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German Pages 332 Year 2023
Kulturpoetik des Moores
Kulturpoetik des Moores Ressource, Phobotop, Reservoir Herausgegeben von Joana van de Löcht und Niels Penke
ISBN 978-3-11-078664-4 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078674-3 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078678-1 Library of Congress Control Number: 2023931565 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: bruev / iStock / Getty Images Plus Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Inhalt Joana van de Löcht und Niels Penke Zur Kulturpoetik des Moores | 1 Hedwig Roderfeld Moore: Über ihre Entstehung, ihre Nutzung und ihren Schutz | 17 Niels Penke Arbeit an der natura lapsa: Das Moor als Ressource und Medium des Fortschritts im 18. Jahrhundert | 31 Philip Kraut Das Moor in der deutschen Altertumskunde des 19. Jahrhunderts | 53 Joana van de Löcht Das Moor als Phobotop und locus horribilis: Über das Unheimliche in der Moordichtung um 1850 | 85 Erik Martin Gefährliche Vorräte: M. Prišvins Sonnenspeicher (1945) im sowjetischen Energiediskurs der 1930er und 1940er Jahre | 107 Jonas Meurer Ernst und Friedrich Georg Jüngers Moorpoetik | 127 Isabel von Holt Entremeios: Die bewegliche Landschaft des Pantanals bei João Guimarães Rosa | 155 Lesley Penné und Arvi Sepp Kulturwissenschaftliche Annäherungen an das Moor: Figurationen von Sumpf und Torf in der ostbelgischen Gegenwartsliteratur | 179 Antje Schmidt und Jule Thiemann Chronik einer Moorlandschaft: Gelungene Interspezies-Begegnungen und anthropozäne Melancholie in Sarah Kirschs Allerlei-Rauh (1988) | 195
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Annika Hammer und Friederike Reents Kontaminierte Speicher: Sondagen in literarische Moore der Gegenwart | 219 Laura Ganzmann „Der Knabe“ in den Moorgeistern: Eine intertextuelle Spurensuche im Moor in Angela Sommer-Bodenburgs und Annette von Droste-Hülshoffs Moortexten | 237 Laura M. Reiling Torfmoos: Botanische Erkundungen bei Marion Poschmann und Klaus Modick | 261 Emanuela Ferragamo Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara als Morbus Moor | 295 Autor*innenverzeichnis | 319 Personenregister | 323
Joana van de Löcht und Niels Penke
Zur Kulturpoetik des Moores Eine Einleitung
1 Literarische Moorgänge Moor hat Konjunktur. Wiedervernässung und Renaturisierungsprojekte, die Moore wieder in intakte Zustände zurückversetzen sollen, werden motiviert durch den Umweltschutz und die Hoffnung, durch die Wiederherstellung des CO2-Speichers Moor, dem anthropogenen Klimawandel entgegenzuwirken. Zugleich hat die Literatur in den vergangenen Jahren zahlreiche Moorgänge unternommen und dabei unterschiedliche Zugänge gewählt, sei es im Nature Writing bei Robert Macfarlane und William Atkins, im historischen Roman bei Elke Loewe und Norman Ohler oder in zahlreichen Krimis (u. a. Arnaldur Indriðason, Val McDermid, Felicity Whitmore). Auch in Film und Computerspiel sind Sumpf und Moor ein beliebtes Setting, da sie als liminaler, unzivilisierter und häufig von devianten Charakteren und Monstern belebter Raum Bewährungsproben fordern, an denen Protagonist*innen scheitern oder gestärkt in den geordneten Kulturraum zurückkehren. Solche „Sondagen“ ins „unverzeichnete“, wie es bei Thomas Kling heißt, gehören zum Inventar unserer literarischen Gegenwart. Das war nicht immer so. Mit Beginn des 18. Jahrhunderts wird in Deutschland die Moorfläche im Rahmen von herrschaftlichen Landgewinnungsprojekten (Oderbruch ab 1747; Urbarmachungsedikt Friedrichs II., 1765), durch Trockenlegung und Flussbegradigungen reduziert. Der Torf als industrielle Ressource wird etwa zur gleichen Zeit ökonomisch relevant und ergänzt die durch Rodung stark dezimierten Baumbestände als Heizmaterial. Nicht zuletzt zielt die Trockenlegung der Moore auf eine Bekämpfung von möglichen Krankheitsherden, der die Idee von Miasmen als schädliche Dämpfe, die zu Erkrankungen führten, zugrunde liegen. Es verwundert also nicht, dass das Moor als literarischer Raum im Laufe des 18. Jahrhunderts an Bedeutung gewinnt. Im Zuge der fortschreitenden Moorkolonisierung erweisen sich die Naturräume als widerständig, weil das Wasser sich nur unter großem Aufwand bezwingen lässt. Daher werden sie schließlich für die Romantik zum Inbegriff des wilden ungezähmten Raumes, dem man sich nur unter Gefahren aussetzt, der abschreckt, aber zugleich auch lockt. Als Sphäre des Übergangs beherbergt das Moor ein Personal, das in der zunehmend eingehegten ‚Zivilisation‘ keinen
https://doi.org/10.1515/9783110786743-001
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Platz mehr findet: Wer, auf welchem Weg auch immer, eintritt, kann Gestalten aus Sagen, Märchen und Albträumen begegnen – dem Teufel, Irrlichtern, Geistern und anderen Grenzlandbewohnern, von denen die Literatur vieles zu erzählen weiß. Beim (imaginären) Gang durch das Moor wird der Mensch gezwungen, sich einer fremden Ordnung zu unterwerfen, der geplante Weg erweist sich zuweilen als ungangbar, weshalb die Moorbesucherin in die Irre geht. Das Moor ist damit nicht allein literarischer Naturraum, sondern im speziellen als Phobotop konturiert, das, wie etwa bei Annette von Droste-Hülshoff, trotz aller Gefährdung auch faszinieren und anziehen kann. Mit Blick auf das Tableau der in diesem Band untersuchten Texte aus der Zeit vor 1900 lässt sich davon ausgehen, dass die Ressource des Fortschritts und das ungezähmte Phobotop zwei Seiten derselben Wahrnehmung sind, von denen die eine um die Aufhebung des Naturraums Moor bemüht ist und die andere den lustvollen Schauder kultiviert, der auch ohne reales Pendant wirksam bleibt.
2 Moore und Sümpfe als semantische Räume Zu Beginn sei den literarischen Feuchtgebieten ein semantisch und lexikographisch sicherer Grund bereitet. Für das 16. und 17. Jahrhundert ist es noch vergleichsweise schwer, Moor oder Sumpf als literarische Räume ausfindig zu machen, doch tradieren gerade wissensvermittelnde Texte verschiedene Begriffe, um Feuchtgebiete zu beschreiben. Der Blick in das Frühneuhochdeutsche Wörterbuch zeigt, dass das ‚mur‘ bedeutungsverwandt ist mit Dreck, Kot, Unflat, Schlamm und Schleim (FWb 2019, 3005, mur). Ähnlicher Bedeutung ist ‚mos‘, das eine „wasserreiche Aue, Flußniederung; Wiese, Matte“ bezeichnet und Landschaften meint, die „von der für Mensch und Vieh potenziell bewegungsund bewirtschaftungsfeindlichen Sumpflandschaft bis hin zur grasreichen, fruchtbaren Wiese, Weide, Matte, seltener auch zum Wald“ reichen (FWb 2019, 2877, mos). Ein weiteres Synonym ist ‚mot‘, das zum einen „Schmutz, Schlamm, Morast, Dreck, Feuchtigkeit, in der man zu versinken droht“ bezeichnet, jedoch auch auf Gegenstände und Personen bezogen werden kann und hier etwa „Niederträchtigkeit“ meint (FWb 2019, 2888, mot). Auch das ‚mur‘ dient zu Wortbildungen wie „murecht, murente, murig“ mit der Bedeutung „unrecht, in Sünden verstrickt“ (FWb 2019, 3006, mur). Hier besitzt es eine Nähe zum „pful“ – Pfütze oder Wasserloch – der als „Sündenpful“ den frühneuzeitlichen Autoren als Beschreibung einer gottvergessenen Gegenwart diente (FWb 2011, 277f., pful). Das Moor hat also bereits in der frühen Neuzeit eine moralische Dimension, die sich aus der Beschmutzung ableitet.
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Zedlers Universal-Lexikon legt beredtes Zeugnis über die Ökonomisierung der Moorlandschaften im 18. Jahrhundert ab und verweist unter dem Lemma „Mor“ zunächst auf die Nähe zum „Meer“ (Zedler, Bd. 21, Sp. 1448, Mor), erst im zweiten Schritt wird das Wort „Mor“ erklärt: „Bei denen am Belt hin wohnenden Völckern eine gewisse Art von dunckelbrauner oder schwärtzlichter Erde, deren man sich die Tücher zu färben bedienet, ingleichen schwartze Torff-Erde“ meint. Ergiebiger ist das Lemma „Morast“: [E]in niedriges, mit faulem und stillstehendem Wasser bedecktes oder untermengtes Land welches, weil das Wasser keinen Fall zum Ablauffen hat, zum Anbau allerdings untauglich ist. […] Dergleichen Moräste auszutrocknen, und das Wasser daraus abzuführen, ist zwar eine kostbare und mühsame, doch überaus nützliche Arbeit, die alle darauf gewandte Mühe u. Unkosten reichlich wieder erstattet. (Zedler, Bd. 21, Sp. 1550, Morast)
Es folgen umfangreiche Ausführungen zu den unterschiedlichen Möglichkeiten der Moor-Entwässerung und zu den Tücken moorigen Untergrunds beim Festungsbau. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts gehört die Nutzbarmachung des Moores folglich zum Horizont allgemeinen Wissens. Das Digitale Wörterbuch der deutschen Sprache gibt Auskunft über das gegenwärtige semantische Feld und führt als Synonyme für Moor: „Bruch“, „Feuchtgebiet“, „Moorland“, „Morast“ und „Sumpf“. Typische Verbindungen sind zum einen Landschaften wie die „Geest“, die „Feuchtwiese“, die „Heide“ und die „Tundra“ mit pflanzlichem Bewuchs wie dem „Heidekraut“, der „Birke“, der „Latschenkiefer“ oder dem „Trockenrasen“. Weitere Begriffe im semantischen Feld stammen aus dem Bereich der Ökonomisierung des Moors wie „trockenlegen“, „entwässern“, „Kultivierung“ und „Urbarmachung“, der „Torfstecher“, aber auch „renaturieren“. Ein dritter, kleinerer Bereich weist in die Wellness-Industrie, so die „Sole“, das „Thermalwasser“ oder der „Fango“ (DWDS, Moor, das). Der „Sumpf“ hat weiterreichende Bedeutungen, wenn er neben dem Naturraum auch ökonomische und politisch dubiose Verhältnisse beschreibt und mitunter ein Synonym zur „Kungelei“, „Günstlingswirtschaft“, „Filz“ und „Nepotismus“ bildet. Stärker als das Moor verweist der Sumpf auf südliche Feuchtgebiete, so finden sich unter den typischen Verbindungen der „Dschungel“, der „Urwald“ und die „Lagune“ (DWDS, Sumpf, der). Wenn man einen Sumpf trockenlegt, so kann man das auch im übertragenen Sinne als Korruptionsbekämpfung meinen und der „braune Sumpf“ hat wiederum eine politische Dimension. Anthony Wilsons semantische Bestimmung der Sümpfe „as apt metaphors for a civilization in moral and cultural decay“ (Wilson 2006, 22), bestätigt sich folglich auch im Deutschen.
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Die historisch über Jahrhunderte nachvollziehbare weitestgehend synonyme Verwendung von Moor, Morast und Sumpf zeigt an, dass eine Differenzierung verschiedener hydrogenetischer Typen jenseits von Expertendiskursen kaum stattgefunden hat. Die historische Erschließung des Moores geht daher nicht alleine in einer Begriffs˗, Ideen˗, Wissens˗ oder Technikgeschichte auf. Stattdessen bedarf es einer Rekonstruktion der historischen Semantik des Moores, die die „Veränderungen sowohl im regelhaften Gebrauch sprachlicher (und anderer) Zeichen als auch in der Beziehung dieser Zeichen zu kognitiven Korrelaten (Begriffen) als auch in der Referenz dieser auf außersprachliche Sachverhalte“ (Steinmetz 2008, 183) in den Blick nimmt. Zugleich bedarf es einer Analyse der Formen, mit und in denen diese Veränderungen vollzogen werden, also auch jener Medien und Gattungen, die nicht-literarische Schreibweisen miteinbeziehen. Die literarische Kommunikation ist nämlich stets nur ein Teil des Sprechens über das Moor, ein wirkmächtiger zwar, was die kulturelle Imagination betrifft, aber nicht derjenige, der die physischen Zugriffe auf reale Moore anregt und ausführt. Die Literatur ist durch die Pflege topischer Bilder und Vorstellungen wirksam, entscheidender für die realexistierenden Moore sind hingegen jene Schriften, die politische Entscheidungen und agrarreformerische Programme kommunizieren und an die sich konkrete praktische Maßnahmen anschließen. Die Moorkolonisierung ist zugleich in erheblichem Maße durch kulturelle Vorstellungen vom Moor geprägt, so dass es naheliegt, diesen wechselseitigen Prozess als produktives, kulturpoetisches Wirken zu begreifen.
3 Kulturpoetik: Ressource, Phobotop, Reservoir Stephen Greenblatt hat unter dem Begriff Kulturpoetik (poetics of culture) einen Ansatz beschrieben, der danach fragt, wie Objekte, ihre sprachlichen Realisationen und kulturelle Praktiken zusammenwirken (müssen), um zu einer „zwingenden Kraft“ (compelling force) werden zu können (Greenblatt 1988, 5). Kollektive Träume und Ängste, Begehrnisse und religiöse Ehrfurcht gehören neben anderen zu den allgemeinen Parametern, die in vielen kulturpoetischen Prozessen wirksam sind, ohne dass diese allerdings nach ähnlichen Schemata verlaufen müssen. Dies bedeutet für eine Kulturpoetik des Moores konkret, dass die „Zirkulation sozialer Energien“ (Greenblatt 1988, 19) – in literarischen wie pragmatischen Schriften, in der Erforschung sowie in den Erschließungsversuchen der Feuchtgebiete und der dabei aufgewendeten physischen Arbeit – sich in den jeweiligen Prozessen unterschiedlich manifestiert und deshalb am kon-
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kreten Artefakt spezifisch erörtert werden muss. Nach unserer Auffassung bilden Ressource, Phobotop und Reservoir eine heuristische Trias, mit der wir einerseits einen Versuch zur Systematisierung dessen unternehmen, wie über Moore gedacht und geschrieben wurde und wird, die andererseits den praktischen Umgang mit realen Mooren bis heute beeinflusst. Unter dem Begriff der Ressource fassen wir eine dem Anthropozän zuzurechnende Wahrnehmung des Naturraums als Rohstoff, der dem Menschen zur Verfügung steht und seinen Wert allein durch seine Nützlichkeit gewinnt. Im Zuge der ökonomisch und politisch motivierten Bodenmelioration wird bislang unnutzbares Land in eine solche Ressource verwandelt. David Blackbourn hat in Die Eroberung der Natur vor allem anhand der Moorkolonisierung des 18. und 19. Jahrhunderts nachgezeichnet, wie das vormals unzugängliche und als „nutzlos“ begriffene Land durch Entwässerung und Siedlungswesen in eine Ressource verwandelt wurde. In diesen Bestrebungen, sich die Natur „Untertan“ zu machen, erscheint die Moorkolonisierung als zentraler Baustein in einer Geschichte des Anthropozäns, die den Menschen nach nunmehr zweihundert Jahren transformativer Zugriffe auf verschiedene Ökosysteme als erdgeschichtliche Macht hervortreten lässt. Parallel zu diesen ökonomisch und politisch motivierten Zugriffen wird der Imaginationsraum Moor zu einer Ressource des Dichtens und Erzählens entwickelt, die in den hier versammelten Beiträgen erschlossen wird. Die literarischen Texte, die ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vermehrt den Raum des Moores als Handlungsort aufnehmen, schildern diesen weder im Sinne des Erhabenheitstopos noch als idyllischen Rückzugsort, wie es für andere Naturräume üblich ist. Stattdessen vereint das literarische Moor vor allem negativ konnotierte Eigenschaften, die affektpoetisch genutzt werden: Es ist in Geräuschen und Gerüchen unerfreulich, es birgt Krankheiten, Verbrechen und Tod, nicht zuletzt wegen seiner zwielichtigen Bewohner. Es ist damit etwas, das – ausgehend von Foucaults Heterotop – als Phobotop bezeichnet werden kann, ein Ort der Angst.1 Eine der frühesten Quellen für den Topos des Moors als unwirtlicher und bedrohlicher Ort stellt Tacitus’ Germania aus dem ersten nachchristlichen Jahrhundert dar, die die ‚germanische‘ Landschaft in toto als „schaurigen Urwald und düsteren Moorgrund“ („aut silvis horrida aut paludibus foeda“) qualifiziert.2 In palus gehen Sumpf, Fluss, Pfütze und Pfuhl zusam-
|| 1 Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag von Joana van de Löcht im vorliegenden Band. 2 „Terra etsi aliquanto specie differt, in universum tamen aut silvis horrida aut paludibus foeda“. Tac. Germ. 5, 1.
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men; in foeda wiederum sind das Verdunkelte, Verunstaltete und das Widerliche enthalten. Moor und Sumpf hatten über sehr lange Zeit zwei gravierende Argumente gegen sich, die auf kanonische antike Autoren zurückzuführen sind: Sie sind zum einen, wie Tacitus schreibt, schaurige, dunkle und gefährliche Orte, an denen sich alles verbergen kann oder verbirgt, was dem kultivierten Menschen feindlich ist. Das Moor ist vor diesem Hintergrund ein Projektionsraum für Ängste und für Abjektes, das aus dem Bereich der positiv gesetzten Kultur ausgeschlossen werden soll. Zum anderen sind sie, da die frühe Naturkunde nicht zwischen den verschiedenen Feuchtgebietstypen unterscheidet, als Orte konkreter gesundheitlicher Gefahren bekannt: Weit über zwei Jahrtausende ist die hippokratisch˗galenische Milieutheorie wirksam, die stehende Gewässer wie Tümpel, Flussseitenarme oder Sümpfe als „gefährliche Miasmenquellen“ (Bergdolt 2021, 21) einschätzt. Hippokrates (5./4. Jh. v. Chr.) und Galen (2./3. Jh. n. Chr.) sind bis ins frühe 19. Jahrhundert hinein anerkannte Autoritäten der Krankheitstheorie, der Medikamentenherstellung wie auch der praktischen Therapien (vgl. Lepenies 1978, 78–96). Das Moor ist vor diesem Hintergrund nicht zuletzt durch die gewaltige Autorität der antiken Gelehrten – einer der wichtigsten Historiker und Kulturbeobachter, zwei der wirkmächtigsten Mediziner – rein negativ konnotiert. Die kanonischen Autoren bilden ein über viele Jahrhunderte beständiges Archiv, aus dem das Wissen über das Moor immer wieder anlassbezogen aufgerufen wird. Umso leichter haben es daher diejenigen, die mit ausschließlich positiv konnotierten Begriffen der Kulturvierung, Urbarmachung und Melioration antreten, um Prozesse anzuschieben, die als Synekdochen eines allgemeinen Fortschritts ein Gegenbild zum zu kultivierenden Raum bilden. Mit dem Fortschrittsoptimismus der aufklärerischen Projekte wird das dominante Paradigma des düsteren Moores als einem zu fliehenden Orte erweitert. Die Ansätze zur Nutzbarmachung und die damit verbundenen Aufhebungsbestrebungen stellen eine weitreichende kulturpoetische Leistung dar, denn sie erweitern nicht nur die Zugänge zum Moor, sie sind auch unmittelbar für die poetischen Auseinandersetzungen mit Mooren verantwortlich. Im historischen Moment der erfolgreichen Moorkultivierung und umfassender Trockenlegungen wird das Moor – teils erstmals und teils neu – thematisch gefasst. Hierbei zeigt sich die räumliche Struktur des Moors den seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in der Naturschilderung etablierten ästhetischen Konzepte von Landschaft und Erhabenheit avers (Collot, 2015; Atkins 2019, XIX). Für die Literatur um 1900 und besonders für die Strömung des Ästhetizismus sowie der Dekadenzliteratur wird das Moor als Zwischenreich zwischen
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Dies- und Jenseits zum abjekten Faszinationsraum, der besonders in der Lyrik dieser Zeit vielfältig erschlossen wird. In ihm warten Irrlichter auf die Möglichkeit einer Reinkarnation, sitzt der Tod fiedelnd auf einem Stein und streifen Krankheit und Verwesungshauch durch eine unfruchtbare Natur.3 Als Begründung der Unfruchtbarkeit dient der bioklastische Charakter des Moores. Es ist eine im Sediment verdichtete Aggregation abgestorbenen organischen Materials, das im Nährstoffkreislauf mit Wasser, Pflanzen und Tieren, ein Ökotop bildet, aber ohne totes Material nicht entstehen kann. Damit ist ein Moor, das richtige Wissen und die entsprechende Messtechnik die abgestorbene Biomasse zu durchdringen vorausgesetzt, im Raum sichtbare Zeit. Das Reservoir schließlich stellt den beiden vorherigen Begriffen ein positives und auf Zukunft gerichtetes Konzept entgegen, indem das Moor als Speicher- und Rückzugsort konturiert wird. Im Zentrum steht hier zunächst das Sprechen über einen ‚natürlichen‘, das heißt ‚gesunden‘ und sich selbst regulierenden Raum im Kontrast zum aus dem Gleichgewicht gebrachten, defizitären, ‚kranken‘ und nach Möglichkeit wieder zu heilenden Raum. Trockengelegte Moore, die das in ihnen gebundene CO2 emittieren, bilden den Schreckensraum, der den anthropogenen Klimawandel beschleunigt, ist es doch inzwischen weithin geteilter Konsens, dass intakte Moore in der Lage sind, mehr CO2 zu speichern als gesunde Wälder. Weltweit sind 5% aller Emissionen auf degradierte Moore zurückführbar, in der EU sind es 25% der Emissionen bei nur 3% des Flächenanteils (vgl. Politische Ökologie 2022, 26). Moore gelten zudem nicht zuletzt wegen ‚sanfter‘ und nachhaltiger Bewirtschaftungsmöglichkeiten wie der Paludikultur als Hoffnungsträger. Doch für eine erfolgreiche Allianz zwischen Mensch und Moor ist es entscheidend, von der bisher praktizierten Vernutzung auf ein neues „Zusammenspiel“ (Politische Ökologie 2022, 103) umzustellen. Ob dies gelingen wird und wie viele der degradierten Moore wieder in ihren ursprünglichen Zustand versetzt werden, ist noch offen. Denn im Moor offenbart sich auch das gravierende Synchronisierungsproblem, das die Umstellung von einem schnellen, auf Ausbeutung, Abnutzung und Gewinnmaximierung ausgerichteten kapitalistischen Wirtschaften auf weniger invasive Nutzungsformen bedeutet. Im Kampf gegen die Klimakatastrophe und die drastisch schwindende Biodiversität drängt die Zeit und Erfolge
|| 3 Etwa im Gedicht „Am Moor“ in Christian Morgensterns Zyklus „Vom Tagewerk des Todes (1897), in Georg Trakls mehrfach überarbeitetem Gedicht „Am Moor“ (Trakl [1914] 1998, 77–93) oder in Max Dauthendeys symbolistischem Versepos Die schwarze Sonne (1897).
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müssen schnell erzielt werden – Moore aber sind Agglomerationsräume der Langsamkeit.4 Das Moor ist sowohl in der Horizontalen wie in der Vertikalen schwer durchdringbar, in seiner Zeitlichkeit weist es als Produkt einer langsamen Dynamik einen eigenen Chronotopos im Sinne Bachtins aus, der ihn von anderen Bio˗ wie Hydrotopen unterscheidet. Indem das Moor ein eigenes Zeitregime ausbildet, ermöglicht es Zeitreflexionen mit anderen Relationen: Qua Sedimentierung wachsen Moore über Jahrtausende und präsentieren sich demjenigen, der sie zu lesen weiß, als idiosynkratisches Archiv (wie Jan Wagner in den Regentonnenvariationen5) – in den Schichten bilden sich sowohl die planetare Tiefenzeit als auch vergangene kulturgeschichtliche Epochen (Gräber, Moorleichen) ab.6 Die Verschränkung von natürlichem Wachstum und verschiedenen Zeitebenen menschlicher Auseinandersetzung, angefangen mit oberflächlichen und daher folgenlosen Eingriffen zu den stets invasiveren Kultivierungsversuchen, lassen Moorlandschaften als ein „nasses Geschichtsbuch“ (Garbrecht 1985, 178) erscheinen. Der verletzliche bzw. verletzte Naturraum, von dem nicht allein das Schicksal seiner lokalen Flora und Fauna, sondern auch globale Umweltbedingungen abhängen und auf den Menschen wirken, provoziert ein ökokritisches Schreiben, das sich der fragilen Mensch-Naturbeziehung bewusst ist. Während die unberührte, wilde und erhabene Natur Ausgangspunkt für ein Nature Writing im klassischen Sinne ist, wie wir es bei anglo-amerikanischen Autoren wie Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau finden, so öffnet sich das New Nature Writing für Schilderungen einer Natur unter den Voraussetzungen der globalen Umwelt- und Klimakrise (Dürbeck, Kanz 2020, 13f.). Im Moor vermischen sich nicht allein Wasser und Land, der Blick in die Beiträge dieses Bandes zeigt, dass es zugleich eine liminale Sphäre bildet, die Begegnungen und Verbindungen ermöglicht, die den klar geordneten Raum unterlaufen. Bei Feuchtgebieten, für die die Vermischung von Wasser und Land ja konstitutiv ist, handelt es sich um Räume des Dazwischen, die weder-noch und sowohl-als-auch sind – neutrale Zonen, die eindeutige Bestimmungen anhand binärer Kategorien verhindern (Laury-Nuria, Lécole Solnychkine 2014, 14). Die
|| 4 Wie der Beitrag von Hedwig Roderfeld im vorliegenden Band betont, zeitigen Wiedervenässungsmaßnahmen jedoch zum Teil schnelle Erfolge. 5 So im Gedicht „Torf“, in dem es heißt „und immer wieder jene durch ein flöz / getriebenen gänge, das archiv von torf“ (Wagner 2014, 56). 6 Paradoxerweise sind die historisch seltenen Moorleichen deutlich populärer als die biologischen Mechanismen der Moorbildung und ihrer Funktionen.
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Bewohner dieses Zwischenlandes verlieren ihre rein menschliche Gestalt, werden zu „halbamphibischen“ Wesen (Blackbourn 2009, 64) oder gehen elementare Vermischungen mit dem Torf (vgl. Pleschinski 1985, 170) ein. Eine positive Umdeutung dieser Überschreitungen der Grenzen des menschlichen Körpers und einer anthropozentrischen Kultur ist im Zusammenhang mit InterspeziesRelationen (vgl. den Beitrag von Antje Schmidt und Jule Thiemann in diesem Band) festzustellen. Auch alternative, ja sogar deviante Lebens- und Identitätskonzepte werden in diesen, dem direkten Zugriff der Gesellschaft entzogenen Räumen möglich.7 Als Räume des Dazwischen dienen Moore nicht selten als nationale Grenz- und Begegnungsräume, weshalb das Schreiben über das Moor immer wieder zum Aushandlungsort von nationalen Identitäten und deren Brüchigkeit und osmotischer Durchlässigkeit wird. Aber unabhängig davon, welcher disziplinäre Blick eingenommen wird und ob es um den lustvollen Horror, Biodiversität oder Klimapolitik geht, gilt Arthur Conan Doyles Einschätzung gleichermaßen: „Das Moor ist niemals langweilig.“ (Doyle 1987, 77).
4 Zu Struktur und Inhalt des Bandes Die Beiträge des Bandes gehen auf einen digitalen Workshop zurück, der im November 2021 stattfand. Sie folgen einer chronologischen Ordnung. Um die literaturwissenschaftliche Expertise auf einen sicheren Grund zu stellen, führt die Geographin Hedwig Roderfeld in die Entstehung, Nutzung und den Schutz der Moore ein. Hier geht sie nicht allein auf die Entstehung der Moore im Spätglazial und Präboreal und die Erschließung der Moore als landwirtschaftlich nutzbarer Raum seit dem 17. Jahrhundert ein, sondern betont auch die Bedeutung der Moore für den Klimaschutz und den Erhalt der Biodiversität. Um das Ziel des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, stellt der Schutz von Feuchtgebieten und die Wiedervernässung ehemaliger Moore eine zentrale Säule dar. Niels Penke befasst sich in seinem Beitrag mit den Anfängen planmäßiger Moorkultivierung im 18. Jahrhundert, durch die die Grundlagen dafür gelegt wurde, dass zweihundert Jahre später nur noch 2% aller Moore torfbildend aktiv || 7 Am radikalsten schildert dies wohl Gunther Geltinger in seinem 2013 erschienen Roman Moor, der die inzestuöse Beziehung zwischen dem verschlossenen Jungen Dion und seiner Mutter schildert. Deviante Sexualität und eine übergriffige Mutternatur wird in diesem Text aus der Sprachbildlichkeit des Moors entwickelt.
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sind. Hierbei bezieht er nicht allein literarische Texte ein, sondern nimmt vor allem kameralistische Schriften in den Blick, in denen die argumentativen Grundlagen für die Melioration geschaffen wurden, und politische Edikte, von denen die praktische Umsetzung ausgegangen ist. Die von ihm aufgearbeiteten Quellen zeigen, wie das topisch als feindlicher Raum inszenierte Moor im Zuge einer durch Aufklärungsmaximen geleiteten Politik entwässert, begradigt und gezähmt werden muss. Philip Kraut unternimmt philologische und wissenschaftsgeschichtliche Sondierungen des Moors in der Altertumskunde des 19. Jahrhunderts. Er untersucht damit ausgehend von Johann Christoph Adelung, Jacob Grimm, Gustav Klemm, Carl Fraas und weiteren Altertumswissenschaftlern die Konstituierungsphase eines wirkmächtigen Moorbildes, das aufbauend auf antiken Autoren versucht, die historischen Umweltbedingungen Germaniens und deren kulturelle Folgen zu erschließen. Dabei rücken neben rechtshistorischen und archäologischen Quellen vor allem auch die loci classici der antiken Autoren in den Blick, aus denen unter anderem durch die Grimms das Bild einer germanischen Kultur entwickelt wird, die nicht unzivilisiert und den Römern gegenüber rückständig war, sondern sich an die Umweltbedingungen anpasste und diese als Grundlage für die Entwicklung einer Hochkultur nutzte. Joana van de Löcht geht von der Beobachtung aus, dass mit der zweiten Schwemme der Moorkolonisierung, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Kanäle in die bislang unberührten Feuchtgebiete treibt und die angeworbenen Siedler der Armut anheimgibt, das Moor als literarischer Raum überhaupt erst großflächig erschlossen und zugleich negativ gezeichnet wird. Es erscheint als Phobotop und memoriale Deponie, „als Reservoir dessen, was von der Gesellschaft vergessen und ausgeschieden werden soll“. Das Moor, als Topos der „nicht mehr schönen Künste“ (Jauß et al. 1968) ist unheimlich, bedrohlich, ein von Krankheit, Armut und Elend gekennzeichneter Ort, der am Beispiel der Lyrik aus der Mitte des 19. Jahrhunderts näher konturiert wird. Dabei untersucht sie neben den „Haidebildern“ der Annette von Droste-Hülshoff, Georg Weerths sozialkritische Dichtung sowie Klaus Groths niederdeutsche Sammlung Quickborn. Erik Martin untersucht mit Michail Prišvins Der Sonnenspeicher (Kladovaja solnca) von 1945 einen dem Kunstmärchen und der Kinder- und Jugendliteratur zuzuschlagenden Text, der jedoch zugleich den Torf- und Energiediskurs im sozialistisch-realistischen Erzählen aufnimmt und deshalb zugleich dem Genre des Produktionsromans zugerechnet werden kann. Die Coming-of-Age-Erzählung konturiert das Moor als Ort der Bewährungsprobe. Der Raum korrespondiert der Phase vor dem Übertritt in gesellschaftlich gefestigte Positionen, der
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am Ende des Märchens vollzogen wird. Als liminaler Raum ist das Moor vom Wunderbaren und vom Uneindeutigen gekennzeichnet, in dem die gewohnten Orientierungsmuster und Ordnungsgaranten ihre Stabilität verlieren. Die Trockenlegung von Sümpfen für die Torfgewinnung – nach Kohle, faktisch der zweitwichtigste Energieträger – spielt eine wichtige ideologische Rolle, zumal Sümpfe als ästhetisch minderwertig gelten und landwirtschaftlich kaum nutzbar sind. Aus dem Initiationsmärchen des Produktionsromans wird damit eine Parabel über die Gefahr der Bevorratung und die Unmöglichkeit einer durch diese gesicherten Existenz. Jonas Meurer geht der Co˗Autorschaft der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger nach, die in ihrem symbiontischen Leben und Schreiben eine Vielzahl an Moordichtungen und -erzählungen verfasst haben. Moorlandschaften erscheinen dabei als „Gegenräume“ (Foucault) und „Zwischenreich“ (F. G. Jünger), die Übergänge zwischen Land und Meer, aber auch zwischen Zivilisation und Wildnis darstellen. Sie fungieren als Inseln inmitten der industrialisierten Welt jenseits staatlicher Ordnungen, die damit für die juvenile Identitätsbildung prädestiniert sind. Dabei birgt das Moor das Potential einer konservativen Schreibweise, die um das Erhalten eines Naturraums und der mit ihm verbundenen Ideale bemüht ist. Das Moor wird hier als „‚anderer‘ und ursprünglicher, nicht deformierter und herrschaftsfreier Raum inszeniert, in dem wenigstens die Idee einer Suspendierung des hegemonialen Zeit- und Geschichtsregimes der technokratischen Moderne aufscheint“. Es ist daher naheliegend in Analogie zum Waldgänger den „Moorgänger“ in verschiedenen Texten der Brüder Jünger zu suchen. Isabel von Holt widmet sich in ihrem Beitrag den Schriften João Guimarães Rosas und den dortigen Schilderungen des Pantanals zwischen Brasilien und Paraguay, das stark vom „Rhythmus des Wassers“ geprägt ist, „eine sich stets wandelnde Landschaft“, die sich einer Systematisierung und der „Produktion von wissenschaftlichem Wissen“ entzieht. In der von Rosa begründeten literarischen Gattung der estória als einer „Gegengeschichte“ werden „von der offiziellen Historiographie übergangene und marginalisierte Personen bzw. Figuren zum Sprechen“ gebracht. Das Pantanal erscheint in kolonialen Narrativen als Paradies und Garten Eden, dem jenes bedrohliche Dunkel fehlt, das die Darstellung europäischer Moore dominiert – eine Vorstellung, die von Rosa in seinen Texten reflektiert und unterlaufen wird. Auch im Hinblick auf Aneignung und Kolonisierung unterscheiden sich die Perspektiven gravierend, da sich dieses Eden etwa dem Erzähler von Ao Pantanal gerade in Zeiten der Überschwemmung offenbart. So verwehren sich die Texte „gegen die im europäischen Dis-
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kurs spätestens seit dem 18. Jahrhundert gängige und ihre Kolonisierung rechtfertigende Darstellung von Sumpfgebieten als öden Wasserwüsten“. Lesley Penné und Arvi Sepp entwickeln mit Blick auf eine weitere regionale, jedoch ganz anders gelagerte Grenzregion eine transkulturelle Poetik, indem sie Familienromane der prominentesten Schriftsteller aus dem deutschsprachigen Belgien analysieren: Bosch in Belgien (2006) von Freddy Derwahl, Unterwegs zu Melusine (2006) von Hannes Anderer und den zweiteiligen Roman Wege aus Sümpfen (2001 und 2006) von Leo Wintgens. In diesen geht es um die Verknüpfung von „kollektiver Identität und kulturellem Gedächtnis in Ostbelgien seit dem Ersten Weltkrieg“, also dem deutschsprachigen Teil Belgiens. Dieser ist bestimmt vom Hohen Venn, das als Grenze und Kontaktzone einen Raum voller Widersprüche und Mehrdeutigkeiten dargestellt, in dem einerseits die Gefahren des Provinzialismus oder Nationalismus lauern, der aber andererseits auch neue Möglichkeiten und Perspektiven birgt. Das Hohe Venn erscheint als ein „grundsätzlich ambivalenter Raum“, der „zwischen locus amoenus und terribilis, zwischen Freiheit und Enge, Kosmopolitismus und Provinzialismus schwankt“. Neben tendenziell negativ codierten Sümpfen finden sich in den untersuchten Romanen auch positive Lesarten der Feucht- und Grenzgebiete als Netz sozialer Beziehungen, die ein Zugehörigkeitsgefühl ermöglichen, das nicht lokal begrenzt ist, sondern transnational wird. Antje Schmidt und Jule Thiemann gehen der „Moorphilosophie“ Sarah Kirschs besonders im Band Allerlei˗Rauh nach. Das realweltliche, historisch situierte Moor bei Thielenhemme ist innerhalb der autobiographischen Erzählung immer wieder geographischer und allegorischer Bezugspunkt der Erzählerin. Zwar wird der historische Topos des Moors als Ort der Einsamkeit, Todesnähe und Melancholie von Kirsch aufgenommen, aber er steht zugleich im Kontext einer sorgenden und auf Bewahrung ausgerichteten Mensch-Natur-Beziehung. Das Moor erscheint hier als Ort, der „Symbiosen des Miteinanderlebens“ von menschlichen und nicht˗menschlichen Wesen impliziert und gewährleistet, wobei Schmidt und Thielmann für Kirschs Moorschilderung die Idee einer an Donna Haraway angelehnten artenübergreifenden Fürsorge anführen. Annika Hammer und Friederike Reents untersuchen die Moore der Gegenwartsliteratur und nehmen sie anhand von Karen Duve, Thomas Kling und Marcel Beyer in den Blick, wobei sie vor allem das „Ineinander“ der „horizontal“ wie „vertikal“ zu vermessenden (geschichtlich) kontaminierten Speicher betonen, die für eine geschichts- wie ökokritische Poetik furchtbar gemacht werden können. Während das Szenario von Duves Regenroman Anleihen beim Schauerroman sucht und das Moor auf die „Zersetzung“ der Figuren abzielt, die es als „Unheimliches“ erfahren, wagt Thomas Kling „Tiefenbohrungen“ und
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„Suchbewegungen“ im Moor wie in der Sprache. Neben der allgemeinen „Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit spracharchäologischer Arbeit“ geht es am Beispiel von Moorleichen um Spuren vergangener Untaten und die „Funktion des Erhaltens und Erinnerns“. Mit Marcel Beyers Dämonenräumdienst (2020) geht es weniger um Spracharchäologie als um die kritische „Tiefenforschung in (ost-)europäischer Geschichte“. Anstelle der kollektiven „Sondage“ steht bei Beyer eine vermittelnde Seelenerforschung im Zentrum, wenn das Tiefmoor als „Bewusstseinsbunker“ im individuellen und kollektiven Unbewussten konturiert wird. Laura Ganzmann geht dem intertextuellen Verhältnis zwischen Annette von Droste-Hülshoffs „Der Knabe im Moor“ und dem der KJL zuzurechnenden Roman Die Moorgeister (1986) von Angela Sommer-Bodenburg nach. Sie zeigt einerseits, wie Drostes Gedicht als Prätext genutzt wird, jedoch die Landschaftsgestaltung und die narrative Gliederung des Moores sich andererseits in der Prosafassung deutlich von seiner Vorlage entfernt. Auch die Geister werden nicht als gefährliche Phantome, sondern als „in die Natur eingebettete“ Wesenheiten gezeichnet, die sich vor allem den Kindern offenbaren. Sowohl für den Protagonisten in Sommer-Bodenburgs Roman als auch für den Knaben in Drostes Gedicht wird das Betreten des Moors zu Bewährungsprobe, wobei die existentielle Erfahrung im Kinderroman entschärft wird. Laura M. Reilings Beitrag widmet sich der Achtsamkeit für (kleine) Dinge, die uns unmittelbar umgeben, und stellt das Moos ins Zentrum, an dessen ästhetischen Modifikationen das Verhältnis von Mensch und Umwelt neu befragt werden kann. Dafür zieht sie Marion Poschmanns Gedicht „Moosgarten, ein Ready-made“ sowie Klaus Modicks Novelle Moos (1984, 2021 neu aufgelegt) heran, um die Verschiebung von anthropozentrischen hin zu biozentrischen Wahrnehmungen und „vegetabilischer Handlungsmacht“ sichtbar zu machen. Es handelt sich hierbei um Texte, die eine Figuration vegetabilischer Handlungsmacht zwar andeuten, diese aber zugleich durch eine eigene poetische Taxonomie, Sprachspiele, wissenschaftliches Figurenpersonal und menschliche Sprechinstanz unterminieren. Nicht zufällig rahmen Poschmann und Modick ihre Moos-Texte poetologisch und reflektieren damit selbst den AntiAuthentizitätsgestus, denn nicht das Moos selbst wird dargestellt, sondern eine artifizielle Konstruktion, die ihre Künstlichkeit wiederum selbst betont, indem poetologische und schreibästhetische Perspektiven entwickelt werden. Emanuela Ferragamo geht unter „Morbus Moor“ der Landschaftskonfiguration als Erinnerungsraum in Christoph Ransmayrs Roman Morbus Kitahara (1995) nach. Dystopische Alternativweltgeschichte, Weltkrieg und Nationalsozialismus als Trauma werden ewig konserviert in einem Ort „Moor“, der ohne
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historischen Ablauf ist und in dem die Vergangenheit ein ruinöses Sediment bildet. In Ihrem Beitrag baut Ferragamo zentral auf die Raumkonzepte von Deleuze und Guattari auf und zeigt, wie Orte und Körper als „metaphorische Speichermittel des kollektiven Gedächtnisses“ fungieren. Mit Nicholas Mirzoeffs Konzept der bodyscape argumentiert sie, dass das Versinken, aber nicht Vergehen können für ein multidirektionales Erinnern konstitutiv ist, das auf verschiedenen Ebenen Erinnerungen konservieren und zueinander ins Verhältnis setzen kann, auch wenn dies auf Ebene der Diegese und ihrer verheerten Nachkriegswelt nicht gelingen kann.
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Hedwig Roderfeld
Moore: Über ihre Entstehung, ihre Nutzung und ihren Schutz Zusammenfassung: Die Entwicklung der Moore begann nach der letzten Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren. Sie bedecken 3% der globalen Landfläche und speichern 20–30 % der Kohlenstoffvorräte aller Böden. Wasserstände nahe der Bodenoberfläche ermöglichen speziell angepassten Pflanzen das Wachstum. Abgestorbenes Pflanzenmaterial kann unter Sauerstoffausschluss nur unzureichend zersetzt werden und reichert sich als Torf, und damit als Kohlenstoff, über Jahrtausende an. Seit dem 19. Jahrhundert wurden Moore zunehmend für die Nutzung entwässert und so von einer Kohlenstoffsenke zur Kohlenstoffquelle. Heute sind entwässerte Moore für etwa 5 % der weltweit verursachten Treibhausgase verantwortlich. Seit den 1980er Jahren wurden Moore in erster Linie aus Gründen des Artenschutzes wiedervernässt. Unter dem Eindruck der spürbaren Folgen des Klimawandels ist ihr Wert als natürlicher Kohlenstoffspeicher weltweit in den Fokus gerückt.
1 Entstehung Die Entwicklung der Moore begann zeitlich im Spätglazial und Präboreal, also nach der letzten Eiszeit vor etwa 12.000 Jahren, geographisch in humiden Landschaften, in denen Wasserüberschuss herrscht, weil die Niederschlagsmenge die Menge an Versickerung und Verdunstung überschreitet. Es waren die Toteisseen und die Schmelzwasserrinnen der Moränenlandschaften, in denen Moore sich in erster Linie entwickelten. In einem ersten Schritt entstanden subhydrische Böden, eine Bodenentwicklung unterhalb des Wasserspiegels. Im Boreal, vor circa 10.500 Jahren, wurde es zunehmend wärmer und ein vermehrtes Vegetationswachstum setzte ein, was zur Verlandung von Seen führte (Abb. 1). Diese wuchsen sowohl vom Grund als auch von den Rändern her zu. Die abgestorbene Vegetation, die in erster Linie aus Rohrkolben, Seggen (Sauergräser) und Schilf bestand, reicherte sich als unzureichend zersetzte organische Substanz an. Darauf siedelten sich später im Atlantikum, vor rund 9.500 Jahren, Erlen und Weiden an, die ebenfalls wegen des Wasserüberschusses und des damit einhergehenden Sauerstoffmangels nicht vollständig zersetzt wurden. Durch die fortlaufende Anreicherung organischer Substanz in Verbindung mit geeigneten hydrologischen und topographischen Bedingungen wuchs die Bodenoberfläche und erhob sich damit langsam über das Niveau des Wasserspiegels. So verloren die Pflanzen https://doi.org/10.1515/9783110786743-002
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ihre Verbindung zum Grundwasser und waren ausschließlich auf das Regenwasser angewiesen.
Abb. 1: Typischer Schichtaufbau eines Moores (verändert nach: Overbeck 1975).
Während der pH-Wert von Grundwasser sich im eher neutralen Bereich bewegt, weist Regenwasser ein saures Milieu auf und zeichnet sich im Gegensatz zu Grundwasser durch extreme Nährstoffarmut aus. Ab dem Subboreal vor circa 5.500 Jahren siedelten sich ausschließlich speziell an das saure Milieu angepasste Arten, besonders Torfmoose, durchsetzt mit wenigen spezialisierten Gefäßpflanzen, wie Heidekrautgewächsen, fleischfressenden Pflanzen, Wollgräsern und Seggen an. Die Klimabedingungen zu jener Zeit verursachten Zersetzungsprozesse, die wegen des weiterhin herrschenden Wasserüberschusses unvollständig waren und zur Bildung des vergleichsweise stark zersetzten, sogenannten Schwarztorfs führten. Mit dem Subatlantikum vor 2.500 Jahren wurde das Klima wieder kühler und die Vegetation unterlag einer weniger starken Zersetzung und bildete den sogenannten Weißtorf aus. Torfmoose sind die Haupttorfbildner, deren Wachstum sich an den Wasserspiegel anpasst, den sie selbst durch ihre extreme Wasserspeicherfähigkeit immer wieder erhöhen. Durch das zunehmende Gewicht werden die unvollständig zersetzten Pflanzen im Untergrund komprimiert und unter Wasserabschluss konserviert – es entsteht Torf (Abb. 2).
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Abb. 2: a) Schematische Darstellung der Torfbildung durch Torfmoose und Gefäßpflanzen (verändert nach Grosse-Brauckmann, 1990), b) Torfmoos.
So bildeten sich im Laufe der Jahrhunderte mehrere Meter mächtige Torfschichten, mit einem durchschnittlichen Wachstum von einem Millimeter pro Jahr. Das saure Milieu und die Sauerstoffarmut führten dazu, dass die Baumwurzeln (Stubben) aus dem frühen Stadium des Moorwachstums nach Jahrtausenden immer noch erhalten sind, wenn der Torfabbau sie zutage fördert (Abb. 3). Die gleiche konservierende Wirkung demonstriert auch ein Zaunpfahl, der nach rund 50 Jahren aus einem für den bäuerlichen Torfstich in Finnland entwässerten Moor gezogen wurde (Abb. 4). Erst bei einer Torfmächtigkeit von mindestens 30 cm handelt es sich definitionsgemäß um ein Moor, wobei der Torf aus mindestens 30 % organischer Substanz besteht. Die Untergliederung in Nieder- und Hochmoore erfolgt aufgrund der Wasserversorgung aus nährstoffenthaltendem Grund- bzw. nährstoffarmem Niederschlagswasser und daran angepassten unterschiedlichen Pflanzengesellschaften. Auch optisch lässt sich das Hochmoor mit seinem niedrigen Bewuchs von dem oft baumbestandenen Niedermoor unterscheiden.
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Abb. 3: Wiedervernässtes Moor mit gesammelten, beim Torfabbau ausgegrabenen Baumwurzeln (Stubben) aus dem Atlantikum (Foto: H. Roderfeld).
