verstanden und hat als differenzierendes Element den Fokus auf die Steuerungsprozesse. Aus einer strukturalistischen Sicht ist die Reproduktion bestimmter Muster jedoch ein Steuerungsprozess an sich, der zwar durch die Handlungs- und Verhaltensweisen der AkteurInnen beeinflussbar bleibt, jedoch ebenso als unabhängige Entität zu verstehen ist. Daher schlage ich vor, eine implizite und eine explizite Translationspolitikdimension zu unterscheiden. Die implizite Dimension ist dabei näher am Translationskulturbegriff und umfasst somit die – oft retrospektive – Rekonstruktionen einer Translationspolitik, der leitenden Mechanismen, des Zusammenspiels unterschiedlicher programmatischer Äußerungen und Handlungen beziehungsweise Verhaltensweisen. Die explizite Dimension hingegen ist Translationspolitik im engeren Sinne, das heißt basierend auf der Ausarbeitung programmatischer Äußerungen (einem „Plan“), der Kommunikation dieser Äußerungen an eine (selektive) Öffentlichkeit, der Schaffung mehr oder weniger stark institutionalisierter Strukturen zur Umsetzung der Programme und schließlich die Produktion (oder nicht-Produktion) translatorischer Werke. Die Verlagsarbeit und die Herausgabe einer Reihe oder von Übersetzungen im Rahmen einer Reihe erfüllen sowohl die Anforderungen für eine Untersuchung einer impliziten als auch einer expliziten Translationspolitik. Auf der impliziten Dimension lässt sich anhand der Bibliographie oder auch anhand von Reaktionen, Rezeptionsanalysen oder dergleichen die Translationspolitik in ihrer Wirkung nachzeichnen. Verortet man diese jedoch näher an der expliziten Translationspolitik-Dimension, wird man im Archiv ebenso fündig und kann Vermittlungs- und Kontrollinstanzen nachzeichnen, welche dabei helfen, die Selektionspraktiken zu verstehen und Strukturen zu erklären. Bei den Übersetzungen im wissenschaftlichen Suhrkamp-Programm – und hier wohl insbesondere in der archivarisch betrachteten „Theorie“-Reihe in den 1960er bis 1980er Jahren – handelt es sich um keine zufällige Auswahl von Texten für die Übersetzung. Der programmatische Charakter und die selektive Auswahl jener Texte, die übersetzt werden, sowie die verlegerische Arbeit des Lektors zeigen die bewusste Verwendung von Übersetzung in der Verlagstätigkeit und deuten auf Zusammenhänge der Translationspolitik mit der Positionierung der Reihe und der Produktion des Theorie-Begriffs. 2
Translation: Muster und Präferenzen aus der Bibliografie
Folgt man der oben angebotenen Argumentation zur Translationspolitik, dann bildet ein Korpus wie jenes der „Theorie“-Reihe unweigerlich das Resultat der impliziten und expliziten Translationspolitik, das heißt der Strukturen, Praktiken und Programme des Verlags beziehungsweise der Reihe. Eine voll-
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ends implizite – lediglich aus den Handlungspraktiken rekonstruierbare beziehungsweise an Publikationsmustern erkennbare – Translationspolitik ist womöglich besser durch den breiteren Translationskulturbegriff zu erklären. Wie aus der Rekonstruktion einiger programmatischer Elemente der „Theorie“- Reihe deutlich werden sollte, trifft dies im Fall dieser Reihe jedoch nicht zu. Die ersten Bücher der „Theorie“-Reihe erscheinen im Herbst 1966. Zu diesem Zeitpunkt sind Hans Blumenberg, Dieter Henrich, Jürgen Habermas und Jacob Taubes Herausgeber der Reihe. Der Zusammenführung dieser vier gehen unterschiedliche Korrespondenzen mit dem Verleger voraus. Taubes versucht sich als Berater bei Suhrkamp unterzubringen;18 1964 korrespondieren Henrich und Habermas zu eigenen Theorie-Plänen mit Siegfried Unseld; Blumenbergs Rolle bleibt für die Frühphase aus den gesichteten Dokumenten unklar. Unseld und die Herausgeber einigten sich zunächst darauf, Bände mit einer Länge von maximal 300 Seiten zu publizieren. Diese Begrenzung wurde – den Äußerungen der Programmhefte folgend – auf 400 erhöht. In Ausnahmefällen überschreiten die Bände diese Grenze, wie beispielweise ein Peirce-Band bezeugt, der mit fast 600 Seiten aufwartet, wovon 200 als Einleitung dienen. Die Reihe ist für das Studium bestimmt, relativ günstig im Preis wie auch in der Produktion und Aufbereitung (Leineneinband). Die Reihe wird ökonomisch gesehen dennoch nicht gewinnbringend, was jedoch nicht zum Ende des Interesses für Theorie-Werke führt, sondern den Aufbau der weitaus erfolgreicheren Reihe „stw“ (suhrkamp taschenbuch wissenschaft) nach sich zieht, die im Mai 1973 zum ersten Mal erscheint und bis heute fester Bestandteil des Suhrkamp Programms ist.19 Eingestellt wurde die „Theorie“-Reihe schließlich in den späten 80-er Jahren, also nach 20 Jahren ununterbrochener Publikationsleistung. Zuletzt wird die „Theorie“-Reihe herausgegeben von Jürgen Habermas, Dieter Henrich und Niklas Luhmann. Die erhobenen Daten beziehen sich auf die Etablierung der Reihe und den ersten programmatischen Wurf von 1966 bis 1970. Die Theorie Reihe entsteht zur Kernzeit der Bildungs- und Hochschulexpansion. In den 1960-er und 1970-er Jahren entstehen in den Sozial- und Geisteswissenschaften neue Lehrstühle, Studienpläne, und die Anzahl der Studierenden vervielfältigt sich im deutschsprachigen Raum. Es ist daher nicht verwunderlich, dass dies – neben der politisch-sozialen Lage – ein Bedürfnis nach „neuen“ beziehungsweise im Zielfeld noch nicht etablierten Ideen, Konzepten oder Theorien hervorruft. Die Etablierung neuer F orschungszweige,
18 Morten Paul arbeitet diese Korrespondenz in einem Artikel in der Zeitschrift für Ideengeschichte auf. Siehe Paul 2012. 19 Bürger 2012.
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von der E thnographie bis hin zu neuen Entwicklungen in der Linguistik, gehört hier ebenso genannt, wie die generelle Auseinandersetzung mit dem Theorie-Begriff20 und spezifischer der Marxistischen Theoriebildung. Sieht man sich die Übersetzungen im ersten relevanten Publikationszeitraum von 1966 bis 1970 an, in dem die „Theorie“-Reihe unterteilt war in „Theorie 1“ und „Theorie 2“, können 34 Übersetzungen identifiziert werden. Somit wurden in dieser Zeitspanne von vier Jahren im Schnitt mehr als neun übersetzte Werke veröffentlicht. Im gleichen Zeitraum lassen sich aus den Daten der Deutschen Nationalbibliothek 23 deutschsprachige Titel entnehmen. Selbst unter Annahme gewisser Datenabweichungen lassen sich hier die Größenordnung beziehungsweise das Verhältnis von Übersetzungen (60%) zu Neuproduktionen (40%) erkennen. Ein Studium der Programmprospekte ergibt ähnliche Zahlen.21 Übersetzungen bilden daher einen elementaren Bestandteil dieser Reihe und nicht nur ein Neben- oder Zufallsprodukt. Es stellt sich nun die Frage, ob die Übersetzungen innerhalb der Reihe einer gewissen Logik folgen, sich voneinander unterscheiden, das heißt unterschiedliche Typen einer ähnlichen Praktik darstellen, oder Übersetzung hier als etwas Einheitliches verstanden werden kann. Anders ausgedrückt: Kann eine Translationspolitik aus einer formalen Analyse der Produkte erkannt werden, und wenn ja, was sind die Effekte dieser für das intellektuelle Feld? Die möglichst nachvollziehbar kategorienbasierte Behandlung dieser Frage enthält zwei Teilantworten. Der erste Teil zeigt die Homogenität der übersetzten Werke beziehungsweise deren Ausgangssprachen, -texte und Autoren. Der zweite Teil identifiziert heterogene Elemente ebendieser Kategorien, die schließlich zu einer Binnendifferenzierung beitragen können und erste Rückschlüsse auf eine Translationspolitik erlauben. Das erste Element, welches von allen bis auf einen Fall geteilt wird, ist die Geschlechtszugehörigkeit. Lediglich das Werk Evolution und Verhalten (1969) der US-amerikanischen Psychologin Ann Roe wurde von einer Frau verfasst. Diese Auswahl ist womöglich nicht weiter erstaunlich, da diese mehr oder we20 Siehe Felsch 2015. 21 Im Prospekt von 1972, welcher Publikationen von 1966 bis 1972 enthält, machen die Übersetzungen knapp 60% der Einträge aus. Da diese Berechnungen methodische Schwierigkeiten (zum Beispiel Doppelnennungen von Werken in unterschiedlichen Unterkategorien der „Theorie“-Reihe) mit sich bringen, wird hier nicht näher auf diese Kataloge eingegangen. Der Vergleich zeugt jedoch davon, dass die DNB-Daten in diesem Fall recht verlässlich sind. Für die Übersetzungen wurden umfassendere Kontrollen der ersten Publikationsjahre durchgeführt, und dort hat der Vergleich zwischen Suhrkamp-Programmkatalog und DNB-Datenbank eine komplette Übereinstimmung für „Theorie 1“ und „Theorie 2“ (das heißt für die Jahrgänge 1966–1970) ergeben.
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niger ein Spiegel der Geschlechterverhältnisse gemessen an Lehrstühlen und anderen machtverbundenen Positionen im wissenschaftlichen Feld in diesem Zeitraum ist. Es ist damit nicht weiter verwunderlich, dass Ann Roe 1963 zugleich die lediglich neunte Frau mit „tenure“ an der Universität Harvard wird und die erste überhaupt an der Pädagogischen Fakultät. In Hinsicht auf die Translationspolitik ist der Ausschluss von Frauen ein erster Indikator für eine Reproduktion des etablierten Kanons beziehungsweise für eine Orientierung hin zu institutionell und intellektuell etablierten Denkern. Selbst wenn der Logik der Reihe weitgehend gefolgt wird, fällt es leicht etliche Namen wie jene von Simone de Beauvoir, Alva Myrdal oder auch die übersetzen Werke Hannah Arendts anzuführen, um zu zeigen, dass hier durchaus Potential für eine breitere Einbindung von Autorinnen gewesen wäre. Es ist notwendig, hier noch einmal hervorzuheben, dass dies spezifisch für die „Theorie“-Reihe gilt.22 Tab. 1
Anzahl und Prozent (gerundet) übersetzter Titel nach Sprache in Theorie 1 und Theorie 2 (1966–1970)
Theorie 1 Englisch Französisch Griechisch Russisch Tschechisch Latein
6 3 2 2 0 0 13
46% 23% 15% 15% 0% 0% 99%
Theorie 2 18 2 0 0 1 0 21
86% 10% 0% 0% 5% 0% 100%
Summe 24 5 2 2 1 0 34
71% 15% 6% 6% 3% 0% 101%
Auch die zweite Kategorisierungsebene (Ausgangssprache) spiegelt die Reproduktion bestehender beziehungsweise im Aufschwung befindlicher Machtverhältnisse im intellektuellen Feld wider. Tabelle 1 enthält die Ausgangssprachen der übersetzten Werke, geordnet nach Reihenzugehörigkeit. „Theorie 1“ und „Theorie 2“ unterscheiden sich recht merklich voneinander. Zum einen wurden in „Theorie 2“ mehr Werke publiziert, was auch der allgemeinen Publikationshäufigkeit der Reihe entspricht. Zum anderen zeigt „Theorie 1“ ein – relativ 22 Von und über Arendt werden zum Beispiel ebenso Werke ab den 1970-ern publiziert wie von de Beauvoir, Sandra Harding oder Gayatri Spivak, die zumindest in Anthologien oder Sammelbänden vorkommen. Andere wichtige Persönlichkeiten, wie Julia Kristeva werden auch ab Ende der 80-er Jahre bei Suhrkamp publiziert. Judith Butler wurde schließlich in den 90-ern in der Reihe „Gender Studies“ herausgegeben. Neben einer Selektionsfrage ist das Vorfinden einzelner Autorinnen natürlich auch eine Frage der Übersetzungsrechte.
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gesehen – weniger konzentriertes Bild der Sprachherkunft der Ausgangstexte. Englisch ist in beiden Gruppen dominant, und die Kombination Englisch und Französisch macht selbst in „Theorie 1“ knapp 70% aller Übersetzungen aus. In „Theorie 2“ sind es sogar 96%. Die Orientierung hin zu diesen Sprachen, eingeschlossen der gelegentlichen Übertragung aus dem Lateinischen und Griechischen, gelten als klarer Indikator für eine Übersetzungspolitik, welche sich an „Machtzentren“ und nicht an „Peripherien“ orientiert.23 Es ist dies auch ein Indikator für die Bedeutung der Lingua Franca Englisch und der Nachwirkungen einer starken französischen Wissenschaftssprache beziehungsweise spezifischer der Verbindung der deutschen und französischen intellektuellen Felder.24 Die verbleibenden Werke sind einzelne Übersetzungen aus dem Russischen und Tschechischen. Die Sprachwahl und die Konzentration auf die Vermittlung „westlicher“ und hier insbesondere englischsprachiger und französischer Texte wird auch in anderen editorischen Projekten dieser Zeit vorgenommen, wie beispielweise in Luchterhands „Soziologische Texte“, erschienen zwischen 1959 und 1976, wo in etwa ein Viertel der Texte Übersetzungen aus dem Französischen und Englischen darstellen. Die dritte Variable ist das Alter der Ausgangstext-AutorInnen zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung der Übersetzung bei Suhrkamp. Diese Variable bietet einen hilfreichen Indikator für die Binnendifferenzierung der Translations- und Publikationspolitik in „Theorie 1“ und „Theorie 2“. Die fünfzehn Autoren der „Theorie 1“ sind alle vor Veröffentlichung der Übersetzung verstorben. Die Initiative und gegebenenfalls Kontrolle der Übersetzungen konnte also nicht mit deren Mitwissen vorgenommen werden und die Übersetzung nicht zur weiteren Etablierung der physischen Person in akademischen Institutionen beitragen. Eine intrinsische Erklärung findet sich in der explizierten Programmatik der Reihe beziehungsweise der Unterkategorie „Theorie 1“ (siehe unten). Die „Theorie 2“ bietet ein anderes Bild. Die zwei jüngsten Autoren sind bei Erscheinen der Übersetzung 33 Jahre alt und somit – für die G eisteswissenschaften – relativ am Beginn einer etwaigen 23 Heilbron differenziert Sprachen nach Zentralität in Bezug auf die Übersetzungshäufigkeit. Stark zentrale Sprachen werden bei ihm als solche verstanden, aus denen viel übersetzt wird. Im hier beispielhaft behandelten Fall sind die Sprachen Englisch und Französisch dem zentralen Spektrum zuzuordnen. Die anderen waren dies zum Teil in der Vergangenheit (siehe Heilbron 2000). 24 Allgemeiner zu deutsch-französischen Beziehungen siehe die Studie von Nies. Auch dort wird die Bedeutsamkeit des Transfers von etablierten Theorien und Denkern hervorgehoben. Das gilt sowohl für die Philosophie als auch für die Soziologie, wenngleich bei letzterer auch ein relativ hoher Anteil „aktueller“ Texte übersetzt wird. In der Geschichtswissenschaft nennen die AutorInnen vor allem ein Interesse an Literatur zum Mittelalter. Vgl. Nies 2002.
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akademisch-intellektuellen Karriere. Etwa die Hälfte der Autoren befinden sich im letzten Drittel der Berufslaufbahn. Einige sind dabei wohl bereits im Ruhestand – wobei dies in vielen Fällen keine intellektuelle Ruhe bedeutet. 59% der AutorInnen befinden sich in der Gruppe der 33–50-jährigen und somit irgendwo in der Mitte ihrer intellektuellen Laufbahn. Es kann die Hypothese aufgestellt werden, dass die Übersetzung zu Beginn oder zur Mitte einer Karrierelaufbahn auch auf dieselbe eine Auswirkung nehmen kann; bei Personen, die bereits am Ende der Karriereentwicklung sind, im Ruhestand oder gar bereits tot, ist dieser Umstand weniger ausschlaggebend. Nichtsdestotrotz können Übersetzungen die Bedeutung einzelner DenkerInnen, Konzepte und Theorien auch unabhängig der Motive und Ziele der AkteurInnen verändern. Übersetzung ist Element der Repositionierung (siehe Schögler 2019) intellektueller Äußerungen und AkteurInnen. Tab. 2
AutorInnen nach Alter bei Erscheinen der Übersetzung in Theorie 1 & Theorie 2 (1966–1970)
Theorie 1 TOT 71–80 61–70 51–60 41–50 33–40
15 0 0 0 0 0 15
100% 0% 0% 0% 0% 0% 100%
Theorie 2 1 0 4 4 7 6 22
5% 0% 18% 18% 32% 27% 100%
SUMME 16 0 4 4 7 6 37
43% 0% 11% 11% 19% 16% 100%
Neben kleineren Unterschieden in den Ausgangssprachen der übersetzten Texte und des Alters beziehungsweise „Lebens/nicht-Lebens“ der AutorInnen zwischen „Theorie 1“ und „Theorie 2“ lassen sich die Bände dieser zwei Reihen auch darin unterscheiden, dass die „Theorie 1“-Texte in den meisten Fällen als „herausgegebene“ Werke erscheinen und in allen Fällen eine übersetzungsspezifische Einleitung durch Fachvertreter angefügt wurde. In „Theorie 2“ passiert dies nur in wenigen Fällen. Die statistische Auswertung lässt eine Einschätzung der Translationspolitik auf formaler Ebene zu. Es ist dies – plakativ ausgedrückt – eine Übersetzungspolitik im Sinne des Etablierens des anderswo Etablierten. Die Texte stammen von männlichen, etablierten bis kanonisierten Autoren und aus Sprachen beziehungsweise Ländern mit entwickelten Wissenschafts- und Denktraditionen. Zugleich zeugt der große Anteil von Übersetzungen im Vergleich zur
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esamtproduktion davon, dass die Reihe für den deutschsprachigen Raum etG was Neues schaffen wollte und dafür nicht ausschließlich auf deutschsprachige Neuproduktionen zurückgreifen konnte. Morten Paul findet diese Strategie auch in Jacob Taubes Selbsteinschätzung und schreibt, „dass durch gezielte Veröffentlichungen englischsprachiger und französischer Titel überhaupt erst ein Markt zu erschaffen war“.25 Dieses „Neue“ setzt sich aus zwei Teilen zusammen: verstorbene, oftmals bereits kanonisierte Autoren und Texte, die in „Theorie 1“ herausgegeben werden und einen Interpretationsvorschlag beziehungsweise eine Kontextualisierung mitbringen, und „Theorie 2“, die eine offenere Translationspolitik erfährt, in der auch Werke publiziert werden, die in ihrem ausgangssprachlichen Kontext ebenso erst zu Beginn ihrer Rezeption stehen. Als Indikator hierfür kann auch die Zeit zwischen Ausgangstext- und Zieltextveröffentlichung dienen, welche bei den nachvollziehbaren Titeln von „Theorie 1“ bei über 30 Jahren liegt. Bei „Theorie 2“ ist das arithmetische Mittel (ebenso wie der Median) bei sieben Jahren, das Maximum bei 17 und das Minium bei drei Jahren. Letzteres tritt sogar in fünf Fällen ein. Die „Theorie 2“ liegt damit näher an allgemeineren Durchschnittswerten, die bisher (für aktuelle Zeiträume) erhoben wurden.26 Insgesamt zeigt die Translationspolitik der Reihe ein sehr homogenes Bild. Einzig zwei russische Texte in „Theorie 1“ und ein tschechischer Titel in „Theorie 2“ brechen die aufgebaute Logik der Reihe. 3 Ausreißer Bei den zwei Texten der „Theorie 1“ handelt es sich zum einen um eine Übersetzung eines Sammelwerkes von 1969, herausgegeben von Nikolai Bucharin (1888–1937) und Abram Deborin (1881–1963), mit Beiträgen von ebendiesen sowie Georg Lukács und Antonio Gramsci (Ü .: Christian Riechers) und Texten von M. Mitin und J. W. Stalin. Die Mehrheit der Texte werden übersetzt von Arnold Stamm und Wilhelm Goerdt. Goerdt ist Übersetzer und Philosoph. Relevanter ist jedoch die Eröffnung des Bandes durch die Einleitung von Oskar Negt. Bei Erscheinen des Bandes ist Negt 35 Jahre alt und Assistent beim Reihenmitherausgeber Jürgen Habermas. Kurz darauf (1970) wird Negt nach Hannover berufen. Die zwei Herausgeber des Bandes weisen persönliche 25 Paul 2012, S. 33. 26 Schild und Langer berechnen für den Transfer soziologischer und politikwissenschaftlicher Werke aus dem Französischen für den Zeitraum von 1994 bis 2000 Durchschnittswerte von in etwa sechs bis acht Jahren zwischen der Publikation von Ausgangstext und Zieltext. Siehe Schild/Langer 2002.
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Verbindungen mit dem Westen auf: Nikolai Bucharin exiliert sich in den 1910er Jahren Richtung Westen und studiert dort Philosophie und Soziologie, er lernt Stalin in Wien kennen, folgt diesem zunächst, richtet sich jedoch später gegen ihn. Bucharin bleibt über den gesamten Zeitverlauf seines Schaffens in Kontakt mit der westlichen Wissenschaftslandschaft. Deborin weist weniger offensichtliche Verknüpfungen zum Westen auf, schließt jedoch in Bern ein Doktorat ab, bevor er sich mit gewissem Erfolg im sowjetischen Wissenschaftssystem etabliert. Das zweite Werk, Die revolutionäre Rolle von Recht und Staat, von Petr Stučka (1969) wird eingeleitet und übersetzt von Norbert Reich. Der lettische Rechtstheoretiker Stučka (1856–1932) gilt als bedeutender Vertreter seines Faches und zugleich aktiver Mitgestalter der sowjetischen Rechtslandschaft. Stučka führte die Bolschewiki in Lettland und wurde auch (zwischenzeitlicher) Namensgeber der Universität Lettland. Mit Reich (1937–2015) wird der Text von einem späteren Experten in sozialistischer und marxistischer Rechtstheorie eingeleitet und übersetzt, der sich zum Zeitpunkt des Erscheinens der StučkaÜbersetzung mit einer Habilitation über Sowjet-Recht beschäftigt. Die theoretische Ausrichtung beider „Theorie 1“-Werke lässt sich dem Schwerpunkt Marxistische Theorie zurechnen. Dem Muster der übrigen „Theorie 1“-Übersetzungen folgend, bestehen die Bücher aus zwei Teilen: der Übersetzung des Ausgangstextes und einer Einleitung, die zugleich Interpretation und Vermittlungsinstanz darstellt. Um in den oben zitierten Worten von Lefevere und Bassnett zu sprechen, wird hier somit eine doppelte Form des Rewritings angeboten. Das fehlende Verbindungsglied zu Osteuropa wird auch in der „Theorie 2“ sichtbar, die lediglich eine Übersetzung aus dem Tschechischen aufweist. Mit Karel Kosíks Die Dialektik des Konkreten (1967), übersetzt von Marianne Hoffmann, wird das wohl bekannteste Werk Kosíks in Westdeutschland zum ersten Mal abgedruckt. Kosík ist selbst des Deutschen mächtig und kommuniziert persönlich mit dem Verlagslektor Karl Markus Michel. Michel ist jedoch nicht des Tschechischen mächtig, erlaubt sich dennoch, in die Übersetzung einzugreifen und Änderungsvorschläge zu machen. Die Sprachbarriere der Reihenherausgeber, aber auch des Lektors Karl Markus Michel, sind – neben der programmatischen Ausrichtung – ein bedeutender Faktor in der Auswahl und Ausgestaltung der Translationspolitik der Reihe. Sowohl die zwei russischen als auch das eine tschechische Werk weisen direkte Verbindungen zu Deutschland oder der deutschen Sprache auf. Das soziale Kapital der Autoren, Herausgeber und ÜbersetzerInnen ermöglicht erst das Zustandekommen dieser drei „Ausreißer“.
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Die programmatische Struktur und praktische Abläufe
Will man die Verlagspolitik in Ansätzen von innen verstehen, kann man dies auf unterschiedlicher Ebene versuchen. Die oben diskutierten Definitionen von „policy“ geben der Programmgestaltung und den geplanten Abläufen als eigenständige Untersuchungseinheit eine Berechtigung. Die Schlussfolgerungen daraus bilden jedoch nur einen kleinen Bestandteil einer umfassenderen Beschreibung der Programmatik. Die „Translationspolitik“ der „Theorie“-Reihe ist nämlich, neben der institutionalisierten Struktur, fest verankert in den habituellen Praktiken – das heißt den wiederkehrenden Abläufen des täglichen Geschäfts – der involvierten AkteurInnen. Strukturen schränken Handlungsspielräume ein und ermöglichen ebendiese beziehungsweise bevorzugen gewisse Handlungsweisen gegenüber anderen. Diese Strukturen können für die Herausgabe der „Theorie“-Reihe und somit für die Selektion der Translate, TranslatorInnen und Paratextgestalter(innen) anhand der Marbacher SUA- Bestände nachvollzogen werden. Die programmatische Ausrichtung der „Theorie 1“ und „Theorie 2“ wurde weiter oben bereits kurz erwähnt. Anhand der – vom Verlagslektor Michel sowie den Reihenherausgebern getexteten – Werbebroschüren kann das öffentlich kommunizierte Selbstverständnis der Reihe rekonstruiert werden: Theorie 1 bringt ältere philosophische Texte (von Parmemides bis Carnap) mit Einführungen von Philosophen unserer Zeit – alte Theorien, die aktuell sind (zum Beispiel Kant über Revolution und Widerstandsrecht) oder aktuell zu werden verdienen (zum Beispiel die Schriften von Ch. S. Peirce). Die erste Abteilung der Reihe ‚Theorie‘ stellt sich die Aufgabe, philosophische Traditionen zu vergegenwärtigen. Sie will nicht nur Lücken auf dem Buchmarkt und im Bücherschrank füllen, sondern auch Leerstellen im philosophischen Bewußtsein. Sie will sowohl vergessene, übergangene oder von herrschenden Lehrmeinungen an den Rand gedrängte Theorien ins Licht rücken wie bekannte und oft einseitig rezipierte Texte neu sehen lehren. Kritisches Denken der Vergangenheit, von heutigen Philosophen gedeutet, soll dazu beitragen, eine theoretische Basis zu schaffen für das Selbstverständnis unserer Zeit.27
Rewriting ist hier womöglich die programmatische Botschaft schlechthin, welche sich hinter der Selbstdarstellung verbirgt. Zusätzlich zur Neuinterpretation alter Texte – durch Einleitung und Übersetzung – soll die Summe der einzelnen Texte ein neues Verständnis von Theorie emergieren lassen, das sich an der interpretierten Vermittlung klassischer (oder übergangenen) Texte emporhievt. 27 Verzeichnis der Titel 1967/„Theorie“; eigene Hervorhebungen.
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Theorie 2 stellt neue theoretische Studien vor aus einem weit verstandenen Bereich der ‚Wissenschaft vom Menschen‘, zum Beispiel Paläoanthropologie, Psychoanalyse, Linguistik etc. Die zweite Abteilung der Reihe ‚Theorie‘ wird neuere wissenschaftliche Arbeiten aus verschiedenen Bereichen vorstellen: Arbeiten, die sich auf das Spezifische eines Sachgebiets einlassen und gleichwohl dessen Grenzen überschreiten in Richtung auf ein kritisches Bewußtsein der heutigen Welt, in welcher Philosophie als ‚reine‘ nicht mehr möglich ist. Ziel der Reihe ist es demnach, in einzelwissenschaftliche Probleme einzuführen und damit zugleich theoretische Positionen zu vermitteln, die nicht ‚von oben her‘, durch Spekulation oder Erlaß der Wirklichkeit aufgenötigt werden, sondern der Reflexion auf Sachfragen entspringen und wieder zu ihnen hinführen.28
Das Programm der „Theorie 2“ orientiert sich also an aktuellen wissenschaftlichen Entwicklungen und soll ein heterogenes Angebot schaffen. Vergleicht man diese zwei Kurztexte mit der oben dargestellten Kategorisierung der veröffentlichten Werke, lässt sich die Programmatik deutlich im Programm wiederfinden. Sowohl die paratextuelle Gestaltung der Werke, die temporale Einordnung als auch die Auswahl der Autoren widerspiegeln die von den Reihenherausgebern genannten Ziele. Nachdem Michel als Lektor feststeht (1964), finden die Konzeption und programmatische Gestaltung der „Theorie“-Reihe zwischen dem Verleger Siegfried Unseld, dem Lektor Michel und den Reihenherausgebern statt. Dies sieht auch eine Vereinbarung (1970) zwischen den Herausgebern und dem Verlag vor: die „Herausgeber sind für die Konzeption und für die Nennung von Einzeltiteln der Reihe verantwortlich“.29 Für diese Tätigkeit erhalten die Herausgeber Beraterverträge mit dem Verlag. Folgt man den Vereinbarungen, war zu diesem Zeitpunkt die Publikation von drei bis fünf Titeln pro Halbjahr geplant, die von mindestens zwei der Reihenherausgeber ihre Zustimmung hatten und von Siegfried Unseld bestätigt wurden. Geplant wurden Titel in den Kategorien „Theorie der Sprache, Theorie der Wissenschaften, Theorie der Politik, der Geschichte und der Gesellschaft; Theorie der Kunst und der Literatur; Theorie der Religion; Theoretische Anthropologie, theoretische Psychologie; theoretische Grundtexte“.30 Die Aufgabe der Herausgeber bestand also darin, neben der allgemeinen programmatischen Ausrichtung der Reihe, zukünftige Titel zu selektieren, zu präsentieren 28 Verzeichnis der Titel 1967/„Theorie“; eigene Hervorhebung. 29 Vereinbarung zwischen dem Suhrkamp Verlag, Herrn Siegfried Unseld, und Herrn Prof. Dr. Jürgen Habermas. In: SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonv./Habermas/Suhrkamp Verlag Frankfurt, Main Briefwechsel mit Habermas, Jürgen 1970; 2-Seiten; Kein Datum, nicht gezeichnet. 30 Ebd.
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Abb. 4.1
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Vereinbarung für Programmzusammenstellung (1970)
und zu sortieren. Die Archivunterlagen enthalten per Brief versendete Listen mit Vorschlägen von Namen und Titeln potentieller Werke, teils auch Zusammenfassungen et cetera, die vor allem an Karl Markus Michel und an Siegfried Unseld gesendet werden. Das Einholen einer „Zweitstimme“ scheint weniger über den Postweg als über persönliche Gespräche gelaufen zu sein. Es finden sich in den Korrespondenzen Hinweise auf Telefonate und Besprechungstermine. In beiden Fällen sind – aus den mir zugänglichen Materialien – die Abläufe nicht eindeutig nachvollziehbar. Das Zustandekommen der Vorschlagslisten hängt stark mit den Reisetätigkeiten der Reihenherausgeber zusammen. Henrich verbringt regelmäßig längere Perioden in den USA und nutzt die dortigen Kontakte für seine Vorschläge. Taubes bewegt sich zwischen Frankreich, Großbritannien und den USA, so orientieren sich seine Listen an diesen Sprach- und nationalstaatlichen Grenzen. Im Gegensatz dazu nennt Habermas weniger Vorschläge und hebt gerne auch deutschsprachige Texte sowie Dissertationen hervor. Der internationale Blick richtet sich aber wie jener der Kollegen nach Westen. Zu Blumenberg konnten kaum brauchbare Materialen gesichtet werden. Wichtig anzumerken ist hier, dass die Translationspolitik zwar von den Reihenherausgebern mitbestimmt und die Vorschlagslisten von diesen erstellt wurden, durch die große Menge an vorgeschlagenen Texten jedoch der Lektor das Programm maßgeblich bestimmen konnte.31 31 In einer kurzen persönlichen Korrespondenz mit Habermas warnt dieser davor, dem Reihenherausgebergremium zu viel Macht zuzusprechen und die Rolle des Lektors nicht zu unterschätzen. Diese Sicht lässt sich allein an der Menge an Korrespondenzen des
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In der weiteren Arbeit ist der Lektor Karl Markus Michel die zentrale Figur. Er hält Kontakt mit allen involvierten AkteurInnen im Verlag, ferner mit den Reihenherausgebern, Herausgebern einzelner Werke, ÜbersetzerInnen, AutorInnen und kommentierenden AutorInnen. Wie wohl andere Lektoren bei Suhrkamp auch greift er stark in die Texte ein, um diese nach seinem Ideal zu gestalten. Kemper meint für osteuropäische Bücher: „[es] musste nicht einfach ein deutsches Buch, sondern ein Suhrkamp-Produkt werden“.32 Es musste also vorbereitet werden für die Rezeption, wodurch insbesondere die Wahl derjenigen, die Einleitungen und Kommentare verfassen durften, bedeutsam wird sowie stilistische Anpassungen notwendig werden. Aus einer oberflächlichen Durchsicht von Briefen zwischen Michel und einigen ÜbersetzerInnen wird die interventionistische und konfliktuelle Art des Lektors deutlich. Neben sprachlichen Korrekturen sind es vor allem Diskussionen zu terminologischen Entscheidungen, die hier überhandnehmen und in denen Michel sich in einigen Fällen das letzte Wort erlaubt, indem eine neuerliche Korrektur aus Zeitgründen unmöglich gemacht wird. 5 Schlussbemerkungen Translation als Kernbestandteil der „Theorie“-Reihe lässt sich leicht am hohen Anteil von Übersetzungen ablesen, aber auch an den Selbstbeschreibungen der Programme und schließlich am Zustandekommen von Vorschlagslisten, basierend auf Reise- und Vortragstätigkeiten der Reihenherausgeber. Die Translationspolitik der „Theorie“-Reihe hat jedoch mehrere Gesichter. Die Analyse der Produkte bringt die Zweiteilung des Programms in „Etablieren des bereits Etablierten“ und „Einführen [des] anderenorts positiv Rezipierten“. Die Reihe ist dabei weitestgehend eine konservierende Kraft, indem sie sich auf etablierte Wissenschaftssprachen verlässt und AutorInnen aufnimmt, die sich im Ausgangsfeld bereits einigermaßen etablieren konnten. Fügt man dem die Selbstdarstellung, das heißt programmatische Äußerungen hinzu, wird das „Etablieren des Etablierten“ als kritisches Rewriting dargestellt. Das Alte soll neu erklärt und dargestellt, eingeführt und neu gelesen werden. In der „Theorie 2“ werden die neuen theoretischen Sichtweisen als neu für das L ektors mit allen anderen Akteuren leicht unterstützen. Das zustande gebrachte Programm ist weitestgehend Resultat von Verhandlungen zwischen den Verantwortlichen und – im Fall der Übersetzungen – einer Verfügbarkeit von Rechten und (geeignet erscheinenden) Personen für die übersetzerische Tätigkeit. 32 Einleitung Kemper in diesem Band.
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Zielfeld dargestellt. Insofern legitimiert sich die im Grunde konservierende Translationspolitik durch den Drang nach Veränderung und Einführung neuer Ideen. Die rudimentäre Analyse der Selektionsabläufe im Herausgebergremium und die umrisshafte Darstellung der involvierten Verantwortlichen ergänzt das Bild. Die Programmatik und im Anschluss die Selektion der Werke hängt am sozialen und kulturellen Kapital der Akteure. Die Kommunikationsstrukturen – zwischen Herausgebergremium und Lektor, Lektor und Autoren et cetera – fördern die Orientierung nach „Westen“, wenngleich sie diese nicht bedingen. Das Fehlen eines Osteuropafokus kann, womöglich in einer etwas zirkulären Begründung, in der programmatischen Gestaltung der Reihe gesucht werden. Bereits die Ausrichtung der Reihe orientiert sich explizit an US- amerikanischen und französischen Denktraditionen. Diese Orientierung kann natürlich ebenso als Ergebnis oder Konsequenz einer programmatischen Gestaltung der Reihe gesehen werden. Die zweite Erklärungsebene betrachtet das kulturelle und soziale Kapital der „steuernden“ Akteure. Beides ist weitgehend auf die USA, Frankreich und andere Teile der „westlichen“ Welt ausgerichtet. Dies widerspiegelt auch die „Black Box“-Interpretation, die sich primär auf die sprachliche Herkunft der Ausgangstexte von übersetzten Werken in der „Theorie“-Reihe bezieht. In abstrakter Form lässt sich der Translationspolitik in der „Theorie“-Reihe ein programmatischer Charakter zuschreiben, der dominiert wird durch „Normalität“. Die Analyse der herausgegebenen Titel sowie die rudimentäre Auseinandersetzung mit einem Teil des Archivmaterials im SUA-Bestand deuten darauf hin, dass Übersetzung ein „normaler“ Bestandteil der Reihe ist, der in keiner Weise in Frage gestellt wird. Literatur Baert, P. (2012): Positioning Theory and Intellectual Interventions. In: Journal for the Theory of Social Behaviour 42.3, S. 304–324. Bassnett, S.; Lefevere, A. (1998): Constructing cultures: Essays on literary translation. Clevedon. Bürger, J. (2012): Die Stunde der Theorie. In: Zeitschrift für Ideengeschichte 6.4, S. 5–10. Chesterman, A. (1993): From ‘Is’ to ‘Ought’: Laws, Norms and Strategies in Translation Studies. In: Target 5.1, S. 1–20. Felsch, P. (2015): Der lange Sommer der Theorie. München. http://d-nb.info/ 1060410680/04.
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Zbigniew Herbert und Siegfried Unseld Die Autor-Verleger-Beziehung als Faktor des Literaturtransfers
Die verlagsinternen Hintergründe der deutschen Übertragungen von Zbigniew Herberts Werken sind in der Forschung bisher kaum berücksichtigt worden. In wenigen Aufsätzen wird zwar die Rezeption des Œuvres im deutschsprachigen Raum analysiert,1 die seine Stellung im bundesdeutschen verlegerischen Feld dokumentierenden Archivalien wurden jedoch nicht herangezogen. Im Folgenden wird ein Versuch unternommen, diese beachtenswerte historiografische sowie methodologische Lücke anhand der Dokumente aus dem Siegfried Unseld Archiv zu schließen. 1 In der BRD debütierte Herbert im Jahre 1959, kurz nach seiner polnischen Erstpublikation (1956), in der von Karl Dedecius im Münchner Hanser-Verlag herausgebrachten Anthologie Lektion der Stille, mit der man neue Akzente in den deutsch-polnischen Kultur- und Literaturbeziehungen zu setzten beabsichtigte.2 Ende der 1950-er Jahre wurden in beiden deutschen Staaten auch Herberts Hörspiele bekannt: Heinrich Kunstmann übertrug 1959 Das andere Zimmer (Drugi pokój) für den NDR, 1960 Die Höhle der Philosophen (Jaskinia filozofów) für Radio Bremen (Koproduktion mit der West-Berliner Rundfunkanstalt RIAS) sowie 1962 Rekonstruktion eines Dichters (Rekonstrukcja poety) und 1964 Die kleine Stadt (Lalka) für den Kölner Westdeutschen Rundfunk.3 Das andere Zimmer wurde ebenfalls 1959 in der DDR in der Übersetzung von Caesar Rymanowicz ausgestrahlt. Der echte Durchbruch auf dem bundesdeutschen Markt kam für Herbert aber vor allem mit zwei Veröffentlichungen des
1 Vgl. Rosinek 1995; Stanaszek www; Zielińska 2005; Zarychta 2010. Dieser Beitrag wurde durch das Polnische Nationale Forschungszentrum (NCN, OPUS 2014/13/B/HS2/00479) sowie die Alexander von Humboldt-Stiftung gefördert. 2 Vgl. Zybura 2009; Zielińska 2010. 3 Vgl. Fischer/Steltner 2011, S. 193.
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Suhrkamp Verlags: mit den Gedichten (1964) und dem Essayband Ein Barbar in einem Garten (1965). Den konkreten Anlass für den vorliegenden Beitrag liefert der Briefwechsel zwischen Zbigniew Herbert und dem Suhrkamp Verlag, der als Teil der im Siegfried Unseld Archiv (SUA) bewahrten Polonica aus mindestens zwei Gründen als beachtenswert gelten darf. Rein quantitativ gemessen, gehören diese bisher wenig erforschten und nicht veröffentlichten Archivalien zu den umfangreichsten Korrespondenzbeständen des polnischen Schriftstellers; sie überspannen einen mehr als dreißigjährigen Beobachtungszeitraum (1964– 1998). Darüber hinaus ist ihre Überlieferungslage sehr günstig: Vorhanden sind nicht nur Briefe des Verlegers und des Autors, sondern auch die von Übersetzern, Lektoren, Agenten, Gutachtern und Vertretern der kulturpolitischen Mittlerinstanzen. Der Beitrag verfolgt ein doppeltes Ziel. Erstens wird eine historiografische Erfassung der Publikationsgeschichte von Herberts Werken im deutschsprachigen Raum angestrebt. Dabei geht es primär nicht um eine biografische Engführung auf den Einzelfall Herberts; die Aufmerksamkeit gilt vielmehr den Transfermechanismen für die polnische Literatur in den westdeutschen Markt. Zweitens sollen in der dialogischen Struktur des Briefwechsels die soziale und die psychologische Dynamik der Autor-Verleger-Beziehung sichtbar gemacht werden. Die unterschiedlichen Interessenfelder, die Herbert und Unseld als Akteure in ihren verschiedenen Rollen aneinander binden, lassen ein Beziehungssystem entstehen, das sich immer wieder auf dem messerscharfen Grat zwischen professioneller Vermarktung und Vernetzung und tief empfundener persönlicher Freundschaft bewegt. 2 Als Siegfried Unseld 1963 an Herbert herantrat, hatte der Verlag im Bereich1 der polnischen Literatur einen erheblichen Nachholbedarf. Peter Suhrkamp hat, den späteren Erinnerungen von Karl Dedecius zufolge, die Chancen „slawischer Literaturen“ in der bundesdeutschen Nachkriegslandschaft unterschätzt und diese Verlagssparte weitgehend vernachlässigt.4 Herbert hingegen war für Unseld zweifelsohne eine herausragende Stimme polnischer Dichtung, 4 Karl Dedecius an Siegfried Unseld, 1.01.1975. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Allgemeine Korrespondenz/Dedecius, Karl. Der Suhrkamp Verlag debütierte im Bereich polnischer Literatur 1962 mit dem Roman von Zofia Romanowiczowa Der Zug durchs Rote Meer. Zur gleichen Zeit erreichten andere bundesdeutsche Verlage teilweise schon beachtliche Resonanz mit polnischen Titeln.
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zugleich aber auch Träger und Vermittler von symbolischem Kapital, mit dem der Verleger seinen Verlag zu positionieren versuchte. Herberts Wege zum Suhrkamp Verlag waren vielspurig. Ihre Rekonstruktion macht zugleich eine Vielzahl von Akteuren sichtbar, die im damaligen polnisch-deutschen Literaturtransfer engagierten waren. Im April 1961 arbeitete der Suhrkamp-Lektor Walter Böhlich an einem Spectaculum-Band, in dem die moderne Dramaturgie präsentiert werden sollte. Da er vor allem nach politisch brisanten Werken Ausschau hielt, bat er Heinrich Kunstmann um die Übertragung des Theaterstücks Die Polizei von Sławomir Mrożek.5 Postwendend verwies der Münchner Slawist auf positive Pressebesprechungen des Hörspiels Die Höhle der Philosophen von Herbert und fügte seinem Brief den deutschen Text samt einigen Rezensionen bei. Herberts Name taucht in der Korrespondenz im Dezember 1962 wieder auf; in einer von Böhlich edierten Hörspiel-Anthologie sollte nämlich auch „das nie verlorene Polen vertreten“ sein.6 Im März 1963 schlug Kunstmann eine Herausgabe des Essaybands Ein Barbar in einem Garten vor und bat, diesbezüglich Kontakt mit der Stuttgarter Autorenagentur „Geisenheyner & Crone“ aufzunehmen, mit der Suhrkamp in den Jahren 1960–74 im Bereich osteuropäischer Literatur zusammenarbeitete; die Agentur vermittelte zwischen der staatlichen Warschauer „Agencja Autorska“, den polnischen Schriftstellern und bundesdeutschen Verlagen. Geisenheyner reservierte eine Option für das Buch, das, wie er meldete, „in Polen seit ihrem Erscheinen ein Bestseller ist“.7 Um die Beurteilung des polnischsprachigen Textes zu erleichtern, fügte Geisenheyner drei bereits von Walter Tiel aus „persönlicher Begeisterung für das Buch“8 übersetzte Kapitel bei. Eine Woche später versetzte Geisenheyner das Lektorat in den Alarmzustand: Er habe einen irritierenden Brief vom Autor bekommen, in dem er von einem Vertrag mit einem anderen Verlag schriebe.9 Das Warnzeichen war aber voreilig. Herbert erteilte seine Vollmacht nicht an einen Verlag, sondern an Karl Dedecius, mit dem Suhrkamp seit 1958 in engem Kontakt stand. „Wie immer die Rechtslage nun sein mag“, meldete Karl Markus Michel zurück, „der Barbar sitzt zunächst einmal im Suhrkamp-Garten.“10 5 Walter Böhlich an Heinrich Kunstmann, 11.04.1961. In: DLA, SUA: Suhrkamp/03Lektorate. 6 Walter Böhlich an Heinrich Kunstmann, 14.12.1962. In: DLA, SUA: Suhrkamp/03Lektorate. 7 Ernst W. Geisenheyner an Karl Markus Michel, 11.9.1963. In: DLA, SUA: Suhrkamp/ 03Lektorate. 8 Ebenda. 9 Ernst W. Geisenheyner an Karl Markus Michel, 18.9.1963. In: DLA, SUA: Suhrkamp/ 03Lektorate. 10 Karl Markus Michel an Ernst W. Geisenheyner, 10.10.1963. In: DLA, SUA: Suhrkamp/ 03Lektorate.
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3 Im September 1963 schloss Karl Dedecius mit Suhrkamp einen Kontrakt über die Übertragung ausgewählter Gedichte von Herbert;11 ein Jahr später erschien das Buch in der „edition suhrkamp“. Der Band gab den Suhrkamp-Lektoren Anlass, den Dichter nach Frankfurt einzuladen. Am 28. Oktober 1964 kam es zum ersten Treffen zwischen Zbigniew Herbert und Siegfried Unseld.12 Obwohl Unseld in einem 1966 von Herbert an Czesław Miłosz gerichteten Brief als „Verkörperung der schlimmsten Eigenschaften einer Junker-Mentalität“13 mit Kriegsmarine-Vergangenheit ausgemalt wurde, ist das autobiografische Gedächtnis des Dichters mit der Zeit milder geworden. Er notierte zum 60. Geburtstag des Verlegers: Wie ich glaubte, müssen Menschen, die zum Lesen fremder Manuskripte und zur zwangsläufigen Beschäftigung mit den geistigen Abenteuern und Beschwernissen fremder Personen verurteilt sind, am Ende eine Atrophie ihres persönlichen Lebens erleiden. Statt dessen war Siegfried Unseld völlig normal, mit Gefühl für Humor ausgestattet und umgänglich, denn er verstand – oder täuschte großartig vor, daß er verstand –, was ich zu ihm in meinem entsetzlichen Deutsch sagte. Groß, muskulös, offensichtlich mit seiner physischen Hülle zufrieden, machte er den Eindruck eines Wettkämpfers, der gerade den Leistungssport aufgegeben hat und sich mit der Theorie des alpinen Skilaufs beschäftigt oder eine wichtige Mannschaft der Bundesliga trainiert.14
Herbert wurde von Anfang an nicht nur ein wichtiger Autor, sondern auch ein bedeutender Literaturvermittler. 1965 übernahm er die Auswahl satirischer Werke von Konstanty Ildefons Gałczyński, die drei Jahre später als Die grüne Gans. Das kleinste Theater der Welt in der Übertragung von Dedecius erschienen;15 mehrmals setzte er sich für eine Suhrkamp-Ausgabe von Werken polnischer Autoren, unter anderem für Essays von Jan Józef Szczepański.16 Zugleich trat er als Übersetzer und Förderer fremdsprachiger Literatur auf. 1968 begutachtete er für Unseld Die Glasglocke von Silvia Plath und verfasste Werbetex11 Helene Ritzerfeld an Karl Dedecius, 24.9.1963, 28.9.1963. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/ Allgemeine Korrespondenz/Dedecius, Karl. 12 Günther Busch an Zbigniew Herbert, 2.6.1964, 28.9.1964; Verlagsnotiz von Günther Busch an die Buchhaltung, 27.10.1964. In: DLA, SUA: Suhrkamp/03Lektorate. 13 Toruńczyk 2006, S. 61. 14 Herbert 1984, S. 60. 15 Siegfried Unseld an Zbigniew Herbert, 2.6.1965, 9.7.1965. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/ Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew. 16 Werner Berthel an Siegfried Unseld, 22.3.1979. In: DLA, SUA: Suhrkamp/03Lektorate/ Bibliothek Suhrkamp.
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te für das Buch;17 1978 übertrug Herbert im Unselds Auftrag Triptychon von Max Frisch ins Polnische, jene „Drei Szenische Bilder“, die 1980 im Warschauer „Teatr Współczesny“ in der Regie von Erwin Axer aufgeführt worden sind.18 4 Interessanterweise wurde Herberts zweiter Besuch in der Bundesrepublik nicht vom Suhrkamp, sondern vom Besucherdienst Inter Nationes initiiert. Diese 1952 in Bonn gegründete und sowohl dem Presse- als auch dem Auswärtigen Amt zugeordnete Institution hatte offiziell die Aufgabe, „die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Ausland im Sinne friedlicher Zusammenarbeit zu vertiefen.“19 De facto fungierte aber Inter Nationes unter anderem als eine offiziöse Hilfsstelle des Auswärtigen Amts für den Ausbau kultureller Kontakte mit Osteuropa. Dieses Faktum bedarf einer methodologischen Bemerkung. Die auswärtige Kulturpolitik zählt mittlerweile zu anerkannten Faktoren in der soziologischen Erforschung des transnationalen literarischen Feldes.20 Zahlreiche Forschungsdesiderate, die in diesem Zusammenhang offen sind, werden in die Forschungspraxis jedoch nur selben angegangen. Dies trifft in besonderer Weise für die historiografische Erfassung des polnisch-deutschen Literaturtransfers zu. In den wenigen Beiträgen, die sich mit der Gesamtheit der kulturellen Beziehungen zwischen Polen und der Bundesrepublik beschäftigen, sowie in Arbeiten, die sich unter politologischem Aspekt mit der bundesdeutschen auswärtigen Kulturpolitik in Bezug auf Osteuropa befassen,21 wird ihre unterstützende beziehungsweise lenkende Rolle zwar verzeichnet, in der kulturhistorischen Geschichtsschreibung von Prozessen des Kultur- und spezifischer des literarischen Transfers in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird sie aber noch immer weitgehend ausgeblendet oder übergangen. So schrieb Hedwig Nosbers in ihrer buchwissenschaftlichen Studie den im politischen Auftrag agierenden bundesdeutschen Institutionen eine unwesentliche Bedeutung bei der Verbreitung der
17 Siegfried Unseld an Zbigniew Herbert, 24.4.1968. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew. 18 Siegfried Unseld an Zbigniew Herbert, 22.6.1978. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew. 19 Köstlin 1988, S. 68. 20 Vgl. Heinrichs 2006, S. 35–41; Fischer 2010, S. 56. 21 Cholewiak/Suchocki 1979; Nasarski 1979; Barbian/Zybura 1999; Plum 1984; Jaśkiewicz 1973, Mądry 1979; Wróblewski 1970; Suchocki/Jaśkiewicz 1974.
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polnischen Literatur im deutschsprachigen Raum zu.22 Darüber hinaus wird die Unterzeichnung des „Vertrags über die Grundlagen der Normalisierung der gegenseitigen Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Volksrepublik Polen“ selbstverständlich zu einer Zäsur in der auswärtigen Kulturpolitik erklärt. Als Konsens gilt die folgende Feststellung: „Bis 1970 mussten die Kulturbeziehungen fast ausschließlich auf inoffizieller […] Ebene laufen – gewissermaßen gegen die Politik, wenn auch nicht ohne deren stillschweigende Billigung“.23 Ein offensichtliches Problem der angeführten Veröffentlichungen besteht darin, dass sie kaum oder gar nicht die archivalischen Quellen heranziehen, die mit historiografischer Erfassung des literarischen Transfers auf den ersten Blick wenig zu tun haben, bei genauerer Betrachtung jedoch eine entscheidende Bedeutung haben können. Da die Bestände des Politischen Archivs des Auswärtigen Amts nicht gerade zu den gängigen Ressourcen für kulturgeschichtliches Quellenmaterial zählen (während die dort forschenden Politikhistoriker andere Schwerpunkte haben), hat sich die Rolle der bundesdeutschen auswärtigen Kulturpolitik im deutsch-polnischen Kulturtransfer der Aufmerksamkeit der Literaturhistoriker bisher weitgehend entzogen. Akten der Kulturabteilung des Auswärtigen Amts, vor allem Berichte der Handelsvertretung der BRD in Warschau, Korrespondenzen mit privaten Kulturvermittlern, Verlagen und im Auftrag des Auswärtigen Amts agierenden Institutionen (wie Inter Nationes, Börsenverein des Deutschen Buchhandels, Martin-Behaim-Gesellschaft), Jahresberichte der entsprechenden Mittlerinstanzen sowie interne Aktennotizen, Aktenvermerke und Aufzeichnung vermitteln ein ganz anders Bild des bundesdeutsch-osteuropäischen Kulturaustausches in den 1960-er Jahren als die gängige Überlieferung des heutigen Forschungsstands. Die aktive Rolle des Auswärtigen Amts im heteronomen Rahmen des damaligen Literaturtransfers belegen unter anderem Aktivitäten des seit 1958 bestehenden Besucherdienstes von Inter Nationes. Bei den Besuchern handelte es sich „in erster Linie um Angehörige journalistischer und publizistischer Berufe sowie um politisch und kulturell wichtige Persönlichkeiten“.24 Seit 1965 stieg im Rahmen des „Ausbaus der Arbeit in den Ostblockstaaten“ die Anzahl von Besuchern aus der Tschechoslowakei, Polen und Ungarn: 1965 waren es
22 Vgl. Nosbers 1999, S. 281. 23 Lawaty 1987, S. 180 f. 24 Inter Nationes: Besucherdienst 1958–1967, 26.01.1968. In: Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (weiter als: PA AA), B90/913. Für den Zeitraum von 1960 bis 1967 teilten sich demzufolge die 8562 Besucher in folgende Berufsgruppen auf: 51 % Journalisten, Verleger, Schriftsteller, 22 % Politiker, 14 % Akademiker, 13 % Sonstige.
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128, ein Jahr danach 320.25 „Einige sehr positive Berichte von Besuchern aus Ostblockstaaten“, bemerkte man im Protokoll der Sitzung des Verwaltungsrates, „haben entscheidend zur Korrektur des Deutschlandbildes beigetragen“.26 Die Besucher wurden betreut „durch sprachkundige junge Damen und Herren“;27 für den richtigen Ablauf des Besuchs galten detaillierte Richtlinien. Nach Abschluss der Reise hatte der Begleiter einen Bericht über den von ihm betreuten Gast abzugeben, der eine Charakteristik des Gastes, dessen Einstellung zur BRD sowie seine Stellungnahme zur politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Situation beinhaltete. Vor zu viel Publicity für den Besucherdienst hat das Auswärtige Amt ausdrücklich gewarnt: „Die beste Propaganda für die Bundesrepublik ist es, nicht propagandistisch tätig zu sein“.28 Da eine offizielle Einladung einerseits gegen die Hallstein-Doktrin verstoßen, andererseits für den betroffenen Gast Schwierigkeiten bei der Beschaffung des Reisepasses bereitet hätte, beschloss man, verdeckt zu arbeiten. Diese Einladungen wurden meist nicht unmittelbar, sondern über Dritte ausgesprochen. Ein deutscher Gelehrter, Literat, Künstler oder Verleger werde gebeten, Kollegen oder befreundete Persönlichkeiten aus dem Osten einzuladen. Inter Nationes übernehme dann nur die Kosten, helfe auch durch Vorschläge bei der Zusammenstellung des Reiseprogramms.29
So wurde der Suhrkamp Verlag im Januar 1966 um eine Einladung für Zbigniew Herbert angefragt. Walter Boehlich wurde gebeten, die Finanzierungsquelle für die Reise und den Aufenthalt des Dichters geheim zu halten.30 Inter Nationes stellte dem Suhrkamp Verlag die Mithilfe seiner Büros in München, Stuttgart, Frankfurt, Bonn und Hamburg zur Verfügung. In der nächsten Zeit wurden auf diesem Wege auch andere polnische Suhrkamp-Autoren eingeladen, darunter Wiesław Brudziński, Kazimierz Brandys, Marek Nowakowski und Julian Stryjkowski. Mit Ausnahme Stryjkowskis wurde die Auswahl von Mitarbeitern von Inter Nationes getroffen, die Einladung sollte jedoch „strikt als Initiative des Verlags erscheinen“.31 Scharfe Auswahlkriterien lassen sich 25 Inter Nationes: Niederschrift über die Sitzung des Verwaltungsrates und der Mitglieder, 23.02.1967. In: PA AA, R90/913. 26 Inter Nationes: Protokoll der Sitzung des Verwaltungsrates und der Mitglieder, 19.01.1966. In: PA AA, B90/887. 27 Inter Nationes: Besucherdienst 1958–1967, 26.01.1968. In: PA AA, B90/913. 28 Inter Nationes: Protokoll der Sitzung des Verwaltungsrates und der Mitglieder, 20.06.1967. In: PA AA, B90/913. 29 Inter Nationes: Protokoll der Sitzung des Verwaltungsrates und der Mitglieder, 10.05.1966. In: PA AA. B90/887. 30 Götz Fehr an Walter Boehlich, 15.07.1967. In: DLA, SUA: Suhrkamp/03Lektorate/Inter Nationes e.V. 31 Fehr an Walter Boehlich, 18.09.1967, ebenda.
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aus der vorhandenen Korrespondenz nicht destillieren. Argumentiert wurde jedoch mit dem hohen Stellenwert der jeweiligen Künstler im literarischen Feld des Herkunftslandes sowie ihrem „Einfluss auf die jüngere Generation“.32 Deutlich bevorzugt wurden zudem Autoren, die noch nie in der Bundesrepublik gewesen waren und eine solche Reise nicht selbständig zu finanzieren vermochten. So wurde zum Beispiel ein tschechischer Dichter, bildender Künstler und politischer Aktivist, Jiří Kolář, von der Finanzierungsliste entfernt, da er „bereits in der Bundesrepublik ausgestellt und hier gewesen“ sei und „durchaus über Devisenmittel“ verfüge.33 Die Beziehung des Suhrkamp Verlags zur auswärtigen Kulturpolitik war nicht nur auf den Besucherdienst von Inter Nationes beschränkt. Unseld bekam mehrmals Einladungen nach Bonn zum „Erfahrungsaustausch über die kulturellen Beziehungen zu den Staaten Osteuropas“, bei welchen die Beteiligung des Auswärtigen Amts am deutsch-polnischen Literaturtransfer erörtert wurde. Neben den Studienreisen polnischer Autoren in die BRD und bundesdeutscher nach Polen handelte es sich um den Austausch der Verlagslektoren, um das Förderungsprogramm für Export deutscher Bücher sowie um die Teilfinanzierung der Teilnahme deutscher Verleger an der Warschauer Buchmesse.34 Akten des Politischen Archivs geben darüber hinaus neue Erkenntnisse über den heteronomen Charakter vieler kultureller Projekte, die in der Historiographie als autonome Eigeninitiative privater Personen galten (so wurden zum Beispiel die von Hermann Buddensieg 1956–1974 herausgegebene Zeitschrift „Mickiewicz-Blätter“ und seine Übertragung des polnischen Nationalepos Pan Tadeusz fast ausschließlich durch das Auswärtige Amt finanziert).35 Die These Andreas Lawatys, es habe vor 1970 zwar deutsch-polnische Kulturbeziehungen gegeben, aber keine kulturelle Außenpolitik, trifft nur unter der Voraussetzung zu, dass auswärtige Kulturpolitik ausschließlich in verbindlichen Zielentscheidungen der Staatsorgane, zwischenstaatlich vereinbarten Kulturabkommen, multilateralen Verträgen oder aktiver Mitgliedschaft in internationalen Organisationen zur kulturellen Zusammenarbeit ihren Ausdruck finde. Aus den Archivalien wird jedoch ersichtlich, dass das AA in der Zeit zwischen 1960 und 1970 durch interne und internationale Regelungen Rahmenbedingungen und Orientierungspunkte für den immer reger werdenden gegenseitigen bundesdeutsch-polnischen Kultur- und Literaturtransfer schuf und festlegte. 32 Peter Urban an Fehr, 31.01.1968, ebenda. 33 Fehr an Urban, 25.03.1968, ebenda. 34 Urban, Peter: Zur Intensivierung des Kulturaustauschs mit den sozialistischen Ländern, 09.11.1967. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Reiseberichte. 35 PA AA, Zwischenarchiv 109664.
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5 Zurück zu Zbigniew Herbert. Nur vier Jahre nach der Unterzeichnung des Vertrags und drei deutschen Übertragungen gehörte Herbert zum engsten Kreis der Suhrkamp-Autoren. Aus dem feierlichen Anlass des 70. Geburtstages Bertold Brechts trat er neben Max Frisch und Martin Walser auf. In der Korrespondenz mit Unseld werden in der Zeit allgemeine Höflichkeitsformen durch Freundschaftsbekundungen ersetzt. Interessanter für die Forschung ist aber die Frage, warum zwischen dem deutschsprachigen und dem polnischen Herbert weitgehende Differenzen bestehen. Die SUA-Archivalien ermöglichen eine haargenaue Rekonstruktion dieses literarischen Transfers. So findet man zum Beispiel in dem Briefwechsel zwischen Günther Busch und dem Übersetzer Walter Tiel Überlegungen über die Zusammenstellung des 1970 veröffentlichten Essaybandes Ein Barbar in einem Garten 2. Anders als der Titel suggerierte, handelte es sich hier nicht um die Ergänzung des ersten deutschsprachigen Barbar aufgrund des 1962 herausgegebenen polnischen Originals, sondern um eine Eigeninitiative des Verlagslektors und des Übersetzers.36 Dies gilt auch für andere Ausgaben der Barbar-Essays von 1977 und 1996. Eine dem Original entsprechende Fassung erschien erst im Jahre 1997. Andere deutsche Herbert-Bücher wurden von Unseld selbst entworfen wie zum Beispiel Im Vaterland der Mythen: Griechisches Tagebuch. Der Verleger trat hier in Wahrnehmung seiner Beraterfunktion in Erscheinung und machte die Marktchancen bestimmter Gattungen zum entscheidenden Argument.37 Auch der berühmte Herr Cogito bleibt keine uninteressante Fallstudie des polnisch- deutschen Literaturtransfers. Das SUA-Material gibt definitive Auskunft darüber, dass gerade der deutsche Cogito mit seinen 50 Gedichten als die ursprüngliche Fassung des Dichters gelten sollte und die polnische als eigenwilliger Eingriff eines anonymen Zensors. Aus der polnischen Ausgabe wurden 10 Gedichte herausgestrichen und an deren Stelle fünf andere, bereits publizierte Gedichte hinzugefügt. Dedecius schrieb an Unseld: „Unsere Ausgabe wird auch für die polnischen Kritiker und Leser pikant – man könnte ihr ablesen, was der Warschauer Zensor für unerwünscht hält und könnte das Unerwünschte wenigstens auf deutschem Umweg zu Gesichte bekommen.“38 Die durchdachte 36 Günther Busch an Walter Tiel, 14.8.1964; Walter Tiel an Günther Busch, 16.8.1964, 21.8.1964. In: DLA, SUA: Suhrkamp/03Lektorate. 37 Siegfried Unseld: Auszug aus Reisebericht Paris – Berlin, 11.-13. Mai 1970. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute, Herbert, Zbigniew. 38 Karl Dedecius an Siegfried Unseld, 10.4.1974. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Allgemeine Korrespondenz/Dedecius, Karl.
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Marketingstrategie des Suhrkamp Verlages, das heißt die „Umorganisation“ des in seinem Umfang bescheidenen Werks von Herbert, lieferte keine schlechten Verkaufszahlen. Dennoch fanden nicht alle Vorschläge des Verlegers die Zustimmung des Autors. Zweimal verweigerte er die schon geplante und fast realisierte Herausgabe der „Gesammelten Werke“.39 Dies mag einigermaßen verwundern. Die Ausgabe sämtlicher Werke, jene besondere Form der Akkumulation des symbolischen Kapitals, gehört bekanntlich spätestens seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert zu den wichtigsten Programmstrategien der Literaturverleger; auch für den Schriftsteller bracht eine Gesamtausgabe zu Lebzeiten enorme Distinktionsgewinne mit sich. Dass Herbert einen solchen Adelsbrief ablehnte, hing einerseits mit seinem seit 1979 immer wieder eskalierenden Konflikt mit Karl Dedecius (der die Wahl anderer Übersetzer, unter anderem Oskar Tauschinski, Henryk Bereska, sowie Übertragungen von Herberts Poesie durch Klaus Staemmler zur Folge hatte), andererseits hatten seine Bedenken einen poetologischen Charakter. Er schrieb an Unseld: Das Konzept eines „dicken“ Bandes meiner Gedichte gefällt mir nicht, und zwar aus ästhetischen Gründen. Es ist schwer mit Dir in dieser Angelegenheit zu diskutieren, denn ich weiß, dass nur „dicke“ Frauen dich anziehen. Aber verstehe mich, bitte: für einen Autor, der selten und nicht viel publiziert, ist ein dicker Band überhaupt und ein dicker Gedichtband im Besonderen ein Horror. Und was soll überhaupt dieses Konzept „Gesammelte Gedichte“? Warum stößt Du mich schon ins Grab? Ich kann Dir versichern, dass meine beiden Nieren noch normal funktionieren.40
Das lyrische Gesamtwerk von Herbert erschien erstmals in der deutschen Übertragung im November 2016. 6 Der Briefwechsel zwischen Unseld und Herbert belegt auch, wie ausgeprägt die ökonomische Motivation bei einem Autor war, bei dem die Außendarstellung ein gänzlich anderes Bild ergab. Herbert stellte sich dem Verleger gegenüber als renditeträchtige Werteanlage dar und appellierte regelmäßig an Unselds Investitionsbereitschaft. Unseld dagegen fungierte in dieser „merkwürdigen 39 Zbigniew Herbert an Siegfried Unseld, 20.3.1984; Zbigniew Herbert an Elisabeth Borchers, 27.9.1993. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew. 40 Zbigniew Herbert an Siegfried Unseld, 20.3.1984. In: DLA, Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew.
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Beziehung als Freund und Geschäftsmann“,41 um sich an dieser Stelle des bekannten Titels aus dem Briefwechsel zwischen Gottfried Bermann Fischer und Carl Zuckmayer zu bedienen, sowie als treusorgender Berater seines Autors. Die Beziehung zwischen den beiden könnte selbst Stoff für einen Roman abgeben und davon erzählen, wie ein Verleger vergebens auf Texte seines Autors wartet und mit allen Mitteln versucht, den Text aus dem Autor herauszulocken, an dessen Qualität und künstlerische Potenz er nahezu bedingungslos glaubt. Zu diesem utopischen Roman gehört auch, dass Unseld bis zum Ende das immer wiederkehrende Scheitern und die Inszenierung dieses Scheiterns durch Herbert mitgetragen hat. Herbert empfand die Vorleistungen seines Verlegers prinzipiell als ungenügend, forderte von ihm stets Extraleistungen ein, so etwa Sondervorschüsse in beträchtlicher Höhe, um zahlreiche Reisen und Aufenthalte in West-Berlin sowie Umzüge nach Warschau und Frankreich finanzieren zu können. Um seinem Autor den nötigen Arbeitsfrieden zu garantieren, leistete Unseld logistische Hilfe, etwa durch Korrespondenzen mit polnischen Konsulaten in der BRD zwecks Lösung des immer wiederkehrenden Problems mit der Aufenthaltserlaubnis in West-Berlin. Während des Kriegszustands in Polen verfügte Herbert – dank seinem Verleger – über die Möglichkeit, seine Briefe und Manuskripte unzensiert aus der „Warschauer Zitadelle“42 über den deutschen und österreichischen diplomatischen Dienst in den Westen zu senden. Das Beispiel des Buches Stilleben mit Kandare zeigt, dass Vertrauen, Freundschaft und Treue auch in der Verlagswirtschaft eine zentral wichtige Funktion haben. Über seine Pläne eines Essaybandes über holländische Malerei informierte Herbert seinen Verleger bereits im August 1976. Die conditio sine qua non für das Gelingen seines Vorhabens waren jedoch genügende finanzielle Mittel und die Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis in der BRD.43 Beide Vorbedingungen wurden entweder von Unseld selbst oder durch seine Vermittlung erfüllt. 1981 zählte das „große Buch der Holländer“ 120 Seiten und trug schon damals den auf das Bild von Johannes van der Beeck verweisenden Titel.44 Durch politische sowie krankheitsbedingte Umstände geriet der Plan ins Stocken und wurde erst 1986 wiederaufgenommen, und zwar während H erberts Frankreich-Aufenthalts, der von Unseld mit einem auf zwei Jahre befristeten 41 Fischer 2006, S. 245. 42 Zbigniew Herbert an Siegfried Unseld, 5.3.1982. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01LV/Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew. 43 Siegfried Unseld: Auszug aus einem Reisebericht Zürich – München – Alpbach, 27.–30. August 1976. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew. 44 Siegfried Unseld: Reisebericht Berlin, 12.-15. Dezember 1980. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew.
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monatlichen Gehalt finanziert wurde. Mehrmals kam der Verleger nach P aris, um seinem Autor neben materieller auch psychologische Hilfe zu leisten. Wegen Herberts sowohl physischer wie auch psychischer E rkrankung – die im Briefwechsel sich seit 1973 wie eine Sinuskurve abzeichnete und zu unterschiedlichsten Spannungen und Reibungsflächen führte, etwa in Bezug auf die Finanzverwaltung – wurde das Manuskript dem Suhrkamp Verlag erst im Juli 1993 vorgelegt. Ohne Unseld wäre dieser Band wie auch einige andere nie erschienen. „Ich denke an dieses Buch als an unser gemeinsames“,45 schrieb der Dichter im Juli 1994 an seinen Freund und Verleger. 7 Von seinem deutschen Publikum verabschiedete sich Herbert mit einer Dankrede für den 1997 erhaltenen Preis der Stadt Münster für Europäische Poesie. Im Namen des erkrankten Dichters wurde der Preis von Jurek Becker in Empfang genommen. In den im April 1997 aufgezeichneten Dank- und Abschiedsworten fasste Herbert sein Leben zusammen und schlug zum Schluss einen pessimistischen Ton an: Heute komme ich, sozusagen, als unvollständiges Wesen; Leib und Stimme verlieh mir mein Zunftgenosse Jurek Becker, wofür ich ihm herzlich danke. Von mir kommen die Worte und mein Geist, ein flüchtiger womöglich wie Zigarettenrauch, der in diesem Saal für Nichtraucher schwebt. […] Es ist (zumindest mir) wirklich völlig gleichgültig, ob mir wieder ein Ausweis als Europäer gegeben wird. Ich hörte nie auf, Bürger dieser blutgebadeten Halbinsel zu sein, die mit einer kleinen Ausnahme voll des Slawentums, der Tyrannei, Not, Ausbeutung, Hypokrisie, der Scheiterhaufen und Kriege ist. Ich befürchte, daß das künftige Europa keine Heimat von Sokrates, Christus, Dante und Shakespeare, sondern eher eine Domäne von Wechselstübchen und Züchtern der an Rinderwahn erkrankten und jener eher ruhigen Kühe sein wird. Mit Schrecken stelle ich fest, daß ich mehr eine Predigt als etwas für eine Woche der Dichtung geeignetes schrieb. Jedoch Erwägungen über Metapher, Metonymie, den ganzen technischen Kram, aus welchem sich das eigentümliche Sprachgebilde genannte Gedicht ergeben soll, langweilen mich wahrhaft. Es tut mir leid, wenn ich die Organisatoren, Germanisten enttäuscht habe. Denn was ist für mich letzten Endes Dichtung? EIN VEHIKEL DER LEIDENSCHAFT UND TUGEND.46 45 Zbigniew Herbert an Siegfried Unseld, 21.7.1997. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew. 46 Zbigniew Herbert: Dankrede, 14.4.1997. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/ Herbert, Zbigniew.
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Dieser Text blieb jedoch eine nie ausgesprochene Dankrede. Irrtümlicherweise blieb sie in dem unbeantworteten Briefwechsel stecken, da der Verlag davon ausging, dass der Text auch direkt an Jurek Becker verschickt wurde. Becker erhielt von Herbert dafür eine Postkarte mit der Posttaube. Das letzte Treffen des Verlegers und seines Autors fand in Warschau im Oktober 1994 statt.47 Zbigniew Herbert starb am 28. Juli 1998, am gleichen Tag wurde Siegfried Unseld in einer Frankfurter Klinik operiert. Im Namen des Suhrkamp Verlags nahm Burgel Zeeh, die mit Herbert ebenfalls in einer freundschaftlichen Beziehung stand, an der Bestattung teil. Im September 1998 schrieb Unseld an Katarzyna Herbert: Mit Zbigniew ist mir ein sehr lieber Mensch und ein Freund gestorben. Ich hatte über Jahre, Jahrzehnte hinweg den Eindruck einer sehr intensiven, lebendigen Verbindung, einer Sympathie und Zusammengehörigkeit. (…) Ich danke Zbigniew, daß er dem Suhrkamp Verlag durch seine Publikationen so viel Ruhm eingebracht hat. Wir werden uns dankbar erweisen, indem wir sein Werk lebendig erhalten.48
Als Epilog nochmals die Worte von Herbert, die zum 60. Geburtstag Siegfried Unselds verfasst worden sind: Denn wovon träumt jeder, auch der kümmerlichste Dichter, seinen „Persönlichen Verleger“ zu haben, der ausschließlich sein Eigentum ist wie eine liebende nicht emanzipierte Frau. O schönes Utopia! […] Man kann ohne große Mühe eine mehrbändige Anthologie (von der Antike bis zur Gegenwart) zusammenstellen, welche die Klagen und Beschwerden von Autoren über ihre Verleger enthält. Der Manuskripteproduzent und der Bücherproduzent scheinen von Natur aus ein ungleiches Paar zu sein, das aufeinander und auf einen ewigen Antagonismus angelegt ist. Doch kommen rühmliche Ausnahmen vor. […] Im Verlauf langer Jahre hat sich Siegfried als geduldiger, großmütiger und vor allem loyaler Partner erwiesen. Als Verleger und Freund. In der Poetik heißt eine Figur, die Ausdrücke mit widersprüchlicher, sich gegenseitig ausschließender Bedeutung zusammenstellt, Oxymoron.49
47 Siegfried Unseld: Reisebericht Dr. Siegfried Unselds, Warschau, 29.–30. Oktober 1994. In: DLA, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew. 48 Siegfried Unseld an Katarzyna Herbert, 9.9.1998. In: DLA, SUA: Suhrkamp/ 01VL/Autorenkonvolute/Herbert, Zbigniew. 49 Herbert 1984, S. 64.
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Soziologie und Philosophie aus Osteuropa im Suhrkamp Verlag 1950–2000 Unsere Überlegungen werden von zwei Fragen geleitet: Wie vermittelte der Suhrkamp-Verlag in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts philosophische und soziologische Ideen und Ansichten von Autoren aus Osteuropa in den deutschsprachigen Raum? Und welche Rolle kam in diesem Prozess bestimmten Gruppen von Verlagsmitarbeitern (Lektoren, Übersetzer) und den gemeinsam mit dem Verlag agierenden Außeninstitutionen (zum Beispiel Literaturagenturen, staatlichen Behörden et cetera) zu? Zur Beantwortung konnten wir auf das Siegfried Unseld Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach zugreifen, und doch haben unsere Ergebnisse eher einen skizzenhaften Charakter oder sind nur als Approximation zu verstehen. Das wird bedingt durch Schwierigkeiten methodologischer Art. Erstens erwies es sich als notwendig, Annahmen zu treffen, die bestimmte Suhrkamp-Publikationen als philosophische und soziologische Werke ausweisen beziehungsweise Autoren als Philosophen und Soziologen kennzeichnen, zweitens, welche von ihnen und in welchem Sinne Autoren aus Osteuropa sind. Solche Probleme sind durchaus von Bedeutung, da die Annahme zu vager Auswahlkriterien die folgende Analyse sogar verhindern könnte. Darf das 1967 veröffentliche Buch Kommentare zu Ithaka von Miloš Crnjanski, einem großen serbischen Schriftsteller und zugleich akademischen Philosophen, als philosophisches Werk gelten? Und wie steht es mit dem 1993 bei Suhrkamp erschienenen Tagebuch über Čarnojević, das bereits auf der Ebene der formalen Gestaltung kaum zu klassifizieren ist? Wie sollen die Werke eines der bedeutendsten tschechischen Theoretiker der Ästhetik und Literatur, Jan Mukařovský, eingeschätzt werden, der ein wichtiges Mitglied der Prager Schule war, formal jedoch kein ausgebildeter Philosoph? Wie sind die von Leszek Kołakowski geschriebenen Märchen1 zu qualifizieren, die im Titel „philosophisch“ genannt werden? Ist das Werk Anthropologie der Erkenntnis von Yehuda Elkana, einem als László Fröhlich geborenen Juden aus Jugoslawien, der im Alter von vierzehn Jahren nach Israel emigrierte und nach seinem Mathematik- und Physikstudium Wissenschaftsphilosoph und Wissenschaftshistoriker sein wollte, ein philosophisches Buch? 1 Kołakowski 1961.
© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764091_006
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Man sieht schnell, dass eine zu unscharfe Definition des philosophischen oder soziologischen Werks uns dazu gezwungen hätte, die literarischen Texte von Stanisław Lem wie auch die Bücher von Vĕra Linhartová oder Boris Uspenskij Poetik der Komposition und viele andere Titel als philosophische Werke anzuerkennen. Eine zweite Herausforderung stellt die Definition dar, wer eigentlich ein osteuropäischer Autor war? Abgesehen von der Frage, ob die Sowjetunion damals überhaupt als Teil Osteuropas verstanden wurde, oder, wie wir in einem Brief von Günther Busch lesen können, als „Sowjet-Asien“2 galt, war nur eine sehr kleine Gruppe wichtiger Autoren aus Osteuropa bei Suhrkamp erfolgreich, die bereits vor ihrem Verlagsdebüt international anerkannt waren. Diese auf Französisch, Englisch oder Deutsch schreibenden, oft langjährigen Mitarbeiter von Universitäten in den Ländern Westeuropas oder in den Vereinigten Staaten waren anerkannte Denker, die Dinge universal und objektiv betrachteten. Die Frage stellt sich, ob der Rekurs auf ihre osteuropäische Herkunft (anders als im Fall der Literatur, in der der Künstler nicht die große „Wahrheit“, sondern „seine eigene Wahrheit“ sucht) noch irgendeinen Sinn hat. Die verlegerische Vermittlung ihrer Werke bedeutet dann nicht die Verbreitung des ungarischen, tschechischen oder russischen Geisteslebens, sondern die von Theorien und Ideen ohne regional-kulturelle Prägung. Zu dieser Gruppe der von Suhrkamp veröffentlichten Autoren gehörten unter anderem Leszek Kołakowski, Mircea Eliade, Georg Lukács oder Slavoj Žižek. Wir haben es also mit einer sehr elitären Gruppe von „gezähmten“ osteuropäischen Denkern zu tun, wobei ihre osteuropäische Herkunft zur Nebensache wird, wie eine Pressemitteilung zu einem Buch von Mircea Eliade verdeutlicht: „So merkwürdig die Geschichte ist […], steht sie noch in einer offenbar bis Rumänien reichenden mitteleuropäischen Tradition des Erzählens“.3 Der Autor selbst jedoch wird nicht als Philosoph aus Osteuropa vorgestellt, sondern als „international berühmter Religionsphilosoph und Mythenforscher […], den die Franzosen ihrer eigenen Literatur zurechnen“.4 Drittens gilt es, die historisch variable Bedeutung der Begriffe „Philosophie“ und „Soziologie“ zu beachten. Für den heutigen Leser bezeichnen sie weitgehend selbsterklärend etablierte Wissenschaftsdisziplinen, die sich ergänzen und theoretischer Natur sind. Doch in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, als bei Suhrkamp das Interesse an einschlägigen osteuropäischen Autoren einsetzte, wurde auch eine neue Soziologie geboren, die sich als empirisch 2 Günther Busch, Verlagsnotiz, 26.8.1966, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA. 3 Die Zeit, 1972. In: DLA SUA. 4 Die Zeit, 1972. In: DLA SUA.
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arbeitende Sozialwissenschaft versteht und als „eine Art heroischen Aufbegehrens gegen unbewegliche, wenn nicht sogar unwissenschaftliche philosophische Schulen“,5 womit die rein theoretische Philosophie gemeint ist. Der Suhrkamp-Verlag war Medium dieses neuen Selbstverständnisses, das mit dem Zeitgeist eng verbundenen war. Zudem darf nicht vergessen werden, dass Suhrkamp kein philosophischer oder soziologischer Fachverlag war. Unselds besondere Interessenlage verdeutlicht folgende Notiz: „Abends zusammen mit Jürgen Habermas. Gespräch über eine mögliche Erweiterung der Basis der Reihe Theorie. […] Die zweite Möglichkeit sehe ich in einer deutlichen Pflege einer nicht nur theoretisch, sondern auch literarisch relevanten Essayistik.“6 Eingedenk dieser methodischen Schwierigkeiten gehe ich von sehr einfachen Grundannahmen aus: Ich betrachte diejenigen Suhrkamp-Autoren aus Osteuropa als Philosophen und Soziologen, die akademisch ausgebildete Philosophen und Soziologen waren oder sind und einen akademischen Titel tragen. Als philosophische oder soziologische Bücher dieser Autoren betrachte ich solche Werke, in denen die Verfasser in einem tiefen Dialog mit anderen Philosophen oder Soziologen stehen und umfangreiches Wissen über die Tradition des philosophischen und soziologischen Denkens zeigen. 1 Fakten In den Jahren 1950 bis 2000 erschienen im Suhrkamp Verlag über sechzig in unseren Sachzusammenhang gehörende Bücher von siebenundsechzig osteuropäischen Autoren: 6 tschechoslowakischen, 12 ungarischen, 14 polnischen, 15 jugoslawischen und 20 sowjetischen. Etwa 60% dieser Publikationen sind Sammlungen von Texten verschiedener Autoren, und die sonstigen 40% stellen Monographien eines oder zweier Autoren dar. Über 45% aller Arbeiten erschienen in der „edition suhrkamp“, etwas weniger in der Reihe „suhrkamp taschenbuch wissenschaft“ und etwa 15% in anderen Reihen wie zum Beispiel „Theorie I“ und „Theorie II“. Mehr als 70% dieser Bücher sind dem Marxismus gewidmet. Die meisten übrigen Texte wurden als Beispiele für nicht-marxistische Modelle der gesellschaftlichen Realität verlegt, die eine Herausforderung für den neuen, nicht-orthodoxen Marxismus darstellen sollen. Über 45% aller Werke wurden zwischen 1967 und 1977 veröffentlicht, eine weitere Konzentration fällt auf die Jahre 1987 bis 1997. Nur 5% der hier untersuchten Publikationen beziehen sich auf die Wende von 1989. Nur etwa 10% der 5 Garstenauer 2008, S. 290. 6 Unseld 2010, S. 267–268.
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Autoren erschienen in mehr als in einer Reihe, und etwas mehr als die Hälfte von ihnen veröffentlichten mehr als ein Buch (bis zu drei) im Suhrkamp- Verlag. Als sehr wichtig wird sich erweisen, dass keiner dieser osteuropäischen Autoren im Suhrkamp Verlag seine gesammelten Werke veröffentlichen wird. Die erste philosophische Arbeit osteuropäischer Provenienz, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bei Suhrkamp erscheint, ist die 1967 in der Reihe „Theorie II“ veröffentlichte Dialektik des Konkreten des tschechischen Philosophen Karel Kosík. 2
Das Suhrkamp-Prinzip
Was bedeuten diese Daten für die erste unserer Hauptfragen: In welchem Sinne war der Suhrkamp Verlag als Vermittler bei der Verbreitung von Philosophie und Soziologie aus Osteuropa beteiligt? Als Antwort stelle ich zwei zugespitzte Hypothesen auf – und zwar nur Hypothesen, deren Stützung viel mehr Recherchen benötigen, damit sie zu Thesen werden können: a) Der sich in dieser Form vollziehende Wissenstransfer scheint nicht darauf abzuzielen, die große Vielfalt von Geisteswissenschaften in verschiedenen Ländern Osteuropas abzubilden. Vielmehr dienen diese Publikationen dazu, an der Diskussion über das marxistische Paradigma teilzuhaben und dessen Umbau weiterzuführen. Geleitet wurde dies durch die Überzeugung, die Ernst Bloch, einer der führenden Autoren des Hauses, in der Formel „Prinzip Hoffnung“ zum Ausdruck gebracht hat: Es lohne sich, auf den wahren Sozialismus zu warten. Deutlich sichtbar wird dies etwa in der Ablehnungspraxis von Autoren, die stark von dieser Ausrichtung abwichen. Unter den polnischen abgewiesenen Wissenschaftlern finden sich zum Beispiel Florian Znaniecki, Józef Tischner oder der antibolschewistische Denker Marian Zdziechowski. Günther Busch schreibt an die Internationale Agentur für Literatur Geisenheyner & Crone: „Ein Essay-Band von Kołakowski über Pascal, Christliche Symbolik und Reformation ist nicht gerade das, was die Leser von der edition suhrkamp erwarten und was wir mit dieser Reihe verknüpft sehen möchten“.7 Diese Position schloss auch vorgeschlagene Bücher von „liberalen“ oder „katholischen“ Philosophen aus. Daher erscheint ganz offensichtlich, dass die gesamte erste Phase des Wissenstransfers von Philosophen und Soziologen aus Osteuropa bei Suhrkamp nichts Anderes als eine bloße „Marxologie“ war. Und dieser Prozess dauerte mit hoher Intensität bis Ende der siebziger Jahre an, als Jürgen 7 Busch, Brief vom 24.6.1968. In: DLA SUA.
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Habermas bemerken musste, dass „die Linke gesellschafts- und kulturpolitisch in die Defensive geraten sei“.8 Von der im weiteren Sinne marxistischen Ausrichtung der bei Suhrkamp verlegten Soziologen und Philosophen Osteuropas zeugt in aufschlussreicher Weise ein Brief von Günther Busch an Siegfried Unseld aus dem Jahre 1966. Busch war seit 1963 Redakteur der Reihe „edition suhrkamp“ und verantwortete die ersten 1.000 Bände. Das Dokument9 trägt den Titel: „Marxismus – B eiläufige Anregung, ein interessantes Buch zu machen“. Der darin präsentierte Gedankenweg macht dem Leser die Tatsache bewusst, dass es in der damaligen Bundesrepublik keinen öffentlichen Platz für „marxistisch argumentierende“ Schriften gab, und solche Autoren konsequent durch Kulturtrieb, öffentliche Meinungen und Universitäten verdrängt wurden. Dahinter stecke das bloße Unwissen über die ältere marxistische Literatur und ihre Geschichte wie über den seinerzeitigen innermarxistischen Dialog. Um das Niveau der theoretischen Ausstattung der deutschen „Linken“ zu erhöhen, solle Suhrkamp die Veröffentlichung einer Sammlung von Einzelstudien unter dem Titel „Marxismus zeitgenössisch“ erwägen. Das Ziel solch einer Publikation bestehe darin, Wissen über die aktuellsten Denkansätze innerhalb dieses Paradigmas zu vermitteln, seine seit den fünfziger Jahren geführten Auseinandersetzungen mit Revisionismus, Psychoanalyse oder Erkenntnistheorie abzubilden und vor allem die „linken Theorien dem Zustand unserer Welt anzupassen“. Busch plante drei Bände: der erste sollte Vorträge aus Westeuropa und den USA enthalten, der zweite solche aus Osteuropa und der Sowjetunion, und der dritte sollte Forscher aus der Dritten Welt zu Wort kommen lassen. Insgesamt rund 1.200 Seiten. „Der Plan hat alles für sich, was Pläne dieser Art überhaupt für sich haben können: ist aussichtsreich, kompliziert, bedenkenswert, und die Zeit ist reif, ihn auszuführen“.10 Interessanterweise endet Busch mit einer Liste von Autoren, die eingeladen werden sollten, an diesem Projekt mitzuarbeiten. Unter den zwanzig Namen sind osteuropäische Philosophen und Soziologen wie Zygmunt Baumann, Bronisław Baczko, Leszek Kołakowski, Karel Kosík, Georg Lukács, Wasyl Tugarinow und Rubinstein. Die marxistischen Werke von fünf dieser Autoren nimmt Suhrkamp ins Programm auf.11 Neue Marxisten aus Osteuropa bieten hier theoretische 8 Zit. nach Fellinger 2003, S. 61. 9 Günther Busch an Siegfried Unseld, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA 10 Günther Busch, Verlagsnotiz, 11.1.1966, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA. Das Projekt wurde in dieser Form nicht verwirklicht, doch das Konzept ging nicht verloren. Vgl. etwa „Psychoanalyse und Marxismus. Dokumentation einer Kontroverse. Eingl. v. Hans-Jürgen Sandkühler. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970 (= Theorie [1]). 11 Vgl. Kosík. 1967; Kołakowski 1968; Baczko 1969; Bauman 1990; Lukács 1973.
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L ösungsmodelle für Probleme, die in den sechziger Jahren in der sozialen Marktwirtschaft in Deutschland entstanden waren. Damit wird erneut ein moderner Marxismus bevorzugt, der vor allem drei philosophischen Schulen entsprang: der jugoslawischen Richtung,12 die sich um die Zagreber Philosophiezeitschrift Praxis gebildet hatte; der „tschechischen Schule“13 und der „Warschauer Schule“.14 Doch Suhrkamp verlegte neben dem wie auch immer gearteten modernen Marxismus auch orthodoxe marxistische Texte von Autoren wie Stalin, Mitin15 oder eine Sammlung der Schriften von Lenin, verlegt anlässlich der Hundertjahrfeier seiner Geburt (Lenin. Revolution und Politik). Wir können also ohne Übertreibung nach Ernst Bloch gerade das wiederholen, was er an Unseld – seinen Freund und zugleich Hörer seiner Seminare – zum zehnten Geburtstag des Verlages geschrieben hat, dass nämlich Suhrkamp „vorbildlich Links und an der Spitze“ bleibe. Meine bisherigen Ausführungen konzentrierten sich ausschließlich auf die „Marxologie“, nicht nur, weil sie ein wichtiges Element des ganzen Verlagskonzepts in unserem Segment bildete, sondern auch, weil Literatur als „Arbeit am Mythos“ bezeichnet wird. Im Fall des Suhrkamp-Mythos scheint dieses Thema vollständig ignoriert zu werden. Ich denke hier vor allem an die verschiedenen Jubiläums-Bücher über den Verlag.16 b) Die zweite Hypothese, die ich hier erwägen möchte, kann man sich in zwei Versionen vorstellen: einer schwachen und einer starken. Die schwache lautet: Die hier gemeinten osteuropäischen Autoren sind für den Suhrkamp-Verlag nur in einem geringen Grade relevant. Stärker formuliert: sie passen eigentlich nicht zu dem Konzept, nach dem Suhrkamp „Autoren machen“ wollte, obwohl wir ihre Publikationen paradoxerweise im Verlagsprogramm finden können. Dazu drei erläuternde Argumente: Wie bereits erwähnt, haben erstens etwa 45% der osteuropäischen Autoren ihre Bücher in der Reihe „edition suhrkamp“ veröffentlicht. Bestimmt war die 1963 gegründete „es“ für ein kleineres, linkes Publikum. Eröffnet wurde die Reihe programmatisch mit Brechts Leben des Galilei, und in der „es“ wurde 12 Wichtige Vertreter: Predrag Vranicki, Michailo Markovic, Branko Bošnjak, Milan Kangrga, Ljubomir Tadič. L. Kołakowski und G. Lukačs fungierten als „Redaktionsrat“ der Zeitschrift „Praxis“. 13 Vor allem Karel Kosík und Robert Kalivoda. 14 „Warschauer Schule der Ideengeschichte“. Jerzy Szacki, Krzysztof Pomian, Andrzej Walicki. Leszek Kołakowski und Bronisław Baczko sind die eigentlichen Begründer dieser Schule. 15 Siehe Bucharin/Deborin 1969. 16 Vgl. etwa die „Kleine Geschichte der Edition suhrkamp. Sonderdruck – 40 Jahre edition suhrkamp“ oder die „Suhrkamp Verlagsgeschichte 1950–1990“.
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Brecht auf dem deutschen Buchmarkt durchgesetzt. Die Erweiterung um soziologische und philosophische Werke richtete sich vor allem an jüngere Leser und Studierende. Sicherlich war die „edition“ nicht die Hauptreihe oder der wichtigste Zweig des Verlags. Unseld schreibt im Jahre 1968 über ein zur Veröffentlichung geplantes Buch: Ich möchte „es nach Ihrer Darstellung nicht in der edition suhrkamp, sondern selbstständig im Hauptprogramm als eines der ganz wichtigen Bücher des Verlages herausstellen“.17 Das zweite Argument bezieht sich auf den Kern des Suhrkamp-Verlags, auf die berühmte Formel, die eine Definition seiner eigentümlichen verlegerischen Philosophie war: „Der Verlag präsentiert Autoren, nicht Bücher“. Wir sollen jedoch nicht vergessen, dass dieses Motto auch ein Rezept für den Erfolg des Verlages darstellt und in seiner entwickelten Form eine wichtige Ergänzung enthält: „Sie sollen von Gesamtausgaben flankiert werden“.18 Doch keiner der fast siebzig Autoren aus Osteuropa hat seine eigenen gesammelten Werke im Suhrkamp-Verlag platzieren können, wie das zum Beispiel bei Hegel oder Bloch der Fall ist. Diese Philosophen und Soziologen waren eben doch keine Suhrkamp-Autoren im eigentlichen Sinne, denn dazu reicht ein einzelner Titel keinesfalls aus. Unseld erläutert: „Die im engeren Sinn literarischen Verleger handelten aus dieser Einstellung, indem sie bei ihrer verlegerischen Arbeit nicht so sehr auf das einzelne, erfolgversprechende Buch, sondern auf das Werk, auf den Autor in seiner Gesamtphysiognomie bauten. Mit solchen Werken wächst dann der Verlag. Die einzelnen Titel sind Jahresringe, und im Laufe der Zeit entsteht organisch das, was wir Profil oder Gesicht eines Verlages nennen.“19 Ein Suhrkamp-Autor kommt in langer, kontinuierlicher Kooperation mit dem Verlag zustande. Dann unterstützt der Verleger den Autor auch finanziell, regt eventuell die Schaffung neuer Werke an oder leistet dem Autor andere Hilfe, wenn dessen Lage schwierig wird. Der Autor selbst beteiligt sich dann oft an anderen Aspekten der Verlagstätigkeit, er spielt manchmal die Rolle eines Lektors (wie Uwe Johnson), eines Rezensenten oder eines aktiven Teilnehmers an Veranstaltungen, die für den Verlag wichtig sind; man denke auch an Habermas‘ Rolle im berühmten Lektorenstreit des Jahres 1968. Ein solcher Autor gilt im Verlag als „Autor-Freund“.20 Gelegentlich finden sich auch Spuren eines solchen Nahverhältnisses von Autor und Verlag/Verleger in den Archivalien zu unseren Autoren. Mitte der siebziger Jahre verlor der tschechische Philosoph Karel Kosík über eintausend 17 Siegfried Unseld, Verlagsnotiz, 9.2.1968, SUA: Suhrkamp/01VL, DLA. 18 Unseld 1990, S. 39. 19 Unseld 1978, S. 36. 20 Fellinger 2008, S. 10.
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Seiten seiner Manuskripte in Folge einer Durchsuchung seines Hauses in Prag durch die Geheimpolizei. Unseld versprach ihm seine Unterstützung und alles Mögliche zu tun, um diese Sache vor den Internationalen Gerichtshof in Den Haag zu bringen. Tatsächlich zeigen die Archivalien, dass er versuchte, durch den Kontakt zu verschiedenen Institutionen der Bundesregierung zu helfen. Schließlich komme ich zum dritten Argument: „Die Bedeutung eines Autors für den Verlag zeigt sich nicht nur in den dezidierten ›Autorenkonvoluten‹, sondern schlägt sich in verschiedenen Ablagen (Lektorate einzelner Reihen, Theaterverlag, Werbung, Abteilung für Rechte und Lizenzen etc.) und Dokumentsorten (Gutachten, Broschüren, Plakatentwürfe, Pressemitteilungen, Verträge) nieder.“21 Ferner gilt, dass wichtige Autoren auch Spuren in Unselds Chronik hinterlassen haben. Es scheint, dass auch in diesen Bereichen die osteuropäischen Autoren fast abwesend sind. Die einzigen Namen, die in seiner Chronik erscheinen – einmal und beiläufig – sind Predrag Vranicki und Leszek Kołakowski. Auch das Presseecho auf osteuropäische Autoren der Soziolologie und Philosophie ist begrenzt und verhalten. „Mit B. Baczko wird – nach Kolakowski und Schaff […] ein weiterer polnischer Philosoph bei uns eingeführt, dessen Studium sich lohnt.“22 Was die öffentliche Resonanz angeht, bildet allein der russische, nicht- marxistische Philosoph Arsenij Gulyga mit seinem Kant-Buch eine Ausnahme, der vor allem dank Suhrkamp als derjenige gilt, der die bedeutendste Kant-Biographie unseres Jahrhunderts geschrieben hat. Gulyga fungiert in der Presse nicht nur als Experte für die deutsche Philosophie, sondern auch als Schöpfer der „geistigen Perestroika“.23 3 Suhrkamp-Kultur Abschließend möchte ich auf meine zweite Ausgangsfrage eingehen, wie nämlich die Transferprozesse des philosophischen und soziologischen Wissens aus Osteuropa im Verlag verliefen und welche externen Entscheidungsträger und Institutionen sich an ihnen beteiligt haben. Die ganze Dynamik dieses Komplexes kann als „Suhrkamp-Kultur“ bezeichnet werden. Dass diese gedeihen konnte, war jedoch auch historischen Umständen geschuldet:
21 Amslinger et al. 1985, S. 202. 22 Buchanzeiger für Öffentliche Büchereien 1969. In: DLA SUA. 23 Auf der Hintertreppe zur Perestroika. In: Hannoverische Allgemeine Zeitung vom 25. August 1989. DLA, SUA, Presseabteilung.
Soziologie und Philosophie aus Osteuropa im Suhrkamp Verlag
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– Das Jahr 1967 kann als Wende in der Geschichte der BRD gelten, die erneut diplomatische Beziehungen mit Rumänien und Jugoslawien aufnimmt, indem sie einige Verträge über Zusammenarbeit abschließt. – Auf Initiative der UNESCO wurde 1949 die „International Sociological Association“ gegründet, die seit 1956 auch sowjetische Delegierte zu internationalen soziologischen Kongressen einlud. Der deutsche Vorsitzende des UNESCO-Ausschusses stellt 1967 auf der Sitzung der Arbeitsgruppe „Kuratorium Unteilbares Deutschland“ eine Vision der Intensivierung des Kulturaustausches mit den osteuropäischen Ländern vor. Zu den empfohlenen Aktivitäten besagt das Protokoll unter Punkt neun: „es muß Klarheit darüber bestehen, daß Kommunisten nicht etwa nur auch Menschen sind, sondern daß Kommunisten Menschen sind wie wir.“24 – Die „Gruppe 47“ hatte nicht nur entscheidenden Einfluss auf die deutsche Nachkriegsliteratur, sie war auch eng mit dem Hause Suhrkamp verknüpf, und der innere Zirkel um Unseld – mit Walser, Johnson, Enzensberger, Weiss – gehöre auch zum Kern der Gruppe.25 Der die Gruppe leitende Hans Werner Richter plant 1968 in Prag ein Literatentreffen. – Von Bedeutung ist das Wirken von Institutionen wie z.B. der Evangelischen Akademie Loccum, die bereits 1964 Kolloquien mit Karel Kosík ausrichtete. – 1966 fand in Prag – zum ersten Mal in einem Ostblockstaat – der 6. Kongress der Internationalen Hegel-Gesellschaft statt. – Für den geistigen Austausch spielte die „Internationale Literarische Agentur Geisenheiner & Crone“ eine wichtige Rolle. All diese äußeren Umstände waren wichtig, doch entscheidend für die Veröffentlichungen von Philosophen und Soziologen aus Osteuropa besonders in den 60er Jahren waren die Lektoren des Verlags. Dabei fällt es schwer, deren genaue Funktion und ihren hierarchischen Status im Verlag festzustellen. Manchmal ist eine Person zwar formal Lektor oder Autor, aber in der Praxis, von der die Archivalien zeugen, tritt sie auf, als leite sie den Verlag mit. Man lese dazu die Korrespondenz zwischen Unseld und Enzensberger, lange Briefe vom Ende der 50er Jahre, bestehend aus fünf- oder sechsseitigen Texten, in denen über die Zukunft und die Entwicklungsrichtung des Suhrkamp-Verlags diskutiert wird. Ein anderes Beispiel bilden Martin Walser und Uwe Johnson, die von Unseld zum „erweiterten Lektoratsflügel“26 gerechnet werden, oder auch Ernst Bloch. Im Fall der sozialwissenschaftlichen Literatur von Autoren 24 Dokument „Kulturbeziehungen Deutschlands zu den osteuropäischen Staaten”, S. 3. In: DLA SUA. 25 Magenau 2015, S. 133. 26 Fellinger 2003, S. 19.
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aus Osteuropa sind vor allem Günther Busch, Peter Urban, Hans Magnus Enzensberger, Karl Dedecius und Peter Lachmann als wichtige Ausführende des Programms zu nennen. Deren Leidenschaft und Engagement ging den medialen Konjunkturen Osteuropas deutlich voran. Busch zum Beispiel macht bereits 1960 die Redaktion des Münchener Merkurs auf Kołakowskis Buch Der Mensch ohne Alternative aufmerksam. Die Zahl der diskutierten Vorschläge zu philosophischen und soziologischen Büchern aus Osteuropa übersteigt die der realisierten bei weitem. Nicht zu unterschätzen ist auch das Netzwerk, das begeisterte Lektoren und Übersetzer unterhielten und für den Verlag nutzbar machten. Ein Beispiel bildet der Briefwechsel zwischen Busch und dem Magazin Alternative. Zeitschrift für Literatur und Diskussion: Busch macht für die Zeitschrift kostenlose Korrekturen tschechischer Prosa und Poesie, wofür in der Zeitschrift Informationen über neue Suhrkamp-Publikationen erscheinen. Dank Busch, dessen Gebiete Philosophie, Literaturwissenschaft und Anglistik waren und der auch Kritiker beim Süddeutschen Rundfunk war, entstanden Sendungen, in denen auch einige Werke von Autoren aus Osteuropa besprochen wurden. Peter Urban berichtete 1966 vom Literaturfestival „Die Abende der Poesie“ in Struga in Mazedonien; Enzensberger nimmt bereits vor 1963 während seiner Reisen nach Ungarn, Polen und Tschechen Kontakt zu Vladimir Kafka auf, einem Lektor des tschechischen Verlags „Mladá fronta“. Diese Agentur macht später Unseld auf das Buch von Karel Kosík aufmerksam. Die Arbeit eines Suhrkamp-Lektors in jenen Jahren stand für Reiner Weiss unter „paradiesischen Bedingungen“: „Dort gab es Vertreterkonferenzen, wo man eine halbe Stunde lang über Gedichtbände gesprochen hat […]. Man konnte sich als Lektor sozusagen alles erlauben, und ich habe in meiner Suhrkamp-Zeit eigentlich nur zwei, drei Mal den Moment erlebt, wo ich etwas nicht umsetzen konnte.“27 Literatur Amslinger, Tobias; Grüne, Marja-Christiane; Jaspers, Anke (2015): Mythos und Magazin. Das Siegfried Unseld Archiv als literaturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand. In: Wirtz, Irmgard; Weber, Ulrich; Wieland, Magnus (Hg.): Literatur – Verlag – Archiv. Göttingen: Wallstein; Zürich: Chronos. (= Beide Seiten. Autoren und Wissenschaftler im Gespräch, 4), S. 183–214. Baczko, Bronisław (1969): Weltanschauung, Metaphysik, Entfremdung. Philosophische Versuche. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= edition suhrkamp, 306). 27 Zit. nach Dörlemann/Roesler/Schenzle 2015, S. 264–265.
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Bauman, Zygmunt (1990): Vom Nutzen der Soziologie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Bucharin, Nikolai; Deborin, Abram (Hg.) (1969): Kontroversen über dialektischen und mechanistischen Materialismus. Mit Beiträgen von Abram Deborin, Nikolai Bucharin, Georg Lukács und Antonio Gramsci (Ü.: Christian Riechers) sowie Texten von M. Mitin und J. W. Stalin. Einleitung von Oskar Negt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (=Theorie 1). Crnjanski, Miloš (1967): Kommentare zu Ithaka. Autorisierte Übersetzung aus dem Serbischen von Peter Urban. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= edition suhrkamp, 208). Crnjanski, Miloš (1993): Tagebuch über Čarnojević. Übersetzung aus dem Serbischen von Hans Volk. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= edition suhrkamp, 1867). Dörlemann, Sabine; Roesler, Alexander; Schenzle, Susanne; Weiss, Reiner (2015) Vom Lektorat zum eigenen Verlag. Podiumsdiskussion. In: Wirtz, Irmgard; Weber, Ulrich; Wieland, Magnus (Hg.): Literatur – Verlag – Archiv. Göttingen: Wallstein; Zürich: Chronos. (= Beide Seiten. Autoren und Wissenschaftler im Gespräch, 4), S. 263–270. Elkana, Yehuda (1986): Anthropologie der Erkenntnis. Die Entwicklung des Wissens als episches Theater einer listigen Vernunft. Übers. v. Ruth Achlama. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Fellinger, Raimund (Hg.) (2003): Kleine Geschichte der edition suhrkamp. Berlin: Suhrkamp. Garstenauer, Therese (2008), Die sowjetischen Sozialwissenschaften der 1950er und 60er Jahre und die internationale soziologische community. In: Steidl, Annemarie (Hg.): Übergänge und Schnittmengen. Arbeit, Migration, Bevölkerung und Wissenschaftsgeschichte in Diskussion. Köln, Weimar: Böhlau, S. 289–318. Gulyga, Arsenij (1985): Immanuel Kant. Mit einem Vorwort von Arsenij Gulyga. Aus dem Russischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Sigrun Bielfeldt. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= suhrkamp taschenbuch, 1093). Kosík, Karel (1967): Die Dialektik des Konkreten. Eine Studie zur Problematik des Menschen und der Welt. Aus dem Tschechischen von Marianne Hoffmann. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= Theorie 2). Kołakowski, Leszek (1961): Der Himmelsschlüssel. 13 Märchen aus dem Reich Lailonien für groß und klein. München: Piper. Kołakowski, Leszek (1968): Der Himmelsschlüssel. Erbauliche Geschichten. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= Bibliothek Suhrkamp, 207). Lenin. Revolution und Politik. Mit Beiträgen von Paul Mattick, Bernd Rabehl, Jurij Tynjanow und Ernest Mandel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1970 (= edition suhrkamp, 383). Lukács, Georg (1973): Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 33). Magenau, Jörg (2015): Princeton 66. Die abenteuerliche Reise der Gruppe 47. Stuttgart: Klett-Cotta.
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Ueding, Gerd (2016): Wo noch niemand war. Erinnerungen an Ernst Bloch. Tübingen: Klöpfer & Meyer. Unseld, Siegfried (1990): Suhrkamp Verlagsgeschichte 1950–1990. Frankfurt am M.: Suhrkamp. Unseld, Siegfried (1978): Der Autor und sein Verleger. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Unseld, Siegfried (2010): Chronik. Bd. 1. Berlin: Suhrkamp. Unseld, Siegfried, Helene, Ritzerfeld (1991), (Hg.): Peter Suhrkamp. Zur Biographie eines Verlegers in Daten, Dokumenten und Bildern. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Uspenskij, Boris Andreevič (1975): Poetik der Komposition. Struktur des künstlerischen Textes und Typologie der Kompositionsform. Herausgegeben und nach einer revidierten Fassung des Originals bearbeitet von Karl Eimermacher. Aus dem Russischen übersetzt von Georg Mayer. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= edition suhrkamp, 673).
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Der Osten Europas und die „Phantastische Bibliothek“ PS. Psychoanalytisch ausgedeutet, haben Ihre Bemerkungen über das häßliche Frankfurter Wetter einen politisch-kritischen Sinn, indem sie die elende Qualität so mancher (also auch meteorologischer) Umstände in einem sog. Obrigkeitsstaat des kapitalistischen Westens entlarven. Und doch ist sogar das scheußlichste Kapitalistenwetter in anderen Erdteilen zu überbieten! Stanisław Lem an Werner Berthel, 19711
Verweise auf das Wetter in Deutschland und Polen beziehungsweise in Frankfurt am Main – dem Sitz des Verlags – und in Krakau – dem Wohnsitz des Autors – als ein metaphorisches Wortspiel, um Klimaveränderungen im Verlag oder auch zwischen Verleger und Autor in ironischer, aber doch deutlicher Weise anzudeuten, sozusagen als Blitzableiter oder Warnmelder, dass nicht alles eitel Sonnenschein ist, was prunkt und glänzt, haben sich bereits im ersten Jahr des fast ein Jahrzehnt andauernden Briefwechsels zwischen dem Lektor des Suhrkamp-Verlags Werner Berthel und seinem Starautor Stanisław Lem eingespielt.2 Denn dass es zwischen dem Verleger Siegfried Unseld und Lem nicht andauernd blitzte und donnerte, war genauer besehen eigentlich ein Wunder, schien doch nichts schlechter zueinander zu passen als der elitäre Verlag des westdeutschen „Bildungsbürgertums“ und die phantastische Boulevardliteratur aus dem Osten Europas. Doch Lem war eine Ausnahme, und Spannungen und Konflikte prägten die Beziehungen ebenfalls fast von Anfang an. Doch das, was Unseld und Lem so lange zusammenhielt, war – so ließe es sich fürs Erste etwas zugespitzt formulieren –, dass sie beide große „Kapitalisten“ waren, die wussten, was sie – auch bei schlechtem Wetter – aneinander verdienten. Indes kann der Umgang mit Stanisław Lem von Seiten der Vertreter des Suhrkamp-Verlags gleichzeitig – allerdings eher nicht „psychoanalytisch 1 Lem, Brief an Werner Berthel, Suhrkamp-Lektor, 1971, in: Deutsches Literaturarchiv Marbach/ Suhrkamp-Archiv (im Weiteren zitiert als SUA) 2 Werner Berthel war von 1966 bis 1980 Lektor bei Insel und Suhrkamp, ehe er im Konflikt mit Siegfried Unseld – in dem die Person Lems auch eine Rolle spielte – zum Fischer-Verlag wechselte, den er 1985 Richtung Deutscher Taschenbuch Verlag verließ. – Ich danke vor allem Franz Rottensteiner für seine vielfachen Hinweise und Erläuterungen, ohne die dieser Beitrag so nicht hätte erscheinen können.
© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764091_007
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a usgedeutet“, von einem solchen Ansatz hielt Lem wenig – durchaus auch als „Symptom“ des Umgangs des renommierten Verlagshauses mit Phantastik und Science-Fiction insgesamt wie aus Osteuropa insbesondere gedeutet werden. Hierzu möchte ich im Folgenden erstens kurz die Genese und Entwicklung der phantastischen Literatur und Science-Fiction bei Suhrkamp skizzieren, um daran anschließend zweitens einige Thesen zur spezifischen Rolle des Verlags und seiner Lektoren und Herausgeber als Kulturvermittler zwischen Ost und West vorzustellen, um abschließend dann drittens allgemeiner etwas zum Verhältnis der phantastischen Literatur zum sonstigen Suhrkamp-Programm zu sagen, wobei ich hier wieder auf Stanisław Lem als den zweifelsohne prominentesten Aushängeschild des Programms zurückkommen werde.3 1
Phantastische Literatur und Science-Fiction aus Osteuropa
Wenn man das Interesse des Suhrkamp-Verlags an Science-Fiction und phantastischer Literatur vor dem weltpolitischen und literaturgeschichtlichen Hintergrund des Kalten Krieges betrachtet, dann setzte dieses recht spät ein. Es beginnt erst Anfang der 1970-er Jahre, als der Lektor des Insel-Verlags, Werner Berthel, auf Empfehlung von Kalju Kirde Kontakt mit dem Wiener Publizisten und Kritiker Dr. Franz Rottensteiner aufnimmt, der ein leidenschaftlicher Anhänger und Popularisator von Science-Fiction und phantastischer Literatur ist und seit 1963 seine eigene Literaturzeitschrift für phantastische Literatur, den Quarber Merkur, (zunächst im Selbstverlag) herausgibt.4 In dieser Zeit hat sich Science-Fiction im englischsprachigen Raum längst aus der Schmuddelecke der trivialen Unterhaltungsliteratur für Sternenkriege und Untergangsszenarien großer Jungs emanzipiert und auch den deutschen Markt erobert.5 Waren es anfangs in den 1950-er Jahren vor allem Groschenhefte an Bahnhofskiosken und ab 1960 die Millionenauflagen des Weltraumabenteurers Perry Rhodan, die das „Trivial-Genre“ in der jungen Bundesrepublik bekannt machten, eroberten in den 1960-er Jahren die günstigen Taschenbücher des Heyne- und Goldmann-Verlages ein immer breiteres Publikum, die Hunderte Buchtitel mit 3 Dabei stützte ich mich vor allem auf die im Verlagsarchiv aufbewahrten Briefwechsel, Lektoratsnotizen und sonstigen Vorgänge, was eine gewisse Innensicht aus dem Alltag des Verlagsbetriebs bedingt, die ich jedoch immer wieder in größere Zusammenhänge zu stellen versuche. 4 Vgl. der ausführlich dokumentierte Briefwechsel zwischen Rottensteiner und Berthel 1970– 1979 im SUA; zur Bedeutung Rottensteiners vgl. Frenschkowski 2012, S. 1–4; zum Quarber Merkur vgl. Rottensteiner1979, S. 7–13; Simon 2005. 5 Vgl. bspw. Luckhurst 2005.
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verkauften Auflagen von 15 bis 20.000 Exemplaren auf den Markt brachten. Aber auch der Gebr. Zimmermann-Verlag – welcher 1960 die erste Übersetzung von Stanisław Lems Eden publizierte – oder der Arthur Moewig-Verlag druckten Science-Fiction-Titel. Zum Ende des Jahrzehnts sprossen – wie der Spiegel seinerzeit schrieb – „nun auch SF-Reihen in teurerem Druck, größerem Format und bibliothekswürdiger Aufmachung.“6 Der Hamburger Marion von Schröder-Verlag war einer der ersten, die das Genre „salonfähig“ machten und anspruchsvollere Werke publizierten. Denn nach dem „Golden Age“ angloamerikanischer Science-Fiction in den 1930-er und 1940-er Jahren hat seit Anfang der 1960-er Jahre die so genannte „New Wave“ von sich reden gemacht, zu der Autoren wie James Graham Ballard, Karl Philip Dick, Samuel Delany, Ursula Le Guin oder Brian Aldiss gehören. Aber auch Namen wie Kurt Vonnegut, Alfred Bester oder Ray Bradbury trugen dazu bei, dass das Genre durchaus als lesenswerte Literatur galt. S tanley Kubrik hatte 1969 mit 2001: A Space Odyssey einen Welterfolg erlangt. Darko Suvin bekam 1968 die erste Professur für Science-Fiction in den USA, der später mit seiner Poetik der Science Fiction (1977) das Genre auch akademisch adeln sollte. In ihr lieferte er der „literarischen Gattung“ eine theoretische Begründung, wonach ihre spezifische Poetik in der kognitiven Verfremdung im Sinne Viktor Šklovskijs und dem subversiven Verfremdungseffekt im Sinne Bertold Brechts bestehe, die alternative Wege des Denkens über die Gesellschaft und die Menschheit eröffne.7 Zudem stand Science-Fiction für eine neue „Sprache im technischen Zeitalter“ (Walter Höllerer), als mit der friedlichen Nutzung der Kernenergie, der bemannten Raumfahrt und einer zunehmenden Verbreitung technologischer Konsum- und Luxusgüter ein wissenschaftlich begründeter gesellschaftlicher Fortschritt möglich geworden zu sein schien, der versprach, die sozialpolitischen Verwerfungen der damaligen Zeit zu überwinden.8 Die phantastische Aussicht auf eine kybernetische „Rekonstruktion des Menschen“ (Stanisław Lem) und futurologische Berechenbarkeit des Fortschritts stellte gewissermaßen auch einen Gegenentwurf zur „Antiquiertheit des Menschen“ (Günther Anders) dar.9 Und dann kam noch ein dritter Aspekt hinzu, und zwar die vor allem über die DDR vermittelte Einsicht, dass es scheinbar auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs eine neue, ganz andere Science-Fiction gab, die sich „Wissenschaftliche Fantastik“ nannte und nicht nur systemkonforme 6 [Anon.]: Welle mit Zukunft in: Der Spiegel 1972, S. 136–147; vgl. auch Eisfeld 2007. 7 Suvin 1979. 8 Vgl. Geppert 2011. 9 Anders 1970.
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kommunistische Gesellschaftsentwürfe vorlegte, sondern auch systemkritische Allegorien auf den Staatssozialismus schrieb und ganz neue Wege philosophischer Gedankenexperimente jenseits der „zwei Kulturen“ ging.10 Vor diesem kulturpolitischen Hintergrund schien das Genre eine zeitgemäße Form „wissenschaftlicher Spekulation“11 und literarischer Unterhaltung zu versprechen, die auch für das intellektuelle Milieu der Bundesrepublik der Post-Achtundsechziger-Periode einige Attraktivität ausstrahlte. Hinzu kam, dass der 1963 von Unseld übernommene Insel-Verlag bereits ein paar Jahre zuvor einen Ausflug in die phantastische Literatur unternommen hatte. Bereits 1968 erschien eine von H. C. Artmann übersetzte Zusammenstellung der „Geistergeschichten“ von H. P. Lovecraft mit einem Vorwort von Giorgio Manganelli. Ein Jahr später gründete man 1969 die so genannte „Bibliothek des Hauses Usher“, die von dem aus Estland stammenden Physiker Kalju Kirde (1923–2008) herausgegeben wurde und sich unter dem Motto „Can such things be?“ phantastischer und unheimlicher Literatur von Lovecraft, Algernon Blackwood oder Clark Asthon Smith widmete.12 Ihre aufwendig gestalteten Bände mit den psychedelisch-surrealistischen Buchcovern von Ute und Hans Ulrich Osterwalder und zumeist auf dünnem, festen, hellgrünen Papier gedruckten Klassikern moderner Schauerliteratur bereiteten gewissermaßen den Weg zur Science-Fiction bei Insel vor (Abb. 7.1). So wurden sich Werner Berthel und Franz Rottensteiner schnell einig und brachten bereits zur Frankfurter Buchmesse im Herbst 1971 im Insel Verlag mit der Anthologie Ratte im Labyrinth den ersten Band heraus. Sie beinhaltete neben Werken von Theodore Sturgeon, James E. Gunn, Katherine McLean, R. A. Lafferty und James Blish und der titelgebenden Erzählung von Stanisław Lem noch „Die letzte Verwandlung des Tristan“ des rumänischen Autors Vladimir Colin.13 Das von Helmut Wenske gestaltete Umschlagbild mit seiner Kombination von wissenschaftlich-klaustrophoben (in Gestalt der 10 Vgl. Suvin 1972, S. 318–339. In seiner berühmten Rede The Two Cultures (1959) über die Teilung der spätmodernen Gesellschaften des kapitalistischen Westens in zwei getrennte Wissenschaftskulturen – eine geisteswissenschaftliche und eine naturwissenschaftliche – galt C. P. Snow gerade die Sowjetunion als positives Vorbild, wie diese kulturelle Kluft überwundern werden könnte; vgl. Kreuzer 1987. 11 Judith Merril hatte sich im Zuge der New Wave zuletzt dafür stark gemacht, eher von „speculative fiction“ zu sprechen, da es sich bei den meisten Werken nicht um wissenschaftliche Fiktionen im engeren Sinne handele; vgl. Merril 1966, S. 30–46; siehe auch das Themenheft „A History of Science Fiction Criticism“ (Science Fiction Studies 26, 1999, H. 2). 12 Der Titel der Reihe geht auf die Kurzgeschichte „The Fall of the House of Usher“ (1839) von Edgar Allan Poe zurück. Zu Kalju Kirde vgl. auch Rottensteiner 2013b, S. 251–256. 13 Rottensteiner 1971.
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verschachtelt-aperspektivischen Raumfluchten), von kosmisch-abgründigen (in Gestalt der zerklüftet-hohlweltlichen Mondlandschaften) und eklig- unheimlichen Motiven (in Gestalt der Ratte) versprach fast schon „surrealistische“ Leseerfahrungen (Abb. 7.2).14 Zugleich sollte dieser Eröffnungsband von „Science Fiction Insel“15 – so die programmatische Ansage auf dem Buchumschlag – als ein neuer Verlagsschwerpunkt in der Broschüre des Insel-Verlags wie folgt beworben werden: Science Fiction – (noch) phantastische Wirklichkeit. Die Science Fiction ist ein Kind der technischen Zivilisation, ein unverkennbares Produkt des 20. Jahrhunderts; ihre Wurzeln jedoch sind uralt: Mythen, Utopien, exotische Reiseerzählungen, Märchen. Sie entsprang der ewigen Sehnsucht des Menschen zu erforschen, was hinter dem nächsten Hügel liegt, und den Schleier der Zukunft zu lüften. […] Wenngleich die SF primär als anglo-amerikanisches Phänomen gilt […], ist sie doch international. Ihre Ursprünge lagen in Europa; außer Wells, Verne und Čapek gab es in Deutschland Kurd Laßwitz und Paul Scheerbart, in der Sowjetunion Alexei Tolstoi und Konstantin Ziolkowski, in Polen Jerzy Zulawski, in Ungarn Maurus Jokai […]. Eine zentrale Stellung wird dabei das Werk des Polen Stanislaw Lem einnehmen, der an Weite des Horizonts und Vielseitigkeit der Bildung sowohl wie an literarischer Qualität seiner Werke als der moderne H. G. Wells gelten muß. […] Insel Science Fiction bedeutet Vorwegnahme zukünftiger Entwicklungen, blendende, gedanklich fundierte Unterhaltung für Menschen, denen die Zukunft mehr ist als eine Flucht vor dem Heute: eine Vision anderer Zeiten und Welten, die in verfremdeter Form Wahrheiten über unsere Welt enthält.16
In dieser Ankündigung finden sich alle jene Elemente, die damals an dem Genre faszinierten: der Verweis auf das „anglo-amerikanische“ Modephänomen, auf die technisch-zivilisatorische Zeitgenossenschaft, auf die Faszination für andere denkbare Zukunftswelten und gleichzeitig – und das mag vielleicht spezifisch für das Zielpublikum des Inselverlags gedacht gewesen sein – der ausdrückliche Hinweis auf die europäischen Ursprünge, die vielseitigen Bildungsgehalte und die literarische Qualität der vorgestellten Werke. Selbst das Charakteristikum der „Verfremdung“, das Suvin der Poetik der Gattung zuschrieb, findet sich „in verfremdeter Form“ in dem Werbetext wieder.
14 Wenske hatte sich seit 1967 bereits durch seine psychedelischen Covergestaltungen für das Plattenlabel Bellaphone Records in Frankfurt einen Namen gemacht; siehe auch Rottensteiner 2013a, S. 257–262. 15 Dem waren lange Diskussionen über mögliche Reihentitel vorausgegangen; vgl. den im November 1970 einsetzenden Briefwechsel zwischen Berthel und Rottensteiner. 16 Vorschlag für den Broschüretext von Franz Rottensteiner an Werner Berthel, 12. Juli 1971; SUA.
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Bereits 1972 ging man dann mit einer neuen Buchreihe an den Start, die nach vielfachen Diskussionen im Verlagsprogramm unter dem Doppeltitel „Phantastische Wirklichkeit / Science Fiction der Welt“ geführt wurde und in der unter dem H. G. Wells entlehnten Motto „The Shape of Things to Come“ bis 1975 bis zu fünf Bände jährlich publiziert wurden, deren Umschläge alle von Wenske gestaltet wurden.17 (Abb. 7.3) Gleichzeitig widmet sich der im selben Jahr von Franz Rottensteiner herausgegebene Almanach des Insel-Verlags gänzlich dem Thema, wodurch auf breiter Front Werbung für den neuen Verlagsschwerpunkt gemacht werden sollte.18 Wie in dem Broschüretext bereits angekündigt, wird Stanisław Lem der Hauptautor der Reihe „Science Fiction der Welt“, aber auch die ersten Werke von Arkadij und Boris Strugackij erscheinen hier seit 1973.19 Weitere osteuropäische Autoren finden jedoch keinen Eingang in die Reihe. Auch in der „Bibliothek des Hauses Usher“ waren 1971 und 1974 zwei von Klaus Staemmler übersetzte Bände des polnischen Autors der Zwischenkriegszeit Stefan Grabiński vertreten.20 Ab 1974 erscheint beim Insel-Taschenbuchverlag außerdem ein Almanach für phantastische Literatur, Phaicon, herausgegeben von Rein A. Zondergeld, in dem ebenfalls Werke von Lem sowie im zweiten Band ein Essay des polnischen Kritikers Andrzej Zgorzelski zu einer systematischen Kategorisierung der phantastischen Literatur publiziert wurden.21 Im Jahr 1973 wird dann endlich auch der schon seit längerer Zeit von Rottensteiner vertretene Vorschlag umgesetzt, einen Almanach für Science-Fiction im Taschenbuchformat zu drucken, der eine „Marktlücke schließen“ und Werbung für die teureren Buchreihen machen soll.22 Im ersten Band des von Rotten17 Allerdings blieb das auf dem ersten Band 1971 erschienene Signum „Science Fiction Insel“ für die Reihe weiterhin auf den meisten Buchumschlägen stehen, während der Reihentitel „Science Fiction der Welt / Phantastische Wirklichkeit“ auf der Rückseite des Schutzumschlags zusammen mit dem Motto aufgeführt wurde. 18 Vgl. Rottensteiner 1972. 19 Vgl. die Bände mit Erzählungen: Lem, Stanisław: Nacht und Schimmel, 1972; ders.: Die Jagd, 1976; Strugatzki, Arkadi und Boris: Die zweite Invasion auf der Erde, 1994. Dieser Band enthielt neben dem titelgebenden Kurzroman (der erst 1984 als 139. Band der „Phantastischen Bibliothek“ unter dem korrekten Übersetzungstitel Die zweite Invasion der Marsianer erneut erscheinen sollte) noch den Kurzroman Das Märchen von der Trojka. Außerhalb der Reihe erschienen zudem 1973 im Insel Verlag noch Lems Die vollkommene Leere mit einem vom Hans Ulrich und Ute Osterwalder gestalteten Umschlag sowie Die Sterntagebücher mit Zeichnungen des Autors, für die man die Übersetzung des DDR- Verlags Volk und Welt von Caesar Rymarowicz übernahm (1961, 1973). 20 Grabiński 1971; ders. 1974. 21 Vgl. Zondergeld 1974; ders. 1975. 22 So Berthel an Siegfried Unseld, Brief vom 5. April 1972; SUA.
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steiner selber herausgegebenen „Science Fiction Almanachs“ Polaris findet sich ebenfalls ein Text von Lem. Bis 1975 folgten bei Insel noch zwei weitere Bände des Almanachs, wobei der zweite Band ausschließlich zeitgenössischen sowjetischen Autoren gewidmet ist. Neben den Brüdern Strugackij werden auch Werke von Vadim Šefner, Sever Gansovskij und Ilja Varšavskij gedruckt. In Band 3 fanden sich dann Science-Fiction-Erzählungen des tschechischen Autors J osef Nesvadba und des ungarischen Schriftstellers Frigyes Karinthy.23 Der mediale und verhältnismäßig gute kommerzielle Erfolg von Lems Werken führt dazu, dass auch der Suhrkamp-Verlag bereits seit 1973 beginnt, gebundene Bücher von ihm zu drucken.24 Den Anfang machten Lems Robotermärchen und ein Jahr später der autobiographische Roman Das hohe Schloß, die beide in die „Bibliothek Suhrkamp“ (Band 366 und 405) aufgenommen werden und so der „Befreiungstaktik“ des Autors dienen, „sich von dem Science Fiction Morast abzusondern.“25 Ab 1975 werden gebundene Buchausgaben von Lem auch als Suhrkamp-Taschenbücher wiederaufgelegt.26 Im Zuge einer Umstrukturierung des Verlagsprogramms beschließt man dann noch im selben Jahr, keine phantastische Literatur und Science-Fiction mehr bei Insel zu verlegen und stattdessen alles in einer reinen Taschenbuch- Reihe zu bündeln. Dies führt anfangs zu massiven Verstimmungen, da man seitens des Verlags versucht, Rottensteiner an den Rand zu drängen, zumal er nicht mehr als Herausgeber fungieren darf, da es prinzipiell keine Herausgeber von Suhrkamp-Reihen gäbe.27 Doch durch den Einsatz von Berthel für die Reihe ging dann im November 1976 endlich die „Phantastische Bibliothek“ mit gleich drei Bänden an den Start, wobei auch diese von Lem mit
23 Vgl. Rottensteiner 1973; ders.: 1974; ders 1975. 24 Vgl. hierzu die Presseauswertungen bei Rzeszotnik 2003. 25 So Lem in einem Brief an Berthel bereits vom 17.9.1972 (SUA). Im Jahr 1974 erschienen auch Bruno Schulzs Die Zimtläden in der Übersetzung von Josef Hahn in der „Bibliothek Suhrkamp“, die aber nicht als phantastische Literatur geführt oder vermarktet wurden (Bd. 377). Von Lem erschienen in der „Bibliothek Suhrkamp“ in den Folgejahren noch Der Futurologische Kongreß (1975, Bd. 477), Die Maske. Herr F. Zwei Erzählungen (1977, Bd. 561), Golem XIV und andere Prosa (1978, Bd. 603), Die Provokation (1981, Bd. 740) und die der „Kyberiade“ entnommene Geschichte von den drei geschichtenerzählenden Maschinen des Königs Genius (1985, Bd. 867). 26 Hierbei handelte es sich 1975 um Lems Roman Solaris, für den man sich zunächst nur die Taschenbuchrechte von Marion von Schröder gesichert hatte. Siehe hierzu weiter unten; Lem: Solaris 1975; bereits 1972 war Altmanns Übersetzung von Lovecrafts Geschichten (Insel 1968) Cthulhu als „suhrkamp taschenbuch“ neu aufgelegt worden (st 29). 27 Siehe hierzu der Briefwechsel der Jahre 1975 und 1976 zwischen Berthel und Rottensteiner; SUA.
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dem Erzählungsband Nacht und Schimmel eröffnet wurde.28 Die nach dem Weggang von Berthel 1980 allein von Rottensteiner betreute Reihe hatte in der Folgezeit einen so großen Erfolg, dass sie bis 1999 fortgesetzt wurde mit insgesamt 360 Reihentiteln, was einem Schnitt von mehr als 15 Titeln im Jahr entspricht.29 Die ersten zehn Jahre erschien die Taschenbuchserie in ihrem charakteristischen rosa-violetten Layout, was sie unverwechselbar machte. Zugleich waren die Buchumschläge deutlich an der „edition suhrkamp“ orientiert, die deren Designer Willy Fleckenhaus zusammen mit Rolf Staudt entworfen hatten. Einzig die quadratischen Abbildungen unter dem jeweiligen Buchtitel unterschieden die Bände von den übrigen Suhrkamp-Reihen, deren psychedelisch anmutende Motive zudem auf die Cover der beiden eingestellten Insel-Reihen verwiesen und so eine gewisse Kontinuität symbolisierten (Abb. 7.4). Auch die beiden Almanache wurden im Rahmen der Reihe fortgeführt. Der von Rein A. Zondergeld herausgegebene Almanach der phantastischen Literatur Phaïcon erschien von 1978 bis 1982 noch dreimal (Nr. 3 als Bd. 17 1978, Nr. 4 als Bd. 44 1980, Nr. 5 als Bd. 86 1982), er brachte allerdings keine osteuropäischen Autoren mehr. Rottensteiner gab noch sieben Nummern des Science- fiction-Almanachs Polaris von 1978 bis 1986 heraus, in denen abgesehen von Lem kaum Schriftsteller aus dem Osten Europas vertreten waren. Allerdings widmete sich die letzte, zehnte Nummer ausschließlich dem Werk der Brüder Arkadij und Boris Strugackij.30 Ab 1987 wird die monochrome Umschlaggestaltung dann mehr und mehr zurückgenommen. Die Titel werden gefälliger, anfangs ist das Rosa-Violette als Wiedererkennungsmerkmal noch in der Schriftfarbe zu finden, ehe auch das verschwindet und die Reihe äußerlich nicht mehr von anderen Taschenbüchern zu unterscheiden ist (Abb. 7.5). 1998 trennt sich der Suhrkamp-Verlag dann von Rottensteiner, und ein Jahr später wird die Reihe ganz aufgegeben. Seitdem gibt es eigentlich keine Phantastik oder Science-Fiction mehr bei Suhrkamp, wenn man von den wenigen Neuauflagen von Lem und Lovecraft oder den seltenen Ausnahmen wie Dietmar Dath absieht.