2 Geographische Verbreitung Moore gibt es in fast allen Teilen der Welt. Sie bedecken 3 % der globalen Landfläche und speichern 30 % der Kohlenstoffvorräte aller Böden (Abb. 5). In Europa ist eine Fläche von rund 60 Millionen Hektar (ha) von Mooren geprägt, was einem Anteil von 5,4 % der gesamten Landfläche entspricht. Nur noch die Hälfte der ursprünglichen Moore sind als lebende Moore zu bezeichnen. In Deutschland waren ursprünglich rund 1,5 Millionen ha von Mooren bedeckt, von denen 95 % für land-, forst- und torfwirtschaftliche Nutzung entwässert wurden. Nur noch etwa 2 % der deutschen Moore sind torfbildend, während der prozentuale Anteil lebender Moore in den nordischen Ländern, Irland und dem europäischen Teil Russlands zwischen 40 und 80 % der Moorflächen liegt (Tab. 1).
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Tab. 1: Moorflächen in Gesamt-Europa und den moorreichsten Staaten (Tanneberger et al. 2017, 5–7).
Europa
Deutschl.
Finnland Schweden Irland
Russland (europ.)
Gesamtfläche (ha)
1,1 Mrd.
35,7 Mio.
33,7 Mio.
45 Mio.
7 Mio.
400 Mio.
Moorfläche (ha)
ca. 60 Mio.
1,5 Mio.
9 Mio.
6,7 Mio.
1,5 Mio. 24–68 Mio.
Landesfläche (%)
5,4
14,8
4,2
27
Torfbildende Moore 32 Mio. (ha)
25.000
3,5 Mio. 5,2 Mio.
270.000 15 Mio.
Torfbildende Moore 54 (% der Moorfläche)
2
39
18
79
21
6–17
65–75
3 Die Moornutzung durch den Menschen Die europäischen Moore weisen eine lange Nutzungsgeschichte durch den Menschen auf. Vor 4000 Jahren wurde Torf als Brenntorf zur Bronzeherstellung und später als Heizmaterial abgebaut, vor 800 Jahren wurden die ersten Niedermoore systematisch durch Mönche kultiviert. Mit zunehmender Besiedlung in Holland und Norddeutschland wurde Holz immer knapper und Torf als Brennstoff wichtiger. Das Groninger Fehn-Edikt von 1425 regelte und förderte den Torfabbau in Holland, allerdings auch mit dem Ziel der Gewinnung nutzbarer landwirtschaftlicher Flächen. In Norddeutschland wurden zur Brenntorfgewinnung die Moore damals noch von den Rändern her planlos abgegraben. Das änderte sich erst mit dem Moorkommissar Jürgen Christian von Findorff (1720–1793), der im 80.000 ha großen Teufelsmoor bei Bremen die Erschließung und Besiedlung systematisch vorantrieb. Es wurde planmäßig entwässert, Dorfanlagen (Kolonien) systematisch angelegt und die sogenannten Anbauerstellen in einer Größe von 24 bis 50 Morgen (entspricht 5–10 ha) ausgewiesen (Konukiewitz, Weiser 2013). Wegen der geringen Erträge der nährstoffarmen Moorflächen waren die Familien zur Sicherung ihres Lebensunterhalts auf zusätzlichen Torfverkauf angewiesen. Mit dem Urbarmachungsedikt des preußischen Königs Friedrich II. von 1765 zur Kolonisation des Königreichs Preußens begann auch dort eine geordnete, großflächige Moornutzung. Noch nicht urbar gemachte Moorflächen gingen in das Eigentum des Staates über und wurden kolonisiert.
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Abb. 4: Circa 50 Jahre lang konservierter Zaunpfahl, Klaukkala Isosuo, Finnland (Foto: H. Roderfeld).
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Abb. 5: Globale Verteilung der Moorflächen (Lappalainen 1996).
Es war eine qualvolle Arbeit, die die Moorkolonisten auf den ihnen zugewiesenen Moorflächen verrichteten. Aus jener Zeit stammt der Spruch: „Den ersten sin Tod, den tweeden sin Not, den dritten sin Brot“ [Dem Ersten sein Tod, dem Zweiten seine Not, dem Dritten sein Brot]. Da die Landnutzung den Lebensunterhalt nicht sichern konnte, mussten die Bauern zusätzlich Torf als Brennmaterial abbauen und verkaufen. Bewirtschaftet wurden die Moore durch die sogenannte Moorbrandkultur. Dazu wurde das Moor oberflächlich entwässert, damit die obere verheidete Torfschicht in Brand gesetzt werden konnte. Die noch warme Asche, also der mineralisierte Torf, diente als Saatbett für Buchweizen (Richard 1990). Von Nachteil war einerseits, dass die mineralischen Reserven des Bodens nach sieben bis zehn Jahren aufgebraucht waren, und andererseits wurden die brennenden Moore je nach Wetterlage zu einem öffentlichen Ärgernis. Die daraufhin gegründeten Vereine gegen das Moorbrennen bewirkten 1877 die Gründung der Preußisch-Staatlichen Moorversuchsstation in Bremen, die ihrerseits die landwirtschaftliche Moornutzung ohne vorheriges Brennen wissenschaftlich erforschte. Das Brennen wurde dennoch erst in den 1920er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Deutschland gesetzlich verboten. Mit den agrikulturchemischen Erkenntnissen von Justus von Liebig zur Mineraldüngung konnte die Moorbrandkultur zunächst durch die Deutsche Hochmoorkultur ersetzt werden. Später ermöglichte das Haber-Bosch-Verfahren die großtechnische Herstellung von Ammoniak durch Synthese aus atmosphärischem Stick-
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stoff und Wasserstoff. Dadurch war preisgünstiger Kunstdünger in großen Mengen verfügbar und weitere Kultivierungstechniken wie Hochmoorbesandung, Deutsche Sandmischkultur, Baggerkuhlung, Niedermoorschwarzkultur, Tiefpflugsanddeckkultur und Sanddeckkultur im Niedermoor wurden angewandt und ergänzten die Deutsche Hochmoorkultur (Göttlich, Kuntze 1990). Neben der großflächigen landwirtschaftlichen Nutzung von Nieder- und Hochmooren in Mitteleuropa und der forstwirtschaftlichen Nutzung in Nordeuropa spielte und spielt der Torfabbau als Energieträger sowie zur Bodenverbesserung eine bedeutsame Rolle in fast allen torfreichen Ländern. In Europa sind es neben Deutschland in erster Linie Schweden, Finnland und Irland, die trotz der Bedeutung der Moore für Biodiversität und Klimaschutz auch heute noch Torf abbauen – mit dem Ergebnis weitgehend vegetationsfreier Flächen (Abb. 6). Voraussetzung für jegliche Nutzung ist die Entwässerung der Moorflächen. Dadurch werden die oberen Torfschichten belüftet und die mikrobiellen Abbauprozesse setzen ein. Es kommt zur Vererdung des Oberbodens, zur Verdichtung, Sackung, Schrumpfung, Erosion und damit zu kontinuierlichen Höhenverlusten von 0,5 bis 10 cm jährlich (Eggelsmann 1978, Stephens et al. 1984). Dadurch werden große Mengen des über Jahrhunderte im Torfkörper gespeicherten Kohlenstoffs als Treibhausgas emittiert. Zudem gelangen Nährstoffe in die angrenzenden Gewässer.
Abb. 6: Im Frästorfverfahren abgebautes Feld in Norddeutschland (aus: „Unser Torf: Klimakiller aus dem Moor“. NDR Film 2018, Minute 03:21).
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4 Umweltfaktor Moor und sein Schutz Obwohl der Botaniker Carl Albert Weber schon 1901 den Wert der Moore erkannte und Maßnahmen zu ihrem Schutz gefordert hatte, gewann der Moorschutz erst ab den 1980er Jahren an Bedeutung. Niedersachsen war 1981 das erste Bundesland mit einem Moorschutzprogramm (Niedersächsisches Ministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten 1981), gefolgt von Programmen weiterer torfreicher Bundesländer (Abel et al. 2019). Mit zunehmender Wahrnehmung der Moore als natürliche Kohlenstoffspeicher steigt ihr Wert vor dem Hintergrund des Klimaschutzes, denn weltweit speichern Moore auf 3 % der Landfläche 450 Gigatonnen (Gt) Kohlenstoff (Joosten 2009). Dieser Anteil entspricht einem Fünftel des bodengebundenen Kohlenstoffs, was die in den Wäldern der Erde gespeicherte Kohlenstoffmenge übersteigt (335–365 Gt). Moore sind der größte langfristige Kohlenstoffspeicher der terrestrischen Biosphäre und damit eines der wichtigsten Reservoire der Erde (Joosten et al. 2016b).
Abb. 7: Hochmoor im Nationalpark Valkmusa, Finland (Foto: H. Roderfeld).
Im nicht entwässerten Zustand (Abb. 7) speichern Moore Kohlenstoff und wirken damit klimaregulierend; sie sind ein Lebensraum für seltene Arten und tragen so zur Biodiversität bei; sie speichern Wasser und wirken damit als Niederschlagspuffer und sie dienen als wichtiges Archiv der Klima- und Kulturgeschichte. Zudem besitzt die außergewöhnliche Landschaft mit ihrer großen
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biologischen Vielfalt einen Erholungswert. Mengenmäßig nicht relevant, dennoch erwähnenswert, ist die Nutzung von Torf als Ausgangsstoff für therapeutische Anwendungen. Diese Ökosystemdienstleistungen können entwässerte Moore nicht mehr erfüllen: Es geht die Eigenschaft der Kohlenstoffakkumulation verloren und das Moor wird zur Kohlenstoffquelle. Weltweit sind 50 Millionen ha, also 10 bis 15 % der gegenwärtigen Moorfläche für Landwirtschaft, Torfabbau und Forstwirtschaft entwässert. Sie sind für 5 % der anthropogen verursachten CO2-Emissionen verantwortlich (Joosten et al. 2016b) (Tab. 2). Dazu tragen seit 1990 in immer stärkerem Ausmaß tropische Moore bei. Sie bedecken eine Fläche von etwa 50 Millionen ha und weisen ein Kohlenstoffreservoir in Höhe von circa 85 Gt auf (Page et al. 2011). Die größten Vorkommen sind in Südostasien zu finden. Allerdings werden dort Moore seit rund 30 Jahren für die Anlage von Ölpalm- und Industrieholzplantagen sowie für die Landwirtschaft entwässert (Miettinen et al. 2017) und tragen mit einem Anteil von 58 % (Rieley et al. 2008) erheblich zu den weltweiten CO2-Emissionen aus Mooren bei. Um dem entgegenzuwirken, werden klimaschonende Managementstrategien für tropische Regionen entwickelt (Mishra et al. 2021). Tab. 2: Globale Treibhausgasemissionen genutzter Moore.
Moorfläche
Moore weltweit
Entwässert und Kohlenstoffgenutzt speicherung in Mooren
400 Mio ha ≙ 50 Mio ha 3 % der globa- ≙ 10-15 % der len Landfläche Moorflächen
Treibhausgasemissionen entwässerter Moore
450 Gt 5 % der anthropogen ≙ 20 % des gesam- weltweit verursachten ten Kohlenstoffs in Treibhausgase Böden
Das 2015 von allen Staaten der Erde unterzeichnete Pariser Klimaschutzabkommen fordert Kohlenstoffneutralität bis spätestens 2050. Der globale Temperaturanstieg muss auf möglichst 1,5 °C gegenüber dem vorindustriellen Niveau begrenzt werden. Zur Erreichung des Ziels könnten Moore entscheidend beitragen, wenn alle noch intakten Moore geschützt und alle genutzten Moore zügig wiedervernässt würden (Leifeld et al. 2019). In Deutschland sind Moore für 5,7 % der gesamten CO2-Emissionen verantwortlich. Zur Reduzierung müsste in Deutschland jährlich auf einer Fläche von 50.000 ha trockengelegter Moorflächen der Wasserstand moortypisch angehoben werden. Zum Vergleich: Bislang sind seit 1980 70.000 ha wiedervernässt worden (Abel et al. 2019). Die Wieder-
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vernässung abgetorfter Flächen diente in Deutschland in den 1980er Jahren zunächst dem Naturschutz. Geeignete hydrologische Bedingungen wurden geschaffen, um moortypischer Vegetation die Wiederansiedlung zu ermöglichen und damit zur Biodiversität beizutragen. Mittlerweile ist es aber nicht nur die Artenvielfalt, sondern auch der Klimaschutz, der den Erhalt und die Wiederherstellung der Moore erfordert. Dazu ist die großflächige Anhebung des Wasserstandes auf nicht mehr genutzten Moorflächen nötig. Dies geschieht, indem die Entwässerungsgräben verschlossen und Verwallungen angelegt werden. Damit kann zunächst eine weitere Zersetzung des Torfes gestoppt werden, was zur Reduktion von CO2-Emissionen führt. Um aber Kohlenstoff zusätzlich aufzunehmen und zu speichern, ist das Aufwachsen moortypischer Vegetation notwendig. In Norddeutschland wird dieser angestrebte naturnahe Zustand auch oft nach Jahrzehnten nicht erreicht. Ursächlich dafür sind mitunter schwer zu regulierende Wasserstände, die Nährstoffgehalte im Boden vormals landwirtschaftlich genutzter Moore, Einträge aus der Atmosphäre und die klimatischen Bedingungen (Raabe et al. 2018). Studien zeigen, dass wiedervernässte Standorte Kohlenstoffsenken sein können, sie sich aber in der Regel nicht wieder zum ursprünglichen Ökosystem regenerieren lassen (Rieley et al. 2008). Die kalt-gemäßigte boreale Klimazone dagegen ist hinsichtlich der Moorregeneration begünstigt. Bei stabil hohen Wasserständen, einer ausreichenden Resttorfmächtigkeit, einem moortypischen Samen- und Sporenreservoir sowie günstigen physikalischen und chemischen Bedingungen konnte in Südfinnland schon nach fünf Jahrzehnten, auf vormals abgetorften Flächen eine Regenerationsschicht von 5 und 56 cm erreicht werden. Die durchschnittliche Kohlenstoffspeicherung betrug hier jährlich 82 g/m2 (Vasander, Roderfeld 1996). Ergänzend zur Regeneration ist die Nachnutzung der Moore durch die an der Universität Greifswald entwickelte Paludikultur eine vielversprechende Methode zur Reduzierung von Treibhausgasen aus Mooren. Es handelt sich um einen Paradigmenwechsel: von der landwirtschaftlichen Produktion auf trockengelegten Mooren zur landwirtschaftlichen Produktion auf torfkonservierenden nassen Standorten (Nordt et al. 2022). Produziert werden angepasste Arten: Torfmoose als Ersatzsubstrat für den Gartenbau; Schilf und Rohrkolben als Dämmmaterial; Schilf für Reetdächer; Rohrglanzgras, Seggen und Rohrkolben zur Herstellung von Biokunststoffen und Papier; Erlen zur Herstellung von Span- und OSB-Platten, Furnieren und für die Verwendung im Wasserbau. Somit ist die Paludikultur eine torferhaltende, nachhaltige Form der produktiven Landnutzung auf Moorflächen (Joosten et al. 2016a). Sie verhindert Treibhausgasemissionen und Nährstoffeinträge in Grund- und Oberflächenwasser. Gleich-
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zeitig wird durch den Anbau Biomasse erzeugt, die geerntet und zum Beispiel im Falle von Torfmoosen als Torfersatzprodukt vermarktet werden kann. In Deutschland ist diese Kultur von besonderer Bedeutung, da für die Wiedervernässung heute fast ausschließlich landwirtschaftlich vorgenutzte Moorböden zur Verfügung stehen, die kaum noch in einen naturnahen Zustand zurückversetzt werden. Denn sie sind vollständig degeneriert, vererdet, nährstoffangereichert und frei von moortypischem Samen- und Sporenpotenzial. Dagegen müssen die aus dem Torfabbau entlassenen Flächen schon seit Jahrzehnten aus Naturschutzgründen, falls hydrologisch möglich, einer Renaturierung zugeführt werden. Zudem hat der Torfabbau in Deutschland an Bedeutung verloren, nur noch in Ausnahmefällen werden Torfabbaugenehmigungen erteilt. Infolgedessen hat sich der Torfabbau immer weiter ins Baltikum und nach Russland verlagert, was hinsichtlich der CO2-Emissionen nur eine Verlagerung und keine Lösung des Problems darstellt. Deswegen wird schon seit langem an Ersatzsubstraten für den Gartenbau geforscht. Hier liegt eine Chance der Paludikultur mit der Erzeugung von Torfmoosen. Zusammengefasst schreiben Günther et al. (2020), dass ohne Vernässung die entwässerten Moore weiterhin CO2 emittieren und damit einen direkten Effekt auf das Ausmaß und den Verlauf der globalen Erwärmung haben. Dagegen kann die Wiedervernässung ein wichtiges Instrument zur Abschwächung des Klimawandels sein. Mittlerweile werden in der Öffentlichkeit und in der Politik die Auswirkungen des Klimawandels vermehrt wahrgenommen. Dadurch rücken Moore und ihre Rolle sowohl als Kohlenstoffspeicher für die Regulierung des Klimas als auch zur Förderung biologischer Vielfalt immer stärker ins Zentrum von Klimaschutz- und Biodiversitätsdebatten. Die Bund-Länder-Zielvereinbarung vom 20. Oktober 2021 (BMUV 2021) fordert, dass „im Bereich der Moorböden zügig ambitionierte Maßnahmen ergriffen werden, um Treibhausgasemissionen dauerhaft zu reduzieren“. Es gilt allerdings die Freiwilligkeit der Umsetzung ohne einseitige Belastung der Eigentümer*innen sowie das Verbot der Beeinträchtigung der Belange benachbarter Grundstückseigentümer*innen und Bewirtschafter*innen. Die Anhebung von Wasserständen soll nur in ganzen hydrologischen Einzugsgebieten erfolgen und die langfristige Finanzierung steht unter dem Vorbehalt verfügbarer Haushaltsmittel. Dagegen findet sich im Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung vom Dezember 2021 die Forderung nach einer verbindlichen nationalen Moorschutzstrategie für Deutschland, gepaart mit konkreten Maßnahmen. Die führende Institution für Belange in Bezug auf Moore ist in Deutschland das Greifswald Moor Centrum mit seinen Kooperationspartner*innen. Das Centrum
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ist nicht nur lokal und regional vernetzt, sondern auch global, und befördert den Moorschutz auf allen Ebenen der Wissenschaft, der Politik und der Praxis.
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Niels Penke
Arbeit an der natura lapsa: Das Moor als Ressource und Medium des Fortschritts im 18. Jahrhundert Zusammenfassung: In diesem Beitrag geht es um die semantischen, politischen und ökonomischen Bedingungen, die im 18. Jahrhundert die großangelegten Trockenlegungsprojekte im Zeichen von Kultivierung, Melioration und Fortschritt möglich gemacht haben. Er rekonstruiert die naturkundlichen Perspektiven eines Buffon, die über das politische Projekt hinaus die Urbarmachung anthropologisch begründen. Die kameralistischen Aufträge und Anleitungen hingegen orientieren sich am Nutzen, den die Bearbeitung der Feuchtgebiete für den Staat, seine Wirtschaft, (Teile der) Bevölkerung und nicht zuletzt das Militär haben. Demgegenüber zeigen literarische Perspektiven Alternativen auf und plädieren dafür, Moor Moor und Sumpf Sumpf sein zu lassen, und die Latenzzonen außerhalb der Zivilisation nicht anzutasten. Das Moor dient bereits hier als Imaginationsraum, ohne dass das Habitat von Vögeln und Fröschen betreten werden muss.
1 Sumpf und Moor im 18. Jahrhundert: Drei Perspektiven Moore und Sümpfe werden in zahlreichen Schriften des 18. Jahrhunderts thematisiert. Sie begegnen in naturhistorischen, politischen und ökonomischen Texten ebenso wie in Reiseberichten, Dramen, Gedichten und Idyllen. Versucht man sich an einer Generalisierung dessen, was über Moor und Sumpf geschrieben wird, dann lassen sich drei Perspektiven ausmachen, zwischen denen die Feuchtgebiete1 ihr zunehmend gefährdetes Dasein fristen. Eine paradigmatische
|| 1 Die Bezeichnungen wandeln sich in den Übersetzungen, da die Unterscheidungen und präzisen Bestimmungen der Vegetationsformen noch nicht getroffen sind. Das semantische Feld Moor, Moos, Morast und Sumpf geht daher in vielen schriftlichen Zeugnissen noch synonym. In Zedlers Universal˗Lexicon heißt es im Artikel über das „Teuffels-Moor“, bei diesem handele es sich um eine „morastische Gegend“ (Zedler 1744, Sp. 1639). Unterschiede in der Bezeichnung haben meiner Beobachtung nach aber keinen Einfluss auf Semantik und ästhetische Positionen, die in Frankreich, England und Deutschland in großer Übereinstimmung artikuliert worden https://doi.org/10.1515/9783110786743-003
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naturkundliche Beschreibung findet sich in Buffons Histoire naturelle, die das Moor in all seinen Facetten als locus terribilis entwirft, um daraus den Auftrag zu seiner Kultivierung abzuleiten. Buffon liefert ästhetische und anthropologische Begründungen, warum diese Räume nicht länger sich selbst überlassen werden sollten. Eine zweite Perspektive auf das Moor eröffnen wiederum die kameralistischen Zugriffe, die sich insbesondere in Kurhannover und Preußen an einer systematischen Nutzung und Transformation des Brachlandes versuchen. Kultivierung ist zwar auch hier das primäre Anliegen, doch geht es weder um ein ästhetisches Interesse noch darum, als Mensch seiner wesentlichen Bestimmung gemäß zu handeln. Stattdessen nimmt in diesen Zugängen der homo oeconomicus Gestalt an, der im Zeichen von Nützlichkeit und Fortschritt die Erfassung und Mobilisierung all dessen anstrebt, was einerseits als nutzlose und unkultivierte Brache betrachtet worden ist. Andererseits versucht dieser auch die traditionellen Nutzungsweisen zu reglementieren, da diese statistisch nicht erfassten Praktiken weit von einer ‚optimalen‘ Nutzung entfernt waren (vgl. Müller˗Scheeßel 2020, 30˗32). Der ökonomische Zugriff stellt sich sowohl als eine Auseinandersetzung mit dem Wasser, mit Flüssen und ihren Schwemmgebieten, mit Mooren und Sümpfen dar, die es technisch zu bezwingen gilt, als auch mit den Landbevölkerungen, die diese Räume seit Jahrhunderten auf ihre Weise bewirtschaftet hatten. Jürgen Christian Findorffs Moorkatechismus und das Urbarmachungsedikt Friedrichs II. von Preußen sind Dokumente dieser Auseinandersetzung mit den ungeordneten Räumen einer Allmende, die aus dem Jenseits der Statistik in die Verwaltung und Messbarkeit, vor allem aber in eine planmäßige Nutzung überführt werden sollen, um dem „gemeinen Besten“ zu dienen und „ansehnliche[] Vortheil[e]“ (Rössig 1781, 184) einzubringen. Eine dritte Perspektive, die mit aller begrifflichen Vorsicht, als ‚ökologische‘ bezeichnet werden kann, erblickt den Menschen im „Weltgarten“, der sich harmonisch in ein „Mitsein“ mit nicht˗menschlichen Wesen und Naturräumen begibt, weil er sich als Teil eines Ganzen betrachtet (Detering 2020, 26), das größer ist als seine Interessen und Bestrebungen. Dieser Mensch, der sich bei Barthold Hinrich Brockes und Albrecht von Haller artikuliert, (inter˗)agiert als Wesen im Verbund mit anderen Lebewesen und weiß um die potentiellen Ge-
|| sind. Dies gilt auch für die zahlreichen Schriften, die sich mit der Austrocknung der Moore beschäftigen, die vielfach übersetzte Abhandlung von John Johnstone An Account Of The Most Approved Mode Of Draining Land (1797) oder die weiteren Veröffentlichungen im Umfeld der 1794 begründeten Ackerbau-Gesellschaft (Board of Agriculture) in London.
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fahren eines gestörten Weltverhältnisses, das exploitativ in die Natur eingreift und sie nachhaltig verändern kann. Moore und Sümpfe allerdings erscheinen auch in diesen Konstellationen als Randgebiete und unzugängliche Umwelten, die zwar vielfach in Gedichten und Idyllen Erwähnung finden, dort aber stets eine Grenze markieren, die nicht überschritten wird. Übereinstimmungen dieser Perspektiven bestehen in der Wahrnehmung, dass das Moor als Ungeordnetes im Gegensatz zu jenen Ordnungen stehe, die durchschaubar sind und sich politisch handhaben lassen. Sie unterscheiden sich allerdings darin, ob eine harmonische Koexistenz möglich ist oder ob eine Art „Krieg“ (Dunbar 1780, 338) gegen die Elemente nötig sei und wenn, mit welchen Mitteln dieser geführt werden müsse. Diese Konstellation wird im folgenden Beitrag rekonstruiert. Es geht darum, wie die verschiedenen Sinnentwürfe das Moor als Ressource für ihre jeweiligen Zwecke konzipieren und damit die über zwei Jahrhunderte wirksame moderne Kulturpoetik des Moores gestalten.
2 Das Moor als natura lapsa Der französische Naturforscher Georges˗Louis Leclerc, Comte de Buffon formuliert in seiner Histoire Naturelle eine paradigmatische Perspektive zu Sumpf und Moor. Voyez ces plages désertes, ces tristes contrées où l’homme n’a jamais résidé: couvertes, ou plutôt hérissées de bois épais et noirs dans toutes les parties élevées, des arbres sans écorce et sans cime, courbés, rompus, tombant de vétusté; d’autres, en plus grand nombre, gisant au pied des premiers pour pourrir sur des monceaux déjà pourris, étouffent, ensevelissent les germes prêts à éclore. La nature, qui partout ailleurs brille par sa jeunesse, paraît ici dans la décrépitude; la terre, surchargée par le poids, surmontée par les débris de ses productions, n’offre, au lieu d’une verdure florissante, qu’un espace encombré, traversé de vieux arbres chargés de plantes parasites, de lichens, d’agarics, fruits impurs de la corruption: dans toutes les parties basses, des eaux mortes et croupissantes, faute d’être conduites et dirigées […]. (Buffon 1764, xi˗xiii) Sehen Sie diese verlassenen Bereiche, diese traurigen Länder, in denen der Mensch nie gelebt hat: bedeckt oder vielmehr gespickt mit dickem, schwarzem Holz in allen erhöhten Bereichen, Bäume ohne Rinde und ohne Kronen, gekrümmt, abgebrochen, vom Alter herniedersinkend; andere, in weit größerer Zahl, liegen zu Füßen der ersten, um auf bereits verfaulten Haufen ebenfalls zu verfaulen, sie ersticken und begraben die zum Austreiben bereiten Keimlinge. Die Natur, die sonst überall in ihrer Jugend erstrahlt, erscheint hier im Verfall; die Erde, überlastet von dieser Bürde, überwältigt von den Abfällen ihrer eigenen Hervorbringungen, bietet, statt eines blühenden Grüns nur einen überladenen Raum, von alten Bäumen durchzogen, die mit parasitären Pflanzen, Flechten, Pilzen und unreinen
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Früchten der Verwesung beladen sind: in allen niederen Zonen, tote und faulige Gewässer, aus Mangel an Führung und Lenkung […].2
Der Franzose sieht in Moor und Sumpf das Prinzip der natura lapsa walten, einer nicht mehr göttlich durchwirkten, sondern gefallenen und nutzlosen ‚Natur‘ (vgl. Plamper 1998, 26˗28). Diese ‚Natur‘ ist nicht der blühende Garten (als Nachglanz des einstigen Paradiesgartens), sondern die von ihren eigenen Hervorbringungen überladene, moribunde Todeslandschaft, die des menschlichen Zugriffs bedarf, um ihren Schrecken zu verlieren und ihrer provokativen Nutzlosigkeit enthoben zu werden. Es liegt nahe, wie der zeitgenössische Diskurs zeigt, diesen „useless and void space“ als „godless affront“ aufzufassen (Atkins 2014, xvii). Buffon steht damit einerseits in Fortsetzung einer historisch weit zurückreichenden Tradition, die das Moor – sowie seine Varietäten Sumpf, Morast und andere – als locus terribilis oder horribilis begreift. Andererseits formuliert Buffon die Ansicht, dass es dabei keineswegs bleiben müsse, denn es zeichne gerade den Menschen als Kulturwesen aus, dass er diese gewaltigen Anstrengungen auf sich nehmen und selbst die verkommensten Räume kultivieren könne. La nature brute est hideuse et mourante; c’est moi, moi seul qui peux la rendre agréable et vivante: desséchons ces marais, animons ces eaux mortes en les faisant couler, formonsen des ruisseaux, des canaux; employons cet élément actif et dévorant qu’on nous avait caché et que nous ne devons qu’à nous-mêmes. […] une nature nouvelle va sortir de nos mains. Quelle est belle, cette nature cultivée! (Buffon 1764, xi˗xiii) Die unbearbeitete Natur ist abscheulich und sterbend; ich bin es, ich allein, der sie angenehm und lebendig machen kann: Lasst uns diese Sümpfe austrocknen und diese toten Gewässer beleben, indem wir sie zum Fließen bringen, lasst uns Bäche und Kanäle anlegen; lasst uns dieses tätige und verschlingende Element nutzen, das uns bislang verborgen war und das wir niemandem als uns selbst verdanken. […] Eine neue Natur wird unter unseren Händen entstehen. Wie schön ist sie, diese kultivierte Natur!
Wie schön ist die kultivierte Natur, und zwar, so wollen es Buffons „absolutistische[] Unterwerfungsphantasien“ (Detering 2020, 247), nur diese. Buffons Ausführungen sind daher präskriptiv, sie fordern transformative Aneignungen heraus, die aus den horriblen Orten Moor und Sumpf, in denen nur verworfene Kreaturen hausen, Stätten der Schönheit machen. Ästhetik und Anthropologie laufen bei Buffon in der Kultivierungsarbeit zusammen. Sümpfe und Moore sind dunkle Flecken innerhalb der Schöpfung, die ebenso im Widerspruch zur göttli-
|| 2 Die Übersetzungen stammen, wenn nicht anders angegeben, von mir [N.P.].
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chen Allmacht stehen wie zum menschlichen Kultivierungstrieb. Doch Buffon ist nicht der einzige, auch Montesquieu, Falconer, Robertson und Herder teilen seine Einschätzung, dass Sümpfe allein „dunkle, übelriechende Stätten“ darstellten, „wo die vermodernde Vegetation und die verwesenden Tierkadaver ungesunde Ausdünstungen verströmen. […] Alles, was sich in der Vorstellung mit Sumpf˗ und Moorlandschaften verband, war negativ.“ (Blackbourn 2008, 64). Solche Räume stehen für eine natura lapsa, für eine defizitäre und unnütze Natur, die der Mensch bislang noch nicht in den Griff bekommen habe. Als ihr ‚Herr‘ steht es nicht bloß in seinem Vermögen, sich diese Orte – und ihre Ressourcen – anzuverwandeln und produktiven Zwecken zuzuführen, sondern es entspreche seiner eigentlichen Bestimmung, sich diese unterzuordnen, um überall dort eine neue, schöne Ordnung zu schaffen, wo zuvor keine war. Schon im 17. Jahrhundert gewinnen Vorstellungen einer solchen instrumentellen Naturbeherrschung an Kontur. Francis Bacon postuliert in seinem Nova Atlantis (1627) das Ziel „die Grenzen der menschlichen Macht so weit auszudehnen, um alle möglichen Dinge zu bewirken“ (Bacon 1982 [1627], 43). Descartes erhebt die Menschen in seinem Discours de la méthode (1637) zum „Herrscher und Besitzer der Natur“ („maistres et possesseurs de la Nature“; Descartes 1637, 62), die ihn zu jeder Form der Aneignung berechtigt. In Buffons Naturgeschichte artikuliert sich ein Verständnis, das die noch unbearbeitete, unkultivierte Natur als „das Chaotische und Formlose“ ansieht, „dem es eine vernünftige Ordnung aufzuprägen gilt“ (Horn, Bergthaller 2019, 77). Weil sie vernünftig ist, kann sie auch als schön empfunden und genossen werden. Buffon artikuliert damit eine paradigmatische Perspektive auf das Moor als bestenfalls nutzloser, schlimmerenfalls gefährlicher Raum. Diese Ordnungsstiftung wird zeitgenössisch als eine Form des Krieges aufgefasst, den es gegen die Elemente zu führen gelte, wie James Dunbar in seinen Essays prominent formuliert: „Let us learn then to wage war with the elements, not with our own kind; to recover, if one may say so, our patrimony from Chaos, and not to add to his empire.“ (Dunbar 1780, 338) Die Formgebung wird daher nicht allein der schönen Ordnung wegen unternommen, sondern folgt, wie im Weiteren gezeigt wird, vielfältigen, miteinander verschränkten politischen wie ökonomischen Interessen. Die Wahrung von Ordnung spielt auch mit hinein, wenn Moore als Orte des Verfalls und der Miasmen als Ausgangspunkt von Krankheiten in den Blick geraten. Eine Vorstellung, die viele Schriften des Jahrhunderts durchzieht. Der Mediziner Johann Jacob Bräuner weist in seinem Pest-Büchlein auf „Stillstehende Moraest und stinckende Waesser / Pfuetzen oder Suempff / welche wegen Mangel der Bewegung in sich selbst faulen“ (Bräuner 1714, 7) als eine primäre Quelle für pandemische Infektionen hin, die sich über die „Vergifftung
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der Lufft“ in verschiedenen Aggregatszuständen (Nebel, Feuchtigkeit, Wärme etc.) formiert und als Gefahr für den Menschen weiter „fortgepflantzet“ (Bräuner 1714, 7) habe. Auch Albrecht von Haller warnt noch wiederholt vor den gefährlichen und „schaedlichen Ausfluesse[n] der Suempfe“ (Haller 1772, 1144). Der Kampf gegen krankheitsübertragende Insekten und andere als gefährlich wahrgenommene Tiere (Blackbourn 2008, 65), die dort ihre Rückzugsräume finden, gehört ebenso zur Politik der Moorkultivierung wie die ökonomische Erschließung und Fruchtbarmachung nutzbringender Räume. Es gilt, die negative Signatur des Moores transformativ dem allgemeinen Nutzen zuzuwenden, indem es mitsamt seinen Bewohnern aufgehoben wird. Der Mensch, dies betont Buffons paradigmatische Position, folgt dort seiner Bestimmung als Kulturwesen, wo er aus dem hässlichen wie gefährlichen Ödland eine neue, kultivierte Natur erschafft, in der Nutzen und Schönheit zusammenkommen können. Es geht dabei um die Beseitigung von Unordnung und die Modellierung einer neuen Ordnung, die im Erfolgsfall zum Vorbild dafür geraten kann, wie sich die ‚chaotische‘ und nutzlose Natur anverwandeln und zu einer anthropogenen Natur umarbeiten lässt, die dauerhaft vermessen, bestellt und vielfältig genutzt werden kann. Zu der ästhetisch motivierten Umformung kommen aber auch Geo˗ und Biopolitik hinzu, die als Strategien von Machtsicherung und Machtausbau besonders in jenen Unternehmungen zum Ausdruck kommen, die Preußen unter der Führung Friedrichs II. ab 1747 beginnt und die die Trockenlegung des Oderbruchs zum Ziel haben. Ähnliches gilt für die nur wenig später begonnene Trockenlegung des Teufelsmoors im Königreich Hannover unter Leitung des ‚Moorkommissars‘ Jürgen Christian Findorff. Mit diesen Unternehmungen wird deutlich, dass zwei der großen Verbesserungsprojekte des 18. Jahrhunderts in unmittelbarer Beziehung zum Moor stehen: Melioration und Peuplierung. Melioration bezeichnet die Verbesserung der Böden zu Zwecken der Land˗ und Rohstoffgewinnung, Peuplierung die Bevölkerungssteigerung, für die Siedlungsflächen sowie Acker- und Weideland durch die Kultivierung der Moore geschaffen werden müssen. Beide wurden geo˗ wie machtpolitisch zu Strategemen insbesondere in Preußens unter Friedrich II., der neben der Trockenlegung des Oderbruchs auch die Kultivierung der ungenutzten Moorflächen der 1744 von Preußen annektierten Grafschaft Ostfriesland beauftragte. Es handelte sich um die „umfangreichsten landschaftsgestaltenden Maßnahmen, die je auf preußischem Territorium durchgeführt wurden“ (Herrmann 1997, 75). Im historischen Rückblick scheint es, als würden die Moorkultivierungsprojekte einer Art Dominoeffekt folgen, da in kurzer Zeit ein Unternehmen auf das andere folgte: 1751 beginnt in Kurhannover die Trockenlegung des Teufelsmoors bei Worpswede,
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1752 des Toten Moors bei Neustadt am Rübenberge sowie weiterer Moore im Emsland. Doch nicht nur Preußen und Hannover zeigen sich in dieser Hinsicht engagiert, auch andernorts wurden Moor-, Sumpf- und Seelandschaften neuen Nutzungsformen zugeführt, wie u. a. die Freisinger Fürstbischöfe Güter im Freisinger Moos errichten ließen, die Wilstermarsch wurde trockengelegt, in den Jahren 1787/88 der Federsee abgesenkt, Moorkolonien am Kochelsee und am Abtsdorfer See begründet sowie das Donaumoos und das Dachauer Moos kultiviert (dazu siehe Reith 2011, 28).
3 Ressourcen: Die Politiken der Urbarmachung Moorkultivierung ist zunächst ein Transformationsbestreben, eine Art „Alchimie, die in Friedrichs Preußen Wasser zu Land machte“ (Blackbourn 2008, 96). Das preußische Framing dieser Bestrebungen war ökonomisch und militärisch zugleich. Landgewinnungsprojekte waren Teil eines Krieges gegen die Natur, der es ermöglichte, auch „im Frieden“ neue „Provinzen“ zu erobern (Blackbourn 2008, 96). Die Grundlage stellt die Landwirtschaft als „erste aller Künste“ dar, wie Friedrich in seinem Politischen Testament von 1768 bekannte. Sie allein können die Möglichkeit des Bevölkerungswachstums eröffnen, das wiederum den Staat mächtiger werden lasse. „Der erste Grundsatz, der allgemeinste und wahrste“, so Friedrich, „ist der, daß die wahre Kraft eines Staates in einer hohen Volkszahl liegt.“ (Friedrich 1922 [1768], 135)3 Das Ziel ist es, Land hinzuzugewinnen, um eine geeignete Grundlage zu schaffen, die Bevölkerung vergrößern zu können. Diese wiederum sollte für eine erhöhte wirtschaftliche Produktivität als auch für militärische Stärke sorgen. Die von François Quesnay begründete ökonomische Lehre der Physiokratie hat die Landwirtschaft als Leitdisziplin ausgegeben, um die Grundversorgung und den Reichtum des Staates sicherzustellen. Die physiokratischen Theoreme inspirierten auch Friedrichs Projekte, der diese „erste aller Künste“ zu seiner eigentlichen Aufgabe machte, denn, „Ländereien urbar zu machen“, beschäftigte ihn, wie er Voltaire gegenüber betonte, mehr „als Menschenmordungen“ || 3 Das Bevölkerungswachstum ist wiederum nur über die Unterstützung durch eine konzertierte Volksaufklärung zu erreichen. Peuplierung wurde zwar primär durch Neuansiedelung von Ausgewanderten (v. a. Hugenotten) befördert, musste aber mit anderen Maßnahmen verschränkt werden, etwa um Emigration einzudämmen, aber vor allem um die Kinder˗ wie Müttersterblichkeit zu verringern, was primär durch erweiterte Kenntnisse in Hygiene, medizinischer Versorgung und Kinderversorgung erreicht werden konnte.
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(Blackbourn 2008, 45). Doch gerade im Siebenjährigen Krieg sollte Friedrich II. viele Gegenden erobern, die trockengelegt werden konnten. Vor diesem Hintergrund wiederum erklärt sich, dass die Trockenlegung von Sümpfen wie auch die Umleitung von Flüssen als „Abfallprodukt oder die Dienerin des Krieges“ (Blackbourn 2008, 13) aufgefasst wurde. Darüber hinaus hatte die Trockenlegung noch weitere durchaus erwünschte Folgen, denn sie erhöhte die Marschgeschwindigkeit von Armeen und beseitige Schlupfwinkel für Deserteure. Das Urbarmachungsedikt von 1765 stellt ein Zwischenfazit dieser Vorgänge dar, das aufgrund bisheriger Erfahrungen und Ergebnisse weiterführende Direktiven vorgibt. Die Versäumnisse sind klar: [...] so haben sich dennoch in Unserm Fürstenthum Ostfriesland und dem Harlingerlande einige besondere Hindernisse geäußert, wodurch es geschehen, daß daselbst unsere heilsame Absicht bishero nicht hinlänglich erreichet werden können, sondern annoch so manche weitläufige Wüsteneien, Heidefelder und Moräste, welche gleichwohl in Ansehung ihres guten Bodens zur Besaamung, Bepflanzung mit Gehölze und Anlegung neuer Torfgräbereien sehr wohl geschickt sind, ohne Anbau erliegen geblieben. (Friedrich II. 1765, §1)
Die „heilsame Absicht“ richtet sich aber nicht nur gegen den Schlendrian, der noch zahlreiche Potentiale unausgeschöpft gelassen habe, sondern auch „ein unerfindliches so genanntes Aufstrecksrecht“, das es den Moorbauern ermöglichte, sich eigenmächtig in die Landschaft einzuarbeiten (vgl. Wassermann 1985), war dem Preußenkönig ein Dorn im Auge. Dieses sollte ausdrücklich behoben werden, da ein „solcher Unfug Unsern unwidersprechlichen Landesherrlichen Regalien zuwider läuft“ (Friedrich II. 1765, §2). Es ging mit dem Edikt daher um die Schaffung eines Präzedenzfalles, der bei künftigen Interessenkonflikten als Regulativ dienen sollte: „Wir hiemit gewisse ganz billige Principia regulativa festsetzen wollen, welche sowohl bei der Anweisung der wüsten Felder und Moraste an neue Colonisten, als auch bei Entscheidung aller daher entspringenden Streitigkeiten künftighin zur Richtschnur dienen sollen“ (Friedrich II. 1765, §2). Die Beweislast, dass sie berechtigte Ansprüche auf Land nachweisen konnten, lag im Zweifelsfall bei den Eingesessenen; ansonsten war ihre Ersetzung durch „Colonisten“ (Friedrich II. 1765, §2, 6, 8, 11) vorgesehen. Denen allerdings, die mit offiziellem Auftrag die Bearbeitung „des zur Cultur übernommenen Landes“ vollziehen würden, sollten die „stipulirten Canonem“ ebenso wie „alle[] Realschatzungen“ für drei bis zwölf Jahre erlassen werden (Friedrich II. 1765, §14). Mit dieser Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Bewirtschaftung, die als ein Akt „ursprünglicher Akkumulation“ (Marx) verstanden werden kann, ging zudem die definitive Bestimmung von Grenzzie-
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hungen und Flächennutzungsarten einher. Diese betrafen vor allem die Grenzen zwischen Dorf und Umgebung, zwischen Zivilisation und Wildnis: So ordnen und wollen Wir, daß die sogenannten gemeinen Weiden, das ist, die grünen Anger und Niedrigungen um und nahe an den Dörfern, welche im Sommer Gras tragen, und zur Weide geschickt sind, denen Dorfschaften eigenthümlich und völlig sollen gelassen werden. Jedoch muß die Benennung von gemeinen Weiden nicht gemißbrauchet, noch auf wüste Aecker, Moraste, oder auch solche grüne Parcelen, welche von den Dörfern ganz abgelegen, und unter Heidefeldern vermischet sind, erstrecket werden. (Friedrich II. 1765, §5)
Damit bekräftigt das Urbarmachungsedikt das zivilisatorische Programm der Melioration: „Wer den Boden verbessert, wüst liegendes Land urbar macht und Sümpfe austrocknet, der macht Eroberungen von der Barbarei.“ (Friedrich II. nach Beheim˗Schwarzbach 1874, 266) Durch die Reglementierung der traditionellen Nutzungsweisen bekommt die Friedrich zugeschriebene Aussage allerdings eine soziale Dimension. Barbarei ist nicht nur ‚natürliche‘ Unordnung, sondern auch ungeregelte tradierte Praxis, die in Ostfriesland bis (mindestens) ins Hochmittelalter zurückreichte und nun juristisch angegangen wurde. Die von Friedrich in Auftrag gegebene kameralistische Großoffensive verband Geo˗ und Biopolitik zu einer gemeinsamen Informationspolitik, in der die verschiedenen Ansätze der Statistik, der Vermessungstechnik und Kartographie, der Bevölkerungsplanung und der Ingenieurskünste zusammenliefen. Die Maschine des absolutistischen Staates friederizianischer Prägung lief auf die Trias von „Ordnen, messen, disziplinieren“ (Henning Eichberg nach Blackbourn 2008, 57) hinaus, der sich Moor und Sumpf als kategorische Probleme stellten, die sich aber lösen lassen sollten. Widerstände jenseits der technischen Machbarkeit fielen hingegen kaum ins Gewicht; die Verfügung über Menschen lag ebenso wie die „nachteilige Auswirkungen der hydrologischen Revolution“ (Blackbourn 2008, 21) außerhalb der Wahrnehmungs˗ oder Vorstellungshorizonte: Die Absenkung der Grundwasserspiegel, die mögliche Versteppung (die Preußen zur gefühlten ‚Sahara‘ werden ließ), der Verlust von Flora und Fauna durch Habitatzerschneidungen – dies alles fiel nicht ins Gewicht. Entscheidend ist allein, diese Gegenden „dem Staat rentbar“ und „zum allgemeinen Nuzen wirksam“ zu machen (Jung-Stilling 1779, 278). Das in Kulturland und offizielle Kolonien transformierte Moor wird vor diesem Hintergrund zu einem Medium des Fortschritts, der umso stärker ausfällt, je mehr von seiner natürlichen Ressource verbraucht wird. Auch dieser Fortschritt, so deuten die Selbstbeschreibungen an, bedient sich der „Alchimie“, um „Wasser zu Land“ (Blackbourn 2008, 96) zu machen.