28 Vgl. Lem: Nacht und Schimmel 1976. Die anderen beiden Bände stellten unheimliche Geschichten von H. P. Lovecraft (Das Ding auf der Schwelle, Bd. 2) und ein Roman von Herbert W. Franke (Ypsilon minus, Bd. 3) dar. 29 Auch neu aufgelegte Bände aus dem Bereich der phantastischen Literatur und Science- Fiction oder neue Zusammenstellungen von Werken wurden in die Zählung der „Phantastischen Bibliothek“ aufgenommen, was gewisse Doppelungen mit einschließt und bedeutet, dass nicht ganz so viele Werke jährlich wirklich auch neu herausgegeben wurden. Vgl. Meinetsberger 2012. 30 Vgl. Rottensteiner 1986.
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Die Phantastische Bibliothek als Kulturvermittler zwischen Ost und West
Wirft man einen genaueren Blick auf die in der Reihe „Phantastische Bibliothek“ verlegten Bücher, dann lässt sich generell sagen, dass der Insel-Verlag beziehungsweise ab 1975 der Suhrkamp-Verlag relativ spät damit angefangen haben, Phantastik und Science-Fiction zu verlegen. Dies hatte zur Folge, dass sie für die Autoren einer anspruchsvolleren Science-Fiction wie die Vertreter der New Wave, aber auch für die Klassiker oft keine Rechte mehr bekommen haben. Häufig war der Verlag aber auch einfach nicht willens, die geforderten Preise für die Rechte zu zahlen.31 Von den namhafteren Schriftstellern sicherte sich Suhrkamp lediglich die Lizenzen für einige Werke von James Graham Ballard und Philip K. Dick. Stattdessen griff man immer wieder auf Erzählungsbände und Anthologien zurück, da hier leichter (und günstiger) Rechte zu haben waren und diese sich seinerzeit gut verkauften.32 An bekannteren zeitgenössischen deutschsprachigen Science-Fiction-Autoren konnten aus Österreich Herbert W. Franke und aus der DDR Johanna und Günter Braun sowie Angela und Karlheinz Steinmüller für die Reihe gewonnen werden.33 Ansonsten bestand das große Verdienst der Serie darin, vergriffene oder vergessene Klassiker wieder in Erinnerung zu bringen, verkannte Autoren überhaupt erst neu zu entdecken und bemerkenswerte Anthologien vor allem aus Polen und der DDR für den bundesrepublikanischen Markt zu erschließen. Wiederholt wurden weniger bekannte Namen zusammen mit namhaften Schriftstellern publiziert, so dass diese auch ein größeres Publikum erreichten.34 31 So bemühte sich Rottensteiner beispielsweise um Ursula K. Le Guins Roman The Left Hand of Darkness (1969), der 1970 die beiden prestigeträchtigsten Preise für Science- Fiction, den Hugo und den Nebula Award, als bester Roman des Jahres erhalten hatte, doch Suhrkamp war nicht bereit, die geforderten 3.000 DM für die Rechte zu bieten. So erschien der Roman 1974 unter dem Titel Der Winterplanet bei Heyne in der Übersetzung von Gisela Stege und im selben Jahr noch unter dem gleichen Titel beim Verlag Das Neue Berlin in der DDR. Vgl. den Brief von Rottensteiner an Berthel, 11.12.1970; SUA. Für H. G. Wells, den Rottensteiner gerne 1971 in die Insel-Reihe aufnehmen wollte, waren bereits längst alle Rechte vergeben, Brief vom 8.12.1970; SUA. 32 Vgl. beispielsweise die beiden Bände mit Erzählungen Herren im All (1983) und Sternträumer (1991) von Cordwainer Smith, die zuvor beide bereits 1973 beziehungsweise 1975 in der Insel-Reihe „Science Fiction der Welt/Phantastische Wirklichkeit“ erschienen waren. 33 Der Suhrkamp-Verlag war in Bezug auf die Brauns insofern von zentraler Bedeutung, als die „Phantastische Bibliothek“ in den 1980-er Jahren angefangen mit dem „utopischen Roman“ Das kugeltranszendentale Vorhaben (PhB 109,1983) viele ihrer Werke erstmals publizierte, die in der DDR nicht oder nur sehr viel später erscheinen konnten. 34 Im Briefwechsel von Berthel und Rottensteiner wird für die ca. 12 Bände pro Jahr im Schnitt eine Erstauflage von ca. 10.000 Exemplaren genannt, für die Almanache werden sogar 15.000 veranschlagt.
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Was die osteuropäische Literatur anbelangt, so war ihr Anteil im Bereich der bei Suhrkamp publizierten Phantastik und Science Fiction von Anfang an vergleichsweise hoch. Dies lag jedoch vornehmlich an Lem, dessen Werk 15 bis 20 Prozent aller phantastischen Literatur ausmachte, je nachdem, ob man die Neuauflagen mit einrechnet – womit aber der Anteil osteuropäischer Autoren etwas höher als im Durchschnitt des Gesamtprogramms des Verlages lag. Deren Zusammensetzung lässt sich nochmal in folgende Gruppen untergliedern. Erstens handelt es sich hierbei um die lebenden zeitgenössischen Autoren, wobei dies neben Stanisław Lem vor allem die Brüder Arkadij und Boris Strugackij sind: Von den 370 Bänden der Bibliothek machten allein 40 Lems Werke, 22 immerhin Schriften von den Strugackijs aus. Hinzu kamen zwei Bände mit Science-Fiction-Erzählungen des tschechischen Autors Josef Nesvadba (1926–2005)35 und ganz zum Ende der 1990-er Jahre noch zwei phantastische Romane des jungen serbischen Autors Mihajlo Kažić (*1960).36 Auch von Vadim Šefner (1915–2002) wurde 1990 ein Band mit phantastischen Erzählungen veröffentlicht.37 Ansonsten kamen Autoren wie Vladimir Colin (1921–1991), Sever Gansovskij (1918–1990), Jaroslav Veis (*1946), Ilja Varšavskij (1908–1974) oder Januzsz A. Zajdel (1938–1985) lediglich in Anthologien und den unzähligen Sammelbänden vor.38 Bei der zweiten Gruppe handelt es sich um vergriffene und vergessene Klassiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Verfasser phantastischer Literatur wie die polnischen Autoren Antoni Słomiński (1895–1976), Jerzy Żuławski (1874–1915) und Stefan Grabiński (1887–1936), die tschechischen Karel Čapek (1890–1938) und Jan Weiss (1892–1972) oder russische Schriftsteller wie Valerij Brjusov (1873–1924) und Aleksandr Grin (1880–1932) bekamen eigene Bände in der „Phantastischen Bibliothek“.39 Die dritte Gruppe umfasst von Franz Rottensteiner herausgegebene oder von ihm für die „Phantastische Bibliothek“ angeforderte Anthologien oder thematische Sammelbände, die meistens auf bestimmte Nationalliteraturen angelegt waren, aber auch einem eingängigen 35 Nesvadba 1983; ders. 1998. 36 Kažić, 1996; ders. 1999. 37 Schefner 1990. 38 Rechnet man die DDR-Autorinnen und Autoren hinzu, sind vor allem Johanna und Günter Braun zu nennen, von denen zwischen 1981 und 1991 insgesamt neun Bände in der „Phantastischen Bibliothek“ erschienen sind. Von Angela und Karlheinz Steinmüller kamen zwei eigene Bände 1985 (PhB 147) und 1988 (PhB 204) heraus. 39 Hier wurde durchaus auch Pionierarbeit geleistet; so war Grabiński seinerzeit eine Entdeckung Staemmlers für die „Bibliothek des Hauses Usher“, und von Żuławskis Mondtrilogie Auf dem Silbermond (PhB 88, 1983), Der Sieger (PhB 101, 1983) und Die alte Erde (PhB 113, 1983) war auf Deutsch bislang nur der erste Band 1914 erschienen, Edda Werfels Übersetzung war die erste des gesamten Zyklus.
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Thema phantastischer Literatur gewidmet sein konnten.40 Dabei handelte es sich bei vielen Bänden, die osteuropäischen Nationalliteraturen gewidmet oder vor allem mit osteuropäischen Autoren bestückt waren, um Lizenzausgaben von DDR-Verlagen. Diese veränderte man kaum, was auch für viele der wieder aufgelegten älteren Autoren galt, bei denen es sich häufig um Übernahmen von DDR-Bänden handelte.41 Fragt man vor diesem Hintergrund der Publikationspraxis nach der spezifischen Rolle des Verlages als Vermittler beziehungsweise nach den für ihn tätigen Vermittlerfiguren zwischen Ost und West, zwischen Verlag und osteuropäischen Autoren, dann ergibt sich vom Archiv aus betrachtet ein ambivalentes Bild. Denn der Insel-Verlag und später Suhrkamp kamen nicht nur für die Vermittlung angloamerikanischer Science-Fiction um 1970 ziemlich spät auf den Markt, auch für die osteuropäische Phantastik und Science-Fiction kann man ihnen nur mit Einschränkungen Pionierleistungen zuschreiben. Denn deren großer Boom lag in der Tauwetterzeit, zur Zeit der großen Weltraumeuphorie um Sputnik und Jurij Gagarin, als literaturpolitisch eine relative Liberalisierung eingetreten war. Das goldene Zeitalter der osteuropäischen Science-Fiction-Literatur war bereits in den 1960-er Jahren. Bis 1970 hatte Stanisław Lem seine meisten großen Romane und Literaturexperimente bereits geschrieben, die erste Zusammenstellung der Sterntagebücher erschien bereits 1957, Solaris 1961, die Robotermärchen 1964 und Die Stimme des Herrn 1968. Auch die Brüder Strugackij hatten schon einen beträchtlichen Teil ihres Werks vorgelegt, 1962 Fluchtversuch, 1964 Ein Gott zu sein ist schwer, 1967 Die zweite Invasion der Marsianer und 1969 Die bewohnte Insel. Viele als ideologisch unproblematisch geltende Frühwerke waren zudem bereits seit den 1950-er 40 Der Übersetzer aus dem Polnischen, Klaus Staemmler (1921–1999), hat beispielsweise den Band Phantasma. Polnische Geschichten aus dieser und jener Zeit (Phantastische Bibliothek, Bd. 77, 1982) herausgegeben. Die Slawistin Elisabeth Cheauré stellte 1983 den Band Tod per Zeitungsanzeige und andere phantastische Erzählungen aus Rußland (Philosophische Bibliothek, Bd. 94) zusammen, oder die Übersetzerin aus dem Russischen Dagmar Kassek verantwortete 1997 Autobiographie einer Leiche. Russische phantastische Erzählungen (Phantastische Bibliothek, Bd. 341). 41 So war beispielsweise der von Klaus Städtke herausgegebene Band Die Republik des Südkreuzes von Valeri Brjussow (Phantastische Bibliothek, Bd. 270, 1990) eine Übernahme des Verlages Rütten & Loening, der dort 1987 unter dem Titel Nur der Morgen der Liebe ist schön. Erzählungen und zwei Dramen erschienen war. Bei den Bänden Beherrscher der Zeit (Phantastische Bibliothek, Bd. 176, 1986) und Das namenlose Grabmal (Phantastische Bibliothek, Bd. 169, 1980), herausgegeben von Julian Tuwim (1894–1953), handelt es sich um die Übernahme der ursprünglich einbändigen Anthologie Pinettis Weiße Rose, die 1982 beim Verlag Gustav Kiepenheuer (Leipzig und Weimar) erschienen ist, die wiederum auf eine 1949 von Tuwim auf Polnisch pulbizierte Zusammenstellung phantastischer Novellen zurückgeht.
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Jahren in der DDR verlegt worden, wie beispielsweise Lems Planet des Todes (1954) und Der Unbesiegbare (1967) oder Strugackijs Atomvulkan Golkonda (1961).42 Doch bis auf Lem, von dem sich bereits ein westdeutscher Verlag – Marion von Schröder – unter anderem die Rechte an Solaris (dt. 1972) und Transfer (dt. 1974, Originaltitel: Rückkehr von den Sternen, 1964) gesichert hatte, für die Suhrkamp später lediglich die Taschenbuchrechte bekommen konnte, waren osteuropäische oder gar sowjetische Autoren auf dem bundesrepublikanischen Markt nicht vertreten. Wie wenig man tatsächlich über die Blüte der Gattung jenseits des Eisernen Vorhangs wusste, macht ein Brief deutlich, den Rottensteiner im November 1970 an Berthel schrieb: Wie stehen Sie zu der Idee, auch russische SF zu bringen? Ich kenne da einen Philologen, der dabei ist, auf eigenes Risiko einen russischen SF-Roman zu übersetzen (einen anderen hat er bereits placiert). Die Autoren des Romans sind in Schwierigkeiten geraten, weil sie unter dem Vorwand, gegen Faschisten zu schreiben, den Stalinismus angegriffen haben. Schon aus diesem Grund müsste der (gute) Roman im Westen ankommen. Er bietet zudem den angenehmen Vorteil, dass er bereits in deutscher Sprache lektoriert wird.43
Gemeint waren hier die Brüder Strugackij, die aufgrund zweier fantastischer Satiren auf die sowjetische Bürokratie, die Kurzromane Schnecke am Abhang (1966) und Märchen von der Trojka (1968), Ende der 1960-er Jahre massive Probleme mit der Zensur bekamen.44 Frühere Romane wie Fluchtversuch (1962) oder Es ist schwer ein Gott zu sein (1964), die explizit den Faschismus thematisierten, aber genauso gut als eine Allegorie auf den Stalinismus lesbar waren, hatten hingegen noch keine Probleme bereitet. Offensichtlich wusste man 1970 42 Vgl. Schwartz 2003. 43 Rottensteiner an Berthel, 23.11.1970; SUA. 44 Das Märchen von der Trojka, bei dem es sich wahrscheinlich um das genannte, bereits übersetzte Manuskript handelt, ist dann tatsächlich 1973 in der Insel-Reihe „Phantastische Wirklichkeit / Science Fiction der Welt“ erschienen; Schnecke am Abhang hingegen erst 1978 in der „Phantastischen Bibliothek“ (Bd. 309). Dies hatte womöglich auch damit zu tun, dass die antikommunistische Emigrantenpresse Anfang der 1970-er Jahre neben den beiden Kurzromanen auch den bislang nur im sowjetischen Untergrund (dem so genannten Samizdat) kursierenden Roman Hässliche Schwäne (1972) publiziert hatte, was die Autoren dazu zwang, sich öffentlich von diesen Raubdrucken zu distanzieren. Da Schnecke am Abhang in der UdSSR nur in Auszügen in Zeitschriften 1966 und 1968 veröffentlicht und daraufhin mit einem Publikationsverbot belegt worden war, wollte man den Autoren womöglich keine weiteren Probleme bereiten. Auf eine Veröffentlichung der Hässlichen Schwäne verzichtete man hingegen gänzlich, sie erschienen 1978 erstmals bei Heyne auf Deutsch; vgl. auch Simon 2013, S. 15–43.
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im Westen noch äußerst wenig über die sowjetische Science-Fiction, nicht einmal die Autorennamen sind den beiden „Kulturvermittlern“ geläufig. Da es allerdings angesichts der sonstigen Konkurrenz gilt, überhaupt noch gute Autoren zu bekommen, und Rottensteiner und auch Berthel sehr daran interessiert waren, auch abseits der offiziellen Kanäle Science-Fiction aus dem Osten Europas zu publizieren, kauft man ohne genauere Kenntnis von deren Inhalt alle Rechte der Strugackijs, die habhaft sind. Rottensteiner macht diesbezüglich großen Druck, denn viele Vorschläge, die er betreffs westlicher Autoren für die Science-Fiction-Reihe macht, scheitern daran, dass die Rechte bereits an andere Verlage vergeben sind beziehungsweise der Suhrkamp-Verlag nicht bereit ist, die geforderten Preise zu zahlen. Außerdem rechnet man mit langen Wartezeiten, bis man die Lizenzen aus der DDR beziehungsweise der Sowjetunion bekommt. Rottensteiner warnt davor, wie unendlich langsam die Russen sein könnten.45 Doch wider Erwarten geht es ungeachtet aller Probleme, die die Strugackijs innerhalb der Sowjetunion gerade haben, erstaunlich schnell und unkompliziert. Für die angefragten Werke bekommt man bereits nach nur einem Monat die Lizenz. Doch daraus ergeben sich neue Probleme, wie Rottensteiner am 15. Februar an Berthel schreibt: Lieber Herr Berthel, es ist sehr erfreulich, dass wir die Rechte für die Strugazkis bekommen, allerdings ergeben sich daraus einige Schwierigkeiten. […] Den Roman [Montag beginnt am Samstag, Anm. MS] habe ich nämlich in meiner Bibliothek (wenngleich derzeit nach Kanada ausgeliehen), die übrigen Geschichten allerdings nicht, da sie z.T. nur an verborgenen Orten in winzigen Auflagen erschienen sind, den Brüdern Strugazki aber dennoch ein schweres Donnerwetter eingebracht haben; ich habe niemanden gefunden, der bereit wäre, diese seltenen Geschichten aus der Sowjetunion zu schicken; und selbst Lem, mein hauptsächlicher Gewährsmann (und bitte das unbedingt geheimzuhalten, er könnte die größten Schwierigkeiten bekommen), hat die Geschichten nur in Moskau gelesen, aber besitzt selbst keine Exemplare. Ich kann Ihnen im Augenblick nicht einmal sagen, welche Stories in einen Band gehen sollten, da ich die exakte Länge dieser Kurzromane nicht kenne; für einen wären sie wohl zu umfangreich; für zwei möglicherweise zu kurz. […] Ich habe das Problem seinerzeit nicht für dringlich gehalten, da ich ja diese Geschichte nur für später vorgesehen hatte und hoffte, sie mir bis dahin vielleicht doch noch zu verschaffen. Sie müssen also unbedingt darauf drängen, dass die Russen Leseexemplare zur Verfügung stellen, sonst haben die ganzen Verträge keinen Sinn.46
Man hatte also die Rechte für Werke, die man nur vom Hörensagen kannte, aber da das Hörensagen besagte, dass diese Werke ihren Autoren ein großes 45 Brief von Rottensteiner an Berthel, 8.2.1971; SUA. 46 Brief von Rottensteiner an Berthel, 15.2.1971; SUA.
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Donnerwetter eingebracht hatten, war das ein Jahr nach dem Nobelpreis für Aleksandr Solženicyn bereits ein zureichender Grund, diese unbedingt drucken zu wollen – und Lems Empfehlung war ja nicht die schlechteste. Das obige Zitat zeigt aber auch, dass es zumindest bei den Akteuren auf Seiten des Verlags nicht um irgendeine Vermittlung einer Kultur ging, die man bestens kannte und einem breiteren Publikum näherbringen wollte, sondern eher um eine Neugier auf unbekannte, aber vielversprechende Werke. Letztlich war man genauso „inkompetent“ wie die potenziellen Leser, aber man setzte auf einen Zeitgeist, den man nicht verschlafen wollte, und vertraute im Zeichen der Entspannung darauf, dass auch jenseits der Mauer lesbare wissenschaftliche Phantastik geschrieben werde, die zudem systemkritische Einblicke in den sozialistischen Obrigkeitsstaat versprach. Wie mühsam im vordigitalen Zeitalter des Ost-West-Konflikts es aber war, an entsprechende Werke zu kommen, bezeugt der Brief ebenfalls. Dabei waren es nicht die Zensur oder staatliche Kontrollinstitutionen, die die größten Probleme bereiteten, sondern die banale Schwierigkeit, überhaupt ein Exemplar der angefragten Bücher aufzutreiben und über die Grenze zu bekommen. Letztlich sind es dann ebenfalls die staatlichen Lizenzbehörden, die dem Verlag die angefragten Bücher zusenden, und die Werke der Strugackijs wie auch die übrigen osteuropäischen Bände in der Phantastischen Bibliothek werden ein Erfolg.47 Science-Fiction und phantastische Literatur im günstigen Taschenbuchformat verkaufen sich bestens – Anthologien und Sammelbände genauso wie Romane werden in den 1970-er, aber auch noch in den 1980-er Jahren meist mit einer Startauflage von mindestens 10.000 Exemplaren, manchmal sogar von 50.000 Exemplaren gedruckt.48 Erst in den 1990er Jahren gingen die Auflagen insgesamt merklich zurück. Stanisław Lem aber wird zum Großschriftsteller der „Phantastischen Bibliothek“ und ein Bestsellerautor, von dessen Taschenbüchern 10 bis 13 tausend Exemplare jährlich abgesetzt werden.49 1991 lässt Lem selber einmal von seinem Literaturagenten die Gesamtauflage beim Suhrkamp-Verlag ausrechnen, und kommt auf gut 2,5 Millionen gedruckte Exemplare.50 Doch ungeachtet allen 47 Vergleich der entsprechende Briefwechsel zwischen Rottensteiner und Berthel 1972 bis 1975; SUA. 48 Siehe ebd. 1975 bis 1979. Die von Rottensteiner herausgegebene Jubiläums-Anthologie Phantastische Träume (PhB 100) als 100. Band der „Phantastischen Bibliothek“ mit Werken u.a. von Lem, Colin, Nesvadba und Grabiński erschien beispielsweise 1983 mit einer Startauflage von 50.000 Exemplaren, erlebte aber noch mehrere Nachauflagen und kam insgesamt auf eine Buchauflage von 90.000. 49 Brief von Lem an Berthel, 12.9.1977; SUA. 50 Brief von Lem an Gottfried Honnefelder, 16.10.1991; SUA.
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Renommees und der Etablierung der Reihe steigt in den 1980-er und 90-er Jahren die Expertise beim Verlag und in dessen Umfeld nicht. Weder im universitären Bereich der Slawistik noch bei den Literaturkritikern, Verlagsgutachtern oder Lektoren gibt es kompetente Experten, die sich als Literaturvermittler im engeren Sinne bezeichnen ließen.51 Es gibt in den letzten beiden Jahrzehnten bis auf eine Ausnahme keinen einzigen zeitgenössischen oder älteren Autoren aus dem Osten Europas mehr, der für die Reihe vom Verlag neu entdeckt worden wäre.52 Immer wieder griff man auf für gut befundene Bände und Übersetzungen zurück, die zuvor in der DDR erschienen waren. Zudem besteht von Anfang an das leidige Problem der Übersetzer – man hat nicht genug einschlägige Experten auf dem Gebiet. Insbesondere für Lem – der selber sehr gut Deutsch spricht – findet sich niemand, der ihn zufriedenstellend übersetzen würde. Häufig übernimmt man – nicht nur von den früheren Büchern – aus Kostengründen Übersetzungen aus der DDR, wie diese auch umgekehrt Lizenzen von Suhrkamp-Übersetzungen druckt.53 Die ganzen siebziger Jahre ist diese Frage ein ständiges Thema, die Lem teils zur Verzweiflung, teils zur Weißglut bringt und mehrmals drohen lässt, mit dem Suhrkamp-Verlag gänzlich zu brechen.54 So gibt es zwar die „Phantastische Bibliothek“ mit ihrem bemerkenswert großen Anteil an osteuropäischen Autoren und Werken, doch wenn man 51 Das hatte auch mit dem Weggang von Berthel 1980 zu tun, durch den es generell keine Kompetenz für phantastische Literatur und Science-Fiction innerhalb des Verlags mehr gab, weswegen Dr. Gottfried Honnelfelder dann Rottensteiner einen offiziellen Beratervertrag für die Reihe antrug. Doch das Interesse des Verlags bestand zu dieser Zeit nur noch daran, die Reihe als Umsatzbringerin und Selbstläufer zur Finanzierung „echter“ Literatur zu halten. So ist es bezeichnend, dass der einzige Band, der Studien über Lem gewidmet ist, noch von Werner Berthel selber herausgegeben wurde; vgl. ders. (Hg.) 1981. Von Lem angeregt sind zudem noch zwei Übersetzungen aus dem Polnischen erschienen, 1986 die Studie Zufall und Ordnung (Phantastische Bibliothek, Bd. 180) zum Werk Lems von Jerzy Jarzębski sowie 1989 der Gesprächsband mit Stanisław Bereś Lem über Lem (Phantastische Bibliothek, Bd. 245). 52 Die Ausnahme ist der bereits erwähnte serbische Autor Mihajlo Kažić, von dem 1996 und 1999 noch zwei Romane erscheinen. Siehe Angaben oben. 53 So sind neben dem Frühwerk (siehe oben) auch Lokaltermin (Volk und Welt 1985) und Frieden auf Erden (Volk und Welt 1988 unter dem Titel Der Flop) in der Übersetzung von Robert Schumann von der DDR übernommen worden, die zeitgleich zuerst als gebundenes Buch bei Insel erschienenen, ehe sie als Taschenbuch 1987 (Bd. 200) beziehungsweise 1988 (Bd. 220) auch in der „Phantastischen Bibliothek“ erschienen. Umgekehrt kaufte die DDR auch westdeutsche Übersetzungen wie Friedrich Grieses Übertragung der Summa technologiae und der Philosophie des Zufalls, die 1980 beziehungsweise 1990 bei Volk und Welt erschienen. 54 Vgl. die entsprechenden Briefe von Lem an Berthel und Unseld. Siehe zum Beispiel die Notiz von Berthel an Dr. Unseld vom 29.8.1977; SUA. Siehe auch Lem 1976–1991.
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die Briefwechsel zwischen Rottensteiner und den Vertretern des Suhrkamp- Verlages liest, scheint es insbesondere nach dem Weggang Berthels in den achtziger und neunziger Jahren lediglich um die kostengünstige Verwaltung einer erfolgreichen Reihe zu gehen: Der Verlag will möglichst viele Lizenzausgaben aus dem Osten und gleichzeitig Lem bei der Stange halten. Eine innovative Publikationspolitik, die darauf zielen würde, im Bereich der phantastischen Literatur und Science-Fiction neue literarische Welten zu erschließen, ist seitens des Verlags nicht zu erkennen. 3
Die Phantastische Bibliothek im Kontext des Suhrkamp-Programms
Will man diesen „Passivismus des Verlags“55 in Hinsicht auf die phantastische Literatur und Science-Fiction verstehen, muss man diesen wahrscheinlich auch im Gesamtzusammenhang mit dessen Selbstverständnis betrachten, das später als „Suhrkamp-Kultur“ in die bundesrepublikanische Literaturgeschichte eingehen sollte: und zwar dem Anspruch des Verlags, ein Ort für moderne Literatur und Theorie zu sein, der immer am Geist der Zeit dran ist und zugleich den großen bildungsbürgerlichen Horizont europäischer Geistesgeschichte mit reflektiert. Science-Fiction als „Kind der technischen Zivilisation“, das „in verfremdeter Form Wahrheiten über unsere Welt enthält“, schien in diesem Sinne Anfang der 1970-er Jahre bestens in das Verlagsprofil zu passen – ein Versprechen, das Siegfried Unseld und die verantwortlichen Lektoren vor allem in der „Weite des Horizonts und Vielseitigkeit der Bildung“ wie in der hohen „literarischen Qualität“ des Werks von Lem verkörpert sahen. Doch gleichzeitig blieb das Versprechen anscheinend ein uneingelöstes, und die Gattung galt weiterhin als ein aus dem angloamerikanischen Raum kommendes Trivial-Genre, das dem Frankfurter Verlagshaus letztlich fremd blieb, wie sich symptomatisch an der Person Lems festmachen lässt. Denn einerseits war der „dialektische Weise aus Kraków“ (Rottensteiner) einer derjenigen, der es geschafft hatte, und das sicher auch dank des Engagements von Frank Rottensteiner und damit des Verlags, der die „Phantastische Bibliothek“ ermöglichte. Doch wie auch immer man die Suhrkamp-Kultur verstehen mag, dazugehört oder in ihr angekommen ist Lem nie. Und wenn man den Briefwechsel zwischen Lem und Unseld liest, lag das nicht nur an ihm. Denn seine große Mission bestand für ihn von Anfang an darin, ähnlich wie einige New 55 So Lem in einem Brief an Berthel über den Umgang mit Nebenrechten bei Suhrkamp, der „augenscheinlich unfähig“ sei, „als aktiver Verhandlungspartner meine Interessen optimal zu vertreten.“ Brief von Lem an Berthel, 10.9.1977; SUA.
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Wave-Autoren, Science-Fiction und insbesondere natürlich sein Werk endlich aus der Schmuddelecke der billigen Unterhaltung für die Massen herauszuholen. Und der prestigeträchtige westdeutsche Verlag war hierfür gewissermaßen der ideale Ort, um eine gänzlich neue „Poetik der Science-Fiction“ (Suvin) zu etablieren, eine intellektuell und philosophisch anspruchsvolle Literatur auf der Höhe des wissenschaftlich-technischen Zeitalters zu schreiben. So gibt es anfangs einige freundliche Briefe und auch Treffen zwischen Lem und dem „wohlgesinnten Hai des Kapitalismus Dr. Unseld“, doch richtig gefunkt zwischen ihnen hat es nie.56 Unseld verspricht Lem „Ruhm und Ehre“, lässt seine Kontakte spielen, stellt ihm gar den Nobelpreis in Aussicht.57 Noch 1976 ist Lem geradezu euphorisiert, weil der Verleger ihm eine Werksausgabe bereits zu Lebzeiten in Aussicht stellt, von fast 30 Bänden ist anfangs die Rede.58 Doch als Lem 1977 über das Berliner Künstlerprogramm des DAAD für ein Jahr nach Westberlin kommt, ist die Ernüchterung umso größer, die Konflikte häufen sich. Anfangs bekommt der lokale Vertreter des Verlags noch nicht einmal eine Lesung organisiert und setzt sie dann in den Sand. Und als Lem für den September zur Buchmesse desselben Jahres nach Frankfurt von Unseld persönlich zu einer Lesung in dessen Villa eingeladen wird, erhält er ein paar Tage später gleich wieder eine Ausladung, da gerade andere Autoren im Haus seien.59 Ein Absage, die auch als Affront deutbar ist: Lem gehörte eben nicht zu den „Hausautoren“, mit denen sich Unseld gerne umgab.60 Zudem versucht Unseld persönlich, ihm immer wieder seinen Agenten Wolfgang Thadewald abspenstig zu machen, was über die Jahre die Stimmung zusätzlich eintrübt.61 Außerdem hat man immer noch keinen Übersetzer für Lem, so dass Berthel Ende August 1977 in einer als „sehr dringend“ mit Ausrufungszeichen 56 Vgl. Lems Brief an seinen amerikanischen Übersetzer Michael Kandel vom 19.10.1974; ders 2008, S. 251. Entsprechend schreibt er in demselben Brief: „Der Bursche ist ein hervorragender businessman, aber wie es manchmal so ist, liegt ihm vielleicht noch mehr an dem, was für ihn unerreichbar ist, d.h. er will ein Intellektueller sein […].“ Lem 2008, S. 252–253. 57 Ebd., S. 253. 58 Vgl. Brief von Lem an Unseld, 17.3.1976; SUA. 59 Brief von Unseld an Lem, 1.8.1977; SUA. 60 Lem hatte anscheinend von dieser drohenden Ausladung Wind bekommen, zumindest schreibt er kurz vorher eine recht fadenscheinig begründete Absage der Einladung, die jedoch erst in Frankfurt eintrifft, als der Brief des Verlegers schon verschickt war, vgl. Brief von Lem an Unseld, 28.7.1977, eingetroffen im Verlag: 2.8.1977; SUA. 61 So schreibt Unseld einen Tag, nachdem er Lems Lesung im Haus abgesagt hatte, da das „Haus voll“ sei, betreffs Thadewald: „Um Bücher zu schreiben, brauchen Sie nach meinem Urteil keinen Agenten! Was ein Agent für sie tun kann, kann auch der Verlag für Sie tun. Vielleicht sollten wir uns darüber einmal unterhalten.“ (Brief von Unseld an Lem, 2.8.1977). Noch vier Jahre später hat sich diesbezüglich nichts verändert, so dass Rottensteiner an einen Verlagsvertreter einen alarmierten Brief schreibt, dass inzwischen ein „vergiftetes Klima“ zwischen Verlag und Autor herrsche, da der Eindruck entstanden sei,
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versehenen Notiz an Unseld festhält, der Autor sei auf eine „fast nicht mehr zu reparierende Weise verschnupft“.62 Die Enttäuschung auf Seiten von Lem saß tief: weit davon entfernt, sich als Hausautor und geschätzter Repräsentant der Suhrkamp-Literatur anerkannt zu sehen, fühlt er sich auf jegliche erdenkliche Art düpiert. Zwar wird die verschnupfte Stimmung mit Hilfe großzügiger finanzieller Angebote seitens des Verlags wieder eingerenkt. Doch das „vergiftete Klima“63 bleibt, so dass Lem kurz vor seiner Abreise aus Berlin zurück nach Krakau an Berthel schreibt, er habe Unseld zwar anfangs noch einen Abschiedsbrief schreiben wollen, dies aber sein gelassen, „weil ich eingesehen habe, dass es ja gar nichts gibt, wofür ich mich, wenn auch rein formell, bedanken sollte“.64 Als er 1984 eingeladen wird, für einen Jubiläumsband zum 60. Geburtstag des Verlegers einen Beitrag zu schreiben, lehnt er dies ab, da er „nicht im mindesten“ dessen „Speichellecker“ werden wolle.65 Entsprechend bleibt das Verhältnis von Lem zu seinem Verlag angespannt. Unseld versucht ihn zwar nicht zusätzlich zu vergrätzen, indem auch schlecht verkäufliche Werke, die in jedem Fall ein Minusgeschäft für Suhrkamp bedeuteten, übersetzt werden, wie 1977 beispielsweise die dicke, zweibändige Studie Phantastik und Futurologie (1970) oder die Philosophie des Zufalls (1968), die 1983 und 1985 in zwei Bänden im Insel-Verlag erscheint. Doch mit seinem letzten Roman Fiasko – danach hört Lem auf, Romane zu schreiben – geht er dann 1986 zum Fischer-Verlag, der ihm angeblich einen zehnmal höheren Vorschuss als Suhrkamp zahlt. Anfang der 2000-er Jahre bringt der Insel-Verlag dann zwar noch zwei Bände mit Essays von ihm, deren „prognostische Kraft“ in Form „eines sokratischen Zwiegesprächs über den Menschen“ in Bezug auf Die Technologiefalle (2000) Frank Schirrmacher seinerzeit noch begeistert gefeiert hat.66 Doch andere neuere Schriften – Essays und Briefwechsel – Suhrkamp wolle Lems Agenten Thadewald ausschalten, was unklug sei, da dieser mit jenem solidarisch sei. (Brief von Rottensteiner an Gottfried Honnelfelder, 18.6.1981; SUA). 62 Handschriftliche Notiz von Berthel an Dr. Unseld, 29.8.1977; SUA. Auch ein Jahr später ist das Problem keinesfalls gelöst, vgl. den Brief von Lem an Unseld, 12.11.1978, in: Lem 2008, S. 315–318. 63 Brief von Rottensteiner an Gottfried Honnelfelder, 18.6.1981, SUA. 64 Brief von Lem an Unseld, 10.09.1977; SUA. 65 Vgl. Brief von Lem an die Literaturwissenschaftlerin Dagmar Barnouw, 29.5.1986; in: Lem 2008, S. 371. Der Jubiläumsband erschien 1984 unter dem bezeichnenden Titel, der in dem Possessivpronomen die Lem nicht im mindesten behagenden Macht- und Besitzverhältnisse bei Suhrkamp markiert: Der Verleger und seine Autoren. Siegfried Unseld zum sechzigsten Geburtstag. 66 Schirrmacher 2000. Ein Jahr später folgte ebenfalls im Insel-Verlag noch die Sammlung Riskante Konzepte. Allerdings gab es auch andere Einschätzungen von Lems essayisti-
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e rscheinen schon nicht mehr bei Suhrkamp, sondern in anderen Verlagen.67 Suhrkamp beschränkt sich seit Ende der 1980-er Jahre auf Reprints der Lizenzen, die der Verlag hat, so 2009 mit einer sechs-bändigen Edition ausgewählter Werke. Die letzte Einzelpublikation liegt inzwischen Jahre zurück und stellt die Geschichte des Professors A. Donda aus den Sterntagebüchern dar, die 2012 in der Insel-Bücherei (Bd. 1368) erschien. Von einer aktiven Pflege des Werks, was auch kritische oder kommentierte Editionen und die Erschließung neuer Leserkreise beinhalten würde, kann mitnichten die Rede sein. Und auch den anderen osteuropäischen Autoren der „Phantastischen Bibliothek“ geht es ähnlich. Die letzten Romane der Brüder Strugackij hat man nicht mehr publiziert.68 Wohingegen ausgerechnet der für billigen Kommerz und leichte Unterhaltung zuständige Heyne-Verlag die Rechte übernommen und 2010 bis 2014 eine kritisch durchgesehene, um die seinerzeit zensierten Stellen ergänzte Werksausgabe in sechs Bänden in der Redaktion von Erik Simon vorgelegt hat. Abgesehen von wenigen zeitgenössischen Autoren wie Richard Calder, Dietmar Dath, Sarah Khan und Jean-Jacques Schuhl und Klassikern wie H. P. Lovecraft und Alfred Kubin findet sich phantastische Literatur nicht mehr im Programm.69 So ergibt sich im Rückblick ein zwiespältiges Bild: Science-Fiction und phantastische Literatur landeten Anfang der 1970-er Jahre über den Insel-Verlag im Suhrkamp-Programm, Mitte des Jahrzehnts wurden sie dann aufgrund ihres außergewöhnlichen kommerziellen Erfolgs und eines für wissenschaftlich- prognostische Fragen sensibilisierten Zeitgeistes in Form der „Phantastischen
schem Spätwerk. So weigerte sich der Übersetzer seiner großen Essays wie der Summa technologiae, Friedrich Griese, die beiden Bände zu übersetzen, und da sich diese zudem nicht verkauften, nahm dann auch der Verlag von weiteren Publikationen Abstand. 67 Die Megabit-Bombe. Essays zum Hyperspace (1999) erscheint 2003 im Verlag Heise Zeitschriften, ausgewählte Briefe von ihm 2008 im Parthas Verlag; siehe Lem 2008. Seine letzten beiden Essaysammlungen DyLEMaty (2003) und Rasa drapieżców – Teksty ostatnie (Die Rasse der Raubtiere – Letzte Texte, 2006) wurden hingegen gar nicht mehr auf Deutsch in Buchform publiziert. 68 Arkadi Strugackij hatte die Rechte ihrer letzten beiden gemeinsamen Romane an eine finnisch-russische Gesellschaft verkauft, von der sie dann Ullstein erwarb, wo Die Stadt der Verdammten 1993 und Die Last des Bösen 1994 erschienen. Boris Strugackijs zwei Romane Die Suche nach der Vorherbestimmung oder Der siebenundzwanzigste Lehrsatz der Ethik und Die Ohnmächtigen, die er auf Russisch unter dem Pseudonym S. Vitickij veröffentlichte, erschienen erst sehr viel später bei Klett-Cotta. 69 Allerdings ist 2018 eine Neuauflage von Boris Strugackijs erstem Roman Die Suche nach der Vorherbestimmung (st 4843) erschienen und es heißt, Suhrkamp plane wieder zwei Taschenbuch-Neuauflagen der Strugackijs: zum einen der Bewohnten Insel, zum anderen von Picknick am Wegesrand.
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ibliothek“ ins Verlagsangebot integriert.70 Nachdem man im ersten Jahrzehnt B zwar einige ältere und jüngere Autoren erstmals für den westdeutschen Raum erschlossen hatte, bedeutete das jedoch nicht, dass sich daraus in der Folgezeit eingehendere inhaltliche Kompetenzen seitens des Verlags und der zentralen Vermittlerfiguren – Lektoren, Literaturagenten und Ü bersetzer – in Hinsicht auf Osteuropa entwickelt hätten, und man war daran seit den 1980er Jahren auch nicht mehr wirklich interessiert. So machte Lem beispielsweise wiederholt Vorschläge, was bei Suhrkamp aus dem Russischen oder Polnischen noch übersetzt werden könnte. Doch kaum eine seiner vielfachen Anregungen nahm man auf. Dieses Desinteresse an den anderen Wissenschaftskulturen und phantastischen Schreibweisen aus dem Osten Europas war wahrscheinlich nicht zuletzt auch der Grund, warum man sich dann Ende der 1990-er Jahre so sang- und klanglos von den fiktionalen und philosophischen Visionen „anderer Zeiten und Welten“ wieder verabschiedete, hatte es doch einen produktiven Austausch mit dem übrigen Programm nie gegeben.71 Im Februar 1989 schreibt Lem resigniert in einem der wenigen Briefe an Unseld, die er an diesen noch richtet, in der sowjetischen Presse sei ein „großer Sturm“ der Veränderung ausgebrochen, doch der Westen scheine jegliche Neugier auf den „roten Osten“ verloren zu haben.72 Was natürlich so nicht stimmte, aber viel darüber sagt, wie er, der sich niemals als ein Autor des Ostens oder gar der polnischen nationalen Literatur verstand und dem „milden Frankfurter Klima“ der Kapitalisten immer stärker zugeneigt war als dem scheußlichen Wetter des realsozialistischen Obrigkeitsstaates, sich wahrgenommen fühlte. Ein „Verlag mit zeitgenössischer Sinnlichkeit“ war Suhrkamp für Lem nicht (mehr). Die „Phantastische Bibliothek“ hatte jedoch mit dafür gesorgt, dass Lem genauso wie die Brüder Strugackij so große Leserkreise erreichten wie in keinem anderen westlichen Land sonst.
70 Einzig Lem wurde auch in anderen Reihen des Verlags wie der „Bibliothek Suhrkamp“ oder der „edition suhrkamp“ publiziert. In den unzähligen Anthologien, Lesebüchern, Jubiläumsbänden, thematischen Publikationen zur Zeitdiagnostik ist selbst er jedoch nicht vertreten. Vgl. Jeske 2002. 71 Dieses Desinteresse beruht sicher auf Missverständnissen beiderseits und darf nicht nur dem Verlag zugeschoben werden. Auch Lem hatte keinen wirklichen Sinn für die intellektuellen Debatten und Konjunkturen in der Bundesrepublik, weswegen seine Publikationsvorschläge häufig abwegig erschienen oder als „provokative“ Interventionen in westdeutsche Auseinandersetzungen wahrscheinlich weitgehend ungehört geblieben wären; vgl. hierzu auch Schwartz 2017, S. 145–167. 72 Brief von Lem an Unseld, 24.2.1989; SUA.
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Literatur [Anon.] (1972): Welle mit Zukunft, in: Der Spiegel 11/1972, S. 136–37. Anders, Günther (1970): Der Blick vom Mond. Reflexionen über Weltraumflüge. München: Beck. Autorenkollektiv (1999): A History of Science Fiction Criticism: Collective Works Cited and Chronological Bibliography. In: Science Fiction Studies 26:2, S. 263–283. Eisfeld, Rainer (2007): Die Zukunft in der Tasche. Science Fiction und SF-Fandom in der Bundesrepublik. Die Pionierjahre 1955–1960. Lüneburg: von Reeken. Frenschkowski, Marco (2012): Franz Rottensteiner zum 70. Geburtstag. In: Zeitschrift für Fantastikforschung 1, S. 1–4. Geppert, Alexander C. T. (Hg.) (2012): Imagining Outer Space: European Astroculture in the Twentieth Century. Basingstoke/New York: Palgrave Macmillan. Grabiński, Stefan (1974): Das Abstellgleis. Mit einem Nachwort von Stanisław Lem. Frankfurt am Main: Insel (= Bibliothek des Hauses Usher). Grabiński, Stefan (1974): Durst. Frankfurt am Main: Insel (= Bibliothek des Hauses Usher). Jeske, Wolfgang (Hg.) (2002): Die Bibliographie des Suhrkamp-Verlages 1950–2000. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kažić, Mihajlo (1996): Die unterbrochene Reise. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek, Bd. 334). Kažić, Mihajlo (1999): Die Himmelstür. Roman. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek, Bd. 363). Kreuzer, Helmut (Hg.) (1987): Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows These in der Diskussion. München: dtv/ Klett-Cotta. Lem, Stanisław (1972): Nacht und Schimmel, Frankfurt am Main: Insel. (= Science Fiction der Welt, 1). Lem, Stanisław (1972): Die Jagd. Frankfurt am Main: Insel. (= Science Fiction der Welt, 9). Lem, Stanisław (2008): Der Widerstand der Materie. Ausgewählte Briefe. Berlin: Parthas. Luckhurst, Roger (2005): Science Fiction. Cambridge, Malden, MA: Polity (= Cultural History of Literature). Merril, Judith (1966): What Do You Mean: Science? Fiction? In: Extrapolation. Journal of Science Fiction and Fantasy Studies 7 (Mai 1966), S. 30–46, und (Dez. 1966), S. 2–19. Nesvadba, Josef (1983): Die absolute Maschine. Science-fiction-Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek, Bd. 112). Nesvadba, Josef (1998): Vampir Ltd. Science-fiction-Erzählungen. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek, Bd. 361).
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Rottensteiner, Franz (1979): Vorwort. In: Ders. (Hg.): ‚Quarber Merkur‘. Aufsätze zur Science Fiction und Phantastischen Literatur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek 34). Rottensteiner, Franz (2013a): Helmut Wenske – Maler fremder Dimensionen und Welten. In: Ders.: Im Labor der Visionen. Lüneburg: Van Reeken, S. 257–262. Rottensteiner, Franz (2013b): Mein Freund Kalju Kirde. In: Ders.: Im Labor der Visionen. Anmerkungen zur phantastischen Literatur. 19 Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 2000–2012, Lüneburg: Van Reeken, S. 251–256. Rottensteiner, Franz (Hg.) (1971): Die Ratte im Labyrinth, Frankfurt am Main: Insel. Rottensteiner, Franz (Hg.) (1972): Pfade ins Unendliche. Insel Almanach auf das Jahr 1972. Frankfurt am Main: Insel. Rottensteiner, Franz (Hg.) (1973): Polaris 1. Ein Science Fiction Almanach, Frankfurt am Main: Insel. Rottensteiner, Franz (Hg.) (1975a): Polaris 2. Ein Science Fiction Almanach, Frankfurt am Main: Insel. Rottensteiner, Franz (Hg.) (1975b): Polaris 3. Ein Science Fiction Almanach, Frankfurt am Main: Suhrkamp. Rottensteiner, Franz (Hg.) (1986): Polaris 10. Ein Science-fiction-Almanach. Arkadi und Boris Strugatzki gewidmet, Frankfurt am Main: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek, Bd. 171). Rzeszotnik, Jacek (2003): Ein zerebraler Schriftsteller und Philosoph namens Lem. Zur Rekonstruktion von Stanisław Lems Autoren- und Werkbild im deutschen Sprachraum anhand von Fallbeispielen. Wrocław: Wroclaw University Press. Schefner, Wadim (1990): Bescheidene Genies. Phantastische Erzählungen, Frankfurt am Main: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek, Bd. 246). Scheide, Carmen; Richers, Julia; Rüthers, Monica; Maurer, Eva. (Hg.) (2011): Soviet Space Culture. Cosmic Enthusiasm in Socialist Societies. London: Palgrave. Schwartz, Matthias (2003): Die Erfindung des Kosmos. Zur sowjetischen Science Fiction und populärwissenschaftlichen Publizistik vom Sputnikflug bis zum Ende der Tauwetterzeit. Berlin: Peter Lang. Schwartz, Matthias (2017): ‚The World as Holocaust‘. Wissenschaftliche Phantastik als Kunst des Überlebens in Stanisław Lems experimenteller Poetik. In: Murašov, Jurij; Werner, Sylwia (Hg.): Science oder Fiction? Stanisław Lems Philosophie der Wissenschaft und Technik. Paderborn: Fink, 145–67. Simon, Erik (2005): Index zum Quarber Merkur Nummer 1 bis 100. Passau: EDFC. Simon, Erik (2013): Das Ende einer Epoche. Zum Tod von Boris Strugatzki, der zweiten Hälfte eines unteilbaren Ganzen, das als ‚Die Brüder Strugatzki‘ Literaturgeschichte schrieb. In: Mamczak, Sascha; Pirling, Sebastian; Jeschke, Wolfgang (Hg.): Das Science Fiction Jahr 2013. München: Heyne, S. 15–43.
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Simon, Erik (Hg.) (1981): Über Stanisław Lem. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek, Bd. 36). Smith, Cordwainer (1983): Herren im All. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek, Bd. 93). Smith, Cordwainer (1991): Sternträumer, Frankfurt am Main: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek, Bd. 193). Strugatzki, Arkadi und Boris (1972): Die zweite Invasion auf der Erde. Frankfurt am Main: Insel. (= Science Fiction der Welt, 9). Suvin, Darko (1972): Ein Abriss der sowjetischen Science Fiction. In: Barmeyer, Eike (Hg.): Science Fiction. Theorie und Geschichte. München: Fink, S. 318–339. Suvin, Darko (1979): Poetik der Science Fiction. Zur Theorie und Geschichte einer literarischen Gattung. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= Phantastische Bibliothek, 31). Zondergeld, Rein A. (Hg.) (1974): Phaicon 1. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Zondergeld, Rein A. (Hg.) (1975): Phaicon 2. Almanach der phantastischen Literatur. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Internetquellen Meinetsberger, Klaus (2012): Phantastische Bibliothek Suhrkamp. Verzeichnis der Bände 1 bis 370, http://mei.privat.t-online.de/phantastische-bibliothek/. Schirrmacher, Frank: Der Traum, aus dem die Stoffe sind. Wer in der Gegenwart leben will, lese dieses Buch: Lems Essaysammlung „Die Technologiefalle“. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/ rezension-sachbuch-der-traum-aus-dem-die-stoffe-sind-1307489.html?printPage dArticle=true#pageIndex_2 (17.10.2000).
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Abb. 7.1
Matthias Schwartz
Buchcover der „Bibliothek des Hauses Usher“, rechts: Das Spukhaus (Band 1, 1969), links: Das Abstellgleis (Band 8, 1971); Gestaltung von Ute und Hans Ulrich Osterwalder
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Abb. 7.2
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Abb. 7.3
Matthias Schwartz
Buchcover der Serie „Phantastiche Wirklichkeit / Science Fiction der Welt“, links: Strugatzki: Montag beginnt am Samstag (1974), rechts: Lem: Die Jagd (1973); Gestaltung von Helmut Wenske
„Eine Vision anderer Zeiten und Welten “
Abb. 7.4
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Buchcover der Serie „Phantastische Bibliothek“, links: Lem: Nacht und Schimmel (Bd. 1, 1977), rechts: Nesvadba: Die absolute Maschine (Bd. 112, 1983); Gestaltung nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
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Abb. 7.5
Matthias Schwartz
Buchcover der Serie „Phantastische Bibliothek“, links: Schefner: Bescheidene Genies (Bd. 246, 1990), rechts: Kassek (Hg.): Autobiographie einer Leiche (Bd. 341, 1997); Gestaltung nach Entwurfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
Natalia Bakshi
Suhrkamp und die russische Literatur Mittlerfiguren 1950–1990
Das Interesse an russischer Literatur setzt bei Suhrkamp – ebenso wie bei anderen großen westdeutschen Verlagen – Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts ein. Die Gründe liegen zunächst in der politischen Ereignisgeschichte, die eine diplomatische Annährung auch unter den Bedingungen des Kalten Krieges erkennen lässt: Stalin starb 1953; die Überwindung des Personenkultes sowie die nach seinem Tod einsetzende Tauwetterperiode schufen erste Voraussetzungen, das Bild der Sowjetunion aus der Betonverschalung der Lagerideologie allmählich herauszulösen. Im Januar 1955 beendete die Sowjetunion offiziell den Kriegszustand mit Deutschland, und Adenauer konnte im September in Moskau erfolgreich über die letzten deutschen Kriegsgefangenen verhandeln; 1959 folgte das erste deutsch-sowjetische Kulturabkommen. In diesem Umfeld beginnt Suhrkamp vorsichtig, russische Autoren zu publizieren. Interesse entstand an der russischen literarischen Moderne der vorrevolutionären Zeit und der zwanziger Jahre. Dabei war die Lage in Westdeutschland eine völlig andere als in der DDR. Anders als im Osten gab es in Westdeutschland nur wenige professionelle Übersetzer. Russland war noch nicht dem Berner Urheberrechtsabkommen von 1886 beigetreten, und die Rechte russischer Autoren waren entsprechend ungeschützt, was dazu führte, dass derselbe Text parallel in unterschiedlichen Verlagen und verschiedenen Übersetzungen erscheinen konnte. Andererseits war es natürlich sehr verführerisch, gute russische Autoren ohne Lizenzkosten zu publizieren. Für die Beziehungen zwischen DDR und anderen westeuropäischen Staaten galt jedoch die Berner Übereinkunft, so dass die russischen Werke, die dort zuerst erscheinen, unter Lizenz standen. Insgesamt sind es 40 Verlagshäuser, große und kleine, die ab 1958 die russische Literatur in Erst- und Neuübersetzungen publizieren. Zur Sensation des Jahres 1958 wird Boris Pasternaks Doktor Schiwago, dessen Verkauf durch die Nobelpreisverleihung und den Skandal um die erzwungene Ablehnung gepusht wird. Die Rechte sichert sich ganz schnell der S. Fischer Verlag, der allen 1958 mehr als eine Viertelmillion Exemplare druckt. Die zweite große Sensation bildete ein Jahr später Nabokovs Lolita. Rowohlt sichert sich schnell die Rechte und wird für längere Zeit auch der einzige Verlag Nabokovs in Deutschland bleiben. Lolita wurde in 120.000 Exemplaren bis 1962 verbreitet.
© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764091_008
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Dem Suhrkamp-Verlag entgehen diese ersten russischen Bestsellerautoren. Zu spät erkundigt sich Siegfried Unseld im Oktober 1962 bei seinem Berater Wolfgang Kasack nach Evgenij Evtušenko, einem russischen Dissidenten- Dichter, als der bereits im Triumphzug durch Deutschland reist und viele Angebote anderer Verlage hat (Fischer, Limes, Brücken-Verlag). Andrej Voznesenskij, ein anderer bekannter und in Europa sehr begehrter Dichter aus der UdSSR, erscheint zuerst in S. Fischer Verlag. 1972 versucht Unseld zwei noch nicht übersetzte Romane Mašenka und Ada1 von Nabokov zu erwerben, erfährt aber von dessen Agenten, dass die Rechte an andere deutsche Verlage vergeben sind. Immerhin erwirbt der Insel-Verlag, der allerdings noch nicht zu Suhrkamp gehört, 1962 auch eine Sensation für den deutschen Buchmarkt, nämlich den Roman des kirgisischen Schriftsteller Čingiz Ajtmatov Djamila, der bis 2010 in über 500.000 Exemplaren verbreitet wurde. Bei Suhrkamp erscheinen zu dieser Zeit Texte von Blok, Majakovskij, und Mandel’štam, aber nur Majakovskij wird zum Erfolg und zum echten Suhrkamp-Autor. Auf den ersten Blick scheint Suhrkamp also an russischer Literatur her sporadisch und zufällig interessiert gewesen zu sein. Doch die Auswertung des Siegfried Unseld Archivs (SUA) im Deutschen Literaturarchiv Marbach bietet aus anderer Perspektive auch ein anderes Bild. 1
Hans-Magnus Enzensberger als erster Mittler
Am 29. August 1963 besucht Unseld Hans-Magnus Enzensberger in seinem Haus in Norwegen und hält in seinem Reisebericht fest: E. war aufs tiefste von der Entwicklung in Russland selbst beeindruckt. Er sieht hier ganz neue Perspektiven und Möglichkeiten, und dies nicht nur für die politischen und sozialen Verhältnisse, sondern auch und gerade für die Literatur […]. Es scheint mir sehr wichtig, daß wir dieser Entwicklung rechtzeitig und richtig begegnen. Dazu müssen wir Leute haben, die Russisch lesen und übersetzen können, und möglichst nicht nur Russisch, sondern auch slawische und skandinavische Sprachen. Die Überwachung der russischen Literatur scheint vordringlich.2
1 Vg. Nabokov 1974. 2 S UA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung/Reiseberichte: 1963.
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Mit Enzensberger wird folgendes Vorgehen vereinbart: a) Der Verlag macht sich auf die Suche nach einem Lektor oder freien Mitarbeiter für das slawische Lektorat. Aufgabe dieses Mannes ist es dann, neben der Überwachung der Literatur seines Sachgebietes, Übersetzer heranzubilden. E. meint, daß wir auch auf einen jüngeren Mann zurückgreifen sollten, etwa auf einen Slawisten, der eben sein Studium abgeschlossen hat. Die Qualifikation wären die dreifachen: slawische Sprachkenntnis, Neigung zur modernen Literatur und schließlich Sprachvermögen.3
Mit dieser Absprache beginn das Russland-Kapitel in der Geschichte des Suhrkamp-Verlags. Ins Leben gerufen wurde eine schöne, vielversprechende Idee im Geiste der „Suhrkamp-Kultur“, die aber ziemlich schnell von politischen und wirtschaftlichen Faktoren getrübt wurde. Erst drei Jahre später wurde gehandelt. Peter Urban beschreibt seine Einstellung als Osteuropa-Lektor in seinem kurzen Bericht Die Ungeheuerlichkeit4 wie folgt: Mich bei Suhrkamp eingestellt haben die Lektoren Günther Busch und Walter Boehlich, Anfang Februar 1966, nach einem etwa zweistündigen Gespräch zuerst in Boehlichs Lektoratsstübchen […], danach beim Mittagessen im Schultheiß im Westend. Mein Antrittsbesuch in der Chefetage Grüneburgweg 69 war Formsache und währte kaum zehn Minuten.5
Immerhin bringt es der jüngste der damals zehn Lektoren des Hauses innerhalb von einundeinhalb Jahre dahin, dass Unseld ihn bittet, einen Plan Zur Intensivierung des Kulturaustausches mit den sozialistischen Ländern6 auszuarbeiten. Diesen Plan wird Unseld bei dem vertraulichen Gespräch zum Thema Kulturpolitik in Ost-Europa nutzen, das vom Kuratorium Unteilbares Deutschland und dem Auswärtigen Amt am 10. November 1967 veranstaltet wurde.7 Integriert in Urbans Plan war Karl Dedecius’ Denkschrift zum Plan der Gründung einer deutsch-slawischen Bibliothek mit Übersetzerzentrum, die man als geistige Urzelle für das Jahre später entstehende deutsch-polnische Institut ansehen kann.
3 Ebenda. 4 Urban 2011, S. 77–102. 5 Ebenda, S. 79. 6 S UA: Suhrkamp/01/Reiseberichte. 1967 Oktober–Dezember. 7 S UA: Suhrkamp/01/Reiseberichte. 10.–13.11.1967.
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Russland-Kompetenz im Verlag: interne und externe Lektorate
Laut Friedrich Hübner kommen die meisten Neuerscheinungen russischer Literatur zwischen 1967 und 1973 in der Verlagsgruppe Suhrkamp/Insel heraus.8 Politische Faktoren haben dieses Ergebnis sicherlich begünstigt. Infolge der Protestbewegungen von 1968 kommt es zu einem verstärkten Interesse an linker und damit auch sozialistischer Literatur, die früher als bolschewistische Propaganda herabgesetzt wurde. Ab 1969 beginnt die neue Entspannungspolitik von Willy Brandt, die in der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags am 12. August 1970 und der Anerkennung der bestehenden Grenzen der Sowjetunion, Polens und der DDR gipfelte. Auch in der internen Verlagsgeschichte markiert die 68er-Bewegung eine Zäsur, die aber der russischen Literatur nicht entgegenkam. Durch den „Aufstand der Lektoren“ und die Gründung des „Verlags der Lektoren“ 1969 kam dem Hause Suhrkamp sein einziger slawischer Lektor, Peter Urban, abhanden. Die Wiederbesetzung des slawischen Lektorats erfolgt erst 19 Jahre später, 1987, durch Angela Martini-Wonde. Gleich nach dem Abgang von Peter Urban wendet sich Unseld an Karl Dedecius mit der Bitte, ein externes slawisches Lektorat zu übernehmen und die slawischen Literaturen zu betreuen.9 Ab Januar 1969 übernimmt Dedecius mit dem slawischen Lektorat einen Bereich, der nach Unselds eigener Einschätzung nur sehr schwach im Suhrkamp-Programm vertreten war. Im April 1970 schlägt Unseld Dedecius vor, über die Herausgabe einer „Slawischen Bibliothek“ nachzudenken, worauf Dedecius sehr zurückhaltend reagiert.10 Unselds Vorschlag widerspricht offenbar seinen eigenen Vorstellungen und deren Rahmenbedingungen. Unseld beharrt aber auf seiner Idee, die slawische Komponente zu stärken. Nach mehreren erfolgreichen Übersetzung von Gisela Drohla bei Insel und Suhrkamp schlägt Unseld ihr 1971 vor, eine Beraterfunktion bei Suhrkamp zu übernehmen, um das russische Feld zu stärken, das für Unseld immer noch zu schwach vertreten war.11 Unseld drängt, nimmt Drohlas anfängliches Schweigen einfach als Zustimmung und lässt ihr ein erstes Monatshonorar anweisen. Es stellt sich jedoch schnell heraus, dass Dedecius und Drohla andere Vorstellungen und Interessen hegten als Unseld. Drohla will das klassische Insel- 8 Vgl. Hübner 2012, S. 433. 9 S UA: Suhrkamp/01/Verlagsleitung/Allgemeine Korrepondenz /Briefwechsel mit Karl Dedecius 1962–1970. – Mit derselben Bitte hatte sich Unseld bereits 1962 an Dedecius gewandt. 10 Ebenda. 11 S UA: Suhrkamp/01 VL/Allg.Korrespondenz: GISELA DROHLA, 1965–1972.
Suhrkamp und die russische Literatur
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Programm pflegen und keinen „sozialistischen Schmarrn“ herausbringen.12 Und doch wird das Jahr 1971 eines der bis dahin produktivsten im russischen Bereich. Es erscheinen sechs russische Titel, darunter Gennadij Ajgi, Andrej Platonov und Jurij Kazakov. In den 1970-er Jahren entsteht eine feste Verbindung zwischen Suhrkamp und Prof. Wolfgang Kasack, die bis dahin sporadisch war. Kasack berät intensiv den Verlag in Sachen moderner sowjetischer Literatur, was weder Drohla noch Dedecius tun wollten. Kasack aber ging es nicht nur um das Aufklärerische und Schöngeistige, sondern auch und vor allem um eine neue Kulturpolitik: „Korb III“ der 1975 unterzeichneten KSZE-Schlussakte von Helsinki hatte den „Austausch neuerer Belletristik“13 als kulturpolitische Maßnahme eigens definiert. Das entsprach auch den Plänen von Unseld, sofern diese neuen Autoren sich auch gut verkauften. Von 1972 bis 1980 publiziert Suhrkamp konstant zwischen sechs und acht russischen Titel pro Jahr,14 darunter Autoren wie Veniamin Kaverin, Boris Pasternak, Konstantin Paustovskij und Viktor Šklovskij. Es kommt zu Neuauflagen von Maxim Gor’kij, Šklovskij, von Belyjs Petersburg, Ajtmatovs Djamila und Majakovskijs Liebesbriefe an Lilja. Als neue Namen treten hinzu: Vladimir Tendrjakov, Saša Sokolov, Maksud Ibragimbekov, Grigol Robakidze. 1973 verlegt Suhrkamp erstmals die Brüder Arkadij und Boris Strugackij, die neben Stanisław Lem für längere Zeit zum Science-Fiction Bestseller werden. Das Geschäft mit russischer Literatur kam derart in Schwung, dass Suhrkamp auch Lizenzen anderer Verlagshäuser aufkaufte, um die Reihe „suhrkamp taschenbuch“ (Tynjanov, Tendrjakov, und Pil’njak) und die Fantastische Bibliothek (Brüder Strugackij) aufzufüllen.15 Die Namen der genannten Autoren zeugen davon, wie konservativ Suhrkamp sein Russland-Programm entwickelte. Bereits arrivierte Autoren wurden bevorzugt; das Risiko durch Lizenzübernahmen minimiert. Im Ergebnis konnte Suhrkamp zwischen 1972 und 1980, also in der Phase ohne internes slavisches Lektorat, keinen Anspruch darauf erheben, einen neuen russischen Namen durchgesetzt oder gar zum Suhrkamp-Autor gemacht zu haben. Ab 1974 steht Suhrkamp in regem Kontakt mit der neu gegründeten „Allunions-Agentur für Copyrights“ (VAAP)16 in der UdSSR. Die Agentur versuchte, für russische Autoren westdeutsche Hausverlage zu gewinnen, also 12 Sie schreibt das mehrmals an ihre lebenslange Freundin Verlagslektorin Elisabeth Borchers. 13 Vgl. Hübner, S. 499. 14 Vgl. Die Bibliographie des Suhrkamp-Verlages 2002. 15 Vgl. Hübner, S. 505. 16 Vgl. Loeber 1973.
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möglichst das Gesamtwerk von Autoren zu verkaufen. So gingen beispielsweise die Rechte an Valentin Kataev, Sergej Saligin, Čingiz Ajtmatov, Jurij Trifonov, A ndrej Bitov, Bulat Okudžava, Valentin Rasputin, Vasilij Axionov, Fazil’ Iskander, Oleg Kuvaev an den Bertelsmann Verlag. Für Suhrkamp/ Insel hatte VAAP ein ähnliches Programm vorgesehen: Veniamin Kaverin, Vladimir Tendrjakov, die Brüder Strugackij, Leonid Pasternak, Konstantin Paustovski, Gasan G usejnov, Aleksandr Ėbanoidze. Akzeptiert wurde alles bis auf Gusejnov und Ėbanoidze.17 Dennoch agierte Suhrkamp auf diesem Feld viel verhaltener als Bertelsmann. 1977 zog der Leiter der VAAP in einem Beitrag für das Börsenblatt Bilanz. Demnach waren in den ersten vier Jahren mit Bertelsmann neun Verträge zustande gekommen, mit Suhrkamp aber – wie mit acht weiteren westdeutschen Verlagen auch – jeweils nur ein Vertrag.18 Dennoch strebte die Agentur VAAP offenbar ein intensiveres Verhältnis zu Suhrkamp an und lud im März 1979 zwei Verlagsmitarbeiter nach Moskau ein. Elisabeth Borchers, die Zuständige für Fragen der Rechte im Verlag, flog in Begleitung von Gisela Drohla. Diese Reise erfüllte ihr Ziel, denn Borchers war von der Gastfreundschaft und Herzlichkeit der Sowjets sehr beeindruckt. 1981 wurde auch Siegfried Unseld nach Moskau eingeladen, musste aber aus geschäftlichen Gründen absagen. Wenig später wurde auch in Frankfurt die Expertise für Russland erweitert. 1980 wurde mit der schweizerischen Slawistin und Autorin Ilma Rakusa eine neue Beraterin gewonnen, die parallel zu dem weiterhin sehr aktiven Wolfgang Kasack wirkte. Geschwächt wurde das Beraterteam durch den Tod von Gisela Drohla 1983. Doch der Bereich entwickelte sich zumindest quantitativ: Mit Übersetzung von Werken Vasilij Afonins und Natal’ja Baranskajas kamen 1982 zwei neue Namen im Verlagsprogramm hinzu, und 1984 legte Suhrkamp sogar elf russische Titeln auf. Auch wenn die Zahl der pro Jahr veröffentlichten Titel hoch blieb, wurden doch immer wieder dieselben Autoren verlegt, die literarisch keinen höchsten Rang beanspruchen konnten, sich dafür aber verkauften: Tendrjakov, die Brüder Strugackij, Čingiz Ajtmatov. Durch die Perestrojka stieg das Interesse an russischen Angelegenheiten wieder erheblich an, was Unseld dazu veranlasste, über die Wiedereinrichtung eines internen slawischen Lektorats nachzudenken. Ab 1986 fungierte Rakusa zunächst als offizielle externe Beraterin auf Honorarbasis. Unseld möchte von ihr eine „kleine russische Bibliothek“ für den Insel-Verlag. Rakusa, die aus fremdkultureller Kompetenz für Russland heraus denkt, holt weit aus und übermittelt im Januar 1987 eine Liste von 106 Autoren des 20. Jahrhunderts, 17 Vgl. SUA: Suhrkamp/03 Lektorate/Borchers. 1973–1991. 18 Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, Nr. 20 vom 11.03.1977.
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die sie für besonders wichtig hält.19 Von diesen sollten ihrer Empfehlung nach 59 mit unterschiedlichen Texten ins Verlagsprogramm aufgenommen werden. Der Ertrag war bescheiden; tatsächlich verlegt wurden nur sieben Autoren ihrer Liste: Anna Achmatova, Leonid Andreev, Andrej Belyj, Alexander Blok, Valerij Brjusov, Josif Brodskij, Aleksej Remizov. Mit Ausnahme von Brodskij, der allerdings erst Ende der 1990-er Jahre erscheint, handelt es sich bei allen um Autoren der 1920-er Jahre. Unseld, der gerade in der Perestrojka-Zeit ästhetische und kulturpolitische Interessen in Gleichgewicht halten will, verfolgte offenbar andere Vorstellungen und wendet sich an Kasack, der seine langjährige Assistentin, Dr. Angela Martini-Wonde, für das slawische Lektorat vorschlägt. Unseld stimmt zu und stärkt mit der Anstellung von Martini-Wonde 1987 gleichzeitig die Position von Wolfgang Kasack und seiner kulturpolitischen Linie im Verlag. Kurz danach hegte er die Absicht, Rakusa von ihrer Beratertätigkeit zu entbinden, aber nach deren erfolgreichen Herausgabe von Cvetaeva und Achmatova ändert er seine Meinung. Im Februar 1989 schreibt er, das slawische Lektorat solle gestärkt werden, indem Rakusa neben Martini- Wonde weiter tätig sein solle. Als Ergebnis dieser dreijährigen Zusammenarbeit (1987–1990) von Martini- Wonde mit zwei ihren Beratern, Ilma Rakusa und Wolfgang Kasack, kommt es ab 1987 zu einer Wende im Verlagsprogramm mit neuen Namen und neuen Entdeckungen. Darunter Cvetaeva in der Übersetzung von Rakusa, Vasilij Belov, Valentin Rasputin, Ales’ Adamovitsch, Anna Achmatova, Timur Pulatov, Jurij Nagibin, Michail Soščenko, Michail Kuzmin, Valerij Brjusov, Jurij Dombrovskij, Jurij Gal’perin, Vadim Šefner. 3
Mittler-Figuren im Verlag
Im Folgenden werden vier wichtige Akteure untersucht, die für die Präsentation der russischen Literatur zwischen 1950 und 1990 im Suhrkamp-Verlag entscheidend waren. Das sind Gisela Drohla, Hugo Huppert, Wolfgang Kasack und Ilma Rakusa – alle nicht nur Übersetzer, sondern auch wichtige Kulturvermittler und Ideengeber für den Verlag. Drohla und Kasack waren zugleich Literaturwissenschaftler mit akademischer Karriere, Huppert und Rakusa selbst auch Autoren. Alle agieren nicht nur als Übersetzer, sondern auch als Agenten, Literaturkritiker, Berater oder Ideengeber, und dennoch vermag keiner eigenständig zu handeln. Der konkrete Prozess des Transfers eines fremden Buches sowie dessen Nostrifikation im deutschen Literatur- und Verlagssystem 19 S UA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung/Autorenkonvolute. Rakusa, Ilma. Briefwechsel 1985–1986.
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g eschieht immer in Zusammenarbeit mit einem Verlagsmitarbeiter, in der Regel dem zuständigen Lektor, der eine andere Logik vertritt.20 Komplexer wird die Sache dadurch, dass der Lektor im Suhrkamp-Verlag nicht nur „der Autor, der nicht schreibt“,21 war, sondern sehr wohl selbst schrieb, denn sie waren selbst Übersetzter wie Karl Dedecius (ab 1969) und Peter Urban (1966–1968), selbst Schriftsteller wie Hans Magnus Enzensberger (1960–1961) oder Literaturkritiker wie Walter Boehlich, Cheflektor bei Suhrkamp von 1957 bis 1968. Ferner ist die zu untersuchende Linie vom Übersetzer über den Lektor zum Autor zu verlängern, denn jeder der vier Mittler bringt einen Schriftsteller mit, der zum Suhrkamp-Autor wird. Bei Huppert ist es Majakowskij, bei Drohla Ajtmatov, bei Kasack Kaverin und bei Rakusa Marina Cvetaeva. 3.1 Gisela Drohla Obwohl bereits 1954 Vjačeslav Ivanovs Das alte Wahre bei Suhrkamp herauskam, kann man erst ab 1959 von einer systematischen Beschäftigung mit der russischen Literatur bei Suhrkamp und Insel sprechen, und zwar verbunden mit Gisela Drohla. Von Drohla sind nur sehr spärliche biographische Informationen greifbar. Man findet sie in keinem Lexikon;22 auch in den Personalakten des Verlags Insel ist ein Lebenslauf nicht überliefert. Entsprechende Unterlagen finden sich aber in den Universitätsarchiven Heidelberg und Marburg: Gisela Drohla, geborene Gisela Ritzinger, wurde am 27. Oktober 1924 in Nieder-Ohm bei Mainz geboren und studierte in Heidelberg von 1943 bis 1946 Geschichte, Deutsch und Russisch. In erster Ehe war sie mit Georg Günther Meerwein verheiratet, in zweiter ab 1958 mit dem Sprachwissenschaftler Wolfgang Drohla.23 Nach eigenen Angaben beherrschte sie Russisch, Georgisch, Griechisch, Englisch, Bulgarisch, Französisch.24 Zwischen 1959 bis 1965 arbeitete sie als Lektorin des Insel-Verlags in Frankfurt am Main und parallel an der Universität Heidelberg. Nach der Scheidung von Wolfgang Drohla zog sie nach Marburg, wo sie an der dortigen Universität in den 1970-er an einer Habilitation zur georgischer Literatur arbeitete und 1972 zu Studienrätin im Hochschuldienst ernannt wurde. Das war auch der Grund, warum sie den im Jahr 1971 mit Suhrkamp geschlossenen Vertrag über das externe russische Lektorat zwei Jahre später zum 01. Januar 1973 kündigte. Sie blieb aber weiterhin Beraterin des Verlags. Gisela Drohla starb 1983. 20 Dazu die Einführung von Kemper in diesem Band. 21 Vgl. Habermas/Pehle 1989. 22 „Kein Eintrag“ im „World Biographical Information System“. – Vgl. aber Bakshi 2016. 23 UniA Marburg 310 Nr. 6558. 24 Marburger Universitätsarchiv (Personalakte: 310 Nr. 6558)
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Bei Insel verband Drohla, Dr. Leippe und Fritz Arnold ein sehr offenes, freundschaftliches Verhältnis, was zum Erfolg der Zusammenarbeit wesentlich beitrug. Fritz Arnold, obwohl kein Slavist, war sehr an neuen russischen Texten interessiert, las gerne und aufmerksam das bekannte Werk von Gleb Struve zur Geschichte der Sowjetliteratur und zeigte ein sehr gutes Gespür für russische Autoren. Es war nicht Drohla, sondern Arnold, der Übersetzungsvorschläge machte, die Drohla auch gleich aufgriff und energisch verfolgte. Erstes Produkt ihrer Zusammenarbeit war die Anthologie Russische Lyrik des 20. Jahrhunderts,25 die Arnold Drohla vorschlugt, denn „eine solche Anthologie [liege] geradezu in der Luft“.26 Die Anthologie sollte mit Fëdor Sologub und Aleksandr Blok als den beiden großen Anregern des russischen Symbolismus beginnen und dann vor allem Sergej Esenin (Jessenin), Vladimir Majakowskij, Boris Pasternak und Osip Mandel’štam beinhalten. Die Auswahl musste sich nach den bereits vorhandenen Übertragungen richten (Drohla selbst übersetzte Prosa) und eine repräsentative Übersicht geben. Sie sollte ursprünglich auch ein knappes Nachwort mit biographischen Notizen erhalten. Drohla favorisiert noch Velimir Chlebnikov und Ėduard Bagritskij, die aber nicht aufgenommen wurden, da sich keine guten Übersetzungen fanden. Dafür aber wurden noch Texte von Vjačeslav Ivanov und Zinaida Gippius (Sinaida Hippius) aufgenommen. Drohlas Anthologie fand guten Anklang in der Presse,27 jedoch keine Beachtung in den großen Feuilletons. Es wurden die Auswahl und das hohe Niveau der Übersetzungen gelobt: Ein „überraschend buntes, kräftig getöntes Bukett poetischer Ausdrucksweisen“, meinte der Rezensent der Ruhr- Nachrichten,28 und in der Saarbrücker Zeitung29 hieß es: Diese engbegrenzte Auswahl zeigt den leidenschaftlichen Patriotismus, die Liebe zu Russland, die allen Dichtern eigen ist. Sie läßt aber auch von der unerwiderten Liebe, dem missbrauchten Patriotismus wissen, dessen Opfer Russlands Dichter waren und noch sind. […] Das Inselbändchen gibt auf engstem Raum eine klare Übersicht, der bald eine umfangreichere Anthologie der europäischen Dichtung russischer Autoren folgen sollte. 25 Russische Lyrik des 20. Jahrhunderts. Eine Auswahl von Gisela Drohla. Wiesbaden: Insel, 1959 (Insel-Bücherei, Nr. 698). 26 Insel Nachlass. Akten von Fritz Arnold. Nicht katalogisiert. 27 Es erscheinen kleine Berichte (hier angeführt wie im Pressearchiv des SUA bezeichnet) in: Jugendbuchkurrier 1962, Neue Wege, Wien (Nov.1960), Besinnung 3/1960 (Erich Przywara), in Brüssel, (22.Juli 1960), Der Europäische Osten (Juni, 1960), Bücherei- Nachrichten (Salzburg, Juni 1960), Der Tagesspiegel (Berlin, 8.Mai 1960), Echo der Zeit (Recklinghausen, 27.03.1960). 28 Ausgabe vom 6/7.2.1960. 29 Ausgabe vom 28.11.1959.
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Dass das Buch nur begrenzte Beachtung fand, bezeugt das Lexikon von Wolfgang Kasack Russische Literatur in deutschen Übersetzungen von 1945 bis 1982, in dem diese Anthologie gar nicht erwähnt ist. Der von Drohla so favorisierte Chebnikov findet sich jedoch – wie alle anderen von ihr gewünschten Autoren – wenig später im Museum der modernen Poesie von Enzensberger (1961), und gerade die dort aufgenommenen zwei Gedichte von Chlebnikov wurden als große Entdeckung von Enzensberger gepriesen. Im Mai 1959 berichtete Arnold an Drohla, dass die amerikanische Übersetzung des Romans Petersburg von Andrej Belyj viel Aufsehen erregt habe und überall sehr enthusiastisch besprochen worden sei. Grove-Press beanspruchte die Weltrechte für Petersburg, dessen russische Ausgabe jedoch rechtefrei war. Grove-Press verhandelte mit mehreren deutschen Verlagen über Lizenzen, darunter Fischer, Piper, Steingrüben. Drohla nahm Arnolds Hinweis enthusiastisch auf und fertigte eine eigene Übersetzung nach der rechtfreien russischen Ausgabe innerhalb von zweieinhalb Monate an, um allen anderen Verlagen zuvorzukommen. Damit kam sie den Interessen des Heidelberger Slavisten Dmitrij Tschižewskij in die Quere, der die Übersetzung selber organisieren und mit Hilfe von Fëdor Stepun, einem bekannten russischen Philosophen in der Emigration, betreuen wollte. Es kam zu einigen Attacken auf die Qualität der Übersetzung Drohlas seitens Tschižewskijs,30 aber das Lob der Übersetzungsleistung Drohlas überwog doch bei weitem. FAZ und Zeit besprachen positiv,31 und Insel machte erheblichen Gewinn: Das Buch erlebte drei Auflagen, die Lizenz wurde von Suhrkamp gekauft und Drohlas Übersetzung dort neu verlegt. Der Erfolg beflügelte Drohla. Es folgten 1960 Übertragungen des Romans Neid von Jurij Karlovič Oleša, einem bis dahin völlig unbekannten sowjetischen Autor, sowie von Die silberne Taube von Belyj. Drohla unterschreibt bei Insel einen Vertrag für 96 Bögen Übersetzung pro Jahr, was eine unglaubliche Produktivität bezeugt. Ähnlich geschickt bootete Arnold die Konkurrenz auch im Falle von Čingiz Ajtmatovs Novelle Djamila aus, die bei Piper herauskommen sollte. Am 30. März 1962 schreibt Arnold an Drohla, dass Luis Aragon über die in Italien erschienene Djamila von Ajtmatov geschrieben habe, es sei „der schönste Liebesroman der Welt, Romeo und Julia und Paolo und Francesca verblassen neben Danjar und Djamila“. Als er erfährt, dass Drohla den Roman schon Piper versprochen habe, sagt er ihr dasselbe, für Insel ungewöhnlich hohe Honorar wie bei Piper zu. Drohla stimmt zu, offenbar nicht aus finanziellen, sondern aus 30 So Drohla nach SUA: Suhrkamp/01 VL/Allgemeine Korrespondenz: GISELA DROHLA. 31 S UA: Suhrkamp/01 VL/Allgemeine Korrespondenz: GISELA DROHLA. Brief von Arnold an Drohla von 22.01.1960
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ästhetischen Gründen, da ihr Aufmachung und Verlagsprogramm bei Insel für die russische Literatur besser zu passen schienen. Drohlas Marktwert als Übersetzerin wächst – auch durch erfolgreiche Übertragungen von Olešha, Remizov, Ajtmatov und der Gruppe der Serapionsbrüder. Kippenheur & Witsch, Piper und Fischer umwerben sie, doch sie strebt eine Lektorenstelle bei Insel an. Nach der Übernahme von Insel durch Suhrkamp im Jahre 1963 lässt ihre Produktivität jedoch erkennbar nach; die neue Zusammenarbeit mach ihr von Anfang an keine Freude. Missverständnisse und Fehler im Alltagsgeschäft häufen sich. Die Ägyptische Marke von Mandel’štam, obwohl von ihr bewusst bei Suhrkamp und nicht Insel platziert, wird ohne ihre Einwilligung und ohne Vertrag mit ihr gedruckt.32 Ein Jahr später, 1966, erscheint ihre Übersetzung von Anna Karenina, in der sie zwar als Herausgeberin, nicht aber als Übersetzerin genannt wird. Die neue Beraterfunktion, die ihr von Unseld fast aufgezwungen wird, erfüllt nicht ihre Vorstellungen und ihre Wünsche; 1973 kündigt sie. Die Übersetzung von Šklovskijs Sentimentaler Reise (1974) bleibt das letzte, was sie für Suhrkamp macht. Der Fall Drohla zeigt, wie sehr Literaturmittler Teamspieler sind. Mit Arnold bildete Drohla ein solches Team, in der neuen Konstellation mit Suhrkamp fand sich nichts Entsprechendes. Die unmittelbaren Auswirkungen auf ihre Produktivität erscheinen evident. 3.2 Hugo Huppert Ein ganz anderes Beispiel für einen Kulturvermittler ist Hugo Huppert (1902– 1982). Er stammt aus dem ehemals österreichischen Teil Schlesiens. Ab 1920 engagiert sich in der Arbeiterjugend, studiert in Wien, wo er der Kommunistischen Partei Österreichs (KPÖ) beitritt. Seit 1928 lebt er in Sowjetunion, wohin er berufen wurde, um an der Herausgabe der Werke von Marx und Engels mitzuwirken. Zwischen 1933 und 1935 studiert er Literatur am Moskauer Institut der roten Professur. Ab 1934 arbeitet er als Kulturredakteur in der Deutschen Zentral-Zeitung, dem deutschsprachigen Organ der Kommunistischen Internationale (Komintern). 1938 wurde Huppert vom Geheimdienst NKWD verhaftet und gefoltert. Er kam aber 1939 wieder frei und arbeitete daraufhin bis 1941 als Dozent am Moskauer Maxim-Gorki-Institut für Weltliteratur. Ab 1944 nahm er als Offizier der Roten Armee an der Befreiung Rumäniens, Ungarns, der Slowakei, Niederösterreichs und schließlich Wiens teil. Nach Kriegsende blieb er in Wien. Entscheidend für seine russische Periode war seine B ekanntschaft mit 32 S UA: Suhrkamp/01 VL/Allg.Korrespondenz/Drohla, Gisela.
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Majakovskij, den er bereits in Moskau33 und dann sein Leben lang übersetzte und propagierte.34 Im Jahr 1960 schickt Hugo Huppert an Unseld und Boehlich das Manuskript mit seiner Nachdichtung der Komödie Das Schwitzbad von Majakovskij für einen geplanten Band mit dessen Bühnenwerken.35 Das Stück war bereits in Hupperts Übersetzung 1959 ein großer Erfolg auf der Berliner Volksbühne in der Inszenierung des russischen Regisseurs Nikolaj Petrov, die jedoch nach wenigen Aufführungen – wie schon die Inszenierung in Moskau 1930 – abgesetzt wurde.36 Durch seine Übersetzung von Die Wanze, veröffentlicht 1959 in der Reihe Spectaculum,37 war Huppert zudem bereits Suhrkamp-Autor geworden. Vieles an der Geschichte der ersten Majakovskij-Edition bei Suhrkamp bleibt auffallend: Es gab Majakovskij-Übersetzer im Westen, darunter auch Dedecius,38 zudem genug alte, gute Übersetzungen, aber Suhrkamp ließ sich dafür auf einen österreichischen Kommunisten mit langjähriger Exilerfahrung in der Sowjetunion ein. Zudem behandelt Huppert den Verlag auf eine unmögliche Art,39 verschiebt Fristen um ein Jahr und mehr, ist unzuverlässig, aber der Verlag beharrt geradezu auf seiner Mitarbeit. Das dokumentiert sich auch in der fünfbändigen Ausgabe40 von Majakovskijs Werken, die in Kooperation mit dem DDR-Verlag Volk und Welt ab 1966 erschien. Insel/Suhrkamp kooperiert zu diesem Zeitpunkt bereits mit Huppert einige Jahre.41 Federführend war der DDR-Verlag, der die ersten drei Bände je ein Jahr früher herausbrachte.42 Von Huppert stammten sämtliche Übersetzungen beziehungsweise Nachdichtungen, was Insel/Suhrkamp mindestens akzeptiert haben muss. Doch man schien an Huppert ohnehin interessiert, denn Insel ersetzte in Band 1 das kompetente, wenn auch den Anforderungen des historischen Materialismus genügende Vorwort von Leonhard Kossuth „Majakowskis Leben und Werk“ durch einen emphatisch-affirmativen Text von Huppert, der so anhebt: Groß wie Sowjetrussland! Das konnte nur ein Dichter sein, aus dessen Werk der lebendige Geist des gewaltigen sozialen Umbruchs spricht, der sich seit 1917 in 33 Vgl. Majakovskij 1941; Majakovskij 1943; Majakovskij 1946. 34 Vgl. Huppert 1966a. 35 Majakovskij 1960. 36 Vgl. Mierau 2011. 37 Majakovskij 1959a. 38 Vgl. Majakovskij 1959b. 39 S UA Suhrkamp/03 Lektorate: Huppert Hugo. 40 Majakovskij 1967–1973. 41 Vgl. Majakovskij 1959; Majakovskij 1960; Majakovskij 1964. 42 Majakovskij 1966–1973.
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Rußland vollzieht. Das Wunder, das die Revolution vollbracht hat – es ist auch an dem Bogen meßbar, der sich vom ersten bis zum letzten Gedicht, Poem, Drama oder Aufsatz dieses Großen der Literatur spannt.43
Ansonsten aber sind die Ausgaben textidentisch. Insel druckte also im Wesentlichen nach. Der Herausgeber der Ausgabe bei Volk und Welt, Leonhard Kossuth, begründet seine Entscheidung für Huppert aus der Retrospektive des Jahres 2009 wie folgt. Als Herausgeber der fünfbändigen Majakowski-Ausgabe von Volk und Welt […] habe ich Hugo Huppert als Nachdichter/Übersetzer aller Texte gewählt, um eine poetische/literarische Geschlossenheit der Ausgabe zu sichern.44
Das scheint aber nicht die ganze Wahrheit zu sein, denn schon Kossuth setzte auf die politische Reputation Hupperts in der DDR. Gleich nach dem Erscheinen der ersten Bände wird Huppert 1967 mit dem „Nationalpreis der DDR II. Klasse für Kunst und Literatur“ ausgezeichnet, und zwar ausdrücklich „für seine beispielhafte Nachdichtung des Gesamtwerkes Wladimir Majakowskis“.45 Bereits die Edition des Theaterstücks Mysterium Buffo46 1960 hat in allen deutschsprachigen Ländern Debatten über Majakowskijs Stellung in der sowjetischen Literaturgeschichte und die Rolle von Huppert bei seiner Verbreitung hervorgerufen. Gody Suter, der Schweizer Literaturkritiker, schreibt in der Weltwoche über das Geleitwort von Huppert, es handele sich um „ein Stück ordinärer kommunistischer Propaganda“.47 Dieses Urteil unterstützt die österreichische Presse. Dagegen bleibt die westdeutsche Kritik eher neutral und stellt nur die Bedeutung von Majakovskij in Rahmen des Nachholbedarfes an russischer Literatur fest. Anlässlich des Erscheinens des ersten Bandes Gedichte streitet der Rezensent der Welt, der auf Russland und die Revolutionsliteratur spezialisierte Fachjournalist Jürgen Rühle,48 mit dem in Berkeley lehrenden Slavisten Gleb Struve und 43 Huppert 1966b, S. V. 44 Leonhard Kossuth an Friedrich Hübner, 18.10.2009. In: Hübner 2012, S. 367. 45 Vgl. Liste der Träger des Nationalpreises der DDR II. Klasse für Kunst und Literatur: https:// de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_Träger_des_Nationalpreises_der_DDR_II._Klasse_ für_Kunst_und_Literatur_(1960–1969)#1967. 46 Majakovskij 1960. 47 Die besprochenen Rezensionen liegen als Ausschnitte im SUA (DLA Marbach). Die Quellenangaben folgen den dort angebrachten handschriftlichen Zusätzen und sind (in unterschiedlichen Graden) unvollständig, 48 Rühle 1967.
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s einer Behauptung aus dem Standartwerk Geschichte der Sowjetliteratur, Majakovskij habe die russische Literatursprache zugrunde gerichtet und den Vers seines Wohlklangs beraubt.49 Er widerspricht Struve, dass Majakovskij ein bolschewistischer Marktschreier gewesen sei. Auf dieser Linie betont er drei Verdienste Hupperts, die wohl auch Unseld im Ohr hatte, als er sich mit dem österreichischen Kommunisten einließ: Er hat sich seit Jahrzehnten mehr als jeder andere um die Übertragung Majakowskijs verdient gemacht; er kennt intim die Verhältnisse in den zwanziger Jahren, die in den Versen als Reflex und Anspielung immer wiederkehren; und er hat, oft unter Opferung des sprachlichen Ranges, wenigstens eine Komponente der Majakowskijschen Dichtung herausgearbeitet: das Rhetorische, das Deklamatorische und Zündende. Majakowskij hat seine Gedichte stets öffentlich vorgetragen […].50
Im Vergleich mit den Übertragungen von Dedecius sehe man, „daß die größere Genauigkeit und das höhere sprachliche Niveau jener Ausgabe [von Dedecius] auf Kosten der Zitierbarkeit geht.“51 Anlässlich des Erscheinens des ersten wie des letzten Bandes Rühle52 Kritik am Insel-Verlag, der von anderen Rezensenten durchgehend für die Bekanntmachung dieses zentralen Dichters der russischen Revolutionskunst gelobt wird. Für Rühle handelt es sich bei der Edition um eine reine DDR-Ausgabe mit finanzieller Beteiligung des Insel-Verlags, der aber nirgendwo eingegriffen habe und völlig unkritisch selbst Stalins Einschätzung, der „beste, begabteste Dichter unserer Sowjetepoche“, im Klappentext wiedergegeben. Rühle hingegen ist wichtig, neben dem Agitpropdichter den Mitbegründer der russischen Moderne herauszustellen. Zu den Schwächen der Ausgabe in der Insel-Fassung zähle ferner die Ersetzung der wissenschaftlichen Einleitung des Literarhistoriker Leonhard Kossuth durch den nichtssagenden Text des „recht naiven, orthodoxen Kommunisten“ Hugo Huppert.53 Huppert polarisiert also, doch Insel/Suhrkamp setzt auf ihn. Peter Urban schlägt Huppert vor, Poeme von Pasternak zu übersetzen. Huppert sagt sofort zu und möchte auch Gedichte von Chlebnikov mitübersetzen. Urban, der zugleich Busch bei seinen Projekten hilft und von dem erfährt, wie geschwätzig und leer die Erinnerungen an Majakovskij von Huppert sind, zieht seinen Vorschlag eilig zurück. Aber es ist schon zu spät, und Huppert beginnt seine 49 Vgl. Struve 1963, S. 32. 50 Rühle 1967, S. 2. 51 Ebd. 52 Rühle 1967, S. 2; Rühle 1974. 53 Rühle 1967, S. 1; Rühle 1974.
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Nachdichtung von Pasternak. Walter Boehlich und Peter Urban verlassen inzwischen den Verlag, und da Unseld eher zurückweichend gegenüber dem hartnäckigen und skandalträchtigen Huppert agiert, schickt er seine Nachdichtung an Dedecius mit der Bitte, die Absage zu begründen. Jahre später denkt Peter Urban zurück und fragt sich, was er gemacht hätte, wenn er damals schon gewusst hätte, dass Hugo Huppert, „der gefeierte Nachdichter Majakovskijs, dessen Linker Marsch, deutsch gesungen von Ernst Busch, längst integraler Bestandteil der deutschen Arbeiterbewegung war, im Moskauer Hotel Lux während der Schauprozesse einer der übelsten Denunzianten und Zuträger des NKVD gewesen“ sei.54 3.3 Wolfgang Kasack Vom Mittlertyp her bilden Drohla und Huppert in den 1960-er Jahren eine ähnliche Konstellation wie Ilma Rakusa und Wolfgang Kasack nach ihnen: Auf der einen Seite eine in ästhetischen Kategorien denkende literarische Beraterin und auf der anderen ein kulturpolitisch ausgewiesener und engagierter Mittler. Wolfgang Kasack (1927–2003), Sohn des Schriftstellers Hermann Kasack, gerät kurz vor dem Kriegsende in sowjetische Gefangenschaft. Anschließend studiert er Slawistik und Osteuropäische Geschichte in Heidelberg und Göttingen. 1953 wird er mit einer Dissertation über Gogol’55 promoviert. In der Folgezeit arbeitet er zunächst als Dolmetscher für Russisch. Ab 1960 organisiert und koordiniert er in der Deutschen Forschungsgemeinschaft den Wissenschaftleraustausch zwischen der Bundesrepublik und der Sowjetunion. 1969 wird er zum Professor für Slawische Philologie an der Universität Köln berufen. Kasack gelingt es, eine feste Verbindung zwischen Hochschulslawistik und literarischen Verlagen aufzubauen. Seine einflussreichste Veröffentlichung ist das 1976 erschienene Lexikon der russischen Literatur ab 1917, fortgesetzt als Lexikon der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts.56 In den siebziger Jahre ersetzte dieses Lexikon das bekannte Werk von Gleb Struve über Sowjetische Literatur und dient allen westdeutschen Verlagen als Hilfsmittel bei der Orientierung im russisch-sowjetischen Umfeld. Durch seine Laufbahn ist Kasack ein idealer Vertreter der Kulturpolitik und von daher auch idealer Berater für Unseld. Kasack ist zudem eine bekannte Person in der Sowjetunion. Bei der Übersetzung des Romans von Kaverin 54 Chronik der Lektoren. Von Suhrkamp zum Verlag der Autoren. Verlag der Autoren, 2011. S. 88. 55 Kasack 1953. 56 Vgl. Kasack 1977; Kasack 1992.
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E rfüllung der Wünsche57 bittet die VAAP ausdrücklich darum, Kasack dafür zu gewinnen. 1972 und 1973 bemüht sich Kasack auf Wunsch von Elisabeth Borchers um eine Gastprofessur für Efim Etkind, der ihm damals noch unbekannt war, sowie um eine vierzehntägige Einladung in die BRD für „seinen“ und Drohlas Autor. Beides war erfolgreich. Auch wenn Unseld Kasacks Rat gerade als Kulturpolitiker schätzte, kam dessen Standpunkt keineswegs ungebrochen in der Verlagsarbeit zum Tragen. Der Kulturpolitiker Kasack als externer Berater fand seinen Gegenpart innerhalb des Verlages in Elisabeth Borchers, die bedingungslos auf literarische Qualität setzte. Ob dieses produktive Spannungsverhältnis so konzipiert war oder sich einfach ergeben hatte, sei dahingestellt; in jedem Falle funktionierte es produktiv. Ein erstes Beispiel: Kasack teilt 1978 Borchers mit, dass er das Manuskript von Evgenij Ternovskijs neuem Buch In der Aufnahmestation (Приёмное отделение) erhalten habe und sehr davon überzeugt sei; er würde es gerne selber übersetzen. Nach der Lektüre des Gutachtens sagt Borchers sofort zu. Kasack organisiert ein Treffen zwischen Ternonskij und Unseld, bei dem Unseld, ohne die Übersetzung gelesen zu haben, voreilig Ternovskij verspricht, ihn zum Suhrkamp-Autor zu machen und nicht nur einen Roman von ihm zu publizieren. Das ist eine einmalige Handlungsweise für Unseld, die von seinem absoluten Vertrauen in Kasacks zeugt. Nachdem Borchers aber die ersten 40 Seiten der Übersetzung erhalten hat, schreibt sie Kasack ratlos zurück, dass das Original offenbar viel schlechter sein müsse, als in seinem Gutachten attestiert: Ich glaube nicht, daß wir den Text als unantastbare Dichtung behandeln sollten. Wir müssen an unseren, den deutschen Text und seine Lesbarkeit denken und jene Lektoratsarbeit einbringen, die im Originalmanuskript nicht vorgenommen wurde.58
Borchers gibt das Manuskript zur Zweitbegutachtung an Gisela Drohla und bereitet in Unselds Namen einen harten Brief an Ternovskij vor, dass der geschlossene Vertrag aufgelöst werden müsse und das Buch nicht bei Suhrkamp erscheinen könne: „Die Kritik und die Öffentlichkeit legen ganz besondere Maßstäbe an unsere Bücher an, und auf Ihr Buch angewandt, würden diese Maßstäbe ihm nur schaden.“59 Ein ähnlicher Brief geht auch an Kasack ab.
57 Kavenin 1976. 58 S UA: Suhrkamp/03 Lektorate/Borchers: Wolfgang Kasack. 59 Ebenda.
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Drohla gibt zu bedenken, die beschriebenen Zustände träfen zwar zu, doch beschrieben wie hier, in einer „dummen Story“ mit „chic-vulgärem Moskauer Gauner- und Politikjargon“, dafür könne es dafür von der Kritik nur „Schelte“ geben. Außerdem: „ein Rückfall in den kalten Krieg. Etwas für die Quick.“60 Die Übersetzung sei ebenfalls inakzeptabel, weil der Übersetzer den Jargon nicht beherrsche. Ihr Urteil insgesamt: indiskutabler Kitsch. – Gedruckt wurde Kasacks Übersetzung des Romans schließlich 1979 bei Styria in Granz. Auch das russische Original konnte nicht in der Sowjetunion erscheinen, sondern 1979 in Frankfurt am Main. Ein zweites Beispiel bietet Borchers Einstellung gegenüber dem Projekt, eine Anthologie russischer Samisdat-Texte herauszubringen, also von Texten, die an der Zensur vorbei im illegalen Eigenverlag verbreitet worden waren. Entsprechende Publikation von 23 sowjetischen Schriftstellern sollten unter dem Titel Metropol erscheinen. Kasack, der die Sache betrieb, räumte ein, dass die Texte in vielen Fällen literarisch nicht überzeugend seien, deren Publikation aber eine wichtige literaturpolitische Tat darstellte. Borchers hingegen meint, dass das kulturpolitische Argument für den innerdeutschen Markt vielleicht trage, für das Ausland aber müsse zum Politischen unbedingt das Ästhetische hinzukommen. Mit solchen Argumenten hat sie auch drittrangige DDR-Autoren abgelehnt, die in DDR an Zensur litten, aber ästhetisch nicht überzeugend genug waren. Das komplizierte Verhältnis zwischen Elisabeth Borchers und Kasack nimmt 1990 ein abruptes Ende. Am 15.08.1990 schreibt Borchers an Kasack: Wir möchten Sie von Ihren Beratungslasten befreien, also den am 30. September 1977 geschlossenen Berater-Vertrag in Form eines Briefes kündigen. Die Lektoratsverhältnisse haben sich insofern seit dem Fortgang von Frau Dr. Martini-Wonde geändert, als nun das Lektorat für osteuropäische, insbesondere russische Literatur in Leipzig stattfindet.61
Kasack wendet daraufhin ein: Bei dem Beschluss, sich künftig nicht mehr von mir, sondern von Russisten in der ehemaligen DDR beraten zu lassen, werden Sie für diese Bereiche der russischen Literatur (Emigration und zweite Kultur) keine Ratgeber finden können […]. Die Kenntnisse über die russische Literatur als Gesamtheit sind dort noch recht gering und man sucht nach ergänzenden Informationen.62
60 Ebenda. 61 Ebenda. 62 Ebenda.
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Doch lässt sich Borchers nicht überzeugen und bittet Kasack, dem Verlag keine Vorschläge mehr zu unterbreiten. Im Jahr der deutschen Wiedervereinigung endet nicht nur die Vermittlertätigkeit von Kasack bei Suhrkamp, das Jahr 1990 stellt auch insgesamt eine Zäsur in der Mittlerarbeit des Verlages gegenüber Osteuropa dar. Es folgt eine andere Epoche mit anderen kulturpolitischen Förderungen und Prioritäten.63 In den achtziger Jahren aber hatte Kasack mit Dr. Angela Martini-Wonde eine zweite Ansprechpartnerin im Verlag gehabt, mit der sich das persönliche wie professionelle Verhältnis ganz anders gestaltete als mit Elisabeth Borchers. Martini-Wonde hatte 1987 das seit Peter Urbans Zeiten verwaiste interne Osteuropa-Lektorat übernommen. Kasack unterhält zu ihr freundschaftliche Beziehung – sie war die Taufpatin seiner beiden Kinder –, was die Kommunikation wesentlich erleichtert. Es entstehen zwischen beiden sehr viele Projektideen, unter anderem das Ogonëk-Projekt, in dem Texte aus der gleichnamigen russischen Zeitschrift versammelt werden sollten, was aber weder Fellinger noch Unseld einleuchtete. Ferner planten beide einen Sammelband mit der neuesten russischen Prosa, obwohl Ähnliches bei Fischer und Amman schon angekündigt war. Kasack schlägt Martini einen Sammelband mit Perestrojka-Erzählungen vor, nicht so sehr ästhetischen Charakters, sondern eher sachlich wichtige Texte, Zeichentexte, die die Zeit aufnehmen und wiedergeben: Fëdor Abramov, Andrej Bitov, Fazil’ Iskander, Boris Vasil’ev, Ion Druze (Druță). Grundprinzip der Auswahl sollte sein, dass die Texte erst jetzt, im Zeichen der Liberalisierung durch die Perestrojka, veröffentlicht werden konnten, sei es, dass sie erst jetzt geschrieben wurden, sei es, dass die früher verboten worden sind.64 Unterstützung für das Projekt fanden sie bei Dr. Joachim Unseld. Das ganze Perestrojka-Projekt bezeugt, dass beide Slavisten aus derselben wissenschaftlichen Logik heraus ihre Projekte entwickeln ohne auf die ganz andere Logik des Verlags zu achten, was Martini-Wondes erstrangige Aufgabe gewesen wäre. Im Zuge des Perestrojka-Projektes entscheiden sich beide für Jurij Nagibins Steh auf und geh, das von Kasack selbst übersetzt wurde. Innerhalb des Verlages löste das Slavisten-Duo zunehmend Beunruhigung aus. – Eine Perestroika: Zwischenbilanz kam 1990 tatsächlich bei Suhrkamp heraus, allerdings in der Herausgeberschaft von Klaus Segbers. Am 09.06.1989 schreibt Martini-Wonde etwas ernüchtert an Kasack:
63 Vgl. dazu in diesem Band Katharina Raabe. 64 S UA: Suhrkamp/03 Lektorate/Borchers: Wolfgang Kasack. Br. v. 26.08.1988.
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Allerdings müssen wir behutsam mit der Literatur vorgehen, der vornehmlich historische Themen, die Bewältigung der Vergangenheit, die stalinistische Zeit mit ihren Auswirkungen zugrunde liegen. In diesem Zusammenhang wird ja demnächst einiges bei Suhrkamp erscheinen und der deutsche Leser wird es müde, allzu viel Literatur dieses Inhalts zu lesen. Gefragt sind literarische Texte mit literarischen Themen. Aus diesem Grund wird auch Solouchins Smech za levym plechom zögerlich behandelt.65
Beide bereiten sich auf die Frankfurter Messe von 1992 vor, die unter dem Motto „Russland“ laufen sollte, was aber wegen des Zerfalls der Sowjetunion nicht zustande kam. 3.4 Ilma Rakusa 1980 beginnt das langjährige Verhältnis von Ilma Rakusa mit Suhrkamp, das bis heute andauert. Wir begrenzen uns auf den kleinen Ausschnitt von 1980 bis 1990. Ilma Rakusa, schweizerische Literaturwissenschaftlerin, Schriftstellerin und Übersetzerin, studierte Slawistik und Romanistik in Zürich, Paris und Leningrad. 1971 promovierte sie mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zum Thema Studien zum Motiv der Einsamkeit in der russischen Literatur zum Doktor der Philosophie. Von 1971 bis 1977 war sie Assistentin am Slawischen Seminar der Universität Zürich. Das erste Projekt von Rakusa bei Suhrkamp ist Dostojevski in der Schweiz. Ein Lesebuch für den Verlag Insel (1981). Kasack hatte sich in den 1970er Jahren vor allem als Kulturpolitiker bewährt, und Unseld ist offenbar auf der Suche nach einem Berater, der nicht nur Slavist wäre, sondern auch literarische Fähigkeiten und Kompetenzen, literarisches Sprachgefühl mitbrächte.66 Rakusa kommt in den Verlag zum richtigen Zeitpunkt. Im Umfeld des Projekts Dostojevski in der Schweiz stellt Unseld Rakusa ein Paar prüfende Fragen, etwa nach ihrer Einschätzung der dreibändigen Ausgabe von Marquis de Custine La Russie en 1839.67 Daraufhin schlägt sie ihm einen Sammelband mit den Texten zur russischen Geschichtsphilosophie, genauer zur Frage nach Russlands Verhältnis zum Westen vor. Unseld macht gleich dazu eine Notiz für Borchers und Dessauer; es soll bald im Verlag darüber gesprochen werden. Nichts davon wird bei Insel/Suhrkamp publiziert, denn viel mehr als russische Geschichtsphilosophie interessierte Unseld vermutlich die Person von Rakusa als potenzielle 65 S UA: Suhrkamp/03 Lektorate/Borchers: Wolfgang Kasack: (Briefwechsel Kasack-MartiniWonde ab 1987) nicht katalogisiert. 66 Aus dem Urteil von Drohla über Kasacks Übersetzungen und aus seinen eigenen Aussagen folgt, dass seine literarische Fähigkeiten und seine Russischkenntnisse ziemlich begrenzt waren und nur eine bestimmte Stilrichtung umfassten. 67 S UA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung/Autorenkonvolute/Rakusa, Ilma: 1980–1984.
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Lektorin im slavischen Bereich. 1983 schlägt Rakusa Unseld vor, Marina Cvetaeva für den deutschen Leser zu entdecken. Ihre Argumentation ist sehr klug aufgebaut. Sie beginnt damit, dass in Italien mindestens sieben Cvetaeva- Titel im Handel seien. Sie selbst befasse sich über zehn Jahre mit ihr und möchte Unseld einen Band mit Prosatexten vorschlagen, was für ihn attraktiver, weil weniger riskant ist als Lyrik-Übersetzungen. „Cvetaevas Prosa ist hervorragende Dichterprosa (derjenigen Mandelstams durchaus ebenbürtig!)“; mit diesem Argument knüpft sie die Linie an, die Unseld mit der Ägyptischen Marke von Mandel’štam begonnen hat. Unseld entscheidet sich dafür, und zwar in der Bibliothek Suhrkamp.68 Im November 1986, parallel zur Arbeit an Cvetaeva, bietet Unseld Rakusa an, auf Honorarbasis ein Jahr den Verlag in ihren Gebieten zu beraten: Russisch, Polnisch, Tschechisch, Jugoslawisch, Französisch – für verschiedene Programme und Reihen. Im September 1987 sollte entschieden werden, ob sie verlängert wird. Rakusa macht zum ersten Mal das, was vorher keiner der externen Lektoren vor ihr gemacht hat. Sie geht nicht nur von eigenen Interessen aus und empfiehlt nicht nur das, was sie persönlich interessiert und was sie selber betreuen könnte, sondern versucht, eine systematische und neutrale Beratung zu unterbreiten. Das belegen nicht nur ihre zahlreichen Empfehlungen auf alle möglichen Anfragen der Lektoren, sondern vor allem eine Vorschlagsliste vom Januar 1987, in der sie 106 Autoren des 20. Jahrhunderts für Unseld zusammengestellt.69 Wenn man die Liste genauer betrachtet, merkt man, dass Rakusa nicht so sehr vom Profil des Verlags ausgeht, sondern als Slawistin von der systematischen Darstellung der russischen Literatur. Suhrkamp ist für sie kein Verlag mit einer ausgeprägten Spezifik, sondern eher ein sehr renommierter Verlag, in dem man „klassische“ Werke unterbringen kann. Neben Autoren des „silbernen Zeitalters“, Marina Cvetaeva, Anna Achmatova, Nikolaj Gumilëv, Velerij Brjusov, schlägt sie auch lebende Autoren wie Junna Moric (Moritz) und Vladimir Vysockij vor, die doch einer etwas andere Liga angehören. Obwohl Suhrkamp im Osteuropaprogramm nicht als ein Verlag für sprachexperimentelle Texte aufgefallen war, schlägt Rakusa Velimir Chlebnikov, Daniil Charms und seine OBERIU-Gruppe (Aleksandr Vvedenskij, Nikolaj Zabolockij) vor. Obwohl Dmitrij Merežkovskijs Werke seit dem Beginn des Jahrhunderts mit Piper verbunden war, schlägt sie eine mehrbändige Ausgabe für Insel vor, und zwar allein aus dem Grunde, dass Merežkovskij ein „Klassiker“ sei. Die Liste ruft Interesse und Nachfrage von allen Seiten (Insel, BS, es, Theaterverlag) hervor. Doch Unseld scheint Rakusas Kanon enttäuscht zu haben, denn er reagiert gar nicht auf die Liste, und ein paar Monate später 68 Prosa in der Übersetzung Rakusas in der BS: Cvetaeva 1987 und Cvetaeva 1999. 69 S UA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung/Autorenkonvolute/Rakusa, Ilma 1985–1986.
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lässt er Rakusa über seine Sekretärin Schmölders mitteilen, das ab Juni 1987 Dr. Angela Martini-Wonde das russische Lektorat in Hause übernehme. Offenbar suchte er nach der Perestrojka nicht nur kulturpolitische Expertise, die zu dieser Zeit Kasack vertrat, oder eine literaturwissenschaftlich-slavistische Sicht auf Russland, die von Ilma Rakusa kam, sondern nach 19 Jahre Vakanz des russischen Lektorats jemanden, der dezidiert aus der Logik des Verlags agieren würde. Rakusa bewertet diese Einstellung sehr positiv und freut sich auf die gemeinsame Arbeit an der „Russischen Bibliothek“ für den Insel-Verlag, nach der sie Martini-Wonde ständig fragt. Diese aber verhält sich von Anfang an sehr zurückhaltend und eher abweisend. Im November teilt Unseld Rakusa mit, dass die Tätigkeit von Frau Martini-Wonde die ihrige nunmehr ersetze.70 Das ist ein unerwarteter Schlag für Rakusa, denn sie meinte, gerade ihre Liste habe Unseld zu dem Entschluss veranlasst, eine Lektorin eigens für slawische Literaturen einzustellen, die ihr ein kompetenter Gesprächspartner sein könnte. Unseld verlängert Rakusas Vertrag um ein halbes Jahr und dann nochmals um ein Jahr bis zum 30. Juni1990, um die „slawische Literatur zu stärken“.71 Man bemerkt aber sowohl bei Unseld als auch bei Martini-Wonde Misstrauen und Unzufriedenheit als konstanten Unterton. Erst die Aufführung von Cvetaevas Phoenix in Rakusas Nachdichtung der Schaubühne Berlin (Marz 1990), in der Bernhard Minetti die Hauptrolle spielte, lässt Unseld seine Entscheidung und Grundeinstellung ändern. Nach dieser Vorstellung schreibt er in seinem Jahresbericht, dass die Arbeit mit Martini-Wonde sich doch als produktiv erwiesen habe und Frau Rakusas Beratervertrag weiterhin verlängert werden solle. Zu diesem Zeitpunkt war Martini-Wonde jedoch schon aus dem Verlag ausgeschieden (1989), was Unseld besorgt, denn Rakusa könne den gesamten slawischen Bereich nicht allein bewältigen. Unseld weist sie auf das hervorragende Lektorat in Insel-Verlag Leipzig in, wo Marga und Roland Erb arbeiten, und hofft auf eine produktive Zusammenarbeit in der Zukunft. Literatur Achmatova, Anna Andreevna (1988)] Achmatowa, Anna: Gedichte. Russisch und deutsch. Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen von Ilma Rakusa. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= Bibliothek Suhrkamp, 983). 70 S UA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung/Autorenkonvolute/Rakusa, Ilma 1985–1986. Brief von 24.Nov.1987. 71 S UA: Suhrkamp/01 Verlagsleitung/Autorenkonvolute/Rakusa, Ilma: 1989–1990.
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– Bd. 5: Publizistik. Ausätze und Reden. Übertragen von Hugo Huppert. Mit einem Nachwort, Anmerkungen, einer Bibliographie des Herausgebers und 47 Abbildungen sowie einem Essay von Hugo Huppert. 1973. Majakovskij, Vladimir Vladimirovič (1980)] Majakowski, Wladimir: Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Leonhard Kossuth. Deutsche Nachdichtung von Hugo Huppert Mit einem Vorwort von Hugo Huppert, Anmerkungen und einer Bibliographie von Leonhard Kossuth. Frankfurt a.M: Suhrkamp (= werkausgabe es). Mandel’štam, Osip Ėmil’evič (1965)] Mandelstam, Ossip: Die ägyptische Briefmarke. Deutsch von Giesela Drohla. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= Bibliothek Suhrkamp, 94). Mierau, Fritz (2011): Witterung für ein Scheitern. Erinnerungen an eine MajakowskiEdition in der DDR. In: Portal Ideengeschichte 001/09–2011: https://www.unimarburg.de/fb03/politikwissenschaft/pi-nip/texte/fallstudien/mieraumajakowski. pdf. Nabokov, Vladimir Vladimirovič (1959)] Nabokov, Vladimir: Lolita. Aus dem Amerikanischen von Helen Hessel. Hamburg: Rowoht. Nabokov, Vladimir Vladimirovič (1974)] Nabokov, Vladimir: Ada oder das Verlangen. Hamburg: Rowohlt. Nagibin, Jurij Markovič (1989)] Nagibin, Jurij: Steh auf und wandle. Erzählungen. Aus dem Russischen von Wolfgang Kasack. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= edition suhrkamp, 1654). Pasternak, Boris Leonidovič (1958)] Pasternak, Boris: Doktor Schiwago. Roman. Deutsch von Reinhold von Walter. Frankfurt a.M.: S. Fischer. Pasternak, Boris Leonidovič (1971)] Pasternak, Boris: Initialen der Leidenschaft. Gedichte. Aus dem Russischen von Heddy Pross-Weerth. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= Bibliothek Suhrkamp, 299). Pasternak, Boris Leonidovič (1975)] Pasternak, Boris: Die Geschichte einer KontraOktave. Mit einem Nachwort von Jewgenij Pasternak. Aus dem Russischen von Heddy Pross-Weerth. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= Bibliothek Suhrkamp, 456). Paustovskij, Konstantin Gregorievič (1968)] Paustowskij, Konstantin: Erzählungen aus dem Leben. Übersetzung und Nachwort von Wolfgang Kasack. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= Bibliothek Suhrkamp, 563). Perestroika: Zwischenbilanz (1990). Herausgegeben von Klaus Segbers. Mit einem Vorwort des Herausgebers und Beiträgen von Boris Kagarlickij, Leonid, Gordon/ Eduard Klopov, Anatolij Sobčak, Vladimir Lysenko, Michail Maljutin/Michail Leont’ev, Vjačeslav Igrunov, Tat’jana Zaslavskaja, Jurij Levada u. a. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= edition suhrkamp, 1629). Pil’njak, Boris Andreevič (1981)] Pilnjak, Boris: Das nackte Jahr. Roman. Aus dem Russischen von Günter Dalitz. Berlin, Weimar: Aufbau, 1980; Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1981 (= Bibliothek Suhrkamp, 746).
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Dirk Kemper
Russische Literaturtheorie – made by Suhrkamp „Russische Literaturtheorie“ – man konfrontiere einen deutschen Literaturwissenschaftler, der lebensgeschichtlich die Blütezeit der Suhrkamp-Kultur von Mitte der sechziger bis Mitte der achtziger Jahre wenigstens zum Teil miterlebt respektive mitgelesen hat, mit diesem Schlagwort und sehe sich mit fünf kanonisierten Namen konfrontiert: Boris Ėjchenbaum, Viktor Šklovskij und Jurij Tynjanov, dann Michail Bachtin, schließlich Jurij Lotman. Der Befragte muss nicht unbedingt Eidetiker sein, um bei der Nennung dieser Namen gleich auch die verschiedenfarbigen Umschläge der „edition suhrkamp“ (später auch „suhrkamp taschenbuch wissenschaft“) zu erinnern. Einige andere Titel mögen sich in der Erinnerung hinzugesellen – vor allem Viktor Erlichs Russischer Formalismus in der deutschen Ausgabe bei Hanser 1964, Šklovskijs Theorie der Prosa bei Fischer 1966 und Jurij Striedters UTB-Band von 1971 –, aber russische Literaturtheorie in Westdeutschland bleibt außerhalb slavistischer Fachkreise eine Art „brand mark“ des Hauses Suhrkamp. Dabei sind es nicht einmal die Auflagenstärken, die diesen subjektiven Befund objektiv bestätigten: Ėjchenbaums Aufsätze zur Theorie und Geschichte der Literatur starteten in der „edition suhrkamp“ 1965 mit achttausend; von Šklovskijs Schriften zum Film und Tynjanovs Die literarischen Kunstmittel legte der Verlag 1966 und 1967 nur noch sechstausend Exemplare auf, und keiner dieser es-Bände ging in die zweite Auflage. ‚Wirkung‘ ließe sich wahrscheinlich eher über die Auswertung der Vorlesungsverzeichnisse westdeutscher Universitäten in den sechziger und siebziger Jahren nachweisen, wenn diese denn in einer Kompilation vorlägen. Ich selbst jedenfalls hatte seinerzeit das Vergnügen eines Hauptseminars zum „Russischen Formalismus“ bei Ingrid Strohschneider-Kohrs in Bochum. Ideengeschichtler neigen dazu, dort wo ‚Wirkung‘ zu verzeichnen ist, auch eine entsprechende ‚Absicht‘ zu unterstellen. Sie präsupponieren gern ‚Sinn‘, weil sie bei der Bearbeitung ihres Gegenstandsbereichs nicht bei der ‚Beschreibung‘ stehen bleiben wollen, sondern zur ‚Erklärung‘ vorstoßen möchten, also ein wenn auch nicht notwendiges, so doch hinreichendes Ursache-WirkungsVerhältnis ansetzen möchten. Welche Gefahren ein solcher Ansatz birgt, ist in den einleitenden Überlegungen zum Thema „Kulturtransfer und Verlagsarbeit“ bereits ausgeführt worden.1 1 Siehe die Einführung oben in diesem Band.
© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764091_009
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Im Sinne des in der Einleitung vorgeschlagenen Verfahrens soll die Transfer- und Transformationsgeschichte der drei es-Bände zum russischen Formalismus im Folgenden erschlossen werden, indem zunächst die internationale Vorgeschichte der Übersetzungen, die auf den Suhrkamp-Verlag einwirken konnte, rekonstruiert wird (I.). Im zweiten Schritt wird das Verlagsarchiv zur Entstehungs- und Realisationsgeschichte der drei Buchprojekte befragt (II.). Ein dritter Schritt aber wird nötig sein, um nicht nur die faktische Transfergeschichte, sondern auch die Transformationsgeschichte in das (west-)deutschsprachige Diskurssystem zu erhellen, denn nur dies wird belastbare Ergebnisse zu Transformation und Nostrifizierung der russischen formalen Schule in Westdeutschland liefern (III). Die Beschreibungskategorien ‚Transfer‘, ‚Transformation‘ und ‚Wirkung‘ sollen dabei nicht nur intentional auf die Absicht einer Mittlerfigur, hieße sie auch Busch oder Unseld, zurückgeführt werden, sondern als Ergebnis der funktionalen Konstellation von entgegenkommender Strömung in der Übersetzung des russischen Originals und aufnehmendem Bedürfnis im westdeutschen Literatursystem aufgefasst werden. 1 Alle Texte von Ėjchenbaum, Šklovskij und Tynjanov entstanden in der Blüte der russischen formalen Schule zwischen 1916 und 1926. Der Gründung des „Moskauer Linguistischen Zirkels“ 1915 folgte ein Jahr später die der St. Petersburger Gruppe OPOJAZ, der „Gesellschaft für die Erforschung der poetischen Sprache“ (Общество изучения Поэтического Языка). Diesen Theoretikerkreisen wurden und werden alle drei genannten Autoren zugerechnet. Bereits das Jahr 1928 markiert das baldige Ende der Gruppe, deren Anhänger sich zum Neopositivismus bekannten und denen man aus marxistischer Sicht eine skandalöse Blindheit gegenüber historisch und soziologisch relevanten Inhalten von Literatur vorwarf. Der Formalismus wurde offiziell verboten. Entstehen konnte der Formalismus, da er aufnehmende Bedürfnisse des russischen Literatursystems befriedigte. Das gilt einerseits für den Überdruss am vorherrschenden Biographismus wie an der damaligen vulgären Literatursoziologie, die literarische Texte als bestätigendes Material für außerliterarische Theoriekonstrukte nutzte. Dem setzte der Formalismus den Anspruch entgegen, die eigentliche Wissenschaft von der Literatur als Kunstform überhaupt erst begründen zu wollen beziehungsweise begründen zu können. Mit seinem neuen Fokus auf die artifizielle Gemachtheit von literarischen Texten bediente der Formalismus andererseits auch das Selbstverständnis zeitgenös-
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sischer Literaturströmungen wie des Symbolismus, Akmeismus und Expressionismus, vor allem aber des Futurismus.2 Eine Wirkung in den deutschen Sprachraum durch Übersetzungen oder Besprechungen lässt sich in diesen frühen Jahren nicht nachweisen. Was in den zwanziger und dreißiger Jahren folgte, waren Zwischenrufe, die verhallten. Immerhin trat mit Viktor Žirmunskij 1925 einer aus dem engsten Gründungszirkel an, um in deutscher Sprache über Geschichte, Methodologie und Theorie der formalen Schule3 zu berichten. Grundgelehrt entwickelt er die Geschichte und Vorgeschichte der formalen Schule, doch er schreibt ausschließlich aus dem eigenkulturellen Horizont der russischen Wissenschaftsgeschichte. Das heißt, er konfrontiert den nichtrussischen, hier deutschsprachigen Leser mit Namen wie Aleksandr Veselovskij4 und A. A. Potebn’a5 oder mit Termini wie ‚historische‘ oder ‚theoretische Poetik‘, mit denen das deutsche Publikum, das noch tief im geisteswissenschaftlichen Paradigma steckte, nichts anzufangen wusste. Kurz, Žirmunskij tritt als Fachgelehrter und Insider auf, nicht aber als Kulturmittler. Er sucht die internationale Community zu informierten, ohne die Sache wirklich aus der Ursprungskultur zu transferieren und im Sinne der Bedürfnisse der aufnehmenden Zielkultur zu transformieren. So konnte vielleicht noch sein Lehrer Veselovskij Endes des 19. Jahrhunderts schreiben; nach dem Ersten Weltkrieg jedoch waren die kulturellen Differenzen, der Grad an innerer Differenziertheit und die Abschottungsstrategien der nationalspezifischen Wissenschaftsvarianten von Germanistik, Slavistik und Komparatistik bereits viel zu ausgeprägt, um auf hohem theoretischen Niveau ein internationales Auftreten ohne Vermittlungsstrategie noch zu ermöglichen. Ähnlich unbeachtet blieb daher auch der bibliographisch ausgezeichnete Aufsatz von A. Voznesenskij aus Minsk über „Die Methodologie der russischen Literaturforschung in den Jahren 1910–1925“, erschienen 1927/28. Zehn Jahre später, 1937, meldete sich dann mit Dmitrij Čiževs’kij ein Slavist russisch- ukrainischer Abstammung zu Wort, der selbst bis 1913 in St. Petersburg studiert hatte. Zur Unzeit erschienen, hatte sein Aufsatz „Zur Komposition von Gogol’s ‚Mantel‘ “ kaum eine Chance gehört zu werden. Zudem schrieb Čiževs’kij als Anhänger des Formalismus Ėjchenbaums programmatische Analyse „Wie Gogolˈs Mantel gemacht ist“ einfach fort, ohne sich um dessen Vermittlung an die deutschsprachige Leserschaft zu bemühen. 2 Vgl. Neumann 1955. 3 Die Hauptkapitel der systematischen Darstellung bei Žirmunskij 1971 lauten: I. Zur Geschichte der „formalen Methode“; II. Methodologische Probleme; III. Theoretische Poetik; IV. Russische Literatur. 4 Vgl. Kemper/Tupa/Taškenov 2013. 5 Vgl. Aumüller 2005.
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Wirkungsvoller war dann die Fortentwicklung des russischen Formalismus im Prager „Linguistischen Zirkel“ um Roman Jakobson, an der auch Čiževs’kij teilhatte, aber diese wurde unter dem neuen Schlagwort des Strukturalismus rezipiert, was die Entstehung aus dem russischen Formalismus zunächst verdunkelte. – Zwischenrufe dieser verhallenden Art gab es in den zwanziger Jahren auch von Voznesenskij in englischer6 und in französischer Sprache.7 Die westdeutsche Slavistik bearbeitet den russischen Formalismus seit Beginn der fünfziger Jahre. Mit zwei instruktiven Beiträgen über „Sowjetrussische Literaturtheorien seit 1917“ und „Die formale Schule der russischen Literaturwissenschaft und die Entwicklung der russischen Literaturtheorien“ setzt Friedrich Wilhelm Neumann Akzente für die Fachwissenschaft.8 Die eigentliche Wiederentdeckung des Formalismus beginnt aber in den USA. Der 1914 in Petrograd/St. Petersburg geborene Victor Erlich arbeitete von 1948 bis 1961 an der Universität Seattle (Washington) und legte 1955 sein Buch Russian Formalism, versehen mit einem Vorwort von René Wellek, vor. Nach seinem Militärdienst in der U.S. Army hatte er in den späten Vierzigern bei Roman Jakobson an der Columbia University studiert, mit dem er auch während der Abfassung seines Buches in engem Austausch stand. Aus souveräner Kenntnis der Quellen rekonstruiert er im ersten Teil die Geschichte der Entstehung, des Wirkens und Nachwirkens der formalen Schule, deren „Lehre“ er im zweiten systematisch entfaltet.9 Auch wenn Erlich auf eine Vielzahl von vorgängigen Publikationen verweisen kann, begründet seine Studie doch erst den internationalen Diskurs über den russischen Formalismus. Erlich wie Wellek im Vorwort passen den Formalismus auch einem aufnehmenden Bedürfnis der amerikanischen Literaturtheorie an, indem sie vor allem Parallelen zum amerikanischen New Criticism herausstellen.10 Der Band erschien in der Reihe Slavistic printings and reprintings bei Mouton in Den Haag, wo 1962 und 1963 auch photomechanische Neudrucke von russischen Werken Ėjchenbaums und Tynjanovs folgten.11
6 Voznesenskij 1927. 7 Tomaševskij 1928. – Gourfinkel 1929. – Tieghem 1930. – Zum „Verhallen“ vgl. Danneberg 1996, S. 339. 8 Neumann 1952; Neumann 1955. 9 Die Überführung in ein System ohne Rücksicht auf die Selbstbeschreibung des russischen Formalismus als „Evolution“ theoretischer Ideen (Ėjchenbaum 1965a) wird von Striedter 1971a, S. XI f., kritisiert. 10 Vgl. Wellek: Preface. In: Erlich 1980, S. 10; Erlich 1980, S. 274 f. 11 Ėjchenbaum 1962; Ėjchenbaum/Tynjanov 1926.
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Erlichs Impuls nahm in Westdeutschland unmittelbar der Slavist Vsevolod Setschkareff auf.12 In seinen Beiträgen zur russischen Literaturtheorie wird erstmals erkennbar, welcher Interessenlage der russische Formalismus im westdeutschen Literatursystem entsprechen konnte. Setschkareff setzt den Formalismus ab von einem „Gebiet, das in Deutschland allzu leicht in metaphysischen Spekulationen endet“.13 Der Formalismus vermeide „jede ‚Metaphysik‘, die für die deutschsprachige Literaturforschung (zum Beispiel E. Staiger, Günther Müller) zur Gefahr wird“.14 Viktor Šklovskij wird bei ihm zum Gewährsmann einer russischen Variante der „Werkimmanenten Betrachtung des sprachlichen Kunstwerks“15 und damit zu einer Alternative zu Staiger und Kayser. 1960 rezensierte der Slavist Johannes Holthusen Ehrlichs Russian Formalism in der Zeitschrift Merkur. Einleitend stellt er das aufnehmende Bedürfnis der damaligen russischen Kunst (Kandinsky) und Lyrik dar, um den zeitgenössischen geistigen Nährboden für den neuen Theorieansatz zu skizzieren. Von einer irgendwie gearteten Wirkung in den deutschsprachigen Raum berichtet er nichts, wohl aber von der auf die amerikanische Literaturtheorie bei René Wellek und Austin Warren. Obwohl Holthusen den bahnbrechenden Charakter von Erlichs Studien herausgestellt hatte, dauerte es doch weitere vier Jahre (neun seit Erscheinen des englischen Originals), bis im Frühjahrsprogramm 1964 dessen deutsche Übersetzung erschien. Das von Marlene Lohner übertragene und 1964 bei Hanser erschienene Buch wäre bei Suhrkamp bestens platziert gewesen, doch dazu kam es zunächst nicht. Lohner hatte bereits für Gentner in Bad Homburg Wellek/Warrens Theorie der Literatur (1959) übersetzt, für Luchterhand Welleks Geschichte der Literaturkritik (1959), und 1965 kamen Welleks Grundbegriffe der Literaturkritik bei Kohlhammer in Stuttgart hinzu. Doch Suhrkamp holte knapp zehn Jahre später das Versäumte nach und nostrifizierte Erlichs Formalismus-Buch, indem das Haus die Lizenz von Hanser erwarb und den Band in der schwarzen Reihe „suhrkamp taschenbuch wissenschaft“ (1973) herausbrachte. Die Kritik reagierte auf die Übersetzung bei Hanser mit ungeteilter Anerkennung der Studie Erlichs. Reinhard Lauer rezensierte für die Fachwelt; der in den fünfziger Jahren überaus einflussreiche Literaturkritiker Hans Egon 12 Setschkareff 1955–57 erwähnt bereits Erlichs Buch, die frühere Vortragsfassung (Setschkareff 1954a) liegt jedoch vor dessen Erscheinen; ebenso Setschkafeff 1954b. 13 Setschkareff 1955–57, S. 94. 14 Setschkareff 1955–57, S. 97. 15 Setschkareff 1954b.
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Holthusen für das breite Publikum in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Was die Formalisten seinerzeit wollten, formulierte Holthusen so, als spräche er pro domo für die westdeutsche Literaturwissenschaft des Jahres 1964 – denn das Unbehagen an der Germanistik entstand ja nicht erst auf dem berühmten Münchener Germanistentag von 1966: Den Formalisten sei es, so Holthusen, darum gegangen, „die Literaturwissenschaft von ihren biographischen, ideenund kulturgeschichtlichen Wucherungen zu befreien und zur ‚Sache selbst‘, d. h. zum Sprachwerk als solchem vorzustoßen oder auch zurückzufinden“.16 Holthusens Denken war erstaunlich international. Am russischen Formalismus war er wahrscheinlich wegen seiner ausgeprägten Interessen an T.S. Eliot interessiert, der seinerseits auf die amerikanische Variante eines Formalismus aus konservativer Gesinnung, den New Criticism, eingewirkt hatte. Er schaute aber auch über die deutsche Mauer in die DDR, in der zeitgleich in altsowjetischer Manier ‚Formalismus‘ als Totschlagsargument gegen die sprachexperimentelle literarische Moderne eingesetzt wurde. Rainer Rosenberg hat davon eindringlich berichtet.17 Fassen wir die Überlegungen des ersten Teils zusammen: Die russische Publikations- und Rezeptionsgeschichte der Originaltexte erstens; der Prager Strukturalismus zweitens; die Vermittlungsleistungen der westdeutschen Slavistik drittens, dann aber vor allem die amerikanische Slavistik mit ihrer Ausstrahlung auf die amerikanische Literaturtheorie viertens; die deutsche Übersetzung von Erlichs Buch fünftens18 – all das sind Vektoren im literarischen Feld, die auf den Suhrkamp Verlag einwirken konnten. Dabei erscheint es gar nicht erstrangig von Belang, was davon in den Köpfen der dortigen Entscheidungsträger landete. Die Zufälligkeiten des Verschriftlichten und nun in Marbach Überlieferten lassen ohnehin darauf keine belastbaren Rückschlüsse zu. Vielmehr liefert die historische Auslotung des literarischen Feldes Indizien für das, worauf es uns besonders ankommt, nämlich für die Identifizierung und Datierung von entgegenkommender Strömung und aufnehmendem Bedürfnis, die Voraussetzungen für das Erscheinen und die Wirkung der drei „edition suhrkamp“-Bände bildeten. Unter diesem Aspekt erscheint ein zweiter Befund wichtig, dass nämlich bis zum Erscheinen des ersten es-Bändchens mit Ėjchenbaums Aufsätzen in Westdeutschland keine Verbindung zwischen russischen Formalismus und der französischen Strukturalismus-Debatte hergestellt wurde. Wir kommen darauf im dritten Teil zurück. 16 Holthusen, H.E. 1964, S. 34. 17 Rosenberg 1996. 18 Die Rezeption des russischen Formalismus im osteuropäischen Bereich vor allem in Tschechien und Polen dürfte hingegen keine Rolle gespielt haben.