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Was sich in diesen Perspektiven auf das Moor artikuliert, ist ein spezifisch modernes Verständnis eines bestimmten „Verhältnisses zur Natur, die zur ‚Ressource‘ erklärt wird, welche genutzt, bearbeitet, ausgebeutet und gehandelt werden kann“ (Horn, Bergthaller 2019, 36). Entscheidend sind solche Formen der Ausbeutung und transformativen Bearbeitung, die über die bisherige konventionelle Nutzung hinausgehen, in dem sie das, womit sie arbeiten, gravierend verändern oder sogar aufheben. Dieser planerische Zugriff auf die Feuchtgebiete markiert eine „biopolitische Zäsur“ (Horn, Bergthaller 2019, 144), denn er bezieht sich auf die gesamte Biosphäre des Moores, also auf die Feuchtflächen und Sedimentschichten, ihren Bewuchs wie auch die sie bewohnenden Organismen, auf Bakterien, Tiere und alles weitere. Diesen „Vernichtungskrieg“ (Fontane 1969, 41), der nach Entwässerung und Ausrodung auch die Eliminierung der gesamten Tierwelt vorsieht, hat Theodor Fontane rückblickend in seinen Wanderungen durch die Mark Brandenburg beschrieben. Er zeichnet ein ambivalentes Bild, das den „Reichtum“ als nahezu „mühelos“ errungenen „Segen“ einem „Unsegen“ gegenüberstellt, denn „Bildung, Gesittung hatten nicht Schritt gehalten mit dem rasch wachsenden Vermögen, und so entstanden wunderliche Verhältnisse, übermütig-sittenlose Zustände […]“ (Fontane 1969, 41). Fontane hat aufgelistet, gegen welche Spezies diese Maßnahmen gerichtet waren, von denen viele ebenfalls zur Ressource des angesprochenen Reichtums wurden: „[...] wilde Katzen, Iltisse, Marder, Füchse und Wölfe […] Hirsche, Rehe, Hasen, Sumpfhühner und wilden Enten“ (Fontane 1969, 41), aber auch Fische, Krebse, Schlangen und Insekten. Damit geht es ähnlich wie in den im 18. Jahrhundert prominent geführten Kämpfen gegen Spatzen und Feldhamster um die „Regulierung der ökologischen [wie ökonomischen] Bedingungen menschlicher Existenz“ (Horn, Bergthaller 2019, 142). Das Moor und seine Bewohner liegen, sobald der Befehl zur Kolonisierung und Arbeit an der Hydrosphäre erfolgt ist, jenseits einer „biopolitische[n] Trennlinie“ (Horn, Bergthaller 2019, 143) und werden somit vogelfrei. Die gesamte Biosphäre des Moores ist semantisch mit dem Dunklen, Gefährlichen, Unzivilisierten und Krankheitsfördernden assoziiert, sodass es nicht zuletzt zum metaphorischen Selbstverständnis einer solchen Konzeption von Aufklärung gehört, „Sümpfe trockenzulegen, den Bewuchs auszulichten und Luft und Sonne durchzulassen“ (Blackbourn 2008, 65). Vor dem Hintergrund der Semantik des brachliegenden Nicht˗Landes ist das Moor bestens dazu prädestiniert, als „billige Natur“ („cheap nature“ bei Jason W. Moore) wahrgenommen zu werden. ‚Billig‘ ist diese, weil weder die ökologischen noch die sozialen Kosten evaluiert werden, sondern die möglichen wie tatsächlichen Lasten allein auf die Ökosysteme sowie die ausgebeuteten Menschengruppen ausgelagert werden (Moore
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2016, 70–115). Es überwiegt in diesen Zugriffen der unmittelbare und berechenbare Nutzen; von den potentiellen Folgeproblemen, die durch den Verlust der Biodiversität oder den Schwund wichtiger CO2˗Speicher befördert werden, ahnt im 18. Jahrhundert noch kaum jemand etwas. Der eigentliche ‚Preis‘ der Moorkultivierung wird erst Jahrhunderte später sicht˗ und spürbar. Ein solcher Fortschritt im Zeichen der ‚Nützlichkeit‘ ist demnach der Feind des Moores schlechthin. Denn alles, was einzig als unproduktives Totland aufgefasst wird, lässt sich durch den entsprechenden Aufwand an Arbeit und Technik gewinnbringend anverwandeln. Damit lässt sich das Moor als ein Medium dieses Fortschritts verstehen, denn in dem Maße wie es zu Siedlungs˗, Weide˗ oder Ackerland verwandelt wird, vollziehen sich Fortschritte. Diese wiederum lassen sich messen, registrieren und vergleichen. Aus dem Vergleich erwächst eine Selbstverpflichtung, denn der Fortschritt initiiert „die ständige Selbstrechtfertigung der Gegenwart durch die Zukunft, die sie sich gibt, vor der Vergangenheit, mit der sie sich vergleicht“ (Blumenberg 1996 [1966–1976], 41). Melioration und Peuplierung sind zwei jener Instrumente, mit denen sowohl die Ökonomie des Wachstums wie eine „Aufklärung als stetiger Komparativ“ (Adler 2007, 60) bestritten werden können. Als Vergleichsebene wird die Gegenwart an Vergangenheit und Zukunft gemessen. Es sind nicht nur die Fortschritte gegenüber dem Zeitpunkt der Maßnahmenbeschlüsse, sondern auch gegenüber früheren Epochen und Unternehmungen, die errechnet werden können. Eines der komparativen Referenzprojekte ist der seit der Antike immer wieder unternommene Versuch, die Pontinischen Sümpfe bei Neapel trockenzulegen, der etwa zum Zeitpunkt von Goethes Reise Italienischer Reise (1787) erfolgreich zu sein schien (vgl. Adler 17834). Auch mit der Ernennung Jürgen Christian Findorffs zum ‚Moorkommissar‘ im September 1771 durch Georg III. ist ein fiskalisches Denken verbunden, das mit möglichst geringem Aufwand möglichst viel erreichen will (vgl. Müller˗Scheeßel 2020, 47). Findorff hat seine Ansichten und Vorsätze in einem (allerdings erst 1792 postum veröffentlichten) Moorkatechismus festgehalten, der sich nominell an das populäre Medium des Katechismus anlehnt. Als Hausbuch und „Bibel des gemeinen Mannes“ (Burke 1985 [1978], 239) sollte diese Gattung (nicht nur kommunikative) Alltagspraktiken befördern und eine gemeinnützige Funktion erfüllen. Findorffs Katechismus nimmt gegenüber den distanzierten kameralistischen Zugriffen eine eher bodennahe Perspektive ein. Er beschreibt das materielle Substrat, also Entstehung, Wachstum, Bestandteile || 4 An diesen Erfolgsbericht schließt Stengel mit seiner Abhandlung zur Austrocknung des Donaumooses 1791 an.
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und Eigenschaften verschiedener Moor˗Typen, um ein Bewusstsein dafür zu vermitteln, womit überhaupt gearbeitet wird, und gibt dann Anleitungen für die Anlage von Entwässerungsgräben, Dämmen und Kanälen, erklärt die Nutzbarmachung durch Brandbau (Findorff 1937, 22–23) und Dünger (Findorff 1937, 24– 25). Findorff sieht aber auch die Bedürfnisse der neuen Bauern, für die er mit großzügig bemessenen Stellen plant (Findorff 1937, 19–21), die diesen eine umfassende Selbstversorgung gewährleisten sollten. Auch die Beschaffung von Baumaterial und eine mehrjährige Zinsfreiheit sieht sein Besiedlungsplan vor. Der Moorkommissar nimmt aber keine strenge kameralistische Haltung ein; es geht ihm nicht um politische Herrschaftstechniken, sondern er beschreibt mit ausschließlichem Praxisbezug, wie das Moor „zum Gebrauch geschickt werden“ könne (Findorff 1937, 13) ohne auf eine rigorose Ausbeutung der Kolonisierenden zu bauen (zum konkreten Verfahren der Kultivierung vgl. Emigholz 1990, 21–28). Im „Gebrauch“ steckt das Programm einer nützlichen Mobilisierung. Das Teufelsmoor ist insofern dafür prädestiniert, als dass es seine Frucht˗ und Nutzlosigkeit bereits im Namen trägt. Dieser geht auf die niederdeutsche Bezeichnung Dovelsmoor zurück, was – im Unterschied zu den landwirtschaftlich nutzbaren Niedermooren – die „tauben“ und „unfruchtbaren“ Moorgebiete bezeichnet, die nur durch einen falschen (vielleicht mit der Sündhaftigkeit des „tauben“, ungenutzten Lands verknüpften) Transfer ins Hochdeutsche mit dem Herrn der Hölle assoziiert wurden (Emigholz 1990, 11). Konfliktpotential birgt aber auch das Teufelsmoor, das ebenfalls über Jahrhunderte als Allmende aufgefasst und von ansässigen Bauern als Weideland oder für die Torf˗ und Streugewinnung genutzt wurde (vgl. Emigholz 1990, 12). Da diese Formen der Bewirtschaftung dem Staat nichts eingebracht haben, wurde sie ebenfalls als nutzlos aufgefasst. Es geht daher im Zuge der planmäßigen Moorkultivierung immer auch um die Ersetzung einer tradierten ‚Volkskultur‘, die sich als „culture actually made by people for themselves“ (Williams 2015 [1976], 180) verstehen lässt, durch eine neue kulturelle und politische Matrix. Die sukzessive Ansiedlung sollte mit den am einfachsten zu entwässernden Gebieten beginnen. Da diese im Bewusstsein langwieriger Prozesse begonnen wurde, ist die zeitliche Strukturierung der Moorkultivierung von Beginn an eingeschrieben. Diese Erfahrung spiegelt sich auch auf Seiten der kolonisierenden Bevölkerung. Das Sprichwort „Dem ersten sein Tod, dem zweiten seine Not, dem dritten sein Brot.“ zeigt an, dass erst ab der dritten Generation mit einem erträglichen Auskommen gerechnet werden konnte. Gegenüber dieser langfristigen Perspektive, die sich nur unter der Bedingung erfolgreicher harter Arbeit überhaupt bestätigen ließ, geht es mit der kameralistischen Aneignung bedeutend schneller, die bereits ab Jahr zwei mit statistischen Erhebungen rechnen kann.
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Die erfolgreichen Projekte der Bevölkerungsvermehrung wie der Landgewinnung wurden daher als „gelungene Selbstbehauptung“ gedeutet, die sichtbare Fortschritte „in einem feindlichen Kosmos, dem jeder Zugewinn mit enormen Mühen abgetrotzt werden musste“ (Scholz 2022, 80) vollzogen. Aus Sicht der Kameralistik stellt dies eine äußerst glückliche Verbindung von ökonomischer und demografischer Steigerung dar, die sich selbst trägt, wenn der stete Zuzug Motor der wirtschaftlichen Leistungszuwächse wird, wie beim ‚Projektemacher‘ und Kameralisten Johann Heinrich Gottlob von Justi zu lesen ist: Ein eben so genaues und gleichmäßiges Verhältnis haben die Cultur des Bodens und die Bevölkerung zu der Glückseligkeit des Staats. Ohne Macht kann kein Staat glücklich seyn; und ohne starke Bevölkerung kann man sich keine Macht vorstellen. Das ganze vorhergehende Buch aber hat gezeigt, daß ein Volk seine Oberfläche auf das beste cultiviren, allen mögliche Nutzen daraus ziehen, und eine Menge Güther zur Nothdurft und Bequehmlichkeit des Lebens gewinnen muß, wenn es glücklich seyn will. (Justi 1760, 174)
Wenn es nur ausreichend „Stellen“ gebe, an denen Menschen sich niederlassen, ernähren und „ihren Unterhalt verschaffen“ können, wachse die Bevölkerung automatisch, nähmen die Menge der Güter, Bequemlichkeit und nicht zuletzt auch das allgemeine Glück des „Volkes“ zu (Justi 1760, 177). Um solche Stellen zu schaffen, bedarf es der Erschließung neuer Lebensräume, die jenseits der Grenzen der bewirtschafteten Zonen gefunden werden. Justi hat in seinen eigenen Abhandlungen dargelegt, wie sich durch „Austrocknung und Urbarmachung der Seen und Moräste“ (Justi 1760, 62˗75) Land gewinnen lässt: Durch Annexion, militärische Eroberung oder Melioration. Letzteres Verfahren besitzt aber deutliche, berechenbare Vorteile. Denn keine Eroberung kann dem Staate so wohl gelegen seyn, als ein solcher Anbau, der allemal in dem Lande selbst ist; und ein solcher Anbau verursachet weder einen Verlust am Volke, noch einen Ausfluß am Gelde, wie die Eroberungen durch Krieg allemal zu thun pflegen. Es giebt aber zweyerlei Hauptarten von solchen großen uncultivirten Gegenden. Die erste Art bestehet aus morastigen Grund, oder aus so genannten Torf- oder Moorboden. Die andere Art aber bestehet aus den so genannten Heiden. (Justi 1760, 112–113)
Der homo oeconomicus ist ein Agent dieser Grenzverschiebungen im Zeichen der Neulandgewinnung. Sein geschäftstüchtiger Blick ist auf das Diesseits gerichtet – Jenseits der Grenze liegen entweder Hindernisse oder Ressourcen, die in spezifischer Weise be˗ und verarbeitet werden wollen. Dort liegen jedoch keine relevanten Interessen, auf die das eigene Fortschrittshandeln gegebenenfalls einschränkend abgestimmt werden müsste. Solche Zugriffe sind daher nicht als Einmischungen zu verstehen, sondern zielen allein auf Aneignung, um Nutzen zu bringen und politische Macht auszubauen. Das Moor erscheint dann als „un-
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gekerbter“ (Carl Schmitt) oder „glatter Raum“ (Deleuze, Guattari), dem noch kein menschlicher Nomos eingeschrieben ist, und folglich auf die „Landnahme“ durch die ihn kultivierende Macht wartet (vgl. Werber 2014, 31–37). Landnahme und Beherrschung bedeuten neben der deklaratorischen Aneignung von Raum durch (juristische) Grenzsetzungen die aktive Prägung der Erde durch Bearbeitung und Bebauung. Erst dadurch wird eine „Territorialisierung“ im Sinne von Deleuze und Guattari vorgenommen, bei der es um die Erzeugung und Kontrolle eines „gekerbten“ Raumes geht: Das Moor als Nicht˗Land wird durch die Entwässerung und Trockenlegung erst zu einem Raum, den man sich aneignen und seinen Praktiken unterwerfen kann, um ihn zu territorialisieren und zu „kerben“. Der „eingekerbte“ Raum ist „metrisch“, das heißt (im Anschluss an Pierre Boulez), man zählt ihn, „um ihn zu besetzen“ (Deleuze, Guattari 1992, 496). Dies alles geschieht zum gravierenden Nachteil der Ansammlungen von menschlichen wie nicht-menschlichen Wesen, die diese Räume bewohnt und ihrerseits bebaut und gestaltet haben. Ihre Beziehungen werden aufgelöst oder in andere Räume verlagert. Die Aneignung nötigt diese zu einem Zurückweichen hinter die Grenze, die der Fortschrittskomplex aus Melioration, Peuplierung und Geomacht stets weiterschiebt und die Lebensräume hinter ihr enger werden lässt. Dieser Ausweitung liegt damit eine rigide Ordnung zu Grunde, die alle Wesen nach Relevanz selegiert, je nachdem, ob sie ihrerseits als Ressource für menschliche Interessen taugen oder als wertlos verworfen werden. Verwertbarkeit ist ein wesentliches Kennzeichnen der modernen „Idee der Natur“ (Latour 2021, 41). Es ist jedoch kein Grenzkrieg zwischen „Politik“ und „Wissenschaft“, denn diese stimmen in der Bewertung und strategischen Nutzung des Bewerteten vollkommen überein. Beide verfolgen im Hinblick auf das Moor das gleiche Strategem und arbeiten an einer Begründung derselben Tradition, einer „tradition of the appropriation of nature as resource for the productions of culture“ (Haraway 2016 [1985], 7). Um derart für die Produktion kultivierter Räume angeeignet werden zu können, muss das Moor terra incognita sein. Nur so kann es als ‚billig‘ und in der Rechnung des homo oeconimus, der dieses Nicht˗Ding in Dinge verwandelt, aufgehen. Nur als „indifferente Ressource“ ist es idealerweise ein „res nullius, bereit zur Appropriation“ (Latour 2019, 88, 53). Der Prozess der Ökonomisierung zielt darauf, die Welt und alles in ihr, auf eine besondere Weise systematisch zu behandeln, in dem nach Potentialen gesucht wird, die aktiviert werden können, um für die Wirtschaftenden ‚nützlich‘ zu sein und einem oder mehreren Zwecken zu dienen. Das Fundament dieser Betrachtungsweise ist anthropozentrisch, sie selegiert allein nach dem Nutzen für den Menschen, sie „urteilt und entscheidet, so dass jede Beziehung zwischen Wald, Sonne, See, Tier und Himmel über ihn
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erfolgt und sich zu seinem alleinigen Wohl einstellt.“ (Latour 2021, 116; Hervorhebungen im Original) Der Mensch, in Kürze, ist ein „naturalisierendes Subjekt gegenüber naturalisierten Objekten“ (Latour 2021, 116; Hervorhebungen im Original). Damit sind die transformativen Zugriffe auf Böden, Wassersysteme, Flora und Fauna, hinreichend legitimiert. Diese „Landnahme“ ist eine „gewaltsame Inbesitznahme, eine Besetzung auf Zeit durch andere und vor allem für andere, bevor diese sich woandershin verziehen und hinter sich verwüstete Erdoberflächen zurücklassen.“ (Latour 2021, 127; Hervorhebungen im Original). Von den möglichen Folgen ihrer Projekte haben weder Findorff noch Friedrich II. etwas geahnt, geschweige denn etwas voraussehen können. Es steht daher schlecht um die enviromental reflexivity der Akteure des 18. Jahrhunderts, die diese Vorgänge ins Werk setzen. Über die Risiken und Kosten des Nutzens spekulieren daher andere. Jean˗Jacques Rousseau kritisiert in seiner zweiten Abhandlung Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) die Trockenlegung von Sümpfen („des marais desséchés“) als einen Teil der „unermeßlichen Anstrengungen“ („immenses travaux“), mit denen der Mensch gleichermaßen sinnlose wie zerstörerische Eingriffe in die Natur vornehme, die allein den menschlichen „Hochmut“ („orgueil“) befriedigten (Rousseau 1984, 300–301). Allerdings steht Rousseau auf einem ebenso einsamen wie historisch verlorenen Posten. Nicht nur sind Stimmen wie die seine in der Unterzahl, auch kann er gegenüber den Kameralisten und ihrer statistischen Intelligenz keine genauen Angaben machen, sondern lediglich auf mögliche Folgekosten der zunehmenden ‚Entfremdung‘ des Menschen von seiner natürlichen Bestimmung verweisen, die erst später ins Gewicht fallen können. Daher bestätigt auch die agrarwissenschaftliche Literatur der Folgegeneration den Erfolg der Urbarmachung. Albrecht Thaer widmet der „Urbarmachung der Moore und Bruecher“ ein eigenes Kapitel seiner einflussreichen Grundsätze der rationellen Landwirthschaft (1812), und auch Friedrich Wilhelm Noeldechen, ab 1776 Superintendent in Wriezen, bestätigt die großen Erfolge Friedrichs. Dieser „gründete auf eine nützliche Bevölkerung und die entstehende höhere Kultur des Bodens ganz vorzüglich das Wohl des Preußischen Staats. Unverkennbar sind die segensreichen Folgen davon“ (Noeldechen 1800, V). Somit habe sich erfüllt, dass die „stets wachsende[] Bevölkerung“ in Beziehung zu einer „immer höher steigenden Kultur sich zur höchsten Stufe des Wohlstandes, der Macht und des Reichthums emporschwingen wird.“ (Noeldechen 1800, VI). Noeldechens statistisches Material, das das Dorf Alt-Wriezen vermisst und in Vergleich mit dem Amt Friedrichsaue und dem Amt Kienitz stellt, zeigt, wie sich der Fortschritt als Zuwachs nach „seinem Flächeninhalt, der Menschenzahl und Viehstande verhält“ (Noeldechen 1800, Anhang 1–23).
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4 Literarische Räume im Moor Zeigen naturhistorische, politische und ökonomische Schriften weitgehend Einigkeit an, was von Mooren und Sümpfen zu halten und wie mit ihnen zu verfahren ist, präsentiert sich in (im weiteren Sinne) literarischen Texten eine größere Breite an Darstellungen und Wertungen. Sind die Sümpfe bei Angelus Silesius noch Teil einer harmonischen Natur, die gleichermaßen schön und dem Menschen wohlgesonnen ist – „Ihr Blumen in der gantzen Welt / In Suempffen und in Fluessen / In Gaerten und auff offnem Feld / Helfft meinen Braeutgam gruessen“ (Silesius 1657, 81) –, kennt sein Zeitgenosse Schottelius allein den mit höllischen Assoziationen verbundenen locus horriblis: „[...] was ihnen in dem hoellischen stinkenden Sumpfe begegnen werde / ist leicht zuermessen.“ (Schottel 1676, 187). Das gefährliche, krankheitserregende Moor ist auch in der Dichtung topisch. In der Landlebendichtung, die laus ruris singend, ist das Moor hingegen nur als Randzone zu finden. Auch wenn Barthold Hinrich Brockes das praktische Ideal ausgibt, dass das Landleben zur umfassenden Beobachtung befähigt, wie er dies unter anderem in „Einige Naturkräffte“ (1731) postuliert: „Ich habe voller Lust gesehn / Die Baeume bluehen, Fruechte tragen, / Die Schnitter reiffe Felder maehn, / Die Jaeger muntres Wildpret jagen, / Die Fischer mit gefuellten Netzen / Und Wasser-Fruechten mich ergetzet.“ (Brockes 1731, 517) Brockes kennt zwar in seinem Irdischen Vergnügen in Gott keinerlei Berührungsängste mit den verschiedenen Elementen, dennoch aber führen seine Gänge mit der Lupe nichts ins Moor. Dass dort wenig mehr als Miasmen zu finden sind, bemerkt er unter anderem in seinem Gedicht „Kranckheit“. Die Trennung von nutzloser und nützlicher Natur ist hier noch nicht zu erkennen. Sie wird allerdings in der Gartenbauliteratur vollzogen. Dort figuriert das Moor als Gegenteil des Gartens, der daher auch so weit wie nur möglich von jedem nicht-kultivierten miasmatischen Ort entfernt eingerichtet werden müsse, wie in Christian Cay Lorenz Hirschfelds Theorie der Gartenkunst (1780) zu lesen ist: „Daß man zum Garten keine Gegend waehlen muesse, die eine ungesunde Luft hat; die von benachbarten faulenden Suempfen und Moraesten vergiftet ist.“ (Hirschfeld 1780, 3). Wenn sich kein Ort finde, der weit genug von einem Moor entfernt liege, dann ließe sich auch eine Trockenlegung im kleineren Umfang vollziehen. Ein Beispiel für einen auf diese Weise geschaffenen und perfekt angelegten Garten gibt Hirschfeld im fünften Band seiner umfangreich Theorie˗Schrift. Auch dieser erscheint als ein dem ‚Chaos‘ abgetrotztes Kulturprodukt: Der Garten, der zehn Stunden von Paris liegt, ist eine neue Schoepfung, aus einem wilden Chaos hervorgerufen. [...] Jetzt hat ein frisches und lachendes Thal die Stelle einer einfoermigen Ebene eingenommen; der ausgetrocknete Sumpf ist in eine treffliche und angeneh-
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me Wiese verwandelt; ein breiter Fluß hat die stinkenden Kanaele verdraengt, und sein lebhaftes, immer von den Winden bewegtes Wasser, erhaelt sich rein und klar. Die meisten Gegenstaende, die diese Aussicht verschoenerten, erwarteten bloß die Wegraeumung einiger Pflanzungen, die sie versteckten oder von einander trennten. Die weggeschlagenen Baeume entdeckten eine herrliche Gegend, die in einer Entfernung von zwey Stunden von einem Berge begraenzt wird, worauf sich ein Dorf erhebt [...]. (Hirschfeld 1785, 260)
Ein weiterer Topos, der insbesondere die Lyrik des Jahrhunderts durchzieht, inszeniert das Moor als winterliches Refugium der Schwalbe. Diese Annahme ist naturhistorisch informiert, denn über die Frage wo diese Vögel „ihren Winteraufenthalt“ nehmen, „ist seit Aristoteles Zeiten sehr verschieden geurtheilt worden“, wie Johann Friedrich Blumenbach in seinem Handbuch der Naturgeschichte (1779) resümiert. „Viele berühmte Männer“, heißt es bei ihm, „haben behauptet, daß sich die Schwalben im Herbste in Sümpfe verkröchen, und da bis künftigen Frühjahr im Winterschlaf begraben lägen“, während andere die These aufgestellt hätten, dass es sich bei ihnen um Zugvögel handele. Blumenbach gibt beiden Recht, indem er zwischen „Rauchschwalbe und Hausschwalbe“, die „im Herbst von uns ziehn“ und der „Uferschwalbe“, die „bey uns bleibt, und im Schilf schlafend überwintert“ differenziert (Blumenbach 1779, 241). Bei Brockes kommt im Gedicht Der Frosch ein „Fruehlings-Frosch, der / in der Winters-Zeit im Sumpff und im Morast gestecket“ (Brockes 1735, 91) wieder hervor, in einer von Salomon Geßners Idyllen (1756), Daphnis und Chloe, kehrt die „kleine Schwalbe“ aus dem „Winter-Schlaf im Sumpf“ (Geßner 1756, 54) ebenso zurück wie bei Anna Louisa Karsch in dem Frühlingsgedicht An den jungen Lenz (1764). Auch dort kehrt die Schwalbe „aus Sumpf“ zurück, „wie aus verschloßnen Grueften“. Der Sumpf ist Winterquartier, keines der sich in den Gedichten aussprechenden lyrischen Subjekte betritt diese Zone eigenfüßig. Als ein solcher Ort, den niemand freiwillig aufsucht, ist er auch prädestiniert für eine Art ‚alternatives‘ Schäferstündchen, wie es Johann Heinrich Voß in seiner Dichtung Luise imaginiert: Und es erhob Luise den Saum des wei- | ssen Gewandes, | Zeigend den Unterrock und schimmernde | Strümpf’ in der Dämmrung. | So im Geröchel des Sumpfs und dem ein| samen Surren des Käfers, | Längs dem grenzenden Walle, mit Dorn / umwachsen und Haseln, | Gingen sie, wo noch zirpte die Grill’, und | im Kraute der bläulich | Flimmernde Glühwurm lag. (Voß 1795, 72)
Die Liebenden teilen sich mit Frosch und Schwalbe einen Raum, der zudem auch mit sozial Ausgestoßenen assoziiert ist, wie Atkins zutreffend herausstellt: „the moor was where the outcast went – the fugitive, the savage, the misanthrope“ (Atkins 2014, xix). Das Moor verfügt in der Wahrnehmung des 18. und frühen 19. Jahrhundert nicht nur über eine Latenzzone, in der lebensbedrohli-
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che wie bedrohte Elemente verborgen sind, es ist diese Latenzzone, in die der Blick der Dichtung nicht dringt. Es sind gerade keine „nach der Natur gemalten“, sich dem direkten Augenschein oder der Erfahrung verdankenden Thematisierungen, sondern ausschließlich solche der – gleichwohl topisch inspirierten – Imagination. Imaginiert werden jene Orte, in die sich bestimmte Tiere zurückziehen und aus denen sie wieder hervorkommen, in die das empfindende, beobachtende und dichtende Ich jedoch selbst niemals eintritt. Das Moor bleibt aus Perspektive der Literatur Teil der natura obscura. Moor und Sumpf sind durch ihr ‚chaotisches Gepräge‘ auch in ästhetischer Hinsicht undefinierbare Zonen, die sich in den Leitbegriffen des „Schönen“ wie des „Erhabenen“ nicht begreifen lassen. William Atkins hat mit Bezug auf Edmund Burke darauf hingewiesen, dass das Moor in ihnen nicht aufgehe: „Beauty lay in the pastoral valley; in the mountains was the sublime – it was between those poles that the undesignated moor stretched out“ (Atkins 2014, xix). Denn, so begründet er diese Ansicht, „100 yards even grounds“ seien eben etwas ganz anderes als „100 yards high“ (Atkins 2014, xviii) – das Moor hat also die falsche topologische Dimension, um dem „Erhabenen“ zu genügen (oder aber Burke und andere verfügen nicht über das entsprechende Instrumentarium und Wissen, um ein Moor angemessen zu vermessen). Das Moor ist in dieser Wahrnehmung unbestimmt und fällt deswegen durch das Raster, wie auch Thomas Gray 1762 angesichts des Derbyshire Moors bemerkt, das Moor sei „not mountain enough to please one with [their] horror“ (zitiert nach Atkins 2014, xvii). Der vom Moor ausgehende ‚Horror‘ ist gerade nicht derjenige, der vom Erhabenen ausgeht, über den die „Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnisvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich“ (Kant 1977 [1790], 180) zu machen ist. Das Erhabene lässt es zu, dass der Mensch sich qua Distanz und Vernunft jedes noch so große Naturschauspiel unterwerfen kann. Demgegenüber markiert das Moor eine anders gelagerte Negativitätserfahrung. Es ist nicht der sublime Schrecken, der das betrachtende Individuum letztlich erhebt und seiner selbst sowie der Macht des menschlichen Verstandes vergewissert, sondern der Schrecken eines grundlosen Terrains, das herabzieht und vor dem der Verstand kapitulieren muss, weil ihm die benötigten Kategorien zu dessen Durchdringung nicht zur Verfügung stehen. Folglich weiß er sich angesichts dieser fremden Natur nicht anders zu helfen, als diese als ‚Chaos‘ zu bekämpfen und als nützliche ‚Ressource‘ aufzuheben. Zwischen dem Schönen und dem Erhabenen ist (noch) kein Platz. Daher gilt auch in der Ästhetik das Tertium non datur.
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5 Refugium – das Moor als Anderes der Gesellschaft In der Gesamtschau ergibt sich ein recht einheitliches Bild: Moor und Sumpf sind Orte außerhalb menschlicher Lebensräume. Was naturgeschichtliche, ökonomische und literarische Zugänge im 18. Jahrhundert verbindet, ist die Differenz, mit der diese als ‚andere Räume‘ jenseits der Zivilisation markiert werden. Es handelt sich um Räume des Rückzugs, in denen Frosch, Amsel und andere Spezies unbeobachtet sind, ihr Habitat haben – genau jene vom Menschen nicht betretenen Räume, die durch die Urbarmachung aufgehoben werden. Das Eindringen in die Landschaft im Auftrag der Kultivierung wie auch die Betrachtung aus der Distanz setzen beide voraus, dass das Moor mit den ‚Anderen‘ assoziiert wird, mit den Vögeln, Fröschen und Insekten, den ‚Hinterwäldlern‘ in ihrer „Unwissenheit und Trägheit“ (Friedrich II. 1913, 8) oder auch den Ausgestoßenen und Kriminellen. Moore sind in der Wahrnehmung des Jahrhunderts statische Randzonen, die dort aufgelöst werden, wo dynamische Prozesse im Zeichen des Fortschritts sie erfassen, die topisch formierte, unbeobachtete Imaginationsräume bleiben, wo die Dichtung sie thematisiert. Im historischen Moment der planmäßigen Trockenlegung taucht das Moor im Zusammenhang mit möglichen Verlusten nicht auf. Es besteht eine Entweder˗oder˗Konstellation, die erst im 19. Jahrhundert in Wechselwirkungen und ˗beziehungen übergeht, um als Teil der „prekären Natur“ (Nitzke 2018) bewusster und daher facettenreicher diskursiviert zu werden. In dem Moment, wo das Bewusstsein für die möglichen Verluste und die tiefgreifenden sozialen wie ökologischen Transformationen einsetzt, ist das Projekt der „Unterjochung der Naturkräfte“, der „Urbarmachung ganzer Weltteile, Schiffbarmachung der Flüsse“ und „ganze[r] aus dem Boden hervorgestampfte[r] Bevölkerungen“ (Marx, Engels 1999 [1848], 49) jedoch bereits weit fortgeschritten. Die Moorkolonisation der ‚prä˗prekären‘ Phase changiert zwischen drei Optionen: Erstens einer erfolgreichen Verbannung aller nutzlosen und krankheitsbringen Feuchtgebiete, die in für wertvoll erachtetes Kulturland verwandelt werden. Zweitens einem Scheitern an der widerständigen Natur, die sich Auswege sucht und ihre Kolonisatoren übertrifft. Goethes Faust ist Repräsentant dieser letztlich erfolglosen Landnahme. Faust ist einer, „der die unterirdischen Gewalten nicht mehr zu beherrschen vermag, die er heraufbeschwor“ (Marx, Engels 1999 [1848], 51), weil er in seiner Hybris mit Widerstand nicht gerechnet hat. „Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, / Verpestet alles schon Errungne / Den faulen Pfuhl auch abzuziehn / Das Letzte wär das Höchsterrungene.“ (V. 11559˗11562), heißt
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es im Faust II (Goethe 1994 [1832], 445). Die menschliche Gestaltungsmacht vermag einiges, aber an der „Wasser˗Erde“ (vgl. Detering 2020, 216) muss sie scheitern, wenn dort der Ursprung allen Lebens liegt, der sich stets auf anderem Wege behaupten werde. Eine dritte Option schließlich artikuliert sich mit der Entstehung einer sentimentalischen Haltung zum Moor. Auch wenn warnende Positionen wie die Rousseaus noch die Ausnahme sind, setzen mit der jüngeren Generation romantisch geprägte ‚grüne‘ Utopien ein, die Ahnungen der Verluste formulieren. Denn erst „als diese Moore zu verschwinden begannen, lernten die Deutschen – manche Deutsche –, in ihnen etwas ‚Romantisches‘ zu sehen.“ (Blackbourn 2008, 11) Moore werden dann sowohl als Verluste bestimmter ästhetischer Potentiale fassbar, die für die Kunst und Kontemplation so wichtig sind, wie auch als schwindende Ökosysteme, mit denen vielleicht mehr verloren geht als mit den Kolonien gewonnen wurde.
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Philip Kraut
Das Moor in der deutschen Altertumskunde des 19. Jahrhunderts Zusammenfassung: In diesem Beitrag werden in quellendokumentarischer Absicht die einschlägigen Stellen der Forschungsliteratur zu germanischen Mooren und Sümpfen aus der Frühzeit der germanischen Altertumskunde vorgestellt. Archäologische Funde wie Moorleichen und Grabbeigaben prägen heute das populäre Bild des germanischen Altertums, doch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts stand zunächst die Erforschung der schriftlichen Überlieferung im Vordergrund. Die Forscher schöpften ihr landschaftliches Bild des alten Germaniens zunächst aus antiken griechischen und römischen Quellen (vor allem aus Tacitus) und mit dem fortschreitenden Verständnis der alt- und mittelgermanischen Sprachen auch aus einheimischen Texten. Im damaligen wissenschaftlichen Diskurs über germanische Moore sind gegensätzliche Positionen erkennbar. Während Adelung die antiken klimatheoretisch unterfütterten und abwertenden Topoi der rauen germanischen Landschaft tradierte, zeichneten spätere Philologen wie Grimm und Müllenhoff ein objektiveres Bild der germanischen Feuchtgebiete. Neben der Geographie und Ethnologie des Moores werden im Artikel auch archäologische, mythologische und rechtshistorische Moordiskurse angeschnitten.
1 Philologische Grundlagen Die Wörter Moor und Sumpf wurden im 19. Jahrhundert annähernd synonym verwendet und werden es in der Umgangssprache auch heute noch, wobei der Hauptunterschied zwischen den beiden Feuchtgebieten, nämlich die Torfbildung des Moores, heute wie damals bekannt ist. Das niederdeutsche Wort Moor war noch im 18. Jahrhundert außerhalb Norddeutschlands wohl wenig gebräuchlich; ein (mittel)hochdeutsches muor, das neuhochdeutsch Mur lauten müsste, starb früh aus und man gebrauchte im hochdeutschen Sprachgebiet Begriffe wie Moos, Lohe, Ried (Bittmann 2002, 217). Ein Eintrag in Zedlers (1739, 794) Lexikon zeigt für Moor variable Schreibungen: „Moer heissen in Hertzogthum Bremen und bey den Niederländern grosse und tieffe Sümpfe als da sind Divelsmör,
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Gandemör, Kadingermör u. s. w.“.1 In der 5. Auflage des Brockhaus (1819–1820, Bd. 6, 533–534 bzw. Bd. 9, 661) wird Moor als „sumpfiges morastiges Land mit einem schwarzen Boden, in welchem gewöhnlich Torf gegraben wird“ definiert, zum Sumpf heißt es: „ziemlich gleichbedeutend mit Morast, Moor, Bruch oder Gebrüche“; in der 9. Auflage (1843–1848, Bd. 9, 714 bzw. Bd. 14, 19) zunächst ähnlich, aber zusätzlich mit der Information, dass Moor „von meist schwarzer Beschaffenheit in Folge der vegetabilischen Beimischungen [sei]. Dem Moor steht entgegen der S u m p f (s. d.) und zwischen beiden der B r u c h (s. d.)“; im Artikel zum Sumpf wird aber wieder ein untergeordnetes Verhältnis der Begriffe zueinander behauptet: „Berüchtigt sind schon aus dem Alterthume die P o n t i n i s c h e n S ü m p f e (s. d.). Andere große Sumpfflächen sind der Morast Sövenhäz bei Raab, das Torfmoor zwischen Eupen und Malmedy, das Teufelsmoor bei Bremen, das Burtanger an der Grenze von Oldenburg“. Einschlägige Stellen aus römischen Schriftstellern zur historischen Geographie Germaniens enthalten das allgemein stehendes Wasser, Sümpfe, Pfützen, Pfuhle bezeichnende lateinische Wort palus, siehe etwa Tac. Germ. 5, 1: „Terra etsi aliquanto specie differt, in universum tamen aut silvis horrida aut paludibus foeda, humidior, qua Gallias, ventosior, qua Noricum ac Pannoniam aspicit“ (Grimm 1835b, 3).2 Notwendige Grundlage für die altertumskundlichen Studien im historischphilologischen Paradigma des 19. Jahrhunderts war – neben den klassischen Sprachen – das grammatische und semantische Verständnis der altgermanischen Sprachen. Neben Mitforschern wie Georg Friedrich Benecke oder Karl Lachmann gehörten die Brüder Grimm zu den ertragreichsten historischen Linguisten und deutschen Philologen. Jacob Grimm fasste seine jahrelangen Sprachstudien in der mehrbändigen Deutschen Grammatik (1819–1840) zusammen, in der auch Wörter für Moor und Sumpf aus germanischen Sprachen vorkommen. In Grimms (1822, 231) angelsächsischer Lautlehre zum Beispiel diente das Wort môr mit dem lateinischen Interpretament palus als Wortbeleg für das lange angelsächsische (altenglische) ô; in einem späteren Band vermutete Grimm (1831, 382, Anm. *) das Moor-Wort in einer Anmerkung en passant als Ableitung des MeerWortes – eine heute noch akzeptierte Erklärung: „wahrscheinlich stehen mari || 1 Offenbar wurde das Dehnungs-e in Moer (wie im Ortsnamen Soest) als Umlaut missverstanden und deswegen das Moor-Wort im Artikeltext -mör geschrieben. Siehe zu weiteren einschlägigen Stellen aus diesem Lexikon auch das Register, s. v. Zedler. 2 Übersetzung: Perl 1990, 85: „Das Land ist zwar im einzelnen recht unterschiedlich, doch im ganzen gesehen teils durch seine Urwälder schaudererregend, teils durch seine Sümpfe widerlich, feuchter nach Gallien, windiger nach Norikum und Pannonien hin“. – Zum Bedeutungsspektrum von palus siehe z. B. verschiedene Auflagen des lateinisch-deutschen Wörterbuchs von Karl Ernst Georges aus dem 19. Jahrhundert.
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(mare) und muor (lacus, palus) in ablautsverhältnis“.3 Auch das possierliche, in der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft beliebte gotische Wort swumsl ‚Teich‘, das lautlich an Sumpf erinnert und zu dem es Grimm (1826, 33) auch stellt, kommt in der Deutschen Grammatik vor. Die Lektüre, Exzerption und das Verständnis germanischer einzelsprachlicher Quellen bildete die Basis für die grammatische Auswertung der Sprachbelege, genauso wie die systematische Erfassung und sprachhistorische Deutung solcher Sprachbelege das tiefere inhaltliche Verständnis der Quellentexte erst bedingte. Philologen und Altertumswissenschaftler des 19. Jahrhunderts verwendeten die Begriffe Moor und Sumpf oftmals synonym, mit einer Tendenz zur häufigeren Nutzung des Wortes Sumpf. Die trennscharfe naturkundliche Unterscheidung von torfhaltigem Moor und dem allgemeineren Begriff Sumpf war offenbar gar nicht immer nötig, um historische geographische Verhältnisse des alten Germanien zu beschreiben. Altertumskundliche Schriften aus dem 19. Jahrhundert habe ich deswegen für meinen Aufsatz nach den Stichwörtern Moor, Sumpf und weniger systematisch nach Torf durchsucht.4 Da mir zu einem zunächst nur vermuteten Diskurs über Moore im 19. Jahrhundert keine wissenschaftshistoriographischen Arbeiten bekannt sind, soll vorliegender quellendokumentierender Aufsatz einige grundlegende Fragen beantworten: Wer schrieb mit altertumskundlichem Interesse über Moore und Sümpfe? Wie wurde das altertumskundliche Thema Moor bearbeitet? Welche Quellen wurden verwendet? Inwiefern bezogen sich die Forschungsarbeiten aufeinander oder sind auch singuläre Positionen erkennbar? Welche Stellung hatte der historisch-geographische Diskurs generell in der Wissenschaftsgeschichte der deutschen Philologie und Altertumskunde des 19. Jahrhunderts? Veränderte sich die Forschungsdiskussion über die Zeit und wenn ja, wie? Mein Erkenntnisinteresse konzentriert sich wissenschaftsgeschichtlich auf Forschungen über Moore und Sümpfe Germaniens und nicht auf ihre Realgeschichte.5 Folgende Texte mit altertumskundlichen Inhalten habe ich hauptsächlich verwendet:
|| 3 Zu einer aktuellen Etymologie dieses Wortes siehe Kroonen 2013, s. v. mōra-. 4 Wenn vorhanden, bin ich von den Inhaltsverzeichnissen und Registern der besprochenen Werke ausgegangen; weitere Ergebnisse lieferte die – teilweise sehr ungenaue – Suche in OCRVolltextdigitalisaten der Bücher. Zur besseren Lesbarkeit der Textstellen ergänze ich bei Bedarf zeitgenössische Abkürzungen von Quellennachweisen und Ähnlichem in eckigen Klammern. 5 Siehe zur realhistorischen Perspektive z. B. den aufschlussreichen Artikel „Sümpfe in Germanien. Topos oder Realität“ von Zerjadtke (2018); auch Steuers (2007) Aufsatz „Besiedlungsdichte, Bevölkerungsgrößen und Heeresstärken während der älteren Römischen Kaiserzeit in der Germania magna“. – Felix Manczak, Elisabeth Rudolph und Dr. Michael Zerjadtke danke ich herzlich für Korrekturlektüren meines Aufsatzes.
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Johann Christoph Adelungs (1806) Aelteste Geschichte der Deutschen, Werke und Briefwechsel der Brüder Grimm, Gustav Klemms (1836) Handbuch der germanischen Alterthumskunde, Kaspar Zeuß’ (1837) Die Deutschen und die Nachbarstämme, Carl Fraas (1865) Geschichte der Landbau- und Forstwissenschaft, Karl Müllenhoffs (1870–1908) Deutsche Altertumskunde, Ludwig Lindenschmits (1880–1889) Handbuch der deutschen Alterthumskunde.6 Diese Auswahl steht im Einklang mit den wissenschaftsgeschichtlichen Ausführungen im Artikel „Germanen, Germania, Germanische Altertumskunde“ im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde (Beck 1998). Die folgende Quellendokumentation ist nach inhaltlichen Aspekten und erst in zweiter Hinsicht nach der Chronologie der exzerpierten Werke geordnet, weil so ihre Unterschiede und Gemeinsamkeiten besser vergleichbar sind. Die besprochenen Aspekte im Hinblick auf das Thema Moor im 19. Jahrhundert sind folgende: Geographie und Ethnologie, Archäologie, Mythos und Recht.
2 Geographie und Ethnologie 2.1 Johann Christoph Adelung (1732–1806) Adelung war weit entfernt von einer emphatischen Aufwertung des germanischen Volkslebens, wie es aus der deutschen Altertumskunde des 19. Jahrhunderts bekannt ist. Der Gelehrte hielt sich in seiner Aeltesten Geschichte der Deutschen von 1806, die Rudolf von Raumer (1870, 237) später als „giftige Schmähschrift auf die alten Germanen, das gerade Widerspiel von Tacitus Germania“ nannte, eng an die Bewertung Germaniens durch antike Autoren. Adelung schreibt: Wie sehr große an einander hangende Wälder, Seen, Sümpfe und Moräste das Austreten der Flüsse und Bäche begünstigen, und überhaupt den Luftkreis feucht, kalt und ungesund machen, ist bekannt, daher Griechische und Römische Schriftsteller uns Deutschlands Clima nicht fürchterlich genug schildern können[ ]. (Adelung 1806, 160)
Demgemäß geht Adelung von einer schwachen Bevölkerung mit „rohe[r] Lebensart“ aus:
|| 6 Für den sporadischen Abgleich mit dem jüngeren Forschungsstand habe ich die Onlineversion des Reallexikons der Germanischen Altertumskunde konsultiert (Germanische Altertumskunde Online: https://www.degruyter.com/database/gao/html; Zugriff: 19. April 2022).
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In einem solchen Lande, wo der Mensch den Raum mit wilden Thieren, zahmen Heerden, Wäldern, Sümpfen und Seen theilen muß, kann die Bevölkerung nicht anders als schwach seyn, zumahl bey Völkern, wo der Feldbau nur das höchste Nothmittel, zahme und wilde Thiere aber die vornehmste Nahrung sind. (Adelung 1806, 161–162)
Caesar und Tacitus argumentierten laut der jüngeren Geschichtsforschung bezüglich Germanien noch nicht im Sinne einer in der Antike verbreiteten Klimazonentheorie7 – Sümpfe per se waren auch kein Teil dieser Theorie – und Sümpfe gehörten in den Werken dieser Autoren wohl noch nicht zu einem etablierten Germanientopos (Zerjadtke 2018, 264–265). Adelung schöpfte sein Bild des antiken Germanien aus der antiken und nachantiken Tradition, in der sich im Nachgang zu Caesar und Tacitus die Berichte über Germanien gewissermaßen literarisch verselbstständigten und sich geographische Topoi verfestigten, die Adelung wiederum unkritisch reproduzierte. Ein eng mit dem Moor assoziiertes germanisches Volk seien laut Adelung die Friesen: Der Nahme des Volkes ist vermuthlich von der Beschaffenheit des Bodens hergenommen. Die ganze Küste der Nordsee bis weit in Westphalen liegt tief, oft tiefer als das Meer, und bestehet aus Fließsand, auf welchem ein vier bis acht Schuh tiefes Moor liegt. Bey hoher See oder auch nur bey starkem Regen bleibt das Wasser auf dem Sande stehen und hebt das Moor, welches dann zu schwimmen scheint, und bey der geringsten Bewegung bebt. Dergleichen Stellen, deren es in den ältern Zeiten vor Einführung der Dämme noch mehr geben mußte, heißen in Nieder-Deutschland B e b e l a n d , und das will denn auch wohl der Nahme F r i e s e n sagen, vom Nieders.[ächsischen] f r e s e n , zittern, beben. (Adelung 1806, 257–258)
Seine Etymologie wurde später nicht aufgegriffen (Neumann 1998), doch ist sie in ihrer Methode charakteristisch auch für spätere Versuche, germanische Völkernamen aus der geographischen Beschaffenheit ihres Siedlungsgebietes abzuleiten. Adelung mag hier stellvertretend für eine ältere Generation deutscher Altertumskundler stehen, die noch nicht im neuen historisch-philologischen Paradigma auf modern-sprachwissenschaftlicher Grundlage arbeiteten, das sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts erst zu entwickeln begann. Neben Adelungs Werk gab es zwischen 1800 und 1830 noch eine Handvoll germanisch-altertumskundlicher Beiträge heute weitgehend unbekannter Autoren,8 die aber den Umfang und die || 7 „Wahrscheinlich auf Hippokrates zurückgehend, lieferte sie einen Kausalzusammenhang zwischen dem Naturraum und der physischen wie mentalen Konstitution der Landesbewohner,[ ] wobei der Norden und der Süden durch ihre feuchtkalten bzw. heißen und trockenen Extreme schädlich für die Menschen seien“ (Zerjadtke 2018, 264–265). 8 Siehe die Bibliographie von Klemm 1836, 390–391.
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Qualität der Schriften der Brüder Grimm, Klemms, Zeuß’ und später Müllenhoffs nicht erreichten. Eine Wende kam mit den historisch-sprachwissenschaftlichen Werken Franz Bopps, Rasmus Rasks und Jacob Grimms sowie mit den seit den 1810er Jahren erscheinenden größeren Arbeiten der Brüder Grimm.