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2 Werfen wir im zweiten Schritt einen Blick in das Archiv des Verlags. Der 1930 in Moskau geborene Alexander Kaempfe, der als Slavist in Heidelberg und München ausgebildet worden war, trat ab 1952 als Publizist und Übersetzer in Erscheinung, zunächst in den Verlagshäusern Fischer und Kindler. Bei Suhrkamp waren vor 1965 bereits seine Übertragungen der Lyrik Andrej Voznesenskijs, Aufsätze von Aleksandr Blok19 und Šklovskijs Zoo oder Briefe nicht über die Liebe20 erschienen – sämtlich in der „edition“ bei Günter Busch. Kaempfe war also im Hause bestens eingeführt, als er im April21 1964 Busch ein Gutachten unter dem Titel „Boris Eichenbaum in der edition suhrkamp“ einreichte.22 Der persuasive Text eröffnet mit einem ‚Die Zeit ist reif!‘: Die russischen Formalisten, die schon lange Zeit, zu den sog. „Geheimtipps“ gehören, sollten jetzt endlich, nach und nach, der deutschen Öffentlichkeit vorgestellt werden. Die gerade bei Hanser erschienene Monographie des amerikanischen Gelehrten Victor Erlich (die ich für den „Merkur“ besprechen werde) gibt einen recht guten Überblick über diese Richtung der russischen Literaturwissenschaft und wird sicher die Aufmerksamkeit mancher Leser darauf lenken.
In Frage kämen als Theoretiker Tynjanov, Šklovskij und Ėjchenbaum, weniger hingegen Roman Jakobson, dessen Schriften in tschechischen und vor allem englischen Übersetzungen hinlänglich zugänglich seien. Seine marktstrategischen Überlegungen gelten dann der Reihenfolge der anstehenden drei Autoren. Wenig praktikabel und auch nicht sinnvoll sei die Übertragung von Tynjanovs Aufsätzen aus dem Band „Archaisten und Neuerer“ von 1927, da diese ständig auf russische Lyrik der Zeit Bezug nähmen, die auf dem deutschsprachigen Buchmarkt noch gar nicht eingeführt sei. Im Fall Šklovskijs trägt Kaempfe Bedenken, diesen auf seine formalistische Vergangenheit festzunageln, die er vielleicht innerlich bereits überwunden hatte, als er gezwungen war, sie auch äußerlich aufzugeben. Schklowskij sollte man als Gesamtphänomen präsentieren – dazu fehlen aber vorerst die Voraussetzungen.
19 Vgl. DLA SUA: Kaempfe an Busch, 30.05.1963. 20 Vgl. DLA SUA: Kaempfe an Busch, 19.07.1967. Zu Šklovskijs Zoo bemerkt Kaempfe: „ein höchst intrigantes Werk, sentimentalischer spielerischer Briefroman mit dem damaligen Literaturklatsch (aber auf Schklowskijschem Geschmacksniveau).“ 21 Datiert nach DLA SUA: Kaempfe an Busch, 30.04.1964: „Mein Eichenbaum-Gutachten werden Sie erhalten haben.“ 22 D LA SUA: 4 S.
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Ėjchenbaums theoretische Schriften hingegen stammten sämtlich aus der Frühphase des russischen Formalismus und böten so die Gewähr, „ein klareres Bild“ dieser Richtung zu vermitteln. Es folgen Vorschläge zur Textauswahl. Aber auch an Šklovskij meldet Kaempfe für die Zukunft erhebliches Interesse an. Zudem denkt er an eine Übersetzung von Boris Viktorovič Tomaševskijs Lehrbuch zur „Poetik“, die er persönlich „ein ganzes Stück über ‚Das literarische Kunstwerk‘ von Kayser stellen würde“. Kaempfe endet – und damit rundet sich seine persuasive Strategie gegenüber Busch – mit einer Empfehlung Ėjchenbaums: Momentan kommt es aber darauf an, den russischen Formalismus in einer guten, straffen und handlichen Vorausschau faszinierend zu machen.
Zu einer dem deutschen Buchmarkt entgegenkommenden Strömung findet sich also nichts. Wohl aber kennzeichnet der Hinweis auf Kayser, den es als Literaturtheoretiker zu überbieten gelte, andeutungsweise ein aufnehmendes Bedürfnis, das auch Busch bestätigt: „Gemessen an dem, was heute bei uns als Literaturanalyse gilt, wirken Eichenbaums Thesen wie reine Wunderdinge“.23 Darin scheint durchaus eine Strategie, eine Mittlerabsicht auf, nämlich dem in seiner Sprachgrenze gefangenen, selbstbezüglichen deutschen Diskurs durch Internationalisierung neue Impulse zu verleihen. Busch schloss sich der Empfehlung Kaempfes an und begleitete die Arbeit am Ėjchenbaum-Band mit gelassenem und auf Qualität achtendem Interesse: „Wir sind der erste deutsche Verlag, der einen russischen Formalisten bringt: der Band muß also wirklich etwas taugen und auch etwas zeigen.“24 Doch noch während der Band entstand, wurde mit Viktor Šklovskij einer der russischen Formalisten in der westdeutschen Verlagsszene offenbar zum Hype. Mitten in Kaempfes eigene Pläne zu Šklovskij platze am 20. Oktober 1964 Busch mit der Nachricht: „Rowohlt wird den ganzen Schklowskij herausbringen, Zug um Zug. Das ist Pech und zugleich eine Lehre“. Diese Mitteilung veränderte die Diskussion zwischen Busch und Kaempfe grundlegend; ob Šklovskij in Westdeutschland marktfähig sei, stand nicht mehr zur Debatte. Nunmehr ging es um Marktstrategien, um den Zeitfaktor und die Reihenfolge möglicher Texte. Ich kenne das Verlagsgeschäft nicht gut genug, um beurteilen zu können, ob es sich bei der Nachricht über die Rowohlt-Pläne um eine Nebelkerze handelte, geworfen in der Absicht, der Konkurrenz die Sicht zu nehmen. Realisiert 23 D LA SUA: Busch an Kaempfe, 09.03.1965. 24 D LA SUA: Busch an Kaempfe, 03.06.1964.
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wurde das Projekt bei Rowohlt jedenfalls nicht. Auch Kaempfe war misstrauisch, fragte bei Busch nach, wie zuverlässig diese Information sei.25 Kaempfes Eigeninteresse war empfindlich gestört, denn er hatte Busch in Sachen Šklovskij zu einem „Angriff auf breiter Front“26 zu ermuntern versucht. Der Übersetzer kämpft für seinen Autor mit allen argumentativen Mitteln: „Selbst wenn Schklowskij als absoluter Suhrkamp-Autor à la Bloch, Adorno, Benjamin gestorben sein sollte[,] muß er meines Erachtens nicht unbedingt auch für die edition sterben.“27 Šklovskij sollte also nicht einfach übersetzt, er sollte „Suhrkamp-Autor“ werden, und das in einer hier offen angesprochenen Marktstrategie des Wechselspiels der Repräsentanz: Der Autor bestätigt das Image des Verlages wie der Verlag den Rang des Autors verbürgt – und damit natürlich auch den des Übersetzers, der den Autor ‚gemacht‘ hat. Um das zu retten, ist ihm auch ein letztes rhetorisches Mittel recht: „Wir sollten immer daran denken, daß die edition momentan schlechthin unschlagbar und nicht einholbar ist.“28 Das ist die Geschichte, die das Archivmaterial erzählt. Sie wäre zu ergänzen um viele interessante Details zu den Šklovskij- und Tynjanov-Bänden – und doch kommen so die relevanten Fragen nach aufnehmendem Bedürfnis und entgegenkommender Strömung als Faktoren, mit denen auch der Verlag kalkulieren muss, kaum in den Blick. Das Hintergrundwissen über den Zustand der Literaturwissenschaft in Westdeutschland, über die jüngere Wissenschaftsgeschichte der relevanten philologischen Disziplinen, über die stupende Ignoranz weiter Teile der Nachkriegsgermanistik gegenüber dem Ausland, all das mag in der Verlagskorrespondenz mitschwingen, aber es wird nicht verschriftlicht, denn dafür gäbe es in der Geschäftskorrespondenz auch kaum Anlässe. All diese Faktoren müssen im Folgenden extern erschlossen werden. Allgemeiner formuliert: Der Forscher soll eben nicht einfach die ‚Geschichte‘ aus den Archivalien erzählen, sondern eine ‚Geschichte‘ über die Archivalien, angeleitet durch ein erkenntnisleitendes Interesse, eine materialerschließende Fragestellung, die er außerhalb des Archivs gebildet hat und an das Archiv heranträgt. „Funde liegen“, so Anna Kinder unlängst, „in diesem Verständnis nicht einsammelbereit mehr oder weniger [im Archiv] versteckt herum, sondern entstehen erst im Zuge der konkreten Suchbewegung. Sie sind […] Teil und Ergebnis des Forschungsvorgangs.“ Das Einsammeln von Bruchstücken
25 D LA SUA: Kaempfe an Busch, 22.10.1964. 26 D LA SUA: Kaempfe an Busch, 09.09.1964. 27 D LA SUA: Kaempfe an Busch, 22.10.1964. 28 D LA SUA: Kaempfe an Busch, 22.10.1964.
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einer ‚Geschichte‘ aus den Archivalien allein lasse „literaturwissenschaftliche Funde“29 gar nicht zu. 3 Um das aufnehmende Bedürfnis für den russischen Formalismus und dessen entgegenkommende Strömung näher zu bestimmen, wenden wir uns deshalb vom Archiv ab und der Wissenschaftsgeschichte zu. Nach der Diskreditierung der Geistesgeschichte und anderer Strömungen im und durch den Nationalsozialismus vollzog die deutschsprachige Literaturwissenschaft den Wechsel zur werkimmanenten Interpretation, durch den man sich der Auseinandersetzung mit dem Außerliterarischen (Wellek/ Warren) zu entledigen suchte. Es wäre aber ein großes Missverständnis anzunehmen, dass sich die Literaturwissenschaft in diesem Zuge auch mit ihren durchaus diskussionsbedürftigen metaphysischen Fundamentalannahmen und Implikationen kritisch auseinandergesetzt hätte. Im Gegenteil, der ‚Geist‘, dem nunmehr das Attribut ‚deutscher‘ abhandengekommen war, feierte fröhliche Urständ. Ein Satz aus Emil Staigers Aufsatz „Die Kunst der Interpretation“ von 1951, der das Spezifische von Dichtung betrifft, mag als Beleg genügen: Es ist ein Geist, der das Ganze beseelt und – wie wir deutlich fühlen, ohne daß wir schon Rechenschaft ablegen könnten – sich rein in allen Zügen bewährt.30
Was dieser ‚Geist‘ sei, ob ‚Weltgeist‘, ‚deutscher Geist‘ oder der ‚Geist des Autors‘ – Staiger sieht keine Notwendigkeit, den Begriff auch nur annäherungsweise zu klären. Immerhin gibt er mit dem Hinweis auf „Heideggers Ontologie“31 einen Hinweis, wo der Leser, sofern er denn tatsächlich Begriffsklärung für notwendig halten sollte, selber suchen möge. Staigers Vortrag über die „Kunst der Interpretation“ hatte im Herbst 1950 in Freiburg auch Martin Heidegger beigewohnt, der Staiger in der Sache dann schrieb. Er nahm Anstoß an Staigers Interpretation des letzten Verses von Mörikes „Auf eine Lampe“, der lautet: Was aber schön ist, selig scheint es in ihm selbst.
29 Kinder 2015, S. 223, 222. 30 Staiger 1951a, S. 3. 31 Staiger 1951a, S. 2.
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Staiger hatte das ‚scheinen‘ (videtur – es erscheint als) relativierend auf Mörikes epigonale Situation bezogen, aus der heraus es ihm nicht mehr möglich gewesen sei, vollgültige Aussagen über das Wesen des Schönen zu treffen. Heidegger hingegen liest den Vers mit Hegel und fasst das ‚scheinen‘ ontologisch: selig leuchtet (lucet) es in ihm selbst (Heidegger wörtlich: „leuchtendes sich zeigen des Anwesenden“32). In einer zweiten Korrespondenzrunde reformuliert Heidegger das zuvor mit Hegel Gesagte im eigenen Jargon: Was aber als ein Schönes west, was kann es anderes als schmückend-lichtend eine Welt in ihrem Wesen (verbal) erscheinen lassen. […] Das Kunstgebilde echter Art ist selbst die Epiphanie der von ihm gelichteten und in ihm gewahrten Welt.33
Wozu dieses kurze Referat? Zunächst, die Sache hatte Folgen. Mit gutem Recht erschien die videtur-lucet-Debatte Staiger als Höhenkamm der damaligen literaturwissenschaftlichen Reflexion, und er brachte den Briefwechsel mit Heidegger noch 1951 in der von ihm mitherausgegebenen Zeitschrift Trivium zum Abdruck. Als er 1955 Aufsätze und Vorträge zu seinem Buch Die Kunst der Interpretation zusammenstellte, nahm er den Briefwechsel als zweites Stück auf. Die Texte erfuhren so einen enormen Zuwachs an Distribution, und beider Positionen, Heideggers gewiss nicht weniger als Staigers, entfalteten große Wirkung in der deutschsprachigen Literaturwissenschaft der fünfziger Jahre. Darüber hinaus aber bezeugt die Debatte, wie wenig die literaturwissenschaftliche Germanistik im Rahmen ihrer viel beschriebenen Wende von der Geistesgeschichte zur werkimmanenten Interpretation geneigt war, ihr metaphysisches Erbe, ihre tiefe Verwurzelung im deutschen Idealismus auch nur zu überdenken. Friedrich Sengle bezeichnete die Hinwendung zur Interpretation als Methode daher bereits 1952 als die „ontologische[] Wendung in der Literaturwissenschaft“, deren „Sucht nach anspruchsvoller ‚Tiefe‘ […] auf diesem modischen Wissenschaftsgebiet wahre Orgien“34 feiere. Dieser frühe Einspruch Sengles zeugt von einem – in den folgenden Jahren dann verstärkten – Bedürfnis nach Abwurf von metaphysischem Ballast, von metaphysischen Altlasten. Verstärkt wurde dieses Bedürfnis durch die zunehmende Erkenntnis, dass auf der Grundlage der Fundamentalannahmen einer videtur-lucet-Literaturwissenschaft der Literatur der Moderne nicht nur nicht beizukommen war; die Moderne war schlicht aus dem Gegenstandsbereich dieser Art von Literaturwissenschaft verbannt. Erinnert sei nur an Staigers 32 Nach Staiger 1951b, S. 8. 33 Nach Staiger 1951b, S. 13. 34 Sengle 1952, S. 103, 102.
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Züricher Rede von 1966 („Scheußlichkeiten großen Stils und ausgeklügelte[] Perfidien“35). Daraus entwickelte sich eine Richtung, die zwar keine radikale Grundlagenrevision vornahm, das Erkenntnisinteresse aber von der metaphysischen Kernfrage, wovon Literatur zeuge, zur Formfrage verlagerte, zur Frage, wie Literatur gemacht sei. Als Gebildeter unter ihren Verächtern schlägt Jost Hermand im Rückblick dieser Richtung Hugo Friedrich (Die Struktur der Modernen Lyrik. 1956), Peter Szondi (Theorie des modernen Dramas. 1956), Gustav René Hocke (Die Welt als Labyrinth. 1957) oder Walter Höllerer (Zwischen Klassik und Moderne. 1958) zu. Sie alle seien Vertreter eines „konforme[n] Nonkonformismus“ und erschöpften sich letztlich in einem „ins Formale entleerten Progressivismus“,36 der auf halbem Wege stehengeblieben und zu Brecht, Piscator oder Benjamin nicht durchgestoßen sei. Hermand behauptet hier eine Wirkung des russischen Formalismus, die sich in den genannten Schriften jedoch nicht nachweisen lässt. Vielmehr definiert die genannte Reihe von literaturwissenschaftlichen Studien das aufnehmende Bedürfnis der westdeutschen und deutschsprachigen Literaturwissenschaft, das den Suhrkamp-Publikationen entgegenkam. Diesem Bedürfnis nach einem Paradigmenwechsel weg von den metaphysischen Fundamentalzuschreibungen an das Schöne und an die Kunst hin zur Analyse der Formseite als dem Spezifikum des Literarischen entsprach durchaus, was sich als entgegenkommende Strömung in den Arbeiten der Formalisten fand. Ėjchenbaum skizziert in seinem Aufsatz „Die Theorie der formalen Methode“ einleitend die Evolution dieser Richtung. Sie will eine Wissenschaft von der Literatur über eine neue Bestimmung ihres Gegenstandes neu begründen, und zwar über die „Verstehbarkeit der künstlerischen Form und ihrer Evolution“.37 Programmatisch wird damit der alte Fragehorizont der akademischen Literaturwissenschaft nach dem Wesen des Schönen und den „Zielen der Kunst“38 für obsolet erklärt. Der Ballast der „normativen Ästhetik“ und „sämtliche[r] […] allgemeine[r] Theorien“39 wird abgeworfen und die neue Wissenschaft auf der Basis der „Tatsachenforschung“ beziehungsweise des „wissenschaftlichen Positivismus“40 begründet:
35 Staiger 1966, Sp. 2. 36 Hermand 1994, S. 131. 37 Ėjchenbaum 1965, S. 10. 38 Ėjchenbaum 1965, S. 9. 39 Ėjchenbaum 1965, S. 9. 40 Ėjchenbaum 1965, S. 12, 13.
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Die wichtigste Parole, die die ursprüngliche Gruppe der Formalisten vereinigte, forderte die Befreiung des poetischen Wortes aus den Fesseln philosophischer und religiöser Tendenzen […].41
Doch genau das hatten Friedrich, Szondi, Hocke und andere in der zweiten Hälfte der Fünfziger der Tendenz nach bereits praktiziert, wenn auch nicht in dieser Radikalität gefordert. Die Publikationen der Schriften Ėjchenbaums, Šklovskijs und Tynjanovs trafen zwar Mitte der sechziger Jahre auf ein wohl vorbereitetes Feld (aufnehmendes Bedürfnis und entgegenkommende Strömung stimmten überein42), aber sie liefen auch in gewisser Weise offene Türen ein. Die methodologischen Zugänge für die Beschäftigung mit der experimentellen, engagierten oder avantgardistischen Moderne waren bereits aufgestoßen, und die moderne Literatur der Selbstreflexivität hatte ihren Höhepunkt eher schon überschritten, als die Formalismus-Bände bei Suhrkamp erschienen.43 Das mag den begrenzten Verkaufserfolg erklären. Auffallend bleibt ferner, dass der russische Formalismus mit den drei „edition suhrkamp“-Bänden zwar von Russland über die USA in den deutschsprachigen Bereich transferiert, der Formalismus selbst aber keiner erkennbaren Transformation unterzogen wurde. Das Ausbleiben einer solchen Nostrifizierung im aufnehmenden System zeigt an, dass ein aufnehmendes Bedürfnis zwar vorhanden, aber nicht klar, spezifisch und stark genug ausgebildet war. Es reichte für eine interessierte Kenntnisnahme, nicht aber für eine nachweisbare Einwirkung auf den literaturtheoretischen Diskurs. Seine eigentliche Wirkung in Westdeutschland entfaltete der russische Formalismus denn auch erst seit Beginn der siebziger Jahre.44 Zwei entscheidende Transformationsstufen, die eng mit einander verwoben sind, machten dies möglich. Der Transformationsriemen läuft aber nicht in Deutschland, sondern in Frankreich, wo der Prager Linguistische Zirkel um Roman Jakobson breit in die Strukturalismus-Debatte einwirkte, die sich eigenkulturell zunächst mit dem Existentialismus Sartres auseinandersetzte. In diesem Rahmen stand jedoch die prinzipielle Frage an, ob und wie Sprach- und Literaturwissenschaft 41 Ėjchenbaum 1965, S. 12. 42 Am Rande sei bemerkt, dass Ėjchenbaum die formalistische Neubegründung der Literaturwissenschaft noch einem anderen aufnehmenden Bedürfnis im russischen System zuweist, nämlich der Überwindung der „impressionistischen Kritik“ (Ėjchenbaum 1965, S. 12). Darin trifft er sich dem Wortlaut nach völlig mit Staiger, der sich ebenfalls von einer pseudowissenschaftlichen Richtung absetzt, die „selten über die peinlichste Nachdichtung in Prosa, ein impressionistisch vages Gerede“ (Staiger 1951a, S. 2) hinauskäme. Allerdings kam dessen ‚Interpretation‘ diesem Bedürfnis nicht konsequent entgegen. 43 Vgl. Bogdal 1990, S. 15. Vgl. dazu auch Rosenberg 1996, S. 311. 44 So auch Danneberg 1996, Anm. 81, S. 339
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über Gegenstandsbereich und Methode miteinander verbunden seien, genauer, ob sich eine strukturalistische Literaturwissenschaft werde entwickeln lassen, nachdem eine strukturalistische Sprachwissenschaft schon Erfolge feierte. Bereits in seinem wissenschaftsgeschichtlichen Rückblick aus dem Jahres 1969 bringt Beda Allemann den russischen Formalismus als frühes Theoriereservoir dafür in Anschlag und spricht ihm Wirkung auf die Strukturalismus-Debatte zu, allerdings nicht vermittelt über die deutschen Editionen bei Suhrkamp, sondern über die französische Auswahledition von Tzvetan Todorov von 1965, für die Roman Jakobson ein Vorwort geschrieben hatte. In dieser Vermittlungsform sei der russische Formalismus Teil jener „eigentümliche[n] Kettenreaktion“ geworden, deren Ergebnis schließlich als „Panstrukturalismus“45 ironisiert worden sei. Erst diese Transformation innerhalb der französischen Strukturalismus- Debatte begründete die Wirkung des russischen Formalismus in Westdeutschland.46 In bemerkenswerter Parallelität stehen dafür Ingrid Strohschneider-Kohrs als Vertreterin einer durchaus konservativen Germanistik und Jurij Striedter als slavistischer Literaturtheoretiker mit ausgeprägten Interessen an den zeitgenössischen Debatten Osteuropas. Beide transformieren und nostrifizieren den Formalismus, indem sie ihn mit anderen zeitgenössischen Strömungen zusammenführen; beider Publikationen stammen aus dem Jahr 1971. Den aufkochenden Theoriedebatten nähert sich Strohschneider-Kohrs mit Distanz und Vorsicht. Als höchst aktuell nimmt sie die Grundfrage des spannungsreichen Verhältnisses von „Literatur und Geschichte“ auf, um ein „Grundmotiv“ zu isolieren und dessen „Kontinuität“ im Wissenschaftsprozess zu verfolgen, um schließlich zu einem „Arbeitsprogramm“47 zu gelangen. Wie sie dabei den französischen Strukturalismus, die Rezeptionsästhetik der Konstanzer Schule, dann aber vor allen Dingen den russischen Formalismus und den Prager Strukturalismus in einen zielführenden Dialog bringt, soll hier nicht referiert werden.48 Schaut man allein auf die herangezogenen Bezugstexte und liest einmal die Fußnoten im Fluss, so ergibt sich folgendes Bild: Roland Barthes Literatur oder Geschichte sowie die Beiträge zur marxistischen Erkenntnistheorie von Alfred Schmidt (beide in der „edition suhrkamp“) 45 Allemann 1969, S. 147. 46 Zu „Transnationale Wanderungsbewegungen des Strukturalismus“ vgl. Klausnitzer 2010. Er relativiert zwar kenntnisreich das Bild eines Vorsprungs der französischen Strukturalismus-Debatte, doch betrifft das nicht speziell die Wirkungsgeschichte der hier herangezogenen Editionen. 47 Strohschneider 1971, S. 4, 31. 48 Vgl. Bogdal 2002, S. 67–69.
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spannen den Fragehorizont auf, nach Rückgriffen auf einige ältere Positionen werden Ėjchenbaum, Šklovskij und Tynjanov vor allem in den Editionen der es-Bände breit herangezogen, Tynjanov/Jakobson im Suhrkamp-Kursbuch 5 folgen, schließlich Jan Mukařovský und Robert Kalivoda wiederum in der „edition“. Die sogenannte Suhrkamp-Kultur dominiert dieses Feld also bei weitem, und sie gewinnt einen selbstauslegenden Charakter, soll heißen: Die literaturtheoretische Debatte wird zum einem großen Teil in Suhrkamp-Organen geführt und bildet so die Evolution dieses Diskurses ab, die nachträglich auch die frühen Publikationen der russischen Formalisten in einen neuen Theoriezusammenhang transformiert. Ähnlich steht es im zweiten Falle: Jurij Striedter aktivierte für die Transformation des russischen Formalismus ein anderes Kontextsystem, als er ebenfalls 1971 seine Edition Russischer Formalismus. Texte zur allgemeinen Literaturtheorie und zur Theorie der Prosa in der UTB-Reihe bei Fink vorlegte. Seine umfassende Einleitung definiert das aufnehmende Bedürfnis viel klarer und präziser, als es Kaempfe Mitte der Sechziger möglich gewesen war. Das hat nicht nur mit dem unterschiedlichen Zuschnitt von Fachkompetenz und Horizont der Beteiligten zu tun, sondern auch mit der Dynamik jener Revolten-Jahre, die Theoriediskussionen bis zum Überkochen anfeuerte und beschleunigte. Mit Ėjchenbaum fasst Striedter schon die Theoriedebatte der Entstehungszeit in Russland als „Evolution“,49 in der sich die ursprünglich eher synchron und (sozial-)geschichtsferne Ausrichtung der formalen Schule50 (retrospektiv „scholastischer Formalismus“51) allmählich für die Diachronie und den Evolutionsgedanken innerhalb der Literatur selbst geöffnet habe. Einen vorläufigen Zwischenstand habe diese Entwicklung 1928 in dem Aufsatz von Jakobson und Tynjanov „Probleme der Literatur- und Sprachforschung“ gefunden. Der Siegeszug des orthodoxen Marxismus sowjetischer Couleur und die Unterdrückung der Formalen Schule hätten jedoch verhindert, was der Sache nach dringend notwendig gewesen wäre, nämlich eine fruchtbare Debatte zwischen Formalismus und Marxismus über das Verhältnis von innerliterarischer Evolution und allgemeiner Geschichte.52 Genau diese stand aber für Striedter 1971 höchst aktuell auf der Agenda, und zwar vermittelt über den Prager Strukturalismus und dessen Nachfolger von Lévi-Strauss bis Barthes, den „avantgardistischen Marxismus“53 aus Tschechien 49 Vgl. Ėjchenbaum 1965a. 50 Vgl. Čiževsˈkij 1991, S. 298. 51 Striedter 1971a, LXXXII nach Kursbuch 5, S. 74–76. 52 Vgl. Striedter 1971a, LXXII. 53 Vgl. Striedter 1971a, LXXXII.
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à la Karel Kosík54 und die Rezeptionsforschung von Jauß. Bereits Enzensbergers Kursbuch 5 von 1966 hatte viele dieser Autoren zum Thema Strukturalismus vereinigt. Die Einzelheiten müssen hier nicht entfaltet werden, doch ist es gerade diese Transformation des russischen Formalismus durch Anschluss an die zeitgenössische Strukturalismusdebatte einerseits, an das offene – und immer offener werdende – Feld des „avantgardistischen Marxismus“ andererseits, die Striedters Vermittlungsansatz des russischen Formalismus auch zum Verkaufserfolg machte (5. Aufl. 1995). Dieser kam zwar dem Hause Fink zugute, doch das Transformationssystem einander überkreuzender Theoriedebatten war vorwiegend von (Auch-)Suhrkamp-Autoren gestaltet und in Suhrkamp-Reihen bezieungeweise Suhrkamp-Medien wie Theorie oder im Kursbuch bestritten worden. Übrigens ist es wiederum kontingenten Umständen geschuldet, dass Striedters Edition nicht bei Suhrkamp erschien. Als slavistisch ausgebildeter Lektor hatte Peter Urban bereits 1967 Striedter umworben, am Ausbau des Russischen Formalismus im Verlagsprogramm des Hauses Suhrkamp mitzuwirken.55 Die für beide Seiten attraktive Verbindung scheiterte einfach daran, dass Striedter einschlägige Pläne bereits mit dem Wilhelm Fink-Verlag angestellt hatte und diese bei Fink zum Teil auch schon prospektiert worden waren.56 Literatur Allemann, Beda (1969): Strukturalismus in der Literaturwissenschaft? In: Kolbe, Jürgen (Hg.): Ansichten einer künftigen Germanistik. München: Hanser (= Reihe Hanser, 29), S. 143–152. Aumüller, Matthias (2005): Innere Form und Poetizität. Die Theorie Aleksandr Potebnjas in ihrem begriffsgeschichtlichen Kontext. [Diss. Hamburg 2005] Frankfurt a.M. u.a.: Lang. Bachtin, Michael (1979): Die Ästhetik des Wortes. Hg. u. eingl. v. Rainer Grübel und Sabine Reese. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= edition suhrkamp, 967). Barthes, Roland (1969): Literatur oder Geschichte. Aus dem Französischen übersetzt von Helmut Scheffel. Frankfurt a.M.: Suhrkamp (= edition suhrkamp, 303). Blok, Aleksandr Aleksandrovič (1964)] Blok, Alexander: Ausgewählte Aufsätze. [Ausgew. u. aus d. Russ. übertr. von Alexander Kaempfe]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (= edition suhrkamp, 71). 54 Kosík 1967. 55 Vgl. DLA SUA: Peter Urban an Jurij Striedter, 25.08.1967. 56 Vgl. DLA SUA: Jurij Striedter an Peter Urban, 25.09.1967.
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Mirosława Zielińska
Der Suhrkamp Verlag als Vermittlungsinstanz polnischer Literatur 1 Das Jahr 1959, in dem Siegfried Unseld die Leitung des Suhrkamp Verlags übernahm, markiert nicht nur den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte des Verlags, sondern auch eine relevante Zäsur in der Periodisierung der deutschen Literatur. Literaturgeschichtliche Studien betrachten die Wende der 1950er/1960er Jahre als Ende der sogenannten „Literatur der Ersten Stunde“ und als Beginn der „Neuen deutschen Literatur“. Zu den Werken, auf welche die Literaturwissenschaft in Zusammenhang mit dieser Zäsur hinweist, gehören unter anderem die Romane Die Blechtrommel (1959) von Günter Grass, Mutmaßungen über Jakob (1959) sowie Das dritte Buch über Achim (1961) von Uwe Johnson, Billard um halb zehn (1959) von Heinrich Böll, Halbzeit (1960) von Martin Walser sowie die Lyrikbände Verteidigung der Wölfe (1957) und Landessprache (1960) von Hans Magnus Enzensberger. Angesichts der Tatsache, dass die Werke von vier der sieben hier genannten Autoren im Suhrkamp-Verlag erstpubliziert wurden, lässt sich mit einiger Berechtigung behaupten, dass es dem Verleger Siegfried Unseld gelungen ist, sein Verlagshaus und dessen Autoren/-innen in den Veränderungsprozess der (west)deutschen Kultur einzuschreiben. In diesem Kontext gewinnt die vielzitierte Passage aus Unselds Brief an Hans Magnus Enzensberger vom Juli 1960, in dem es um Enzensbergers neuen Gedichtband geht, eine neue Dimension: „für die geschäftsmäßige Ordnung des Verlages […], aber auch für die Geschichte brauchen wir ein Dokument, das festhält: die ‚Landessprache‘ ist erschienen“.1 Die Neuprofilierung des Suhrkamp Verlags in den frühen 1960er Jahren fand ihren markantesten Ausdruck im Bestreben, eine neue Leserschaft zu erschließen, namentlich die Generation der um 1930 Geborenen. Dieser Generation gehörte auch der informelle Beirat Unselds an: Martin Walser, Hans Magnus Enzensberger und Uwe Johnson. Die Gruppe 47, die in den Jahren 1958 bis 1963 zur tonangebenden Intellektuellengruppe und zu einer Institution des öffentlichen Lebens geworden war, 1 Siegfried Unseld an Hans Magnus Enzensberger, 13.07.1960; zit. nach: Amslinger/Grüne/ Jaspers 2015, S. 190.
© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764091_010
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leitete darüber hinaus insbesondere auf soziokulturellen Gebiet etliche Debatten ein, die das Prestige der Literatur und das öffentliche Interesse am literarischen Leben wesentlich stärkten. Von den Mitgliedern der Gruppe 47 gingen auch viele wichtige Impulse für Entwicklungen im verlegerischen Subfeld aus, nicht zuletzt deshalb, weil Personen wie Siegfried Unseld (Suhrkamp), Fritz Arnold (Fischer-Bücherei, Insel, Hanser), Fritz J. Raddatz (Rowohlt, später Feuilletonchef der Zeit) sowie Walter Höllerer und Hans Bender (seit 1954 Herausgeber von Akzente) sich an den Treffen der Gruppe beteiligten. Alle erwähnten Akteure kamen auf unterschiedlichste Weise auch mit polnischer Kultur in Berührung. Was die ‚polnischen Gäste‘ und ihren durch die Gruppe 47 stark beförderten Eintritt ins westdeutsche literarische Feld betrifft, müssen dabei zwei wichtige Momente berücksichtig werden. Zu Gästen der Gruppen 47 gehörte um die Wende der 1950er, 1960er Jahre unter anderem der polnische Exil-Schriftsteller Tadeusz Nowakowski. Sein Roman Polonaise Allerheiligen (1959), von Hans Werner Richter in den Almanach der Gruppe 47 aufgenommen, wurde zu einem wesentlichen Argument in der Auseinandersetzung zwischen dem Exil-Schriftsteller Hermann Kesten und Hans Werner Richter.2 Ausganspunkt ihrer Debatte war die tiefe Kluft zwischen den Vorstellungen, die die Exil-Schriftsteller auf der einen und die Autoren im Umfeld der kulturpolitischen Zeitschrift Ruf. Unabhängige Blätter der neuen Generation auf der anderen Seite davon hatten, was die „Neue deutschen Literatur“ eigentlich sei. Verstanden sich die Exil-Schriftsteller vor allem als Zeitzeugen, befassten sich die jungen Autoren hingegen mit Grundsatzfragen, die sie im Ruf diskutierten. Zu den Mitdiskutanten der Gruppe 47 gehörten auch zwei deutsch-polnisch-jüdische Literaturkritiker: Marcel Reich-Ranicki und der Übersetzer und Theaterwissenschaftler Andrzej T. Wirth. Beide trugen das Ihre dazu bei, die zentrale Position der Gruppe und die von ihr begünstige „Literatur“, „Poetologie“ und „Rezeptionshaltung“ im westdeutschen Literaturbetrieb zu etablieren.3 Im Sommer 1960 wurde von Erhard Friedrich und Henning Rischbieter die Zeitschrift Theater heute gegründet. Am Profil der Theaterzeitschrift wirkte auch der Dramaturg, Drehbuchautor, Theater- und Hörspielregisseur Ernst Wendt mit. Die Zeitschrift, die sich als Antwort auf Theater der Zeit verstand,4 richtete ihr Augenmerk auf die Bühnen des gesamten deutschsprachigen 2 Kesten hat den Text von Nowakowski, der die KZ-Erfahrung thematisiert, als den besten Text des Bandes bezeichnet und auf diese Weise bekräftigt, dass sich die neue deutsche Literatur dem Thema stellen muss. Vgl. Braese 1999, S. 205. 3 Vgl. Preußer 2012, S. 68; Cofalla 1998, S. 13. 4 Theater der Zeit wurde 1946 von Vertretern der Vorkriegsgeneration, Fritz Erpenbeck (1897– 1975) und Bruno Henschel (1900–1978) im Osten des geteilten Berlin gegründet. Spätes-
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Raums, einschließlich jener der DDR. Aufgabe der Zeitschrift war es, die „übergreifenden Zusammenhänge und Tendenzen im zeitgenössischen Schauspiel“5 kommentierend und reflektierend zu begleiten und sich für eine neue Dramatik einzusetzen. Darüber hinaus fungierte Theater heute von Anfang an als Diskussionsplattform zur Erneuerung des deutschen Theaters und Schauspiels. Dank der „Ausrichtung auf ein international orientiertes und gesellschaftlich relevantes Theater“6 diente das Blatt als Vermittlungsinstanz von Dramen und Autoreninnen und Autoren aus der ganzen Welt. Walter Schmitz weist auf die entscheidende Rolle der Redakteure der Theaterzeitschrift und der mit ihr zusammenarbeitenden transkulturell orientierten Kritikergruppe hin (als deren bemerkenswertestes Mitglied der Publizist, Übersetzer und Redakteur François Bondy zu nennen ist). Sie nahmen unter anderem bei der Etablierung der Dramen von Sławomir Mrożek und Witold Gombrowicz auf deutschsprachigen Bühnen in den 1960er Jahren eine führende Vermittlerrolle ein. Prüft man die Struktur der von Suhrkamp seit 1956 herausgegebenen Spectaculum-Hefte, scheint es durchaus legitim, sie als Mini-Anthologien der ‚dramatischen Weltliteratur‘ zu bezeichnen. Die Internationalisierung des kulturellen und intellektuellen Feldes,7 die Kompensation des Mangels an literarischer und künstlerisch-avantgardistischer Moderne in Westdeutschland war für Suhrkamp von ähnlich großer Relevanz wie für die Zeitschrift Theater heute auf dem Gebiet der Dramatik. Zu den frühesten gatekeepern der Literaturphänomene aus Polen und Ostmitteleuropa gehörte unter anderem die bereits 1954 von Walter Höllerer in Zusammenarbeit mit Hans Bender gegründete Literaturzeitschrift Akzente. Da sich diese Zeitschrift programmatisch als Plattform „[n]euer, ungewohnter und damals als problematisch empfundener Literatur“ definierte,8 kam ihr rasch eine Vermittlerrolle im internationalen Literaturdialog zwischen Ost und West zu. Karl Dedecius, Andrzej T. Wirth, Witold Wirpsza, François Bondy9 und andere fanden hier die Möglichkeit, deutschsprachige Leser auf interessante, polnische Literatur aufmerksam zu machen. Neben den genannten Zeitungen und Zeitschriften stellte der Rundfunk ein wichtiges Vermittlungsmedium dar. Deutsche Hörer kamen auf diesem Weg oft zum ersten Mal mit Dramen- und Prosatexten polnischer Autoren ten seit Mitte der 1950er Jahre wurde die Monatszeitschrift als das Theater-Blatt der DDR wahrgenommen. 5 Rischbieter 2010, S. 6. 6 Ebenda. 7 Vgl. Tommek 2015, S. 22f. 8 Bender 1979, S. 163. 9 Vgl. Nosbers 1999, S. 317; Schmitz 2006, S. 136.
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in Berührung. Auch wenn der westdeutschen Hörerschaft die Autoren kaum bekannt waren, konnten diese doch die Aufmerksamkeit von Literatur- und Theaterzeitschriften sowie von (Bühnen-)Verlagen auf anderem Weg auf sich ziehen. Auch Buchmessen wirkten in Zeiten kaum existenter diplomatischer Beziehungen zwischen Bonn und Warschau als Begegnungsorte besonderer Art, boten Gelegenheit zu offiziellen Besuchen und Gegenbesuchen von Vertretern der Verlage, Kulturinstitutionen und -verbänden.10 Welche Rolle polnische Literatur in diesem Prozess der Modernisierung und Internationalisierung der westdeutschen Literatur spielte, soll an Beispielen erläutert werden. 2 Auf Sławomir Mrożeks Drama Die Polizei wurde Maria Sommer, Leiterin des (West-)Berliner Bühnenverlags (Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb, GKBV), von Günter Grass nach seiner Rückkehr aus Warschau im Juni 1958 aufmerksam gemacht. Grass gehörte zu denjenigen Autoren, die mit dem Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb zusammenarbeiteten, darüber hinaus verkehrte er mit dem Theaterwissenschaftler, Übersetzer, Vermittler und späteren Berater des Bühnenvertriebs Andrzej T. Wirth.11 Zusammen mit Wirth besuchte Grass die Uraufführung von Die Polizei im Warschauer „Teatr Dramatyczny“ und brachte das Heft der Theaterzeitschrift Dialog mit dem Abdruck des Dramas nach Deutschland mit.12 Nach der deutschen Erstaufführung von Die Polizei in der Regie von Fritz Rémond am Kleinen Theater am Zoo13 (Frankfurt a. M., Spielzeit 1958/1959) wurde Mrożeks dramatisches Werk in den nachfolgenden Jahren an deutschsprachigen Bühnen intensiv nachgefragt. Allein bis 1963/1964 wurde das Stück an etwa 30 Bühnen erstaufgeführt.14 Das Aufnahmephänomen „Mrożek“ wurde häufig mit folgendem Zitat aus der Rezension von Jan Kott kommentiert: „Witkacy kam zu früh, Gombrowicz ist abseits, Mrożek kam als erster zur rech-
10 Vgl. Blumenfeld 1986, S. 258; Schneider 1966, S. 228. 11 Vgl. Misterek 2002, S. 41f. 12 Die Uraufführung fand am 26 Juni 1958 in Warschauer Teatr Dramatyczny statt, Regie: Jan Świderski, Bühnenbild: Jan Kosiński. Gleichzeitig wurde das Stück in der Theaterzeitschrift Dialog 1958/6 abgedruckt. 13 Vgl. Bauer 1988, S. 131. 14 Misterek, 2002, S. 144 ff.
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ten Zeit. Nicht zu früh und nicht zu spät. Und zwar auf beiden Uhren: auf der polnischen und der westeuropäischen“.15 Der Münchener Slawist Heinrich Kunstmann arbeitete seit Ende der 1950er neben seiner akademischen Tätigkeit auch als Übersetzer und Literaturvermittler. Kunstmann besorgte die Vermittlung der polnischen Avantgarde, von Witold Gombrowicz und Stanisław Ignacy Witkiewicz; er übersetzte Dramen und Prosatexte von Sławomir Mrożek, Zbigniew Herbert, Jerzy Lutowski, Tymoteusz Karpowicz, Jerzy Krzysztoń, Ireneusz Iredyński, Jerzy Broszkiewicz, Urszula Kozioł und anderen. Am Beginn seiner Arbeit standen nicht nur Übersetzungen, sondern auch Hörspieladaptionen von Dramen- und Prosatexten, die eine jahrzehntelange Zusammenarbeit mit deutschen Radiosendern mit sich brachte. Schon die Erstsendung des von ihm übersetzten Hörspiels Wir sind mitten in der Operation [Ostry dyżur] von Jerzy Lutowski wurde ein Erfolg (Norddeutscher Rundfunk, Juni 1957). Kunstmann war auch Übersetzer von Mrożeks Drama Die Polizei. Größeren Bekanntheitsgrad erreichte das Stück durch die ebenfalls von Kunstmann für Radio Bremen eingerichtete Hörspieladaption, die im März 1960 erstmals ausgestrahlt wurde. Eine weitere Dramenfassung von Die Polizei stellte Kunstmann für die Spectaculum-Anthologie von 1961 her. Die Initiative ging vom Hause Suhrkamp aus, wie ein Brief des Cheflektors, Walter Böhlich, an Kunstmann zeigt: wir bereiten gerade unseren nächsten Spectaculum-Band vor, der im Herbst dieses Jahres erscheinen soll. Er wird vornehmlich Stücke politischen Inhalts enthalten. Für diesen Band haben wir die Rechte an dem polnischen Stück Die Polizei von Sławomir Mrożek erworben.16 Wir kennen das Stück aus der Übersetzung, die Sie für den Kiepenheuerschen Theaterverlag gemacht haben, und wollten Sie fragen, ob Sie geneigt und bereit wären, diese Übersetzung noch einmal für unsere Buchausgabe zu überarbeiten. Natürlich müssen wir Sie zunächst und vor allem fragen, ob Sie damit einverstanden sind, daß wir Ihre Übersetzung abdrucken. Dieser Abdruck soll natürlich honoriert werden. Ich lege Ihnen auf alle Fälle einen Prospekt der Spectaculum-Bände bei, damit Sie sich ein Bild machen können. […].17
Aufnahme in den Spectaculum-Band fand auch ein Essay Kunstmanns über „Polens schielende Literatur“. 15 Kott, Jan (1965): Rodzina Mrożka [Mrożeks Familie]. In: Dialog 10, 1965, S. 72. Hier zit. nach Behring/ Kliems et. al. (Hg.) 2004, S. 495. 16 Die fehlenden diakritischen Zeichen im Namen Sławomir Mrożeks wurden von der Verfasserin ergänzt. 17 Walter Böhlich an Heinrich Kunstmann, 22.04.1961, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA.
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Nachdem der Kontakt zu Böhlich hergestellt war, konnte Kunstmann auch auf Zbigniew Herberts Drama Die Höhle des Philosophen [1960, Jaskinia filozofów] hinweisen, von dem er bereits eine Hörspiel-Fassung für Radio Bremen (Ausstrahlung Nov. 1960) angefertigt hatte.18 Bei dieser Gelegenheit erlaube ich mir noch eine andere Frage zu stellen. Ich habe im Vorjahr ein Theaterstück des polnischen Dichter und Philosophen Zbigniew Herbert, „Die Höhle des Philosophen“, ins Deutsche übersetzt und damit einen riesigen Erfolg gehabt. Das Stück wurde als Hörspiel in Gemeinschaftsproduktion von Radio Bremen und RIAS herausgebracht und unlängst auch vom NDR wiederholt. Die Kritik hat, was ja selten genug vorkommt, übereinstimmend das Stück wegen seiner geistigen Dichte der Auseinandersetzungen gelobt und hervorgehoben. Wenn Sie das interessieren sollte, kann ich Ihnen das einzige noch existierende Sendeexemplar von Radio Bremen einmal zur Lektüre vorlegen. Im Grunde ist es gerade weniger ein Theater- als vielmehr ein Lesestück.19
In der Korrespondenz finden sich auch Überlegungen des Lektors hinsichtlich der Konzeption weiterer Spectaculum-Bände. „Wir bereiten einen Hörspiel- Band“ vor, erklärt Böhlich, „und sähen in diesem gern auch das nie verlorene Polen vertreten“.20 Dieses zur Grundlage der Verständigung herangezogene Bild lässt sich auf das Stereotyp „der edlen Polen“ zurückführen21 und diente wohl dazu, die in Westdeutschland herrschende Unwissenheit über polnische Kultur zu überspielen. In seinem Antwortbrief knüpft Kunstmann an den Satz des Lektors an und korrigiert: Recht schönen Dank für Ihren Brief vom 14.12. [1962] und Ihr Interesse an den ‚nieverlorenen‘ Polen. […] Was ich Ihnen seinerzeit vorlegte, war kein MrożekText, sondern ein Hörspiel von Zbigniew Herbert.22
Für den geplanten Hörspiel-Band schlägt er nicht mehr Die Höhle das Philosophen vor, sondern Das andere Zimmer [1960, Drugi pokój].23 Der Übersetzer weist darauf hin, dass auch dieser Hörspieltext inzwischen Anerkennung seitens des Rundfunks und des Westberliner Bühnenverlags (GKBV) gefunden habe. Das Hörspiel sei seit seiner Erstsendung im August 1960 (NDR, Hamburg)
18 Vgl. Fischer/Steltner 2011, S. 196ff. 19 Kunstmann an Böhlich, 14.04.1961, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA. 20 Hervorhebung der Verfasserin. 21 Vgl. Hahn; Hein-Kircher; Kochanowska-Nieborak 2008, S. 3–15. 22 Kunstmann an Böhlich, 15.12.62, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA. 23 Vgl. Fischer/Steltner 2011, S. 196 ff.
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wenigstens zehnmal ausgestrahlt worden,24 und „der Gustav Kiepenheuer Bühnenvertrieb [denkt] daran, das Stück mit einem Różewicz-Einakter zu koppeln und als Bühnenspiel herauszubringen“.25 Kunstmann setzt Walter Böhlich auch über die zeitnah geplante Erstausstrahlung eines weiteren von ihm übersetzten Herbert-Hörspiels in Kenntnis: Rekonstruktion eines Dichters [Rekonstrukcja poety] (Westdeutscher Rundfunk Köln).26 Sein Fazit lautet: „Man reißt sich um ihn wie um keinen zweiten Polen.“27 Danach geht die Korrespondenz im Hause Suhrkamp an den Lektor Karl Markus Michael über, dem die Edition des Spectaculum-Hörspiel-Bandes überantwortet worden war. Michel bekundet Interesse an Herberts Hörspiel-Texten, von denen ihm Das andere Zimmer bereits bekannt war. Von Kunstmann über die Tatsache informiert, dass der Henssel Verlag über die ausschließlichen Nutzungsrechte an Mrożeks Texten verfüge, antwortet Michel: „Daß die Arbeiten von Mrożek nicht mehr frei sind, bedauere ich sehr, aber Zbigniew Herbert ist ein vollgültiger Ersatz“.28 Bis zum 10. Januar 1963 erhielt Michel die (Hörspiel-) Manuskripte von Die Höhle des Philosophen,29 Das andere Zimmer30 und Rekonstruktion eines Dichters31 zur Einsicht. Die Entscheidung fiel schließlich auf Die Höhle des Philosophen.32 Im weiteren Verlauf der Korrespondenz mit Michel bis Ende 1963 setzt sich Kunstmann für Zbigniew Herberts Essay-Band Barbar im Garten [Barbarzyńca w ogrodzie] ein: Weil wir kürzlich am Telefon über interessante polnische Buchtitel sprachen: „Der Barbar im Garten“ wäre Ihrem Verlag sehr warm ans Herz zu legen. Das sind außerordentlich gescheite Essays über Herberts Reisen durch Italien und Frankreich, teils philosophisch-ästhetische Eindrücke, teils kulturhistorische Eindrücke vermittelt. Besonders eindringlich und anregend schreibt Herbert darin über die Malerei. Das Buch ist von der polnischen Kritik einmütig (und das will wahrlich etwas heißen) als die beste Essay-Sammlung seit langer Zeit anerkannt worden. – Ich habe beim Autor einen Band angefordert, den ich Ihnen zu gegebener Zeit vorlegen will. Interessiert Sie das?
24 Kunstmann an Böhlich, 15.12.62, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA. 25 Ebenda. 26 Ebenda. 27 Ebenda. 28 Ebenda. 29 Kunstmann an Michel, 02.01.1963, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA. 30 Kunstmann an Michel, 10.01.1963, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA. 31 Kunstmann an Michel, 29.12.1962, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA. 32 Michel an Kunstmann, 29.01.1963, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA.
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Michels Interesse war geweckt.33 Die Korrespondenz zwischen Kunstmann und Michel gibt einen Einblick in den Entscheidungsprozess im Hause Suhrkamp, die hier Zbigniew Herbert betreffen, der bald tatsächlich zum „Suhrkamp-Autor“ werden sollte.34 Zur gleichen Zeit übernahm Siegfried Unseld (nun seit vier Jahren Leiter des Suhrkamp Verlags) auch den Insel Verlag und gründete die Reihe „edition suhrkamp“, die schnell zu einem wichtigen Forum für deutschsprachige und internationale Literatur wurde. Seit dem Frühjahr 1962 stand Unseld im Briefverkehr mit Dedecius,35 und mit der Neueinstellung von Karl Markus Michel als Lektor (ein Jahr zuvor) wurden die notwendigen Bedingungen für die Erweiterung des Verlagsprogramms gegenüber der mittel- und osteuropäischen Literatur geschaffen. Mit der Entscheidung, „sich in Sachen polnischer Literatur [zu] engagieren“,36 wurde auch das Kontaktnetz zu verschiedenen Vermittlern slawischer Literaturen systematisch ausgebaut. 3 Im Dezember 1961 entstand in Wien auf Initiative des Journalisten, Lektors und Kritikers Wolfgang Kraus die Österreichische Gesellschaft für Literatur (ÖGfL). Die neue Wiener Literaturinstitution steckte sich drei Ziele: die junge österreichische Literatur im Inland und Ausland zu fördern; Exilautorinnen und Autoren nach Österreich zurückzuholen; Kontakte mit Autorinnen und Autoren aus mittel- und osteuropäischen Ländern jenseits des ‚Eisernen Vorhangs‘ aufzunehmen beziehungsweise aufrechtzuerhalten. Eine zweite Literaturinstitution, die sich in ihrem Programm explizit dem „Austausch zwischen Ost und West“ verpflichtete,37 war das Literarische Colloquium Berlin (LCB), das 1963 von Walter Höllerer gegründet worden war. Da der Bau der Berliner Mauer (August 1961) den Bedeutungsverlust des isolierten Westberliner Stadtteils zu besiegeln drohte, wurden die vom LCB organi33 Michel an Kunstmann, 06.05.1963, SUA: Suhrkamp/03Lektorate, DLA. 34 Vgl. Zajas 2015, S. 386–410. 35 Vgl. Siegfried Unseld an Karl Dedecius, Brief vom 03.04.1962, Karl-Dedecius-Archiv/ Deutsche Verlage/(Signatur: 13–03–1), Viadrina Frankfurt/Oder. 36 Der von Hedwig Nosbers interviewte Karl Dedecius entsann sich hinsichtlich der Aufnahme der Zusammenarbeit mit dem Suhrkamp Verlag Anfang der 1960er Jahre: „Zuerst bekundete Böhlich, der damalige Cheflektor von Unseld, Interesse an polnischer Literatur. Dann wurde ich von Unseld zu einem persönlichen Gespräch eingeladen. Er sagte, er wolle sich in Sachen polnischer Literatur engagieren. So kam es, daß Suhrkamp mit sehr viel Fingerspitzengefühl z.B. Herbert herausbrachte“. Zit. nach: Nosbers 1999, S. 177. 37 Vgl. Becker 2013, S. 6.
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sierten internationalen Werkstätten, Treffen, Debatten und Förderprogramme für ausländische Autorinnen und Autoren als Strategien gegen die Isolation Westberlins verstanden.38 Die Gründung des Colloquiums wurde von der Überzeugung geleitet, dass aus der neuen Begegnungsplattform wichtige Erneuerungsimpulse für die deutsche Kultur (Literatur aller Genres und des modernen Theaters) gewonnen werden könnten. Für Karl Dedecius und seine eigenen Vermittlungsinitiativen war damit ein günstiger Zeitpunkt gekommen. Dedecius agierte nach einem selbst entworfenen Szenario: Er wollte nicht so sehr einem konkreten Autor oder einer konkreten Autorin beim Eintritt in das westdeutsche Literaturfeld Hilfe leisten, sondern generell polnische Kultur im deutschsprachigen Raum etablieren. Der Kontakt zu den Wiener Institutionen stellte die geistige Verbindung zur ostmitteleuropäischen Welt der Vorkriegszeit her, allen voran zum Autor der Unfrisierten Gedanken, Stanisław Jerzy Lec, der zusammen mit Witold Wirpsza und Roman Karst zu den „Warschauer Gästen“39 der ÖGfL im Juni 1962 gehörte und zwei Jahre später, im November 1964, aus seinen Neuen unfrisierten Gedanken las. Mit Wolfgang Kraus von de ÖGfL arbeitet Dedecius in der Folge eng zusammen. Dedecius’ Briefe zeugen von der immensen Bedeutung von Literaturvermittlern im Austausch mit anderssprachigen Literaturen. Im Transferprozess stellt ein Mittler wie Dedecius kein passiv dienendes Element dar, sondern ein höchst aktives: Er entscheidet, welcher fremdsprachige Autor überhaupt für Übersetzungen et cetera in Frage kommt; er bewertet und hierarchisiert die in Frage kommenden Autoren, und das persönlich Engagement des Mittlers entscheidet darüber, ob ein polnischer Autor beispielsweise seinen Weg in einen deutschen Verlag wie Suhrkamp findet. De facto agiert er oft wie ein persönlicher Agent. So schreibt Dedecius an Dr. Breicha von der ÖGfL: Heute endlich hat mir Herbert aus Paris geschrieben und mich gebeten, Ihnen in seinem Namen zu antworten […]. Er dankt Ihnen und der Gesellschaft herzlich 38 In diesem Kontext kann man die Live-Übertragung der ersten Veranstaltungsreihe des LBC, „Modernes Theater auf kleinen Bühnen“, durch das Ersten Fernsehprogramm 1964/1965 als gut durchdachte und gezielte Strategie bezeichnen. Im März-Heft von Theater heute (3/1965) konnte man den Bericht Karl Günter Simons über „Höllerers Festival Modernes Theater auf kleinen Bühnen“ und den Abdruck von Witold Gombrowiczs Dramas Trauung lesen, das im Rahmen des Festivals aufgeführt wurde. Witold Gombrowicz und Ingeborg Bachmann gehörten zu den ersten Gästen des LCB. Vgl. Lawaty/ Zybura (Hg.) (2006). 39 Am 08.06. fand die Lesung der drei Autoren und am 13.06.1962 die Diskussion zum Thema „Polens Beitrag zur Literatur von heute“ statt. Vgl. ÖGfL, www.ogl. at/archiv/programmeab-1961. (Zugriff: 25.09.2017).
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Mirosława Zielińska für die freundliche Einladung und kommt gern nach Wien, und zwar wie Sie es vorgeschlagen haben „in der ersten November-Woche“. Sie können also beliebig disponieren und einen Tag wählen, der Ihnen angenehm ist. Herbert wird in der letzten Oktober-Woche in Frankfurt eintreffen, wo ihm sein Verlag (Suhrkamp) einen Empfang geben wird (höchstwahrscheinlich am 30.10.1964). Anfang der ersten November-Woche werden wir uns dann beide – entsprechend Ihrer Terminplanung (die Details werden Sie uns ja noch mitteilen) – auf den Weg nach Wien machen.40
Im Entwurf des Autorenprofils Herberts legte der Übersetzer einen besonderen Akzent auf dessen Aufenthalt in Paris und seine (Bildungs-)Reise durch Europa; zweitens zog er als Positionierungsstrategie den in Vorbereitung befindlichen Lyrikband des Autors heran. Indem Dedecius den Fokus eben gerade nicht darauf legte, dass Herbert mit seinem Werk in deutscher Übersetzung debütierte, sondern darauf, dass „sein Verlag (Suhrkamp)“ für ihn einen „(Begrüßungs-)Empfang“ veranstaltete, evozierte er das Bild eines bereits anerkannten Lyrikers. Da zugleich die Anerkennung des Vermittlers/Übersetzers an das Prestige der von ihm vermittelten Autoren und Autorinnen gekoppelt war, hing auch Dedecius‘ Status davon ab, ob und inwieweit es ihm gelang, ein überzeugendes Bild einer anerkennenswerten, außergewöhnlichen Persönlichkeit zu vermitteln. Ganz nebenbei gibt die Korrespondenz zwischen Karl Dedecius und der ÖGfL auch Einblick in die Realien der 1960er Jahre. Herbert als polnischer Bürger musste immer wieder um die Verlängerungen seines Aufenthaltsvisums nachsuchen, im Falle seiner Griechenland- oder Englandreisen benötige er sogar jedes Mal ein neues Visum. Der Suhrkamp Verlag und die Österreichische Gesellschaft waren behilflich.41 Solche Details führen vor Augen, was es konkret hieß, „sich in Sachen polnischer Literatur [zu] engagieren“.42 Generell bedeuteten Kontakte mit mittel- und osteuropäischen Autorinnen und Autoren zusätzlichen Aufwand an Zeit, Arbeit und Energie. Darüber hinaus sei darauf hingewiesen, dass Dedecius sich erneut das wachsende Renommee des Suhrkamp Verlags zunutze zu machen wusste.43 Das zweite Autor-Vermittler-Duo, nämlich Dedecius und Różewicz, konnte sich dem Wiener Publikum erst im Oktober 1967 vorstellen. Die von der ÖGfL 40 Dedecius an Breicha, 03.06.1964, Dedecius-Archiv/09. Veranstaltungen: Lesungen, Vorträge, Referate/(Signatur 09–1572), Viadrina Frankfurt/Oder. 41 Dedecius an Breicha, 11.09.1964, Dedecius-Archiv/09. Veranstaltungen: Lesungen, Vorträge, Referate/(Signatur 09–1578), Viadrina Frankfurt/Oder. 42 Nosbers 1999, S. 177. 43 Vgl. Marré 1995, S. 95.
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im Wiener Palais Palffy veranstaltete Autorenlesung trug den Titel Neue Gleichnisse, und in ihrem Zentrum stand die „Neue Lyrik von Tadeusz Rozewicz“. Die Einführung wurde wie üblich Karl Dedecius überantwortet, dann hatte der polnische Autor das Wort. Bis 1967 konnte den deutschsprachigen Rezipienten somit eine kleine Probe des vielseitigen Œuvres Różewicz‘ vorgestellt werden, 1965 Formen der Unruhe, 1966 Blicke, 1967 Schild aus Spinngeweb und 1966 der Band Der unterbrochene Akt und andere Stücke. Das erste der genannten Bücher erschien bei Carl Hanser, das zweite bei Hake in Köln, die beiden letzteren bei Suhrkamp. Das Beispiel Różewicz‘ bestätigt, dass mit der Übernahme des Suhrkamp Verlags durch Siegfried Unseld sich der Frankfurter Verlag als tonangebender Akteur im verlegerischen Feld positionieren konnte und Pionierarbeit hinsichtlich des Eintritts polnischer Literatur ins verlegerische Feld leistete. Um die Wende 1967/1968, als sich der Hanser Verlag seine Strategie hinsichtlich einer Übernahme weiterer polnischer Autoren beziehungsweise Texte überdachte (es wurden Witold Gombrowicz, Jerzy Szaniawski und Tadeusz Różewicz in Betracht gezogen), schrieb der Lektor Fritz Arnold (1916–1999) an Karl Dedecius: Was Sie über Rózewicz und Szaniawski und die Warschauer Messe sagen, leuchtet mir sehr ein und aus diesen Gründen hatte ich ja auch ursprünglich an Szaniawski gedacht. Herr Dr. Hanser hielt es aber für richtig, gerade auch im Hinblick auf Suhrkamps Herbert Unternehmungen, dass wir Rózewicz zu unserer Sache machen. […] Vielleicht ist es dann, wenn Rózewicz nun nicht mehr zurück will, am besten, wir einigen uns auf Ihren Kompromissvorschlag und bringen Różewicz und Szaniawski.44
Zwar wird hier überlegt, ob man um neue Autoren/-innen werben oder in den bereits verlegten und anerkannten Autor investieren soll, doch letztlich war aber die Übernahme des Lyrikers Zbigniew Herbert ins Suhrkamp-Verlagsprogramm das entscheidenden Argument des Hanser-Verlags, seinerseits Tadeusz Różewicz herauszubringen. Die Argumentation von Arnold illustriert, wie wichtig die Akkumulation von symbolischem Kapital für die Positionierung im verlegerischen Feld war.
44 Fritz Arnold an Karl Dedecius 19.02.1968, Dedecius Archiv/16. Autoren/11. Różewicz, Tadeusz/ (Signatur 16–11–553), Viadrina Frankfurt/Oder. – 1968 und 1969 erschienen bei Carl Hanser zwei Różewicz-Bände: Entblößung. Erzählungen. Aus dem Polnischen von Paul Pszoniak [Peter Lachmann] und der Lyrikband Offene Gedichte. Auswahl von Gedichten aus den Jahren 1945–1969. Aus dem Polnischen von Karl Dedecius.
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Das Bild Herberts und Różewicz‘ als Repräsentanten zweier unverkennbarer lyrischer Idiome, die Karl Dedecius systematisch zu vermittelt versuchte,45 wurde nun dank der Einladung der beiden Autoren (zusammen mit ihrem Übersetzer) durch Walter Höllerer zu einer vom Literarischen Colloquium Berlin im Winter 1966/1967 veranstalteten Debatte um die moderne Lyrik verstärkt.46 Die sich in Berlin versammelnde internationale Gruppe von 21 Autorinnen und Autoren wurden mit der Herausforderung konfrontiert, „die Lage des Lyrikers und der Lyrik neu zu bestimmen“.47 Die wichtigsten Probleme waren hierbei auf der einen Seite, den Bedeutungsverlust der Lyrik zu eruieren, und auf der anderen Seite, die immer mehr wahrnehmbare Gefahr ihrer Vereinnahmung im Namen bestimmter gesellschaftlicher Interessen und unterschiedlich legitimierter Parteilichkeiten zur Diskussion zu stellen. Die Lyrik und die lyrischen Programme der Vertreter Ost-, Mittel- und Nordeuropas – Różewicz und Herbert, Tomas Tranströmer und Lars Gustafsson (Schweden), Miroslav Holub (Tschechoslowakei) und Vasco Popa (Jugoslawien) – wurden zum Anlass, auch die deutsche Lyrik zu befragen und (neu) zu evaluieren.48 Was Herbert und Różewicz anbelangt, war man unterschiedlicher Meinung, wessen Renommee und Resonanz im literarischen Feld als größer zu betrachten sei.49 Während Ulrich Steltner, der die Aufnahme polnischer Dramatik im deutsch-deutschen Vergleich analysiert, darauf hinweist, dass „die Theaterkritiker […] in aller Regel auf den Lyriker Różewicz Bezug“ nahmen,50 leitet Horst Denkler die Bedeutung von Różewicz „armer Dichtung“ insbesondere für die deutschen Nachkriegslyriker aus dem bekannten Dictum Theodor Adornos über Lyrik nach Auschwitz ab.51 Zbigniew Herbert wiederum, den man als einen „avantgardistischen Klassizisten“ (Edward Hirsch) und „philosophierenden Dichter“ („Es ist, als wäre jedes Gedicht Herberts eine Fußnote zu einem Philosophischen Traktat“52) bezeichnete, wird im soziokulturellen Feld des deutschsprachigen Raumes vor allem geschätzt, weil er die Ideen der Humanität und der menschlichen Vernunft rehabilitierte.53 Der britischer Lyriker und Literaturkritiker Alfred Alvarez (in den Jahren 1956–1966 unter an45 Vgl. Dedecius 1962, S. 7–22. 46 Vgl. Dedecius 2006, S. 252–254. 47 Bender 1967, S. 1. 48 Vgl. Carpenter 2000, S. 11; Skibińska 2008, S. 265–269; Zielińska, 2015, S. 462–469; Zielińska 2016, S. 142–148. 49 Vgl. Zielińska 2009, S. 75–93. 50 Vgl. Fischer/Steltner, 2011, S. 217. 51 Vgl. Denkler 2003, S. 48f. 52 Dedecius 1975, S. 243. 53 Vgl. Krüger 2009, S. 161–162.