2.2 Jacob Grimm (1785–1863) Grimm schätzte Adelung und führte dessen Forschungsthemen weiter, wenn auch unter anderen, weiterentwickelten theoretischen Grundsätzen der historisch-philologischen Methode. In den 1830er Jahren arbeitete Grimm eine Vorlesung über deutsche Altertumskunde aus, der er seine aktuellen Publikationen zugrunde legte und die aus drei Teilen bestand: Tacitus’ Germania, deutsche Rechtsaltertümer und deutsche Mythologie. Die Vorlesung ist durch Mitschriften überliefert (die wichtigste stammt von Adolph von Warnstedt, es gibt aber zum Beispiel auch Notizen des Studenten Jacob Burckhardt) und wurde 1974 ediert. Grimm gab Tacitus’ Text 1835 eigens für seine Zuhörer als praktische Leseausgabe heraus, in der er den Text der Germania um inhaltlich einschlägige Stellen aus den Historien und Annalen ergänzte. Grimm griff den antiken Topos der rauen germanischen Landstriche und Adelungs Bewertung ihrer schwachen Bewohner nicht auf, sondern führte in seiner Vorlesung recht nüchtern und quellengestützt Informationen zu Flüssen und Wäldern Germaniens sowie Städten entlang des Rheins auf (Grimm 1974, 34–39), wobei der Ton, die mündlichen Details des Grimm’schen Vortrags in der studentischen Mitschrift naturgemäß fehlen. Der Adelung’schen Etymologie des Volksnamens der Friesen von ihrer Mooranwohnerschaft widersprach Grimm explizit und stellte eine eigene, auch noch im 20. Jahrhundert diskutierte Etymologie auf. In der an dieser Stelle etwas notizhaften Vorlesungsmitschrift heißt es dazu: Wir schreiben heute zum Teil Frisi mit ie; führt sich schon ziemlich hoch hinauf [i. S. v. ist schon sehr alt, Ph. K.], durch die Reime des Mittelalters gerechtfertigt. Die Bedeutung ist für die richtige Erklärung nicht unwichtig. Friesien – tremere – frieren – beben – aufs Land bezogen; dies fällt weg, wenn man ein kurzes i gebraucht. Frislen – Locken, also Lockige, wie im Französischen friser, frill der Engländer. (Grimm 1974, 49)
Dass die Friesen nach ihren lockigen Haaren – und nicht, wie Adelung meinte, nach dem bebenden Moorboden – benannt sein könnten, wurde auch später noch ausgiebig diskutiert (Neumann 1998, 3). Grimm berichtet in seiner Vorlesung auch über andere mit Mooren und Sümpfen assoziierte Völker. Über die belgischen Menapier links des Rhein-Maas-
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Deltas, die Caesar zu den linksrheinischen Germanen zählte, und andere Stämme erfährt man aus Grimms Vorlesung Folgendes: Besiegung der Gallier, die Belgier widerstanden länger, als deutschen Ursprungs. Die Ubier traten in das Bündnis mit den Römern, sie verließen die deutsche Sache (Colonia Agrippinensis). Die Menapier und Moriner weigerten sich, Gesandte an Caesar zu schicken. Sie wohnten in Flandern. Die Menapier zogen sich in ihre Sümpfe zurück. (Grimm 1974, 28)9
Caesar war es zunächst nicht möglich, die Menapier zu unterwerfen, da sie in Kleinsiedlungen lebten, die durch Sümpfe und Wälder geschützt waren, wie es in Caesars Kriegsbericht heißt (Caes. Gall. 6, 5, 4; Grünewald 2001, 527). Wenn Sümpfe in der Überlieferung einerseits als mythische Gegenwelt zum menschlichen Lebensraum, als Ort von sakralen Ritualen, als Ort des Todes belegt sind (siehe unten), so erscheinen sie im obigen Zitat für die Bewohner als schützender Lebensraum vor Aggressoren. Weniger zur Verteidigung, sondern als taktisches Terrain nutzten die Goten die Donausümpfe im Jahr 251 in einer für die Römer verheerenden Schlacht, in der Kaiser Decius und sein Sohn getötet wurden.10 Die Menapier-Textstelle und die Donauepisode deuten darauf hin, dass die negative Bewertung der germanischen Moorlandschaften durch die Römer einer stereotypen Sicht auf die Barbarenstämme entsprach, wohingegen die Perspektive der Germanen nur indirekt ermittelt werden kann. Die römischen Stereotype und Topoi hinsichtlich der germanischen Landschaft sollten differenziert bewertet werden, denn ein literarischer Topos bestreitet nicht eo ipso die realhistorische Korrektheit der Beschreibung. Jüngere Forschung hat herausgefunden, dass die römischen Lokalisierungen germanischer und allgemein europäischer Moor- und Sumpfflächen im Großen und Ganzen den realen geographischen Gegebenheiten entsprechen; zudem bewegten sich die römischen Truppen oft durch niederländisches und nordwestdeutsches Terrain, sodass der römische Eindruck von Germanien von der dortigen Landschaftsform insgesamt geprägt wurde (Zerjadtke 2018, 279, 281). Grimm selbst interpretiert in seiner Vorlesung die zitierten Begebenheiten nicht, jedenfalls deutet die Vorlesungsmitschrift nicht darauf hin.
|| 9 Ein weiteres germanisches Volk, das in einem Feuchtgebiet siedelte, waren die angelsächsischen Gyrwas in den Fenlands im östlichen England (siehe auch Zeuß 1837, 498). 10 Schlacht von Abrittus. Dazu Zeuß 1837, 404: „Antrieb zu neuen Unternehmungen gab den Gothen der glückliche Erfolg ihres Kampfes gegen Decius, durch den der römische Kaiser in den Sümpfen der Donau (Tanais irrig bei Zosimus) seinen Tod fand (251) und sein Nachfolger Gallus gezwungen war, ihnen einen jährlichen Tribut zu zahlen (Zosim. 1, 23. 24 )“.
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Bei Plinius ist, wie Grimm in der Vorlesung zum Volk der Chauken anführt, auch die wirtschaftliche Nutzung des Moores belegt (hier „Cauchen“ geschrieben): Diese Cauchen waren ein sehr großes Volk, genau zwischen Ems und Elbe wohnend. Sie müssen sich zugleich auf der rechten Weserseite bedeutend nach Süden erstreckt haben. Sie erfüllen einen großen Raum; schon von Tacitus als solcher bezeichnet, c. 35 Germania. Tacitus lobt sie, Plinius tadelt sie; er macht eine klägliche Beschreibung von ihnen: Plinius Nat.[uralis] Hist.[oria] XVI 1. Er legt ihnen Torf bei. (Grimm 1974, 50)11
Diese bekannte frühe Erwähnung des Torfabbaus bei Plinius (nat. 16, 4) lautet wie folgt: „ulva et palustri iunco funes nectunt ad praetexenda piscibus retia captumque manibus lutum ventis magis quam sole siccantes terra cibos et rigentia septentrione viscera sua urunt“ (Plinius 1991, 16).12 Das Volk der Chauken nutzte also laut Plinius Rohstoffe des Moores für den Fischfang, indem es Netze aus Riedgras und Sumpfbinse anfertigte und getrockneten Torf als Brennmaterial verwendete. Indem Grimm Tacitus und Plinius nüchtern referiert und etwaige drastisch-negative geographische Beschreibungen ausspart, zeichnet er im Vergleich mit Adelung ein wesentlich objektiveres Bild des alten Germanien.
2.3 Gustav Klemm (1802–1867) Anders als Grimm gebrauchte Gustav Klemm in seinem Handbuch der germanischen Alterthumskunde von 1836 die Bezeichnung deutsch für die deutsche Geschichte im engeren Sinn seit dem Mittelalter und germanisch für Völker des früheren Zeitraums zwischen Caesar und der Christianisierung deutscher Stämme (Klemm 1836, XI). Klemm bietet eine konzise und gehaltvolle Zusammenfassung der deutschen Altertumskunde, indem er Quellen und Forschungsliteratur von den Anfängen bis in die 1830er Jahre bibliographisch vollständig zu erfassen versucht. Auch Klemm kennt natürlich die loci classici der Geographie Germania magnas:
|| 11 Siehe auch Grimm 1848, Bd. 2, 673 zum Gebiet der Chauken: „Das ist der damals noch unurbare strand des Harlinger, Butjadinger und Hadeler landes mit seinen dämmen gegen die nordsee[ ], den ärmlichen fischerhütten und dem torf; heute mangelt es da nicht an fetten wiesen und rindern“. 12 Übersetzung: Plinius 1991, 17: „Aus Riedgras und Sumpfbinse knüpfen sie Stricke zusammen, um daraus Netze für den Fischfang herzustellen; mit bloßen Händen sammeln sie den Schlamm, lassen ihn mehr durch die Winde als durch die Sonne trocknen und wärmen mit dieser Erde die Speisen und ihre eigenen, durch das Wehen des Nordwindes erstarrten Körper“.
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Und so schildern denn auch die Alten*), denen der Norden überhaupt der Sitz der Düsterheit war, unser Vaterland als ein rauhes, unwirthbares Land, wo nur der Eingeborne auszudauern vermöge, das voll schrecklicher Wälder und eisbelegter Ströme, unwegsam, voll Sümpfe und Brüche sey. (Klemm 1836, 3)13
Und anders als Adelung hält sich Klemm mit extremen Bewertungen der germanischen Landschaft und ihres Klimas zurück, indem er kritisch abwägt zwischen den „Uebertreibungen der Römer“ (Klemm 1836, 5) und denjenigen, die behaupteten, dass heute wie damals das gleiche Klima geherrscht habe. Abgesehen von den Fragen, ob die Lichtung der Wälder, die Einuferung der Flüsse und Seen, die Trockenlegung der Moräste wesentlich zur Milderung des Klima beigetragen, so ist doch gewiss, dass die Schilderung, welche die Römer von Deutschland entwerfen, die deutlichsten Spuren des Missmuthes über verfehlte Kraftanstrengungen, der getäuschten Erwartung, namentlich aber auch der Unkenntnis2) an sich trägt. (Klemm 1836, 3–4)14
Klemm zitiert Plinius’ (nat. 17, 26) Lob der Viehweiden Germaniens und die oben schon angeführte Stelle über das Torfstechen der Chauken (Plin. nat. 16, 4). Nicht uninteressant ist es, dass Klemm die antiken Zeugnisse mit modernen Berichten stützt, etwa Plinius’ (nat. 17, 26) Angabe, dass unter der dünnen Grasnarbe15 Sand sei: „Gerade so ist der Boden des Spreewaldes beschaffen, wo über weissem Kiessande 2–4 Fuss Wasentorf liegt. S.[iehe] Franz der Spreewald. Görlitz 1800. 8. S. 30.“, schreibt Klemm (1836, 15, Anm. 1). Um die sumpfigen und morastigen Böden Norddeutschlands zu illustrieren, führt Klemm in einer Fußnote Johann Gottfried Hoches lebendige Beschreibung aus dessen Reise durch Osnabrück und Niedermünster in das Saterland, Ostfriesland und Grönigen an. Vielleicht hatte Klemm selbst noch kein Moor besucht und interessierte sich deswegen besonders für Reisebeobachtungen in der jüngeren Literatur wie der folgenden: Eine halbe Stunde waren wir auf diesem magern Boden gegangen, als ich zuerst bemerkte, daß die Erde unter mir schwankte. Ich sank wenigstens einen halben Fuß tiefer hinein, als der Boden drei Schritte von mir war. Mit Wagen und Pferden kann man hier nicht durchkommen, und muß einen weiten Umweg durch Sandfelder nehmen. Die Oberfläche hängt fest zusammen, wie Leim, dehnt sich unter dem Fußtritte elastisch aus, sinkt ein, und hebt
|| 13 Klemms Anm.: „*) Mela de situ orbis III. 3. Seneca de providentia c. IV. Taciti Germ. c. II. u. V. Dazu die Erläuterungen von Ernesti und Rühs, namentlich der letztere S. 162 ff.“. 14 Siehe Klemms (1836, 3–4) Anm. 2, dass die Römer nur in einzelnen Kriegszügen ins Innere Germaniens gedrungen seien, dass die Varusschlacht diese Unternehmungen beendete und dass die Römer danach nur Westfalen, Friesland und das Rheinland näher kennen lernen konnten. 15 So die moderne Übersetzung Plinius 1994, 27.
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sich allmählich wieder, wenn der Fuß aufgehoben wird. Das Gehen wurde mir unangenehm. (Hoche 1800, 15–16)16
Die Beschreibung erinnert ein wenig an das bebende, zitternde Land der Friesen bei Adelung. Die Detailliertheit in Hoches Naturbeobachtung ist jedenfalls bemerkenswert, umso mehr, wenn man bedenkt, dass Moore damals zum Alltag von Teilen der norddeutschen Bevölkerung gehörten, was eine genaue Beschreibung der Moorlandschaft prima facie überflüssig macht. Klemms Interesse an solchen gegenwärtigen Landschaftsbeschreibungen speist sich wahrscheinlich aus seinem besonderen archäologischen Interesse (siehe unten).
2.4 Kaspar Zeuß (1806–1856) Zeuß meinte in seinem historisch-ethnographischen Werk Die Deutschen und die Nachbarstämme von 1837 mit der Bezeichnung deutsch – im Einklang mit den Brüdern Grimm und im Gegensatz zu Klemm – meist allgemein germanische Völker, auch wenn er den Ausdruck hier und da etwas uneinheitlich verwendete (Schmitt 2007, 519). Die Germanen galten ihm als „das thätigste und mächtigste Volk in diesen Umwälzungen“ (Zeuß 1837, III) der Völkerwanderungszeit. Seine Ausführungen in der Vorrede sind ausdrücklich gegen frühere Gelehrte gerichtet, die wie Adelung in den Germanen Barbaren im Gegensatz zu den klassischen antiken Völkern sahen. Zeuß schreibt: Solches kriegsrüstigen nordischen Geistes unerachtet müssen wohlverdienter Vergessenheit jene Meinungen anheimfallen, welche in ihm nur Wildheit und Rohheit sahen, in der er sich nicht einmal zu einer mythischen Vorstellung erhoben hätte. Unsere Nordvölker sind nach den unumstösslichen Zeugnissen der Sprache und des Götterglaubens ebenbürtig den gebildeten Völkern des Südens […] (Zeuß 1837, V),
wobei die südlichen Kulturgüter durch das Vorhandensein von Schrift mithilfe von Rhetorik und Kunst erhalten wurden, wohingegen für das Kriegshandwerk prädestinierte und illiterate Nordstämme „als kräftige Natursöhne lebten“ (Zeuß 1837, V). In seiner geographischen Einleitung behandelt Zeuß weniger das germanische Kulturland mit seinen Wäldern und Sümpfen, sondern geologische Grundlagen der Gebirgszüge und Flüsse, für deren Namen er sich besonders interessiert. Überhaupt ist sein Werk sprachhistorisch und historisch-vergleichend ausgerichtet mit einem Schwerpunkt auf onomastisch-etymologischen
|| 16 Zitiert von Klemm 1836, 15–16, Anm. 3.
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Deutungen von nicht nur germanischen Orts- und Volksnamen. So vermutet er über den gallischen Stamm der Arecomici an der Rhone bei Nîmes aus dem Volk der Volcae, dass sie „von ihren Sümpfen beigenannt“ seien („Com im Keltischen See?“, Zeuß 1837, 207, mit Anm. *), ähnlich die Etymologie der Finnen: Zu Finni steht goth. fani, ahd. fanni, fenni (Sumpf), in demselben Ablautsverhältnisse wie ahd. Sazzon zu Sitones, Lazzi zu Leti, Liti, samanon zu Semnones (=Simnones). Finni ist also deutsche Bezeichnung des grossen Nordstammes nach seinen Sitzen an zahlreichen Sümpfen und Seen. (Zeuß 1837, 272, Anm. **)
Beim Geographen von Ravenna finde sich östlich der Elbe ein Gebietsname Mauringa, den Zeuß vermutungsweise mit dem Wort für Moor in Verbindung bringt: „Vielleicht war Mauringa bloss Benennung des Flachlandes im Osten der Elbe, aus maur=môr, dem jetzigen Moor, Sumpfland?“ (Zeuß 1837, 472, Anm. **) Zu den Slawen an der oberen Donau und Elbe zählt Zeuß die Lusici, von denen die Lausitz ihren Namen hat. Der Name Lusici selbst stamme „von luzha, Pfütze, passende Bezeichnung der sumpfigen Landschaft unter den milzienischen Höhen, dann Benennung ihrer Bewohner“ (Zeuß 1837, 645). Auch der auf der griechischen Peloponnes siedelnde slawische Stamm der Ezeriten könnte nach sumpfigen Niederungen, nämlich nach denjenigen des Eurotasflusses, benannt sein, nach „slaw. jezero, ozero, Sumpf, See“, wie Zeuß (1837, 634, Anm. *) argumentiert. Wenn auch solche onomastischen Etymologien nur für einen kleinen Expertenkreis verständlich und bewertbar waren, so halfen sie doch damals wie heute, anschauliche Bilder von kleineren und wenig belegten Volksgruppen zu zeichnen. Namenformen und -bedeutungen können Informationen über die Lokalisierung von Stämmen und Zusammenhänge mit anderen, ähnlich benannten Stämmen enthalten. Die bei Plinius (nat. 4, 101) im Rheinmündungsgebiet belegten Marsaker (lat. Marsaci) siedelten neben den Friesiern, Chauken, Frisiavonen und Sturiern. Zeuß verband die Marsaker etymologisch mit den Marsen, einem germanischen Stamm südlich der Lippe. Der Name Marsaker sei nicht als „Meersassen zu deuten, was Marisati erwarten liesse“, sondern sei „wohl als Derivatum neben Marsigni zum Namen Marsi zu stellen“, so Zeuß (1837, 138, Anm. *).
2.5 Jacob Grimm und Johann Martin Lappenberg (1794–1865) Ausgangspunkt für eine andere Etymologie der Marsaci waren Jacob Grimms (1852a) Erläuterungen zu einer das Kloster Corvey betreffenden Urkunde aus dem zwölften Jahrhundert, in dem ein als Ortsname gedeutetes Wort morsacio vorkommt. Eine zu einer der Parteien des rechtlichen Vorgangs gehörende Person starb in dem Gebiet morsacio, wie es in der Urkunde erwähnt ist, und Grimm
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konnte tatsächlich aus verschiedenen mittelalterlichen Chroniken im Jahr 1092 einen kleinen Krieg der Westfalen gegen einen friesischen Stamm nachweisen, dessen Schreibung variiert: Die von Grimm zitierten Chronisten sprechen von Morsaciensibus und Morseton. Unter der Annahme, dass in mittelalterlichen Handschriften die Buchstaben c und t leicht verwechselt werden konnten, kommt Grimm (1852a, 367–368) zu dem Ergebnis, dass das ominöse Wort morsacio ein Gebietsname mit der Lautung Morsatio sei, in dem der friesische Stamm der Morseton (Morseten) lebte, der 1092 über die Westfalen siegte. Der Stamm konnte – wie die oben genannten Menapier – Angriffe wohl durch die günstige Lage seines sumpfigen Gebiets abwehren (Grimm 1852a, 372). Die Morseten lokalisierte Grimm im Gebiet des heutigen Aurich und erklärte ihren Namen etymologisch als Moor-Sitzer (‚diejenigen, die im Moor wohnen‘). Diese Deutung hat sich bis heute gehalten (Tiefenbach 2002, 254). Aufgrund geographischer Nähe und des synonymen Namenvorderglieds assoziierte Grimm den Stamm der Brokmer (Brok‚Bruch-, Moor-‘) mit den Morseten. Morseten und Brokmer seien nur Namenvarianten des gleichen Stammes. Um den Bogen zu Kaspar Zeuß und den Marsakern im Rheindelta zurückzuspannen: Jacob Grimm sprach über die oben genannte Urkunde und seine Erkenntnisse in der Berliner Akademie und publizierte die Abhandlung unter dem Titel „Über eine Urkunde des XII Jh.“. Seinem Freund und Arbeitskollegen Johann Martin Lappenberg, einem Hamburger Archivar und bekannten Historiker, übersandte er 1852 die Abhandlung und bat um weitere Belege zum Stamm der Morseten. Lappenberg möge ihm mitteilen, was ihm sonst noch aus urkunden oder schriftstellern über die Morseten bekannt ist (sie könnten auch Morsten, Marsten heissen); in einem noch zu druckenden nachtrag soll ausgeführt werden, dass sie die Marsaci oder Marsacii des Plinius und Tacitus sind. Die stelle des scholiasten zu Adam v.[on] Br.[emen] 289, 25 kenne ich und was Sie dazu anführen. (Friemel et al. 2022, 377, Nr. 82)
Grimm hatte also vor, eine alternative Erklärung zu Zeuß zu geben, der den Namen der bei Plinius erwähnten Marsaker im Rheindelta etymologisch zu den Marsern stellte und die Deutung als Marisati verwarf. Grimms Briefpartner Lappenberg (1846, 289, Anm. 32) hatte einige Jahre früher in einer Anmerkung in seiner Monumenta Germaniae Historica-Edition des mittelalterlichen Chronisten Adam von Bremen die Plinius-Stelle mit den Marsakern auf die später belegten friesischen Morseten bezogen. In seiner brieflichen Antwort im Jahr 1852 teilte Lappenberg Grimm über die Anmerkung in der Monumenta Germaniae Historica-Edition hinausgehende Informationen über die Morseten aus mittelalterlichen norddeutschen Geschichtsquellen mit, etwa dass neben den Morseten und
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Brokmern noch ein weiterer Stamm, die Mormer (deren Namenvorderglied wiederum ‚Moor‘ bedeute), erwähnt werde und dass die Morseten später vor einer Flut Richtung Süden in die Diözese von Münster geflohen seien (Friemel et al. 2022, 379, Nr. 83).17 In einem Anhang zu seiner Akademieabhandlung stellte Grimm – ausgestattet mit diesen weitergehenden Informationen – alle Argumente für die These zusammen, dass die antiken Marsaker und die mittelalterlichen friesischen Morseten ein und dasselbe Volk seien. Zeuß’ Überlegungen (die etymologische Anbindung an die Marser) lehnte er ab. Grimm argumentierte linguistisch ausführlich, indem er den möglichen lautlichen Übergang von ci und ti (in der Variante Marsacii und in Morsati) untersuchte. Das a in Marsacii passe gerade zum friesischen Wort für Moor mit a: mâr (Grimm 1852b, 717). Grimms und Lappenbergs Thesen haben es – zu Unrecht? – nicht in den aktuellen Forschungsdiskurs geschafft.18
2.6 Carl Fraas (1810–1875) Nach diesen diffizilen etymologischen Argumentationen um den Stamm der Morseten wird nun ein etwas späterer und anders perspektivierter Beitrag vorgestellt. Carl Fraas, ein Naturwissenschaftler und Professor für Landwirtschaft in München, trennte in seinem Überblickswerk Geschichte der Landbau- und Forstwissenschaft von 1865 die Begriffe Sumpf und Moor schärfer als in den anfangs zitierten Lexika: „Sumpf und Moor sind indessen wirthschaftlich zu unterscheiden. Der Sumpf k a n n ohne Torf seyn, das Moor muß immer Torf haben“ (Fraas 1865, 6). Das Buch erschien als Teil der renommierten Reihe Geschichte der Wissenschaften in Deutschland und enthält zu Beginn altertumskundliche Inhalte in einem Kapitel zum „Germanischen Kulturland“, deren Darstellung er in das Tiefsowie das Hügel- und Höhenland (§1 und §2) aufteilt. Der Autor möchte mit seiner wenige Jahre vor der Reichsgründung erschienenen Wissenschaftsgeschichte das deutsche Nationalbewusstsein heben, wozu „eine Geschichte der Wissenschaft der ältesten aller Erwerbskategorien, der Bodenproduktion in Feld, Wald und Wiese“ besonders geeignet sei, wie er im Vorwort schreibt (Fraas 1865, III). || 17 Zu den Mormer und Brokmer zeitgleich im Briefwechsel Jacob Grimms mit Georg Waitz siehe Friemel und Barton 2022, 703, Nr. 23. 18 Weder im Artikel zu den Marsakern (Günnewig 2001) noch in dem zu den Morseten (Tiefenbach 2002) im Reallexikon der Germanischen Altertumskunde werden Grimm und Lappenberg zitiert, obwohl an anderen Stellen Thesen von Forschern aus dem 19. Jahrhundert durchaus kritisch und als legitime Forschungsbeiträge diskutiert werden.
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Der ursprüngliche deutsche Nationalcharakter sei in urtümlichen Landstrichen aufzufinden: „Die großen Pflanzenformationen der Marschen, Haiden und Torfmoore neben Kiefernwäldern beherrschten dieses Tiefland [längs der Nordsee], wo sich germanisches Wesen in der Zeit am wenigsten änderte“ (Fraas 1865, 5– 6). Die Sitte – Fraas meint urdeutsche Sitten und Bräuche – sei bei den Marschbewohnern „noch mehr maßgebend in allen Dingen, als bei den andern mehr künstlich entstandenen Bauernschaften des Hügel- oder Gebirgslandes“ (Fraas 1865, 9). Sittenreinheit gehört schon zur antiken Barbarentopik und ist ein Kennzeichen des Nordbarbarenbildes (Zerjadtke 2018, 264, Anm. 50). Fraas (1865, 3–4) beginnt seine Ausführungen mit der mythischen und vorhistorischen Urzeit, der „böotische[n] Ebene“, der fruchtbaren Boden hervorbringenden „ogygischen Fluth“ in Hellas, dem Nilschwemmland und „Etruriens Sumpfkultur am Arno und Po“. In Südgermanien sei die alte „ackerbauliche Behandlung des Sumpf- und Moorlandes am Rande der allmählig durch Seedurchbrüche trockner werdenden Rundthäler in der nördlichen Alpenhochebene“ weiter bekannt geworden; im Nordwesten bauten die germanischen Stämme zwischen Ems, Weser und Elbe „ihre ersten Dämme gegen die oft rückkehrenden Fluthen“ und versuchten ihre „Sumpfkultur“ zu entwickeln (Fraas 1865, 4–5). „Unter allen genannten europäischen Länderstrichen hat aber den großartigsten Charakter als Moor- und Sumpfgegend die große baltische Ebene längs der Nordsee, als Theil der uralischen oder osteuropäischen Niederung überhaupt“, fasst Fraas (1865, 5) zusammen. Der Autor bringt dem germanischen Kulturland eine gleichsam literarische, stabreimende Begeisterung entgegen: Hier sind auch jene endlosen Oedungen mit einzelnen Schöpfen von Haide- und Binsenfilzen (Bulten), über welche der finstere Nordwest sausend salzige Dünste ausbreitet und auf denen grauer Porst und Gagel, Rausch- und Moosbeeren, kriechende Birken und Bärentrauben die Staffage für einen Shakespeare’schen Hexentanz bilden. (Fraas 1865, 6)
Neben der Landschaft kennt Fraas (1865, 8) auch den „Moorbewohner im Süden wie im Norden Deutschlands“ genau; dieser sei „ein breitgebauter aber langbeiniger, etwas krummfüßig gestellter Mensch, dessen unsichere Plattfüße und oben zusammengeschobene Gestaltung großentheils in Holz, Leder und Filz stecken“. Hier scheint wiederum die antike Klimazonentheorie nachzuwirken. Mit seiner Betonung der engen Bindung zwischen Umweltfaktoren sowie Physiologie, Psychologie und Kultur des Menschen ruft Fraas nämlich einen klassischen Topos auf, dessen sich schon antike Ethnographen bedienten (Perl 1990, 33; Zerjadtke 2018, 264–265) und den auch noch Adelung verwendete. Fraas’ weiter Wissenschaftsbegriff umfasst nicht nur die moderne Wissenschaftsgeschichte der Agronomie im engeren Sinn, sondern auch allgemein die
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bis in Urzeiten zurückreichenden Kenntnisse des Menschen über die Kultivierung des Landes. Die Kultur der abgeschieden lebenden Mooranwohner ist für Fraas eine Zeitkapsel, in der sich ein germanischer Volkscharakter besonders gut erhalten habe. Fraas’ an mancher Stelle deutschtümelnde und hyperbolische Darstellung, die hinter anderen, kritisch abwägenden Beiträgen zur deutschen Philologie und Altertumskunde zurückbleibt, zeigt auf eine recht plakative Weise, in welchem Ausmaß um 1865 die deutsche Altertumskunde im wissenschaftlichen mainstream angekommen war. Fraas bedient sich Denkansätzen, die in der ersten professionell historisch-philologisch arbeitenden Generation altertumskundlich orientierter deutscher Philologen nach 1800 entwickelt und in den Untersuchungen und Quellendokumentationen zur altdeutschen Literatur, zur germanischen Sprach-, Rechts-, Religions- und Volkskunde fruchtbar gemacht wurden. Die feuchte Niederung als geschütztes Biotop deutscher Sitte im Gegensatz zu den „mehr künstlich entstandenen Bauernschaften des Hügel- oder Gebirgslandes“ (Fraas 1865, 9) erinnert wohl nicht zufällig an die romantische Denkfigur des Unterschieds von Kunst- und Volkspoesie. Die besonders ursprüngliche, mündliche Volkserzählung, wie sie die Brüder Grimm und im Nachgang viele andere sammelten und erforschten, war ebenfalls in „sozialen Rückzugsgebieten“ (Denecke 1971, 67) erhalten geblieben, wobei die Rückzugsgebiete im Fall der mündlichen Erzählkultur eben eher sozialer als geographischer Natur waren. Fraas’ argumentative Stoßrichtung ist dennoch ähnlich. Er bezieht sich nicht nur implizit auf die Brüder Grimm, die die moderne germanische Altertumskunde an ihren Beginn stellt (Beck 1998, 425), sondern zitiert Jacob Grimm auch explizit zu Beginn seines Buches, wenn er die keltischen Stämme im südlichen Germanien erwähnt, deren „hohen Wasserkultus“ Grimm angedeutet habe (Fraas 1865, 4). Es ist zu vermuten, dass Fraas nicht nur die Kapitel über Hirten, Ackerbauern und Viehhaltung aus Grimms (1848) Geschichte der deutschen Sprache rezipierte, sondern auch dessen Deutsche Mythologie, in der Grimm (1844, Bd. 1, 549, Anm. **) aus christlichen Verbotsverfahren des Frühmittelalters schloss, dass ein heidnischer Wasser-, Baum- und Steinkultus „etwas gemeinschaftliches für italische, gallische [keltische, Ph. K.], germanische völkerschaften“ war.
2.7 Karl Müllenhoff (1818–1884) Müllenhoffs mehrbändiges Werk zur deutschen, d. h. germanischen, Altertumskunde aus dem späten 19. Jahrhundert – größtenteils postum erschienen – kann als akribische und umfangreiche kritische Zusammenfassung der Forschung der vorhergehenden Generation um die Brüder Grimm und Karl Lachmann angesehen werden, wobei Müllenhoff natürlich auch Eigenes leistet. Zudem konnte
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Müllenhoff an die gründliche ethnographische Arbeit Kaspar Zeuß’ anschließen und setzt wie dieser Schwerpunkte auf die Geographie und Besiedlung Europas. Müllenhoffs Tacitus-Kommentar erschien erst 1900 postum als Band 4 der Deutschen Altertumskunde und wurde vom Herausgeber Max Roediger als „reichhaltigste[r] und beste[r] aller Germaniacommentare“ bezeichnet (Müllenhoff 1870– 1908, Bd. 4, XI–XII). Die Grundlage des Bandes bildet Müllenhoffs (1870–1908, Bd. 4, VI) Kollegienheft über die Germania. Im Kommentar zu Tac. Germ. 5, dem Kapitel über die Natur des Landes, greift Müllenhoff (1870–1908, Bd. 4, 147) gleich zu Beginn den Topos über den Zusammenhang zwischen Land und Physiologie seiner Bewohner auf: „Die natur des landes stimmt zu der physiologischen beschaffenheit der Germanen […]“. Der Autor enthält sich aber Beschreibungen und Bewertungen, wie sie Fraas formulierte, erwähnt also keine etwaigen Plattfüße der Moorbewohner oder Ähnliches. Müllenhoff dokumentiert nüchtern das, was zur Erläuterung von Tacitus’ Text nötig ist, bezieht vorherige Kommentatoren ein und bemüht sich um ein genaues sprachliches Verständnis des Texts durch den Vergleich von ähnlichen Stellen bei anderen antiken Autoren. Den bekannten Topos über die schrecklichen Urwälder und hässlichen Sümpfe Germaniens (silvis horrida aut paludibus foeda) ordnet Müllenhoff (1870– 1908, Bd. 4, 148) sprachlich ein: „horridus ‚schrecklich, grauenhaft‘ bezeichnet den eindruck, foedus ‚hässlich‘ gilt vom anblick“. Dass germanische Wälder und Sümpfe bei Tacitus tatsächlich als topische Formel miteinander verbunden sind, die auch anderswo belegt ist, zeigt Müllenhoff (1870–1908, Bd. 4, 148) mit einer Parallelstelle aus dem Werk des Geographen Pomponius Mela (3, 3) über Germanien: „terra ipsa multis impedita fluminibus, multis montibus aspera et magna ex parte s i l v i s ac p a l u d i b u s invia“.19 Wenn sich also erst durch Tacitus die geographische Beschreibung Germaniens endgültig topisch verfestigte, gab es doch auch schon vor diesem Autor tradierte literarische Versatzstücke, auf die man zurückgreifen konnte. Den Kontrast des Tief- und Hügellands Germaniens, der Fraas’ oben vorgestelltes Kapitel zum germanischen Kulturland gliederte, erkannte Müllenhoff (1870–1908, Bd. 4, 149) schon bei Tacitus und bezog ihn auf ebenjene topische Doppelformel Wälder und Sümpfe: „die wälder und sümpfe bezeichnen zugleich den gegensatz von höhe und ebene“. Ansonsten interessierte sich Müllenhoff (1870–1908, Bd. 4, 148) weniger für die germanischen Sümpfe, sondern mehr für „den ungeheuren urwaldgürtel […]“, den schon Caesar kannte, und „der vom || 19 Im Original kursiv. Übersetzung des Verf., Ph. K.: „Das Land selbst ist unzugänglich durch viele Flüsse, rau durch viele Gebirge und zum großen Teil undurchdringlich durch Wälder und Sümpfe“.
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mittlern Rhein und Main bis zur Weichselquelle reichte und Germanien bis zum zuge der Kimbern und Teutonen von der südeuropäischen cultur abschloss“. Der Urwald teilte sich in den Beschreibungen der Altertumskundler mit Mooren und Sümpfen die Eigenschaft der geographischen Grenze zwischen menschlichen Lebensräumen. Das Gebiet der baltischen Aisten erstreckte sich laut Zeuß (1837, 673) etwa von den „Ufern der Düna bis an die Sümpfe des Pripets und die Weichselmündungen, bis zur Drewenz, zum Narew und Bug, von der Küste bis zu den Slawen in Polotsk und den Dragowiten an der Beresina […]“; Müllenhoff (1870–1908, Bd. 2, 22) hielt die „sumpfregion des Pripjet“ für die „natürliche Südgrenze“ der baltischen Stämme. Und Jacob Grimm erkannte im Bourtanger Moor schon im Mittelalter „die eigentliche grenze der niederländ. sprache […], denn es liegt hart an der münsterschen grenze“, wie er Lappenberg schrieb (Friemel et al. 2022, 170, Nr. 15). In Jacob Grimms Rechtsalterthümern wird ein Feuchtgebiet mit grenzbildender Funktion in einem Abschnitt über Grenzsteine zitiert: und im monjoier w.[eisthum]: weiter wird gefragt, es ist ein fenn (moor) gelegen zwischen m.[einem] gn.[edigen] h.[errn] und den herrn von Burgonie, geheißen das markvenn, in demselben venn soll man finden (einen) reinen u. genägelten stein, (Grimm 1828, 543–544)20
wobei mit dem Stein ein im Grenzmoor befindlicher Grenzstein zwischen zwei Herrschaften gemeint ist.21 Moore und Sümpfe gliederten also – laut den hier vorstellten Forschungsarbeiten – im großen Maßstab den Natur- und Lebensraum Mittel- und Osteuropas und konnten auf lokaler Ebene auch als rechtlich festgelegte Grenzgebiete verstanden werden. Im vorliegenden Abschnitt über die Geographie und Ethnologie des Moores kamen einige Volksgruppen vor, die eng mit Feuchtgebieten als Lebensräumen assoziiert waren und deren Namen zum Teil auf Bezeichnungen für Moore und Sümpfe zurückgehen sollen: etwa die friesischen Morseten, die ihren sumpfigen Lebensraum wie die antiken Menapier militärisch nutzen konnten, aber auch die Chauken, deren wirtschaftliche Verwendung des Torfes aus antiken Quellen bekannt ist. Sümpfe und Moore erscheinen in den vorgestellten altertumskundlichen Diskursen aus der Sicht der Germanen einerseits als schützendes Rückzugsgebiet und wirtschaftlicher Nutzraum, aus Sicht der Römer andererseits als
|| 20 Aus einem Monschauer Weistum von 1600 (siehe auch Grimm 1863,788–789: hier Wrackvenn statt markvenn gelesen; Grimm erklärt venn als Weide in sumpfiger Niederung). 21 Weiterhin führt Grimm (1828, 114–115) Torf als Rechtssymbol in verschiedenen Rechtshandlungen wie Grenzstreitigkeiten und Grundstückskäufen an, wobei das Wort ursprünglich noch allgemeiner verstanden wurde: „Torf ist sächsische und niederdeutsche benennung der ausgestochenen oder ausgeschnittenen scholle“ (Grimm 1828, 114).
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lebensfeindliches Ödland, wobei sich dieser durchaus realen naturräumlichen Begebenheiten entsprechende Topos nachtaciteisch verselbstständigte und sich mit klimazonentheoretischen Topoi vermischte. Philologen des 19. Jahrhunderts sammelten und edierten die antiken Quellen über die Landschaft Germania magnas und schlossen sich entweder der antiken Bewertung an (Adelung), wägten die einschlägigen Stellen quellenkritisch ab (Grimm, Klemm, Müllenhoff) oder bewerteten das germanische Kulturland überaus positiv (Zeuß, Fraas). Es wird in der Zusammenschau der Quellenbelege deutlich, wie fest der geographische Topos der Sümpfe und Wälder Germaniens ausgehend von Caesar und Tacitus in der literarischen Überlieferung verankert war, und auch, wie schwierig es offenbar war, diesen Topos quellenkritisch zu bewerten. Wenn nun wesentliche Erwähnungen von Sümpfen und Mooren, wie sie in meiner Quellenauswahl vorkommen, in sprachlichen, geographischen und ethnologischen Hinsichten behandelt wurden, bleiben noch zwei Spezialbereiche – archäologische Funde sowie Recht und Mythos des Moores –, die auf der Grundlage des Vorhergehenden kürzer dargestellt werden können. Zunächst zur Archäologie.
3 Archäologie Die Geschichte der Ausgrabungen materieller Überreste der Germanen im 19. Jahrhundert steht ein wenig im Schatten der klassischen, griechisch-römischen Archäologie. Die Archäologie begann sich gerade erst als Wissenschaft zu etablieren und stand noch in engem Zusammenhang mit antiquarischer Gelehrsamkeit, Kunstgeschichte Winckelmann’scher Prägung und literaturgestützter Philologie, aus denen die Archäologie schließlich hervorging. Besonders aktiv und auch in der deutschen Wissenschaftslandschaft präsent waren nordische, besonders dänische, Altertumswissenschaftler, die zum Beispiel Vorreiter in Periodisierungsfragen waren. So etablierte Christian Jürgensen Thomsen (1837) das Dreiperiodensystem, das es ermöglichte, archäologische Funde der Stein-, Bronzeoder Eisenzeit zuzuordnen (Steuer 2012, 150). Dessen Schüler Jens Jacob Asmussen Worsaae bewies „anhand von Ausgrabungen in Hügelgräbern und Torfmooren“ die „stratigraphische Abfolge der […] drei Zeitalter“ (Daniel 1990, 70). Auch wenn in philologischer Hinsicht die nordischen Sprachen und Literaturen zu den übrigen germanischen gerechnet wurden – zum Beispiel von Jacob Grimm (1819, XXXVIII, Anm. *) – hatte der skandinavische Kulturkreis einen Sonderstatus, der sich in einem eigenen kulturellen Selbstbewusstsein und einer eigenen wissenschaftlichen Tradition ausdrückte, die von deutschen Forschern wie-
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derum rezipiert wurde.22 Klemm drückt in seinem altertumskundlichen Handbuch die nordische Sonderstellung wie folgt aus: Das s k a n d i n a v i s c h e A l t e r t h u m , in seinen Elementen mit dem Germanischen eins, in seinen Erscheinungen demselben verwandt, und in den norddeutschen Provinzen dasselbe nahe berührend, muss zwar von dem germanischen abgetrennt und selbstständig betrachtet werden, wird aber doch stets von deutschen Forschern vorzugsweise berücksichtigt und zur Vergleichung gezogen werden müssen, denn nächst dem römischen liefert das skandinavische Alterthum die meisten Erläuterungen des germanischen. (Klemm 1836, XVII)
3.1 Gustav Klemm In seiner Quellenübersicht hob Klemm (1836, XXI) neben literarischen generell auch die Wichtigkeit der archäologischen Quellen hervor: „Wir wenden uns zu den D e n k m ä l e r n d e s g er m a n i s c h e n L e b e n s , zu den Grabhügeln und Opferstätten und dem was darin enthalten ist“. Wie unentdeckt und unerforscht germanische archäologische Quellen damals waren, macht Klemms offener Brief deutlich, den er in eine lange Fußnote einschaltete, und der den Zweck hatte, Informationen über Orte und Arten der im Land verstreuten Grabhügel zu sammeln. Es ging ihm um nichts Geringeres, als „Denkmäler“ des germanischen Altertums „vom Untergange zu retten“ (Klemm 1836, XXII–XXIV, Anm. *, Zitat aus dem Beginn der Anm.). Archäologisch relevant ist das Moor für Klemm (1836, 99) hinsichtlich der „Grabstätten in Moorboden“, die er als ungewöhnlich und selten bezeichnet, sowie als Ort für heidnische Opferriten. Folgenden Moorleichenfund führte Klemm (1836, 128) dementsprechend in einem Kapitel über „Curiosa und Ausnahmen“ an: „Als eine der vorzüglichsten mag wohl das 1817 bei Friedeburg in der ostfriesischen Gemeinde Elzel [Etzel, Ph. K.] entdeckte wunderliche Begräbniss gelten, wo in der Tiefe des Torfmoores unter starken, quer über den Körper gehenden Eichenpfählen ein menschliches Gerippe lag […]“. Für Klemm ist dieser Fund eine wichtige Quelle zur Bekleidung der Germanen: Die Reicheren trugen schon zu Tacitus Zeiten Beinkleid und Wamms; S c h u h e wohl auch die Aermeren. […] Man fand einen Leichnam, dessen Kleid aus einem groben härenen gewalkten, nicht gewebten Tuche ohne Naht und Knöpfe, bloss mit weiten Armlöchern und
|| 22 Laut Grimm (1819, XXXVIII, Anm. *) würden „indessen nordische Gelehrte neuerdings förmliche Einsprache dawider thun, daß ihr Volksstamm ein germanischer sey“. Ohne ihn zu nennen, bezog sich Grimm hier auf den dänischen Sprachwissenschaftler Rasmus Rask, mit dem er die Namendiskussion schon früher führte (Grimm 1812, 262).
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einem Halsloche bestand. Die Beinkleider waren aus gleichem Stoffe und um die Lenden mit Zug und Riemen befestigt. Die Schuhe waren ein Stück ungegerbtes Leder ohne Sohlen, ohne Naht, und wurden auf dem Fussblatte mit Löchern und Riemen versehen. Das Leder war zierlich ausgeschnitten. (S.[iehe] Abbildung in Spangenbergs Neuem vaterl.[ändischen] Archiv 1822. 2r Bd. S. 59.) (Klemm 1836, 56)
Dieser Moorfund ist heute noch gut bekannt, die Hose von Marx Etzel ist zum Beispiel im Niedersächsischen Landesmuseum Hannover ausgestellt (Marx und Etzel sind zwei Ortschaften in der Nähe von Wilhelmshaven). Ein kurzer Grabungsbericht unter dem Titel „Ueber einen in Ostfrieslands Möören ausgegrabenen uralten Leichnam“ erschien in der oben von Klemm erwähnten Zeitschrift 1822. Die Moorleiche wurde offenbar beim Torfstechen gefunden. Im Bericht heißt es weiter: Die Stelle, wo das Gerippe eines menschlichen Körpers entdeckt ward, befindet sich auf einem kleinen, eine Viertelstunde vom Dorfe M a r x entfernten, zwischen angebaueten Aeckern liegenden Torfmoor. Ohngefähr 6 Fuß unter dem Moraste auf dem Sande fand man die Ueberreste des Leichnams und der Kleidungsstücke, womit derselbe bekleidet gewesen. Sie wurden herausgenommen und unterschied der von dem Gerichte zugezogene Arzt genau die einzelnen Knochen des Gerippes, die nicht mehr zusammen verbunden waren, sondern einzeln aus den Kleidungsstücken zusammen gesucht werden mußten. (Vangerow 1822, 59–60) Die Kleidungsstücke bestanden in einem bräunlichen groben Tuchmantel und einem Ueberreste von Beinkleidern, welches alles mit Torf völlig durch- und überwachsen war und auch dessen Farbe angenommen zu haben schien. / Vorzüglich gut waren jedoch die Schuhe conservirt, in deren einem sich noch die Knochen des Fußes vorfanden. / Die zierliche, gewiß nicht ganz geschmacklose Lederbearbeitung des Schuhes, dessen ganz eigener Zuschnitt und auffallende Verzierung führen vielleicht auf eine Spur des Zeitalters, in dem die Verscharrung wahrscheinlicher Weise erfolgt seyn können […]. (Vangerow 1822, 61; Absatzmarkierungen mit Virgeln durch den Verf., Ph. K.)
Der Moorfund von Marx Etzel ist ein gutes Beispiel für die erst langsam sich verwissenschaftlichende Archäologie der Zeit. Klemm ordnete den Fund 1837 noch unter Kuriosa ein; der Fundbericht von 1822 ist sehr kurz und tentativ verfasst. Als Experte wurde ein örtlicher Gerichtsmediziner hinzugezogen. Während der Grabung wurden Teile des Fundes offenbar zerstört, denn die „Knochen waren zum Theil zerbrochen und so weich, daß sie mit den Fingern zerrieben werden konnten“ (Vangerow 1822, 60). Auch die Datierung des Fundes bereitete Schwierigkeiten, sodass dem Bericht eine Abbildung eines verzierten Schuhs beigegeben wurde, um das Zeitschriftenpublikum bei der Datierung einbeziehen zu können.
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Als zweiten Ort von Ausgrabungen nennt Klemm (1836, 343) germanische Opferplätze: „Die schönsten Ueberreste des heidnischen Götterdienstes sind unstreitig die Opferplätze, welche erst in neuerer Zeit näher betrachtet worden sind“. Erstes Beispiel dafür ist eine Ausgrabung zwischen den heutigen südbrandenburgischen Orten Schlieben und Malitschkendorf, wo sich der „grösste und schönste umwallte O p f e r p la t z […] mitten in einem Sumpfe“ befinde (Klemm 1836, 344).23 Im Sumpf seien zwei trockene Rasenplätze zu finden, verbunden mit einem Wall, der damals noch heiliger Steg genannt wurde und den Sumpf überbrückte. Die oberste Erdschicht bestand „½ bis 1 Elle […] aus reiner Moorerde“, dann, führt Klemm weiter aus, folgte eine eben so starke Schicht gemischter Erde, worin auch Kohlen und Asche vorkamen, die dritte minder starke Schicht besteht aus einem fest zusammengedrückten Gemenge von Asche, Thon und Lehm. Dann folgt der natürliche Boden, Sand oder weisser Mergel. (Klemm 1836, 345),
und er fasst die vorherige Forschung zusammen: Die ganze jahrelang fortgesetzte Untersuchung zeigte, dass hier grossartige Opfer Statt gefunden, bei denen man gewaltigere Feuer anzündete, in welchen die Gaben an Getreide, Gefässen, Geräthen, Thieren geworfen, zertrümmert und dann wiederum mit Erde verschüttet wurden[ ], dass mithin die Art und Weise zu opfern ganz von der im übrigen Alterthum gewöhnlichen verschieden war. (Klemm 1836, 346)
Klemms letzter Halbsatz macht zurecht stutzig. In jüngerer Zeit interpretiert man die Ausgrabung als Verteidigungsanlage (Burgwall Malitschkendorf) und nicht mehr als germanische Opferstätte. Die große Niederungsburg wurde schon seit der späten Bronzezeit genutzt, nach den Germanen weniger intensiv auch in der frühmittelalterlichen Zeit der slawischen Besiedlung (Gebuhr et al. 2003, 29). Wie für mehrere andere Befestigungsanlagen auch wurde dort der Standort der bei Dietmar von Merseburg erwähnten großen Slawenburg Liubusua vermutet.
|| 23 Klemm bezieht sich auf zwei Berichte des Mediziners und Altertumswissenschaftlers Friedrich August Wagner (1828, 1833), die die schönen Titel tragen Die Tempel und Pyramiden der Urbewohner auf dem rechten Elbufer, unweit dem Ausfluss der schwarzen Elster und Aegypten in Deutschland oder die germanisch-slavischen wo nicht rein germanischen Alterthümer an der schwarzen Elster.
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3.2 Ludwig Lindenschmit (1809–1893) Lindenschmit setzte sich mit seinem Handbuch der deutschen Alterthumskunde dezidiert von der philologisch orientierten Altertumskunde Grimms und Müllenhoffs ab und untersuchte die nichtschriftlichen, objekthaften Quellen des deutschen Frühmittelalters der merowingischen Zeit, als „das deutsche Volksleben“ noch „innerhalb der Grundzüge der altgermanischen Anlage“ zu finden gewesen sei (Lindenschmit 1880–1889, IX; dazu auch Beck 1998, 430). Der Untertitel lautet deswegen auch Übersicht der Denkmale und Gräberfunde frühgeschichtlicher und vorgeschichtlicher Zeit. Chronologisch zurückschreitend plante Lindenschmit noch zwei weitere Teile seines Handbuches, über die Germanen während der Römerzeit und die Urzeit mit den „höhlenbewohnenden Zeitgenossen des Mammut und Rens“ (Lindenschmit 1880–1889, VII), die er aber nicht mehr ausarbeiten konnte. Zu Beginn seiner Einleitung verwendet Lindenschmit einen ähnlichen geographischen Topos wie Carl Fraas, der von der Bewahrung deutscher Sitten in abgeschiedenen Siedlungsgebieten ausging. Lindenschmits Bild der Überlieferung materieller Zeugnisse überbietet Fraas’ Darstellung, indem er die deutsche Geschichte und ihre in der Natur verborgenen Objekte zu einem kosmologischen Gesamtbild komponiert: Keiner früheren Zeit wie der unserigen ward ein so tiefer weit umfassender Ausblick in die entlegenste Vorzeit vergönnt. In den Höhlen der Berge, in der Tiefe der Seen sind die Reste der ältesten Ansiedelungen aufgefunden, aus den vielartigsten Gräberbauten werden die Körper, Waffen und Geräthe der frühesten Bewohner unseres Landes erhoben. Meist nur durch Fügung des Zufalles erschliessen sich die Behausungen jener uralten Todten, jene in Torf und Moor, in Erde und Wasser geborgenen Zeugen der Vorwelt. Den Schätzen der Sage gleich scheinen sie nach Erfüllung der Zeiten ihres Bannes plötzlich empor gerückt und gehoben wie durch die Anziehungskraft der vaterländischen Forschung, so dass ihre Erscheinung überraschend und anziehend zugleich das Gemüth bewegt und den Geist zu ernster Betrachtung erhebt. (Lindenschmit 1880–1889, 1)
Nicht zufällig parallelisiert Lindenschmit die Moorfunde mit der Sagenüberlieferung, die die Brüder Grimm und andere mehr als ein halbes Jahrhundert zuvor zu sammeln begannen. Mit der expliziten Nennung der viel erforschten schriftlichen Überlieferung im Gegensatz zur archäologischen betont er nochmals die Desiderata, die die deutsche Altertumswissenschaft der Brüder Grimm und Müllenhoffs zurückließ (zuvor spricht Lindenschmit 1880–1889, VI, von einer Lücke der Erforschung „der unmittelbaren Hinterlassenschaft der Vorzeit“). Bemerkenswert ist auch, dass Lindenschmit die Moorfunde, wenn auch als überraschende, doch als selbstverständliche Quellengattung anführt. Gustav Klemm ordnete sie noch
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unter den Kuriosa ein. In Lindenschmits (1880–1889, 77–78, 152–153, 234) Handbuch kommen Moorfunde unterschiedlicher Art an mehreren Stellen vor: Spangen und Schnallen, Pfeilspitzen und Ortbänder (Metallbeschläge z. B. von Schwertscheiden), und er zitiert die um 1860 erfolgten bekannten Ausgrabungen im Nydammoor in Nordschleswig. Vor dem Hintergrund, dass Moorleichen heute das populäre und mediale Bild des germanischen Altertums prägen,24 ergibt sich aus den angeführten Werken des 19. Jahrhunderts ein recht blasses Bild der Archäologie als Hilfs- oder Teilwissenschaft der germanischen Altertumskunde. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts scheinen Moorfunde nicht mehr als Kuriosa angesehen worden zu sein; die Erforschung der materiellen Hinterlassenschaften germanischer Stämme hinkte derjenigen der schriftlichen Überlieferung um Jahrzehnte hinterher. Im nächsten Abschnitt lenke ich den Fokus wieder auf ebenjene philologische Tradition, die sich in ihrer Behandlung mythischer und rechtlicher Dimensionen des Moores mit der archäologischen berührt.
4 Recht und Mythos Zum Schluss meines Aufsatzes komme ich auf Forschungen der Brüder Grimm zurück, auf ihre Publikationen zur altdeutschen Literatur, deutschen Mythologie und Rechtsgeschichte, soweit sie Informationen zu Mooren und Sümpfen enthalten. Zunächst aber zur historischen Einordnung dieser Quellen: In seinem langen Aufsatz „Von der Poesie im Recht“ argumentierte Jacob Grimm (1816, 27–28), dass Recht und Poesie in der Geschichte der Menschheit ursprungsgleich seien, dass ihr gemeinsamer Ursprung auf der wunderbaren Unnahbarkeit ihres Anfangs und auf der Tradierung dieses Anfangs durch Glauben beruhe. Das „ H e r k o m m e n oder die G e w o h n h e i t des Gesetzes wie des Epos“ sei „eine unausscheidliche Mischung himmlischer und irdischer Stoffe“; „die Poesie wird folglich das Recht enthalten wie das Gesetz die Poesie in sich schließen“ (Grimm 1816, 28). Dieser gedankliche Rahmen erlaubte es den Brüdern Grimm, sehr verschiedene historische Quellengattungen für ihre Rekonstruktion des deutschen Altertums heranzuziehen. Denn die zu sammelnden Reflexe von ursprünglich miteinander verbundenen poetischen Elementen des Mythos, der Sage, der Rechtsvorstellungen, Sitten und Bräuche waren nicht an bestimmte
|| 24 Siehe zum Beispiel den Artikel „Die Toten im Torf: Was uns Moorleichen über die Germanen erzählen“ auf der Website des GEO-Magazins (Ruschkowski [online, o. J.]).
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Quellengattungen oder an ein bestimmtes Alter der Quellen gebunden, sondern konnten in antiken, mittelalterlichen und neuzeitlichen Texten aller Art gleichermaßen überliefert sein. Aus diesen Annahmen erklärt sich die aus heutiger Sicht oftmals eklektisch anmutende Quellenauswahl der Brüder Grimm. Auch die folgenden Textstellen zum Moor in rechtshistorischen und mythologischen Kontexten entstammen disparaten historischen Textsorten.
4.1 Das Moor als Ort der Strafe Während im letzten Abschnitt zur Moorarchäologie ein Leichenfund geschildert wurde, ist in Jacob Grimms Rechtsalterthümern von 1828, einer kategorisierten und kommentierten Sammlung von Belegstellen zu Rechtsvorstellungen und -praktiken germanischer und im Vergleich auch anderer Völker, nachzulesen, wie solche menschlichen Körper eventuell ins Moor gelangt sein könnten. Denn rechtliche Bedeutung hat laut Grimm der Sumpf als Ort der Vollziehung von Todesstrafen: Noch alterthümlicher ist die bestrafung feiger männer, sie wurden in koth oder sumpf gesenkt und dorngeflecht darauf geworfen: ignavos et imbelles et corpore infames coeno ac palude, injecta insuper crate, mergunt. Tac. Germ. cap. 12.*) Davon weiß noch das mittelalter und selbst das spätere sprichwort: man sprichet wen von vorhten stirbet, daz der im selber daz erwirbet, daz man in sol in mel**) begraeben. Bon.[er] 32, 27. dann welcher stirbet gleich vor schrecken, den soll man mit kukat bedecken. in Fischarts flohhatz 36a und mit abweichungen anderwärts. Auch für frauen galt diese strafe: si qua mulier maritum suum, cui legitime juncta est, dimiserit, necetur in luto. lex burg.[undionum] 34, 1 und in Herborts troj.[anischem] krieg 97c: ich wil, daz Penthesileam frezzen die hunde, oder in einen fûlen grunde werde gesenket, als ein hunt. (Grimm 1828, 695)25
Gefundene Moorleichen scheinen die Textstelle aus Tacitus (Germ. 12) genau zu bestätigen, der Zusammenhang dieser Funde mit germanischen Strafpraktiken wird in der jüngeren Forschung aber auch angezweifelt (Saar 2003, 113).
|| 25 Dazu Grimms Anmerkungen: „*) auch bei den alten Römern: novo genere lethi, dejectus ad caput aquae ferentinae, crate superne injecta, saxisque congestis mergeretur. Liv.[ius] 1, 51.“ und „**) mel ist hier staub, melm, kehricht […]“. – In der Nachlassausgabe der Rechtsalterthümer gibt es dazu noch Ergänzungen, die hier aber nicht zitiert werden sollen (Grimm 1899, Bd. 2, 277).
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Auch in Wilhelm Grimms Deutscher Heldensage von 1829 kommt der Sumpf in einem rechtlichen Kontext vor, wenn Grimm das dritte Gudrun-Lied aus der altnordischen Edda-Dichtung, die sein Bruder in den Rechtsalterthümern übrigens auch oft zitiert, zusammenfasst: Gudrun, durch Herkia verdächtigt mit Thiodrek in unerlaubter Verbindung zu stehen, reinigt sich durch ein Gottesurtheil, indem sie aus siedendem Wasser mit unversehrter Hand Steine holt. Die Verläumderin, welche die Gegenprobe nicht aushält, wird in einem Sumpf ersäuft. (Grimm 1829, 351)26
Von den Brüdern Grimm gesammelte literarische Belege erzählen also von Todesstrafen durch Versenken im Sumpf für unehrenhafte Vergehen wie Feigheit im Krieg oder Verleumdung. Ein polnisches Ritual erzählt wiederum vom Ersäufen im Sumpf, aber nicht als Strafe für Menschen, sondern heidnischer Götzen, von denen man sich in einem letzten Akt der Verehrung zugunsten des Christentums trennte. Jacob Grimm führt das Ritual in seiner Deutschen Mythologie wie folgt an: Dlugoss †) und nach ihm andere berichten, auf könig Miecislaus geheiss seien alle götzen im land zerbrochen und verbrannt worden, zur erinnerung daran pflege man in mehrern polnischen örtern jährlich einmal bilder der Marzana und Ziewonia an stangen befestigt oder auf schleifen, traurige lieder singend, feierlich zum sumpf oder fluss zu führen und zu ersäufen*); gleichsam die letzte ihnen erwiesne huldigung. (Grimm 1835a, 446–447)27
4.2 Das Moor als mythischer Ort Das Moor ist im alten Aberglauben ein Ort, durch den die Menschenseelen nach dem Tod streifen müssen. Jacob Grimm verbindet im folgenden Ausschnitt altnordische Mythologie über den Totenschuh mit einer wohl jüngeren englischen Mythe über das whinny moor, die er bei Walter Scott gelesen hat. Grimms
|| 26 Auch im mittelhochdeutschen Biterolf kommt das Moor vor, siehe Wilhelm Grimm (1829, 125): „Aber auch von Hünenland scheint er [der Dichter] Grund und Boden zu kennen; darin Sümpfe und Moorgegenden“. 27 Dazu Grimms Anmerkungen: „†) hist.[oria] Polon.[ica] lib. 2 ad a.[nnum] 965. Matth.[ias] de Mechovia chron.[ica] Polon.[orum] II. 1, 22. Mart.[in] Cromer lib. 3 ad a.[nnum] 965. Mart.[in] Hanke de Silesiorum nominibus p. 122. 123.“ und „*) auch der russische Wladimir, nach seiner bekehrung, befiehlt Peruns bild an einen pferdeschweif zu binden, zu schlagen und in den Dnieper zu werfen. Als man hernach den nowgoroder Perun ebenso in den Wolchow geworfen hatte, begann dieser im strom über die undankbarkeit des volkes laut zu jammern“. Ein ähnlicher Brauch ist auch im polnischen Bielsk belegt (Grimm 1844, Bd. 2, 731).
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Zusammenstellung in der zweiten Ausgabe seiner Deutschen Mythologie von 1844 ist ein gutes Beispiel für seine oben erläuterte Methode, ältere mündliche Mythologeme, hier den Totenschuh, auch aus geographisch und zeitlich weit auseinanderliegenden schriftlichen Quellen zu rekonstruieren: Genaue untersuchung der vielfachen leichengebräuche bei europäischen völkern, die ich hier nicht beabsichtige, würde noch mehr aufschlüsse über die altheidnischen vorstellungen vom wesen der seele und ihrem schicksal nach dem tode gewähren. So wurde den leichen, ausser dem fährgeld und dem schif, auch ein besondrer todtenschuh, altn. helskô, zum antritt der langen wanderung mitgegeben und an die füsse gebunden. in der Gisla Surssonarsaga heisst es: þat er tîđska at binda mönnum helskô, sem menn skulo â gânga til Valhallar, ok mun ek Vesteini þat giöra*). W. Scott (minstrelsy 2, 357) führt einen aberglauben aus Yorkshire an: ‚they are of beliefe, that once in their lives it is good to give a pair of new shoes to a poor man, for as much, as after this life they are to pass barefoote through a great launde, fall of thornes and furzen, except by the meryte of the almes aforesaid they have redemed the forfeyte; for at the edge of the launde an oulde man shall meet them with the same shoes that were given by the partie when he was lyving, and after he hath shodde them, dismisseth them to go through thick and thin, without scratch or scalle‘. das land, wodurch die seele wandern muss, heisst auch whinny moor (der pfriemen sumpf, whin ist gleichviel mit furz, ginster, pfrieme). Thoms a. a. o. 89. (Grimm 1844, Bd. 2, 795)28
Wenn das Moor einerseits das Reich der Toten sein kann, so ist es andererseits auch ein Ort derjenigen monströsen Wesen, die der Menschenwelt Schaden bringen, wenn sie die Grenze zu deren Welt überschreiten. Einer der bekanntesten Unholde aus dem Moor, Beowulfs Widersacher Grendel, wird von Grimm im Abschnitt über Teufel erwähnt: Grendels teuflische art gemahnt an blutdürstige wassergeister (s. 280.) auch wohnt er in moor und sumpf und sucht bei nächtlicher weile die schlafenden menschen heim: com of môre gongan. Beov. 1413, flieht ‚under fenhleodhu‘ (1632.) (Grimm 1835a, 570)
Mythologisch und rechtlich wird das Moor in den vorhergehenden Textbelegen mit dem Tod assoziiert. Mythen, die mit Mooren und Sümpfen verbunden sind, können aber auch bloß aitiologische Erklärungen über Orte und Ortsnamen geben. Im folgenden Mythologem ist ein Sumpf und sein Name wiederum mit einem Fabelwesen verbunden: ebenso wettet eine riesin [Gjögr, PhK] mit dem heil. Olaf, bevor er mit seinem kirchenbau zu stand komme, eine steinbrücke über eine meerenge zu legen, aber noch war die brücke nicht halb fertig, als schon der glockenklang aus des heiligen kirche erscholl. erbittert schleuderte die riesin ihre bausteine nach dem kirchthurm, konnte ihn aber nimmer treffen;
|| 28 Dazu Grimms Anmerkung: „*) vgl. Müllers sagabibl. 1, 171.“.
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da riss sie sich eins ihrer beine aus und warf es gegen den thurm. nach einigen soll sie ihn damit gestürzt, nach andern aber verfehlt haben; das bein fiel in einem sumpf nieder, der noch heute giögraputten29 heisst (Faye p. 119.). (Grimm 1835a, 574)
Und in Jacob Grimms Mythologie heißt es im Abschnitt über Riesen: In der Charentegegend, im bezirk Cognac und der gemeinde Saintfort am Neyflüsschen liegt ein ungeheurer stein; man erzählt die heil. jungfrau habe ihn dahin auf ihrem kopf, und zugleich vier pfeiler in ihrer schürze getragen: als sie aber über den Ney ging, entfiel ihr ein pfeiler in den sumpf von Saintfort.***) (Grimm 1835a, 309)30
In der zweiten, erweiterten Ausgabe der Deutschen Mythologie von 1844 gibt es zusätzliche einschlägige Stellen zur mythologischen Bedeutung von Sümpfen, etwa zum im Sumpf verborgenen Fenegold (nach Grimm zu Fenn ‚Sumpf‘ gehörig), zur Etymologie des auch als Rohrdommel bezeichneten Vogels Muspel (dessen Name Grimm mit Moos und Moor in Verbindung bringt, nicht mit dem althochdeutschen Weltuntergangsgedicht Muspilli) oder zur Verbindung von Teufel und Sumpf.31 Im vorliegenden mythologischen und rechtsgeschichtlichen Abschnitt wurden Moore und Sümpfe als Orte für rechtlich-religiöse Handlungen vorgestellt, etwa der Versenkung von verurteilten Personen und heidnischen Kultfiguren, sowie als Orte der Mythenbildung und -bewahrung mit dem bekanntesten Beispiel des Moormonsters Grendel aus dem altenglischen Beowulf. Die mythologische Tradition von Moorgebieten als Gegenwelt toter Seelen und Unholde scheint als literarischer Topos bis heute nachzuwirken, etwa in den Totensümpfen der Herr der Ringe-Welt Tolkiens, worauf hier nicht näher eingegangen werden kann.
5 Altertümliches Randgebiet Moore und Sümpfe sind offenbar nicht nur geographische, sondern auch wissenschaftsgeschichtliche Randgebiete. Während meiner Recherchen ist mir kein altertumskundlicher Text aus dem 19. Jahrhundert bekannt geworden, der sich konzentriert und ausschließlich mit Feuchtgebieten im alten Germanien auseinandersetzt. Germanische Moore und Sümpfe wurden in historisch-geographischen und ethnologischen Kapiteln altertumswissenschaftlicher Werke regel|| 29 Der Sumpf wurde also nach der Riesin Gjögr benannt: Gjögrsumpf. 30 Mit Grimms Anmerkung: „***) mém. des antiquaires 7, 31.“. 31 Grimm 1844, Bd. 1, 498, Bd. 2, 768, Anm. **, 976, Anm. *.
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mäßig, aber doch als Randthema besprochen. Recht wenig ertragreich sind auch die von mir gefundenen Belegstellen zum Moor in archäologischer, mythologischer und rechtsgeschichtlicher Hinsicht, ermöglichen sie doch nur einen fragmentarischen Blick auf historische Praktiken, die mit Mooren und Sümpfen verbunden sind. Die Forschung stand bei diesen Themen damals noch am Anfang.32 Die Autoren des 19. Jahrhunderts kannten die loci classici zu germanischen Sümpfen aus der antiken Geschichtsschreibung genau und führten sie regelmäßig an, wobei die Brüder Grimm ihre Quellenbasis mit Texten aus älteren germanischen Sprachen extensiv erweiterten. Eine klare Entwicklungstendenz zu einer quellenkritischeren Beschäftigung mit dem germanischen Moor ist nicht auszumachen. Nicht nur Adelung Anfang des Jahrhunderts, sondern auch Fraas in den 1860er Jahren scheint noch stark von der topisch geprägten vormodernen Tradition abhängig zu sein, die reale und literarisch überzeichnete Bilder des Moores vermischt, wobei Fraas’ Germanenbild im Gegenteil zu Adelung überaus positiv ist. Eine nüchternere, methodisch strengere Forschungslinie verläuft von den Brüdern Grimm zu Müllenhoff, bei denen mir zum Beispiel keine klimazonentheoretischen Erklärungen der Bewohner Germaniens aufgefallen sind. In der Archäologie galten Moorleichen und verschüttete Wallanlagen zunächst noch als schwierig zu interpretierende Kuriosa. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden Moorfunde ausführlicher altertumskundlich ausgewertet und galten nun selbstverständlich als wichtige Quellengattung zur deutschen Vor- und Frühgeschichte. Auch eine andere Tendenz zeichnet sich deutlich ab. Nach Adelung wird das Moor nicht mehr als Heterotopie Germaniens und seiner rückständigen Bewohner, sondern als Teil des Lebensraums kulturell hochentwickelter kontinentalgermanischer Stämme aufgefasst, die diese Feuchtgebiete wirtschaftlich und militärisch zu ihren Gunsten nutzen konnten. Der neue historische Blick auf das germanische Moor steht konträr zum zeitgenössischen romantischen Moortopos, wie er als gruseliger Gegenort etwa bei Annette von Droste-Hülshoff vorkommt („Der Knabe im Moor“). Dieser romantische literarische Topos berührt sich mit Untersuchungen der Brüder Grimm, in deren mythologie-, poesie- und rechtsgeschichtlichen Sammlungen das Moor als Ort der Toten und unruhiger Seelen, der Fabelwesen und des alten Aberglaubens erscheint. Inwieweit diese philologischen Erkenntnisse zur Mythologie des Moores wieder auf die zeitgenössische Literatur rückwirkten, wäre noch zu untersuchen.33 || 32 Die summierenden Werke von Schrader 1901 und Paul 1900–1909 gehen meines Erachtens auch nicht gesondert auf germanische Feuchtgebiete ein. 33 Siehe den Beitrag von Joana van de Löcht in diesem Band.
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Joana van de Löcht
Das Moor als Phobotop und locus horribilis: Über das Unheimliche in der Moordichtung um 1850 Zusammenfassung: Im Beitrag werden Gedichte aus der Mitte des 19. Jahrhunderts daraufhin untersucht, wie in ihnen der Naturraum ‚Moor‘ dargestellt wird. Dabei wird gezeigt, dass das Moor nicht als Landschaft der Erhabenheit oder der idyllischen Verklärung kodiert ist, sondern dass es als Phobotop gelten darf. Hierfür wird zunächst der Begriff des Phobotops mit konkurrierenden Konzepten wie dem locus horribilis und dem ecohorror bzw. der ecophobia kontrastiert. In den anschließenden Analysen der Moor-Gedichte in den „Haidebildern“ der Annette von Droste-Hülshoff (1844), von Georg Weerths „Haus am schwarzen Moor“ (1846) sowie der niederdeutschen Moordichtung Klaus Groths (1852) kristallisiert sich heraus, dass es weniger der unheimliche Naturraum ist, der im Moor lauert, als die aus der Gesellschaft Verbannten, die im Moor den Tod finden oder als Phantome keine Ruhe finden. Dabei kann gezeigt werden, dass hinter dem Unheimlichen in der Moordichtung vor allem die zeitglich verhandelte Soziale Frage steht.
1 Vergessen und versinken „Bezeichnend ist für den S[umpf] im Gegensatz zu Wasser, daß das darin Versunkene nie mehr zum Vorschein kommt.“ So eröffnet der Eintrag zum Sumpf im Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens (Beth 1987, 603). Der Sumpf bzw. das Moor ist folglich der ideale Ort, um das, was vergessen werden soll, zu deponieren. Als Raum außerhalb der Gesellschaft, in den der Arm des Gesetzes nicht reicht und der noch nicht durch Urbarmachungsbestrebungen gezähmt wurde, dient das Moor als Reservoir dessen, was von der Gesellschaft vergessen und ausgeschieden werden soll. Es ist jedoch auch der Ort, an dem sich das dem Vergessen Anheimgegebene verselbständigt und denjenigen heimsucht, der es wagt, einen Fuß auf den morastigen Grund zu setzen. In seiner strukturellen Anlage, die eine lineare Durchquerung vereitelt, entwickelt der Raum selbst ein dem ihn Betretenden widriges Eigenleben. Die perhorreszierten Gefahren liegen nicht allein in der Beschmutzung und dem Irregehen, sondern auch im Ertrinken im Moor, wie es durch zahlreiche Erzählungen im kollektiven Gedächtnis veran-
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kert ist. Wer das Moor betritt, läuft damit nicht allein Gefahr, dem Vergessenen zu begegnen, sondern auch, durch Versinken im Moor selbst dem Vergessen anheimzufallen. Wer auf diese Weise im Moor zu Tode kommt, wird durch die besondere Umgebung so konserviert, dass sein Leichnam nicht zerfällt, sondern als Moorleiche dem feuchten Raum wieder entrissen werden kann. Nicht zuletzt bedrohen Miasmen und die ‚mal aria‘ – die schlechte Luft der Sümpfe – den Moorwanderer und können zu lebensbedrohlichen Krankheiten führen. Das Moor ist damit in der europäischen Kulturgeschichte als Naturraum markiert, der wie wohl wenige andere dem Menschen feindlich gegenübersteht und ihn vielfach bedroht. Die Literatur, die sich in das Moor wagt, zählt oftmals zu den „nicht mehr schönen Künsten“, die vor allem durch die Romantik geprägt werden, die „die Epoche unserer Modernität einleitet“ (Jauß 1969, 11). Mit Blick auf die englische romantische Literatur beschreibt William Atkins die Position des Moors wie folgt: Map the Romantic landscape. Beauty lay in the pastoral valley; in the mountains was the sublime – it was between those poles that the undesignated moor stretched out. […] In wilderness lived wild things; the desert was inhabited by demons. While God resided in the mountains, and social man in the valley, the moor was where the outcast went – the fugitive, the savage, the misanthrope. (Atkins 2015, XIX)
Wie Niels Penke in seinem Beitrag in diesem Band zeigt, wird das Moor im Laufe des 18. Jahrhunderts motiviert durch die Peuplierungsbestrebungen überhaupt erst der staatlichen Einflussmacht unterstellt. Durch das Siedlungsprogramm wird das Moor nicht nur als Raum erschlossen, sondern auch zum Ankerpunkt literarischer Imaginationen, die nicht zuletzt auf Grund der dort herrschenden prekären Lebensumstände zumeist negativ geprägt waren. Der niederdeutsche Spruch „Den Eersten sien Dod, den Tweeten sien Not, den Drütten sien Brod“ bezeugt die harten Lebensbedingungen der Menschen, die versuchten, im Rahmen der Moorkolonisierung den Feuchtgebieten urbares Land abzutrotzen (Blackbourn 2008, 39–65). Zu den oben bereits angeführten Punkten tritt somit die Armut und das Elend als typisches Kolorit des Moors hinzu. Moor und Schlamm als Orte des Monströsen und Wilden sind sowohl durch die biblische als auch durch die antike Tradition belegt. Behemoth, das Gegenstück zum Meeresungeheuer Leviathan, ist Sumpfbewohner.1 Geschildert wird
|| 1 So heißt es im Buch Hiob (40, 15–24): „Siehe da den Behemot, den ich geschaffen habe wie auch dich! Er frisst Gras wie ein Rind. Siehe, welch eine Kraft ist in seinen Lenden und welch eine Stärke in den Muskeln seines Bauchs! Sein Schwanz streckt sich wie eine Zeder; die Sehnen seiner Schenkel sind dicht geflochten. Seine Knochen sind wie eherne Röhren, seine Ge-
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ein Wesen, dessen Ruheort der Grenzbereich von Wasser und Land ist – der schilfgerandete Sumpf oder die Flussauen. In der Bildtradition wird der Behemoth meist als eine Art Nilpferd imaginiert. Thomas Hobbes betitelt seine 1668 erschienene staatstheoretische Schrift zum Englischen Bürgerkrieg unter Karl I. Behemoth. The long Parliament. In ihr wird die Figur des Behemoths zum Sinnbild des anomisch-chaotischen Naturzustands und damit zum Gegenbild des übermächtigen Staatswesens Leviathan. Habitat und Sinnbildlichkeit überschneiden sich hier. Unter den zwölf Prüfungen des Herakles ist der Kampf gegen die Hydra in den Sümpfen von Lerna der einzige, den der Held nicht mühelos, sondern nur mit Hilfe seines Begleiters Iolaos meistert. Sie wird daher vom König Eurystheus nicht als bestanden angerechnet – der Heros scheitert am Sumpf und an seinem wuchernden Ungeheuer, dem für jeden Kopf, den man ihm abschlägt, zwei neue wachsen.2 In Tacitus’ Germania finden sich weitere Hinweise auf das Moor als wilden, unzivilisierten Ort: „Terra, etsi aliquando specie differt, in universum tamen aut silvis horrida aut paludis foeda […]“3 – dichte Wälder und abstoßende Sümpfe kennzeichnen folglich die germanische Landschaft. In ihnen hausen die Stämme in unkultivierter, den Römern fremder Lebensweise – das Moor und seine Bewohner stellen folglich das Gegenbild des geordneten (römischen) Staatswesens dar. Nicht zuletzt ist der Sumpf als Sündenpfuhl ein etabliertes Motiv in der Literaturgeschichte: In Dantes Divina Commedia liegen im fünften Kreis der Hölle die stygischen Sümpfe, die an die Mauern der höllischen Stadt Dis grenzen und die allen Zornigen zum Ort der Qual werden. Die dort Gequälten gehören zu der Gruppe der affektiv Exzessiven, denen sich in den vorherigen Höllenkreisen die || beine wie eiserne Stäbe. Er ist das erste der Werke Gottes; der ihn gemacht hat, gab ihm sein Schwert. Denn die Berge bringen ihm Tribut, und alle wilden Tiere spielen dort. Er liegt unter Lotosbüschen, im Rohr und im Schlamm verborgen. Lotosbüsche bedecken ihn mit Schatten, und die Bachweiden umgeben ihn. Siehe, der Strom schwillt gewaltig an: er dünkt sich sicher, auch wenn ihm der Jordan ins Maul dringt. Kann man ihn fangen Auge in Auge und ihm einen Strick durch seine Nase ziehen?“. Die Binärstruktur der politischen Theorie eines Thomas Hobbes oder eines Carl Schmitt, die im Behemoth ein Landtier als Gegenpart zum Wasserwesen Leviathan sehen, stellt letztlich eine Vereindeutigung dar, die die wässrigen Aspekte dieses Wesens ausklammert. Zur Bekämpfung des Sumpfes im Mythos und dessen Aufnahme in die deutsche Literatur vgl. Brittnacher 2015. 2 Die Verweise auf Herakles und Dantes Divina Comedia basieren auf Anthony Wilson (2018, 109–114). 3 Tacitus, cap. 5: „Das Land ist zwar im einzelnen recht unterschiedlich, doch im ganzen gesehen teils durch seine Urwälder schaudererregend, teils durch seine Sümpfe widerlich, […].“ (Übs. Perl 1990, 85).
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Sünder zugesellen, die sich sexueller und kulinarischer Entgrenzung schuldig gemacht haben (Flasch 2021, 151). Die Zornigen stehen unbekleidet im sumpfigen Nass und zerfleischen sich dabei selbst (Dante 1990, 36–37). In dieser knappen Zusammenschau wird deutlich, dass das Moor ein kulturund literaturgeschichtlich eindeutig negativ gefasster Naturraum ist, der ihn zur idealen Umgebung für das Abjekte werden lässt. Ziel des folgenden Beitrags ist es, am Beispiel der Lyrik, die um die Mitte des 19. Jahrhunderts entstand, die devianten Moorbewohner und ihr Habitat zu konturieren und zu fragen, wie das Moor als widriger Naturraum dargestellt wird und welche Elemente als gesellschaftlich unerwünscht in das Moor verbannt werden. Ausgangspunkt ist die Beobachtung, dass mit der zweiten Schwemme der Moorkolonisierung, die in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts Kanäle in die bislang unberührten Feuchtgebiete trieb und Siedlungen der Armut anheimgab, das Moor einerseits als literarischer Raum überhaupt erst erschlossen, jedoch zugleich als negativ besetzter Raum etabliert wurde (Blackbourn 2008, 175–195). Die Texte sollen folglich vor dem Hintergrund einer Umwelt- und Sozialgeschichte gelesen werden. Im Anschluss hieran stellen sich folgende Fragen: In welcher Form wird das Moor als Raum des aus der Gesellschaft Auszugrenzenden literarisiert? Und auf welche Weise eignen sich Naturschilderung und Beschreibung der Bewohner des Moors dazu, den Raum als Phobotop erscheinen zu lassen? Bevor wir zu den konkreten literaturhistorischen Beispielen voranschreiten, sollen die in der angloamerikanischen Literaturwissenschaft etablierten Konzepte des ecohorror und der ecophobia sowie die Begriffe des Phobotops und des locus horribilis schärfer konturiert werden, die als terminologische Grundlage für die sich anschließenden Fallstudien dienen.
2 Ecophobia – ecohorror – Phobotop – locus horribilis Der Anglist Simon Estok war einer der Ersten, die sich für eine Theoretisierung des Begriffs ecophobia aussprachen: Er fasst unter dem Begriff alle negativen Emotionen und Zuschreibungen gegenüber der Natur. Ihr liege zuvorderst das Bewusstsein zugrunde, dass wir Menschen die uns umgebende Natur nicht kontrollieren können, und hieraus resultiere ein irrationaler und grundloser Hass gegen die natürliche Welt (Estok 2009, 208). Human history is a history of controlling the natural environment […], of first imagining agency and intend and then quashing that imagined agency. Nature becomes the hateful
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object in need of our control, the loathed and feared thing that can only result in tragedy if left in control […]. (Estok 2009, 210)
Folge man Francis Bacon, so sei das Streben nach Kontrolle über die Natur bereits im biblischen Text angelegt, erhalte die Natur doch allein durch den Menschen ihre Bestimmung, existiere nur für und wegen ihm. Ein probates Mittel, um Kontrolle über sie zu erreichen, sei laut Bacon die wissenschaftliche Erforschung. Wissen führt zur Kontrolle über die Natur und grenzt, so könnte man ergänzen, die ecophobia ein. Als Bereiche, die in besonderer Weise ecophobia hervorrufen, identifiziert Estok Verrottendes und Schleimiges, die wiederum eine Schnittmenge mit Sexualität und Misogynie aufwiesen (Estok 2019).4 Das Genre Horror, dessen früheste Spuren in die Mitte des 18. Jahrhunderts weisen, wurde in den vergangenen Jahren immer wieder mit dem Zeitalter des Anthropozäns – beginnend mit der Industriellen Revolution – verknüpft (Clute 2014; Dillon 2018).5 Die Spielart des ecohorror entspringt laut der Einführung von Christy Tidwell und Carter Soles in ihren Band Fear and Nature dem Bewusstsein, auf einem veränderten, einem „terraformierten“ Planeten zu leben, dessen Veränderung nicht zu unseren Gunsten ausfalle (Tidwell, Soles 2021, 3). Das Moor als Ort jenseits der Zivilisation, der dort liegt „wo die Hauptverkehrswege, Funknetze und Überwachungskameras enden“ (Penke 2016, 389), kann zudem den Schauplätzen des Backwood-Horrors zugerechnet werden, die das Individuum oder eine kleinere Gruppe, die aus zumeist friedlichen Gründen, etwa als Urlauber oder Forscher, die Zivilisation verlässt, im provinziellen Raum bedrohen. Der Begriff des Phobotops bzw. der Phobotopie wiederum geht ursprünglich auf den kolumbianischen Philosophen Ricardo Javier Arcos-Palma zurück, der diesen Begriff im Rahmen eines unveröffentlichten Vortrags am Pariser EPHA einführte als „l’espace configué et construit à partir de la peur“.6 Der Begriff wurde als Entsprechung zu Foucaults Konzept der Heterotopie entworfen und meint einen Ort, dessen primäre Eigenschaft es ist, Angst einzuflößen (Penke 2016, 391). Wenn wir die Heterotopie als Raum des Anderen verstehen, wird in der Phobotopie dieses Andere als angsteinflößend und dem Menschen feindlich gegenüberstehend konkretisiert.
|| 4 Folgen wir humoralpathologischen Vorstellungen, so ist das Element des Wassers ebenso wie der Körpersaft des Schleims, wie er beim Phlegmatiker vorherrscht, dem Weiblichen zugeordnet. 5 Dillon wiederum baut auf Donna Haraways Konzept des ‚Chthuluzäns‘ auf. 6 Zitiert nach Teichert (2018, 352). Der dort zu findende Link zum unveröffentlichten Vortragsmanuskript auf der Seite des EPHA ist inzwischen nicht mehr zielführend.
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Diesen Wortneuschöpfungen, die sich aus den Theorien des 20. Jahrhunderts speisen, lässt sich der Topos des locus horribilis bzw. terribilis sowie des locus desertus entgegensetzen. Dieser ist das Gegenstück zum locus amoenus, zur fruchtbaren, wachsenden Idealnatur. Klaus Garber zeigt in seiner Dissertation zur frühneuzeitlichen Schäfer- und Landlebendichtung, dass die kalte, unwirtliche Wildnis vornehmlich als Ort der Liebesklage fungiert, an dem die umgebende Natur der Gefühlswelt des lyrischen Ich entspricht (Garber 1974, 230f.).7 Der locus horribilis ist also nicht an sich furchteinflößend, besitzt keine Agenzialität, sondern ist von der Stimmung und den Handlungen des ihn betretenden Menschen abhängig. Allen Termini ist gemein, dass sie das Verhältnis zwischen Mensch und Natur als angstbesetzt markieren, wobei diese Angst nicht aus einer furchteinflößenden Erhabenheit resultiert, sondern aus einer kulturell vermittelten negativen Wahrnehmung des Naturraums. Wie sehr kulturelles Wissen diese angstvollen Zuschreibungen befördert, wird im Folgenden zu zeigen sein. Als Untersuchungsgegenstand dienen drei Gedichtsammlungen aus dem 19. Jahrhundert, in denen nicht allein ein Gedicht, sondern gleich mehrere das Moor behandeln, wobei das Furchteinflößende jeweils differiert.
3 Belebte Natur oder Moorphantome (Annette von Droste-Hülshoff) Die Autorin, die einem beim Thema ‚Moor und Literatur‘ als erstes in den Sinn kommt, ist sicherlich Annette von Droste-Hülshoff. Ihre 1844 bei Cotta erschienene Sammlung Gedichte von Annette Freiin von Droste-Hülshof gliedert sich in mehrere Teile. Im Folgenden soll der zweite Zyklus, die „Haidebilder“, im Zentrum der Überlegungen stehen. Die vor allem im „Merseburger Winter“ 1841/42 entstandene Sammlung umfasst zwölf Gedichte – „Die Lerche“, „Die Jagd“, „Die Vogelhütte“, „Der Weiher“, „Der Hünenstein“, „Die Steppe“, „Die Mergelgrube“, „Die Krähen“, „Das Hirtenfeuer“, „Der Haidemann“, „Das Haus in der Haide“ und „Der Knabe im Moor“ – und wird durch den gemeinsamen Handlungsort bestimmt: die sandige, von wenigen Bäumen bestandene und von Felsformationen, Seen und Mooren durchzogene Heide. Jedes der Gedichte ruft einen speziellen Aspekt der Heide auf – zugleich „lassen sich die Einzelbilder || 7 Die deutsche Dichtung nimmt hierbei die Raumgestaltung Petrarcas auf, die sich wiederum an den Properz’schen Elegien orientiert.
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kaleidoskopisch zu wechselnden Mustern zusammensetzen“ (Blasberg, Grywatsch 2018, 214). Dem Topos des wilden, nicht urbar gemachten Naturraums entsprechend sind die Menschen in diesen Gedichten in der Unterzahl;8 Ameisen, Vögel und die Vegetation sind die Hauptakteure. Allein Jäger, Hirten, Kinder und das lyrische Ich begehen die Haide. Entweder werden sie als homogene Gruppe geschildert (etwa im „Hirtenfeuer“) oder als vereinzeltes, träumendes, sinnendes oder verschrecktes Individuum. Die facettenreich entworfene Landschaft wird zugleich als Erinnerungsort aufgeladen – Schlachten, Sagenstoff und literarische Wissensbestände prägen die Textlandschaft –, wobei die Natur selbst zur erinnernden und Erzählungen spinnenden Instanz wird.9 Im Folgenden soll die These verfolgt werden, dass erst durch diese in der westfälischen Landschaft wabernden Wissensbestände und die Agenzialität der Natur das Unheimliche in die Gedichte Droste-Hülshoffs Einzug hält. Dies sei an den Moor-Gedichten illustriert. Zu diesen lassen sich „Die Mergelgrube“, „Das Hirtenfeuer“, „Der Haidemann“ und schließlich das bekannteste Gedicht der Sammlung „Der Knabe im Moor“ rechnen. Es ist sicherlich kein Zufall, dass die letzten drei Texte dem Bereich der „Dämmerung und Dunkelheit“ zuzuordnen sind (Blasberg, Grywatsch 2018, 216). Das erste Gedicht der Sammlung, in der das Moor – zumindest an einer Stelle – Erwähnung findet ist die „Mergelgrube“. In ihm werden biblische und naturkundliche Tiefenzeit einander gegenübergestellt: Während im ersten Teil des Gedichts in biblischer Vorstellung die in der Grube verteilten Kiesel entstanden, als der Leviathan über den Sinai schwamm und die Sintflut die Arche auf dem Ararat absetzte, werden im weiteren Verlauf geologische Prozesse als Grund für die Gesteinsablagerungen in der Mergelgrube angeführt (Droste-Hülshoff 1985 [im Folgenden Hb], 50, V. 15–23).10 Das Gestein selbst wird dabei anthropomorphisiert, die verstreut liegenden Steine werden als „Findlinge“ bezeichnet, die
|| 8 Das 1DWB (Bd. 10, Sp. 795) beschreibt die Heide wie folgt: „aus dem gegensatze, den heide zu den einem wohnhause zunächst liegenden fruchttragenden grundstücken bildet, flieszt die vorstellung eines nicht urbar zu machenden, unfruchtbaren landes; diese vorstellung musz zwar frühe entwickelt sein […], kommt aber erst später zu gröszerer geltung; in Ober- wie in Niederdeutschland werden mit dem namen heide flache trockene landstrecken belegt, deren untergrund sandboden ist, worauf eine dünne erdschicht liegt.“ 9 Vgl. etwa die Erinnerungen in den „Krähen“ oder die tiefenzeitlichen Imaginationen von Tod und Versteinern in der „Mergelgrube“. 10 Heinrich Detering (2020a, 61) zählt „Die Mergelgrube“ zu den Texten der Droste, in denen sich „die Spannung von physischer Naturszenerie und metaphysischen Bedeutungszusammenhängen symptomatisch“ zeigt.
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wie Waisen „von der Brust“ der Mutter gerissen wurden und in „fremde[r] Wiege“ (Hb, 50, V. 25–28) schlummern.11 Mit den (vor-)zeitlichen Dimensionen und der Personifizierung (und damit einhergehenden Handlungsmacht) der Natur sind Themen benannt, die die Natur- und Moorschilderungen Drostes nicht allein in diesem konkreten Fall prägen. Das Moor wird lediglich in der zweiten Strophe erwähnt, in der auch das lyrische Ich erstmals auftritt: Tief in’s Gebröckel, in die Mergelgrube War ich gestiegen, denn der Wind zog scharf; Dort saß ich seitwärts in der Höhlenstube, Und horchte träumend auf der Luft Geharf. Es waren Klänge, wie wenn Geisterhall Melodisch schwinde im zerstörten All; Und dann ein Zischen, wie von Moores Klaffen, Wenn brodelnd es in sich zusamm’gesunken; Mir über’m Haupt ein Rispeln und ein Schaffen, Als scharre in der Asche man den Funken. Findlinge zog ich Stück auf Stück hervor, Und lauschte, lauschte mit berauschtem Ohr. (Hb, 50f., V. 33–44)
Diese Strophe zeichnet ein Elementarereignis, bei dem der rauschende Wind, das irdische Gestein, die wässrigen Töne des Moors und die in der Asche verborgenen Funken zusammenwirken. Hauptsächlich wird dabei die Lautwelt der Mergelgrube inszeniert, die geisterhaft, zischend und scharrend ist, jedoch durch die Vergleichspartikel stets im Ungewissen verharrt. Das „Luft Geharf“ verweist auf die Äolsharfe als Sinnbild des dichterischen Afflatus (vgl. Salmen 2004, 121–124), die erklingenden Geräusche besitzen also zugleich eine poetologische Dimension. Die Lufttöne im „zerstörten All“ nehmen die endzeitlichen Visionen vorweg, wie sie in der Folgestrophe entworfen werden – „doch die Natur / Schien mir verödet, und ein Bild erstand / Von einer Erde, mürbe ausgebrannt“ (Hb, 51, V. 46–48). Das Moor ist diesen auf ein künftiges Ende gerichteten Geräuschen vertikal entgegengesetzt im Sinne eines irdischen, vorzeitlichen Afflatus. Die geisterhaften Klänge der Äolsharfe antizipieren die künftige Auflösung der kosmologischen Ordnung, der das Moor als ur- oder vorzeitlicher, klaffender Raum des Ungesonderten entgegensteht. Diese Vorzeit ist in den Gesteinsablagerungen, in Form einer geologischen Tiefenzeit der Versteinerung, in der Mergelgrube allgegenwärtig, so in den prähistorischen Medusen, die auf ewig fixiert wurden, und deren Schilderung einen imaginierten Mumifi|| 11 Zur Bedeutung des Findlings verweist Detering auf DeMair 2017, die diese Gesteinsform in den geologischen Diskurs des 18. und frühen 19. Jahrhundert einordnet.
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zierungsprozess des lyrischen Ichs einleitet. Das Moor fungiert hier folglich nicht allein als Geräuschgeber, sondern korrespondiert mit der Mergelgrube als Ort eines geologischen, erdhistorischen Archivs. Während das Moor im vorangegangenen Beispiel lediglich in Form eines Vergleichs aufgerufen wird und folglich eine eher marginale Rolle als Kontrapunkt zum himmlischen Laut spielt, setzt „Das Hirtenfeuer“ (Droste-Hülshoff 1985, 59–61) direkt im Moor ein: Das Gedicht beginnt mit dem Vers „Dunkel, Dunkel im Moor“ (Hb, 59, V. 1), wobei die vokalische Qualität das Gefühl des Düsteren und Nächtlichen unterstützt. Die stille, nächtliche Naturszene wird allein durch die dem zivilisatorischen Raum zuzuordnende Mühle unterbrochen, an deren Rad „[s]chwellende Tropfen schleichen“ (Hb, 59, V. 6). Die schlafenden Tiere bilden das Gegenstück zum in der dritten Strophe geschilderten Feuer und den um dieses herum wachenden Hirten, die die Flamme durch Torf am Leben halten. Erst als einer der Hirten ein „Wacholderbündel“ (Hb, 59, V. 28) auflegt, fangen die Flammen an, lebhafter zu aufzulodern. Die kurzzeitigen „Funken-Girandolen“ (Hb, 60, V. 32) werden schnell wieder vom dumpfen Schwelen des Torffeuers abgelöst, das nur unzureichendes Licht auf die Sitzenden wirft und die Gesichter verfremdet: „Und schier Dämonen gleichen / Die kleinen Haidewichte.“ (Hb, 60, V. 43–44). Die um das Feuer gelagerten Jungen nehmen im Flammenschein eine teils tierische Gestalt an, sie erscheinen als „spähen[de] […] Geier“ (Hb, 60, V. 49), die schließlich in der Ferne ein weiteres Feuer entdecken und in einen schlüpfrigen Wechselgesang mit den dort wachenden Hirten eintreten. Der Text gemahnt nicht zuletzt durch sein Personal an die Hirtendichtung, wobei das Moor nicht eindeutig als locus amoenus oder locus horribilis gedeutet werden kann: Das Friedliche der heraufziehenden Nacht steht dem teils Entgrenzt-Animalischen der Hirten gegenüber. Die Verunsicherung in „Der Haidemann“ erfolgt bereits zu Beginn durch eine Fußnote, die an den Titel angehängt ist und erläutert: „Hier nicht das bekannte Gespenst, sondern die Nebelschicht, die sich zur Herbst- und Frühlingszeit über den Haidegrund legt.“ (Hb, 62). Bernd Kortländer stellt fest, dass der Hinweis zunächst eine „realistische oder besser vielleicht naturalistische Beobachterposition“ suggeriere, die jedoch durch die „volksgläubische Lesung und Deutung des personifizierten Naturphänomens“ unterlaufen werde (Kortländer 2004, 201). Die sich anschließende Schilderung des aufziehenden Nebels, die sich mit elterlichen Warnungen an die Kinder abwechselt, möglichst schnell nach Hause zurückzukehren, da „[d]er Haidemann kömmt“ / „schwillt“ / „braut“ / „steigt“ / „zieht“ bzw. „brennt“, lässt jedoch Zweifel ob dieser rein natürlichen Einordnung des Phänomens aufkommen. Das Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens kennt den ‚Haidemann‘ nicht, ebenso wenig wie Wör-
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terbücher der Zeit. Die Autorin spielt wohl auf die erstmals 1836 erschienene Ballade ihres Bekannten Wilhelm Junkmann an (Droste-Hülshoff 1997, 808), die in deutlich weniger elaborierten Versen als bei Droste die Flucht eines Mädchens durch die Heidelandschaft schildert. Als es sich an den Steinen eines alten Grabhügels zu verbergen sucht, begegnet es einer männlichen Figur, dem Heidemann. Die folgende Strophe zeichnet den personifizierten Heidemann, der bei Droste-Hülshoff allein in der Negation mitschwingt, als schreckliche Figur: Horch! da rauscht es wie von Mannes Tritten Durch die öde Heide her: Und sie sieht mit schnellen Schritten, Eine dunkle Feder auf dem Hut, Eingehüllt in eines Mantels weite Falten, Schreiten her den hohen Heidemann. Schweigend schlingt er um sie seine Arme, Seine düstern Flammenaugen Ruhen schwermuthsvoll auf ihr; Nimmer schweifen seine dunkeln Blicke Von des Mädchens holdem Antlitz ab. (Junkmann 1836, 4)
In genretypischer Manier der Schauerballade – erinnert sei an Bürgers „Lenore“ – verliebt sich das Mädchen in die düstere Gestalt, nur um am folgenden Morgen tot in ihrem Bett aufgefunden zu werden. Ein diabolischer, junge Frauen verführender Geist findet sich in DrosteHülshoffs „Haidemann“ nicht, stattdessen wird das Unheimliche des Gedichts vor allem durch die Anthropomorphisierung des Naturphänomens bestimmt. Dem aufsteigenden Nebel wird Intention und Körperlichkeit zugesprochen, die einen Gegensatz zu seiner luftigen Form bildet. Dies wird besonders deutlich in der zehnten Strophe, in der zunächst das Steigen der „Nebelschemen aus dem Moore“ (Hb, 63, V. 52) beschrieben wird, der vierte Vers lautet: „Mit Hünenschritten gleitet’s fort“ (Hb, 63, V. 53). Das Es bleibt hier unbestimmt, wird jedoch in der folgenden Strophe zu einer Person verkörpert („Und plötzlich scheint ein schwaches Glühen / Des Hünen Glieder zu durchziehen“ (Hb, 63, V. 56f.). Der Nebel färbt sich am Ende des Gedichts, was als Prodigium gelesen wird, das auf „Pest und theure Zeit“ (Hb, 64, V. 65) hindeute. Die Ursache für die Färbung des Nebels ist dabei nicht eindeutig geklärt. So weist die historischkritische Ausgabe im Stellenkommentar darauf hin, dass es sich hierbei um einen Verweis auf Nordlichter handele, wie sie etwa am 7. Januar 1831 zu beobachten gewesen seien und als Zeichen für Teuerung, Krankheit und Krieg gelesen wurden (Droste-Hülshoff 1997, 809). Alternativ ließe sich das Lichtphänomen jedoch auch als Moorbrand lesen, der die Nebelschwaden rot verfärbt.