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derem Leiter der Literaturabteilung des Observer und Redakteur bei Penguin Books, der Herbert in das angloamerikanische verlegerische Feld einführte) schreibt dem lakonischen Stil, der Ironie und zugleich dem „unparteiischen Engagement“ die eigentliche Wirkung zu.54 Die überzeitliche Aussagekraft des Gedichts „Fortinbras‘ Klage“ aus dem Band Studium przedmiotu [1961, Studium des Objekts] dokumentierte die Hamlet-Inszenierung Heiner Müllers im Berliner Deutschen Theater, die ihre Premiere im März 1990 feierte und ein Jahr später im Rahmen der Berliner Festspiele einem breiteren Publikum gezeigt wurde. Die Inszenierung, welche man entweder als eine Umschreibung von Müllers Hamletmaschine oder als eine Montage von Shakespeares Hamlet und Müllers Hamletmaschine interpretieren kann, mündete in einen Schlussmonolog Fortinbras‘, der Herberts Gedicht zitierte. Die Präsenz der beiden Autoren im literarischen Feld des deutschsprachigen Raumes überdauerte auch die Zäsur einer radikalen Umstrukturierung der literarischen und verlegerischen Felder, nämlich jene 1989 in Polen und jene nach 1990 im wiedervereinten Deutschland. Texte beider Autoren finden sich im Jubiläumsheft der Akzente 1994: Zbigniew Herbert ist mit „Drei Studien zum Thema Realismus“ und „Herr Cogito und die Phantasie vertreten“, Tadeusz Różewicz wählte sein Gedicht „Fahnenflüchtlinge“ für das Akzente-Heft aus. Ihre eingedeutschten Werke wurden zu Longsellern. 4 Aus heutiger Perspektive analysiert, stellt sich die Ausgestaltung des westdeutschen literarischen Feldes, das seit der Wende der 1950er/1960er Jahre dynamischen Wandlungsprozessen unterlag, als günstig dar für die vielseitigen Veränderungen des intellektuellen und kulturellen Kräftefelds, für den Eintritt neuer Akteuren, für die (Neu-)Profilierung der Verlagshäuser, die Entstehung und Etablierung von kulturellen Periodika und neuer literarischer Institutionen. Dies alles führte zu einer Modifikation der Verhältnisse innerhalb des Feldes und innerhalb aller Subfelder (Literatur, Theater, Kunst, Verlagswesen usw.). Im Zusammenhang mit dieser Wandlung und der dadurch angeregten Öffnung für das Andere/Fremde lässt sich auch die etwa anderthalb Jahrzehnte andauernde sogenannte „polnischen Welle“ verstehen. Allein die Präsenz polnischer Literaturphänomene in den deutschsprachigen Literaturfeldern, Medien und auf den Bühnen des deutschsprachigen Raums ab Mitte des 20. Jahrhunderts zeugt von der Besonderheit dieser Zäsur. 54 Vgl. Alvarez 2000, S. 15ff.; Carpenter, 2000, S. 9ff; Pasewalck 2005, S. 174f.
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Die Schlüsselimpulse hierfür gingen vor allem von intellektuellen Kreisen aus. Die sich als ‚bundesrepublikanisch‘ definierenden intellektuellen Eliten strebten eine grundlegende Umwandlung der soziokulturellen Muster an. Als Indiz dafür galt auch die Öffnung gegenüber Texten mittel- und osteuropäischer Autoren und Autorinnen. Die Rezeption der sogenannten „kleinen“ mittelosteuropäischen Literaturen sollte zur Veränderung deutscher (bundesrepublikanischer) Wissens- und Denkhorizonte und nicht zuletzt zur Stärkung ihrer Pluralisierung beitragen. Im Kontext der erwähnten Veränderungsprozesse in den 1960er Jahren gewann symbolisches Kapital besonderes Gewicht. Der Suhrkamp Verlag gehörte in den 1960er Jahren zu den profiliertesten Akteuren des soziokulturellen Feldes, weil er sich mit neuen literarischen Phänomenen und richtungsweisenden intellektuellen Debatten befasste und aktiv in sie eingriff.55 Durch diverse Aktivitäten konnte der Verlag seinem Lesepublikum beweisen, dass er sich nicht ausschließlich am sogenannten „objektiven kulturellen Kapital“, welches sich in konkrete Profite konvertieren lässt, orientierte. Überlegt man, was Siegfried Unselds etwa zur Teilnahme an dem von Wolfgang Kraus (ÖGfL) 1967 organisierten 8. Konstanzer Literaturgespräch zum Thema „Das Buch als Mittler zwischen Ost und West“56 motiviert haben mochte, erkennt man zunächst eine Maßnahme zur Verkaufsförderung und Erweiterung des Verlagsangebots etwa durch den Erwerb von Verlagsrechten, den Einblick in die erfolgreichsten Büchertitel57 oder effektivere Werbung für eigene Hausautoren.58 Geht man jedoch in Anlehnung an Bourdieu von der Autonomie des literarischen Feldes aus, das als Gegenpol zur heteronomisierenden Macht des ökonomischen und politischen Feldes verstanden werden kann, setzten sich die Teilnehmer des Konstanzer Literaturtreffens, also die Akteure des intellektuellen, medialen und verlegerischen Feldes aus dem deutschsprachigen Raum sowie die Vertreter der drei „sozialistischen Länder“, für die Meinungsfreiheit in den sogenannten Ostblock-Staaten ein und für einen ideologiefreien literarischen Dialog und kulturellen Austausch. Die Themen Meinungsfreiheit 55 Vgl. Marré 1995, S. 87–102. 56 Vgl. den Briefwechsel zwischen Karl Dedecius und Wolfgang Kraus vom 17.01. bis zum 20.03.1967 und die ihm beigelegten Teilnehmerlisten, Programmentwurf und Einladungen. Dedecius-Archiv/09. Veranstaltungen: Lesungen, Vorträge, Referate/ (Signaturen 09–1590 bis 09–1592d), Viadrina Frankfurt/Oder. 57 Vgl. die von Wolfgang Kraus für die Konstanzer Konferenz „Das Buch als Mittler zwischen Ost und West“ zusammengestellte Frageliste; Kraus an Dedecius, 20.03.1967, Dedecius- Archiv/09. Veranstaltungen: Lesungen, Vorträge, Referate/ (Signatur 09–1592c), Viadrina Frankfurt/Oder. 58 Vgl. Blumenfeld 1986, S. 256–262.
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und Freiheit des literarischen Schaffens gewannen durch die Veranstaltung erheblich an Aufmerksamkeit. Allein die Internationalität des Konstanzer Treffens (Deutschland, Österreich, Polen, Rumänien, Schweiz, Tschechoslowakei) bedeutete eine Aufwertung des literarischen Austauschs über die Grenzen hinweg. Nicht zuletzt gelang es den westeuropäischen Verlagen, unter ihnen dem Suhrkamp Verlag, den Autorinnen und Autoren aus mittel- und osteuropäischen sozialistischen Staaten einen von politisch-ideologischem Druck unabhängigen Schaffensraum zu eröffnen. Literatur Almai, Frank; Fröschle, Ulrich (Hg.): Literatur im Kontext. Kunst und Medien, Religion und Politik. Festschrift für Walter Schmitz. Dresden. Altenhein, Hans (Hg.) (1995): Probleme des Verlagsgeschäfts. Beiträge zur Entwicklung des Literaturmarktes. Wiesbaden: Harrassowitz (= Mainzer Studien zur Buch wissenschaft, 2). Alvarez, Alfred (2000): Nie walczysz, umierasz. Aus dem Englischen von Adam Szostkiewicz. In: Franaszek (Hg.) (2000), S. 15–30. Amslinger, Tobias; Grüne, Marja-Christine; Jaspers, Anke (2015): Mythos und Magazin. Das Siegfried Unseld Archiv als literaturwissenschaftlicher Forschungsgegenstand. In: Wirtz/ Weber/ et. al. (Hg.) (2015), S. 183–213. Arnold, Heinz Ludwig (1980): Die Gruppe 47. Ein kritischer Grundriß (= Sonderband von „Text + Kritik“). München. Bauer, Sybille (1988): ‚Gespenster und Propheten‘. Das moderne polnische Drama auf den Bühnen der Bundesrepublik, Österreichs und der deutschsprachigen Schweiz. In: Kneip/Orłowski (Hg.) (1988), S. 125–138. Becker, Jürgen Jakob (2013): Fünfzig Jahre inmitten der Literatur, Literarisches Colloquium Berlin, http://www.lcb.de (11.07.2015). Behring, Eva; Kliems, Alfrun; Trepte, Hans-Christian (Hg.) (2004): Grundbegriffe und Autoren ostmitteleuropäischer Exilliteratur 1945–1989. Ein Beitrag zur Systematisierung und Typologisierung. Stuttgart. Bender, Hans (1979): Zeitverwandtschaft – 25 Jahre Akzente. Ein Vortrag. In: 26, 1979 „Akzente“, S. 161–174. Bender, Peter (1967): Pegelstand Ost-West. In: Akzente 14, S. 1. Blumenfeld, Alfred (1986): Ein schwieriger Beginn. Aus der Kulturarbeit in Polen 1963– 1966. In: Grözinger/ Lawaty (Hg.) (1986), S. 256–262.
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Zur tschechischen Literatur im Programm des Suhrkamp Verlags Bis etwa in die Hälfte der 1960er Jahre hatte die in der Tschechoslowakei publizierte tschechische Literatur nicht viel anzubieten. Das Dogma des sozialistischen Realismus, das mit seinen schematischen Werken in unterschiedlicher Intensität den ideologischen Anforderungen der kommunistischen Partei entgegenkam, brachte im Wesentlichen ideologisch erstarrte literarische Werke hervor. Deren Hauptziel lag in der Erziehung leicht manipulierbarer Bürger durch die politische Macht eines totalitären Staats. Größere oder kleinere qualitative Unterschiede dieser Werke wurden durch politische Zäsuren gekennzeichnet: 1948 durch den kommunistischen Putsch und die Welle politischer Prozesse mit zahlreichen Todesurteilen und umfassenden Repressionen nicht nur gegen Nicht-Kommunisten, sondern letztlich auch gegen die eigenen Anhänger; 1953 riefen der Tod des Generalsekretärs der kommunistischen Partei der Sowjetunion und neun Tage später der Tod des tschechoslowakischen Staatschefs in beiden kommunistischen Parteien Verunsicherung und Auseinandersetzungen um die Nachfolge hervor und führten damit zu einer gewissen Aufweichung der harten Haltung gegenüber der eigenen Bevölkerung; 1956 begann man auf dem 20. Parteitag der KPdSU vorsichtig über einige „Fehler“ zu sprechen, die Stalin gemacht hatte, was schließlich nicht nur zu Reformen innerhalb der KP der Tschechoslowakei führte, sondern auch eine liberalere Haltung in den Produktionsstrukturen und damit auch im Verlagswesen der Tschechoslowakei mit sich brachte. 1959 kam es nach einer Schwächephase zu einem Wiedererstarken des neostalinistischen Flügels des ZKs der tschechoslowakischen KP, dies jedoch ohne Todesurteile in politischen Prozessen. Im Verlagswesen hatte diese erneute Verhärtung der Verhältnisse „nur“ die Entlassung und die Aussonderung einer ganzen Reihe von non-konformen Zeitschriften- und Buchtitel zur Folge. Im Grunde handelte es sich um eine Literatur, deren Kontakte zu anderen Literaturen – mit Ausnahme der zur sowjetischen – unterbrochen war, insbesondere zu modernen Strömungen der französischen, angelsächsischen und deutschen Literatur, die bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs außerordentlich produktiv gewesen waren. Vor allem jedoch brachte die Diktatur in der Tschechoslowakei nach dem Februarputsch 1948 originelle künstlerische Talente zum Schweigen, was auf verschiedene Weise erreicht wurde: durch
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Hinrichtungen, Inhaftierung, Zensur und eine spezifische gesellschaftliche Atmosphäre. Bereits kurze Zeit nach dem kommunistischen Umsturz war im Prinzip allen Schriftstellern klar, welche Manuskripte man den Verlagen anbieten konnte; Verlags- und Zeitschriftenredakteure wussten, welche Texte zu publizieren waren, und die Rezensenten erschienen gut instruiert, wie sie über die publizierten Werke zu schreiben hatten. Aus heutiger Sicht jedoch erscheinen die 1950er Jahre als eine der fruchtbarsten Perioden der tschechischen Literatur des 20. Jahrhunderts, und dies aufgrund von Werken, die zur ihrer Entstehungszeit nicht publiziert werden konnten. Das Phänomen der koordinierten Distribution von Schreibmaschinenabschriften auf Durchschlagpapier gab es damals nicht, ebenso wenig den Begriff ‚Samizdat‘. Die Autoren origineller Texte versteckten ihre Manuskripte oder Typoskripte entweder gründlich oder liehen sie nur dem allerengsten Freundeskreis zur Lektüre aus. Die tschechischen Leser bekamen beziehungsweise bekommen diese Texte in authentischer Form erst nach dem Zerfall des kommunistischen Regimes 1989/90 zu Gesicht, wobei eine Reihe von Werken bisher noch auf ihre Veröffentlichung wartet, obwohl ihre Autoren oft schon lange verstorben sind. Einige der Texte wurden schon seit Mitte der 1960er Jahre in Literaturzeitschriften, selten in Büchern publiziert, allerdings waren die Autoren damals in der Regel gezwungen, ihre Manuskripte zuvor zu überarbeiten. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, geschah dies unter politischem Zwang. Auch in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre wurde der öffentliche Raum von der Zensur kontrolliert, die der ideologischen Abteilung der Kommunistischen Partei untergeordnet war, und diese hielt nach wie vor das absolute Machtmonopol. Im Dezember 1960 bot ein Vertreter der tschechischen Theater- und Literaturagentur Dilia1 dem Suhrkamp Verlag ein klassisches Werk der tschechischen Literatur, das Poem Máj (1836) an, verfasst vom bedeutendsten tschechischen Romantiker Karel Hynek Mácha. Der Suhrkamp Verlag erhielt es in einer neuen deutschen Übersetzung unter dem Titel Maienlied. Hans Magnus Enzensberger lehnte das Angebot am 22.12.1960 dankend ab und begründete dies mit dem vorangingen Interesse des Frankfurter Verlags an Gegenwartsliteratur, also an aktueller tschechischer Literatur (Dilia verwies er an die deutschen Verlage Insel und Diederichs mit dem Hinweis, dass dort „Klassikerausgaben
1 Die Literaturagentur vertrat bis 1970 resp. bis zu seiner Pensionierung 1974 fast exklusiv Gustav Bernau (1906–1986, eigentl. Martin Halban), ansonsten auch gelegentlicher Übersetzer aus dem Deutschen (K. M. Herrligkoffer, H. Ch. Buch) oder aus dem Englischen (W. Saroyan, M. G. Eberhart).
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regelmäßig auftauchen“).2 Der von Enzensberger gleich zu Beginn der Kontaktaufnehme definierte Interessenschwerpunkt des Hauses Suhrkamp prägte dann auch die kurze Phase intensiverer Beschäftigung mit tschechischer Literatur im Frankfurter Verlagshaus von 1965 bis 1971. Dabei handelte es sich um Schriftsteller, deren Werk im politischen Kontext der Tschechoslowakei der 1960er Jahre lebendige Werte verkörperten und offensichtlich auch die Lektoren des westdeutschen Verlags ansprachen. 1
Aktuelle Vergangenheit
In Enzensberger Reihe Poesie in zwei Sprachen erschien 1965 bei Suhrkamp als erster aus dem Tschechischen übersetzter Titel eine Auswahl aus der Dichtung von František Halas (1901–1949). Weitere Texte nicht mehr lebender Autoren, die der Frankfurter Verlag veröffentlichte, waren der Essayband von Karel Teige (1900–1951) Liquidierung der Kunst (1968) und eine Auswahl von Richard Weiners (1884–1937) Prosa unter dem Titel Der leere Stuhl (ebenfalls 1968). Die Werke dieser drei Autoren waren in der Tschechoslowakei in den 1950er Jahren durch die staatliche Propaganda als „ideologisch rückwärtsgewandt“ gebrandmarkt worden. Die kommunistische Regierung entfernte ihre Werke aus öffentlichen Bibliotheken und löschte sie aus aus dem offiziell vermittelten Bild der Kunst- und Literaturgeschichte in Lehrbüchern, Enzyklopädien oder wissenschaftlichen Darstellungen. Erst mit dem Ende der 1950er und zu Beginn der 1960er Jahre wurden die Werke der drei Autoren allmählich „rehabilitiert“, vorsichtig und mit offensichtlichem Missfallen des neostalinistischen kulturellen Establishments, das den öffentlichen Raum zwar weiterhin dominierte,
2 Suhrkamp Verlag (Hans Magnus Enzensberger) an Dilia, 22.12.1960, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. Die Ablehnung hatte zwar keine ernsten Folgen für das weitere Schicksal der tschechischen Literatur in der Bundesrepublik Deutschland, für das Manuskript der Übersetzung von Máchas Máj jedoch schon. Aus der Korrespondenz zwischen Suhrkamp und Dilia von März bis Mai 1961 ist ersichtlich, dass Suhrkamp das Manuskript als normale Postsendung zurück in die Tschechoslowakei sandte, die Dilia jedoch nicht erhielt. Angeblich handelte es sich um das einzige Exemplar des Manuskripts des Übersetzers Jan Ochsner, dessen Name weder in tschechischen noch in deutschen Buchverzeichnissen auftaucht. Eventuell handelte es sich um einen Mitarbeiter der numismatischen Abteilung des Schlesischen Museums in Opava, die Übersetzung war wahrscheinlich nur eine Episode für ihn und er hatte ansonsten keine Publikationen. Zwei Studien, die sich ausführlich mit der Übersetzung von Máchas Máj ins Deutsche beschäftigen, erwähnen ihn jedenfalls nicht (Nezdařil 1985, Jähnichen 2000). Es ist also durchaus möglich, dass Enzensberger der letzte Leser dieser Übersetzung gewesen ist.
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aber seine Macht nicht mehr so rücksichtlos wie in den Jahre 1948 bis 1954 durchsetzen konnte. Die Lyriksammlungen von František Halas erschienen in der Tschechoslowakei gesammelt erst lange nach dem Tod des Autors im Jahre 1957. Zwar trafen die Ausgaben mit Vorworten von Jan Grossman zunächst auf Ablehnung der kommunistischen Literaturkritik, das Werk von Halas wurde jedoch schrittweise wieder Teil der von den Kommunisten akzeptierten Literaturtradition. Die erste Publikation nach dem zweiten Weltkrieg des Dichters, Prosaautors und Journalisten Richard Weiner, der seit 1919 als Frankreichkorrespondent der tschechischen Zeitung Lidové noviny tätig und Mitglied der Pariser Experimental-Künstlergruppe „Le Grand Jeu“ war, erfolgte sogar erst 1964. Das Werk von Halas und Weiner erfreute sich seit Beginn der 1960er Jahre zudem der Aufmerksamkeit vor allem jüngerer Schriftsteller. Die 1964 neugegründete Monatsschrift Tvář benannte sich sogar nach dem vierten Gedichtzyklus von Halas (Tvář 1931), und die Redaktion entschied sich wiederholt für Weiners Prosa und Lyrik. Die Schriften des Theoretikers der Avantgarde, Karel Teige, standen seit 1948 auf dem Index verbotener Literatur, und erst im Jahr 1964 erschienen drei seiner Studien, die insbesondere von Künstlern und Literaturhistorikern besprochen wurden, die der Zweimonatsschrift Orientace (seit 1966) nahestanden. Ein erklärtes Ziel der Redaktionspolitik dieser Zeitschrift war die Kritik des Stalinistischen Verständnisses der Zwischenkriegsavantgarde und die Rehabilitierung insbesondere von Teiges wissenschaftlichen Vermächtnis. Damit ging auch eine literaturhistorische Neubewertung von Teiges Zeitgenossen Vítězslav Nezval (1900–1958) einher, dessen Werk von der „staatlichen Ästhetik“ im Gegensatz zu Teiges Schriften hoch gelobt wurde und den man zu einem der tragenden Säulen der sozialistisch-realistischen Dichtung machte. Nezval selbst unterstütze das kommunistische Regime darin nach Kräften, zum Beispiel mit seiner „Ode an Stalin“ von 1949 oder mit seinen Dichtungen der 1950er Jahre, in denen er die sozialistische Gegenwart besang. Nezval war der vierte nicht mehr lebende Autor, den Suhrkamp in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre den deutschen Lesern in Ausgewählten Gedichten (1967) vorstellte. Der Band mit ausgewählten Gedichten von Halas bei Suhrkamp kam auf Initiative des Prager Dichters und Übersetzers Josef Hiršal zustande. Hiršal und seine Lebensgefährtin und Übersetzerkollegin, Bohumila Grögerová, besorgten auch die Herausgabe eines Bandes mit ausgewählter Lyrik von Enzensbergers ersten beiden Gedichtbänden (verteidigung der wölfe 1957, landessprache 1960) in der Tschechoslowakei. Der von Grögerová und Hiršal übersetzte Band trug den Titel Zpěv z potopy (Flutgesang) und erschien 1963. Während der Arbeit daran empfahl Hiršal dann Enzensberger, in der Reihe Poesie – Texte in zwei
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Sprachen Halas zu publizieren.3 Den Band übersetzte Peter Demetz, der einer multinationalen Prager Familie entstammte und nach dem kommunistischen Putsch 1948 zuerst nach München floh und dann in die USA ging. Dies lässt sich aus einem Brief schließen, den Walter Böhlich am 17. Januar 1964 an die tschechische Literaturagentur mit der Bitte schickte, die Bücher von Halas an Demetz nach Connecticut zu schicken.4 Dagegen kam die Initiative, Teige und Nezval zu publizieren, vom Redakteur des deutschen Verlags. Günther Busch, der Lektor der Reihe „edition suhrkamp“, schrieb der Agentur Dilia mit der Bitte, ihm Nezvals Bücher zu übersenden am 12.Februar 1964: „Wir interessieren uns für die Gedichte von Vítězslav Nezval“.5 Am 7. Oktober 1966 bat Peter Urban die Agentur Dilia um ein Leseexemplar von Teiges Buch Svět stavby a básně (Die Welt des Baus und der Dichtung), die als erster Band einer dreibändigen Teige-Ausgabe erschienen war, sowie um die Option auf das Buch. Ob die Suhrkamp-Lektoren selbst auf die beiden tschechischen Autoren aufmerksam worden oder ihnen von deutschen oder tschechischen Kollegen die Autoren empfohlen worden waren, lässt sich nicht mehr feststellen. Das Interesse an Teige lässt sich allerdings mit Urbans lebenslanger Aufmerksamkeit für bedeutende moderne Schriftsteller slawischer Sprachen erklären, zum Beispiel für Daniil Charms, Velemir Chlebnikov und Osip Mandel’štam. Urban konnte zudem die ästhetische Brisanz gereizt haben, die Teiges Werk im tschechischen Kulturraum begleitete, nachdem es jahrelang totgeschwiegen worden war.6 Die zaghafte Veröffentlichung von Teiges Werk seit Mitte der 1960er Jahre rief nicht nur gesteigerte Aufmerksamkeit der Fachöffentlichkeit hervor, sondern auch unter allen Kulturinteressierten. Jede Aufmerksamkeit für Teiges Werk implizierte einen latenten Widerstand gegen die Vertreter der poststalinistischen Ästhetik, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft, die 3 Vgl. Hiršal, Grögerová 2007, S. 376. 4 Suhrkamp Verlag (Walter Boehlich) an Dilia, 7.1.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. Das Anliegen war in politischer Hinsicht etwas heikel, denn als Exulant war Peter Demetz in der Tschechoslowakei persona non grata. Weder seine Anthologie tschechischer Exillyrik noch seine Übersetzung von Božena Němcovás Die Grossmutter wurden erwähnt (Zürich 1959, zusammen mit seiner Frau Hanna). Seine Arbeit Marx, Engels und die Dichter: Zur Grundlagenforschung des Marxismus (Stuttgart 1959), die „normalen“ Lesern in der Tschechoslowakei unzugänglich war, wurde in Fachblättern als „revisionistisch“ kritisiert. 5 Günther Busch an Dilia (Gustav Bernau), 12.2.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 6 Karel Teige war die führende Persönlichkeit der linken tschechischen Avantgarde der zwanziger und dreißiger Jahre. Er stellte sich freilich während der Moskauer politischen Prozesse 1936–1938 gegen die offizielle Linie der KPTsch (Komunistická strana Československa), die die Version der mörderischen Stalinistischen Verfahren billigte. Nach dem politischen Putsch im Februar 1948 wurde Teige als linker Renegat von der kommunistischen Partei der Tschechoslowakei diffamiert.
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sich zwar in der damals liberalerer werdenden Atmosphäre in einer gewissen Defensive befanden, sich dennoch auf die Autorität respektive Macht ihrer akademischen Spitzenposition stützen konnten. Nezvals Ansehen im Kanon der tschechischen Literatur kam dagegen in den 1960er Jahren beim Fachpublikum und den interessierten Lesern etwas ins Wanken, auch wenn die neostalinistischen Gralshüter von Nezvals literarischem Vermächtnis jeden zu attackieren suchten, der auch nur den leisesten Zweifel am künstlerischen Niveau Nezvals und seiner persönlichen Integrität verlauten ließ. Dabei wurden seine originellsten Werke aus der Zeit der tschechischen Kunstrichtung des Poetismus und des anschließenden Surrealismus‘ seit ihrer Erstveröffentlichung in den 1920er und 1930er Jahren in der Tschechoslowakei nicht mehr herausgegeben. Nezval schrieb sich ins Gedächtnis der Leser der 1960er Jahre ein, vor allem der jüngeren, als Autor der 1950er Jahre mit rhetorisch geschliffener, aber nichtsdestotrotz politisch manipulativer Gebrauchslyrik. Über die Gründe, warum sich Günther Busch im Februar 1964 für das lyrische Werk Nezvals interessierte, kann also nur spekuliert werden. Während das Echo auf die postum erschienen Werken von Halas, Teige und Weiner bei tschechischen Lesern und Kritikern deutlich ausfiel, war die Reaktion auf Nezvals Bücher in den 1960er Jahren eher lauwarm. Das lag natürlich auch daran, dass die zwei, drei Bücher von Weiner, Halas oder Teige in unverhältnismäßig kleinen Auflagen in Prag erschienen und sofort vergriffen waren. Damit ließ sich die Nachfrage nicht befriedigen, die durch das zehnbis fünfzehnjährige Schweigen hervorgerufen worden war, das diese Autoren umgeben hatte. Dagegen waren die Leser übersättigt von der unübersehbaren Menge von Büchern von Nezval, die in den 1950ern Jahren in hohen Auflagen herausgekommen waren. Suhrkamp publizierte schließlich auch Nezval (1967) und Teige (1968). Man kann sich aber des Eindrucks nicht erwehren, dass der Band Liquidierung der Kunst von Teige einerseits klar in das Verlagsprogramm mit seinen aktuell auch in der tschechischen Literatur diskutierten Werten gehörte und anderseits deutlich auch anderen Suhrkamp-Bücher thematisch entsprach.7 Dagegen war der deutsche Auswahlband von Nezvals Lyrik im Vergleich zum damaligen literarischen Geschehen in der Tschechoslowakei unzeitgemäß. Eine gewisse Unausgewogenheit der beiden Suhrkamp-Bände kann man auch in den Per7 Vergleiche z.B. die zeitgleich herausgegebenen Titel von Ernst Bloch Über Karl Marx (1968, edition suhrkamp 291) und Herbert Marcuse Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft (1969, edition suhrkamp 300) oder den Band mit Antworten auf Herbert Marcuse (1968, edition suhrkamp 263) sowie Theologie der Revolution (1968, edition suhrkamp 258), Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft (1968, edition suhrkamp 282), Moral und Gesellschaft (1968, edition suhrkamp 290).
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sonen der Übersetzer entdecken. Teige wurde von Paul Kruntorad übersetzt, der mit Suhrkamp sowohl als Übersetzer wie auch als Autor von begleitenden Texten bei weiteren Titeln zusammenarbeitete,8 während die Übersetzung von Nezvals Gedichten die einzige derartige Unternehmung von Johannes Schröpfer blieb. Als Linguist (mit einer Spezialisierung für Onomasiologie) hatte er sich weder davor noch danach mit dem Übersetzen oder mit Literaturgeschichte beschäftigt. Seine Edition ist zudem fehlerhaft. Er hat zwar die bedeutendsten Texte aus Nezvals Werk ausgewählt, das heißt aus dem Werk, das in den 1920er und 1930er Jahren entstanden war, anderseits übersetzte er diese Texte auf Grundlage von Editionen der 1950er Jahre, als der Dichter seine Texte für eine Werkausgabe gemäß den Kriterien des sozialistischen Realismus anpasste. Schröpfer gibt darüber im Nachwort keinerlei Auskunft, ebenso wie er keinerlei Charakteristik von Nezvals Werk aus den 1940ern und 1950ern Jahren anbietet. Es ist darüber hinaus bezeichnend, dass im Gegensatz zu den Vorbereitungen für die Publikation von Karel Teige, die eine intensive Korrespondenz zwischen Dezember 1967 und Februar 1968 von Peter Urban und Teiges Freund, dem Herausgeber und Kritiker Vratislav Effenberger, zur Konzeption des Bandes begleitete,9 es in der Korrespondenz zum geplanten Nezval-Band verschiedene Missverständnisse gab. So mühte sich im Februar und März 1964 Günther Busch wiederholt und anfangs auch vergebens um eine Antwort von der Agentur Dilia, welcher tschechische Verlag denn Nezval herausgebe und wer eigentlich die Autorenrechte besitze.10 Im Juni 1964 versuchte Dilia, den 8 Vergleich. Ferenc Juhász: Gedichte (1966, edition suhrkamp 168), Reden zum IV. Kongreß des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes (1968, edition suhrkamp 326), Robert Kalivoda: Der Marxismus und die moderne geistige Wirklichkeit (1970, edition suhrkamp 373). 9 Effenberger schickte Urban auf dessen Bitte hin Teiges Studie Surrealismus proti proudu (1938, Surrealismus gegen den Strom) und schlug eine Ausweitung des geplanten Auswahlbandes um eine zusätzlicher Arbeit Teiges aus den 1930er Jahren vor. Der normale Umfang eines Bandes in der edition suhrkamp erlaubte dies jedoch nicht. Urban schrieb an Effenberger jedoch, „es besteht ja die Möglichkeit, in absehbarer Zeit einen zweiten Band zu machen“ (Peter Urban an Vratislav Effenberger, 19.1.1968, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA). Dazu kam es dann nicht mehr. 1969/70 bekundete der Hanser Verlag Interesse an der Herausgabe einer weiteren Arbeit von Teige, auf die Suhrkamp die Option hatte. Günther Busch forderte von Dilia das Inhaltsverzeichnis des geplanten Bandes an und erteilte dann seine Zustimmung zur Publikation bei Hanser (Günther Busch an Gustav Bernau, 25.5.1970, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA). Letztlich wurde Teige auch dort nicht herausgegeben. 10 Günther Busch an Dilia (Gustav Bernau), 28.2.1964; Dilia (Gustav Bernau) an Suhrkamp, 21.1.1964; Günther Busch an Dilia (Gustav Bernau), 4.3.1964, alles SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA.
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Entscheidungsprozess bei Suhrkamp zu beschleunigen, und teilte dem Suhrkamp Verlag mit, dass auch andere westdeutsche Verlage Interesse angemeldet hätten11 (ob dies nun stimmte oder nur gepokert war, bleibt dahingestellt, jedenfalls erschien kein Gedichtband von Nezval bis Ende der 1960er Jahre in Deutschland). Bei den Verhandlungen über die Bezahlung im November 1964 bot Suhrkamp den üblichen Honorarsatz an.12 Dilia lehnte dies mit der Begründung ab, dass ein solches Honorar „für einen Dichter des Ranges Vítězslav Nezvals uns viel zu niedrig erscheint.“13 2
Erste Kontakte
Die Auswahl bereits nicht mehr lebender Autoren durch den Suhrkamp Verlag in den 1960er Jahren entsprach im Prinzip dem, was Enzensberger im Dezember 1960 im Verlagsinteresse zu aktuellen literarischen Werken geäußert hatte. Ob nun die tschechische Seite nach dem abgelehnten Vorschlag von Máchas Máj dem Frankfurter Verlag auf eigene Initiative weitere Titel anbot oder Suhrkamp sich daraufhin selbst für andere tschechische Autoren zu interessieren begann, ist unbekannt. Eine intensivere Kommunikation zwischen der tschechischen Literaturagentur Dilia und Suhrkamp ist erst seit dem Jahreswechsel 1963/64 dokumentiert. Das Jahr 1963 stellt zweifellos einen Umbruch dar, während dessen die neostalinistische Periode zu Ende ging und eine zunehmende Liberalisierung einsetzte, die schließlich in den Prager Frühling mündete. Es war eine Zäsur, die mit keinem politischen Erdrutsch verbunden war,14 son11 Dilia (Gustav Bernau) an Suhrkamp, 12.6.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 12 Günther Busch an Dilia (Gustav Bernau), 9.11.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 3,5 Prozent für die ersten 10.000 Exemplare, 5 Prozent für die zweiten 10.000 Exemplare und 6 Prozent für alle weiteren Auflagen. 13 Dilia (Gustav Bernau) an Suhrkamp, 18.11.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. Es scheint fast schon symbolträchtig, dass auch die Witwe Ivan Olbrachts (1882–1952) unter Vermittlung von Dilia ganz ähnlich über die Honorarhöhe verhandelte. Olbracht stellt neben Nezval eine weitere Stütze des Sozialistischen Realismus in der Nachkriegszeit dar und ist der fünfte, nicht mehr lebende tschechische Autor, dessen Titel Suhrkamp in den 1960er Jahren publizierte (zwei von eigentlich drei Erzählungen über die jüdische Diaspora in der Karpato-Ukraine, Golet v údolí [1937, Goless im Tal] unter dem deutschen Titel Das Wunder mit Julka, 1967). 14 Die Führung der KPTsch (Komunistická strana Československa) verhandelte im April 1963 bezeichnenderweise die Missachtung des sozialistischen Gesetzesrahmens zwischen 1948 und 1954, was ein de facto Bekenntnis zu Manipulationen der politischen Prozesse war. Bezeichnend war jedoch auch, dass die Führung der kommunistischen Partei keine direkte Verantwortung dafür übernahm, da sie in ihren Reihen nach wie vor zahlrei-
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dern auf zunehmend mutigeren Aktivitäten einzelner Autoren, Redakteure, schließlich ganzer Redaktionen und Kulturinstitutionen beruhte. Typische Beispiele dafür sind die Spielfilme der sogenannten tschechischen „neuen Welle“ von Filmemachern wie Miloš Forman, Věra Chytilová, Jaromil Jireš, Pavel Juráček oder die Premiere des ersten Theaterstücks von Václav Havel Das Gartenfest, die erste Retrospektive der künstlerischen Werke der Gruppe 42 (Skupina 42), die nach dem Februar-Umsturz 1948 verboten war, das Debut von Bohumil Hrabal oder der vom Regime relativ unkontrollierte Verlauf des III. Kongresses des tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes und der einige Tage später angesetzten internationalen Konferenz über das Werk von Franz Kafka in Liblice bei Prag. Zu diesen, vom Staat wenig kontrollierten, eher tolerierten kulturellen Aktivitäten, die das totalitäre Regime kaum mehr großflächig verhindern konnte, gehörte bemerkenswerterweise auch der Kontakt und die Kommunikation mit dem Suhrkamp Verlag. Die Verbindungen der tschechischen und westdeutschen Literaturszene vermittelt das monumentale Werk Let let (Flug der Jahre; die erste komplette Ausgabe 2007 zählte 1048 Seiten), das in den Jahren 1952 bis 1968 das Übersetzer- und Dichterpaar Bohumila Grögerová und Josef Hiršal verfasste. Es handelt sich um eine polymorphe Reihung kurzer Texte beider Autoren, die man an der männlichen oder weiblichen Form der Vergangenheitsendungen erkennen kann, zudem Fragmente aus der damaligen Presse und Zitate aus Übersetzungen sowie literarischen Werken. Das ruft die Illusion eines spontan geführten Tagebuchs hervor, tatsächlich entstanden die Texte jedoch mit einigem zeitlichen Abstand zu den dargestellten Ereignissen in den 1970er und 80er Jahren; außerdem lassen sie sich dem Genre des „Liebesbrief-Romans“ zurechnen. In der Schilderung beider Autoren, die fasziniert waren vom literarischen Experiment und besonders von der konkreten Poesie, sind die Kontaktaufnahme und die Kontaktpflege mit deutschen, französischen oder schwedischen Schriftstellern dokumentiert, Kontakte, die sich oft zu persönlichen Freundschaften entwickelten und enge künstlerische Zusammenarbeit beförderten. Im Hinblick auf Suhrkamp war die Begegnung von Hiršal und Grögerová mit Enzenberger entscheidend. Nach der Korrespondenz zwischen 1960 bis 1962, in der es um die Vorbereitung einer tschechischen Ausgabe der Gedichte von Enzensberger ging, kam der Autor dann im Mai 1963 selbst nach Prag und war offensichtlich begeistert.15 Außer Hiršal und Grögerová begleiteten che Politiker hatte, die sich an den politischen Prozessen in den 1950ern Jahren beteiligt hatte. 15 Hiršal, Grögerová 2007, S. 380–384.
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ihn Josef Čermák (Redakteur des Odeon Verlags) und Vladimír Kafka (Redakteur des Verlags Mladá Fronta); sie zeigten ihm nicht nur die Sehenswürdigkeiten Prags, sondern führten ihn auch in die damalige Kulturszene ein. Beim Besuch in Ateliers nicht systemkonformer Künstler, in Theatervorstellungen oder beim Abendessen in Privatwohnungen und Restaurants lernte Enzensberger Persönlichkeiten kennen, die vom kommunistischen Regime unmittelbar verfolgt wurden oder in der gesellschaftlichen Hierarchie nach unten verfrachtet worden waren. So kam es zu der paradoxen Situation, dass Enzensberger begeistert war von der kulturellen Atmosphäre, welche die Künstler, die er in Prag traf, trotz der totalitären Überwachung und oft unter persönlichen Opfern ermöglichten, und zugleich gab er seinen Gastgebern zu verstehen, dass sein eigenes Werk aus dem Widerspruch zur kapitalistischen Gesellschaft erwächst. Für Enzensbergers Kritik an der westlichen Welt hatten die tschechischen Schriftsteller kein großes Verständnis. Auch wenn sie sich keine Illusionen über die Probleme der westlichen Welt machten, hielten sie dessen demokratische Grundordnung mit dem freien Zugang zu Informationen, den Reisemöglichkeiten und nicht zuletzt den Möglichkeiten öffentlicher Kritik für wesentlich erstrebenswerter als das totalitäre Regime, in dem sie leben mussten und dessen erstickende „Gunst“ sie am eigenen Leib und bei jedem Schritt erfuhren. „Enzensberger legte uns seine politischen Ansichten dar: Der Glaube an die dritte Welt, doch weder Vladimír [Kafka] noch ich wollten das übersetzen. […] Na-ja, wirklich ein Eiferer für eine sozialistische Welt, der freilich in einer westlichen Weihnachtswelt lebt.“16 Enzensberger kam mit seiner damaligen norwegischen Ehefrau Dagrun ein Jahr später wieder nach Prag,17 und man kann wohl zu Recht annehmen, dass das Interesse für die tschechische Literatur des Frankfurter Verlags gerade aufgrund dieser persönlichen Kontakte entstand, die Enzensberger während seiner beiden Prag-Besuche angeknüpft hatte und die er weitervermittelte. In der Korrespondenz zwischen Suhrkamp und der Agentur Dilia war in der Regel der Frankfurter Verlag der aktive Part. Die tschechische Literaturagentur bot nur selten und zusammenhangslos bestimmte Werke an. Zudem stellten die dem deutschen Verlag vorgeschlagenen Titel in der damaligen tschechischen Literatur bestenfalls Mittelmaß dar, und in literaturhistorischen Arbeiten der letzten beiden Jahrzehnte wird ihnen nur eine Randrolle zugeschrieben – falls sie überhaupt erwähnt werden. Die Korrespondenz wurde von heutzutage kaum vorstellbaren technischen, aber auch gesellschaftspolitischen Hindernissen begleitet. Zu Beginn kannte 16 Hiršal, Grögerová 2007, S. 382, 824. 17 Vgl. Hiršal, Grögerová 2007, S. 455–461.
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Suhrkamp nicht einmal die Adresse der wichtigsten Verlage für tschechische Literatur und hatte auch keine Vorstellung, wie es mit den Autorenrechten tschechischer Schriftsteller im Westen aussah. Suhrkamp erkundigte sich zudem, welcher Verlag in Prag denn das Buch des entsprechenden Dichters publiziert habe, konnte überhaupt nichts über den entsprechenden Autor in Erfahrung bringen oder wusste zum Beispiel nicht, dass der Autor bereits vor einigen Jahren verstorben war. Dilia konnte zudem oft dem Wunsch von Suhrkamp nicht nachkommen, ein Leseexemplar zu senden, denn die entsprechenden Titel waren in der Tschechoslowakei ausverkauft und man versprach ein antiquarisches Exemplar zu besorgen oder sich direkt beim Autor zu erkundigen. Gleichzeitig handelte es sich nicht um einen Dialog zweier gleichberechtigter Partner, sondern um ein behutsames gegenseitiges Abklopfen einer demokratischen und einer totalitären Welt mit diametral entgegengesetzten zivilisatorischen Gewohnheiten. Verschiedene Mitteilungen lassen sich ohne die Kenntnis des damaligen Kontexts heute nicht mehr verstehen. So antwortete zum Beispiel Gustav Bernau auf die Anfrage von Urban hinsichtlich einer Option auf einen Gedichtband von Zbyněk Hejda, dass das zweite Buch des Autors „geplant [wird], hinsichtlich der Herausgabe wurde aber noch nicht entschieden“,18 womit nicht auf eine konzeptionelle Überlegung des Verlags hingewiesen wurde, sondern auf die verlegerische Unsicherheit respektive auf die Sorge hinsichtlich der politischen Folgen der Publikation eines Autors, der dem kulturellen Establishment nicht so sehr als Dichter missfiel, sondern als kritischer Historiker.19 Der Stuttgarter Literaturagent Ernst Geisenheyner informierte Günther Busch über die Eigenheiten des Verlagswesens in einer kommunistischen Diktatur: Das neue Buch der Autorin [Věra Linhartová] DUM DALEKO (Haus in der Ferne), das in Korrekturfahnen vorliegt, ist vorläufig gestoppt, aus Gründen, die niemand weiss. […] Außerdem existiert, wie Sie wohl auch schon wissen, bei Mlada Fronta ein vollständig fertig gebundenes Buch von ihr mit dem Titel PRESTOREC, das im vergangenen Jahr erscheinen sollte und das kurz vor der Auslieferung ebenfalls gestoppt wurde. Die 8500 Exemplare liegen im Magazin
18 Dilia (Gustav Bernau) an Suhrkamp, 25.10.1966, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 19 Hejda gehörte nämlich zu den Autoren der nicht-marxistischen Zeitschrift Tvář. Der erwartete Lyrikband von Hejda kam in den 1960er Jahren gar nicht mehr heraus, der Autor publizierte ihn erst 1978 im Samizdat, und im Druck erschien er dann nach dem Ende des kommunistischen Regimes 1992.
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Michael Špirit von Mlada Fronta und keiner weiss, wer und aus welchem Grund den Stopp veranlasste, und wann er evtl. aufgehoben wird.20
Ein halbes Jahr später schrieb Geisenheyner an Urban von einer seltenen Ausgabe von Jakub Demls Roman Zapomenuté světlo (1934, Das vergessene Licht): Fragen Sie mich nicht, wo. Ich habe ein Exemplar der Ausgabe von 1934 in Prag aufgetrieben (es ist ein zensuriertes Exemplar mit einigen schwarzen Stellen) und es unter der Bedingung mitnehmen dürfen (es liegt neben mir), daß ich es nicht aus der Hand gebe, es bei einer hiesigen Fotokopieranstalt auf einen Film fotographieren lasse und bei meinem nächsten Prag-Besuch im Oktober persönlich dem Inhaber zurückgebe. Zudem weiß ich in Prag noch einen Mann, der eine unzensurierte Ausgabe (eine Superseltenheit) besitzt, die er aber nicht aus dem Hause gibt. Zu dem könnte ich im Oktober mit den Fotokopien der geschwärzten Seiten gehen und unter Verwendung von reichlich Prazdroj [Pilsner Bier] die wenigen geschwärzten Stellen abschreiben (es ist nicht viel).21
3 Vermittler Aus der bisher zugänglichen Verlagskorrespondenz kann man schließen, dass der Großteil der Kontakte mit der Tschechoslowakei von 1963/64 bis etwa 1966/67 über den Verlagslektor Günther Busch lief. Im Herbst 1966 übernahm dann Peter Urban diesen Sprachraum (wobei Busch weiterhin die Korrespondenz mit dem Philosoph Karel Kosík führte) und sich ihm in den folgenden beiden Jahren – bis er den Suhrkamp Verlag verließ – ungewöhnlich intensiv widmete. Seit Anfang 1969 übernahm Siegfried Unseld die Kommunikation mit Autoren und Übersetzern, mit der Literaturagentur Dilia korrespondierte wieder Günther Busch. Dabei ging es jedoch nicht mehr um eine Ausweitung der Zusammenarbeit, sondern eher um den Abschluss der Projekte aus den Jahren 1966 bis 1968. Unseld schrieb dabei vor allem dem Übersetzer Konrad Schäuffelen zu den Übertragungen der Gedichte von Jiří Kolář und im Hinblick auf die angespannte Schlussphase der Arbeit an den Büchern von Milan Nápravník, die Peter Urban lektoriert hatte. Bereits in den ersten Monaten der Zusammenarbeit im Jahr 1963 stellte sich heraus, dass als wichtiger Vermittler zwischen Suhrkamp und der tschechoslowakischen Seite – das heißt nicht nur mit der Agentur Dilia, sondern unmittel20 Ernst W. Geisenheyner an Günther Busch, 3.2.1967, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 21 Ernst W. Geisenheyner an Peter Urban, 10.7.1967, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. Unzensiert erschien Demls Buch erstmal als Maschinenabschrift im Samizdat 1974.
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bar mit einzelnen tschechischen Autoren und Redakteuren – der Vertreter der Stuttgarter Literaturagentur Geisenheyner und Crone fungierten. „Bitte erkundigen Sie sich bei Ihren Prager Freunden über Wenzl und lassen Sie seine Bücher kommen,“ schrieb Günther Busch am 9. Juli 1964 an Ernst Geisenheyner hinsichtlich der Texte eines Dichters der zweiten Generation tschechischer Surrealisten, dessen erstes Buch eben in jenen Tagen in Prag erschienen war. Aus dem Brief von Karl Markus Michel an Geisenheyner lässt sich wiederum schließen, dass der Briefschreiber auf Geisenheyners Anregungen reagierte, die sich zum einen auf das geplante Buch des Philosophen Ivan Dubský „über die menschliche Situation“ bezog, das Michel mit „Neugier und Gier“ erwartete, und zum andern auf den Beitrag eines andern Philosophen, Ivan Sviták. Michel reizte dabei weniger das Thema Kafka als vielmehr das „der geistigen Situation in der Tschechoslowakei“.22 All diese Erwähnungen deuten darauf hin, dass Geisenheyner in Prag gute Kontakte hatte und dass er nicht nur den Buchmarkt verfolgte, sondern sich insgesamt in der Literaturszene gut orientierte sowie bei Literaturzeitschriften und Sammelbänden. Vom Januar 1967 bis April 1968 stößt man in der zugänglichen Korrespondenz auf 31 Briefe oder Mitteilungen von Geisenheyner (23 davon an Urban) sowie 19 Briefe, die Suhrkamp-Lektoren an ihn geschrieben hatten (12 davon von Urban). In diesem Briefwechsel treten deutlich die grundlegenden Züge der Verlagspolitik von Suhrkamp gegenüber der tschechischen Literatur hervor. Zu nennen ist insbesondere Geisenheyners persönlicher Einsatz, mit dem der Literaturagent bei seinen häufigen Prag-Besuchen persönliche Kontakte anknüpfte und aus denen er eine Reihe wichtiger Informationen schöpfte. Dadurch erfuhr Suhrkamp von Neuerscheinungen in der Regel, bevor die Bücher selbst publiziert worden waren. So konnte auch eine Reihe von Titeln im Frankfurter Verlag auf der Grundlage von Umbruch- oder Fahnenexemplaren übersetzt oder lektoriert werden. Geisenheyners Einsatz nahm seit Mitte 1967 noch zu. Als er in jener Zeit an Urban schrieb: „Nun ist ja, wie Sie wissen, in Prag die ‚Suhrkamperitis‘ ausgebrochen“,23 erfasste er den Zustand, den eben Geisenheyners Aktivitäten ausgelöst hatten. Aus seinen Mitteilungen ist ersichtlich, dass er nicht nur bereits existierende Kontakte weiter betreute, sondern dem Frankfurter Verlag selbst Texte anbot, auf die ihn seine Prager Freunde aufmerksam gemacht hatten oder die ihm selbst aufgefallen waren. Am 14. Juli 1967 schrieb er Urban über eine außergewöhnliche literarische Kollage von Hrabal in einer 22 Karl Markus Michel an Ernst W. Geisenheyner, 22.7.1967, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 23 Ernst W. Geisenheyner an Peter Urban, 21.7.1967, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA.
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L iteraturzeitschrift, und am 2. Februar 1968 berichtete er ihm von der beachtlichen Prosa Josef Jedličkas, die in einer Monatsschrift erschienen war. Am 26. Februar 1968 machte er ihn wiederum auf die Bildhauerin, Drehbuchautorin und Prosaschriftstellerin Ester Krumbachová aufmerksam und legte ein Manuskript ihrer Prosa bei, das erst später in einer Zeitschrift publiziert werden sollte. Am 13. März 1968 bot er Urban den außergewöhnlichen Roman von Ladislav Fuks Spalovač mrtvol (1967, Der Leichenverbrenner) an, da der Münchner Verlag Biederstein, der bereits zwei Titel von Fuks publiziert hatte,24 kein weiteres Interesse habe. Es ist unbekannt, wer eigentlich Geisenheyners Bekannte und Freunde waren, auf die sich der Literaturagent berief. Wichtiger ist Geisenheyners Wirkungskreis und sein Gespür für jene Art literarischer Werke, die mit dem Suhrkamp-Programm harmonierten. In Geisenheyners Briefen an Busch über die persönlichen Verhandlungen mit Bohumil Hrabal und Věra Linhartová25 oder in der Korrespondenz mit den Erben der Autorenrechte von Ladislav Klíma sowie mit Milan Nápravník26 ist zudem eine Leidenschaft spürbar, die den gewöhnlichen Einsatz für eine Arbeit weit übersteigt und die Tätigkeit eines Literaturagenten schon fast zu einer freudigen und intellektuell reichen Berufung werden lässt. Ein Name erscheint jedoch unter den Prager Kontakten von Geisenheyner öfter in den Briefen an Busch: Der Übersetzer und Redakteur von Mladá Fronta, Vladimír Kafka, wurde von ihm häufiger erwähnt, nämlich im Zusammenhang mit der Herausgabe von Hrabals Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene;27 in einem anderen Brief gab er die Unterhaltung Enzensbergers mit Kafka über die Möglichkeit der Übersetzung der Gedichte von Vladimír Holan wieder;28 in wieder einem anderen Brief geht es um ein Gespräch mit Kafka über Věra Linhartová, und im gleichen Brief beruft er sich auf ein Treffen, das Busch selbst mit Kafka gehabt hatte.29 Neben der wiederholten Erwähnung des Namens Kafka in Geisenheyners Briefen und der Vermittlerrolle des tsche24 Um eine Option für das erste der beiden hatte Suhrkamp sich vergeblich am 13.11.1963 bemüht, und bei der Anfrage hinsichtlich weiterer Titel teilte Dilia am 22.09. 1964 dem Frankfurter Verlag mit, dass die Autorenrechte für die Bundesrepublik Deutschland Fuks bereits anderweitig verkauft worden seien (Suhrkamp Verlag (Helene Ritzerfeld) an Dilia, 13.11.1963; Dilia an Suhrkamp, 22.9.1964, beides SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA). 25 Ernst W. Geisenheyner an Günther Busch, 26.10. u. 7.12.1964, 3.2.1967; alles SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA). 26 Ernst W. Geisenheyner an Günther Busch, 3.2. u. 14.4.1967; beides SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA). 27 Ernst W. Geisenheyner an Günther Busch, 26.10.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 28 Ernst W. Geisenheyner an Günther Busch, 27.10.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 29 Ernst W. Geisenheyner an Günther Busch, 3.2.1967, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA.
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chischen Übersetzers und Redakteurs, wie sie in Hiršal und Grögerovás Werk Let let deutlich wird, wurde Kafkas Bedeutung für die tschechisch-deutschen literarischen Beziehungen der 1960er Jahre im Nekrolog in der Zeit hervorgehoben: „Seine größte Bedeutung liegt sicher in dem, was er hinüber und herüber vermittelt hat.“30 Im postum herausgegangen Band mit Kafkas Artikeln Studie a úvahy o německé literatuře (1995, Studien und Überlegungen zur deutschen Literatur) finden sich auch sieben private Briefe von Kafka an Urban aus der Zeit Januar 1968 bis Januar 1970.31 Außer persönlichen Dingen und Namen der Autoren, die Suhrkamp publizierte oder zu publizieren gedachte (Nápravník, Linhartová, Deml, L. Klíma, Kolář, Weiner), ist in den Briefen wiederholt von der Absicht die Rede, eine Auswahl von Texten aus der Prager Zeitschrift Tvář (Angesicht) als Buch im Frankfurter Verlag zu publizieren.32 Kafka arbeitete mit der Redaktion von Tvář im Jahr 1965 eng zusammen, doch das kommunistische Regime stellte dessen Erscheinen 1965 aus politischen Gründen ein. 1967 und 1969 durfte die Redaktion der nicht existierenden Zeitschrift zwei Sammelbände veröffentlichen. Vielleicht war es gerade dieses Format, das Kafka und Urban auf den Gedanken brachten, einen ähnlichen Band auf Deutsch herauszubringen. Das vorgeschlagene Inhaltsverzeichnis der geplanten Anthologie in Kafkas Brief an Urban spricht jedenfalls für eine solche Annahme.33 Die Ereignisse in beiden Ländern im Sommer und Herbst 1968 standen diesen Bemühungen allerdings im Weg. Am 21. August 1968 marschierten die Armeen der sogenannten Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei ein. Einen Monat später fand in Frankfurt die Buchmesse statt, auf der ein Konflikt zwischen neun Suhrkamp-Lektoren, unter ihnen Peter Urban, mit Siegfried Unseld zunächst noch vertagt wurde und schließlich mit dem Weggang der Lektoren aus dem Verlag ein Vierteljahr später endete. Kafka schrieb an Urban, ob es in dieser Situation überhaupt Sinn habe, über einen Auswahlband Tvář nachzudenken.34 Seit November 1968 begann Tvář zudem von neuem zu erscheinen (und Kafka war im Redaktionsrat). Am 20. Januar 1969 meinte er: „Lassen wir es für den Augenblick gut sein, es ist jetzt auch nicht nötig, die Zeitschrift erscheint wieder. Lass uns dann in Prag darüber sprechen.“35 Aus Kafkas Äußerungen wird allerdings nicht deutlich, ob die ursprüngliche Idee, zu Beginn des Jahres 1968 einen deutschen Auswahlband aus 30 Reichert, Urban 1970. 31 Kafka 1995, S. 331–336. 32 Kafka 1995, S. 332. 33 9.2.1968 (Kafka 1995, S. 332). 34 7.10.1968 (Kafka 1995, S. 333). 35 Kafka 1995, S. 335.
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Tvář zusammenzustellen, eher deshalb gefährdet war, weil die Zeitschrift in der Tschechoslowakei wieder ins Leben gerufen worden war oder weil Urban zusammen mit anderen den Verlag der Autoren gegründet hatte, zu dessen Programm eine Auswahl von Texten aus einer fremdsprachigen Literaturzeitschrift wahrscheinlich nicht passte.36 Gesichert ist freilich, dass Tvář im Laufe des Jahres 1969 gemeinsam mit allen anderen Kulturzeitschriften endgültig eingestellt wurde und die Zusammenarbeit von Kafka und Urban nicht mehr lange andauerte. 4
Tschechische Gegenwartsliteratur
Die ersten der bei Suhrkamp übersetzten tschechischen Bücher erschienen 1965. Neben dem bereits erwähnten Band von Halas Lyrik, den Peter Demetz besorgt hatte, erschienen in der „edition suhrkamp“ Bohumil Hrabals Prosa Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene (tsch. Taneční hodiny pro starší a pokročilé, 1964) sowie eine Auswahl von Věra Linhartovás Erzählband Prostor k rozlišení (1964, wörtlich: Raum zum Unterscheiden), der bei Suhrkamp unter dem Titel Geschichten ohne Zusammenhang erschien. In beiden Fällen war an der Kommunikation mit den Autoren auch Ernst Geisenheyner beteiligt, und es ist bezeichnend, dass Suhrkamp Linhartovás Buch auf seine Initiative hin bereits im September 1964 lektorierte, also bevor es im Oktober 1964 in Prag publiziert wurde.37 Dies weist darauf hin, dass der Frankfurter Verlag entweder ein Seitenumbruchsexemplar vom Verlag Mladá Fronta zur Verfügung hatte oder sogar mit dem Manuskript der Autorin arbeitete. In beiden Fällen vermittelte wahrscheinlich Vladimír Kafka zwischen der Autorin und der deutschen Seite. Hrabals drittes Buch,38 Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene, war – bevor Busch Geisenheyner beauftragte, eine Option auf das Buch zu 36 Hiršal fasst in Let let Urbans Brief zusammen (offensichtlich vom November 1968), in dem ihm der deutsche Lektor die Entscheidung, Suhrkamp zu verlassen, mitteilt und die Absicht, insoweit dies der Vertrag zulasse, die tschechischen Autoren Nápravník, Linhartová und Kolář mitzunehmen. Zudem fragte er bei Hiršal an, ob er einverstanden sei, dass unter Urbans neuen Akquisen auch die Übersetzung von Hiršals und Grögerovás Buch experimenteller Lyrik JOB-BOJ sein könne, von dem damals probeweise ein Auszug von Helmut Heißenbüttel besorgt wurde (von einer deutschen Übersetzung kam man schließlich ab, und das Buch existiert nur in einer tschechischen Ausgabe von 1968). Vgl. Hiršal, Grögerová 2007, S. 958–959. 37 Ernst W. Geisenheyner an Günther Busch, 4.9.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 38 Die ersten beiden Bücher wurden ursprünglich von einem anderen Verlag für den deutschsprachigen Raum reserviert, schließlich erschienen aber alle Bücher Hrabals ausschließlich bei Suhrkamp.
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sichern39 – bereits im August 1964 in der Tschechoslowakei erschienen. Dies schmälert aber das feine Gespür des Suhrkamp Verlags für literarische Werte keinesfalls. Es lässt sich schließen, dass ein Verbindungsglied zwischen Hrabal und Geisenheyner – neben den Redakteuren Josef Čermák und Vladimír Kafka40 – auch der Übersetzer Franz Peter Künzel war, der sich bei Geisenheyner als Übersetzer für Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene anbot. In einer Formulierung Geisenheyners lässt sich ein leichter Zweifel spüren: Franz Peter Künzel hat ein Exemplar, das er gern übersetzen möchte. Mehr hat er mit dem Buch nicht zu tun. Er wird Ihnen demnächst Probeübersetzung usw. senden. Verfahren Sie mit ihm, wie Sie wollen. Er muss natürlich nicht übersetzen. Aber vielleicht finden Sie ihn gut.41
In einem weiteren Telegramm einen Monat später scheint diese Skepsis erneut durch: „betone erneut, dass kuenzel als uebersetzer keineswegs eine conditio sine qua non ist“.42 Ein weiterer Brief von Geisenheyner verdeutlichte schließlich, worauf seine Skepsis gründete, denn Hrabal habe Künzel die Übersetzung von sich aus versprochen. Laut Geisenheyner wisse „Hrabal von seinen Prager Freunden durchaus, daß Künzel sicherlich nicht der ideale Übersetzer ist, möchte aber, eben aus einer menschlichen Anständigkeit heraus, an seinem Versprechen festhalten, auch wenn es zu seinem Nachteil wäre“.43 Suhrkamp akzeptierte Künzel als Übersetzer der Tanzstunden. Das heißt einerseits, dass der Verlag dem Wunsch des Autors entgegenkam, und anderseits auch, dass Hrabal für Suhrkamp als Autor offensichtlich wertvoll war. Künzels Übertragung ist jedenfalls besser als die Übersetzung der Auswahl mit dem Titel Die Bafler aus Hrabals ersten beiden Erzählbänden, die Künzel ein Jahr später für Suhrkamp besorgte und die kaum als gelungen bezeichnet werden kann (in der Übertragung fehlen ganze Sätze, die Absatzeinteilung wird nicht eingehalten, und Hrabals Text wird gar an einigen Stellen derart ergänzt, dass sich der Sinn ändert). Bis 2016 veröffentlichte Suhrkamp jedenfalls die Tanzstunden in sechs Auflagen mit etlichen Nachdrucken. Die Strategie des Suhrkamp Verlages setzte im Wesentlichen auf das Progressivste, was die tschechische Prosa der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zu bieten hatte. Es wurden vier der fünf Bücher von Linhartová publiziert, eine 39 Günther Busch an Ernst W. Geisenheyner, 22.9.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 40 Enzensberger traf Hrabal bereits während seines ersten Pragbesuchs im Mai 1963, assistiert von Hiršal, Čermák und Kafka (Hiršal, Grögerová 2007, S. 382–384). 41 Ernst W. Geisenheyner an Günther Busch, 24.9.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 42 Ernst W. Geisenheyner an Günther Busch, 23.10.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 43 Ernst W. Geisenheyner an Günther Busch, 26.10.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA.
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anspruchsvolle Prosa, die geläufige Erzählverfahren unterläuft und in einer fragmentierten Komposition die Entstehung einer spezifischen Sprache thematisiert. Ferner wurden drei Bücher von Hrabal herausgegeben,44 der sich als Autor durch einen originellen Stil literarischer Sprache auszeichnet, die die Illusion einer dem einfachen Volk abgehörten vulgären Rede erzeugt, die in Wirklichkeit eine kunstvolle Kollage aus auffällig übertriebenen und parabolischen Geschichten darstellt. Auch die anderen Prosaautoren und Lyriker, die Suhrkamp publizierte (Ivan Vyskočil, Josef Jedlička, Milan Nápravník und Jiří Kolář), verkörperten in der tschechischen Literatur jener Zeit originelle und kreative Phänomene. Ihr gemeinsamer Nenner war das Experiment mit den Möglichkeiten des literarischen Ausdrucks, das in einer je eigenen dichterischen Sprache mündete. Ein weiterer gemeinsamer Nenner der meisten Texte dieser Autoren bestand darin, dass sie zehn bis fünfzehn Jahre vor ihrer ersten Druckausgabe entstanden waren. Ihre Genese hing also nicht mit der gesellschaftlichen Atmosphäre in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre zusammen, die sich gerade von der Unterordnung unter das Sowjetimperium emanzipierte, sondern ging ihr voran. Suhrkamp wählte die Titel bestimmt nicht nach diesem Kriterium aus, aber es ist symptomatisch, dass auch eine solche Gemeinsamkeit die tschechischen Bücher des Frankfurter Verlags verband. Eine Atmosphäre der „Wiedergeburt“ in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre machte natürlich die Veröffentlichung dieser Werke erst möglich, so wie sie im Jahr 1966 auch erstmals seit 1948 eine Buchpublikationen der ästhetischen Arbeiten Jan Mukařovskýs (1891–1975) zuließ, einem der Begründer des Cercle linguistique de Prague. Der Autor selbst verurteilte seine strukturalistischen Schriften aus den 1930er und 1940er Jahren nach dem Februarumsturz 1948 öffentlich, weshalb er dann in der kommunistischen Tschechoslowakei in akademischen Spitzenpositionen wirken konnte. Als seine Schüler 1966 eine Auswahl seiner bisher nicht in Buchform oder bisher nicht auf Tschechisch publizierten Arbeiten aus der Vorkriegszeit mit dem Titel Studie z estetiky (Studien aus der Ästhetik) besorgten, sahen die damaligen literaturwissenschaftlichen Kreise darin zum einen eine Polemik mit dem verknöcherten stalinistischen Marxismus, deren Vertreter nach wie vor wichtige Positionen im akademischen und Verlagsbereich innehatten, zum anderen eine Gelegenheit, die Wirkung des Vorkriegsstrukturalismus nicht nur zu rehabilitieren, sondern 44 Außer den bereits genannten Tanzstunden und Die Bafler erschien der Band Reise nach Sondervorschrift, Zuglauf überwacht (1968), der zusammen mit der titelgebenden Erzählung (Ostře sledované vlaky, tsch. 1965) noch Texte mit lyrischer Prosa aus dem Buch Inzerát na dům, ve kterém už nechci bydlet (Inserat für ein Haus, in dem ich nicht mehr wohnen möchte, tsch. 1965) enthielt.
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auch nach etwa zwanzig Jahren von neuem an ihn anzuknüpfen. Suhrkamp registrierte diese Tendenz und gab von Mukařovskýs Arbeiten ohne Kommentar, nur mit bibliographischen Angaben versehen, zwei Bände heraus: Kapitel aus der Poetik (1967) und Kapitel aus der Ästhetik (1970). Die ältere Prager strukturalistische Wissenschaft gelangte so im Programm des Frankfurter Verlags in die Nachbarschaft mit dem damaligen französischen Strukturalismus, mit den Verfahren der amerikanischen Komparatistik, mit der Konstanzer Rezeptionsästhetik sowie mit Übersetzungen methodisch verwandter Arbeiten aus dem Russischen. 5
„Autoren des Prager Frühlings“
Die bei Suhrkamp übersetzten tschechischen Dichter und Prosaautoren stellten in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre gleichsam in einem virtuellen literarischen Zentrum ein exklusives literarisches Randphänomen und Experiment dar. Dieses Phänomen war in den Augen der zeitgenössischen Kritik, der relativ unabhängigen Publizisten und Literaturhistoriker, die ihre marxistischen Ausbildung an den Universitäten der 1950er Jahre allmählich hinter sich gelassen hatten, eine Begleiterscheinung des Mainstreams des tschechischen Schrifttums. Dessen Autoren mühten sich im Laufe der 1960er Jahre in Werken unterschiedlicher Stilistik, das Werden des kommunistischen Gesellschaftsmodells zu analysieren mit dessen unvorhersehbare Nebenwirkungen, die das ursprüngliche Ideal zusehends kompromittierten und zersetzten, ebenso wie die Enttäuschung über das Scheitern eigener Aktivitäten. Dies war die Art Literatur, die damals ein breites Echo unter Lesern und Kritikern fand. In dem totalitären Regime, dessen Kontrolle über die Bevölkerung zusehends schwand, verkörperte dieses Echo gemeinsam mit einer zukunftsoptimistisch gestimmten Publizistik de facto die Stimme einer oppositionellen politischen Meinung. Unter den für Suhrkamp aus dem Tschechischen übersetzten Titeln findet sich freilich keiner, der Merkmale dieser seltsamen literarischen „Morphologie“ trägt. Die politisch reizvolle, künstlerisch aber eher konjunkturelle Problematik erregte nicht das Interesse der Suhrkamp-Lektoren, die im Bereich der künstlerischen Literatur eben solche Texte aussuchten, in denen sich die Krise der damaligen europäischen Zivilisation in Fragen der Struktur und der literarischen Verfahren des Texts äußerte und nicht in den Themen, die eher zur politischen Publizistik gehörten.45 Die Charakteristik der Werke der tschechischen 45 Suhrkamp gab in dem Zusammenhang zwei wichtige Anthologien heraus: Reden zum IV. Kongress des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes: Prag, Juni 1967 (1968), eine
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Literatur im repräsentativen Werk Die Geschichte des Suhrkamp-Verlages, in dem es heißt, „Die Autoren des Prager Frühlings, der zerschlagen wurde“,46 ist nicht unbedingt zutreffend, denn keiner der tschechischen Autoren, die Suhrkamp seinerzeit verlegte, war zwischen 1967 und 1969 ein herausragender Vertreter der politischen und gesellschaftlichen Erneuerungstendenzen. Das Etikett „Autoren des Prager Frühlings“ kam wohl einfach deshalb zustande, weil diese Autoren ihre Bücher, die sie bereits vor einiger Zeit verfasst hatten, Ende der 1960er Jahre publizierten und so zum sich ausdifferenzierenden Bild der tschechischen Literatur beitrugen. Es lässt sich nur darüber spekulieren, wie Suhrkamp vorgegangen wäre, wenn einige Titel mit politischer Thematik, für die der Verlag von der tschechischen Seite eine Option wollte – zum Beispiel Ludvík Vaculíks Roman S ekyra (Die Axt) oder Milan Kunderas Žert (Der Scherz) – nicht bereits reserviert gewesen wären.47 Es ist ebenso spekulativ, ob Suhrkamp sie verlegt und so das Bild der tschechischen Literatur, repräsentiert durch Namen wie Hrabal, Vyskočil, Linhartová oder Nápravník, verändert hätte. Gesichert sind jedenfalls die Titel, die Suhrkamp publizierte sowie die Begründungen, mit denen Suhrkamp gewisse Bücher ablehnte. Enzensbergers Argument im Hinblick auf Máchas Máj wurde bereits erwähnt. Die drei folgenden Beispiele verdeutlichen die Strategie des Frankfurter Verlags auf Grundlage der Kriterien des künstlerischen Werts, der Exklusivität des Autors sowie wirtschaftlichen Erwägungen. Josef Bors Novelle Terezínské rekviem (1963) spielt im jüdischen Ghetto während der Nazi-Okkupation von Böhmen und Mähren und wurde von Walther Boehlich folgendermaßen charakterisiert: Einerseits scheint mir dieses Buch zu denen zu gehören, die bekannt werden sollten, weil sie ein Stück Wirklichkeit enthalten, das zu unterdrücken schändlich wäre, anderseits hat sein Autor sich nicht begnügen wollen mit einer chronikartigen Wiedergabe des Geschehens, sondern ist in eine literarische Form ausgewichen, der er nicht völlig genüge tun kann. Nun sind die Prinzipien, nach denen der Suhrkamp Verlag sich für oder gegen ein Buch entscheidet, literarische – nicht weltanschauliche oder politische.48
Auswahl aus dem vollständigen tschechischen Protokoll des Schriftstellerkongresses (tsch. 1968), sowie einen eigenständigen Band Nachrichten aus der ČSSR. Dokumentation der Wochenzeitung „Literární listy“ des Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes Prag, Februar – August 1968 (hrsg. von Josef Škvorecký, 1968). 46 Die Geschichte des Suhrkamp-Verlages 2000, S. 75. 47 Dilia (Gustav Bernau) an Suhrkamp, 12.4. und 18.8.1967, beides SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 48 Walter Boehlich an Dilia, 24.3.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA.
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Die Entscheidung, Arnold Luštigs Prosa Dita Saxová (1962), ebenfalls zur jüdischen Thematik, abzulehnen, begründete Karl Markus Michel mit dem Verweis auf negative Verlagsbeurteilungen und mit der langfristigen Vision von Suhrkamp: Das Buch lag lange bei uns, dann lange bei Herrn Hahn, dann wieder bei uns, weil sein Gutachten nicht angekommen war, und schließlich noch bei einem zweiten Gutachter, der mein Urteil stark beeinflusste: ich glaube, wir sollten auf dieses Buch verzichten. Da wir den Autor doch nicht als Verlagsautor ‚aufbauen‘ wollen und können, hätte dieses eine Buch von ihm wenig Chancen.49
Die Ablehnung eines bestimmten Autors konnte auch mit den Absichten eines anderen Verlags zusammenhängen: Wenn der Merlin-Verlag bald eine Ausgabe von Skácel herausbringt, sich also die besten Gedichte von Skácel heraussucht, dann sehe ich weder eine Möglichkeit noch eine Notwendigkeit, ein zweites Skácel-Buch auf den deutschen Buchmarkt zu bringen.50
Die Bevorzugung hoch künstlerischer, originell literarischer Verfahren, die im Suhrkamp-Programm mit den Namen von Kolář, Hrabal, Linhartová, Jedlička, Nápravník oder Vyskočil verbunden waren, wurde auch durch das langfristige Interesse für Autoren unterstrichen, die der Verlag nach längerem Abwägen schließlich doch nicht herausgab. Von Februar 1967 bis Februar 1968 korrespondierte man über die Möglichkeit einen Band ausgewählter Prosa aus dem umfangreichen und amorphen Werk von Jakub Deml (1878–1961) zu verlegen.51 Allerdings verlieren sich die Spuren zu Deml in der Verlagskorrespondenz nach Februar 1968. Seit Februar 1967 gibt es ebenfalls Überlegungen, einen Auswahlband eines anderen, poetologisch schwer einzuordnenden Autors zu publizieren, des Philosophen solipsistischer Ausrichtung, Ladislav Klíma (1878–1928). Sein Werk wurde wie das von Richard Weiner nach dem Februarumsturz 1948 auf den Index gesetzt und in der Tschechoslowakei in Form eines schmalen Auswahlbandes 1967 erstmals wieder publiziert. Das Interesse von Suhrkamp hing mit dieser teilweisen „Revitalisierung“ beider Autoren zweifellos zusammen. „Sowohl Deml als auch Klima sind klassische Fälle für die BS und müssen 49 Karl Markus Michel an Ernst W. Geisenheyner, 21.10.1964, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 50 Peter Urban an Gustav Bernau, 17.1.1967, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 51 Dilia (Gustav Bernau) an Suhrkamp, 21.2. 1967, Ernst W. Geisenheyner an Peter Urban, 10. u. 21.7., 17.11.1967, Peter Urban an Ernst W. Geisenheyner, 14.12.1967, Dilia (Gustav Bernau) an Suhrkamp, 15.2.1968, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA.
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ganz sicher noch eine Zeitlang aufs Erscheinen warten“, schrieb Peter Urban an Geisenheyner, und einige Wochen später fügte er an: „Ladislav Klima machen wir in der Bibliothek Suhrkamp, den Vertragsvorschlag bekommen Sie in den nächsten Tagen.“52 Im Gegensatz zu Weiner erschien weder Deml noch Klíma im Programm des Frankfurter Verlags.53 6
Der Philosoph Karel Kosík
Die Bemerkung in Geschichte des Suhrkamp Verlages zu den Autoren des Prager Frühlings trifft genau genommen nur für zwei Bücher zu, die mit dem geistigen Klima des Prager Frühlings und dem Konzept eines kritisch revidierten Marxismus samt Entschlackung vom einer leninistischen und stalinistischen Politpraxis verknüpft sind: Die Dialektik des Konkreten (Dialektika konkrétního, 1963) von Karel Kosík aus dem Jahr 1967 und Der Marxismus und die moderne geistige Wirklichkeit (Moderní duchovní společnost a marxismus, 1968) von Robert Kalivoda aus dem Jahr 1970. Das Werk von Kosík fand in der Tschechoslowakei nicht nur unter Philosophen einige Beachtung, vielmehr beeinflusste er durch sein Konzept der Arbeit als zielgerichtete menschliche Tätigkeit und durch seine Art der Interpretation philosophischer und künstlerischer Texte das Denken in weiten geisteswissenschaftlichen Disziplinen wesentlich. Die deutsche Übersetzung nahm laut Verlagskorrespondenz bereits zum Jahreswechseln 1963/64 ihren Anfang, und der Verlag, der über Karl Markus Michel mit dem tschechischen Autor kommunizierte, hielt sie offensichtlich für sehr wichtig. Kosík erhielt eine vorläufige Übersetzung und zudem wurde ihm angeboten, einen anderen oder zweiten Übersetzer eventuell auszusuchen. Außerdem wurde er ersucht, kleinere Änderungen, die der Philosoph für weitere tsche-
52 Peter Urban an Ernst W. Geisenheyner, 14.12.1967 u. 1.2.1968; beides SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 53 Auf die Nachfrage von tschechischer Seite wegen der Übersetzung von Ladislav Klíma zur Jahreshälfte 1970 (!) schrieb Dieter Hildebrandt an Gustav Bernau von der Agentur Dilia: „Die Verhandlungen über eine Ausgabe mit Arbeiten von Ladislav Klima haben sich lange hingezogen. Wir bedauern unsere späte Antwort umso mehr, als wir nun doch zu einem negativen Entschluss gekommen sind. Das hat mannigfache Gründe; unter anderen auch den, dass unser Programm für das nächste Jahr bereits schon fest ausgebucht ist. / Wir hoffen sehr, dass diese Auskunft die übrige gute Zusammenarbeit zwischen Dilia und dem Suhrkamp Verlag nicht berührt“ (Dieter Hildebrandt an Gustav Bernau, 3.8.1970, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA).
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chische Ausgaben (1965, 1966) vorgesehen hatte, einzuarbeiten.54 Obwohl Kosík mit der Übersetzung der ersten Seiten durch Marianne Hoffmann sehr zufrieden war und Suhrkamp die Publikation auf den Herbst 1964 ansetzte, erschien das Buch doch erst 1967.55 Im Briefwechsel findet sich keinerlei weitere Bemerkung zu Dialektik, so dass man daraus schließen kann, dass die Arbeit an der Übersetzung offensichtlich langsamer voranging, als alle vorausgesetzt hatten. Im Februar 1967 lud Günther Busch jedenfalls Kosík zur Mitarbeit an einem geplanten Band über das Kapital von Marx ein, und der Prager Philosoph versprach einen Beitrag zum Thema Die philosophischen Grundlagen von Marx Kapital. Er schrieb an Busch: „Mit diesem Titel will ich Ihnen nur andeuten, dass ich mich in diesem Beitrag vielmehr mit methodologischen Fragen als mit Einzelfragen beschäftigen möchte.“56 Mit der Abgabe des Beitrags verspätete er sich allerdings, teilte Busch Änderungen und Verengungen seines Themas mit und zog schließlich seine Teilnahme an dem geplanten Sammelband zurück.57 Das Interesse von Suhrkamp an der Zusammenarbeit mit Kosík endete damit jedoch noch nicht. Im September 1967 schrieb Busch nach Prag und lud Kosík zur Teilnahme „an einem Band über den gegenwärtigen Stand der Hegel-Rezeption, der rechtzeitig zum Hegel-Jubiläum im Jahre 1970 veröffentlicht werden soll“, ein.58 Kosíks Antwort ist unbekannt, jedenfalls taucht sein Name nicht unter den Beiträgern ktualität und Folgen der Philosophie Hegels (1970) auf. Im Hinblick auf von A die politischen Ereignisse in der Tschechoslowakei in den Jahren 1968–1970 kann man sich die Gründe für die Nicht-Teilnahme an dem Hegel-Band gut vorstellen, denn das nach der Okkupation installierte „Breschnew-Regime“ erklärte Kosík (ebenso wie Kalivoda) zu einem der intellektuellen Väter der sogenannten Kontrarevolution und entzog ihm jegliche Möglichkeit öffentlichen Wirkens. Noch davor, im Februar 1968, hatte Suhrkamp mit ihm einen Lizenzvertrag für den deutschen Sprachraum und gegebenenfalls weitere fremdsprachige Ausgaben geschlossen. Der Vertrag betraf drei auf Tschechisch verfasste Titel: Kritik der technischen Vernunft, Einführung in die Dialektik und 54 Karl Markus Michel an Karel Kosík, 11. u. 13.1.1964, beides SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 55 Das heißt erst nach den Übersetzungen ins Italienische (1965), Slowenische, Spanische und Serbokroatische (1967). Auf die deutsche Übersetzung folgte die portugiesische, (1969), französische (1970), englische (1976) und schwedische (1979). Auf Grundlage der deutschen Übersetzung kam auch eine japanische zustande (1969). 56 Karel Kosík an Günther Busch, 13.3.1967, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. 57 Karel Kosík an Günther Busch, 20.5. u. 18.6.1967, beides SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA. Busch druckte deswegen im Band Folgen einer Theorie ein Kapitel aus der Dialektik des Konkreten, „Gesellschaftliches Sein und ökonomische Kategorien“. 58 Günther Busch an Karel Kosík, 5.9.1967, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate, DLA.
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etrachtungen über den Menschen. Heute erscheint im Rückblick klar, dass KoB sík diese Werke nicht mehr verfasste. Er plante jedoch zweifellos noch Ende der 1960er Jahre weitere Arbeiten, und Suhrkamp war äußerst daran interessiert, seine Autorenrechte in Deutschland und insgesamt im Westen zu vertreten. Der Vertrag wurde zwar formal nicht erfüllt, er spielte jedoch noch eine andere wichtige Rolle. Als die Geheimpolizei 1975 die Manuskripte von Kosík in Prag beschlagnahmte, darunter die vorbereitenden Arbeiten zu den erwähnten Titeln, wandte sich der tschechische Philosoph mit Hilfe eines Briefs von Jean-Paul Sartre an die Weltöffentlichkeit.59 Suhrkamp reagierte mit einem rechtsgültigen Dokument und kündigte an, nicht von der Erfüllung des Vertrags zurückzutreten. Der Verlag machte den tschechoslowakischen staatlichen Apparat darauf aufmerksam, dass er beim internationalen Gerichtshof in Den Haag seine Rechte einfordern werde.60 In die Korrespondenz schalteten sich auch der damalige Bundesinnenminister Werner Maihofer und Außenminister Hans-Dietrich Genscher ein. Unseld informierte Kosík über den Stand der Verhandlungen respektive über das Schweigen der tschechischen Seite und signalisierte zugleich seine Entschlossenheit, das Manuskript auf Deutsch herauszugeben, wofür ihm der Prager Philosoph dankte und versprach, den Text zu liefern.61 Die tschechoslowakische Geheimpolizei gab Kosík sein Manuskript jedoch nicht zurück, weder Mitte der 1970er Jahre noch irgendwann später. Doch Siegfried Unseld hat seinen Autor nicht vergessen. Nach einigen Nachdrucken des Buches Dialektik des Konkreten besorgte er 1986 eine zweite Auflage, und nach dem Fall des kommunistischen Regimes 1989/90 meldete er sich bei dem Prager Philosophen mit einem Brief, in dem er Interesse an seinem neuen Werk bekundete, das in der tschechischen freien Presse bereits angekündigt worden war:
59 Le Monde 29. 6. 1975, FAZ 30. 5. 1975. 60 In erster Instanz wandte sich Siegfried Unseld am 2.6.1975 schriftlich an den damaligen Botschafter der ČSSR, Jiří Götz. Am Ende des Schreibens kam es freilich zu einem Lapsus auf Unselds Seite, als er der Hoffnung auf ein vernunftgeleitetes Vorgehen der tschechischen Seite mit dem Motto „Die Wahrheit wird siegen“ des ersten Präsidenten der Tschechoslowakei, T. G. Masaryk, Ausdruck verlieh, dessen wissenschaftliches und politisches Vermächtnis in der ČSSR der 1970 Jahre totgeschwiegen wurde (Siegfried Unseld an Jiří Götz, 2.6.1975, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Kosík, Karel, DLA). 61 Siegfried Unseld an Karel Kosík, 17.7.1975, Karel Kosík an Siegfried Unseld, 28.10.1975, Siegfried Unseld an Karel Kosík 17.11.1975; alles SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/ Kosík, Karel, DLA.
Zur tschechischen Literatur im Programm des Suhrkamp Verlags 203 Der Ankündigung nach ist es eine Auseinandersetzung mit der politisch- geistigen Entwicklung in Mitteleuropa in den letzten 20 Jahren. Ich bin natürlich an diesem Werk aufs höchste interessiert.62
Kosíks Antwort lautete: Unsere gegenwärtige Krise ist ein Sammelband meiner alten Artikel aus dem Jahre 1968, und ich meine, für den ausländischen Leser bringt er nichts Neues. Ich hoffe aber, dass ich noch in diesem Jahr im Stande sein werde meine langjährige Arbeit zu Ende zu führen, die einen Versuch der philosophischen Kritik unseres Zeitalters darstellt, unter dem provisorischen Arbeitstitel: Bestia triumphans.63
In einem späteren Brief äußerte sich Unseld höchst erfreut über Kosíks Versprechen und bat ihn, trotz der formulierten Zweifel die Druckfahnen des geplanten Bandes Unsere gegenwärtige Krise zu schicken.64 Dies ist freilich die letzte Spur in der Korrespondenz zwischen dem Suhrkamp Verlag und Kosík. Zu einer weiteren Zusammenarbeit kam es bis zum Tod des Philosophen im Jahr 2003 nicht mehr. 7
Ein Schnitt zwischen den Kulturen
Der Rückgang der Kontakte zwischen dem Suhrkamp-Verlag und der tschechischen Seite im Laufe des Jahres 1969 lässt sich zum einen mit dem Weggang vom Peter Urban vom Verlag, zum anderen mit der extrem veränderten politischen Situation in der Tschechoslowakei erklären. Nach der Herausgabe der Gedichte von Kolář und seines Bandes Das sprechende Bild (1971) verschwand die tschechische Literatur aus dem Verlagsprogramm, und außer vereinzelter, fast schon zufälliger Publikationen finden sich im Suhrkamp-Programm der 1970er Jahre lediglich Nachdrucke von Hrabal und Milan Kundera. Als in der Tschechoslowakei alle unangepassten Autoren – und das war nach 1969 die große Mehrheit – zum Schweigen verurteilt waren, also keine Möglichkeiten mehr hatten, in Zeitschriften (die sämtlich ihren Betrieb einstellen mussten) oder in Verlagen (deren redaktionelle Leitung ausgetauscht wurden) zu publizieren, hörte die freie tschechische Literatur im öffentlichen Raum de facto auf 62 Siegfried Unseld an Karel Kosík, 30.4.1990, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/ Kosík, Karel, DLA. 63 Karel Kosík an Siegfried Unseld, 28.5.1990, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/ Kosík, Karel, DLA. 64 Siegfried Unseld an Karel Kosík, 19.6.1990, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/ Kosík, Karel, DLA.
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zu existieren. Die Schriftsteller gingen ins Exil in verschiedene Länder oder verloren in der Tschechoslowakei den öffentlichen Status als Autoren. Suhrkamp interessierte natürlich nicht die Produktion des auf Linie gebrachten Verbandes tschechischer Schriftsteller, oder man fand sie einfach nichtssagend. Dies ist umso auffälliger, da Suhrkamp von 1965 bis 1971 vierundzwanzig Titel von fünfzehn tschechischen Autoren und zwei Anthologien veröffentlichte. Sieht man einmal von den Büchern von sechs nicht mehr lebenden Autoren ab sowie von dem Umstand, dass einige bemerkenswerte Schriftsteller respektive deren Werke vertraglich woanders gebunden waren, scheint die Verlagspolitik von Suhrkamp die interessantesten Werke der damaligen tschechischen Prosa und Essayistik erfasst zu haben. Bei Suhrkamp ging es am Anfang der 1970er Jahre wahrscheinlich nicht um eine programmatische Entscheidung, sondern um die Folge zweier unterschiedlicher kultureller Strukturen, die zu diesem Zeitpunkt diametral entgegengesetzt waren, wobei jede ihre eigene literarische und außerliterarische Komponenten hatte. Der Umbruch von den 1960ern zu den 1970ern Jahren stellte in ganz Westeuropa einen deutlichen Einschnitt dar. Die gesellschaftlichen Veränderungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankreich oder Großbritannien lassen sich jedoch nicht mit dem völlig anders gelagerten Zivilisationsbruch in der Tschechoslowakei vergleichen. Das wird am Schicksal der Autoren deutlich, die bei Suhrkamp publizierten. Sie wurden nicht nur um den gewohnten Austausch mit Zeitschriftenredaktionen und Verlagen sowie ihre Leserschaft gebracht, vielmehr setzte sie die Niederschlagung des Prager Frühlings und die Einführung der sogenannten Politik der Normalisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse einer Extremsituation aus. Josef Jedlička ging 1968 ins Exil in die Bundesrepublik Deutschland und arbeitete in München bei Radio Free Europe; als Prosaautor jedoch publizierte er nicht einmal mehr in Exilverlagen. Věra Linhartová emigrierte 1968 nach Frankreich, wo sie begann, Französisch zu schreiben, und in Paris Japanologie studierte und sich der Kunstgeschichte des Orients widmete. Milan Nápravník entschied sich ebenfalls für das Exil, und seit 1968 lebte bis zu seinem Tode im Oktober 2017 in Deutschland, wo sich sein Interesse in Richtung Malerei und Fotografie verschob, mit denen er seine imaginative Lyrik und Prosa untermalte. Ivan Vyskočil gab das Format größerer Prosatexte auf und entwickelte auf den vom Staat weniger kontrollierten kleinen Bühnen die originelle literarisch-dramatische Form des Improvisationstheaters. Jiří Kolář schrieb bereits zur Zeit der Veröffentlichung seiner Gedichte bei Suhrkamp nur noch sporadisch, und sein künstlerisches Talent fand seinen Ausdruck eher in der bildenden Kunst mit originellen Kollagen; ins deutsche und dann französische Exil ging er im Jahr 1978. Karel Kosík und
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Robert Kalivoda wurden als „rechte Revisionisten“ verdammt und für ihr Engagement von der Geheimpolizei systematisch schikaniert. Der über achtzigjährige Jan Mukařovský wurde aus dem öffentlichen Raum entfernt und seine Schüler, die sein Werk in den 1960er Jahren herausgegeben hatten, woraus Suhrkamp schließlich zwei Auswahlbände gemacht hatte, wurden in Fabriken gesteckt. Über die strukturalistische Wissenschaft breitete sich in Universitäten und Verlagen von neuem der Mantel des Schweigens aus. 8
„Der Kundera-Verlust“
In den 1970er Jahren publizierte Suhrkamp von der tschechischen Literatur außer dem Nachdruck einiger Übersetzung aus der vorangegangenen Dekade (Hrabal, Mukařovský) und zwei Titeln bereits nicht mehr lebender Autoren65 nur Milan Kundera. Der Suhrkamp Verlag veröffentlichte drei Bücher: Das Leben ist anderswo (1974), Der Abschiedswalzer (1977) und Das Buch vom Lachen und vom Vergessen (1980), doch das nächste mit dem der Autor europaweit bekannt und massenhaft gelesen wurde, erschien bereits woanders. Aus internen Verlagsnotizen wird deutlich, dass im April und Mai 1988, als intensive Verhandlungen zur Übersetzung von Hrabals Quasi-Autobiographie Hochzeiten im Haus (Svatby v domě) geführt wurden, es zu einem Missverständnis zwischen Siegfried Unseld und Elisabeth Borchers kam. In einer Notiz schrieb Unseld, dass „Kundera mit weiblichen Lektoren nicht auskommt“. Gegen diesen Satz, der unter den gegebenen Umständen nur illustrativen Charakter hatte, verwahrte sich Borchers mit dem Satz: „Ich möchte vermeiden, daß sich der Kundera-Verlust mit meiner Person verbindet“.66 Einen Tag später reagierte Unseld: Ich schreibe Ihnen diese Notiz und erwähne dies nicht mündlich, damit es für die Verlagsgeschichte festgehalten ist:
65 Julius Fučík: Reportage unter dem Strang geschrieben (1976) und Vladislav Vančura: Der Bäcker Jan Marhoul (1978). Beim ersten Text handelt es sich um eine Prosa, die in der Übersetzung von Felix Rausch wiederholt in der DDR bis 1973 erschien, für Suhrkamp wurde sie von Franz Peter Künzel neu übersetzt; der zweite Band enthielt eine Übertragung von Peter Pont von 1959 (Berlin: Rütter & Loening) und das Nachwort von Willy Haas für die nächste Ausgabe von Vančuras (Stuttgart: Verl. Dt. Volksbücher, 1960). 66 Notiz (dr. u./ze) (= Siegfried Unseld, Burgel Zeeh) – Gespräch mit Frau Dr. Susanna Roth, 25.4.1988; Notiz (Elisabeth Borchers) an Siegfried Unseld, 2.5.1988, beides SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA.
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Michael Špirit Der Kundera-Verlust verbindet sich ausschließlich mit meiner Entscheidung, seine Textkorrekturen für die Taschenbuchausgaben nicht zu machen.67
Auf Grundlage von Kunderas zahlreichen Äußerungen, mit denen er die Veröffentlichung seiner Prosa auf Tschechisch nach dem Fall des kommunistischen Regimes Anfang der 1990er Jahre begleitete, lässt sich rekonstruieren, was wahrscheinlich in der Beziehung zwischen Suhrkamp und Kundera passiert war. Milan Kundera kam nach der Unterdrückung des Prager Frühlings und dem Beginn der sogenannten Normalisierungspolitik der gesellschaftlichen Verhältnisse in den Jahren 1969 bis 1971 wie Hunderte anderer Autoren auf den Index unerwünschter Schriftsteller und hatte in der Tschechoslowakei keine Chance, mehr in den staatlichen kontrollierten Medien zu veröffentlichen. Die Publikation seiner Übersetzungen im Ausland – Kundera wurde in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre vor allem unter den Linksintellektuellen in Frankreich bekannt – konnte das Breschnew-Regime in Prag nicht verhindern. Život je jinde (Das Leben ist anderswo) war das erste Werk, das der Autor nach der sowjetischen Okkupation beendete. Es erschien zuerst in französischer Übersetzung im Jahr 1973 (La vie est ailleurs). Nach einigen abgelehnten Einladungen ins Ausland in der ersten Hälfte der 1970er Jahre – eine Ausreise hätte unter dem damaligen politischen Regime de facto eine unfreiwillige Emigration bedeutet, und dies wollte Kundera vermeiden – nahm er im Jahr 1975 die Einladung zu mehreren Vorträgen an einigen französischen Universitäten an und verließ die Tschechoslowakei. Nach der Veröffentlichung des Prosabands Kniha smíchu a zapomnění (Le Livre du rire et de l’oubli, 1979), den der Autor schon in Frankreich auf Tschechisch verfasste, wurde ihm die tschechische Staatsangehörigkeit aberkannt, und zwei Jahre später gewährte ihm Präsident Mitterand die französische. Die Übersetzung von Kunderas Büchern ins Deutsche erfolgte bei Suhrkamp stets kurz nach den französischen Ausgaben. Die drei Bücher bei Suhrkamp übersetzte Franz Peter Künzel. Kundera setzte sich nämlich noch in der Tschechoslowakei nach der schlechten Erfahrung mit den Übersetzungen seines ersten Romans in die „wichtigsten Fremdsprachen“ dafür ein,68 dass alle 67 Notiz (Siegfried Unseld) an Elisabeth Borchers, 3.5.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA. 68 Es handelt sich um Žert (1967), um dessen Option sich Peter Urban im August 1967 vergeblich mühte). In der Übersetzung von Erich Bertleff erschien Der Scherz ein Jahr später im Verlag Molden mit Sitz in Wien, München und Zürich. Auf Grundlage der deutschen Version, in der der Übersetzer – ohne Kunderas Einverständnis einzuholen – kürzte und Textstrukturen umstellte, wurde der Roman ins Englische übersetzt (The Joke, London:
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seine Werke in eine gegebene Sprache möglichst immer derselbe Übersetzer mache. Diese Tendenz wurde noch verstärkt als er im Exil dann die Möglichkeit hatte, persönlichen oder wenigstens in unzensiertem Briefkontakt mit seinen Übersetzern zu kommunizieren. Die Übertragungen ins Französische, Englische, Deutsche, Spanische oder Italienische besprach er nicht nur detailliert mit seinen Übersetzern, sondern gab sich auch selten mit dem einmal Erreichten zufrieden: Bei Nachdruck oder Neuausgaben seiner Romane in verschiedenen Sprachen griff Kundera wiederholt in die Texte ein in dem Bemühen um eine treffende Übersetzung. Anstelle der technischen Reproduktion des Texts, die im Produktionsprozess preiswert gewesen wäre, redigierte Kundera den Text, was Änderungen im Drucksatz erforderte und die ganze Produktion verlangsamte und am Ende den Sinn einer Taschenbuchausgabe gänzlich in Frage stellte.69 Die französischen, spanischen und englischen Verleger ertrugen dieses Vorgehen von Kundera. Siegfried Unseld sagte irgendwann einmal aber „Genug!“. Dies geschah offensichtlich noch vor Beendigung des sechsten Romans des Autors, Nesnesitelná lehkost bytí (tschechisches Manuskript 1982, französische Ausgabe L’Insoutenable Légèreté de l’être 1984), denn dieser Roman erschien nicht mehr im Suhrkamp-Verlag auf Deutsch, sondern im Münchner Carl Hanser Verlag, bei dem Kundera bis heute geblieben ist. Die Übersetzung besorgte nicht mehr Künzel, sondern die Schweizer Slawistin Susanna Roth, jene Inhaberin der Autorenrechte Bohumil Hrabals im Ausland, die zum unabsichtlichen Auslöser des Streits zwischen Unseld und Borchers wurde. Unglücklicherweise handelte es sich gerade um den Roman, mit dem Kundera sich in der breiten Öffentlichkeit einen Namen machte und durch den die Auflagen seiner Bücher auf der ganzen Welt in die Höhe gingen. Vom geschäftlichen Standpunkt aus kann man Suhrkamp nur bedauern. Unselds Entschluss, keine weiteren Berichtigungen im Text für Taschenbuchausgaben zu dulden, hatte sicher auch seine gute Seite. Der Verlag gewann damit freie Kapazitäten für andere Macdonald u. New York: Coward-McCann, 1969). Nach dem Protest des Autors wurde die englische Übersetzung dem tschechischen Original „angeglichen“ und neu veröffentlicht (Harmondsworth: Penguin Books, 1970). Ob auch die deutsche Version korrigiert wurde ist nicht bekannt; Suhrkamp publizierte jedoch Bertleffs Übersetzung von 1968 als Lizenzausgabe noch einmal 1979. 69 Nach den ersten Ausgaben 1974, 1977 und 1980 veröffentlichte der Verlag in der Reihe „Suhrkamp Taschenbuch“ die Romane erneut 1977, 1980 und 1983 und begann in großen Umfang Nachdrucke herzustellen, und zwar seit dem kommerziellen Erfolg des Romans Die Unerträglichen Leichtigkeit des Seins bei Hanser im Jahr 1984. Das Leben ist anderswo hatte 10 Auflagen in den Jahren 1985–1989, Der Abschiedswalzer 12 Auflagen von 1985–1988 und Das Buch vom Lachen und vom Vergessen 13 Auflagen zwischen 1984 und 1989. Welche Änderungen Kundera in den Taschenbuchausgaben vornahm, ist nicht erforscht.
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Arbeiten, und auch die „erzieherische“ Wirkung dieser Entscheidung auf den halsstarrigen Autor ist nicht zu unterschätzen, da Unselds Haltung ihm vermitteln konnte, dass auf der Welt auch noch andere Werte existierten als die Toleranz gegenüber dem Phantom einer vollendeten, in Wirklichkeit jedoch nie erreichbaren abschließenden Form eines künstlerischen Texts. 9
Die doppelte Bibliographie des Bohumil Hrabal
Neben einigen Titeln, die entgegen der Maxime von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1960 nichts mit der tschechischen Gegenwartsliteratur gemeinsam hatten und nur hinsichtlich einer literaturhistorischen Anmerkung zu bestimmten Genre- oder Wissenschaftstraditionen der tschechischen Literatur einen Wert aufwiesen, blieb nach dem „Kundera-Verlust“ im Suhrkamp-Programm nur Bohumil Hrabal als tschechischer Autor. In den 1980ern Jahren erschienen mehr Bücher von ihm in dem Frankfurter Verlag als in der Tschechoslowakei, in der er nach dem Publikationsverbot von 1969 erst wieder ab 1976 einige Titel veröffentlichen konnte. Nach dem verspäteten und in den 1970ern Jahren einzigen Auswahlband Moritaten und Legenden von 1973 (Morytáty a legendy, 1968) sowie einigen Nachdrucken der Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene, die bei Suhrkamp 1965 erschienen waren, kehrte Hrabal ins aktuelle Verlagsprogramm in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zurück. Suhrkamp gab sowohl die Bücher heraus, die Hrabal offiziell in der Tschechoslowakei publizieren durfte,70 als auch einen Band mit fünf Erzählungen aus den sechziger Jahren mit dem Titel Bambino di Praga (1982). Karl-Heinz Jähn hatte sie übersetzt, und erstmals waren sie ein Jahr davor im umfangreichen Prosaband Wollen Sie das goldene Prag sehen? erschienen, den Jähn für den Ostberliner Verlag Volk und Welt besorgt hatte. Jähns Auswahlband Wollen Sie das goldene Prag sehen? beinhaltete auch drei Prosatexte, die es bereits in Übersetzungen von Franz Peter Künzel aus den 1960ern Jahren für den Suhrkamp-Verlag gab. Die Tschechoslowakei schloss separate Lizenzverträge für die Staaten des Ostblocks und für den Westen, und der halbwegs tolerierte Hrabal begann offensichtlich auch für die DDR attraktiv zu werden, wo seine Prosa einen sensiblen Übersetzer in der Person von Karl-Heinz Jähn fand. So war die zweifache Übertragung für Hrabals Texte in den 1980ern Jahren typisch. Als Suhrkamp im Jahr 1982 den Sammel70 Schneeglöckchenfeste (1981, tsch. Slavnosti sněženek, 1978), Die Schur (1983, tsch. Postřižiny, 1976), Schöntrauer (1983, tsch. Krasosmutnění, 1979) und Harlekins Millionen (1984, tsch. Harlekýnovy milióny, 1981).
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band von Hrabals Erzählungen der Jahre 1966, 1968 und 1973 veröffentlichte, gab der Verlag Volk und Welt zwei Jahre später einen Band mit Jähns Version aus den Jahren 1970 und 1981 heraus. Zeitgleich mit Künzels Übersetzung der Novelle Die Schur (1983) erschien in Ost-Berlin Jähns Übertragung desselben Texts mit dem Titel Das Haaropfer. Jähn besorgte 1990 eine Neuübersetzung des Erzählbandes Schneeglöckchenfeste, obwohl das Buch – mit einem Text weniger – bereits in einer ziemlich gelungenen Übersetzung von Petr Šimon bei Suhrkamp 1981 erschienen war. Der Überblick über Hrabals Übersetzungen im west- und ostdeutschen Raum zeigt nicht nur eine gewisse Durchdringung beider politischer Sphären, sondern auch das Phänomen, dass die selektive Prager Verlagspolitik gegenüber dem Autor nicht nur vom Verlagswesen in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik kopiert wurde. Das mag auf den ersten Blick überraschen, wirft man jedoch einen Blick auf die Übersetzungen Hrabals in andere Sprachen, kann man feststellen, dass im Grunde außer dem französischsprachigen Raum alle europäischen oder globalen Verlagshäuser die offizielle Bibliographie des Autors respektierten, also nur jene in der Tschechoslowakei gedruckten Bücher und nicht jene des Samizdat oder Exils herausbrachten. Frankreich stellte damals sicher deshalb eine Ausnahme dar, weil die damals in Paris lebende intime Kennerin von Hrabals Werk, Susanna Roth, vom Prager Schriftsteller als Vertreterin seiner Autorenrechte im Westen bevollmächtigt worden war. Da die französische Übersetzung des Romans Ich habe den englischen König bedient (tsch. Obsluhoval jsem anglického krále, 1971) im Verlag Robert Laffont (Moi qui ai servi le roi d’Angleterre) bereits 1981 erschienen war und in der Tschechoslowakei bis 1989 nur im Samizdat kursierte, hatte Hrabal sehr wahrscheinlich Roth schon früher bevollmächtigt. Wann er die Vollmacht ausstellte, ist zwar nicht gesichert, doch die Gründe dafür lassen sich benennen. Hrabal unterschied sich von den übrigen tschechischen Autoren nicht nur durch seine Schreibweise, sondern seit 1976 auch dadurch, dass er angesichts gegenüber den staatlichen Kontrollorganen – dem Schriftstellerverband (in dem er kein Mitglied war!),71 der Zensur und der Geheimpolizei – geschickt manövrierte. Einige seiner Werke erschienen gründlich zensiert in Staatsverlagen, während die ursprünglichen Fassungen seiner neu entstandenen Prosa maschinenschriftlich im Samizdat und in Buchform in den Exilverlagen in Innsbruck, Köln oder Toronto erschienen. 71 Mitglied der offiziellen Literaturorganisation wurde er erst im Juni 1987, als er formal in den „nationalen“ tschechischen Schriftstellerverband eintrat, zugleich aber außerhalb der starren Strukturen des „föderalen“ Tschechoslowakischen Schriftstellerverbandes blieb.
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Hrabals einzigartige Stellung im damaligen tschechischen Literaturbetrieb – er wurde weder inhaftiert (wie zum Beispiel Václav Havel) oder ins Exil vertrieben (wie etwa Pavel Kohout oder Jiří Gruša) noch arbeitete er aktiv mit der Geheimpolizei zusammen (wie es etwa im Fall Egon Bondy belegt ist) – lässt sich nicht ganz erklären. Dank der Übersetzungen aus den 1960er Jahren war Hrabal ein relativ bekannter Autor im Ausland, und Repressionen ihm gegenüber hätten im Westen eine Welle der Solidarität und des Protestes unter Intellektuellen hervorrufen können, was das kommunistische Regime in der Tschechoslowakei vermeiden wollte. Der Schriftsteller selbst trat nie mit politischen Erklärungen an die Öffentlichkeit. Auch in Interviews, Fragebögen oder Essays aus den 1960er Jahren blieb er seinem persönlichen Narrativ mit dem entsprechenden Wortschatz und Wendungen verpflichtet, die die Leser aus seinen Büchern kannten. In Hrabals Werken scheint zwar die politische Realität in der Tschechoslowakei durch, da jedoch das wesentliche Merkmal von Hrabals Autorenpoetik offensichtlich auf einem originell rhythmisierten Stil, melancholisch inszenierten Erinnerungen und einer geschickt konstruierten Prosa beruht, ließen sich selbst die orthodoxesten marxistischen Literaturkritiker, Zensoren oder Parteifunktionäre – mit wenigen Ausnahmen – nicht zu einer aggressiven Fehlinterpretation hinreißen. Der Autor kam ihnen in einem gewissen Maße auch entgegen, da er seine Texte während des Lektorats bereitwillig anpasste oder mehr oder weniger gleichgültig den Änderungen zustimmte. In heiklen Momenten, zum Beispiel während des aufgezwungenen Treffens mit Mitarbeitern der Geheimpolizei, bei denen er versteckten oder offenen Drohungen ausgesetzt war, setzte er die Maske eines begriffsstutzigen Außenseiters auf, der der Gegenseite scheinbar zustimmte. Dies war auch die Strategie, mit der Hrabal entsprechender Kritik aus dem Exil, aus Dissidentenkreisen oder dem Underground begegnete, die ihm seine Kompromisse mit dem Regime vorhielten. Diese instabile Lage machte die Übersetzung seiner Prosa nicht einfacher. Im Ausland durften ausschließlich Übersetzungen jener Werke tschechischer Autoren erscheinen, die in Staatsverlagen veröffentlicht worden waren. Die kommunistische Regierung hielt die durch Typoskripte verbreitete Literatur für illegal, und die am Samizdatbetrieb Beteiligten wurden entweder direkt strafrechtlich verfolgt oder durch die Geheimpolizei regelmäßig schikaniert. Damit existierte für die breite Öffentlichkeit in den staatlichen Medien offiziell in den 1970er und 80er kein Samizdat, und diese Haltung bemühte sich die Tschechoslowakei auch nach außen zu vermitteln.72 Das fortwährende Problem, also das 72 Weshalb zum Beispiel im Kursbuch Nr. 5 (Mai 1966) Hiršal und Grögerová nicht vertreten waren ebenso wie ein Text, den Enzensberger ausgesucht hatte, der in der ČSSR von der Zensur aber verboten war (Hiršal, Grögerová 2007, S. 609 u. 618).
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Nebeneinander von öffentlich nicht publizierten Originalfassungen seiner Texte und der vom Staat zensierten publizierten Texte, versuchte Hrabal dadurch zu umgehen, dass er die Verantwortung für die Veröffentlichung seiner Werke im Ausland an jemanden „delegierte“. Das musste jemand sein, dem er unbedingt vertrauen konnte, denn nur derjenige verfügte über die authentischen Fassungen seines Werks. Auch wenn der Autor mit der sprichwörtlichen Maske der Sphinx seine Doppel-Bibliographie nie selbst reflektierte, erscheint doch ausgeschlossen, dass ihm das Schicksal der authentischen Linie seines Schaffens gleichgültig gewesen wäre. Hrabals Vertrauensperson im Ausland musste zudem jemand sein, dem der tschechoslowakische Staatsapparat nichts anhaben konnte und der im Ausland lebte. Als eine solche Person des Vertrauens stellte sich Susanna Roth heraus, die Schweizer Slawistin und Bohemistin, die mit dem Autor, seiner Familie und nächsten Freunden enge Bekanntschaft während ihres Studienaufenthalts in Prag in den 1970er Jahren geschlossen hatte. 1979 wurde sie von tschechoslowakischen Ausländerbehörde ohne Angabe von Gründen des Landes verwiesen (natürlich lag es an ihren Kontakten zur tschechischen alternativen Künstlerszene in Prag und im Ausland; die Schweizerin konnte Prag erst wieder 1987 besuchen). Roth blieb freilich nicht in Zürich, wo sie ihr Studium beendet hatte, sondern ließ sich in Paris nieder, wo sie über Hrabal in den Jahren 1982 bis 1985 ihre Dissertation verfasste (und an der École des hautes études en sciences sociales die Vorlesungen von Milan Kundera besuchte, der ihr schließlich sein gesamtes Romanwerk zur Übersetzung ins Deutsche anvertraute). Und in diese Zeit fallen auch die ersten Übersetzungen von Hrabal-Texten ins Französische, die in der Tschechoslowakei nicht offiziell erschienen waren, die jedoch in der Autoren-Bibliographie in künstlerischer Hinsicht wesentlichen sind. Eben Susanna Roth vermittelte den französischen Übersetzern ihre ursprüngliche Fassung. Nach dem Roman Moi qui ai servi le roi d’Angleterre (1981) folgte im Verlag Laffont die Prosa Une trop bruyante solitude (1983, Allzu laute Einsamkeit, tsch. Příliš hlučná samota, 1976) und La petite ville où le temps s’arrêta (1985, Das Städtchen, in dem die Zeit stehenblieb, tsch. Městečko, kde se zastavil čas, 1973). Gleichzeitig kam es in den Jahren 1983/84 zu den ersten Kontakten zwischen Suhrkamp und Susanna Roth. Diese wurden anscheinend von Maria Dessauer, einer Übersetzerin aus dem Französischen, vermittelt, die extern mit dem Verlag zusammenarbeitete und Roth zu Probeübersetzungen aufforderte. Aus einem Brief von Susanna Roth an Marie Dessauer geht hervor, dass sich unter den eingereichten Probeübersetzungen auch Hrabals Ich habe den englischen König bedient befand.73 Roth meinte hoffnungsvoll, dass es doch „sehr 73 Susanna Roth an Maria Dessauer, 27.10.1983, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate/Borchers, DLA.
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traurig gewesen [wäre], wenn der Text aus rechtlichen Gründen nicht hätte erscheinen können“, im Weiteren schreibt sie aber über die Möglichkeit, einen französischen Text von Věra Linhartová zu übersetzen. Sie erwähnt dann auch Jiří Kolář: „Beide Autoren liegen mir so am Herzen, dass ich bereit bin, für sie einen Verleger zu suchen, falls Sie nicht interessiert sein sollten.“74 Die Verlagslektorin Ursula Michels-Wenz, mit der Roth korrespondierte, antwortete darauf, dass ihre Vorschläge an Siegfried Unseld weitergeleitet worden seien und sie sich in dieser Angelegenheit weiter an ihn wenden solle.75 Im Verlagsarchiv finden sich jedoch keine Spuren mehr in dieser Angelegenheit, und da weder Linhartová noch Kolář mit neuen Werken bei Suhrkamp erschienen sind, kann man wohl schließen, dass ein weiterer telefonischer oder schriftlicher Kontakt zu keinem Ergebnis führte. In der Kommunikation zwischen dem Verlag und Susanna Roth gibt es jedenfalls eine Lücke zwischen Februar 1984 und März 1988. Ende September 1985 besuchte – angeblich überraschend – Hrabal selbst den Frankfurter Verlag. Die Notiz für Unseld über dieses Ereignis vom 27. September besorgte noch am gleichen Tag Elisabeth Borchers. Die Lektorin besprach mit Hrabal den Titel, der gerade für Suhrkamp übersetzt worden war, und schloss zudem einen Vertrag für den Englischen König.76 Beide waren ein heiße Eisen, nicht nur wegen der politischen Schwierigkeiten, die Hrabal wegen dieser Übersetzung in der Tschechoslowakei bekommen könnte, sondern auch wegen spezifischer Fragen zum Text, von denen Borchers natürlich nichts wissen konnte. Hrabal erklärte ihr diese nicht, das heißt, er sprach darüber, wie er es gewohnt war, verwirrend oder metaphorisch. Laut der Notiz der Lektorin ging es um den Titel Kluby poezie (Poesieklubs), der in Prag in einer zensierten Ausgabe 1981 erschienen war und für den Suhrkamp einen Lizenzvertrag mit der staatlichen Agentur Dilia hatte. Hrabal und der Übersetzer Peter Sacher haben aber vor Borchers die ursprüngliche Fassung favorisiert, „die ein wesentliches zusätzliches Kapitel enthält“. Die Suhrkamp-Lektorin notierte, dass „wir das Risiko der Abweichung von der von Dilia aufgegebenen zweiten Fassung auf uns nehmen [können]“, und fügte außerdem hinzu, dass das Buch bei Suhrkamp unter dem Titel einer der beiden enthaltenen Novellen erscheinen solle: Sanfte Barbaren (während der Titel der zweiten laut Borchers „Allzu laute Einöde“ laute).77 74 Susanna Roth an Maria Dessauer, 9.2.1984, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate/Borchers, DLA. 75 Ursula Michels-Wenz an Susanna Roth, 9.2.1984, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate/Borchers, DLA. 76 Notiz (Elisabeth Borchers) an Siegfried Unseld, 27.9.1985, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate/ Borchers, DLA. 77 Ibid.
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Offensichtlich kam es beim Treffen mit Hrabal oder während der Anfertigung der Notiz einem Missverständnis. Bei Poesieklubs handelt es sich um Prosa, die Hrabal aus zwei vorangegangenen, selbstständigen Novellen zusammengeschnitten hatte, deren Titel er freilich nicht anführte. Er schuf aus ihnen eine neue, originelle Textkollage. Dies stellt eine Vorgehensweise dar, die er aus der bildenden Kunst übernommen hatte und die bereits in seinem Schaffen seit Ende der 1940er Jahre sichtbar ist, als er in solchen „Kollagen“ oder „Montagen“ eigene und fremde Texte zu kombinieren begann. Eine der ausdruckstärksten Beispiele für dieses Vorgehen stellt das Buch Toto město je ve společné péči obyvatel (1967, Diese Stadt ist in der gemeinsamen Obhut Ihrer Bewohner) dar. Dieser Text ist gleich aus mehreren externen Quellen komponiert und wird von Fotografien von Miroslav Peterka, die Alltäglichkeiten aus dem Prager Leben zeigen, begleitet.78 Das Buch Poesieklubs zeichnet eine analoge Vorgehensweise aus, und als Kontrapunkt zu Hrabals literarischen Kollagen, die nur aus zwei eigenen Texten zusammengesetzt sind, wird der Text von reproduzierten Fotografien der Prager Randgebiete von Ladislav Michálek begleitet. Die Textkollage ging aus der Verschmelzung der Novellen Der sanfte Barbar (tsch. Něžný barbar, 1973) und Allzu laute Einsamkeit (tsch. Příliš hlučná samota, 1976) hervor. Die einzelnen Kapitel beider Texte wurden von Hrabal in abwechselnder Reihenfolge zu einem neuen Text montiert (die ungeraden Kapitel, der Anfang des Texts, beruht auf Allzu lauter Einsamkeit). In diesem Schaffensakt trifft die für Hrabal typische kombinatorische Poetik der Variationen auf das Phänomen der doppelten Bibliographie des Autors. Keine der beiden Novellen war in der Tschechoslowakei im Druck erschienen. Beide kursierten nur in Samizdat-Abschriften sowie in Ausgaben tschechischer Exil-Verlage. Das persönliche Portrait eines eigensinnigen Künstlers und seiner lebenslangen Konflikte mit der Außenwelt stellen das Thema des Sanften Barbars dar, die parabolische Erzählung über den Niedergang der Welt der Bücher, das heißt, der menschlichen Zivilisation im das des zweiten Texts Allzu lauter Einsamkeit. Beide Texte gehörten zu Hrabals politisch durchaus brisanten, die keine Chance auf Publikation in der Tschechoslowakei hatten. Offensichtlich komponierte Hrabal das Buch Poesieklubs, damit beide Novellen wenigstens auf diese „montierte“ Art den Weg zum Leser fanden. Beim Zerschneiden und Wiederzusammenfügen der Texte sortierte er insbesondere aus Allzu laute 78 Hrabal variierte den Text im Weiteren ohne Fotografien unter dem Titel „Legenda zahraná na strunách napjatých mezi kolébkou a rakví“ und integrierte ihn in den Band Morytáty a legendy (1968). Künzels deutscher Auswahlband, der auf diesem Buch mit dem Titel Moritaten und Legenden von 1973 beruhte, beinhaltet diese Textkollage („Die Legende vom Spiel auf den Saiten, die zwischen Wiege und Sarg gespannt sind“).
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E insamkeit jene Passagen aus, von denen er aufgrund seiner langjährigen Erfahrung zurecht annahm, dass sie die Zensur nicht passieren können. Für die Kulturpolitik des kommunistischen Staats war freilich bezeichnend, dass, sobald ein solcherart „aufbereiteter“ Text als Manuskript im Verlag eingereicht wurde, dass die Zensur weitere Passagen aussonderte.79 Die Kollage Poesieklubs einerseits und die Novellen „Der sanfte Barbar“ und „Allzu laute Einsamkeit“ andererseits waren jedenfalls zwei völlig unterschiedliche Typen Prosa, und das nicht nur wegen der Selbstzensur und Zensur, sondern überhaupt wegen ihrer genetischen und strukturellen Form. Ob nun Peter Sacher im September 1985 während des Besuchs von Hrabal im Frankfurter Verlag an den Übersetzungen des Poesieklubs arbeitete (und es erst nach der Unterredung von Hrabal mit Borchers zu den Änderungen kam), oder ob er bereits damals an der Übertragung der beiden eigenständigen Novellen arbeitete, ist nicht feststellbar, jedenfalls beinhaltet der Band, der zwei Jahre später bei Suhrkamp unter dem Titel Sanfte Barbaren publiziert wurde, auch „Allzu laute Einsamkeit“ in den authentischen Versionen der Texte. Damit handelte es sich um die erste Veröffentlichung Hrabals auf Deutsch, die Texte beinhaltete, die in tschechischen Staatsverlagen bisher nicht publiziert worden waren. Der andere Verhandlungsgegenstand zwischen Borchers und Hrabal betraf den Vertrag über die Übersetzung des Romans Ich habe den englischen König bedient, der zu jener Zeit nur ins Französische (1981) übersetzt worden war. Mit seiner Unterschrift unter diesem Vertrag machte Hrabal jedoch die Vollmacht von Susanna Roth zunichte. So fügte Borchers drei Tage nach Hrabals Besuch die Gesprächsnotiz hinzu: Als ich ihm die Vollmacht vorlegte, die er für Susanna Roth geschrieben hatte, war seine Reaktion stirnrunzelnd: Ich weiß nicht, in welchem Zustand ich … Seiner Meinung nach sei lediglich die Absicht gewesen, Frau Roth zuständig zu erklären für die französischen Honorare.80
Es ist allerding schwer vorstellbar, dass es in einer so ernsten Angelegenheit wie Autorenrechte zu einem solchen Missverständnis gekommen sein sollte. Bei Hrabal mit seinen oft schwer durchschaubaren Selbstschutzmanövern kann man sich aber solch ein Versehen oder vorgetäuschtes Versehen in solch einer wichtigen Angelegenheit durchaus vorstellen (man denke an das Ver-
79 Siehe ausführlich zur Autozensur sowie zum Eingriffen der Verlage in Hrabals Prosa Susanna Roths Dissertation (1986, S.159–176). 80 Notiz (Elisabeth Borchers) an Siegfried Unseld, 30.9.1985, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate/ Borchers, DLA.
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sprechen gegenüber Franz Peter Künzel zu Beginn der Zusammenarbeit mit Suhrkamp, das er nicht mit dem Verlag abgesprochen hatte). „Mit einem Exemplar dieses Vertrags wird er in Prag die zuständige Stelle konsultieren, damit es weder für ihn noch für uns Schwierigkeiten geben wird,“ merkte Elisabeth Borchers zur Vertragsunterzeichnung zur Übersetzung des Romans Ich habe den englischen König bedient an.81 Von Konsultationen Hrabals bei der „zuständigen Stelle“ in Prag ist nichts bekannt; es lässt sich nicht ausschließen, dass dies eine seiner Autoren- Mystifikationen gegenüber Elisabeth Borchers war. Jedenfalls war der Roman, der bisher nicht in der Tschechoslowakei gedruckt worden war, bereits in Übersetzungen in Schweden (1985), Norwegen und Italien (1986), Polen und Portugal (1987) erschienen. Suhrkamp gab ihn 1988 heraus, allerdings nicht in der Übersetzung von Sacher, wie Borchers anmerkte,82 sondern in einer Übertragung von Karl-Heinz Jähn. Man könnte den Eindruck gewinnen, daß das kommunistische Regime in Prag die Existenz von Hrabals „illegalen“ Werken stillschweigend tolerierte, obwohl es sonst mit Repressionen gegenüber politischen und intellektuellen Opponenten nicht sparte. So mag es aus heutiger Sicht erscheinen. Die Archive von Suhrkamp sprechen aber eine andere Sprache. Im März 1988 rief Susanna Roth im Verlag an – was wohl ihr erster Kontakt mit Suhrkamp seit 1984 war – und berichtete von Hrabals Zustand nach dem Tod seiner Frau Eliška Ende August 1987. Burgel Zeeh fasste in einer Notiz an Siegfried Unseld vor dessen Reise nach Prag den Inhalt des Telefonats mit Roth zusammen: In unserem BS-Band Sanfte Barbaren ist ein für Hrabal vielleicht (politisch etc.) Fehler passiert: wir haben mit der Dilia einen Vertrag geschlossen für einen Titel XY bzw. exakt: Kluby Poezie: Wir haben dann allerdings in unserer BS-Titelei zwei andere Titel eingesetzt […]. Wie auch immer, die Situation sollten Sie kennen, wenn Sie mit Hrabal darüber ins Gespräch kämen.83
Unseld bestätigte im Bericht über seine Prager Reise vom 14. bis 16. April 1988 die fortdauernde politische Spannung in Bezug auf Hrabal: Freilich gibt er vor, nicht zu wissen, was sie im einzelnen bei der Vergabe von Auslandlizenzen macht. Er darf es nicht wissen, denn die Situation ist außerhalb 81 Notiz (Elisabeth Borchers) an Siegfried Unseld, 27.9.1985, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate/ Borchers, DLA. 82 Ebd. 83 Notiz ze,- (Burgel Zeeh) an Siegfried Unseld, 31.3.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA.
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Michael Špirit der Legitimität. Auch er muß jeden Vertrag durch die Dilia machen und muß dort auch jede Einnahme ankündigen. Doch Hrabal hat den Eindruck, daß die Dilia lieber nichts wissen will, nichts wissen von dem Roman Ich habe den englischen König bedient, der bei uns dieses große Aufsehen erregt (er war glücklich über die Kritiken!) […] Die Situation ist also heikel, Hrabal weiß, daß er in große Schwierigkeiten kommen kann. Natürlich wünscht er, daß seine Arbeiten im Suhrkamp Verlag konzentriert sein sollen, und er unterschreibt sofort die diesbezügliche Vereinbarung, die ich mitgebracht habe.84
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Mit dem Erscheinen des Romans Ich habe den englischen König bedient erreichte das Interesse des Frankfurter Verlags an dem Autor seinen Höhepunkt, und es hielt unvermindert bis zu Hrabals Tod am 3. Februar 1997 an. Persönlichen Anteil nahm auch Siegfried Unseld, der Hrabal im April 1988 besuchte und mit Susanna Roth in ständiger Korrespondenz über den Stand der Übersetzungsarbeiten und die Gesundheit des Schriftstellers stand (besonders intensiv war der Briefwechsel in den Jahren 1988–1990). Hrabal war für Unseld sicher aus Prestige-, aber auch wirtschaftlichen Erwägungen wichtig – in jener Zeit interessierten sich die Verlage Hanser und S. Fischer verstärkt für die Bücher des Autors –, jedoch war zugleich klar, dass der Suhrkamp-Chef von Hrabals Persönlichkeit und literarischer Kunst fasziniert und dazu entschlossen war, „seinem“ Autor jeden Verlagsdienst angedeihen zu lassen, was in menschlicher Hinsicht darin gipfelten, dass Unseld an Hrabals Beerdigung teilnahm, die der Suhrkamp-Inhaber ausführlich im Reisebericht vom 13. Februar 1997 schildert.85 Noch vor Unselds Prager Reise im April 1988 datiert der Vertrag mit Hrabal, in dem die vielleicht wesentlichsten Sätze lauteten: Der Suhrkamp Verlag sieht sich als den Verlag der deutschsprachigen Werke von Bohumil Hrabal. Der Suhrkamp Verlag ist seinerseits bereit, das bisherige Werk von Bohumil Hrabal weiter zu betreuen und es gegebenenfalls in neuen Sammel- oder in einer Gesamt-Ausgabe vorzulegen. Bohumil Hrabal seinerseits wird auch seine künftigen schriftstellerischen Arbeiten dem Suhrkamp Verlag anvertrauen. Er wird diese Arbeiten stets zuerst dem Suhrkamp Verlag anbieten 84 Auszug aus Reisebericht Dr. Siegfried Unseld, 18.4.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA. 85 Unter dem Titel „Letzter Hrabal-Besuch in Prag“ wurde der Reisebericht in der postumen Ausgabe Wer ich bin (1998) veröffentlicht, zusammen mit Unselds Prolog zum Buch Hommage à Hrabal (1989) sowie einem autoreflexiven Text Hrabals und Susanna Roths Artikel über die Bedeutung von Hrabals Tod „Ein unverdientes Ende“ (tsch. „Nezasloužený konec“ in Literární noviny 1997, Nr. 15).
Zur tschechischen Literatur im Programm des Suhrkamp Verlags 217 bzw. Agenten oder von ihm Beauftragte dazu verpflichten; seine Werke können nur dann anderen Verlagen angeboten werden, wenn sich der Suhrkamp Verlag zuvor gegen eine Ausgabe eines Werkes entschieden hat.86
Im April 1988 kam jedoch heraus, dass Susanna Roth bereits früher einen Vertrag mit dem Carl Hanser Verlag über Hrabals fiktive Autobiographie Hochzeiten im Hause (tsch. Svatby v domě, 1984–1985) geschlossen hatte. Aus der Notiz von Angela Martini-Wonde an Unseld geht nicht eindeutig hervor, ob Roth eigenständig gehandelt hatte oder im Auftrag Hrabals.87 Die Kontakte zwischen Suhrkamp und der Schweizer Bohemistin kühlten jedenfalls seit dem Februar 1984 merklich ab, und die einzige unmittelbare Spur, auf die man im Archiv stößt, sind einige unterkühlte Bemerkungen an die Adresse von Roth in der Notiz von Elisabeth Borschers über Hrabals Besuch im Verlagshaus.88 Laut Borchers arbeitete die Besitzerin der Autorenrechte von Hrabal im Westen nur passiv mit dem Suhrkamp-Verlag zusammen. Außerdem spielte unter den Beteiligten ein unausgesprochenes Problem eine Rolle, das die angespannte Situation zusätzlich belastete: Susanna Roth war seit 1984 die exklusive Übersetzerin von Kunderas Romanen ins Deutsche, die im Carl Hanser Verlag erschienen. Wie erwähnt war der Konflikt zwischen Borchers und Unseld im Spannungsdreieck „Roth – Kundera – weibliche Lektoren“ eben auf Grund der Verlagsnotizen von April/ Mai 1988 entstanden, als Susanna Roth den Suhrkamp Verlag besuchte. Offensichtlich war der einzige, der keinerlei offene Konflikte mit anderen hatte, nur Bohumil Hrabal. Die Annahme, Susanna Roth habe ohne Hrabals Zustimmung einen Vertrag mit Hanser für die Übersetzung der Autobiographie geschlossen, ist höchst unwahrscheinlich. Es wäre unsinnig, da sie doch selbst Suhrkamp darüber informierte und sogar hinzufügte, sie wolle „jedoch den Suhrkamp Verlag für alle Fälle vormerken“.89 Dem widerspricht auch Roths weiteres Handeln und ihre eindeutige Unterstützung von Siegfried Unseld. Wesentlich wahrscheinlicher ist dagegen die Version, nach der Hrabal vom Vertrag mit Hanser wusste. In der 86 Vereinbarung Bohumil Hrabals (Praha, 31. 12. 1987) – Siegfried Unseld (Frankfurt 14. 4.1988), SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA. 87 Angela Martini-Wonde an Siegfried Unseld, 11.4.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA: „Frau Dr. Roth teilte Frau Dammel am gleichen Tag [d. h. 6.4.1988] telefonisch mit, sie habe Hrabals autobiographischen Roman dem Hanser Verlag angeboten, der sich aller Voraussicht nach positiv entscheiden werde. Frau Dr. Roth wolle jedoch den Suhrkamp Verlag für alle Fälle vormerken!“ 88 Notiz (Elisabeth Borchers) an Siegfried Unseld, 27.9.1985, SUA: Suhrkamp/03 Lektorate/ Borchers, DLA. 89 Angela Martini-Wonde an Siegfried Unseld, 11.4.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA.
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Notiz, die Unseld Burgel Zeeh diktierte, kann man über das erste Treffen mit Roth am 25. April 1988 lesen: Sie [d. h. Roth] hat im November vergangenen Jahres einen Vertrag mit Hanser abgeschlossen, gestützt durch ihre Vollmacht, und hat auch acht Tage vor meinem Besuch in Prag Hrabal aufgesucht und ihm diese Tatsache nochmals in Erinnerung gerufen. Doch, wie gesagt, bei meinem Besuch erinnerte sich Hrabal an nichts.90
Es ist schwer einzuschätzen inwieweit die offensichtliche Entscheidung das Angebot von Hanser anzunehmen, durch die Depression nach dem Tod seiner Frau beeinflusst wurde, und ob Hrabal sich im Klaren darüber war, dass alle bisherigen Übersetzungen in der Bundesrepublik von Suhrkamp herausgebracht worden waren, wo sogar eben zu jener Zeit der Band Sanfte Barbaren erschien und der Roman Ich habe den englischen König bedient vorbereitet wurde. Während des Besuchs von Unseld in Prag etwa ein halbes Jahr später, bei dem sich Hrabal nicht erinnern konnte, handelte es sich wahrscheinlich um einen von Hrabals Selbstschutzmechanismen, mit dessen Hilfe er komplizierte persönliche Konfrontationen mittels gespielter Begriffsstutzigkeit abwehrte, ebenso wie im Mai 1985, als ihn Elisabeth Borchers mit der Vollmacht für Susanna Roth konfrontierte, die er ausgestellt hatte. Roth gab ihr Einverständnis zu Unselds Vorschlag, dass der Vertrag mit Hanser, den sie auf Grundlage der Vollmacht von Hrabal eingegangen war, durch Suhrkamp mittels des Abkommens, das Hrabal direkt mit Unseld geschlossen hatte, für nichtig erklärt werde. Sie unterschrieb den Übersetzervertrag nicht, den ihr inzwischen Hanser geschickt hatte, und auf Nachfrage des Münchner Verlags, „ob Hrabal grundsätzlich beim Suhrkamp Verlag bleiben wolle“, antwortete sie mit „Ja“.91 Am 18. Mai 1988 trafen sich in der Senator Lounge des Münchner Flughafens führende Vertreter der Verlage Suhrkamp und Hanser. An dem Treffen nahm auch Susanna Roth teil, obwohl sich die Vertreter des Hanser Verlags bemühten, ihr die Teilnahme auszureden, „denn es sei zu befürchten, daß der Versuch unternommen würde, sie auf die andere (und damit auf Ihre/unsere) Seite zu ziehen,“ wie Burgel Zeeh bemerkte.92 Auf Grund der Gültigkeit der schriftlichen Vereinbarung zwischen Hrabal und Roth einerseits und der von 90 Notiz (dr. u./ze) (= Siegfried Unseld, Burgel Zeeh) – Gespräch mit Frau Dr. Susanna Roth, 25.4.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA. 91 Notiz (Angela Martini-Wonde) an Siegfried Unseld, 27.4.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/ Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA. 92 Notiz (ze) (= Burgel Zeeh) an Siegfried Unseld, 17.5.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA.
Zur tschechischen Literatur im Programm des Suhrkamp Verlags 219
Hrabal und Unseld anderseits war der Hanser Verlag entschlossen, es auf einen Rechtsstreit ankommen zu lassen. Die aufgeheizte Atmosphäre kühlte sich ungewöhnlich rasch ab. Im Bericht über die Münchner Reise schildert Siegfried Unseld das Gespräch mit dem literarischen Leiter des Münchner Verlags: Wir hatten ein verständnisvolles Gespräch über alles Mögliche, und als ich dann auf den Punkt Hrabal kam, war dies Thema in Dreißigsekundenschnelle erledigt: Wenn Hrabals Wunsch wäre, daß die Autobiographie bei uns erscheint, so würde er [d. h. Krüger] das respektieren.93
Susanna Roth, „verärgert durch einen Brief des Hanser Verlages, in dem einerseits mit Rechtsanwälten gewunken, sie andererseits unverhohlen aufgefordert wird, an diesem Gespräch nicht teilzunehmen“,94 stand in dieser Angelegenheit Hrabals fest an der Seite von Suhrkamp und trug zum raschen und sauberen Ergebnis des Treffens bei. Unseld dankte ihr tags darauf aufrichtig: „Liebe Frau Dr. Roth, ich möchte Ihnen noch einmal sagen, daß ich Ihre Haltung sehr dankbar anerkenne, ohne Ihre Mitwirkung hätten wir das nicht in jener Minutenschnelle geschafft“.95 Nach Prag schickte er dann das Telegramm: „Lieber Bohumil Hrabal – Einigung ist erzielt, Hrabal erscheint bei Suhrkamp.“96 11
Hrabal erscheint bei Suhrkamp
Somit konnte die Arbeit an der Übersetzung beginnen. Doch selbst diese Phase war nicht frei von gewissen Spannungen. Prinzipiell herrschte noch immer eine gewisse Unsicherheit darüber, was Hrabal eigentlich schon alles geschrieben und publiziert hatte, zudem in welcher Abfolge, und was eigentlich für eine Übersetzung bei Suhrkamp in Frage kam. In der Verlagskorrespondenz taucht auch die Frage über mögliche Übersetzungen von Theaterstücken auf, über vertragliche Fragen von Filmrechten oder über die Möglichkeit einer Bearbeitung der Texte der autobiographischen Trilogie (die nach den Samizdat- Ausgaben auch im Exil-Verlag „68 Publishers“ in Toronto 1985–86 erschienen war). Über die Entstehungsgeschichte und das Ausmaß von Hrabals Werk hatten selbst die Kenner in der Tschechoslowakei keinen vollständigen Ü berblick. 93 Auszug aus Reisebericht Dr. Siegfried Unseld, München 18.-19.5.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA. 94 Ibid. 95 Siegfried Unseld an Susanna Roth, 19.5.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Allgemeine Korrespondenz, DLA. 96 Siegfried Unseld an Bohumil Hrabal, 24.5.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/ Hrabal, Bohumil, DLA.