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Die im Verlaufe des Gedichts entwickelte Verkörperlichung entfaltet ihr grauenvolles Potenzial vollends im letzten Vers: „‚[…] Der Haidemann brennt! –‘“ (Hb, 64, V. 66). Neben dem titelgebenden Heidemann nimmt Droste in diesem Gedicht auch Bezug auf eine für die Moordichtung typische Wesenheit: das Irrlicht.12 Während der Ursprung des Phänomens in Biolumineszenz oder sich entzündenden Gasen zu suchen ist, gehören Irrlichter – Flämmchen, die über dem Moor erscheinen – laut dem Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens spätestens seit dem 16. Jahrhundert zur Moorfolklore (Olbrich 1987, 779). Das Irrlicht wurde als ein kleines Wesen imaginiert; das Flämmchen wurde oftmals als Laterne interpretiert, während die eigentliche Gestalt im Dunkeln bleibt. Irrlichter erscheinen vor allem im Herbst, bewegen sich rasch und sind mit flötenden Tönen verbunden. Sie wurden für „brennende Seelen […] von Bösewichtern, z. B. Grenzfrevlern, Selbstmördern […] Ertrunkenen oder […] für die Seelen ungetauft verstorbener Kinder“ angesehen (Olbrich 1987, 782). Obwohl sie Menschen in die Irre führen, sind sie doch nicht grundsätzlich bösartig, sondern können „für geringes Entgelt“ dem Moorwanderer den Weg erleuchten (Olbrich 1987, 783). Neben dem Irrlicht und dem Heidemann als übernatürliche Entitäten finden sich unmittelbar in der textlichen Moorumgebung außerdem Kröten und Schlangen, die durch Wechselwärme und ihre gleichermaßen ausgeprägte Affinität zu Wasser und Land der animalischen Halbwelt zuzurechnen sind. Die Eigenschaft des Moors als trügerischer Raum wird folglich durch seine Bewohner verstärkt bzw. spiegelt sich in diesen. Auch in diesem Text wird das Moor als onomatopoetisch gestalteter Raum erschlossen: „Ein leises Brodeln quillt im Moor, / Ein schwaches Schrillen, ein Gezische / Dringt aus der Niederung hervor.“ (Hb, 63, V. 42–44). Es fällt auf, dass in den bisher untersuchten Texten das Moor, im Gegensatz zu anderen Naturräumen in den Gedichten Droste-Hülshoffs, weniger durch detaillierte Naturbeobachtung und -beschreibung, sondern vor allem durch seine Geräusche charakterisiert wird.13 Diese bleiben auch im wohl bekanntesten deutschsprachigen MoorGedicht, „Der Knabe im Moor“, dominant. Zugleich wird die phantasiegeleitete und anthropomorphisierende Belebung der Natur, wie sie bereits in den vorangegangenen Beispielen beschrieben wurde, hier nochmals gesteigert. Die erste Strophe lautet:
|| 12 „‚Ihr Kinder, kommt, kommt schnell herein, / Das Irrlicht zündet seinen Schein, / Die Kröte schwillt, die Schlang im Ried; / Jetzt ist’s unheimlich draußen seyn, / Der Haidemann zieht! –‘“ (V. 45–49). 13 Die Bedeutung der Lautmalerei betont auch Detering 2020a, 33.
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O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn, Wenn es wimmelt vom Haiderauche, Sich wie Phantome die Dünste drehn Und die Ranke häkelt am Strauche, Unter jedem Tritt ein Quellchen springt, Wenn aus der Spalte es zischt und singt, O schaurig ist’s über’s Moor zu gehn, Wenn das Röhricht knistert im Hauche! (Hb, 67, V. 1–8)
Die Stimmung des Gedichts wird durch das erste Wort „Schaurig“ gesetzt und verstärkt damit den Auftakt des „Hirtenfeuers“ („Dunkel, Dunkel im Moor“). Die Wendung der Naturschilderung ins Schauerliche wird durch das konjunktionale „wie“ erreicht, das die Vegetation, die Geräusche und die Topographie des Moores zu phantastischen Gestalten transformiert. Wie im „Haidemann“ erscheint die Natur selbst verlebendigt, so etwa in der Ranke, die „häkelt“, oder der „Spalte, die „zischt und singt“. Die Rolle des vergleichsweise harmlos erscheinenden Irrlichts im „Haidemann“ wird nun durch Phantome devianter und verbrecherischer Figuren eingenommen, die schon durch ihre sprechenden Namen Unbehagen erwecken: der „Gräberknecht“, die „unselige Spinnerin“ Spinnlenor, der „diebische Fiedler Knauf“ sowie die „verdammte Margret“. Ob es sich bei diesen Figuren um die Produkte einer erhitzten Knabenphantasie handelt oder ob tatsächlich Übernatürliches im Moor haust, verbleibt in der Schwebe (Wortmann 2018, 255). Die Figuren wurzeln einerseits in der regionalen Sagentradition. So schreibt Droste in den Westphälischen Schilderungen aus einer westphälischen Feder: Die häufigen Gespenster in Moor, Haide und Wald sind arme Seelen aus dem Fegfeuer, deren täglich in vielen tausend Rosenkränzen gedacht wird, und ohne Zweifel mit Nutzen, da man zu bemerken glaubt, daß die ‚Sonntagsspinnerin‘ ihre blutigen Arme immer seltener aus dem Gebüsche streckt, der ‚diebische Torfgräber‘ nicht halb so kläglich mehr im Moor ächzt und vollends der ‚kopflose Geiger‘ seinen Sitz auf dem Waldstege gänzlich verlassen zu haben scheint. (Droste-Hülshoff 1997, 826)
Andererseits nimmt Droste mit der „verdammte[n] Margret“ entweder ebenfalls eine lokale Sagengestalt auf – die HKA verweist auf die „Spinnmargrete“, „die von einer Hexe wegen ihres Fehlverhaltens auf ewig zum Spinnen in der Heide verurteilt worden war“ (Droste-Hülshoff 1997, 827) – oder aber die Goethe’sche Margret, die Kindsmörderin Gretchen, die in diesem Fall nicht Erlösung gefunden hat, sondern als „verdammte“ Seele durch das Moor spukt (Plachta 1997, 215f.). Während der Heidemann als vermeintliches Naturphänomen sozial undefiniert bleibt, sind die Phantome im „Knaben im Moor“ nicht nur mit Blick auf ihre Körperlichkeit prekär, das Moor und seine Bewohner werden darüber hin-
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aus mit Armut verbunden. Folgt man Herbert Kraft, so ist „das Ensemble der Figuren […] ausschließlich aus Angehörigen der untersten sozialen Schichten zusammen[ge]setzt; die Moorgestalten repräsentieren diejenigen, welche in die Schuld gezwungen werden“ (Kraft 1987, 115f.).14 Schauen wir uns das Moor und seine Bewohner im Gedichtzyklus der „Haidebilder“ zusammenfassend an, so zeichnet sich das Moor durch eine beunruhigende Belebtheit aus, die sich einerseits aus dem lokalen Sagenschatz speist und andererseits der Natur selbst Handlungsmacht zuschreibt, die sich zugleich onomatopoetisch in der Sprache realisiert. Der schwankende Untergrund spiegelt sich in den Kippfiguren, die Heide und Moor bewohnen: Die Hirten sind einerseits Jungen, andererseits gleichen sie „Dämonen“ und „Haidewichten“, das vermeintliche Naturphänomen ‚Haidemann‘ wird vom wabernden Nebel zum brennenden Hünen. Droste-Hülshoff ist wohl diejenige, die die Moor- und Heidelandschaft in ihrer Zeit am genauesten beschrieb und, teils vermittelt durch die Popularität des „Knaben im Moor“, zur Kodierung des Moors als Angstraum beitrug. Ein vergleichender Ausblick auf zwei zeitgenössische Autoren, Georg Weerth und Klaus Groth, möge das Bild vervollständigen.
4 Vom Elend des Fens (Georg Weerth) Die in ihrer sozialen Stellung prekären Phantome der Spinnerin und des Torfstechers werden im Zuge realistischer und naturalistischer Schreibweisen durch menschliche Moorbewohner und deren soziale Nöte ersetzt, wofür die in der Einleitung umrissene Situation der Moorkolonisatoren als lebensweltlicher Hintergrund diente. Georg Weerth lebte von 1843 bis 1846 im mittelenglischen Bradford, wo er als Kontorist der Textilfirma Passavant arbeitete, und beobachtete dort die große Not der Bevölkerung, die ihn schließlich zur Sozialen Frage und zum Austausch mit Friedrich Engels und Karl Marx führte (Wahrenburg 2011). Unter dem Titel „Lieder aus Lancashire“ erscheinen zunächst 1845 vier Lieder im von Moses Heß herausgegebenen Gesellschaftsspiegel. Ende 1846 folgen im von Hermann Püttmann veröffentlichtem Album. Originalpoesien (das ab der || 14 Damit unterscheiden sich die Phantome, wie wir sie bei der Droste finden, fundamental von Moorgeistern späterer Epochen. Bei den Irrlichtern in Christian Morgensterns gleichnamigem Gedicht handelt es sich um Seelen, die auf ihre (Re-)Inkarnation warten, die jedoch nicht einer speziellen sozialen Sphäre zuzuordnen sind. Zu Kontinuitäten und Brüchen in der Schilderung von Moorgeistern vgl. auch den Beitrag von Laura Ganzmann im vorliegenden Band.
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zweiten Auflage als Socialistisches Liederbuch betitelt ist) drei weitere Gedichte Weerths, die gleichfalls unterschiedliche soziale Missstände anklagen. Das dritte Gedicht in der Sammlung trägt den Titel „Das ist das Haus am schwarzen Moor“ (Weerth 1846, 128), das im proletarischen Milieu angesiedelt ist und als Einzelschicksal den Tod des alten Jan durch Erfrieren schildert (siehe auch Freund 1986).15 Die erste Strophe umreißt die Folgen der Armut mit der Bestimmung des durch den Titel und den ersten Vers gesetzten Schauplatzes: „Wer dort im letzten Winter fror, / Der friert dort nicht in diesem Jahr – / Er sank schon auf die Todtenbahr.“ (V. 2–4). Auch in diesem Gedicht erscheint die Umwelt als belebt, verbleibt jedoch eher in den Grenzen realistischer Schreibweisen. So treten der Tag, der Glockenschall und die „Kinder aus der Stadt“ nacheinander an das Bett Jans und grüßen ihn – der Verstorbene gibt jedoch keine Antwort. Während die ersten drei Strophen das Skandalon des Erfrierens behandeln, folgen drei Strophen, in denen der jeweils dritte und vierte Vers eine Art Refrain bilden: „‚Guten Morgen Jan! Guten Morgen Jan‘ – / Der Jan keine Antwort geben kann.“ Als Letzte erscheint ein „armes Weib“, das aus der Stadt Essen und Trinken mitbringt. Als sie erkennt, dass Jan bereits erfroren ist, bricht sie in Tränen aus. Das Grauen wird in dem Gedicht zum einen durch die Schilderung der sozialen Situation geweckt, die, wie die anderen Gedichte in der Sammlung, Armut und strukturelle Abhängigkeit thematisiert.16 Die im Rahmen der Industrialisierung als Fortschritt markierte Kolonisierung der englischen Fens setzte bereits in der frühen Neuzeit ein, hatte jedoch ihre Hochphase im 19. Jahrhundert. Wie in den deutschen Moor-Kolonien ist das Leben durch Entbehrungsreichtum und Armut gekennzeichnet. Zum anderen werden die heiteren Figuren – der personifizierte Tag, die personifizierten Glocken und die Kinder – als Gegenstück zum toten Jan inszeniert, das die Leblosigkeit und Kälte des Verstorbenen noch deutlicher vor Augen führt. Anders als bei Droste wird das Moor hier lediglich als nicht näher definierter Handlungsraum aufgerufen, der jedoch zeitgenössisch so eindeutig kodiert ist, dass er die Schilderung des Tods durch Erfrieren plau-
|| 15 Der Vorname Jan scheint dabei stereotyp zu sein, findet er sich doch häufig in der Kulturgeschichte des Moores. Es scheint sich hierbei um die übliche Benennung der Torflieferanten gehandelt zu haben, für diese findet sich etwa in Worpswede ein „Jan von Moor“-Denkmal. 16 Eines der Lieder aus Lancashire handelt von der englischen Reaktion auf den schlesischen Weberaufstand 1844, ein anderes von einem Grubenunglück in Haswell ebenfalls im Jahr 1844, bei dem 100 Bergleute zu Tode kamen. Ein weiteres schildert die Ungleichbehandlung von Gästen in einem Wirtshaus in Lancashire, in dem zweierlei Bier, je nach sozialer Stellung des Gastes, ausgeschenkt wird. Lediglich eines widmet sich mit dem Einsturz einer Kirche und dem Tod Gottes einem Thema, das nicht unmittelbar auf die Soziale Frage abzielt.
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sibel erscheinen lässt. Den Gegenraum bildet die Stadt, also der zivilisierte Raum, aus dem sowohl die Kinder als auch Lebensmittel kommen.
5 Naturbeobachtung und Geisterlaute (Klaus Groth) 1852 veröffentlichte der Mitbegründer der neuniederdeutschen Dichtung, Klaus Groth, seine plattdeutsche Sammlung Quickborn, in der sich mehrere Gedichte finden, deren Handlungsort das Moor ist: „Dat Moor“, „De Aptheker int Moor“ und schließlich unter der Abschnittsübersicht „Wat sik dat Volk vertellt“ das Gedicht „Dat stænt in’t Moor“. In „Dat Moor“ (Groth 1853 [im Folgenden Qb], 7) wird eine abendliche Moorlandschaft geschildert, wobei die erste Strophe den Eindruck des nachgiebigen Schwingrasens beschreibt, dessen Bewegung mit dem einer Kinderwiege verglichen wird. Es folgt eine Schilderung des Naturraums, in der die Farben Braun und Weiß vorherrschen.17 Dieser Raum wird in der dritten Strophe durch Tiere belebt: Frosch, Fuchs und Wachtel werden genannt, wobei die Wachtel nur zu hören sei und der Fuchs die Verhaltensweise der ihn umgebenden Atmosphäre übernimmt und wie die Nebelschwaden „brut“ (Qb, 7, V. 13) – also „braut“.18 Am Ende der dritten Strophe herrscht eine friedliche Stimmung vor: „Die ganze Welt is still un slöppt“ (Qb, 7, V. 14). Die folgende Strophe wendet sich an ein „Du“, dessen Schrittgeräusche vom wabernden Untergrund verschluckt werden, allein das Rauschen der Binsen erklingt, doch „lewt un wewt“ (Qb, 7, V. 17) die Natur um es herum, die nächtliche Landschaft wirkt wie eine „anner Welt“ (Qb, 7, V. 18). Erst in der letzten Strophe wird das Moor affektiv aufgeladen, jedoch weniger als das Unheimliche als durch das (ehr)furchteinflößende Erhabene. Der Größe und Weite des Moores wird das Gefühl des Menschen, klein und unbedeutend zu sein, gegenübergestellt, um das Gedicht mit einem memento mori zu schließen: „Wull weet, wo lang he dær de Haid / Noch frisch und kräfti geiht.“ (Qb, 7, V. 21f.)
|| 17 Zu Groth als ökologischem Dichter vgl. Detering (2020b). 18 In der hochdeutschen Ausgabe von 1856 findet sich an dieser Stelle folgende Fußnote: „Der Fuchs braut oder badet, ist sprichwörtliche Rede in Norddeutschland, um das Aufsteigen des Nebels über Thal und Wiese zu bezeichnen.“ (Groth 1856, 8) Das „Brauen“ des Fuchses nimmt Groth auch in weiteren seiner Gedichte auf, etwa in „De Mæhl“ („Die Mühle“).
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Der Apotheker in „De Aptheker int Moor“ (Qb, 73f.) wird als Typus des akademischen, der Natur entfremdeten Menschen geschildert, der in der ersten Strophe gefragt wird, was er „Puttenstæker“ (Qb, 73, V. 3) – „Salbenhöker“ – draußen in der Natur wolle, wo doch, wie die zweite Strophe weiter ausführt, alles, was er für seine Medizin brauchen könnte, noch unreif sei: „Hier’s nix vær Hannsch un Brillen / Un Snurr- und Segenbart“ (Qb, 73, V. 7f.) („Nichts finden Frack und Brillen, / Und Schnurr- und Ziegenbart!“). Der Akademiker bewegt sich froschgleich durch das vom Mondlicht beschienene Moor. Ein Gasthaus, das am Rande des Moors steht und auf sicheren Wegen – „Jümfernstieg[en]“ (Qb, 74, V. 18) – erreicht werden kann, biete ihm schließlich Sicherheit vor der Gefahr, im Moor irrezugehen. Während die beiden ersten Gedichte Groths das Moor zwar als unzivilisiert und dem Menschen feindlich gegenüberstehend beschreiben, sind sie doch nicht dezidiert unheimlich. Besonders das erste Gedicht zeichnet sich eher durch eine präzise Naturbeobachtung aus. Dies ändert sich im dritten MoorGedicht „Dat stænt in’t Moor“, das von Groth den „Volkssagen“ zugerechnet wird und vollständig abgeduckt werden soll: Dat stæhnt in’t Moor
Es stöhnt im Moor
Wat stæhnt der Abends rut ut Moor? Dat is de Wind in Reth un Rohr, Och ne, dat is keen Reth un Wind, Dar stæhnt en Fru, dar weent en Kind.
Was stöhnt des Abends aus dem Moor? Das ist der Wind im Schilf und Rohr. O nein, das ist kein Schilf und Wind, Dort stöhnt ’ne Frau, dort weint ein Kind.
Dat wimmert Abends krank un swach, Dat snuckert lut de ganze Nacht, Dat flücht sik vær de Morgensünn As Newel in de deepsten Grünn.
Das wimmert abends krank und schwach, Das schluchzet laut die ganze Nacht, Das flüchtet in der Morgenstund’ Als Nebel in den tiefsten Grund.
Doch wenn de Scheper Middags slöppt, So hört he wa dat lisen röppt, So deep, so dump, so swack un leeg, As ging der nern en Krankenweeg.
Doch schläft der Hirte Mittags ein, Da hört er oft ein leises Schrein, So tief, so dumpf, so schwach und bang, Als läg’ dort Einer sterbenskrank.
Dat is en Seel, de hett keen Rau, De flücht sik as de Morgendau, Dat is en Seel, de hett keen Fred, De singt un singt ehr Wegenled.
Das ist ’ne Seele ohne Ruh’, Die eilt und flüchtet immerzu, Das ist ’ne Seel’, die hat nicht Fried’, Die singt und singt ein Wiegenlied.
Un is dat Moor alleen un kahl, Un jagt de Blæd vunt Holt hendal, Denn flüggt se mit in Storm un Larm, En bleke Diern, ȩr Kind in Arm.
Und ist das Moor nun öd’ und kalt, Und weht das Laub herab vom Wald, Dann fliegt sie mit, vom Sturm gejagt, Ihr Kind im Arm, ’ne bleiche Magd.
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Op Dubenhaid dar is en Moor, Dar staht de Wiecheln kahl un soor, In Dubenheid dar is en Lunk, Doch schriggt der nu ni Pock noch Unk.
Auf Dubenhaid, da ist ein Moor, Da ragen Weiden kahl hervor. Auf Dubenhaid, da ist ’ne Gruft, Wo weder Frosch noch Unke ruft.
Dat witte Wullgras steit der rund, Dat is en Dæpel sünner Grund, Dat Water sipert grön un traag Un kummt bi Braken eerst to Dag.
Das Wollgras kränzt sie rings und rund, Das ist ’ne Tiefe sonder Grund, Das Wasser sickert grün und zäh, Kommt erst bei Braken in die Höh’.
Dat is de Kul, dar smitt se’t rin, Dat is de Platz, dar mutt se hin, Dar steit un ritt se sik de Haar, Un is verswunn bet tokum Jahr.
Das ist die Gruft, da warf sie’s ’nein, Das ist der Platz, da muß sie sein, Da steht und rauft sie sich das Haar, Verschwindet dann bis nächstes Jahr.
De Wachtel röppt, de Harst de kummt, De Kukuk is al lang verstummt – Nu hör! wa stæhn dat lud un swar! Bald ward dat still bet tokum Jahr. (Qb, 134f.)
Die Wachtel ruft, der Herbst zieht ein, Lang’ hörte Kuckuk auf zu schrein – Nun hör’! Wie laut dies Stöhnen war! Bald wird es still bis nächstes Jahr. (Groth 1856, 158f.)
Die klagenden Laute des titelgebenden Stöhnens kommen von einer Magd, also von einer der niederen Gesellschaftsschicht entstammenden, unverheirateten Frau, die durch die sozialen Zwänge in den Kindsmord getrieben wurde – auch hier taucht die Soziale Frage also implizit auf. Das Motiv der Kindsmörderin, die als unerlöste Seele oder als Phantom im Moor ihr Unwesen treibt, gemahnt an die Figur der „verdammte[n] Margret“. Während im Fall von Drostes Phantom allenfalls intertextuelle Bezüge dazu dienen, den Hintergrund der Erscheinung zu rekonstruieren, widmet Groth dem Geist einer Kindsmörderin und ihrem Säugling ein ganzes Gedicht. Erneut fällt auf, dass das Phobotop durch die Geräuschkulisse evoziert wird: Was zunächst wie die natürlichen Geräusche von „Reth un Rohr“ (V. 2) erscheint, ist in Wirklichkeit das Stöhnen einer Frau und das Weinen eines Kindes. Letzteres ist nur des Nachts zu hören, während das Seufzen der Frau ein Phänomen zu sein scheint, das einmal im Jahr – wohl anlässlich des Jahrestags des Mordes – im Moor erklingt. Das jährliche Wiederkehren der Mörderin ist auf die Ewigkeit der Qualen – unabhängig von einem christlichen Strafgericht – gerichtet. Das Moor wird für sie folglich die Hölle auf Erden. Das Moor als Ort der unerlösten Seelen ist in der Folklore gut belegt – siehe etwa die obigen Ausführungen zum Irrlicht – und wird in der Dichtung um 1900, etwa von Christian Morgenstern (1897, 12), erneut aufgenommen. Auch
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das Moor als Ort des Verbrechens ist in der Dichtung der folgenden Jahrzehnte erneut nachweisbar, etwa in den „Haidgespenstern“ von Hermann Löns (1912, 118–123). Die Landschaft des Moors unterstützt das Gefühl des Grauens. So ist der Ort, an dem die Frau ihr Kind umbrachte, detailliert beschrieben: Die kahlen Weiden erscheinen unfruchtbar und abgestorben, selbst Kröte und Unke schweigen an diesem Ort. Das Wasser ist nicht klar, sondern ruft durch seine grüne Färbung und seine dickflüssige Struktur Ekel hervor und gemahnt an den Sumpf als Hort von Krankheiten. Selbst die Idylle des in der Mittagssonne schlafenden Schäfers in der dritten Strophe wird durch die klagenden Geräusche des Kindes durchbrochen – der locus amoenus wird zum locus horribilis transformiert.
6 Fazit Durch die Entwässerungs- und Urbarmachungsbestrebungen der Moorkolonisatoren in der Mitte des 19. Jahrhunderts ist das Moor in der zeitgenössischen Dichtung präsent. Es bietet den literaturhistorischen Tendenzen der Spätromantik und des frühen Realismus Anknüpfungspunkte, so in der detaillierten Naturbeobachtung und -beschreibung und in der Entwicklung einer Lokalliteratur, die im Falle von Groth verbunden wird mit der sprachlichen Realisierung in Form von Dialektdichtung. Als Naturraum, an dem die im 18. Jahrhundert etablierten Konzepte der Erhabenheit weitestgehend scheitern müssen, ist das Moor zudem wie vielleicht wenige andere Orte geeignet, um die Natur als Hort des Unheimlichen und des Grauens zu zeichnen. Dieses Grauen nimmt dabei eine zweifache Form an, einmal als ecohorror, der eine unkultivierte, den Menschen bedrohende Umwelt beschreibt, und andererseits als sozialer Horror, der durch Verarmung und Verwahrlosung gekennzeichnet ist. Hier verknüpft sich die Schilderung der Natur in auffälligem Maße mit der zeitgleich aufkommenden Sozialen Frage. Wie sehr die Ausbeutung des Menschen mit der Ausbeutung des Naturraums einhergeht, wird rund hundert Jahre später das Lied der „Moorsoldaten“ erneut thematisieren, das von Johann Esser, Wolfgang Langhoff und Rudi Goguel geschrieben wurde. Sie waren 1933 KZ-Insassen des Lagers Börgermoor. Hier sind es jedoch nicht die spukenden Phantome, sondern die Zwangsarbeiter, die das Moor beschreiten. Geisterhaft ziehen die Moorsoldaten, gezwungen durch ein übermächtiges System, in die Natur, die jedoch keine Erholung, sondern nur Ermüdung bringt. Allein die Hoffnung auf eine Zukunft, in der Heimat nicht mehr durch die Nationalsozialisten besetzt ist, sondern wieder als solche affir-
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mativ erschlossen werden kann, hält sie am Leben. Im Beitrag konnte am Beispiel des Moors gezeigt werden, dass solche Ansätze einer Politik, die die Ausbeutung von Mensch und Natur verbindet, bis in die Frühzeit der Industrialisierung zurückreichen.19 Die hier präsentierten Beispiele zeigen, welch unterschiedliche Formen das Moor als Phobotop annehmen kann. In den Gedichten der Droste erwächst das Unheimliche aus dem Gefühl der Uneindeutigkeit – von Wissensbeständen im Fall der „Mergelgrube“, von der äußeren Gestalt der Hirtenknaben, die im Lichte der Torfflammen tiergleich erscheinen, oder vom Status des Berichteten im Falle des „Knaben im Moor“, bei dem unklar ist, ob es sich bei den Phantomen um reale Erscheinungen oder Phantasiegeburten handelt. Sozialgeschichtliche Sondierungen des Moors wie bei Weerth erwecken hingegen durch ihr hohes Maß an Realismus und die Darstellung der immensen Armut der Moorbewohner ein Gefühl des Grauens. Bei Groth wiederum wird das Moor als dem (akademisch geprägten) Menschen averser Raum konturiert, und im Falle von „Dat stæhnt in’t Moor“ wird schließlich das gesamte Register des literarischen Phobotops gezogen.
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|| 19 Hier lassen sich Bezüge zu Donna Haraways und Anna Tsings Konzept eines kolonial geprägten ‚Plantationocene‘ erkennen.
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Erik Martin
Gefährliche Vorräte: M. Prišvins Sonnenspeicher (1945) im sowjetischen Energiediskurs der 1930er und 1940er Jahre Zusammenfassung: Vordergründig lässt sich Michail Prišvins Sonnenspeicher (1945) als kurze Naturgeschichte, ja als ein Märchen, in die Kinder- und Jugendliteratur (KJL) einordnen. Eine genauere Analyse zeigt auf, dass der Text an den zeitgenössischen Energiediskursen partizipiert und auch einen Kommentar zu der totalitären Ästhetik des sozialistischen Realismus abgibt. Das Moor erscheint nicht nur als märchenhaftes Phobotop, sondern auch als Torfspeicher damit auch als energetische Ressource.
1 Einleitung Die Forschung zu Michail Prišvin erlebt zurzeit eine gewisse Konjunktur (vgl. Ivanov 2020, Lišova 2019, Trubicina 2018). Zu Lebzeiten wurde Prišvin vor allem als Naturschriftsteller und Autor von Reiseskizzen wahrgenommen, nun rückt auch sein umfangreiches diaristisches Werk in den Vordergrund, das in der Sowjetunion aus Zensurgründen nicht veröffentlicht werden konnte.1 Der kurze Text Der Sonnenspeicher (Kladovaja solnca) erschien erstmals 1945 in der Zeitschrift Oktober (Oktjabr’). Obwohl es scheinbar eine Gelegenheitsarbeit war – Prišvin reichte diesen Text bei einem Kinderbuchwettbewerb ein, den er auch gewann (vgl. Varlamov 2003, 450) – gilt die Erzählung mittlerweile als eines seiner zentralen Werke und ist bis heute in Russland Schullektüre. Im Jahre 1949 wurde der Text ins Deutsche übersetzt und im SWA-Verlag als großformatiges Buch mit Illustrationen von Evgenij Račev, einem bekannten Kinderbuchmaler, herausgebracht. Der Text handelt von zwei Waisenkindern, der zwölfjährigen Nastja und ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Mitraša. Die Geschwister gehen ins Moor, um sich dort mit Moosbeeren einzudecken. Unterwegs geraten die beiden in Streit und gehen getrennte Wege. Während Nastja bei der Beerenlese die Zeit vergisst, versinkt || 1 Die Ausgabe der gesammelten Werke von 1982–1986 umfasst acht Bände, wovon der letzte Band von knapp 800 Seiten aus Tagebüchern besteht. Die von 1991–2017 durchgeführte Herausgabe von Prišvins sämtlichen Tagebüchern kommt dagegen allein auf 18 Bände. https://doi.org/10.1515/9783110786743-006
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Mitraša im Sumpf und kämpft um sein Leben. Dank der verwilderten Hündin Travka gelingt es ihm aber, sich zu befreien, seine Schwester zu finden und sogar einen Wolf mit der Flinte zu erlegen. Durch dieses Abenteuer gereift, werden die beiden im Dorf nun als Erwachsene behandelt und als Helden gefeiert. Aufgrund des Coming-of-Age-Sujets, der Publikations- und Entstehungsgeschichte des Textes sowie der als (Kunst-)Märchen stilisierten Erzählweise lässt sich der Text augenscheinlich in die KJL einordnen. Gegen die restlose Einordnung des Sonnenspeichers in das Genre der KJL sprechen allerdings zwei gewichtige Tatsachen. Erstens partizipiert der Text schon durch seinen Titel2 am Torfdiskurs und damit am Genre des sozialistischrealistischen Energiediskurses respektive am Genre des Produktionsromans. Auch die Erzählinstanz gibt sich auf der letzten Seite als „Erforscher der Moore und ihrer Reichtümer“3 (Prišvin 1949, 100) zu erkennen und deutet an, dass das märchenhafte Phobotop Moor in einer industriellen Stätte der Torfgewinnung liquidiert wird, um mit der freigesetzten Energie „eine große Fabrik hundert und mehr Jahre arbeiten zu lassen“4 (Prišvin 1949, 100). Zweitens erklingt an einer zentralen Passage im Text eine „große menschliche Wahrheit“ nämlich die Wahrheit des „ewige[n], harte[n] Kampf[es] des Menschen um die Liebe“5 (Prišvin 1949, 94). Dass diese Sentenz keineswegs eine bloße Plattitüde ist, sondern auf ein grundlegendes ästhetisches und ethisches Strukturprinzip der Erzählung deutet, welches sowohl das optimistische Ende des Textes als auch seine Zuordnung zum Genre der KJL gefährdet, erkannte hellsichtig und sofort die Redaktion des Oktober, was zur ersatzlosen Streichung dieser kurzen Passage geführt hat.6 Der ökonomisch naheliegende Interpretationsansatz besteht wohl darin, diese beiden für die KJL untypischen Momente des Textes aufeinander zu beziehen. Dies möchte ich im Folgenden auch tun und den Sonnenspeicher als eine Parabel auf den sozrealistischen Energiediskurs der 1930er und 1940er Jahre lesen, dessen ‚Wahrheit‘ darin bestanden zu haben scheint, dass der ‚harte Kampf‘ um energetische Ressourcen nicht zu einer Akkumulation zuhandener Energie|| 2 Zu den zahlreichen Varianten des Titels siehe Prišvin (PSS 5, 458). 3 „Мы – разведчики болотных богатств.“ (Prišvin PSS 5, 252). Die Übersetzungen stammen im Folgenden von E. M. 4 „хватит для работы большой фабрики лет на сто.“ (Prišvin PSS 5, 252). 5 „правда вековечной суровой борьбы людей за любовь.“ (Prišvin PSS 5, 250). 6 In der Version der Zeitschrift heißt es lediglich, Mitraša habe „eine große menschliche Wahrheit“ („bol’š[aja] čelovečesk[aja] pravd[a]“ [Prišvin 1945, 19]) erfahren, ohne zu konkretisieren, welche es denn sei. Diese emphatische Leerstelle war natürlich mit der ideologisch korrekten ‚Wahrheit‘ auszufüllen. Die deutsche Ausgabe von 1949 enthält diese Stelle allerdings.
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bestände und damit einer konfliktfreien (kommunistischen) Zukunft führt, sondern als Kampf permanent bleiben muss. Dazu werde ich mich zunächst auf das offenliegende interpretatorische Angebot des Textes einlassen und ihn als einen Übergangsritus lesen. Im zweiten Schritt zeige ich, wie dieser Übergang aus einer gefährlichen liminalen Phase nicht in stabile, vom Kampf ums Dasein entlastete, soziale Institutionen führt, sondern die Institutionen selbst als gefährdet und gefährlich desavouiert. Dies ist, so das Argument des dritten Schrittes, keine Eigenart des Sonnenspeichers, sondern ein konstitutives Merkmal des sozrealistischen Produktionsromans, mithin ein Ideologem totalitären Denkens. Zuletzt werde ich die Poetologie des (gefährlichen) Vorrats auf die Erzählinstanz des Sonnenspeichers zurückbinden.
2 Übergangsriten: Liminales und Limnisches Der naheliegendste Weg, sich dem Text zu nähern, ist es, den Sonnenspeicher als ein Initiationsmärchen zu lesen. Dabei lassen sich sogar die drei Stadien des Übergangsritus erkennen, welche Arnold van Gennep in seinem Standardwerk Les rites de passage (1909) beschrieben hat. Der Text beginnt mit der Trennungsphase (vgl. Gennep 1986, 21). Die beiden Kinder Nastja und Mitraša sind erst vor kurzem verwaist: Die Mutter starb an einer Krankheit, der Vater ist im Krieg gefallen.7 Die Kinder befolgen zwar die Rollen ihrer Eltern,8 indem sie sich etwa um den kleinen Bauernhof kümmern und sogar einem Handwerk nachgehen, verbleiben aber im unbestimmten sozialen Status: Sie sind keine Kinder mehr, aber auch noch keine Erwachsenen. Dies wird durch die scherzhaften beziehungsweise märchenhaften Namen deutlich, mit denen die beiden im Dorf gerufen werden: Mitraša wird als „Däumlingsbauer“ (Prišvin 1949, 4; genauer: „Männlein-im-Sack“; „mužičok v mešočke“ [Prišvin PSS 5, 216]) bezeichnet, seine Schwester als „goldenes Hühnchen“ (Prišvin 1949, 3; „zolotaja kuročka“ [Prišvin PSS 5, 216]). Wie bei van Gennep nimmt die liminale Phase des Initiationsritus den größten Teil der Narration ein. Dieser liminale Ort ist das „Irrmoor“ (Prišvin 1949, 1; „Bludovo boloto“ [Prišvin PSS 5, 216]) und figuriert im Sonnenspeicher als || 7 Die Zeit der Handlung lässt sich indirekt auf das Frühjahr 1943 datieren. 8 Vgl.: „Genau wie die verstorbene Mutter stand Nastja lange vor dem Sonnenaufgang auf […]“ (Prišvin 1949, 6; „Точно так же, как и покойная мать, Настя вставала далеко до солнца“ [Prišvin PSS 5, 217]); „Mitraša hatte beim Vater gelernt, wie man Holzgefäße […] macht.“ (Prišvin 1949, 6; „Митраша выучился у отца делать деревянную посуду“ [Prišvin PSS 5, 217]).
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klassisches Phobotop, als verzauberter, sakraler Raum9 mit entsprechenden Figuren wie sprechenden Tieren, Hexen oder Teufeln. Das Moor als liminaler Raum ist nicht nur vom Wunderbaren, sondern auch vom Uneindeutigen gekennzeichnet: Die üblichen Orientierungsmuster und Ordnungsgaranten funktionieren dort nicht so, wie sie sollen, stattdessen führt gerade sein blindes Vertrauen in den Kompass Mitraša in die gefährliche Untiefe. Der Ausflug ins Moor beginnt aber aus einem profanen Anlass: Die Kinder wollen im Irrmoor Moosbeeren sammeln, denen die Winterfröste eine besondere Reife und Süße verliehen haben. Ziel der Reise ist ein wunderbarer Ort, an dem es besonders viele Moosbeeren gibt, eine „himmlische Stelle“ (Prišvin 1949, 12) („palestinka“10 [Prišvin PSS 5, 216]), von der ihr Vater Mitraša erzählte. Ausgestattet mit Proviant, einem Kompass und einem Gewehr sind die beiden für diesen Ausflug scheinbar gut gerüstet. Im Moor geraten sie aber über den richtigen Weg in Streit: Mitraša will den Weisungen seines Vaters folgen und gerade nach Norden gehen, Nastja sich lieber auf die ausgetretenen Pfade verlassen. Nach dieser abermaligen Trennung müssen beide Kinder ihre individuelle Reifeprüfung ablegen, die van Gennep zufolge einen symbolischen Tod und Auferstehung beinhalten (vgl. van Gennep 1986, 25–27). Nastjas Weg führt sie ungewollt tatsächlich zu jener verheißungsvollen Stelle. Doch bereits auf dem Weg dahin befällt sie eine „schreckliche Gier“ („strašnaja žadnost’“ [Prišvin PSS 5, 240]) nach den Beeren. Sie wirft sich auf den Boden und kriecht wie ein Tier auf der Jagd nach den Beeren, die Zeit und ihren Bruder vergessend. Dergestalt kriechend gelangt sie auf die besagte „palestinka“, wo ein Elch sie von oben herab betrachtet: Wie ist es möglich, dass bei einem Menschen, trotz seiner Macht und Kraft, eine solche Gier beim Sammeln der sauren Moosbeere wach wird? Während er an der Espe nagte, blickte der Elch von oben herab ruhig auf das kleine Mädchen, das zu seinen Füßen dahinkroch, wie auf jedes andere dahinkriechende Geschöpf.
|| 9 Der Name des Moores leitet sich von „blud“ ab, der Wurzel von russ. „bluždat’“, dt. „(herum)irren“. Daneben hat „blud“ eine ältere, kirchenslavische, Bedeutung, nämlich „Sünde“, entsprechend „bludit’“ „in Sünde, Unzucht leben“. Eine biblische Bedeutungsebene zieht sich prominent durch den ganzen Text, worauf noch eingegangen wird. Zudem ist der Blud (als Eigenname) in der slavischen Folklore ein Geist, der den Wanderer vom rechten Weg abbringt. 10 Wörtlich „Klein-Palästina“. Dieses ungebräuchliche Wort ist von Prišvin (pseudo-)ethnographisch mit einer erklärenden Fußnote versehen: „Палестинкой называют в народе какоенибудь отменно приятное местечко в лесу.“ (Prišvin PSS 5, 220; „Als ‚palestinka‘ bezeichnet man im Volksmund eine besonders angenehme Stelle im Wald“). Diese und andere Fußnoten fehlen in der deutschen Ausgabe.
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Sie kriecht dahin, ohne etwas anderes als ihre Beeren zu sehen, bis sie zu dem großen, schwarzen Baumstumpf kommt. Sie kann kaum noch den schweren Korb hinter sich herziehen, sie ist ganz schmutzig, völlig durchnässt – unser ehemaliges goldenes Hühnchen auf hohen Beinen.11 (Prišvin 1949, 74)
Nastja verliert also nicht nur ihren sozialen, sondern auch ihren menschlichen Status und wird zu einem undefinierbaren – kriechenden – Geschöpf; auch dies befindet sich im Einklang mit van Genneps Beobachtungen zur liminalen Phase (vgl. van Gennep 1986, 21). Ist Nastjas Verlust sämtlicher Statusmerkmale nur symbolisch als Tod in der liminalen Phase zu werten, wird Mitrašas Leben tatsächlich bedroht. Wie erwähnt führt ihn der Kompass nicht zur verheißenen Lichtung, sondern zu einem anderen Ort, den sein Vater beschrieben hatte, dem Blinden Fenn („slepaja elan’“ [Prišvin PSS 5, 220]). Die Uneindeutigkeiten der liminalen Phasen werden hier mit den limnischen Eigenheiten korreliert: Die Natur selbst erweist sich im Moor als täuschend und gibt etwa Flüssiges für Festes aus: „Der Fuß tritt scheinbar auf etwas Festes, aber der Fuß verschwindet […]“12 (Prišvin 1949, 56). Kurz und knapp: Mitraša versinkt bis zur Brust im Sumpf. Mitrašas Rettung naht in Gestalt der Hündin Travka, die nach dem Tod ihres alten Herren, des Forstwartes Antipyč, halb verwildert in den Sümpfen lebt. In ihrer „Sehnsucht nach dem Menschen“ („tosk[a] po čeloveku“ [Prišvin PSS 5, 224]) nimmt sie die Witterung auf und kommt erst zu Nastja und dann zu Mitraša. Mitraška fasst den Plan, die Hündin zu sich zu locken und sich an ihr aus dem Moor zu ziehen. Der Hund scheint die Gefahr zu ahnen: Was Travka beim Anblick des kleinen Menschen dachte, kann man leicht erraten. Uns erscheinen die Menschen alle verschieden, für Travka gab es nur zwei Gattungen Menschen: die eine, das war Antipyč mit den verschiedenen Gesichtern, und die andere war Antipyčs Feind. Deshalb geht ein kluger, guter Hund nicht gleich auf den Menschen zu, sondern bleibt erst stehen, um festzustellen, ob es sein Herr ist oder dessen Feind.13 (Prišvin 1949, 88)
|| 11 „Откуда же у человека при его могуществе берется жадность даже к кислой ягоде клюкве? Лось, обирая осинку, с высоты своей спокойно глядит на ползущую девочку, как на всякую ползущую тварь. Ничего не видя, кроме клюквы, ползет она и ползет к большому черному пню, еле передвигая за собою большую корзину, вся мокрая и грязная, прежняя Золотая Курочка на высоких ногах.“ (Prišvin PSS 5, 242). 12 „Ступит ногой как будто на твердое, а нога уходит, и становится страшно“ (Prišvin PSS 5, 235). 13 „Что думала Травка, глядя на маленького человека в елани, можно легко догадаться. Ведь это для нас все мы разные. Для Травки все люди были как два человека: один – Антипыч с разными лицами и другой человек – это враг Антипыча. И вот почему
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Dieses vordezisionistische Moment zwischen Freund und Feind wird durch die Beschreibung folgenden medialen Phänomens verlängert: Könnt ihr euch darauf besinnen? Ist es euch einmal so ergangen? Ihr seid im Walde und beugt euch über die spiegelnde Fläche eines stillen Baches, und dort erblickt ihr, wie im Spiegel einen Menschen, groß, äußerlich schön, so, wie Antipyč der Travka erschien. Dieser Mensch beugt sich hinter deinem Rücken nieder und spiegelt sich in der Wasserfläche. Er ist schön, wie er uns im Spiegel erscheint, umgeben von der ganzen Natur, den Wolken, den Wäldern, der untergehenden Sonne, dem aufsteigenden Neumond und den kleinen Sternen. Wahrscheinlich erblickte Travka in jedem Menschenantlitz wie in einem Spiegel den Menschen Antipyč, und sie hatte den Wunsch, sich ihm entgegenzuwerfen. Aber sie wusste aus Erfahrung, dass auch Antipyčs Feind das gleiche Antlitz hatte. Und so wartete sie.14 (Prišvin 1949, 89)
Faktisch ist die Blickrichtung des Hundes am Ufer auf den versinkenden Jungen analog zu dem Blick des Elches auf Nastja, nämlich von oben nach unten, die übliche Hierarchie der Spezies verkehrend. In der Spiegelung wird diese Hierarchie aber ‚zurechtgesetzt‘: Je nach Blickpunkt, kann es nämlich so erscheinen, dass der Junge sich nicht vor und unter, sondern hinter und über dem Hund befindet; Mitraša erscheint nicht als hilflose Kreatur unter dem Tier (als „kriechendes Geschöpf“), sondern hinter ihm als sein Herr. Dieser virtuelle Blickpunkt, gewissermaßen eine optische Täuschung, wird zum archimedischen Punkt, der es Mitraša erlaubt, sich aus dem Sumpf zu ziehen, nämlich in dem Augenblick als Travka ihn als Herrn erkennt und sich ihm zu nähern beginnt. Die letzte Entscheidung aber bringt nicht das Visuelle, sondern das Akustische: Weder Blitz noch Donner, noch der Sonnenaufgang mit all seinen sieghaften Tönen, nicht der Sonnenuntergang mit dem Versprechen der Kraniche, dass morgen ein neuer herrlicher
|| хорошая, умная собака не подходит сразу к человеку, а остановится и узнает, ее это хозяин или враг его.“ (Prišvin PSS 5, 247). Der Hundeblick, dem die Menschen im Kollektivsingular (genauer in einer Kollektivopposition) erscheinen, ist eine schöne Umkehrung einer entsprechenden Betrachtung Derridas, der einen Grundstein des Anthropozentrismus in dem Kollektivsingular ‚das Tier‘ verortet (vgl. Derrida 2010, 58). 14 „Вы помните, бывало ли с вами так? Бывает, наклонишься в лесу к тихой заводи ручья и там, как в зеркале, увидишь – весь-то, весь человек, большой, прекрасный, как для Травки Антипыч, из-за твоей спины наклонился и тоже смотрится в заводь, как в зеркало. И так он прекрасен там, в зеркале, со всею природой, с облаками, лесами, и солнышко там внизу тоже садится, и молодой месяц показывается, и частые звездочки. Так вот точно, наверно, и Травке в каждом лице человека, как в зеркале, виднелся весь человек Антипыч, и к каждому стремилась она броситься на шею, но по опыту своему она знала: есть враг Антипыча с точно таким же лицом. И она ждала.“ (Prišvin PSS 5, 248).
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Tag wieder auferstehen werde, nichts, kein Wunder der Natur konnte größer sein, als das, was Travka hier, im Sumpf, erlebte: sie hörte ein menschliches Wort, und was für ein Wort.15 (Prišvin 1949, 90)
Was Travka hier hört, ist ihr ursprünglicher Name, ‚Zatravka‘, und dieser Anruf in gleichsam adamitischer Sprache16 gewährt dem Jungen endlich Macht über das Tier, das sich nun auf ihn zu und in den Sumpf hinein bewegt. Dieses Zutrauen nutzt der Junge nun aus, indem er die Hündin bei den Hinterläufen packt und sich so aus dem Sumpf herauszieht. Nach diesem Kampf wiederholt Mitraša die Dominanzgeste, die nun dauerhaft institutionalisiert wird: Hier, auf dem festen Pfad, stand er auf, wischte sich die letzten Tränen vom Gesicht, schüttelte sich den Schlamm von seinen Lumpen und befahl gebieterisch wie ein richtiger großer Mensch: „Komm jetzt zu mir, meine Zatravka!“. Als Travka diese Stimme hörte, diese Worte, da vergaß sie alle Zweifel, denn er stand vor ihr, wie früher, der angebetete Antipyč.17 (Prišvin 1949, 94f.)
Die Aneignung des (Vater-)Wortes verleiht dem Jungen Macht und setzt ihn an die Stelle Antipyčs, was offensichtlich als vollzogene Initiation zum erwachsenen Mann gewertet werden kann. Von hier an geht alles sehr schnell: Mitraša erschießt, fast nebenbei, den letzten Wolf des Moores, den „Grauen Gutsherren“, Travka erlegt einen Hasen, Nastja erholt sich von ihrer Gier und die Kinder finden zusammen. Die Rückkehr aus dem Moor – die Eingliederungsphase – wird entsprechend als Triumphzug reicher Ausbeute präsentiert. Im Dorf nehmen die beiden Protagonisten nun ihre neuen Rollen an: Mitraša wird als Mann und Held gefeiert, Nastja findet ihre Rolle, ebenfalls klar gegendert, in der Care-Arbeit: Sie gibt ihren Beerenvorrat an ein Heim für evakuierte Leningrader Kinder ab, womit sie zur
|| 15 „Ни гром, ни молния, ни солнечный восход со всеми победными звуками, ни закат с журавлиным обещанием нового прекрасного дня – ничто, никакое чудо природы не могло быть больше того, что случилось сейчас для Травки в болоте: она услышала слово человеческое – и какое слово!“ (Prišvin PSS 5, 248). 16 Die Macht des Namens sowie die oben angedeutete Verbindung zwischen Gesicht und/als Spiegel haben weitreichende kulturelle Implikationen, auf die nicht näher eingegangen werden kann (vgl. Goldt 2009; Petzer, Sasse 2009). Es sei nur darauf hingewiesen, dass Nastja keine Macht über den Hund gewinnt, weil sie den richtigen Namen nicht kennt (sie nennt die Hündin „Mitraška“ [vgl. Prišvin PSS 5, 243]). 17 „Тут, на тропе, он поднялся, тут он отер последние слезы с лица, отряхнул грязь с лохмотьев своих и, как настоящий большой человек, властно приказал: – Иди же теперь ко мне, моя Затравка! Услыхав такой голос, такие слова, Травка бросила все свои колебания: перед ней стоял прежний, прекрасный Антипыч.“ (Prišvin PSS 5, 250).
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Frau und (Über-)Mutter wird. Zusätzlich beschließt der Erzähler den Text mit dem Ausblick auf den Torfabbau und die Industrialisierung des Landes. Die Zähmung und Unterwerfung der Natur lässt sich dergestalt mit nahezu strukturalistischer Präzision auf ein sauberes Schema bringen: Die zentralen Oppositionen sind männlich/weiblich und Kultur/Natur, was eine Matrix mit vier Einträgen ergibt. Deren Pivotelement ist freilich der Eintrag männlich/Kultur (Mitraša), der sowohl die Stellen weiblich/Kultur (Nastja) als auch weiblich/Natur (Travka) dominieren soll. Was nicht unterworfen werden kann – männlich/Natur (Wolf) – wird aus der Matrix eliminiert.
3 Enden der Parabel Der Zweck des Initiationsrituals besteht darin, aus einem ambivalenten liminalen Zustand in feste und eindeutige soziale Institutionen zu gelangen (vgl. van Gennep 1986, 15). Im Sonnenspeicher wird sogar der Ort des Liminalen, das Moor als uneindeutiger und desorientierender Ort, gleichsam trockengelegt, indem es in einem Übergangritual auf Makroebene, nämlich im sozrealistischen Energiediskurs, in einen Vorrat eines abbaubaren Energieträgers verwandelt wird. Dergestalt wird der ontogenetische Reifeprozess der Protagonisten mit einer geschichtlichen und sozialen Meisterung der Natur im gesellschaftlichen Aufbau des Sozialismus kurzgeschlossen. Nun wird dieses vermeintliche Masternarrativ vom Text durchkreuzt, und zwar in der bereits erwähnten „große[n] menschliche[n] Wahrheit“ des „ewige[n], harte[n] Kampf[es] des Menschen um die Liebe“, den Antipyč, so die Mutmaßung der Erzählinstanz, der Hündin Travka zugeflüstert habe (vgl. Prišvin 1949, 94). Ein Sinnbild dieses Kampfes um Liebe sind zwei Bäume, eine Tanne und eine Kiefer18, die der „Sämann Wind“ (Prišvin 1949, 25; „veter-sejatel’“ [Prišvin PSS 5, 224]) nebeneinander geweht hatte. „Die beiden Bäume, die verschiedener Art waren, kämpften in ihren Wurzeln um die Bodennahrung, mit ihren Zweigen um Luft und Licht“19 (Prišvin 1949, 25). Sie bohrten „ihre trockenen Äste einander in
|| 18 Im Russischen sind beide Gattungsnamen „sosna“ und „el’“ übrigens ebenfalls grammatikalisch weiblich. 19 „Деревья разных пород ужасно боролись между собою корнями за питание, сучьями — за воздух и свет.“ (Prišvin PSS 5, 224).
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die lebenden Stämme und durchbohrten einander sogar an einigen Stellen“20 (Prišvin 1949, 26). Vom „bösen Wind“, der ihnen ein so „unglückliches Leben“ bereitet hatte, werden sie hin und her geschaukelt: „Dann heulten und stöhnten die Bäume über das ganze Irrmoor wie lebende Wesen“21 (Prišvin 1949, 26). Die Metaphern heben den durchaus realen biologischen Kampf ums Dasein klar auf eine metaphysische Stufe und die gegenseitige thanato-erotische Penetration der Bäume erscheint weniger als Zufall des Windes, denn als kosmische Notwendigkeit. Im niedrigeren rhetorischen Register, aber nicht weniger fatal, ist diese Hassliebe in den menschlichen Beziehungen realisiert, mithin in der Beziehung zwischen Mitraša und Nastja. Zwar versichert die Erzählinstanz gleich mehrfach, dass „es kein einziges Haus gab, in dem so einträchtig gelebt und gearbeitet wurde wie in dem unserer Lieblinge“22 (Prišvin 1949, 5), doch sie räumt auch ein, dass diese Harmonie, kein friedliches, sondern ein spannungsreiches Gleichgewicht widerstreitender Kräfte war. So heißt es etwa: „Es ist nur gut, dass Nastja zwei Jahre älter ist als der Bruder, sonst würde er sich zu viel einbilden, und sie würden nicht in Freundschaft und prächtiger Gleichberechtigung leben“23 (Prišvin 1949, 6). Dass der harte Kampf um die Liebe ein energetisch kostspieliges Gleichgewicht aus zentripetalen und zentrifugalen Kräften braucht, wird auch in der oben beschriebenen Szene mit Travka deutlich, in deren Kontext diese „Wahrheit“ auch verlautbart wird. Mitraša darf den Hund nur so nahe herankommen lassen, dass er ihn gerade noch packen kann und nur so weit, dass nicht beide unter ihrem Gewicht im Sumpf versinken. Mit Prišvins nahegelegter Terminologie ist der optimale Punkt zwischen einerseits Freund und Feind und andererseits Herr und Knecht auszuloten, der beide Partner nicht in inniger Vereinigung, wie in einem Sumpf, versinken lässt und sie nicht zu weit auseinanderreißt.24
|| 20 „они впивались сухими сучьями в живые стволы и местами насквозь прокололи друг друга.“ (Prišvin PSS 5, 224). 21 „Злой ветер, устроив деревьям такую несчастную жизнь, прилетал сюда иногда покачать их. И тогда деревья стонали и выли на все Блудово болото, как живые существа.“ (Prišvin PSS 5, 224). 22 „не было ни одного дома, где бы жили и работали так дружно, как жили наши любимцы.“ (Prišvin PSS 5, 217). 23 „Очень хорошо, что Настя постарше брата на два года, а то бы он непременно зазнался, и в дружбе у них не было бы, как теперь, прекрасного равенства.“ (Prišvin PSS 5, 218). 24 Hier könnte man auch auf die politischen (nämlich Freund-Feind vgl. Schmitt 1932) und philosophischen (Herr-Knecht vgl. Kojève [1933–1939]) Kategorien mit ihren entsprechenden
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Ein Teilaspekt dieser Spannung zwischen Herr und Knecht, sowie Freund und Feind ist im Namen des Hundes selbst eingeschrieben. Sein ursprünglicher Name ist „Zatravka“ von „zatravit’“ dt. „ein Wild [zu Tode] hetzten“. Der gleichsam kupierte Name „Travka“ bedeutet harmlos „Gräschen“. Die Harmlosigkeit ist aber nur scheinbar, denn „trava“, dt. „Gras“ lässt sich etymologisch ebenfalls auf „Trauma“ zurückführen, gerade weil sich aus *trava sowohl „fressen“ als „auch gefressen werden“ herleitet.25 Auf ein „vegetarisches“, d. h. vom Kampf entlastetes Dasein, gibt dieses Wortspiel also wenig Hoffnung. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der Vorrat betrachten. Die naive Standardannahme würde lauten, dass ein Vorrat zumindest zeitweise vom Kampf entbindet, weil er die Grundlage für künftige Bedürfnisse bereits potentiell realisiert. Diese Annahme wird vom Text durchkreuzt. Zunächst wird die Anlage des Vorrats selbst als Kampf beschrieben, der nicht auf zukünftige (begrenzte) Bedürfnisse ausgelegt ist, sondern sein eigenes (grenzenloses) Bedürfnis selbst erzeugt. Zudem sichert der Vorrat nicht vor künftigen Gefahren, sondern schafft seine eigenen, was gerade bei der Moosbeere der Fall zu sein scheint: Ob es daher kommt, dass die Moosbeere im Frühjahr besonders kostbar ist, oder daher, dass man sie als Heilpflanze verwendet, oder weil sie zum Tee so gut schmeckt, das Verlangen der Frauen wird beim Sammeln der Beeren immer größer. Ein altes Weibchen bei uns im Dorf hatte einmal seinen Korb so gefüllt, dass es ihn nicht aufheben konnte, aber die Beeren auszuschütten oder den ganzen Korb stehenzulassen, das wagte es nicht, und so wäre es beinahe neben seinem vollen Korb gestorben.26 (Prišvin 1949, 69)
Diese Produktion der Knappheit des endlich Vorhandenen durch unendliche Gier gilt auch dann, wenn das zubevorratende Gut prinzipiell unendlich ist, nämlich im Fall der Sonnenenergie, die im Moor gespeichert wird: „Wir betrachten das Irrmoor mit all seinen ungeheuren Vorräten an brennbarem Torf als eine Art Sonnenspeicher“27 (Prišvin 1949, 55). Der Text versteht die Sonnenenergie allerdings || psychologischen Pendants wie Eros und Thanatos als Selbstreflexion totalitären Denkens verweisen. 25 D.h. ‚trava‘ sowohl von τρέφειν ‚ernähren‘, als auch von τρώω ‚verwunden‘ vgl. Vasmer 1958, 130. 26 „То ли, что клюква – ягода дорогая весной, то ли, что полезная и целебная и что чай с ней хорошо пить, только жадность при сборе ее у женщин развивается страшная. Одна старушка у нас раз набрала такую корзину, что и поднять не могла. И отсыпать ягоду или вовсе бросить корзину тоже не посмела. Да так чуть и не померла возле полной корзины.“ (Prišvin PSS 5, 240). 27 Die Ambivalenz der Gefahr des Vorrats wird textuell eingelöst, indem die Rede auf den Sonnenspeicher gerade dann einsetzt, als Mitraša zum Blinden Fenn kommt: „Слепая елань, куда повела Митрашу стрелка компаса, было место погибельное […] Мы это так понимаем, что
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nicht als reine Akkumulation, sondern als eine Art Nullsummenspiel, wo Gewinne mit Verlusten saldiert werden müssen: „Die saure Moorerde lässt [die Tannenbäume] nicht wachsen“28 (Prišvin 1949, 56). Die Überschüsse von Torf und seiner potentiellen Energie sind also mit aktuellem, fehlendem Wachstum – auch an brennbaren Festmetern von Holz – erkauft. Einen positiven Überschuss der Sonne gibt es allerdings im Text, eine Art energetische Insel der Seligen, wo ein scheinbar kampfloses Leben möglich ist. Nastja stößt auf diesen Sonnenspeicher auf der besagten „palestinka“, wo sie so viele Beeren gesammelt hat: Der schwarze Baumstumpf sammelt alle Sonnenstrahlen in sich auf und wird immer wärmer und wärmer […]. Die Luft kühlt sich ab, aber der Baumstumpf, groß und schwarz, hält die Wärme fest. Sechs kleine Eidechsen krochen aus dem Sumpf hervor und ließen sich auf ihm nieder. Vier Zitronenfalter setzten sich […] auf ihn nieder und legten ihre Fühler an seinen warmen Stamm. Große schwarze Fliegen kamen angeflogen […]. Eine lange Moosbeerenflechte […] wand sich um den schwarzen, warmen Baumstumpf […] eine Giftschlange von einem halben Meter Länge […] kroch auf den Stumpf und rollte sich auf dem Beerenzweig zusammen.29 (Prišvin 1949, 79)
Ebendiese Schlange schreckt auch Nastja aus ihrem Sammelrausch auf, indem sie laut zischt. Die harmonische Eintracht dieser – ästhetisch nicht gerade ansprechenden – Kleintiere auf einem Bruchstück („Baumstumpf“) eines gelobten Land („palestinka“) anstrengungslosen Energiewohlstandes lässt sich wohl eher als bittere Satire, denn als positiven Ausblick auf eine sonnengespeiste Utopie lesen. Denn selbst hier gewährt die Giftschlange dem Menschen keinen Einlass: eine Vertreibung aus dem Paradies, aus dem das Paradiesische selbst vertrieben worden ist.
|| все Блудово болото, со всеми огромными запасами горючего торфа, есть кладовая солнца.“ (Prišvin PSS 5, 79). 28 „Кислая болотная почва не дает им расти, и им, таким маленьким, лет уже по сто, а то и побольше...“ (Prišvin PSS 5, 236). 29 „А большой черный пень собирает в себя лучи солнца и сильно нагревается. Вот уже начинает вечереть, и воздух и все кругом охлаждается. Но пень, черный и большой, еще сохраняет тепло. На него выползли из болота и припали к теплу шесть маленьких ящериц; четыре бабочки-лимонницы, сложив крылышки, припали усиками; большие черные мухи прилетели ночевать. Длинная клюквенная плеть, цепляясь за стебельки трав и неровности, оплела черный теплый пень и, сделав на самом верху несколько оборотов, спустилась по ту сторону. Ядовитые змеи-гадюки в это время года стерегут тепло, и одна, огромная, в полметра длиной, вползла на пень и свернулась колечком на клюкве.“ (Prišvin PSS 5, 243).
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4 Der gefährliche Vorrat Wie bereits erwähnt, ist Der Sonnenspeicher in den Torfdiskurs (und damit auch in den sozrealistischen Energiediskurs) eingeschrieben, der wiederum zum Genre des Produktionsromans (vgl. Guski 1995) gezählt werden kann. So trägt etwa ein Roman von Aleksandr Peregunov, welcher die Erschließung eines Sumpfes zum Torfabbau beschreibt, nahezu den gleichen Titel wie Prišvins Text, nämlich Solnečnyj klad (1932; Sonnenschatz). Auch in Prišvins Werk gibt es einen durchgehenden „Torftext“, etwa die Produktionsskizze Torf (1926).30 Robert Bird (2011) gibt in einem äußerst informativen Aufsatz zahlreiche Beispiele für die politische, wirtschaftliche und literarische Verwertung des Torfs in der Sowjetunion der 1930er und 40er Jahre. So ist hervorzuheben, dass Torf, nach Kohle, faktisch der zweitwichtigste Energieträger gewesen ist (vgl. Bird 2011, 595). Ferner spielt die kulturogene Leistung der Trockenlegung von Sümpfen für die Torfgewinnung eine wichtige ideologische Rolle, zumal Sümpfe als ästhetisch minderwertig galten und landwirtschaftlich kaum nutzbar erscheinen.31 Beide Aspekte – die energetische Rolle des Torfs bei der Industrialisierung sowie die Transformation der „hässlichen“ und „nutzlosen“ Natur – machen den Torfdiskurs eigentlich prädestiniert für den Produktionsroman des Sozrealismus. In ihrer Pionierarbeit The Soviet Novel (1981) hatte Katerina Clark für die sozrealistischen Romane einen Masterplot rekonstruiert, der einen ritualisierten Übergang von der Spontaneität zum Bewusstsein darstellt. Diese – politisierte – Form des Bildungsromans führt Clark über Lenins Streitschrift Was tun? (Čto delat’?, 1903) auf Marx zurück (vgl. Clark 1985, 15f.). Die individuelle Reifung des Protagonisten wird im sozrealistischen Roman typischerweise mit der Errichtung einer Fabrik verbunden. Das Finale eines idealtypischen sozrealistischen Romans stellt laut Clark eine „completion of task“ oder deren symbolische Äquivalenten dar (vgl. Clark 1985, 259). Clarks Beobachtungen sind im Detail sehr scharfsichtig und ihr Buch bleibt bis heute zurecht ein Standardwerk. Dennoch ist festzustellen, dass weder das Erreichen eines neuen Zustandes im Übergangsritus (hier „Bewusstsein“) noch die Fertigstellung eine Bauprojekts für den sozrealistischen Roman obligatorisch sind. || 30 Auch wenn nicht explizit verhandelt, bleibt der Torf bei Prišvin ein durchgehendes Motiv: So ist z. B. der Protagonist des semifiktionalen Egodokuments Die Kette des Kastschej (Kaščeeva cep’, 1923) ein Torfmeister. 31 Insofern ist der Sumpf nachgerade ein Ort der Nicht-Kultur. Für die Verwandlung dieser Nicht-Kultur zur Kultur kann St. Petersburg als ein Symbol gelten, da die Stadt bekanntlich in einem Sumpfgebiet errichtet wurde (vgl. Toporov 2003).
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Ein Beispiel dafür ist etwa der Roman Energie (Ėnergija 1933) von Fedor Gladkov, einem kanonischen Autor des Sozrealismus. Weder wird der Staudamm fertiggestellt und das Wasserkraftwerk in Betrieb genommen, noch die zahlreichen persönlichen Verstrickungen des Protagonisten am Ende des Textes aufgelöst. Mehr als das, der Roman gibt sogar eine eindringliche Warnung vor dem (selbst siegreichen) Ende der Geschichte, auch wenn Gladkov diese Aussage – aus Zensurgründen – einer negativen Figur in den Mund legen musste: Weißt du, was im kommunistischen Paradies geschehen wird, gleich nachdem es errichtet wird? Der Mensch wird vor seiner übermäßigen Freiheit bedrückt, von der Nutzlosigkeit seiner Organe wird er eine unaussprechliche Bedrückung aller seiner Schöpfungen fühlen, die ihn in ein angehaltenes Wesen verwandelt haben. Er wird in Panik einen Aufstand anzetteln und schreien: ich will die Freiheit von der Freiheit […] Ich will ein Tier sein, ein Barbar, ein Kannibale. Ich will meinen Bruder würgen!32
Ich habe an anderer Stelle (Martin 2023) dafür argumentiert, dass der Grund für diese Vorstellung eines „Marx ohne Abschluss“33 darin begründet scheint, dass der Proletarier im Sozrealismus eine analoge Funktion erfüllen soll, wie ihn Ernst Jünger am anderen Ende des politischen Spektrums aber in der selben Konstellation des Totalitären, für den Arbeiter formuliert hat: Seine Aufgabe ist nicht irgendeine Produktion zu ihrem Ende zu bringen, sondern sich der elementaren Gefahr auszusetzen, welche die Moderne über den Menschen hereingebracht hat: Die Gründe für diese Erscheinung [sc. den Arbeiter] bieten sich auf jedem Felde der Untersuchung dar; man mag sie erkennen im Eindringen des Elementaren in den Lebensraum und dem gleichzeitigen Verluste an Sicherheit, in der Auflösung des Individuums, im Schwunde des überkommenen ideellen und materiellen Besitzes oder in einem Mangel an
|| 32 „Знаешь, что произойдет в коммунистическом рае на другой же день после его торжества? Человек-то от чрезмерной свободы, от ненужности своих органов почувствует невыразимый гнет всех его созданий, превративший его в остановившееся существо. Он придет в ужас от обреченности, он будет скован безработными своими мускулами, он ослепнет от близорукости и подохнет от атрофии кишок. Он панически поднимет бунт и крикнет: я хочу свободы от свободы! хочу счастья для своих рук и ног! хочу радости членовредительства! Зверем хочу быть, варваром, каннибалом! Жажду брата моего душить! ..“ (Gladkov 1959, 268; Übersetzung von mir, E.M.). 33 Die obenzitierte Gladkov-Stelle weist eine frappante inhaltliche Übereinstimmung zu dem berühmten Brief von Georges Bataille an Alexandre Kojève auf, worin er seine Version von Hegel ohne Abschluss formuliert: „Wenn die Tätigkeit (das ‚Tun‘) – wie Hegel sagt – die Negativität ist, so möchte man wissen, ob die Negativität desjenigen, der ‚nichts mehr zu tun hat‘ verschwindet oder als ‚Negativität ohne Beschäftigung‘ bestehen bleibt. […] Ich stelle mir vor, dass mein Leben, oder dessen Abtreibung, die offene Wunde, die mein Leben ist – von sich aus die Widerlegung des geschlossenen Systems Hegels darstellt.“ (zit. nach Agamben 2003, 16f.).
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zeugenden Kräften schlechthin. Der eigentliche Grund ist jedenfalls der, dass das neuartige, um die Gestalt des Arbeiters gelagerte Kraftfeld, wie alle fremden Bindungen, so auch die des Bürgertums zerstört. (Jünger 1982 [1932], 160)
Wie oben gezeigt, lässt sich dieses Motiv auch im Sonnenspeicher rekonstruieren. Zwar gibt es ein Happy End mit einem Zukunftsausblick sowie die narrative Einklammerung der liminalen Phase durch feste gesellschaftliche Institutionen, doch es scheint, als ob der „Kampf um die Liebe“ als kosmische Kraft sich nicht einschließen lässt. Auch der Vorrat bietet in diesem Zusammenhang keine Sicherheitsgarantie, sondern kann selbst eine Gefahr darstellen. Gerade dieser gewissermaßen energetische Aspekt des ‚gefährlichen Vorrats‘ ließe sich aus dem Kontext der Zeit rekonstruieren und als eine Alternative oder Ergänzung zum Kriegs- und Mobilisierungscharakter der Arbeit im Totalitarismus begreifen. Dies sei hier kurz am Beispiel von Arnold Gehlen und Georges Bataille skizziert. In seinem 1956 erschienen Buch Urmensch und Spätkultur stellt Arnold Gehlen Institutionen als gewissermaßen Entlastungsanstalten für das Mängelwesen Mensch dar.34 Als Mängelwesen steht er vor einer Reihe primärer Bedürfnisse, die instantan befriedigt werden wollen und müssen. Institutionen entlasten vom sofortigen Befriedigungszwang, indem sie das Bedürfnis gleichsam virtuell und im Hintergrund befriedigen können. Die Voraussetzung für diese „Hintergrundserfüllung“ und damit eigentlich für alle Institutionen bildet der Vorrat: Bei einem Wesen von chronischer Bedürftigkeit ist daher die Hintergrundserfüllung ein kapitales Thema […] In erster Linie gehört hierher der Vorrat […] Das Bewusstsein künftiger Bedürfniserfüllung oder die virtuelle Erfüllung ist selbst ein Erfüllungserlebnis, und zwar nicht für einen besonderen „Instinkt der Sicherheit“ – sondern das schon garantierte künftige Bedürfnis, die Entlastung von seiner eigenen Aktualität, das ist die Sicherheit. (Gehlen 2004, 56)
Die Sicherheit der Institutionen ist aber durch sie selbst zugleich auch gefährdet. Denn zum einen verfügt der durch den Vorrat entlastete Mensch nun über mehr Energien, welche die Institutionen – dieses Mal als Instinktersatz – in geordnete Bahnen lenken müssen. Und zum anderen entlasten Institutionen nicht nur Bedürfnisse, sondern schaffen auch neue, gewissermaßen auf höherer energetischer Stufe. Obwohl Gehlen nicht auf die energetischen Voraussetzungen des Entlastungsbegriffes eingeht, kann diese doch aus der sogenannten Energetik || 34 Trotz des „nachtotalitären“ Erscheinungsdatums des Buches, lässt sich Gehlen doch im Kontext des totalitären Denkens, also in Zeitgenossenschaft mit Prišvin, begreifen.
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rekonstruiert werden, deren Popularisator in Deutschland der Philosoph, Soziologe und Nobelpreisträger für Chemie Wilhelm Ostwald gewesen ist. Bereits in seinen Energetischen Grundlagen der Kulturwissenschaft (1909) hatte Ostwald darauf hingewiesen, dass die Gesellschaft nur insofern „einen Kulturfaktor ausmacht“, als dass sie „das Güterverhältnis bei der Umwandlung der Rohenergien für menschliche Zwecke verbessert.“ (Ostwald 1909, 112). Als Güterverhältnis fasste Ostwald das Verhältnis der Nutzenergie zur Rohenergie und formulierte davon ausgehend seinen „energetischen Imperativ“, demnach keine Energie verschwendet werden solle. Dieser energetische Imperativ scheint bei dem ukrainischen Physiker und politischen Aktivisten Serhyj Podolyns’kyj vorformuliert. In einer Polemik oder „Richtigstellung“ der marxistischen Arbeitswerttheorie, dem Aufsatz Menschliche Arbeit und Einheit der Kraft (1883), fasste Podolyns’kyj nicht jede Arbeit als produktiv auf, sondern nur solche, welche die produktive Energie auf der Erde vermehrt. Dies war gleichsam ein Versuch, die Arbeitswerttheorie und die Thermodynamik gerade mit dem Hinweis zu vereinbaren, dass alle wesentlichen Energien auf der Erde von der Sonne herkämen (vgl. Martínez-Alier, Naredo 1982). War bei Podolyns’kyj Sonnenenergie als Hauptquelle der Exergie imperativisch zu vermehren, hatte Georges Bataille in La notion de Dépense (1933) dieselben Voraussetzungen umgedreht: Das Problem des Energetismus ist nicht der Vorrat, sondern die Verausgabung, so wie das Grundproblem der Ökonomie nicht der Mangel, sondern der Überschuss ist. Dieser Überschuss stammt – da sind sich Podolyns’kyj und Bataille einig – von der sich energetisch vergeudenden Sonne und muss vom Lebendigen seinerseits verbraucht werden, in Formen der Sexualität, des Kampfes und des Todes. Die Pointe des Antifaschisten Bataille besteht nun darin, dass er, anders als Gehlen, nicht an die dauerhaft kanalisierende Funktion von Institutionen glaubt: Man sollte den Überschuss lieber gleich unproduktiv verbrauchen (etwa in der Sexualität), als die Gefahr einer unkontrollierten Explosion angestauter Energien (etwa im institutionell geführten Krieg) in Kauf zu nehmen (vgl. Hochroth 1995). Diese kurzen Ausführungen haben freilich nur das Recht eines Exkurses. Als heuristisches Moment werfen sie aber doch ein erhellendes Licht auf den Sonnenspeicher. Der Text funktioniert als eine Art Kippfigur: Einerseits ist der Schatz („kladovaja“ dt. „Speicher“ aus „klad“ dt. „Schatz“) der Preis, den die – aus genretechnischen Gründen immer – gefährliche Schatzsuche mit sich bringt. Andererseits wird auf den Aspekt der Gefahr ein so starkes (und auf den Aspekt des Gewinns ein so schwaches) Gewicht gelegt, dass sich das Genre selbst zu verschieben scheint: Aus dem Initiationsmärchen und (dem – laut Clark – vom Initiationsritus
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formatierten) Produktionsroman wird eine Parabel über die Gefahr des Vorrats selbst und der Unmöglichkeit einer durch ihn gesicherten Existenz.
5 Uneindeutigkeit und Suspense Zum Schluss noch einige Worte zum Genre des Sonnenspeichers und zur Erzählinstanz. Der Erstdruck in der Zeitschrift Oktober trug als paratextuelle Eigenbeschreibung „rasskaz“, „Kurzgeschichte“. In den gesammelten Werken lautet dieser Paratext „skazka-byl’“, was die erste deutsche Ausgabe von 1949 etwas voreilig als „Dichtung und Wahrheit“ wiedergibt.35 Tatsächlich heißt „skazka“ aber „Märchen“. „Byl’“ wiederum ist als Gattungsname weniger eindeutig: einerseits deutet es auf faktographisches Erzählen hin (von „bylo“, „das, was war“) und kann als Antonym zu Märchen verwendet werden; andererseits verweist es auf die Gattung der Bylinen, der slavischen mittelalterlichen (Volks-)Epen. Der Sonnenspeicher ist durch Elemente eines (Kunst-)Märchens gekennzeichnet: Momente des Wunderbaren und Unwirklichen, wie sprechende (oder zumindest denkende) Tiere und Bäume, sowie eine zur scheinbaren Einfachheit stilisierte Sprache. Auf das Faktographische deutet wiederum eine detail- und kenntnisreiche Beschreibung der Tiere und Pflanzen, der Wetterphänomene und geologischer Gegebenheiten, die grundsätzlich ein Kennzeichen der Prišvinschen Prosa bilden. Zusätzlich finden sich im Text Fußnoten, die bestimmte Worte (pseudo-)ethnographisch erklären. Die Spannung, die in der ambivalenten Gattungsbezeichnung „skazka-byl’“ angelegt ist, überträgt sich auf die Erzählinstanz. Einerseits handelt es sich um eine autoritative Erzählfigur. Der Orientierungslosigkeit der Kinder im Moor steht die völlige narrative Kontrolle und erzählerische Übersicht gegenüber. Die Erzählinstanz überblickt das Geschehen sowohl aus der Vogelperspektive, wenn etwa klargemacht wird, dass sich die verirrten Kinder die ganze Zeit fast in Rufnähe befinden und lediglich der Wind ihre Schreie zufällig ablenkt (vgl. Prišvin PSS 5, 239). Sie überblickt das Geschehen aber auch von unten, indem sie gleichsam die Bodenbeschaffenheit auf Meter unter die Erde beleuchtet (vgl. Prišvin PSS 5, 235). Der Uneindeutigkeit des Sumpfes wird also die Eindeutigkeit eines Erzählstandpunktes entgegengesetzt. Das dominierende Verfahren ist folgerichtig Suspense:
|| 35 Tatsächlich war Prišvin ein erklärter Goethe-Kenner (Ivanov 2020, 113). Der naheliegende Intertext zum Sonnenspeicher dürfte der Erlkönig sein, gerade wegen der thanato-erotischen Verstrickungen.
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Der Erzähler und der Leser wissen mehr als die Figuren, und müssen gewissermaßen hilflos dabei zusehen, wie sie in ihr Verderben laufen. Andererseits gibt es – minimale – Verdachtsmomente, dass es sich um eine unzuverlässige Erzählinstanz handeln könnte. Die fabula endet mit der Rückkehr der Kinder ins Dorf und entsprechend ihrer Erzählung der Ereignisse im Kreis der Dorfbewohner, zu denen sich auch die homodiegetische Erzählinstanz rechnet. Entsprechend sind alle autoritativen Aussagen der Erzählinstanz über die Ereignisse Rekonstruktionen ex post.36 Das gilt vor allem für die Bewegungen des Wolfes, von denen die Kinder nicht wissen konnten (vgl. Prišvin PSS 5, 244–246). Eine weitere Merkwürdigkeit der Erzählinstanz ist die durchgehende Verwendung der ersten Person Plural; etwa; „Wir wohnten in demselben Dorfe, nur ein Haus entfernt, in welchem die Kinder wohnten“37 (Prišvin 1949, 3). Formal kann das als pluralis majestatis angesehen werden, jedoch nicht immer. In einer Analepse gibt die Erzählinstanz ihre Begegnung mit dem weisen Forstwart Antipyč wieder: Seit vielen Jahren waren wir gewöhnt, zu Antipyč auf die Jagd zu fahren, und es schien uns stets, als ob der Alte selbst vergessen hätte, wie alt er eigentlich sei. Er lebte und lebte in seinem Waldhäuschen, und es schien, als ob er nie sterben würde. „Wie alt bist du, Antipyč?“ fragten wir ihn […], sag uns die Wahrheit: wie alt bist du?“ „Die Wahrheit“, antwortete der Alte, „die werde ich euch sagen, wenn ihr mir erst sagen werdet, wo die Wahrheit ist, wie sie ist, wo sie wohnt und wie man sie findet.“38 (Prišvin 1949, 37)
Offensichtlich verwendet Antipyč hier auch die zweite Person Plural. Das lässt zwei Möglichkeiten zu: Entweder übernimmt (völlig unmotiviert) Antipyč die Eigenbezeichnung der Erzählinstanz im Plural oder er gibt tatsächlich mehrere Personen, von denen aus die Erzählinstanz gleichsam kollektiv spricht. Es stellt sich also die Frage, wer ist die Erzählinstanz und wenn ja, wie viele? Die zweite Möglichkeit ist, dass die direkte Personenrede eigentlich indirekte Figurenrede ist,
|| 36 Eine solche Rekonstruktion sind auch die „sprechenden“ Tiere: Alle Gedanken und Motive sind nur von der Erzählinstanz unterstellt. 37 „Мы жили в этом селе всего только через один дом от детей.“ (Prišvin PSS 5, 216). 38 „Мы с давних лет ездили к этому Антипычу на охоту, и старик, думается, сам позабыл, сколько ему было лет, все жил, жил в своей лесной сторожке, и казалось – он никогда не умрет. – Сколько тебе лет, Антипыч? – спрашивали мы. […] – Антипыч, ну брось свои шутки, скажи нам по правде: сколько же тебе лет? – По правде, – отвечал старик, – я вам скажу, если вы вперед скажете мне, что есть правда, какая она, где живет и как ее найти.“ (Prišvin PSS 5, 228).
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welche die Erzählinstanz modifiziert (vom Singular in den Plural) und als direkte Rede wiedergibt. So oder so kommt ein paranoides Verdachtsmoment auf, dass es sich um eine unzuverlässige Erzählinstanz handeln könnte.39 Der Verdacht ist gerade deshalb so brisant, weil an der obenzitierten Stelle gerade die ‚Wahrheit‘ angesprochen wird, die sich motivisch mit der Wahrheit des ewigen, harten Kampfes um die Liebe verbindet, welche ich als autoritative Aussage des Textes rekonstruiert habe. Diese eingelöste Ambivalenz lässt sich sowohl als aufscheinende Hoffnung lesen, dass der „harte Kampf des Menschen um die Liebe“ doch nicht den Status einer Wahrheit habe, wie auch als Ausdruck dieses Kampfes selbst, der keinen, auch keinen fatalistischen, festen Ausgangspunkt erlaubt.
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|| 39 Das Interessante ist, dass dieses Verdachtsmoment unter einer bestimmten Reizschwelle bleibt: Es bleibt unzuverlässig anzunehmen, dass die Erzählinstanz unzuverlässig ist. Hier ist ein klarer Unterschied zu eindeutig unzuverlässigen Erzählinstanzen anderer Sumpftexte, etwa Nabokovs Terra incognita (vgl. Lebedeva 2018) zu erkennen.
M. Prišvins Sonnenspeicher (1945) im sowjetischen Energiediskurs | 125
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Jonas Meurer
Ernst und Friedrich Georg Jüngers Moorpoetik Zusammenfassung: In zahlreichen Texten Ernst und Friedrich Georg Jüngers avanciert das Moor zum Gegenstand oder Ausgangspunkt autobiographischen Erinnerns, metaphysisch-geschichtsphilosophischer Reflexion sowie kultur- und technikkritischen Räsonnements. Es wird als ‚anderer‘ und ursprünglicher Raum inszeniert, in dem nicht zuletzt die Idee einer Suspendierung des hegemonialen Zeit- und Geschichtsregimes der technokratischen Moderne und ihrer Zumutungen und Zurichtungen aufscheint. Zugleich ist der Moorpoetik beider Autoren im Kontext ihrer konservativen Ökologie ein melancholisches Bewusstsein für das faktische Verschwinden der Moorlandschaften eingeschrieben.
1 Einleitung Im Werk Ernst (1895–1998) und Friedrich Georg Jüngers (1898–1977) spielen Moore auf den ersten Blick keine exponierte Rolle. Dieser Eindruck relativiert sich aber, wenn man die Fährte doch einmal aufnimmt und die Texte genauer liest: Nicht allein die Häufigkeit der Moorschilderungen überrascht, sondern vor allem deren Qualität und Intensität. Die Moor-Passagen etablieren ein weitläufiges Bedeutungsgeflecht, in dem sich relativ stabile semantische Felder oder Muster identifizieren lassen. Diese beziehen sich in verschiedener Weise vornehmlich auf die chronotopische,1 das heißt raumzeitliche bzw. zeiträumliche Spezifik des Moors sowie das damit verknüpfte Alteritätspotential im Sinne der Heterotopien und Heterochronien bei Michel Foucault (2005; vgl. auch Warning 2005). Differenzieren lässt sich in einem zweiten Schritt nach unterschiedlichen textuellen Funktionalisierungen: Das Moor avanciert bei den Brüdern Jünger zum Gegenstand oder Ausgangspunkt autobiographischen Erinnerns (Kap. 2), metaphysisch-geschichtsphilosophischer Reflexion (Kap. 3) sowie kultur- und technikkritischen Räsonnements (Kap. 4) – nicht selten aber setzt dabei das eine das andere voraus, geht das eine in das andere über. Deswegen sollte diese an großen Zusammenhängen orientierte Anordnung nicht im Sinne fixer Grenzen absolut
|| 1 Vgl. zum Chronotopos-Begriff Frank 2015, der auch Michail Bachtins einschlägige Theoretisierung diskutiert. https://doi.org/10.1515/9783110786743-007
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gesetzt, sondern als Grobraster verstanden werden, das eine gewisse Orientierung ermöglicht. Hinsichtlich der Anordnung werden die Texte der beiden Autoren hier nicht separat, sondern im Dialog behandelt; auch die Entstehungs- oder Erscheinungschronologie wird vernachlässigt, um stattdessen die relative Homogenität des semantischen Feldes, das Moor und Sumpf konstituieren, eingängiger präsentieren zu können. Der Materialfülle wegen kann die Darstellung keinesfalls Vollständigkeit, sondern allenfalls Repräsentativität behaupten; die thematisierten Texte können und werden nicht ‚erschöpfend‘ interpretiert (was immer das eigentlich heißt), sondern in einen thematischen Zusammenhang eingeordnet. Die ausgewählten – und um der Möglichkeit einer textnahen Lektüre willen auch vergleichsweise ausführlich wiedergegebenen – Moor-Stellen sollen mit Wolfgang Braungart und Joachim Jacob (2017, 7) als „Ort[e] der Erfahrung besonderer Intensität“ verstanden werden, von denen aus „sich bisweilen auch ein Zugang zum Ganzen eröffnen mag“. Dass ‚Ganze‘ ist in diesem Fall das Werk Ernst und das Werk Friedrich Georg Jüngers, wobei die Konjunktion ‚und‘ hier nicht nur ein Bei- oder Neben-, sondern ein Mit- und Ineinander markieren soll. Denn im Folgenden werden hinsichtlich der literarisch inszenierten und reflektieren Moore neben – in der literaturwissenschaftlichen Forschung bislang kaum registrierten – werkinternen intertextuellen Verweisstrukturen auch beachtliche Parallelen, Affinitäten und Komplementaritäten zwischen dem Schreiben Ernst Jüngers und dem Friedrich Georg Jüngers deutlich. Mag es in Bezug auf Gattungspräferenzen, textuelle Verfahren etc. noch so gravierende Unterschiede geben, so stiften Moore dennoch einen nicht zu übersehenden Zusammenhang, der es berechtigt erscheinen lässt, von einer den Brüdern Jüngern gemeinsamen ‚Moorpoetik‘ zu sprechen. Das ist autorschafts- und interpretationstheoretisch insofern ein signifikanter Befund als es zwischen Ernst und Friedrich Georg Jünger nie zu einem Versuch einer kollektiven Autorschaft im engeren Sinne (vgl. Pabst, Penke 2022) gekommen ist, man aber sehr wohl und mit guten Gründen von einer „Geistespartnerschaft“ (Heyer 2008, 42) sprechen kann.2 Diese manifestiert sich in einem die Jahrzehnte || 2 Diese „dichte biographische Brüderkonstellation“ haben Ernst und Friedrich Georg Jünger denn auch „systematisch überhöht und funktionalisiert“, wie Ulrich Fröschle (2014, 379; vgl. 379–383) darlegt. Das Spektrum reicht von Widmungen bzw. Zueignungen (die Erstauflage von Ernst Jüngers Der Kampf als inneres Erlebnis oder Friedrich Georg Jüngers Elegie An meinen Bruder Ernst) über öffentliche Reden zum Geburtstag oder regelmäßige Erwähnungen im diaristischen (Strahlungen und Siebzig verweht) und autobiographischen Werk (Grüne Zweige und Spiegel der Jahre), bis hin zur generellen Rezeptionen (die Aufnahme der Technikkritik des Bruders in Ernst Jüngers Über die Linie oder Gläserne Bienen) und autofiktionalen Brüderkonstellationen (in Friedrich Georg Jüngers Gesprächen oder Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen und Myrdun).
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überdauernden intellektuellen Austausch und hat ihr Fundament in weitreichenden biographischen und weltanschaulichen Gemeinsamkeiten: „Kindheit in Hannover, Teilnahme am Ersten Weltkrieg, Verwundung; bald nach Abschluss des Studiums freier Schriftsteller in Berlin, verschiedene Wohnorte und Reisen, 1936 Wechsel in den Südwesten“ – soweit die von Herman Bausinger rekapitulierten „äußeren Daten“ –, dazu kommen Wandervogel-Orientierung, Kriegsbegeisterung, Ablehnung des parlamentarischen Prinzips, Eintreten für eine konservative Revolution, ambivalentes Verhältnis zum Nationalsozialismus mit teilweise deutlicher, elitär gefärbter Distanzierung, Ausrichtung an einer grundsätzlichen Zivilisationskritik – alles Stichworte, die für beide gelten. Der Unterschied war größtenteils ein gradueller. (Bausinger 2016, 389)
Ernst Jünger hat das brüderliche Verhältnis folgendermaßen reflektiert: Wenn Brüder von Kind an und während langer Jahre neben- und miteinander leben, wenn sie sich auf ihren täglichen Gängen und auf Reisen begleiten, wenn sie dieselben Bücher lesen und sich im gleichen Freundes- und Bekanntenkreis bewegen und wenn sie dabei einen ständig wachsenden Schatz von Erfahrungen sammeln, den sie, oft bis über die Mitternacht hinaus, in Gesprächen abgleichen, dann läßt sich im einzelnen kaum entscheiden, wer hier der Gebende und wer der Empfangende, wer der Anregende und wer der Angeregte war. Oft scheint vielmehr die individuelle Sonderung zugunsten einer Art von osmotischem Austausch aufgehoben zu sein. (E. Jünger 1978a, 46–47; vgl. auch Magenau 2012, 12–13)
Ist das plausibel? Wird hier etwas stilisiert? Oder gar über Gebühr inszeniert? Vergessen sollte man jedenfalls nicht, dass sich Ernst und Friedrich Georg Jünger gleichermaßen in besonderem Maße als autonome Autoren sahen bzw. als solche gesehen werden wollten und dass Autonomie eine dominante Kategorie sowohl einzelner Texte als auch der Werkpolitik beider Autoren ist – ein Widerspruch? Die Moorpoetik der Brüder Jünger erweist sich als hervorragendes ‚epistemisches Objekt‘ (vgl. zu diesem Begriff Abel 2008), um sich auch dieser Problematik anzunähern.3 || 3 Zumindest in der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung zu den Brüdern Jünger sind Analysen keine Seltenheit, die an relationalen Beziehungen zwischen Person und Werk interessiert sind, beispielsweise hinsichtlich der Techniktheorie (Strack 2000), der Politik (Morat 2007; Trawny 2009) oder der Sprachphilosophie (Beltran-Vidal 2000). Auch die Gründung des Freundeskreises der Brüder Ernst und Friedrich Georg Jünger im Jahr 1998 (inzwischen umbenannt in Ernst und Friedrich Georg Jünger-Gesellschaft) und das Erscheinen von Jörg Magenaus Doppelbiographie Brüder unterm Sternenzelt. Friedrich Georg und Ernst Jünger (2012) sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung. Zugleich ist es in der Ernst Jünger-Philologie völlig unproblematisch, ohne irgendeinen Bezug zum Bruder auszukommen, während allein die Zahl der Arbeiten, die sich exklusiv mit Friedrich Georg Jünger befassen, im Vergleich verschwindend gering ist.
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2 Rehburger Streifzüge Die Imagination des Moors als Naturphänomen, das über eine „eigene, unverletzte Kraft“ (F. G. Jünger 1954, 110) verfügt, wie es in Friedrich Georg Jüngers Roman Der erste Gang heißt, ist bei beiden Brüdern Jünger nachhaltig geprägt worden von den Feuchtgebieten rund um Rehburg am Steinhuder Meer, wo sich die Eltern mit ihren zu diesem Zeitpunkt vier Kindern 1907 niederließen (vgl. für alle biographischen Informationen Geyer 2007, Kiesel 2007 und Magenau 2012). Die Brüder verbrachten dort entscheidende Jahre ihrer Kindheit und Jugend, nicht zuletzt als Mitglieder der Wandervogelbewegung, was die Ausbildung einer fundamentalen Naturbegeisterung (vgl. Pschera 2020) erheblich begünstigte. Was auch immer die Brüder Jünger über das Moor schreiben: Die in der niedersächsischen Provinz gereifte Liebe zur Natur ist ein entscheidendes Fundament. Nicht von ungefähr heißt das entsprechende Kapitel in Jörg Magenaus (vgl. 2012, 17–41) Doppelbiographie der Brüder Jünger Brüder unterm Sternenzelt schlicht und einfach Moor. Friedrich Georg Jüngers erstes Erinnerungsbuch Grüne Zweige (1951) widmet sich ausführlich diesem für die Herausbildung der eigenen Persönlichkeit prägenden Lebensabschnitt. Die Moorlandschaften der Lüneburger Heide werden darin als Heterotopie im Sinne Foucaults, der von einem besonders ausgeprägten Gespür von Kindern für derartige „Gegenräume“ (Foucault 2005, 10) ausgeht, in Szene gesetzt: So streifen wir weit umher, und bald war uns die Landschaft so vertraut, daß auch ihre heimlichsten Orte uns nicht fremd blieben. […] Wir […] waren in dem Abschnitt, der zwischen dem Dreckmoor und dem Streitbruch liegt, wie zu Hause. Schon diese Namen geben einen gewissen Begriff von dem Orte. Je näher man hier dem Meere kommt, einem großen, aber flachen und moorigen Binnensee, desto weicher und trügerischer wird der Boden, bis er zuletzt alle Festigkeit verliert und in Gründlandmoore und schwimmende Wiesen übergeht. Die Uferwiesen standen voll Wollgras und blühender Sumpfkalla, an den Moorlöchern breitete sich der rote Teppich der Drosera aus, und im Genist brüteten zahlreiche Vögel. […] Niemals begegneten wir hier einem Menschen, denn der Ort war so gemieden, daß nicht einmal die Hütejungen ihn aufsuchten. So blieb dieses Zwischenreich, das halb fest, halb flüssig war, uns allein überlassen, und wir durchkreuzten es auf hundert Pfaden, die nur uns bekannt waren. Noch heute sind mir die Schliche, die zu ihm führten, in genauer Erinnerung […]. (F. G. Jünger 1951, 50–52)
In „wilden Exkursionen“ (Pschera 2020, 11) erkunden die Knaben die Moore in der Nähe ihres Elternhauses und machen dabei grundlegende Autonomieerfahrungen. Sie erleben das Moor keinesfalls als bedrohlich oder feindlich, sondern als „Ort des guten Lebens“ (Ecker 2007): Als von romantischen Idealen geprägter
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Gegen- oder Freiraum wird das Moor auch deshalb erfahren, weil die Einheimischen es meiden, sei es aus alter Gewohnheit oder aufgrund realer Gefahren. Und wo niemand ist, dort kontrolliert auch niemand die Gesetze oder Normen der bürgerlichen Ordnung, dort kann man sich dem Zugriff der Institutionen Schule und Elternhaus entziehen – ein prädestinierter Raum für die Entdeckung und Ausbildung einer eigenen Identität. Berücksichtigt man den in Grüne Zweige deutlich erkennbaren Willen zur (Selbst-)Stilisierung, ist es nicht abwegig, die Erinnerung an das freie Umherstreifen in Sumpf- und Moorlandschaften auch autorschaftspoetologisch als ‚Ursprungserzählung‘ zu verstehen: Schon im Kind soll der auf seine Individualität pochende und über alle Gruppenzugehörigkeiten erhabene spätere Autor zu erkennen sein. Auch Ernst Jünger erinnert sich anlässlich des 65. Geburtstages des Bruders der gemeinsamen Gänge durch Moor und Heide, bezieht sich auf „das bunte, gefiederte Leben der Sumpf- und Wasservögel in den Mooren, den Brüchen, den schwimmenden Wiesen und Schilfgürteln am Steinhuder Meer“ – die Liebe des Bruders zur Vogelwelt habe hier ihren Ursprung. In den späteren Naturgedichten, die „weniger auf den farbigen Abglanz als auf die magischen Wirklichkeiten“ (E. Jünger 1978a, 52) zielten, habe Friedrich Georg vielfach diese frühen Landschaftseindrücke verarbeitet. Man mag hier an Gedichte wie Moorherbst aus der Sammlung Iris im Wind (1952)4 denken, das in auffallender formaler Schlichtheit ein Bild von der Flora und Fauna des Moors evoziert. Das implizite lyrische Ich macht sich allenfalls durch die drei Vergleiche in den ersten beiden Strophen bemerkbar, was die Aufmerksamkeit ganz auf die Eigenmächtigkeit und -gesetzlichkeit der Natur lenkt: Moorherbst Die Moosbeeren liegen Wie Wachsperlen Auf den nassen Grasbetten. Die Kronbeeren leuchten Rot wie Korallenketten. Rohrkolben stehn Wie Mohrenscharen In den Uferwellen. An den Seerosen kreisen Blaue Trauerlibellen.
|| 4 Der Band enthält zudem das lesenswerte Gedicht Winter im Moor (vgl. F. G. Jünger 1952, 88–89).