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Neben der schon erwähnten Doppel-Bibliographie gab es auch noch nicht einmal im Samizdat veröffentlichte Manuskripte. Dabei handelte es sich keinesfalls um bloße Skizzen oder Notizen, sondern um ganze literarische Texte in Rohfassung, aus denen Hrabal zuweilen nur einzelne Motive für später publizierte Prosatexte entnahm oder die er als Ganze variierte. Für Suhrkamp kamen natürlich entweder die in der Tschechoslowakei gedruckten Bücher in Frage oder jene aus den Exilverlagen. Bereits während des ersten Treffens von Unseld und Roth im April 1988, auf dem das Vorgehen gegenüber dem Carl Hanser Verlag abgesprochen wurde, kristallisierte sich ein Plan hinsichtlich des 75. Geburtstags von Hrabal am 28. März 1989 heraus: (a) sollte das Buch Leben ohne Smoking (tsch. Život bez smokingu, 1986) übersetzt werden, (b) sollte in einem Band jene Bücher publiziert werden, die Suhrkamp in der ersten Hälfte der 1980er Jahre herausgebracht hatte (Die Schur, Schöntrauer und Harlekins Millionen), und (c) sollte einen Band „Hrabal zu Ehren“ vorbereitet werden, der die selbstreflexiven Texte des Schriftstellers beinhaltete, zudem Beiträge anderer Autoren über Hrabal sowie eine Bildbeilage.97 Bis zum 75. Geburtstag von Hrabal gelang es, zwei dieser drei Projekte zu realisieren. Die lose98 „Nymburker-Trilogie“ (bestehend aus Die Schur, Schöntrauer, Harlekins Millionen), in der zum einen die in die Jahre gekommene Mutter des Autors erzählt und zum andern Hrabal selbst aus der Perspektive eines kleinen Jungen kam mit dem Titel Das Städtchen am Wasser (1989) heraus. Den Band Hommage à Hrabal besorgte Susanna Roth so, wie er geplant gewesen war. Den Prolog stellte der Essay „Das große Fragezeichen des Wunderbaren“ von Siegfried Unseld dar, wobei es sich um eine Überarbeitung des Reiseberichts von Unselds Pragreise vom April 1988 handelt. Das Kapitel „Wer ich bin“ beruhte auf den semi-autobiographischen Fragmenten des umfangreichen Manuskripts Pražská ironie (1985, Prager Ironie), und fünf ausgewählten Interviews mit dem Schriftsteller folgten. Zum zweiten Teil, überschrieben mit „Wer er ist“, trugen fünfzehn Autoren aus der Tschechoslowakei (vier lebten freilich im Exil in Kanada, Frankreich, den USA und Deutschland), Ungarn,
97 Notiz (dr. u./ze) (= Siegfried Unseld, Burgel Zeeh) – Gespräch mit Frau Dr. Susanna Roth, 25.4.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA. 98 „Lose“ deshalb, weil die Verknüpfung der einzelnen Bände eher thematischer Natur ist als erzählerischer. Das erste Buch die Die Schur, verfasste Hrabal übrigens als eigenständigen literarischen Text. Die Trilogie kam im gewissen Sinn durch einen außerliterarischen Umstand zustande. Als klar wurde, wie aussichtlos es ist, in der ČSSR die Prosa von 1973, Das Städtchen, in dem die Zeit stehenblieb, zu veröffentlichen, verwendete sie Hrabal für zwei andere Bücher, die er so anlegte, dass sie publiziert werden konnten. In einem Band erschien diese „Nymburker“-Saga“ dann in Prag 1982 (Městečko u vody, 2. Aufl. 1986).
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Deutschland, Frankreich und der Schweiz bei, im dritten Teil findet sich eine vierzigseitige Dokumentation „Hrabals Leben in Bildern“. 12
Eine Trilogie aus zwei Teilen
Warum allerdings die autobiographische Trilogie Hochzeiten im Hause in der deutschen Übertragung 1993 nur aus zwei Teilen besteht, wird in den Briefwechseln an keiner Stelle dargelegt. Der fehlende dritte Teil erschien schließlich 1999 kommentarlos zwei Jahre nach Hrabals Tod und nachdem Susanna Roth am 11. Juli 1997 verstorben war, unter dem Titel Ich dachte an die goldenen Zeiten. Inwieweit dieser dritte Teil fertig übersetzt war, als Susanna Roth starb, ist unbekannt, und da der Verlag sein Vorgehen nicht weiter darlegte, stellt sich die Frage: Wurde die Übersetzung des letzten Teils der Trilogie zugleich mit den beiden anderen fertig, und die Übersetzung wurde aus welchem Grund auch immer nicht in den Band Hochzeiten im Hause aufgenommen? Oder war die Übertragung fertig, doch der Verlag hatte ihn bis zum Tod der Übersetzerin nicht fertig lektoriert? Oder hatte Roth die Übersetzung noch nicht fertig und der Text wurde in ihrem Nachlass gefunden und Suhrkamp konnte ihn erst 1999 veröffentlichen? Die Antwort darauf ist ungewiss, denn die Korrespondenz zwischen der Übersetzerin und dem Verlag wurde seit 1992 seltener und von Hrabals Trilogie war nicht die Rede. Es scheint allerdings plausibel, dass im Alltagsgeschäft des großen Verlags, durch Hrabals instabilen Gesundheitszustand und unberechenbare Launen, den Erfolgen der französischen (1990) und italienischen (1992 erster Teil) Fassungen und zudem bei der Arbeitsbelastung und dem aufreibenden Leben der Übersetzerin (die zudem seit 1994 von einer tödlichen Krankheit gezeichnet war), sich der Verlag entschied – da zudem beide Seiten nicht ganz zufrieden mit der deutschen Version von Hrabals Text waren – nicht auf die vollständige Übersetzung (oder das abschließende Lektorat) des gesamten Textes zu warten, und zu Hrabals 79. Geburtstag im Jahr 1993 nur die ersten beiden Teile zu veröffentlichen, da der Autor zudem versprochen hatte, persönlich nach Frankfurt zu kommen. Insgesamt ist dieses Ereignis in seinen Folgen zwiespältig und zugleich komisch-traurig. Gab es doch wegen dieses Romans im Mai 1988 taktische Manöver zwischen zwei großen deutschen Verlagshäusern, der dann aber seit seiner Veröffentlichung bei Suhrkamp 1993 sechs weitere Jahre ein Torso blieb. Als der dritte Teil schließlich erschien, wurde sein Kontext mit den beiden vorangegangenen zwar in der Titelei erwähnt („Originaltitel Proluky, Ich dachte an die goldenen Zeiten, erschien als dritter Teil der Autobiographie Hochzeiten im Hause“), ein Grund für die gesonderte Ausgabe dieses Textes
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wurde aber nirgends angeführt, ebenso wenig wie eine Begründung für den vom Tschechischen abweichenden deutschen Titel, was zum ersten Mal in der Publikationsgeschichte Hrabals der Fall war. Das tschechische Wort „proluky“ ist keinesfalls unübersetzbar, es entspricht für gewöhnlich dem deutschen Wort „Lücken“; Roth benutzte in ihrer Dissertation aus dem Jahr 1986 die Bezeichnung „Baulücken“.99 Der deutsche Titel greift auf eine Sentenz im inneren Monolog der Erzählerin zurück („Und ich dachte an die goldenen Zeiten zurück, als mein Mann noch kein Geld hatte …“, S. 27), widerspricht anderseits völlig der Struktur dieser Prosa Hrabals, die sich aus kurzen Fragmenten zusammensetzt, zwischen denen im Text Zeilen ausgelassen werden – eben jene Lücken. Der Satz „ich dachte an die goldenen Zeiten zurück“ passt auch auf der Bedeutungsebene nicht zum Roman, da er auf einen Zeitabschnitt verweist, der der Romanhandlung vorangeht und sich auf die ersten beiden Teile der Trilogie bezieht. Hrabals Baulücken beziehen sich auf die Jahre 1963 bis 1973. Sie erfassen die Zeit der ersten gedruckten Ausgabe eines Buchs von Hrabal bis zum Zeitpunkt, da die Werke des Schriftstellers 1969 verboten wurden, seine Mutter starb, er eine schwere Gallenoperation über sich ergehen lassen und außerdem mit seiner Frau die Wohnung im Prager Viertel Libeň verlassen musste, wo er 23 Jahre gelebt hatte und wo der größte Teil seiner Prosa spielt. Man kann sich kaum vorstellen, dass die Übersetzerin, die Hrabals Werk so gut kannte und die Baulücken für einen seiner besten Texte hielt, für dieses Buch einen so inadäquaten Titel gewählt hätte. Man kann also durchaus annehmen, dass der Titel der deutschen Fassung vom Verlag nach dem Ableben des Autors und der Übersetzerin gewählt worden war – vielleicht aus Marketingerwägungen, jedenfalls unsensibel gegenüber Hrabals Poetik. Auf Deutsch erschienen alle drei Teile schließlich in einem Band, der elf Prosawerke umfasste, Die Romane (Suhrkamp Quarto, 2008). 13
„Lücken“ beim Verlegen von Hrabals Büchern
Die Übersetzung des Buchs Leben ohne Smoking plante Unseld bereits seit dem ersten Treffen mit Roth im April 1988 anlässlich der Überlegungen zu Hrabals 75. Geburtstag. Es erschien jedoch erst im Jahr 1993 in der Übersetzung von Karl-Heinz Jähn, der den Roman Ich habe den englischen König bedient erfolg99 Roth 1986, S. 29. Siegfried Unseld notierte in seinem Prager Reisebericht im April 1988: „dritter Teil Proluky, was soviel wie Lücken bedeutet“ (Auszug aus Reisebericht Dr. Siegfried Unseld, 18.4.1988, SUA: Suhrkamp/01VL/Autorenkonvolute/Hrabal, Bohumil, DLA).
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reich übersetzt hatte. Das Buch Leben ohne Smoking beinhaltet freilich ganz unterschiedliche, noch dazu vom Prager Regime zensierten Erzählungen. Abgesehen von zwei nicht gelungenen Anthologien von 1988 und 1989 war dies im Jahr 1986 das letzte Buch mit neuen Texten, die Hrabal in der Tschechoslowakei während des kommunistischen Regimes publizierte. Die Aufnahme des Buchs ins Verlagsprogramm nach 1990 (sowie die Veröffentlichung der längsten Erzählung aus diesem als eigenständige Publikation ein Jahr davor) lässt sich nicht anders erklären, als dass seit der Veröffentlichung des Englischen Königs 1988 im Verlagsprogramm ein neuer Hrabal-Titel fehlte. Die Herausgabe der Kurzprosa Die Zauberflöte (1990, tsch. Kouzelná flétna, 1989) auf Büttenpapier hatte vor allem bibliophilen Charakter und war nicht für den breiten deutschsprachigen Markt bestimmt. Susanna Roth, die die Erzählung übersetzte, bezeichnete sie als seinen „letzten guten Text“.100 Auf dem deutschsprachigen Markt war Hrabal weiterhin mit Neuauflagen des Englischen Königs und dem Städtchen am Wasser präsent. Es war offensichtlich, dass beim zunehmenden Interesse nicht nur an diesem Autor, sondern insgesamt an der tschechischen und mitteleuropäischen Kultur, die durch den grundlegenden politischen Wandel in Europa hervorgerufen worden waren, den Zerfall des Ostblocks, der Wiedervereinigung Deutschlands und den Putschversuch in Russland sich neue Hrabal-Titel quasi von selbst verkauften. Auffällig an der „verlegerischen Lücke“ von Hrabals Texten bei Suhrkamp in den Jahren 1989 bis 1992 sind verschiedene Aspekte. Sie treten gerade in einer Zeit auf, als in der Tschechoslowakei das kommunistische System am Ende ist und damit auch jene Regel, die Schriftsteller darin hinderte, ihre Werke im Ausland zu publizieren. Nach der vor 1989 in politischer Hinsicht riskanten Veröffentlichung der Sanften Barbaren und Ich habe den englischen König bedient wandte sich paradoxerweise der Frankfurter Verlag nach 1990 Hrabals „offizieller“ Bibliographie bis 1989 zu. In der Tschechoslowakei dagegen erschienen nach 1990 auch Texte, die bisher weder offiziell noch im Samizdat publiziert worden waren. Zudem wurden seit 1991 nach und nach Hrabals Gesammelte Werke herausgegeben, die in chronologischer Reihenfolge alle erhaltenen und publizierten Texte seit den 1940er Jahren bis in die Gegenwart umfassten und aus denen man für eine Übersetzung ins Deutsche bisher unbekannte und bessere Texte hätte auswählen können als solche, die der Suhrkamp-Verlag in jenem Band aus dem Jahr 1986 publizierte, die Hrabal freilich nicht selbst zusammengestellt hatte. Susanna Roth schrieb in dem Zusammenhang an Siegfried Unseld nach dem Tod des Autors am 7. Februar 1997: „Der Band ist nicht 100 Susanna Roth an Siegfried Unseld, 15.8.1990, SUA: Suhrkamp/01VL/Allgemeine Korrespondenz, DLA.
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von Hrabal, sondern von Redaktoren zusammengemixt worden, noch unter der Zensur.“101 Weiterhin ist in der Zeit zwischen 1989 und 1992 bemerkenswert, dass seit 1965 Hrabal erstmals in der Bundesrepublik publiziert wurde, seine Prosa in einem anderen Verlag als dem Suhrkamp Verlag erscheint. Denn 1992 erschien im Otto Maier Verlag Ravensburg der Samizdattext Das Städtchen, in dem die Zeit stehenblieb (tsch. Městečko, kde se zastavil čas) in der Übersetzung Susanna Roths. Nachforschungen im Archiv des Frankfurter Verlags förderten keinerlei Erwähnungen darüber zu Tage, dass Suhrkamp einen der Spitzentexte aus Hrabals Prosa gering geschätzt und diesen einem anderen Verlagshaus überlassen hätte – auch wenn es sich dabei um einen Verlag handelte, der mit Suhrkamp in keiner Weise konkurrieren konnte – oder etwa darüber, dass das exklusive Abkommen zwischen Hrabal und Unseld vom April 1988 nach dem Jahr 1990 aufgekündigt gewesen wäre. Das Geheimnis der Veröffentlichung von Das Städtchen, in dem die Zeit stehenblieb hängt wahrscheinlich mit einer fortschreitenden Abkühlung des Verhältnisses zwischen Suhrkamp und Susanna Roth zusammen, zu dem es vielleicht während der abschließenden Arbeiten an der Trilogie Hochzeiten im Hause kam, von der in der Erstausgabe nur die ersten Teile abgedruckt sind. Gleichzeitig war Roth mit Arbeiten für den Schweizer Kulturfond Pro Helvetia überhäuft, deren Filialen sie 1991 in Prag und 1992 in Bratislava mitbegründete. Ebenso wurde es mit dem zunehmend launisch werdenden Hrabal schwierig, den sie weiterhin auf seinen Auslandreisen begleitete (Capri Oktober 1990, Palermo November 1992, Barcelona November 1993). Der Kontakt mit Hrabal hatte für Roth noch einen Aspekt: Nach 1990 schloss sie der Autor als „Zuzanka“ in seine teils dokumentarischen, neuen Texten mit ein, die oft in Briefform verfasst waren. Darin portraitiert er Roth sicher auf liebenswürdige Weise, jedoch nicht immer in taktvollen Konstellationen. Er ließ dabei oft seiner Phantasie freien Lauf, was in dem speziellen Genre einer „literarischen Journalistik“ auch zu erwarten ist, dennoch erforderte dies von Menschen, die unter ihrem eigenen Namen in Texten vor den Lesern auftauen, eiserne Nerven zu haben. Nach Hrabals Tod schrieb jedenfalls Roth in einem Brief an Unseld zu dem Buch Das Städtchen, in dem die Zeit stehenblieb: „Es war im Ravensburger Jugendprogramm, ist aber aus dem Programm genommen worden, die Rechte sind wieder frei (bei mir). Meiner Meinung nach, da das Werk jetzt abgeschlossen ist, der einzige wichtige Text, der fehlt und zu dem einen guten Einblick in
101 Susanna Roth an Siegfried Unseld, 7.2.1997, SUA: Suhrkamp/01VL/Allgemeine Korrespondenz, DLA.
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Hrabals Schaffensweise gibt (als ‚Urfassung‘ der Teile 2 und 3 des Städtchen am Wasser).“102 Während der Veröffentlichung des Englischen Königs spielte Suhrkamp auch mit dem Gedanken einer Gesamtausgabe von Hrabals Werk. Siegfried Unseld holte während seines Prager Besuchs 1988 dazu die Meinung des Autors ein: „Natürlich fühle er sich geehrt, aber noch besser als alles zu sammeln, was vielleicht die Leute in Deutschland nicht interessiert, sei eine Auswahlausgabe. Besser sechs Bände als zwölf. Ob er die Auswahl machen könne. Nein, das könne er nicht, das sei Sache von Frau Roth, die sich hier vorzüglich auskenne“ (Reisebericht: Prag 14.–16. 4. 1988). Angela Martini-Wonde kehrte zwei Monate später mit einer ähnlichen Erkenntnis aus Prag zurück, ergänzt um die Problematik der verschiedenen Ausgaben und Versionen: „Zum Teil sind die Unterschiede zwischen der Erstfassung und unseren übersetzten Fassungen erheblich. […] Markantes Beispiel für die textlichen Unterschiede ist die Urfassung Das Städtchen, in dem die Zeit stehenblieb und dessen Zensurfassung Schöntrauer. Für Hrabal sind es zwei selbstständige Texte, wobei er die Urfassung der zweiten vorzieht. / Die Auswahl und Übersetzung von Moritaten und Legenden sei nicht befriedigend. Der Band sollte im Zusammenhang mit der Ausgewählte Werkausgabe noch einmal überdacht werden“ (Reisebericht: Prag, 23.–26. Juni 1988). Die Absicht des Verlags und die Vorstellung des Autors wurden aber nur zur Hälfte erfüllt. Nach dem Englischen König (1988), Leben ohne Smoking und Hochzeiten im Hause (1993) machte Suhrkamp mit der Publikation des fünften Buchs aus den 1960er Jahren weiter, mit Verkaufe Haus, in dem ich nicht mehr wohnen will (tsch. Inzerát na dům, ve kterém už nechci bydlet, 1965), für dessen Übertragung Siegfried Unseld Susanna Roth gewinnen wollte,103 doch wegen ihrer Arbeitsüberlastung erschien das Buch schließlich 1994 in der Übertragung von Karl-Heinz Jähn. Damit waren fast alle Bücher von Bohumil Hrabal ins Deutsche übersetzt worden, die in der Tschechoslowakei in den Jahren 1963 bis 1989 im Druck einschließlich zweier Samizdattitel erschienen waren.104 Soweit handelt es sich um ein Unikat. Der Verlag verpasste freilich 102 Susanna Roth an Siegfried Unseld, 7.2.1997, SUA: Suhrkamp/01VL/Allgemeine Korrespondenz, DLA. 103 „Hrabal ist für ewig, und es liegt mir daran, daß Sie es übersetzen, wir warten also“ (Siegfried Unseld an Susanna Roth, 16.10.1990, SUA: Suhrkamp/01VL/Allgemeine Korrespondenz, DLA). 104 Drei davon sind in der Suhrkamp-Version nur durch eine Auswahl vertreten, und ausgelassen wurden die Titel, die 1969 in Prag zwar bereits gedruckt worden waren, aber dann makuliert wurden, ebenso wie Hrabals überwiegend publizistische und autofiktionale Texte.
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die Chancen, auch umstrittene Bände (Die Bafler, Moritaten und Legenden) neu zu übersetzen, als das Leserinteresse auf dem Höhepunkt war, sowie aus Hrabals Gesammelten Werken, die zwischen 1991 und 1997 in Prag erschienen, eine Auswahl zu besorgen, die in einem Band bisher unbekannte und gleichzeitig hervorragende Texte zusammengefasst hätte.105 Im gewissen Sinn stellt die „Ausgewählte Werkausgabe“ jene Publikation nach Hrabals Tod dar, die in einer graphisch aufgewerteten Version und mit Kollagen von Jiří Kolář auf dem Umschlag in einer speziellen Kassette unter dem Titel Romane und Erzählungen106 sechs Prosatexte umfasste. Nach dieser Kassette erschienen bei Suhrkamp– außer dem schon erwähnten postum publizierten dritten Teil der Autobiographie Ich dachte an die goldenen Zeiten – nur noch kurze Selbstreflexionen Hrabals in Susanna Roths Übersetzungen.107 Damit war das großzügig bei Suhrkamp herausgegebene Werk Bohumil Hrabals abgeschlossen. Mit dem Ableben der kongenialen Übersetzerin Susanna Roth blieb es auf Deutsch freilich ein Torso. Im Jahr 2000 gab Suhrkamp in der Reihe „Romane des Jahrhunderts“ die Übersetzung der unvollendeten Prosa Jaroslav Hašeks Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk heraus, den Hrabal äußerst schätzte. Da die deutsche Übertragung von Grete Reiner aus dem Jahr 1926 seit 1990 in Deutschland bereits viermal erschienen war,108 kann man diese Entscheidung des Suhrkamp Verlags kaum als riskant einschätzen – oder auch als Ausdruck einer gewissen Hilflosigkeit gegenüber der tschechischen Gegenwartsliteratur. Die Tore schienen für die tschechische Literatur des 20. Jahrhunderts damit im Programm des Frankfurter Verlags geschlossen worden zu sein. 105 Das Buch Schizophrenes Evangelium, das der Hamburger Verlag Svato im Jahr 1994 publizierte, konnte diese Funktion nicht erfüllen. Es beinhaltete in der Übersetzung von Roth drei unterschiedliche Texte, den Titel gebenden (tsch. Schizofrenické evangelium, 1951), „Beatrice“ (1975) und „Protokoll“ (Protokol, 1952), zudem war es eher ein Kunstbuch und erschien nur als bibliophile Ausgabe in 150 nummerierten Exemplaren mit den Illustrationen von Svato Zapletal. 106 Die Kassette beinhaltet Die Bafler, Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene, Verkaufe Haus, in dem ich nicht mehr wohnen will, Ich habe den englischen König bedient, Das Städtchen, in dem die Zeit stehenblieb und Allzu laute Einsamkeit. Der zuletzt genannte Titel, bisher versteckt im Band Sanfte Barbaren, war somit auch als selbständiger Titel bei Suhrkamp zu haben, offensichtlich auf Empfehlung von Roth hin. 107 Ein Heft ungeteilter Aufmerksamkeit (1997), dessen Bestand „Leitfaden eines Baflerlehrlings“ (tsch. Rukověť pábitelského učně, 1970) ein Schlüsseltext des Autors ist, der bisher freilich noch nicht in unzensierter Form ins Deutsche übersetzt worden ist, sowie der Nachdruck von „Wer ich bin“ (1998) aus dem Buch Hommage à Hrabal. 108 Davon zeugen die Nachdrucke bei Rowohlt (= rororo, 409 u. 411) in den Jahren 1990–1966 fast 200 000 Exemplare.
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Literatur Die Geschichte des Suhrkamp-Verlages (2000). 1. Juli 1950 bis 30. Juni 2000. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Hiršal, Josef; Grögerová, Bohumila (2007): Let let. Pokus o rekapitulaci. Hg. von Šárka Grauová. Praha: Torst. Jähnichen, Manfred (2000): „Zu den Versuchen, Máchas Máj ins Deutsche zu übertragen“. In: Schmid, Herta (Hg.): Kapitel zur Poetik Karel Hynek Máchas. Die tschechische Romantik im europäischen Kontext. München: Verlag Otto Sagner (= Die Welt der Slaven. Sammelbände, 7), S. 133–145. Kafka, Vladimír (1995): Studie a úvahy o německé literatuře. Hg. von Petr Turek. Praha: KRA. Nezdařil, Ladislav (1985): „Karel Hynek Mácha“. In: Nezdařil, Ladislav: Česká poezie v německých překladech. Praha: Academia, 1985, s. 89–108. Reichert, Klaus; Urban, Peter: „Vladimir Kafka ist tot – Für die Vermittlung gelebt“. Die Zeit, Jg. 25, 1970, Nr. 45, 6. 11. Roth, Susanna (1986): Laute Einsamkeit und bitteres Glück. Zur poetischen Welt von Bohumil Hrabals Prosa. Bern, Frankfurt am Main: Lang (= Slavica Helvetica, 25). Roth, Susanna (Hg.) (1989): Hommage à Hrabal. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Katharina Raabe
Bibliographie des Suhrkamp-Osteuropaprogramms 2000 bis 2016 Stand: 4. Oktober 2017
Abkürzungen BS: Bibliothek Suhrkamp es: edition suhrkamp st: suhrkamp taschenbuch IB: Insel-Bücherei IV: Insel Verlag JV: Jüdischer Verlag POD: Print on demand I Übersetzungen I.1
Aus dem Bosnischen/Kroatischen/Serbischen
Bora Ćosić (serb.): – Die Zollerklärung. Ü: Katharina Wolf-Grießhaber. 2001 (es 2213). – Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution. Ü: Klaus und Mirjana Wittmann. 2002 (st 3422). – Das Land Null. Ü: Katharina Wolf-Grießhaber. 2004. – Die Reise nach Alaska. Ü: Katharina Wolf-Grießhaber. 2007 (es 2493). Miloš Crnjanski (serb.): – Tagebuch über Čarnojević. Ü: Hans Volk. Nachwort von Ilma Rakusa. 2011 (es 1867). – Ithaka und Kommentare. Durchgesehene und erweiterte Ü: Peter Urban. 2011 (es 2639). Dževad Karahasan (bosn.): – Das Buch der Gärten. Grenzgänge zwischen Islam und Christentum. Ü: Katharina Wolf-Grießhaber. 2002 (IV). – Der nächtliche Rat. Roman. Ü: Katharina Wolf-Grießhaber. 2006 (IV). – Berichte aus der dunklen Welt. Prosa. Ü: Brigitte Döbert. 2007 (IV). – Die Schatten der Städte. Essays. Ü: Katharina Wolf-Grießhaber. 2010 (IV).
© Wilhelm Fink Verlag, 2019 | doi:10.30965/9783846764091_012
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Katharina Raabe
– Sara und Serafina. Roman. Ü: Barbara Antkowiak. 2014 (st 4521). – Der Trost des Nachthimmels. Roman. Ü: Katharina Wolf-Grießhaber. 2016. Miodrag Pavlović (serb.): – Einzug in Cremona. Gedichte. Ü. Peter Urban. Nachwort von Peter Handke. 2002. – Die Bucht der Aphrodite. Roman. Ü: Peter Urban. 2003. Dubravka Ugrešić (kroat.): – Lesen verboten. Ü: Barbara Antkowiak. 2002. I.2
Aus dem Litauischen
Eugenijus Ališanka: – exemplum. Gedichte. Übersetzt und mit einer Nachbemerkung von Claudia Sinnig. 2011. Tomas Venclova: – Vilnius. Eine Stadt in Europa. Ü: Claudia Sinnig. Mit Fotografien von Arūnas Baltėnas. 2006 (es 2473). – Gespräch im Winter. Gedichte. Ü: Durs Grünbein und Claudia Sinnig. Nachwort von Durs Grünbein. 2007. I.3
Aus dem Polnischen
Joanna Bator: – Sandberg. Roman. Übesetzt und mit einem Nachwort von Esther Kinsky. 2011. 2012 (st 4404). – Wolkenfern. Roman. Ü. Esther Kinsky. 2013. 2014 (st 4574). – Dunkel, fast Nacht. Roman. Ü: Lisa Palmes. 2016. Karl Dedecius (Hg.): – Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts. Polnisch und deutsch. Ü: Karl Dedecius. 2008 (IV). – Meine polnische Bibliothek. Literatur aus neun Jahrhunderten. Ü: Karl Dedecius. Vorwort von Stefanie Peter. 2011 (IV). Michał Głowiński: – Eine Madeleine mit Schwarzbrot. Ü: Martin Pollack. 2003 (JV). Zygmunt Haupt: – Ein Ring aus Papier. Erzählungen. Übersetzt und mit einem Nachwort von Esther Kinsky. Mit einem Essay von Andrzej Stasiuk. 2003. – Vorhut. Erzählungen, Skizzen, Fragmente. Übersetzt und mit einem Nachwort von Esther Kinsky. 2007 (BS 1415).
Bibliographie des Suhrkamp-Osteuropaprogramms 2000 bis 2016
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Zbigniew Herbert: – Gewitter Epilog. Gedichte. Ü: Henryk Bereska. 2000. – Herrn Cogitos Vermächtnis. 89 Gedichte. Ü: Karl Dedecius, Oskar Tauschinski und Klaus Staemmler. 2000. – Gesammelte Gedichte. Hg. von Ryszard Krynicki. Mit einem Nachwort von Michael Krüger. Ü: Henryk Bereska, Karl Dedecius, Renate Schmidgall, Klaus Staemmler und Oskar Jan Tauschinski. 2016. Wojciech Kuczok: – Im Kreis der Gespenster. Erzählungen. Ü: Friedrich Griese. 2006. – Dreckskerl. Eine Antibiographie. Ü: Gabriele Leupold ubd Dorota Stroińska. 2007. 2012 (st 4313). – Höllisches Kino. Über Pasolini und andere. Ü: Gabriele Leupold und Dorota Stroińska. 2008 (es 2542). – Lethargie. Roman. Ü: Renate Schmidgall. 2010. Stanisław Lem: – Die Technologiefalle. Essays. Ü: Albrecht Lempp. 2000. – Fiasko. Roman. Ü: Hubert Schumann. 2000 (st 3174). – Riskante Konzepte. Ü: Andreas Lawaty. 2001. – Der weiße Tod. Ü: Karl Dedecius u.a. 2003. – Sterntagebücher. Ü: Caesar Rymarowicz. 2003. – Pilot Pirx. Erzählungen. Ü: Roswitha Buschmann, Kurt Kelm, Caesar Rymarowicz und Barbara Sparing. 2003 (st 3535). – Robotermärchen. Hg. von Franz Rottensteiner. Ü: Caesar Rymarowicz und Irmtraud Zimmermann-Göllheim. 2009. – Professor A. Donda. Ü: Klaus Staemmler. 2012. Andrzej Stasiuk: – Die Welt hinter Dukla. Ü: Olaf Kühl. 2000. 2002 (st 3391). – Wie ich Schriftsteller wurde. Versuch einer intellektuellen Autobiographie. Ü: Olaf Kühl. 2001 (es 2236). – Neun. Roman. Ü: Renate Schmidgall. 2002. 2004 (st 3563). – Galizische Geschichten. Ü: Renate Schmidgall. 2002. 2004 (st 3620). – Die Mauern von Hebron. Ü: Olaf Kühl. 2003 (es 2302). – Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. (Mit Juri Andruchowytsch.) Ü: Sofia Onufriv (ukr.) und Martin Pollack (poln.). 2004 (es 2370). – Das Flugzeug aus Karton. Essays, Skizzen, kleine Prosa. Ü: Renate Schmidgall. 2004. – Über den Fluß. Erzählungen. Ü: Renate Schmidgall. 2004 (es 2390). – Unterwegs nach Babadag. Ü: Renate Schmidgall. 2005. – Fado. Reiseskizzen. Ü: Renate Schmidgall. 2008 (es 2527).
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Katharina Raabe
– Dojczland. Ü: Olaf Kühl. 2008 (es 2566). – Winter. Fünf Geschichten. Ü: Olaf Kühl und Renate Schmidgall. 2009 (IB 1322). – Der weiße Rabe. Ü: Olaf Kühl. 2011 (st 4216). – Hinter der Blechwand. Ü: Renate Schmidgall. 2011. 2012 (st 4405). – Tagebuch danach geschrieben. Ü: Olaf Kühl. 2012 (es 2654). – Kurzes Buch über das Sterben. Geschichten. Ü: Renate Schmidgall. 2013 (st 4421). – Der Stich im Herzen. Geschichten vom Fernweh. Ü: Renate Schmidgall. 2015 (st 4577). – Der Osten. Ü: Renate Schmidgall. 2016. Mariusz Szczygieł: – Gottland. Reportagen. Ü: Esther Kinsky. Nachwort von Martin Pollack. 2006. Wisława Szymborska: – Chwila / Der Augenblick. Gedichte. Polnisch und deutsch. Übertragen und herausgegeben von Karl Dedecius. 2005 (BS 1396). – Liebesgedichte. Ausgewählt und übertragen von Karl Dedecius. 2005 (it 3111). – Glückliche Liebe und andere Gedichte. Ü: Renate Schmidgall u. Karl Dedecius. Nachbemerkung von Adam Zagajewski. 2012. 2014 (st 4558). Józef Wittlin: – Das Salz der Erde. Roman. Ü: Izydor Berman. Durchgesehen von Marianne Seeger. Vorwort von Peter Härtling. 2000 (st 3169). Michał Witkowski: – Lubiewo. Roman. Ü: Christina Marie Hauptmeier. 2007. – Queen Barbara. Ü: Olaf Kühl. 2010 (es 2605). I.4
Aus dem Rumänischen
M. Blecher: – Aus der unmittelbaren Unwirklichkeit. Ü: Ernest Wichner. Nachwort von Herta Müller. 2003 (BS 1367). – Vernarbte Herzen. Übersetzt und mit einem Nachwort von Ernest Wichner. 2006 (BS 1399). – Beleuchtete Höhle. Sanatoriumstagebuch. Übersetzt und mit einem Nachwort von Ernest Wichner. 2008 (BS 1424) 2016 POD Filip Florian: – Kleine Finger. Roman. Ü: Georg Aescht. 2008. Mircea Cărtărescu: – Warum wir die Frauen lieben. Geschichten. Ü: Ernest Wichner. 2008. – Nostalgia. Ü: Gerhardt Csejka. 2009. – Travestie. Roman. Ü: Ernest Wichner. 2010.
Bibliographie des Suhrkamp-Osteuropaprogramms 2000 bis 2016
I.5
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Aus dem Russischen
Swetlana Alexijewitsch: – Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus. Ü: Ganna-Maria Braungardt. 2015 (st 4572). – Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Ü: Ganna-Maria Braungardt. 2015 (st 4605). – Zinkjungen. Afghanistan und die Folgen. Ü: Ganna-Maria Braungardt. 2016 (st 4648). Anna Altschuk: – schwebe zu stand. Gedichte. Mit einem Nachwort von Michail Ryklin und einem Werkstattbericht von Gabriele Leupold und Henrike Schmidt. Ü: Gabriele Leupold. Henrike Schmidt und Georg Witte. 2010 (es 2610). Andrej Belyj: – Petersburg. Roman in acht Kapiteln mit Prolog und Epilog. Ü. Gabriele Leupold. Nachwort von Ilma Rakusa. 2005 (st 3716). Andrej Bitow: – Armenische Lektionen. Eine Reise aus Rußland. Ü: Rosemarie Tietze. 2002. – Georgisches Album. Auf der Suche nach der Heimat. Ü: Rosemarie Tietze. 2003. 2017 (BS 1498) (erweiterte Neuausgabe mit Photographien von Guram Tsibakhashvili). – Geschmack. Novelle. Ü: Rosemarie Tietze. 2004. – Puschkinhaus. Roman. Erstmals vollständig und neu übersetzt von Rosemarie Tietze. 2007. – Der Symmetrielehrer. Roman. Ü: Rosemarie Tietze. 2012. Margarita Chemlin: – Die Stille um Maja Abramowna. Roman. Ü: Olga Radetzkaja. 2012 (JV). Alissa Ganijewa: – Die russische Mauer. Roman. Ü. Christiane Körner. 2014. – Eine Liebe im Kaukasus. Roman. Übersetzt und mit einem Nachwort von Christiane Körner. 2016. Alexej Gelassimow: – Durst. Ü: Dorothea Trottenberg. 2011 (es 2624). Lidia Ginsburg: – Aufzeichnungen eines Blockademenschen. Ü: Christiane Körner. Nachwort von Karl Schlögel. 2014 (BS 1482). Alexander Ilitschewski: – Der Perser. Roman. Ü: Andreas Tretner. 2016. Oleg Jurjew: – Spaziergänge unter dem Hohlmond. Ü: Birgit Veit. 2002 (es 2240). – Die russische Fracht. Roman. Ü: Elke Erb und Olga Martynova. 2009.
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Katharina Raabe
Julia Kissina: – Frühling auf dem Mond. Roman. Ü: Valerie Engler. 2013. – Elephantinas russische Jahre. Roman. Ü: Ingolf Hoppmann u. Olga Kouvchinnikova. 2016. – (Hg.): Revolution Noir. Autoren der russischen “neuen Welle”. Eine literarische Anthologie. Ü: Ingolf Hoppmann, Olga Kouvchinnikova, Annelore Nitschke und Olga Radetzkaja. 2017. Natalja Kljutscharjowa: – Endstation Russland. Roman. Ü: Ganna-Maria Braungardt. Nachbemerkung von Swetlana Alexijewitsch. 2010. suhrkamp nova. – Dummendorf. Roman. Ü: Ganna-Maria Braungardt. 2012 (es 2640). Christiane Körner (Hg.): – Das schönste Proletariat der Welt. Junge Erzähler aus Russland. Hg. und übersetzt von Christiane Körner. Vorwort von Olga Slawnikowa. 2011 (es 2637). Jurij Mamlejew: – Die irrlichternde Zeit. Roman. Ü: Gabriele Leupold. 2003. Nadeschda Mandelstam: – Erinnerungen an Anna Achmatowa. Ü: Christiane Körner. Kommentiert und mit einem Nachwort von Pawel Nerler. 2011 (BS 1456). Julius Margolin: – Reise durch das Land der Lager. Übersetzt und mit einem Nachwort von Olga Radetzkaja. 2013. Andrej Platonow: – Die Baugrube. Roman. Übersetzt und mit einem Nachwort und Kommentaren von Gabriele Leupold. Mit einem Essay von Sibylle Lewitscharoff. 2016. Michail Ryklin: – Räume des Jubels. Totalitarismus und Differenz. Essays. Ü: Dirk Uffelmann, Anke Hennig u. Gabriele Leupold. 2003 (es 2316). – Mit dem Recht des Stärkeren. Russische Kultur in Zeiten der „gelenkten“ Demokratie. Ü: Gabriele Leupold. 2006 (es 2472). – Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution. 2008 (Verlag der Weltreligionen). – Buch über Anna. Ü: Gabriele Leupold. 2014. Ulrich Schmid (Hg.) – De profundis. Vom Scheitern der Russischen Revolution. Mit einer Einleitung von Karl Schlögel. Ü: Anselm Bühling, Helmut Dahn, Dagmar Herrmann, Gabriele Leupold, Dorothea Trottenberg, Volker Weichsel und Regula Zwahlen. 2017.
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Sascha Sokolow: – Die Schule der Dummen. Roman. Ü: Wolfgang Kasack. Nachwort von Iris Radisch. 2011 (BS 3008). Marina Zwetajewa: – Unsre Zeit ist die Kürze. Unveröffentlichte Schreibhefte. Hg. und aus dem Russischen und Französischen übersetzt von Felix Philipp Ingold. 2017. I.6
Aus dem Slowenischen
Florjan Lipuš: – Boštjans Flug. Ü: Johann Strutz. Nachwort von Peter Handke. 2012 (BS 1470). Tomaž Šalamun: – Lesen: Lieben. Gedichte aus vier Jahrzehnten. Übersetzt und mit einem Nachwort von Fabjan Hafner. 2005. Aleš Šteger: – Buch der Dinge. Ü: Urška P. Černe und Matthias Göritz. Nachwort von Matthias Göritz. 2006. – Preußenpark. Berliner Skizzen. Ü: Ann Catrin Apstein-Müller. 2009 (es 2569). Aleš Šteger/Mitja Cander (Hg.): – Zu zweit nirgendwo. Neue Erzählungen aus Slowenien. 2006 (es 2416). I.7
Aus dem Tschechischen
Bohumil Hrabal: – Ich dachte an die goldenen Zeiten. Ü: Susanna Roth. 2000. – Die Katze Autitschko. Erzählung. Ü: Karl-Heinz Jähn. 2000. – Ich habe den englischen König bedient. Roman. Ü: K.-H. Jähn. 2003. – Die Romane. Nachwort von Werner Fritsch. 2008 (Quarto). – Tanzstunden für Erwachsene und Fortgeschrittene. Ü: Franz Peter Künzel. 2016 (POD). – Reise nach Sondervorschrift. Zuglauf überwacht. Erzählung. Ü: Franz Peter Künzel. 2016 (POD). – Ein Heft ungeteilter Aufmerksamkeit. Ü: Susanna Roth. 2016 (POD). Jáchym Topol: – Die Schwester. Roman. Ü: Eva Profousová und Beate Smandek. 2004 (st 3656). – Nachtarbeit. Roman. Ü: Eva Profousová und Beate Smandek. 2003. – Zirkuszone. Roman. Ü: Milena Oda und Andreas Tretner. 2007. – Die Teufelswerkstatt. Roman. Ü: Eva Profousová. 2010.
236 I.8
Katharina Raabe
Aus dem Ukrainischen
Juri Andruchowytsch: – Das letzte Territorium. Essays. Ü: Alois Woldan. 2003 (es 2446). – Mein Europa. Zwei Essays über das sogenannte Mitteleuropa. (Mit Andrzej Stasiuk.) Ü. Sofia Onufriv (ukr.), Martin Pollack (poln.). 2004 (es 2370). – Zwölf Ringe. Roman. Ü: Sabine Stöhr. 2005. 2007 (st 3840). – Moscoviada. Roman. Ü. Sabine Stöhr. 2006. 2012 (st 4312). – Engel und Dämonen der Peripherie. Essays. Ü. Sabine Stöhr. 2007 (es 2513). – Geheimnis. Sieben Tage mit Egon Alt. Ü. Sabine Stöhr. 2008. – Perversion. Roman. Ü. Sabine Stöhr. 2011. 2013 (st 4490). – (Hg.): Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Mit einem Fotoessay von Yevgenia Belorusets. 2014 (es Sonderdruck). – Kleines Lexikon intimer Städte. Autonomes Lehrbuch der Geopoetik und Kosmopolitik. Ü. Sabine Stöhr. 2016. Insel Verlag. Ljubko Deresch: – Kult. Roman. Ü: Juri Durkot und Sabine Stöhr. 2005 (es 2449). – Die Anbetung der Eidechse oder wie man Engel vernichtet. Roman. Ü: Maria Weissenböck. 2006 (es 2480). – Intent! oder Die Spiegel des Todes. Roman. Ü: Maria Weissenböck. 2008 (es 2536). Taras Prochasko: – Daraus lassen sich ein paar Erzählungen machen. Ü: Maria Weissenböck. 2009 (es 2578). Mykola Rjabtschuk: – Die reale und die imaginierte Ukraine. Essay. Ü: Juri Durkot. Nachwort von Wilfried Jilge. 2005 (es 2418). Serhij Zhadan: – Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts. Gedichte. Ü: Claudia Dathe. Mit Fotografien von Vladyslav Getman und einem Nachwort von Juri Andruchowytsch. 2006 (es 2455). – Depeche Mode. Roman. Ü: Juri Durkot und Sabine Stöhr. 2007 (es 2494). – Anarchy in the UKR. Ü: Claudia Dathe. 2007 (es 2522). – Hymne der demokratischen Jugend. Ü: Juri Durkot und Sabine Stöhr. 2009. 2011 (st 4217). – Big Mäc. Geschichten. Ü: Claudia Dathe. 2011 (es 2630). – (Hg.): Totalniy Futbol. Eine polnisch-ukrainische Fußballreise. Mit einem Fotoessay von Kirill Golovchenko. 2012. Sonderdruck edition suhrkamp. – Die Erfindung des Jazz im Donbass. Roman. Ü: Juri Durkot und Sabine Stöhr. 2012.
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– Mesopotamien. Ü: Claudia Dathe, Juri Durkot und Sabine Stöhr. 2015. 2017 (st 4778). – Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte und Prosa aus dem Krieg. Ü: Claudia Dathe und Esther Kinsky. 2016 (es Sonderdruck). I.9
Aus dem Ungarischen
Zsófia Bán: – Abendschule. Fibel für Erwachsene. Ü: Terézia Mora. Nachwort von Péter Nádas. 2012. – Als nur die Tiere lebten. Ü: Terézia Mora. 2014. Attila Bartis: – Die Ruhe. Roman. Ü: Agnes Relle. 2005. – Die Apokryphen des Lazarus. Zwölf Feuilletons. Ü: Laszlo Kornitzer. 2007 (es 2498). – Das Ende. Roman. Ü: Terézia Mora. 2017. Szilárd Borbély: – Die Mittellosen. Ist der Messias schon weg? Roman. Ü: Heike Flemming und Lacy Kornitzer. 2014. 2016 (st 4664). – Kafkas Sohn. Prosa aus dem Nachlass. Übersetzt und mit Kommentaren und einem Nachwort von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. 2017. László Darvasi: – Die Legende von den Tränengauklern. Roman. Ü: Heinrich Eisterer. 2001. – Eine Frau besorgen. Kriegsgeschichten. Ü: Heinrich Eisterer. Terézia Mora. Agnes Relle. 2003 (es 2448). – Die Hundejäger von Loyang. Chinesische Geschichten. Ü: Heinrich Eisterer. 2003. – Wenn ein Mittelstürmer träumt. Meine Weltgeschichte des Fußballs. Ü: Laszlo Kornitzer. 2006 (st 3765). – Herr Stern. Novellen. Ü: Heinrich Eisterer. 2006 (es 2476). – Blumenfresser. Roman. Ü: Heinrich Eisterer. 2013. – Wintermorgen. Novellen. Ü: Heinrich Eisterer. 2016. György Dragomán: – Der weiße König. Roman. Ü: Laszlo Kornitzer. 2008. 2012 (st 4313). – Der Scheiterhaufen. Roman. Ü: Lacy Kornitzer. 2015. István Eörsi: – Der rätselhafte Charme der Freiheit. Versuche über das Neinsagen. Ü: Anna Gara-Bak. Péter Máte. Gregor Mayer. Angela Plöger und Hans Skirecki. 2003 (es 2271). – Im geschlossenen Raum. Roman. Ü: Heinrich Eisterer. Nachwort von György Konrád. 2006.
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Imre Kertész: – Schritt für Schritt. Drehbuch zum „Roman eines Schicksallosen“. Ü: Erich Berger. 2002 (es 2292). – Der Spurensucher. Erzählung. Ü: György Buda. 2002 – „Heureka!“. Rede zum Nobelpreis 2002. Ü: Kristin Schwamm. 2002 – Liquidation. Roman. Ü: Laszlo Kornitzer und Ingrid Krüger. 2003 – Die exilierte Sprache. Essays und Reden. Vorwort von Péter Nádas. Ü: Kristin Schwamm, György Buda u. a. 2004 György Konrád: – Glück. Roman. Ü: Hans-Henning Paetzke. 2003. 2004 (st 3662). – Das Pendel. Essaytagebuch. Ü: Hans-Henning Paetzke. 2011. – Über Juden. Essays. Ü: Hans-Henning Paetzke Essays. 2012. – Europa und die Nationalstaaten. Essays. Ü: Hans-Henning Paetzke. 2013. – Gästebuch. Nachsinnen über die Freiheit. Ü: Hans-Henning Paetzke. 2016. Dezső Kosztolányi: – Lerche. Roman. Ü: Heinrich Eisterer. Nachwort von Ilma Rakusa. 2007 (BS 1432). István Örkény: – Minutennovellen. Ausgewählt und übersetzt von Terézia Mora. Nachwort von György Konrád. 2002 (BS 1358). – Das Lagervolk. Roman. Mit einem Nachwort von Imre Kertész. Übersetzt und mit Kommentaren von Laszlo Kornitzer. 2010. Alaine Polcz: – Frau an der Front. Ein Bericht. Ü: Lacy Kornitzer. 2012. I.10
Aus dem Weißrussischen
Valentin Akudowitsch: – Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen. Ü: Volker Weichsel. Nachwort von Martin Pollack. 2013 (es 2665). Artur Klinaŭ: – Minsk. Sonnenstadt der Träume. Mit Fotografien des Autors. Ü: Volker Weichsel. 2006 (es 2491). Valzhyna Mort: – Tränenfabrik. Gedichte. Ü: Katharina Narbutovič. 2009 (es 2580). – Kreuzwort. Gedichte. Ü: Katharina Narbutovič und Uljana Wolf. 2013 (es 2663).
Bibliographie des Suhrkamp-Osteuropaprogramms 2000 bis 2016
II
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Original deutsch
Felix Ackermann: – Mein litauischer Führerschein. Ausflüge zum Ende der Europäischen Union. 2017 (st 4763). Marica Bodrožić: – Tito ist tot. Erzählungen. 2002. – Der Spieler der inneren Stunde. Roman. 2005. – Der Windsammler. Erzählungen. 2007. – Sterne erben. Sterne färben. Meine Ankunft in Wörtern. 2007. Boris Buden: – Zone des Übergangs. Vom Ende des Postkommunismus. 2009 (es 2601). Mischa Gabowitsch: – Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur. 2013 (es 2661). Hans Günther: – Andrej Platonow. Leben. Werk. Wirkung. 2016 (st 4737). Katja Petrowskaja: – Vielleicht Esther. Geschichten. 2014. 2015 (st 4596). Erich Rathfelder: – Kosovo. Geschichte eines Konflikts. 2010 (es 2574). Ulrich Schmid: – Technologien der Seele. Vom Verfertigen der Wahrheit in der russischen Gegenwartsliteratur. 2015 (es 2702). Ther, Philipp: – Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. 2014. 2016 (st 4663). III
Gattungen, Reihen
Nur Titel, die nicht bereits in Teil I verzeichnet sind, werden vollständig und mit Reihennummern aufgeführt. III.1 Anthologien Karl Dedecius (Hg.): – Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts. Polnisch und deutsch. 2008. – Meine polnische Bibliothek. Literatur aus neun Jahrhunderten. 2011. Christiane Körner (Hg.): – Das schönste Proletariat der Welt. Junge Erzähler aus Russland. 2011.
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Katharina Raabe
Stefanie Peter (Hg.): – Alphabet der polnischen Wunder. Ein Wörterbuch. Illustriert von Maciej Sieńczyk. 2007. Katharina Raabe (Hg.): – Das wilde Leben. East Side Stories. 2012 (st 4317). Katharina Raabe/Monika Sznajderman (Hg.): – Last & Lost. Ein Atlas des verschwindenden Europas. Mit Fotografien. 2006. – Odessa Transfer. Nachrichten vom Schwarzen Meer. Mit einem Fotoessay von Andrzej Kramarz. 2009. Ulrich Schmid (Hg.) – De profundis. Vom Scheitern der Russischen Revolution. 2017. Aleš Šteger/Mitja Cander (Hg.): – Zu zweit nirgendwo. Neue Erzählungen aus Slowenien. 2006. Serhij Zhadan (Hg.): – Totalniy Futbol. Eine polnisch-ukrainische Fußballreise. 2012. III.2
Autobiographische Texte
Karl Dedecius: – Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen. 2006. Lidia Ginsburg: – Aufzeichnungen eines Blockademenschen. 2014. Nadeschda Mandelstam: – Erinnerungen an Anna Achmatowa. 2011. Julius Margolin: – Reise durch das Land der Lager. 2013. István Örkény: – Das Lagervolk. Roman. 2010. Alaine Polcz: – Frau an der Front. Ein Bericht. 2012. Michail Ryklin: – Buch über Anna. 2014. Tomas Venclova: – Der magnetische Norden. Gespräche mit Ellen Hinsey. Erinnerungen. 2017. III.3 Lyrik Eugenijus Ališanka: – exemplum. Gedichte. 2011.
Bibliographie des Suhrkamp-Osteuropaprogramms 2000 bis 2016
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Anna Altschuk: – schwebe zu stand. Gedichte. 2010. Karl Dedecius (Hg.): – Polnische Gedichte des 20. Jahrhunderts. Polnisch und deutsch. 2008. Zbigniew Herbert: – Herrn Cogitos Vermächtnis. 2000. – Gewitter Epilog. 2000. – Gesammelte Gedichte. 2016. Valzhyna Mort: – Tränenfabrik. Gedichte. 2009. – Kreuzwort. Gedichte. 2013. Miodrag Pavlović: – Einzug in Cremona. Gedichte. 2002. Tomaž Šalamun: – Lesen: Lieben. Gedichte aus vier Jahrzehnten. 2006. Aleš Šteger: – Buch der Dinge. 2006. Wislawa Szymborska: – Chwila / Der Augenblick. 2005. – Glückliche Liebe und andere Gedichte. 2012. Tomas Venclova: – Gespräch im Winter. Gedichte. 2007. Serhij Zhadan: – Geschichte der Kultur zu Anfang des Jahrhunderts. Gedichte. 2006. – Warum ich nicht im Netz bin. Gedichte. 2016. III.4
Essays, Reportagen, Analysen zur mittel- und osteuropäischen Politik und Zeitgeschichte in der „edition suhrkamp“
Valentin Akudowitsch: – Der Abwesenheitscode. Versuch, Weißrussland zu verstehen. 2013. Juri Andruchowytsch (Hg.): – Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. 2014. Jens Becker/Achim Engelberg (Hg.): – Serbien nach den Kriegen. 2008 (es 2482). Julija Bogoeva und Caroline Fetscher (Hg.): – Srebrenica. Ein Prozeß. Dokumente aus dem Verfahren gegen General Radislav Krstić vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien in Den Haag. Ü: Barbara Antkowiak. Ulrike Bischoff und Caroline Fetscher. 2002 (es 2275).
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Katharina Raabe
Boris Buden: Zone des Übergangs. 2009. Barbara Engelking und Helga Hirsch (Hg.): – Unbequeme Wahrheiten. Polen und sein Verhältnis zu den Juden. 2008 (es 2561). István Eörsi: – Der rätselhafte Charme der Freiheit. Versuche über das Neinsagen. 2003. Mischa Gabowitsch: – Putin kaputt!? Russlands neue Protestkultur. 2013. Boris Groys, Anne von der Heiden und Peter Weibel (Hg.): – Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus. 2005. Florian Hassel (Hg.): – Der Krieg im Schatten. Russland und Tschetschenien. 2003 (es 2326). Artur Klinaŭ: – Minsk. Sonnenstadt der Träume. 2006. Ivan Krastev: – Europadämmerung. Ein Essay. Ü: Michael Bischoff. 2017 (es 2712). Katharina Raabe/Manfred Sapper (Hg.): – Testfall Ukraine. Europa und seine Werte. 2015 (es Sonderdruck). Erich Rathfelder: – Kosovo. Geschichte eines Konflikts. 2010. Ilma Rakusa: – Von Ketzern und Klassikern. Streifzüge durch die russische Literatur. 2003 (es 2325). Michail Ryklin: – Räume des Jubels. 2003. – Mit dem Recht des Stärkeren. 2006. – Kommunismus als Religion. 2008. Ulrich Schmid: – Technologien der Seele. 2015 Tomas Venclova: – Vilnius. Eine Stadt in Europa. 2006. Serhij Zhadan (Hg.): – Totalniy Futbol. Eine polnisch-ukrainische Fußballreise. 2012. III.5
suhrkamp taschenbuch wissenschaft
Michail M. Bachtin: – Chronotopos. Ü: Michael Dewey. Mit einem Nachwort von Michael C. Frank und Kirsten Mahlke. 2008 (stw 1879).
Bibliographie des Suhrkamp-Osteuropaprogramms 2000 bis 2016
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– Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit. Hg. von Rainer Grübel, Edward Kowalski und Ulrich Schmid. Ü: Hans-Günter Hilbert, Rainer Grübel, Alexander Haardt und Ulrich Schmid. 2008 (stw 1878). Béla Balázs: – Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Mit einem Nachwort von Helmut H. Diederichs und zeitgenössischen Rezensionen von Robert Musil, Andor Kraszna-Krausz, Siegfried Kracauer und Erich Kästner. 2001 (stw 1536). – Der Geist des Films. Mit einem Nachwort von Hanno Loewy und zeitgenössischen Rezensionen von Siegfried Kracauer und Rudolf Arnheim. 2001 (stw 1537). Sergei Eisenstein: – Jenseits der Einstellung. Schriften zur Filmtheorie. 2006 (stw 1766). Ludwik Fleck: – Denkstile und Tatsachen. Gesammelte Schriften und Zeugnisse. Hg. von Sylwia Werner und Claus Zittel unter Mitarbeit von Frank Stahnisch. Mit zahlreichen Abbildungen. 2011 (stw 1953). Boris Groys. Michael Hagemeister (Hg.): – Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Ü: Dagmar Kassek. 2005 (stw 1763). Boris Groys. Aage Hansen-Löve (Hg.): – Am Nullpunkt. Positionen der russischen Avantgarde. Ü: Gabriele Leupold, Annelore Nitschke und Olga Radetzkaja. 2005 (stw 1764). Jurij M. Lotman: – Kultur und Explosion. Hg. und mit einem Nachwort von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz. Ü: Dorothea Trottenberg. 2010 (stw 1896). – Die Innenwelt des Denkens. Hg. und mit einem Nachwort von Susi K. Frank, Cornelia Ruhe und Alexander Schmitz. Ü: Gabriele Leupold und Olga Radetzkaja 2010 (stw 1944). III.6
„Denken und Wissen“. Eine polnische Bibliothek. Herausgegeben von Dieter Bingen. Deutsches Polen-Institut Darmstadt. Redaktion: Peter Oliver Loew.
Paweł Spiewak (Hg.): – Anti-Totalitarismus. Eine polnische Debatte. 2003. François Guesnet (Hg.): – Der Fremde als Nachbar. Polnische Positionen zur jüdischen Präsenz. Texte seit 1800. 2009.
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Katharina Raabe
Henryk Elzenberg: – Kummer mit dem Sein. Tagebuch eines Philosophen. Aphorismen und Gedanken aus den Jahren 1907 bis 1963. Ü: Sven Sellmer. 2004. Michal Glowinski. – Mythen in Verkleidung. Dionysos, Narziß, Prometheus, Marchołt, Labyrinth. Ü: Jan Conrad. 2005. Michal Heller: – Der Sinn des Lebens und der Sinn des Universums. Moderne theologische Studien. Ü: Sven Sellmer. 2006. Maria Janion: – Die Polen und ihre Vampire. Studien zur Kritik kultureller Phantasmen. Hg. und mit einer Einführung von Magdalena Marszałek. Ü: Bernhard Hartmann und Thomas Weiler. 2014. Jerzy Jedlicki: – Die entartete Welt. Die Kritiker der Moderne, ihre Ängste und Urteile. Ü: J. Conrad. 2007. Czesław Miłosz: – Visionen an der Bucht von San Francisco. Amerikanische Essays. Ü: Sven Sellmer. 2008. Maria Ossowska: – Das ritterliche Ethos und seine Spielarten. Ü: Friedich Griese. 2007. Peter Oliver Loew (Hg.): – Polen denkt Europa. Politische Texte aus zwei Jahrhunderten. 2004. Andrzej Chwalba (Hg.): – Polen und der Osten. Texte zu einem spannungsreichen Verhältnis. 2005. Małgorzata Sugiera und Mateusz Borowski (Hg.): – Theater spielen und denken. Polnische Texte des 20. Jahrhunderts. 2008. Jerzy Szacki: – Der Liberalismus nach dem Ende des Kommunismus. Ü: Friedrich Griese. 2003. Władysław Tatarkiewicz: – Geschichte der sechs Begriffe. Kunst. Schönheit. Form. Kreativität. Mimesis. ästhetisches Erlebnis. Ü: Friedrich Griese. 2003. Józef Tischner: – Der Streit um die Existenz des Menschen. Übersetzt und mit einer Einführung von Steffen Huber. 2010.
Beiträgerverzeichnis Bakshi (Bakši), Natalia A., Dr. phil. habil., lic. theol. – Germanistin, kath. Theologin. Russische Staatsuniversität für Geisteswissenschaften (RGGU) in Moskau; stellvertr. Leiterin des Thomas Mann-Lehrstuhls für Deutsche Philologie. – Arbeitsgebiete: Neuere deutsche, österreichische und schweizerische Literatur, Komparatistik des deutschsprachigen Raums, Literatur und Theologie. – [email protected] Kemper, Dirk, Prof. Dr. Dr. – Leiter des Thomas Mann-Lehrstuhls an der Russischen Staatsuniversität für Geisteswissenschaften (RGGU) in Moskau, Direktor des Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen. – Arbeitsgebiete: Neuere deutsche Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft, Komparatistik. – [email protected] Małecki, Wiesław, Dr. – Adam-Mickiewicz-Universität Poznań, Assistenzprofessor, Abt. für Hermeneutik der Kultur. – Arbeitsgebiete: deutsche Aufklärung, deutsche Kulturgeschichte, philosophische Anthropologie. – [email protected] Raabe, Katharina – Seit 2000 Lektorin für das Osteuropaprogramm des Suhrkamp Verlags. – Arbeitsgebiete: Literatur, Kultur, Politik und Zeitgeschichte Osteuropas; vergleichende Literaturwissenschaft. – [email protected] Schögler, Rafael Y., Mag. Dr. – Karl-Franzens-Universität Graz, Assistenzprofessor am Institut für theoretische und angewandte Translationswissenschaft. – Arbeitsgebiete: Translationswissenschaft, Translationssoziologie, Übersetzung in den Geistes- und Sozialwissenschaften, Methoden der Translationswissenschaft. – [email protected] Schwartz, Matthias, Dr. – Wiss. Mitarbeiter am Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin. – Arbeitsgebiete: Osteuropäische Literaturen, Erinnerungskulturen, Jugendkulturen, post/sozialistische Kulturgeschichte der Raumfahrt, Populärwissenschaften. – [email protected] Špirit, Michael, Dr. habil. – Karls-Universität Prag, Dozent am Institut für tschechische Literatur und Literaturwissenschaft. – Arbeitsgebiete: Tschechische Literatur, Textkritik, Literaturkritik, Editionswissenschaft. – michael.spirit@ ff.cuni.cz
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Beiträgerverzeichnis
Zajas, Paweł, Prof. Dr. – Universitätsprofessor an der Adam-Mickiewicz- Universität Poznań sowie an der University of Pretoria (Südafrika). – Arbeitsgebiete: Verlagsarchive, Soziologie der literarischen Übersetzung, Literatur und auswärtige Kulturpolitik; Literatur- und Kulturtransfer. – [email protected]. edu.pl Zielińska, Mirosława, Dr. – Wiss. Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Opole und am Willy-Brandt-Zentrum für Deutschland- und Europastudien an der Universität Wrocław. – Arbeitsgebiete: Transkulturelle Kommunikation und Kulturtransferprozesse; Rezeption polnischer Kultur im deutschsprachigen Raum und deutschsprachiger Literatur in Polen. – [email protected]
Publikationsreihe Die „Schriftenreihe des Instituts für russisch-deutsche Literatur- und Kulturbeziehungen an der RGGU Moskau“ erscheint teils im Moskauer Verlag „Stimmen der slavischen Kultur“, teils im Wilhelm Fink-Verlag. Band 1: Dirk Kemper, Iris Bäker (Hg.): Deutsch-russische Germanistik. Ergebnisse, Perspektiven und Desiderate der Zusammenarbeit. Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury 2008 Band 2: Кемпер Дирк. Гете и проблематика индивидуализма в макроэпоху модерна. Москва: Языки славянской культуры 2009 [Dirk Kemper: Goethe und die Individualitätsproblematik der Moderne. Übers. von Aleksej Žerebin. Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury 2009] Band 3: Dirk Kemper, Aleksej Žerebin, Iris Bäcker (Hg.): Eigen- und fremdkulturelle Literaturwissenschaft. München: Wilhelm Fink 2010 Band 4: Dirk Kemper, Valerij Tjupa, Sergej Taškenov (Hg.): Die russische Schule der historischen Poetik. München: Wilhelm Fink 2013 Band 5: Бакши Наталия Александровна. В поисках чернильно-синей Швейцарии. Москва: Языки славянской культуры 2009 [Natalija Aleksandrovna Bakši (Bakshi): Auf der Suche nach der tintenblauen Schweiz. Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury 2009] Band 6: Жеребин Алексей Иосифович. Абсолютная реальность. «Молодая Вена» и русская литература. Москва: Языки славянской культуры 2009 [Aleksej Iosifovič Žerebin: Absolute Realität. Das „Junge Wien“ und die russische Literatur. Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury 2009] Band 7: Dirk Kemper, Ekaterina Dmitrieva, Jurij Lileev (Hg.): Deutschsprachige Literatur im westeuropäischen und slavischen Barock. München: Wilhelm Fink 2012 Band 8: Natalia Bakshi, Dirk Kemper, Iris Bäcker (Hg.): Religiöse Thematiken in den deutschsprachigen Literaturen der Nachkriegszeit (1945–1955). München: Wilhelm Fink 2013 Band 9: Бакши Наталия Александровна. Преодоление границ. Литература и теология в послевоенный период в Германии, Австрии и Швейцарии (1945–1955). Москва: Языки славянской культуры, 2013 [Natalija Aleksandrovna Bakši (Bakshi): Grenzüberschreitungen. Literatur und Theologie der Nachkriegszeit in
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Band 10: Band 11: Band 12: Band 13: Band 14: Band 15: Band 16: Band 17:
Publikationsreihe
Deutschland, Österreich und der Schweiz (1945–1955). Moskau: Jazyki slavjanskoj kul’tury, 2013] Sergej Taškenov, Dirk Kemper (Hg.) in Zusammenarbeit mit Vladimir Kantor: Visionen der Zukunft um 1900. Deutschland, Österreich, Schweiz. München: Wilhelm Fink 2014 Dirk Kemper (Hg.): Weltseitigkeit. Jörg-Ulrich Fechner zu Ehren. München: Wilhelm Fink 2014 Iris Bäcker: Der Akt des Lesens – neu gelesen. Zur Bestimmung des Wirkungspotentials von Literatur. München: Wilhelm Fink 2014 Sergej Taškenov (Hg.): Außerhalb der Norm. Zur Produktivität der Abweichung. München: Wilhelm Fink 2016 Sergej Taškenov: Thomas Bernhards Prosa. Krise der Sprache und des dialogischen Wortes. Paderborn: Wilhelm Fink [in Vorbereitung] Natalia Bakshi, Dirk Kemper, Monika Schmitz-Emans (Hg.): Komparatistik sprachhomogener Räume. Konzepte, Methoden, Fallstudien. Paderborn: Wilhelm Fink 2017 Dirk Kemper, Paweł Zajas, Natalia Bakshi (Hg.): Kulturtransfer und Verlagsarbeit. Suhrkamp und Osteuropa. Paderborn: Wilhelm Fink [2018] Dirk Kemper, Elisabeth Cheauré, Natalia Bakshi, Paweł Zajas (Hg.): Literatur und auswärtige Kulturpolitik. Paderborn: Wilhelm Fink [in Vorbereitung]