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Wenn der Kürbis reift, Klagt der Kranich und zieht. Der Täubling sprießt. Es zischelt der Wind Im gelben Ried. (F. G. Jünger 1952, 75)
Ein Jahr nach seiner theoretischen Auseinandersetzung mit Gedächtnis und Erinnerung (1957) schildert Friedrich Georg Jünger in seiner zweiten autobiographischen Erzählung Spiegel der Jahre (1958) eine Auszeit vom Berliner Großstadtgetümmel in den Roaring Twenties – dort hatten sich die Brüder Jünger, was der Bericht allerdings konsequent ausspart, als rhetorisch versierte Publizisten der nationalistischen Rechten einen Namen gemacht. Der Impuls für die Reise ist die Sehnsucht nach der „Landschaft […], in der ich aufgewachsen war“, mit all ihren „Moor- und Bruchwiesen, die ich so oft durchstreift hatte“. Doch dort angekommen ist der Eindruck ein zwiespältiger: Die in der Erinnerung sorgfältig aufbewahrte Landschaft, so formuliert es Jünger, war es und war es nicht mehr. Dort, wo Kahlschläge und Schonungen gewesen waren, stand jetzt junger Wald […]. Neue Häuser standen in der Landschaft und teilten sie anders auf. Durch das Neue mußte ich hindurchsehen, um Altes wiederzufinden; wie ein Netzwerk lag das Hinzugekommene über ihm. (F. G. Jünger 1958, 158)
Eine Entzauberungs- und Verlusterfahrung, die eine regelrechte Wahrnehmungsarbeit erfordert, wenn die erinnerte Vergangenheit Bezüge zur Gegenwart aufweisen soll. In Ernst Jüngers erster Fassung des Abenteuerlichen Herzens, 1929 und also knapp dreißig Jahre zuvor erschienen, findet sich eine Parallelstelle, in der eine noch größere, planetarische Dimension avisiert wird: Wenn wir uns der Zeit erinnern, in der wir Kinder waren, des Schweifens durch Wald und Feld, wo das Geheimnis hinter jedem Baum und jeder Hecke verborgen war, der wilden, tobenden Spiele in den dämmrigen Winkeln der kleinen Stadt, der Glut der Freundschaft und der Ehrfurcht vor unseren Idealen, so sehen wir, um wieviel blasser die Welt geworden ist. (E. Jünger 1979a, 40–41)
Eine solche Entzauberung ist auch Friedrich Georg Jünger zufolge mehr als nur ein Eindruck der Älter- und Erwachsengewordenen, die sich eine heile Welt der Kindheit imaginieren, hängt sie doch eng mit Entwicklungen der Industrialisierung und gesellschaftlichen Modernisierung zusammen, deren konkrete Folgen in der niedersächsischen Provinz mitunter später sichtbar wurden als anderswo: Zwei kleine Bauernhöfe bildeten zu Anfang unsere Nachbarschaft, doch siedelte sich bald ein dritter Bauer an. Im Lauf der Jahre pflügten sie die Heideflächen um, entwässerten die feuchten Wiesen und bauten Buchweizen, Lupinen, Kartoffeln und Hafer an. Diese
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Nutzbarmachung des Ödlands schritt unter meinen Augen mehr und mehr fort und war mir nicht lieb, denn ich spürte, daß das freie Wachstum und der freie Nießbrauch der Landschaft eingeengt und geschmälert wurde. (F. G. Jünger 1951, 54–55)
Die „Riedflächen, Moorgräben und Binsenringen“ sind massiven Veränderungen unterworfen, einst aber scheinen sie einem gänzlich anderen Zeitregime angehört und eine Ahnung verborgener Wirklichkeitsschichten gegeben zu haben: Welches war der erste Eindruck, den diese Landschaft auf mich machte? Sie kam mir unberührt vor und deshalb alt, wie vom Menschen wenig in ihr verändert worden war. Sie lag offen da und schien mir doch etwas Verborgenes zu enthalten. Denn oft noch beschlich mich in ihr die Vorstellung, daß Tiere, die es gar nicht mehr gab, mir in ihr begegnen könnten. (F. G. Jünger 1951, 46)
Auch bei Ernst Jünger finden sich dieses Bild ergänzende Schilderungen der Kindheit in einer vormodern anmutenden, den Zeitläuften enthobenen Umgebung, etwa im Kapitel Rehburger Reminiszenzen der Subtilen Jagden (1967). Rehburg sei „kaum mehr als ein entlegenes Heidedorf“ gewesen, er erinnere sich an Häuser ohne Schornstein, bei denen der Rauch durch die Dielentür nach draußen zog. Es roch nach Torf, nach Kühen, nach dem Schinken und Speckseiten, die über der Tenne hingen, nach dem moorigen Bach, der das Wasser des Steinhuder Meers zur Wesen hinabführte. Es durchfloß die Schwimmenden [sic] Wiesen, an deren Rändern Kranich und Reiher fischten, dann ausgedehnte Brüche, auf denen im April der Kiebitz brütete. […] Die Bauern pflügten mit Kühen; Roggen, Hafer, Kartoffeln, Buchweizen wurden gebaut, auch Lupinen seit kurzer Zeit. Viel anders konnte es hier nie ausgesehen haben, nach Mardorf, nach Leese, nach Nienburg hin. (E. Jünger 1980c, 15–16)
Mit den letzten Zitaten ist bereits ein doppelter thematischer Übergang eingeleitet – von der Kindheit und Jugend in Heide und Moor hin zu Theoremen der Zeitund Geschichtslosigkeit einerseits (Kap. 3) und der Technik- und Kulturkritik andererseits (Kap. 4).
3 Jenseits von Zeit und Geschichte Doch noch einmal zurück zu den Rehburger Reminiszenzen, in denen Ernst Jünger, wie so oft, persönliche Erinnerung mit abstrakterer Reflexion verbindet. Die Fortsetzung des letzten Zitats lautet: Das Moor ist geschichtslos; da ist mehr Wesendes als Werdendes, graues und braunes Nornengespinst. Die Römer waren kaum hier gewesen; Germanicus hatte das Land nur gestreift und ganz in der Nähe […] erfolglos operiert. […] Karl der Große hatte das Weihwasser
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gebracht, allerdings, wenn man den Pastoren glauben wollte, mit nicht viel größerem Erfolg. Immerhin war das Kloster Loccum in der Nähe; die Zisterzienser bauten sich wie die Biber gern in solchen Sümpfen an. Jahrhundertelange hatten die Münchhausens hier eine Burg besessen; sie war in der Hildesheimer Stiftsfehde so gründlich zerstört worden, daß keine Spur mehr geblieben war. (E. Jünger 1980c, 16)
Die Nornen, die Schicksalsgöttinnen in der nordischen Mythologie, hatte Friedrich Georg Jünger zuvor schon in seinem großen Essay Die Sagas der Isländer thematisiert: „Nornen wirken das Schicksal. Sie schnüren Fäden, breiten Gespinst aus, werden Bänder und befestigen die Enden.“ (F. G. Jünger 1966a, 214). Auch im Kontext der gemeinsamen Reise der Jünger-Brüder nach Island im Sommer 1968 stehen die Nornen wieder im Fokus. Noch vor Reiseantritt verfasst Friedrich Georg Jünger ein Gedicht mit dem Titel Die Nornen, das erst aus dem Nachlass herausgegeben wurde: „Wer die ruhelose Spindel des Lebens dreht / Und wer sie in Gang hält?“ setzt die erste Strophe ein und die drei folgenden liefern, auch wenn der Titel es bereits vorwegnimmt, die Antwort: Jungfrauen sind es, Fleißige Schwestern, Nornen, ein dunkles Wort, Über unsern Geschicken. Woher den Faden sie nehmen, Den Garn der Gespinste? Leinen und Wolle ists nichts, Sie nehmen von uns ihn. Nehmen Gedanken dazu, Verborgene Wünsche, Träume, das Saatgutächte Künftiger Taten. (F. G. Jünger 1983, 60)
Auch in Ernst Jüngers Tagebucheinträgen während der Reise (in Siebzig verweht I) tauchen die Nornen auf, wenn von den altnordischen Sagas die Rede ist. Diese Erzählungen könne man „das Grenzland nennen, welches das Märchen von der Geschichte trennt. Die Nornen weben; eine große Rolle spielt das Moor.“ (E. Jünger 1982b, 505). Die Erörterung der genauen Beziehungen und die diskursive Herleitung der großen Rolle des Moors bleibt Jünger zwar schuldig; über eine atmosphärische Verbindung mit den Nornen hinaus deutet die Formulierung des Grenzlandes darauf hin, dass Jünger das Moor als liminalen Raum ansieht, in dem vieles in der Schwebe ist (vgl. Penke 2012, 133). Nur zwei Tage später vermerkt Jünger in diesem Kontext, dass die gesamte „nordische Landschaft“ auf ihn „wie eine Zwischenwelt“ wirke, hier habe sich die „historische Ordnung […] von der mythischen
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nicht ganz abgesetzt“ (E. Jünger 1982b, 506). Und weiter: „Ich komme dabei immer wieder auf das Moor zurück. Der Torf ist ein Medium. Die Faser ist abgestorben, doch erhält sich im Gespinst ein seltsames Scheinleben.“ (E. Jünger 1982b, 507). Das Moor steht hier symbolisch für die Mythisierung oder Archaisierung des Nordens, der in Jüngers Imagination noch deutlich unter dem Einfluss metaphysischer Mächte und tiefenwirksamer elementarer Kräfte stehe. Diese Erörterungen sind späte Nachwirkungen der bereits im August 1935 unternommenen Norwegen-Reise, die Ernst Jünger und seinen Freund und Mentor Hugo Fischer nach Eidsbygda in der Provinz Møre og Romsdal führte. Unter dem Titel Myrdun. Briefe aus Norwegen erschienen 1943 die an den im Text nicht namentlich genannten Bruder Friedrich Georg adressierten Briefe der Reise. Werkgeschichtlich steht die Norwegenreise in einer Umbruchphase, die mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten einsetzt – Ernst (und auch Friedrich Georg) Jüngers Wandlung „von der Tat zur Gelassenheit“ (Morat 2007) bzw. „von einer aktivistischen zur kontemplativen Haltung“ (Fröschle 2014, 377). Beide Formulierungen beziehen sich auf eine grundsätzliche Abkehr von der politisch-geistigen Mobilmachung der Zwischenkriegszeit zugunsten einer neuen Offenheit für Fragen der Religion und des Mythos, Themen der Ästhetik und Metaphysik, Denkfiguren jenseits von (messbarer) Zeit und (datierbarer) Geschichte. Es ist diese post-nationalrevolutionäre Phase ihres Werks, in denen die Brüder Jünger auch das Moor als wichtiges Sujet für sich erschließen. Der „Rückzug in transzendentale Gefilde“ (Schildt 2011, 22) erweist sich insbesondere nach 1945 als typisch für eine ganze Kohorte von Rechtsintellektuellen: Unter veränderten politischen und kulturellen Vorzeichen lag der Versuch nahe, sich strategisch neu auszurichten und die Rolle als „weltferne, unberührte über historische Erschütterungen hinweggehende Zeitdeuter“ (Payk 2011, 154; vgl. auch van Laak 1997) zu kultivieren. Myrdun ist ein markantes Zeugnis für diese Wende in Jüngers Schreiben: „Die 1933 begonnene Neuausrichtung vom Weltkriegsautor und Nationalrevolutionär zum Autor eines ästhetischen Konservatismus besitzt in den Augusttagen des Jahres 1935 ihren biographischen Kulminations- und Umschlagpunkt“, so Robert Weber (2011, 141). Auch Niels Penke (2012, 110) betont, dass Jünger „eine zweite physische Geburt durchlebt zu haben berichtet“ – im hohen Norden mehr oder weniger dem Einfluss der ‚Errungenschaften‘ der Moderne und speziell den Zumutungen der seit 1933 errichteten Diktatur in Deutschland entzogen. Die Reise nach Norwegen wird als „Zeitsprung in die vormoderne oder gar mythische Vergangenheit“ (Weber 2011, 12) von Jünger regelrecht glorifiziert: Hier scheint ein naturverbundenes und menschenwürdiges, ‚einfaches‘ und freies Leben noch möglich zu sein. Es ist die „Elementarkraft“ der gleichsam anarchischen Landschaft, die Jünger dafür maßgeblich verantwortlich macht: „Ein Boden, in dem
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solche Kräfte lebendig sind, wird der Staatenbildung im gleichen Maße widerstreben, in dem er der Ausbildung von Charakteren förderlich ist.“ (E. Jünger 1982a, 86).5 Zugleich ist es die Erfahrung einer „urtümlich webenden Zeit“ (E. Jünger 1982a, 88), die der mechanischen Zeitauffassung gegenübergestellt und als befreiend erlebt wird. Noch bevor wir aus dem Wald heraustraten, kündeten die weißen Büsche des Wollgrases das Hochmoor an. Dieses Kraut, das die Stellen bevorzugt, an denen die schwarze Torfkrume zutage tritt, ist hier unter dem schönen Namen Myrdun oder Moordaune bekannt, und die Blütenstände gelten als winzige Rocken, von denen die Elfen abspinnen. Sie weben Gewänder für die Erlenfürsten aus ihrem Stoff. Überhaupt hegt der Norweger eine große Liebe zum Moor – so sehr, daß er sogar das Meer in der dichterischen Sprache das Blaumeer nennt. Vielleicht ist diese Landschaft auch für sein Leben die bezeichnende – für ein Leben in kärglicher Fülle und für die Wirtschaft am Rande der Einöde. […] Diese Region ist von einer verborgenen Schönheit erfüllt, die das Herz zugleich betrübt und heiter stimmt, und vieles in den Sagas wird sich dem entziehen, der dies nicht kennt. Auch hat das Moor oft etwas Gläsernes, wie von einem zweiten, geheimen Leben, das unter Tage besteht.“ (E. Jünger 1982a, 78–79)
Dass es sich hier nur bedingt um eine adäquate Tatsachenbeschreibung, sondern um eine Verklärung von Land und Leuten handelt, liegt auf der Hand. Aufschlussreich ist diese Stelle vielmehr wegen der Aufmerksamkeit für die Moorflora, speziell für die titelgebende Moordaune, die für die Einheimischen auch eine Rolle im Kontext mythischer Erzählungen spielt. Des Weiteren imaginiert Jünger das Moor als Schwelle zu einer Art Parallelwirklichkeit, die sich „hinter den rein materiellen Erscheinungen verbirgt“ (Penke 2012, 133). Damit ist eine markante semantische Verschiebung im Vergleich zum Frühwerk angesprochen: In Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932) wird das politische System der Weimarer Republik mit der „Atmosphäre des Sumpfes“ gleichgesetzt, die „nur durch Explosionen gereinigt werden kann“ (E. Jünger 1981b, 261), darüber hinaus ist die Rede von der „Trockenlegung des Sumpfes der freien Meinung, in den sich die liberale Presse verwandelt“ (E. Jünger 1981b, 278) habe – Klaus Theweleits skizziert in seinen Männerphantasien eben diese Affinität des faschistisch-nationalistischen Milieus zur klar negativ konnotierten Metaphorik von Sumpf und Moor, die er als Ausdruck fundamentaler männlicher Gewaltphantasien gegen alles Weiblich-Bedrohliche versteht (vgl. Theweleit 1977, 497-501). Im Gegensatz zu dieser Semantik des Arbeiters etabliert sich in Myrdun bzw. generell um 1940 eine
|| 5 An anderer Stelle, in den 1974 publizierten Parerga zu „Annäherungen“, wird diese Annahme wiederholt: „Der Sumpf ist dem Bewußtsein und der Geschichte feindlich, doch nicht der Lebenskraft.“ (E. Jünger 1978c, 442).
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gänzlich neue Wahrnehmung der landschaftlichen Feuchtgebiete. Diese manifestiert sich beispielsweise auch in einem Eintrag des Ersten Pariser Tagebuchs vom 9. Mai 1942, in Kirchhorst inmitten der niedersächsischen Moorlandschaft notiert: Im Moor. […] Ich nahm an einem Torfstich ein Sonnenbad. Die Farbe der alten, durch den Spaten ausgeschnittenen Wände steigt vom fetten Schwarz zu einem mürben Goldbraun auf. Dicht über dem Wasserspiegel zieht sich ein moosiges Band entlang, darauf der Sonnentau als rote Stickerei. Schön und notwendig ordnet sich das zu. […] Dies ist nur einer der unzähligen Aspekte, nur einer der Schnitte durch die Harmonie der Welt. Wir müssen durch die Gebilde schauen auf die Gestaltungskraft. Wie festlich schreitet es sich auf dem feuchten, rötlich durchstrahlten Moor. Man wandelt auf Schichten von reinem Lebensstoff, kostbarer als Gold. Das Moor ist Urlandschaft und birgt somit sowohl Gesundheit als Freiheit; wie herrlich spürte ich das in den nordischen Einöden. (E. Jünger 1979b, 327)
Die positive Konnotation oder Attribuierung des Moors wird im Vergleich mit Myrdun noch verstärkt. Formal auffällig ist der doppelte Übergang von einer detaillierten Beschreibung des Moors zu einer metaphysischen Erörterung überempirischer Phänomene, die im zweiten Absatz auf den Begriff der ‚Urlandschaft‘ zuläuft. „Komposita mit ‚Ur‘“ oszillieren im Allgemeinen „auf der einen Seite zwischen der Bezeichnung eines zeitlich Frühen, chronologisch Ersten, […] und, auf der anderen Seite, Imagination eines Zeitlos-Grundlegenden, Wesentlichen, das sich begrifflich nicht einholen, sondern lediglich bildlich ansprechen lässt“, was Norman Kaspar (2021, 1) auch im Werk Ernst Jüngers vielfach nachweisen kann. Als Urlandschaft charakterisiert Jünger schon im Arbeiter die „unmittelbare Verbindung mit der Wirklichkeit“ (E. Jünger 1981b, 50) auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkriegs und in den Werkstätten des totalitären Arbeiterstaats. In der späteren Reiseprosa ist eine thematische Verschiebung erkennbar. Nicht nur in Norwegen, auch in Dalmatien, Sizilien, Brasilien, Sardinien oder Antibes ist Jünger auf der Suche nach Ursprünglichkeit und Außerzeitlichkeit, für die das Moor sinnbildlich steht: „Die Berichte von vormodernen Beharrungsräumen und Entschleunigungsinseln präsentieren eine Gegenwelt zur ‚Werkstättenlandschaft‘ des ‚Arbeiters‘.“ (Weber 2011, 16). Diese Schutzzonen einer existenziellen ‚Eigenzeitlichkeit‘ (vgl. Nowotny 1993; Gamper, Hühn 2014) sind jedoch in einer zunehmend durchrationalisierten Welt bedroht: „alles ist vermessen und wird besessen“ (F. G. Jünger 1966b, 76). Man müsse, schreibt Ernst Jünger seinem Bruder am 17. Oktober 1942 aus Paris, gerade „jetzt im Lande die kleinen Zellen der Wildnis kennen, die noch bleiben, und an denen die wahre Erholung blüht“. Dabei äußert der Besatzungsoffizier den innigen Wunsch, „späterhin einmal im
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Oldenburgischen eine rechte Moorwanderung machen. Das Moor und die versumpften Seen sind noch die letzten Refugien der Natur.“ (DLA Marbach, Nachlass Ernst Jünger). Beide Brüder Jünger operieren in diesem Kontext mit dem (kompensatorischen) Konzept der Wildnis (vgl. Gregorio 1995, 2011; Gorgone 2021, 263–274), das speziell bei Friedrich Georg schon lange vor dem Zweiten Weltkrieg weitgehend fixiert ist. Die erste lyrische Buchpublikation der Gedichte (1934) enthält mit Die neue Wildnis und den formstrengen Elegien Schwerttanz, Ariadne und Der Garten bereits thematisch-motivisch einschlägige Texte. Auch die titelgebende Hymne des Missouri-Bandes (1940) ist hier zu nennen, ebenso wie die in die zweite Auflage von Der Taurus (1943) neu aufgenommene Abbitte an die Wildnis, aus der die folgenden Verse stammen: Dir gilt kein Eigenes mehr, dir gilt kein Name, kein Recht mehr, Ungeteilt wahrst du, was ist, ungeteilt hebst du es auf. Darum verliert sich im Dunkel das Licht, das alles bezeichnet, Weil der Wildnis allein Anfang und Ende gehört. (F. G. Jünger 1943, 52)
Mit Wildnis ist zunächst einmal der Bereich gemeint, „der frei von menschlichen Eingriffen besteht, der ‚von selbst‘ aufwächst, vergeht und wiederkehrt“, so Friedrich Georg Jünger in seinem späten naturphilosophischen Traktat Die vollkommene Schöpfung (1969, 196). Die von Menschen nicht vermessene Wildnis liegt „vor aller Geschichte“ (F. G. Jünger 1957, 161) und stellt die nicht zu ersetzende Grundlage für jede produktive Nutzbarmachung des Landes durch den Menschen dar. In ihren Beiträgen zur Festschrift anlässlich des 60. Geburtstags Martin Heideggers im Jahr 1950 präzisieren und erweitern die Brüder Jünger diese Bestimmungen (vgl. Morat 2007, 445–446). In Über die Linie postuliert Ernst Jünger: „Die Freiheit […] haust […] im Ungeordneten und Ungesonderten, in jenen Gebieten, die zwar organisierbar, doch nicht zur Organisation zu zählen sind. Wir wollen sie ‚die Wildnis‘ nennen […].“ Eine Bagatellisierung als „romantische Wildnis“ sei grundfalsch, werde der Mensch, so die Prognose, doch aus diesem elementaren „Urgrund“ seiner Existenz „eines Tages wie ein Löwe hervorbrechen“ (E. Jünger 1980d, 273). Friedrich Georg Jüngers Beitrag ist Die Wildnis betitelt: ein mythopoetischer Dialog zwischen dem Kentauren Cheiron und dem Heroen Palamedes. Ihren Gesprächsgegenstand definieren sie als „Land des Pan“ (F. G. Jünger 1950, 236), in dem elementare Naturkräfte walten, die sich durch kein Gesetz und keine Begrenzung regulieren lassen.6 Pan steht als archetypisch|| 6 In den Griechischen Göttern heißt es: „Pan ist dort, wo das Gebirge, der Bergwald, die Flüsse, das Röhricht, der wilde Obsthain berührt sind; er ist der Gott der Wildnis. […] Die Wildnis ist
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vorbildhafte Gestalt dabei für ein ganzes Weltverhältnis, schließlich ist der Mythos „keine Vorgeschichte“, sondern „zeitlose Wirklichkeit, die sich in der Geschichte wiederholt“ (E. Jünger 1980a, 297). In nachmythischer Zeit ist es unmöglich, eine Wildnis tatsächlich zu betreten, ihr Charakter kann allenfalls noch in gewissen randständigen Landschaften erahnt werden. ‚Wildnis‘ ist demzufolge als regulative Idee zu verstehen, die Naturwahrnehmung auf eine Weise zu gestalten, durch die Kräfte freigesetzt werden im Kampf gegen die zivilisatorische Domestizierung und technische Zurüstung des freien Menschen. Das nämlich ist die Drohkulisse, die die Brüder Jünger unabhängig von konkreten politischen Systemen und auch jenseits der Zäsur von 1945 für akut halten.
4 Technik- und Kulturkritik Die Geschichtslosigkeit der Wildnis als schlechthin heiliger Ursprung (vgl. F. G. Jünger 1957, 161) impliziert Friedrich Georg Jünger zufolge eine unhintergehbare ethische Verantwortung: Was ist aber das Geschichtslose? Es kann nicht vor oder hinter der Geschichte liegen, in der Art, in der Urgeschichte, Vorgeschichte, Frühgeschichte und Spätgeschichte gegeneinander abgesetzt werden […]. Es ist immer da und muß immer da sein […]. Es ist uns stets zugeordnet. Und niemand hat das Recht, es rücksichtslos zu verbrauchen; es muß geschont werden. (F. G. Jünger 1958, 153)
Diese „Forderung nach Schonung“ ist der zentrale Imperativ einer konservativen, auf Seinsbewahrung abzielenden Ökologie, die auf das maßlose Zerstörungswerk des Menschen reagiert: „[E]r hat die Wildnis nicht geschont, er verwüstet sie und breitet die Dürre in ihr aus […]. Im Land des Pan treibt er Raubbau“ (F. G. Jünger 1957, 161). ‚Raubbau‘ ist auch in der noch vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges konzipierten, jedoch erst 1946 publizierten und weithin beachteten technik- und kulturkritischen Studie Die Perfektion der Technik (vgl. dazu Breuer 1992, 103–130; Gauger 2000; Bollenbeck 2007, 244–247) eine
|| zunächst das Unbezeichnete, das Unbenannte. Sie ist dem Menschen nicht unterworfen, steht in keines Menschen Eigentum, ist unvermessen und ohne Wegmarken. […] Sie hat keine Geschichte, und es knüpfen uns keine Erinnerungen an sie. Sie pflanzt sich ohne unseren Willen und gedeiht ohne unser Zutun.“ (F. G. Jünger 1957, 155–156). In der Folge charakterisiert Jünger Pan auch als „Hort der unversehrten männlichen Geschlechtskraft“, er stehe „durch sein Wesen in einer Beziehung zum Tanze und Gesange, zum Spiele und der Dichtung“ (F. G. Jünger 1957, 163–164).
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zentrale Vokabel. Die Argumentation läuft (trotz gegenteiliger Beteuerungen des Autors) auf eine Dämonisierung der Technik als „Tretmühle von ungeheuren Dimensionen“ (F. G. Jünger 2010, 57) hinaus: Alle Erleichterungen durch technische Innovationen werden im entlarvenden Gestus als Illusionen herausgestellt, denn die unabwendbare Folge sei ein „beständiger, stets wachsender, immer gewaltiger werdender Verzehr“. In letzter Konsequenz führe diese fatale Dynamik zu einem „Raubbau, wie ihn die Erde noch nicht gesehen hat“ (F. G. Jünger 2010, 28). Die planmäßige Trockenlegung von Mooren wird in diesem Zusammenhang als symptomatisches Beispiel aufgeführt: Auf gewaltsame Eingriffe antwortet die Erde nicht anders als der Mensch, in dessen Leben gewaltsam eingegriffen wird. Holze ich den Wald zugunsten des Ackers ab, so wird auch der Ertrag der Äcker magerer. Entwalde ich die Gebirge, so wird die Erosion sie verkarsten. Entwässere ich die Moore, vermaure und begradige ich die Flüsse, dann wird die Wasserwirtschaft in Unordnung geraten. […] Vernichte ich die Wildnis ganz und gar, dann ist es nicht nur mit allem Wildwuchs […] zu Ende, auch das der Wildnis abgewonnene Nutzland wird leiden. Daß in der Natur alles in einer innigen Verbindung steht, ist bekannt und wird nicht beachtet. […] Ein Irrtum des Homo faber ist, wenn er glaubt, daß die Natur auf seine ihr aufgezwungenen Arbeitsverfahren sich nur leidend verhält; sie beantwortet die Zerstörungen und trifft den Urheber mit derselben Kraft, welche die Verletzung hatte. (F. G. Jünger 2010, 36–37; Herv. J. M.)
Gerade die Perfektion der Technik ist ein Text, der es gerechtfertigt erscheinen lässt, den Autor und seinen Bruder als „Vorreiter ökologischen Denkens“ zu bezeichnen, die aus konservativer Warte schon früh vor den „negativen Auswirkungen der Technisierung und Globalisierung und vor dem schwindenden Bewusstsein des Menschen für den Wert der Natur“ (Pschera 2020, 9; vgl. auch Heyer 2008, 41) gewarnt haben. Diese Tradition versucht das rechtskonservative Lager bis heute wach zu halten, Götz Kubitschek etwa, Schlüsselfigur einer intellektuellen ‚Neuen Rechten‘, spricht in seiner E-Mail-Korrespondenz mit Armin Nassehi gleichfalls vom „Raubbau“: Der weitaus größere Teil unserer Leute ist grundsätzlich ökologisch orientiert. Wir bringen dabei den Gedanken des Verzichts und der Askese als erzieherische Kategorien in Verbindung mit dem Verzicht als einer ökologischen Grundbedingung. Da uns der Verzicht nicht mehr auferlegt ist, müssen wir bewusst Verzicht üben, um keinen Raubbau zu betreiben. Vordenker: Ludwig Klages, die halbe deutsche Reformbewegung, Friedrich Georg Jünger, Martin Heidegger, Konrad Lorenz, Herbert Gruhl, Irenäus Eibl-Eibesfeldt, Baldur Springmann, Rolf Peter Sieferle. Dass all diesen Leuten der ökologische Universalismus linker Couleur fremd ist, muss ich nicht betonen. Und dennoch ist diese rechte, ortsgebundene Form der Ökologie einem Teil der Rechten […] immer fremd geblieben. (Nassehi 2015, 317–318)
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Ernst Jünger näherte sich im Verlauf der Jahre der technikkritischen Diagnose seines Bruders, die immerhin sehr deutlich einen Gegenentwurf zur Technikeuphorie des Arbeiters markiert,7 zunehmend an. So formuliert er zum Beispiel in An der Zeitmauer: Dem Mythos ist zu entnehmen, daß die Erde ökonomische Eingriffe als Frevel betrachtet. Sie mußten gesühnt werden. Noch heute haben Unterfangen wie die Austrocknung der Moore oder die Schädlingsbekämpfung ihre Schattenseite; sie greifen ins Gleichgewicht ein. (E. Jünger 1981a, 513).
Überlegungen dieser grundsätzlichen Art muss man im Kontext einer Entwicklung sehen, deren kultur- und mentalitätsgeschichtliche Relevanz kaum überschätzt werden kann – die im achtzehnten Jahrhundert einsetzende „Eroberung der Natur“, deren Geschichte David Blackbourn (2007) in seiner gleichnamigen Studie genau rekonstruiert. Unter dem Einfluss des aufklärerischen Nützlichkeitsdenkens8 wurde auch hierzulande der bis dato fast ausschließlich als gefährlich und unheimlich empfundenen Wildnis der Kampf angesagt (vgl. Trepl 2012, 99–118). Durch massive Eingriffe sollten die Naturgewalten gezähmt, ja wenn möglich bezwungen, die Landschaft nach zweckrational-ökonomischen Gesichtspunkten umgestaltet werden. Kaum jemand erhob deswegen, wie Jean-Jacques Rousseau, mahnend seine Stimme – um der „Lebendigkeit eines Lebenszusammenhanges“ willen, wie Friedrich Georg Jünger (2010, 119) sagen würde. Die Kolonisierung und Domestizierung der Moore war nicht zuletzt deshalb eine zentrale Maßnahme, weil wegen knapper Holzbestände das Torf als Heizmaterial immer attraktiver wurde.
|| 7 Ernst Jünger betonte vielfach die Komplementarität der beiden Texte: Man habe es letztlich „mit zwei Seiten derselben Medaille“ zu tun, er habe „die, sagen wir, mythische Seite erblickt, und mein Bruder hat die unangenehmen Aspekte beschrieben, die sich daraus ergeben“ (E. Jünger 2019, 148). Er denke, „daß ‚Der Arbeiter‘ und ‚Die Perfektion der Technik‘ sich zueinander wie Positiv und Negativ einer Photographie des Phänomens verhalten“ (E. Jünger 2019, 449). Bei der Rede zum 70. Geburtstag des Bruders hält Ernst Jünger grundsätzlich fest, dass „die Auseinandersetzung mit der Technik einen wichtigen Teil unserer Arbeit und auch unserer Gespräche gebildet hat. Sie kreisen um die beiden Pole der Perfektion der Technik und der Gestalt des Arbeiters. Als Weltmacht hat die Technik nicht nur ihre Vorder-, sondern auch ihre Hintergründe, nicht nur ihre sich gegen das Firmament erhebende Höhe, sondern auch ihre Tiefe, die diese Erhebung garantiert, nicht nur ihre im Lichte wechselnde Erscheinung, sondern auch ihre dem Blick verborgene Gestalt. Merkwürdig erscheint mir, daß sich uns das Thema mehr aufgedrängt hat, als daß wir es gesucht hätten. Auch stellen die Schlüsse, die hier gezogen wurden, eher eine Planierung, eine Vorarbeit dar.“ (E. Jünger 1978a, 58–59). 8 Vgl. hierzu den Beitrag von Niels Penke in diesem Band.
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Im Moor, wo ich Torf stechen lasse, da es kaum scheint, daß man uns für den Winter Kohlen geben wird. Die Arbeit ist schwer. Als einziges Werkzeug dient der Torfspaten, ein langes und breites Messer von der Form eines Tortenhebers, mit einem Spatengriff. Damit wird der Torf geschnitten, und zwar zunächst in lange Bänder, aus denen man dann die Ziegel sticht. Bei dieser Gelegenheit sieht man dem Moor ins Innerste. Sein Faserwerk ist dunkel, prall vollgesogen und schwer wie Blei. Der Anblick gibt eine Vorstellung der ungeheuren Wassermengen, die durch die Moore gebunden werden, und von der Gefahr der Austrocknung einerseits, der Überflutung andererseits, wenn man die Natur dieser Quellböden beraubt“ (E. Jünger 1979c, 459–460),
liest man im Tagebuch Ernst Jüngers, der Eintrag stammt vom 31. Mai 1945. Interesse wird hier nicht nur der harten Arbeit des Torfabbaus als Praxis der „Kultivierung von Natur“ (Willer 2009, 47) entgegengebracht. Von der Beschaffenheit und Tiefenstruktur des Moors, das durch Ablagerung natürlicher Sedimente über sehr lange Zeiträume hinweg entstanden ist, geht offensichtlich auch eine nicht geringe ästhetische Faszination aus. Darüber hinaus heißt es: Die Arbeit im Moor ist entlegener, geheimnisvoller als die auf dem Felde. Gerade die Alten sieht man oft einsam die Törfe umsetzen. Besondere Mysterien gibt es dort auch. Das Moor gehört zu den großen Archiven der Welt. Sein Reichtum ähnelt dem der Königsgräber; das ist der Grund, aus dem es in einer Zeit des Schwundes gefährdet ist. Es fällt in den Verschleiß, die reine Beschleunigung des Umsatzes, die sich das Eintagsfliegendenken als Reichtum vorspiegelt. Schon drohen Maschinen, Bagger und Feldbahnen. Besser ist eine besondere Bearbeitung der Oberfläche, die es mit Wiesen übergrünt. „Moor muß Moor bleiben“, sagte mir dagegen ein alter Bauer und hatte mit diesem Weistum die Dinge auf die rechte Formel gebracht. Sie liegen außerhalb der Theorie, vor allem der ökonomischen. (E. Jünger 1979c, 460–461)
Die ‚Formel‘ des Alten zielt auf Bewahrung des Moors bzw. minimalinvasive Formen der Moorkultivierung ab. Das Weistum bzw. die Weisheit wird seit der Antike mit einem fortgeschrittenen Alter und damit großer Lebenserfahrung in Verbindung gebracht (vgl. Gunreben 2016; Hampe, Marchal 2021). Jüngers Aufwertung dieses erfahrungsgesättigten Wissens am Beispiel des alten Bauern korreliert mit der Abwertung anderer, beispielsweise theoretisch-abstrakter wissenschaftlicher Erkenntnisformen, für die bei beiden Brüdern Jünger mehr als genug Belege existieren, etwa Friedrich Georgs ironische Hymne an die Wissenschaft: „Ein Schlüssel ist sie dieser Welt, / Der alte Schätze zeigt. / Sie lehrt genau, wie man die Welt, / Die schöne Welt verspeist.“ (F. G. Jünger 1946, 57). Und Ernst Jünger – um nur ein, allerdings durch die Erwähnung des Sumpfes und den intertextuellen Verweis auf Adalbert Stifters Maler- und Moorerzählung Nachkommenschaften (1864; vgl. Willer 2009) äußerst passendes Beispiel zu nennen – ist überzeugt:
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Das detaillierte Wissen ist eher abträglich, zerstörend sogar. Scharfsinnige Gehirne haben eine Trasse gelegt, die den Geist bindet, ihn auf das ökonomische und technische Gerüst ablenkt und das Wissen schädigt, das höhere Absichten verfolgt. Ein Maler, ein Dichter, ein über den Wissensstoff erhabener Denker muß zugleich mehr und weniger, er muß mit anderen Augen sehen. Ein Maler etwa, der eine Idee des Sumpfes geben möchte, muß das Detail vermeiden oder, wenn er es bringt, in seinem Sinn erfassen; das Geheimnis muß geahnt werden. (E. Jünger 1982b, 87)
An dieser Stelle sollte auch Ernst Jüngers intensive entomologische Tätigkeit erwähnt werden, weil er sich dabei nicht als nüchterner Wissenschaftler, sondern als Liebhaber versteht, der um der Sache willen die „innere Kraft des ganzen Menschen“ (E. Jünger 1980b, 333) mobilisiert. Die ‚subtile Jagd‘ auf Käfer führt ihn immer wieder in moorige Feuchtgebiete als Habitat besonderer Arten. Zitiert seien nur zwei exemplarische Notate aus der Zeit, in denen Jünger kurz vor bzw. während des Zweiten Weltkriegs in Kirchhorst weilte: Nachmittags bei guter Sonne im Moor und dort im Wassermoos nach kleinen Hydrophilusarten gejagt. Bei dieser Arbeit glitt eine große Wasserspinne aus den Binsen auf den dunklen Spiegel des Torfstichs vor, an dem ich kauerte – tief sammetbraun mit filzig weiß gesäumtem Leib. In diesen Frühlingstagen flimmerten die Birkenreiser und die Stengel des Heidekrautes rundum im harten Licht, so daß der Eindruck des Frischgewachsenseins entsteht. (E. Jünger 1979b, 34) Sodann am Mikroskop, beim Studium der Wasserkäfer, die ich mit Alexander im Moor gefischt habe. Im Polster der schwimmenden Moose, die in den braunen Wassern der Torfstiche grünen, verbergen sich schon die Arten des hohen Nordens, die ich nun mit den westlichen vergleiche, wie ich sie aus den Bächen und Teichen des Pariser Beckens mitbrachte. (E. Jünger 1979c, 193)
„Moor muß Moor bleiben“ – in zwei Erzähltexten koppelt auch Friedrich Georg Jünger die Reflexion des Moors an ‚andere‘, nicht rein rational-instrumentelle Formen des Wissens. Interessanterweise ist es ebenfalls eine alte und zwei Mal dieselbe alte Person, die dieses verkörpert. Da ist zunächst im Band Die Pfauen (1952) die Erzählung Spargelzeit,9 deren Moorsetting unter Einsatz unterschiedlicher Sinneseindrücke zunächst atmosphärisch geschildert wird: || 9 In Ihrer Rezension für die FAZ schreibt Margret Boveri (1953): „Mit ‚Spargelzeit‘, der ersten Geschichte dieses Buches, fühlt sich der Leser in die Landschaft versetzt, die Friedrich Georg Jünger in seinen ‚Grünen Zweigen‘ so wunderbar als die Landschaft von seiner und seines Bruders Ernst Kinderzeit geschildert hat. Es geht sehr still hier zu, aber diese Stille ist wie der Urgrund eines Bildes, vor dem alle Gegenstände – Bäume und Tiere und Menschen – ein merkwürdig intensives, manchmal heiteres, manchmal unheimliches Leben gewinnen, wo nichts sich
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Das Moor grünt, die Moose schwellen von Feuchte, und die Sträucher strömen einen starken Duft aus. Dort stehen Gagel, Porst, junge Birken, und die Luft ist ganz süß von ihrem Duft. In den schwarzen und braunen Torfstichen, deren Ränder rot von Sonnentau sind, spiegelt sich der klare Himmel. Blaue und grüne Libellen schwirren über den Boden, der weich wie ein Teppich ist, und Kiebitze und Brachvögel rufen in der Luft. Kein Mensch weit und breit. (F. G. Jünger 1952, 7–8)
Als eigenständiger Raum erscheint das Moor auch deshalb, weil er als Teil bzw. Zentrum eines strukturierten Landschaftsensembles inszeniert wird, das von mehreren Grenzen und Übergangszonen umschlossen ist: Um das Moor herum aber liegen die Wiesen und Weiden. Da gibt es Auwälder […], Büsche, Wallhecken und mannigfaches Grün. […] Jetzt aber kommt die Straße und an der Straße das Dorf. Der Boden wird trockener, die Felder beginnen, der Gesang von unzähligen Lerchen wirbelt in die Lüfte. (F. G. Jünger 1952, 8)
Die Erzählung kommt „ohne durchgehende Fabel“ (Hädecke 1980, 77) aus, deshalb kann die „alte Mutter Mackeben“, an die sich der namenlose autodiegetische Erzähler erinnert, auch guten Gewissens ohne weitere Kontextualisierung vorgestellt werden: „Sie kannte jeden, wußte alles und hatte einen Sack Geschichten bei sich, so groß und umfangreich, wie er werden kann, wenn achtzig Jahre lang in ihn etwas hineingetan wird“ (F. G. Jünger 1952, 9), erfährt man. Die alte Frau kann auf ein langes Leben zurückblicken und wird daher vom Erzähler als Weisheitsinstanz ernstgenommen. Als solche verfügt sie – unabhängig davon, ob sie in der Sache Recht hat – über ein Bewusstsein für den Kreislaufcharakter des Wassers und für die Schädlichkeit des exzessiven Torfabbaus: „Ja, früher hat es hier mehr geregnet. […] Du lieber Himmel, was waren das für Regen! […] Grau in grau, nichts als Grau, als ob das Land ein Schwamm wäre. Damals gab es mehr Frösche, und die Frösche riefen lauter vom Moor her. Es gab auch mehr Störche als heute, wo nur noch ein Nest im Dorf ist.“ „Mir ist selbst“, sagte ich, „als ob es früher mehr geregnet hätte. Aber doch nicht deshalb, weil keine Spargel hier waren.“ „Es kommt daher, daß sie das Moor immer mehr abgraben. Dadurch wird das Wasser weniger, denn es fällt kein Tropfen vom Himmel, der nicht auf der Erde war.“ (F. G. Jünger 1952, 10–11)
Intertextuelle Bezüge unterhält Spargelzeit zur Erzählung Im Moor, die erst aus dem Nachlass im Rahmen der (äußerst dürftigen) Werkausgabe veröffentlicht
|| regt und auch nichts verstummt, ohne daß anderes und andere dadurch berührt und zur Antwort oder zur Gegenwehr getrieben werden.“
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wurde. Die ersten Zeilen des autodiegetisch vermittelten Textes evozieren einen landschaftlichen Gesamteindruck und sind zugleich zahlreichen Detailbeobachtungen gewidmet: Das Moor beginnt unweit vom Dorf, jenseits der Landstraße, an der die Häuser liegen. Vor ihm liegt noch ein Gürtel von grünen Weiden, auf denen im Sommer die schwarzweißen Kühe stehen […]. Zart und nahrhaft ist das Gras nicht, denn diese Wiesen sind dem Moor abgewonnen, sind auf sauren Böden angelegt worden. In den Gräben, in denen schwarzes Wasser steht, wachsen Schilf, Schwertlilien und Kalmus. Dort, wo die Wiesen enden, stehen Wäldchen, in denen die Espen überwiegen; in ihnen ist immer ein Flüstern und Rauschen von Blättern. […] Hinter den Wäldchen beginnt schon das Moor, und sogleich verändert sich alles. Dort stehen noch Kiefern, die kein Förster pflanzte, nicht nach der Schnur gesetzt, nicht stattlich, sondern krumm und schief, oft mehr Büsche als Bäume. Die Kiefern enden dort, wo das nasse Moor beginnt. Weiter noch wagt sich die Birke vor und nutzt dabei die Bulten, die höher liegen und trockener sind. (F. G. Jünger 1978, 243)
Straße, Weidegürtel, Graben, Wäldchen – Grenz- und Transitzonen, die durchquert werden müssen, um zum Moor zu gelangen – eine Bewegung vom Trockenen zum Nassen, von der Zivilisation in die Wildnis. In Ernst Jüngers Auf den Marmorklippen (1939) ist es das „Moor- und Schilfgelände“ selbst – hier wird „das Land ganz trügerisch und schwankend und den Gefilden ähnlich, die man in Träumen sieht“ (E. Jünger 1978b, 305) –, die als Schwellen- und Übergangsraum in der komplexen symbolisch codierten Topographie des Romans fungiert. Doch zurück zu Im Moor, wo der Erzähler weiter ausführt, dass das Moor als Ökosystem „ein großer Speicher“ sei, wobei er sich auf Wasser bezieht und nicht, wie es im Wissen um den anthropogenen Klimawandel für uns naheliegt, auf Kohlenstoffdioxid: Es hat eine saugende Kraft und nimmt gewaltige Mengen von Wasser auf. Im Frühling, wenn die Moospolster saftig werden, wölben sie sich und schwellen zu grünen Hügelchen an. Dunst steigt dann von den feuchten Flächen auf, und Schwaden von weißem Nebel streichen über sie dahin. (F. G. Jünger 1978, 244)
Ohne Vorankündigung wird im Text dann wie in Spargelzeit die Figur der alten Bäuerin „Mutter Mackeben“ eingeführt. Die harmonischen Begegnungen und Gespräche mit ihr ruft sich der Erzähler ins Gedächtnis: Wenn Mutter Mackeben behauptete, daß das Land trockener wurde, als man anfing, Gräben durch Teile des Moors zu ziehen, es entwässerte und Wiesen anlegte, mochte sie recht haben. […] Ich sprach mit der alten Bäuerin auch über das Moor […]. Als Mädchen war sie dann mit zum Torfstechen gegangen. Der Torf musste handlich gestochen, mußte luftig geschichtet werden. „Das kam mich hart an“, sagte sie. „Bück dich, bück dich, hieß es da, bis der Rücken krumm wurde und schmerzte.“ (F. G. Jünger 1978, 244)
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Ihre Schilderung des Torfabbaus etabliert ein kulturgeschichtliches Wissen im Text, dass die vornehmlich naturkundlichen Beobachtungen des Erzählers ergänzt: „Wald hatten wir nicht, und das Holz, das gekauft wurde, war teuer. Daß mit Kohlen geheizt wurde, war bei uns noch neu und kam erst später auf. Deshalb roch es auch in den Dörfern überall nach Torf […].“ (F. G. Jünger 1978, 245). Eine erzählerische Dynamisierung erfährt der Text durch die grundsätzliche Meinungsverschiedenheit zwischen den beiden Protagonisten, denn die ausgedehnten, aus freien Stücken unternommenen Moorspaziergänge des Erzählers kann die alte Frau nicht nachvollziehen: „Bist du wieder im Moor gewesen? Was tust du nur immer dort?“ Sie hat Moore zeit ihres Lebens ausschließlich als Stätte harter körperlicher Arbeit kennengelernt und sich diese reine pragmatische Sicht bewahrt: „Wir Mädchen […] gingen ins Moor nur, wenn wir hingehen mußten. Im Moor waren wir nur dann, wenn Torf gestochen oder eingebracht wurde.“ (F. G. Jünger 1978, 245). Darüber hinaus seien Moore generell „unheimlich“, speziell in der Nacht: „Schon die Geräusche sind dann anders; du hörst allerlei, was du am Tage nicht hörst. […] Es gluckert und seufzt dann überall.“ Sie mahnt zur Vorsicht, denn man laufe leicht Gefahr, regelrecht „irr“ (F. G. Jünger 1978, 247) zu werden. Bei dieser Einschätzung des Moors als Phobotop nimmt Mutter Mackeben auch auf Sagen und Legenden über „Moorfrauen“ Bezug: Wenn du in der Dämmerung im Moor bist und weißt nicht mehr, wohin du gehen sollst, ist es so, als ob jemand dir winkte. Du siehst etwas Weißes, das dir zuwinkt, und denkst, es ist ein weißes Tuch oder ein weißer Arm. Wenn du aber darauf zugehst, ist es, wie du sagst, du sinkst ein oder fällst in einen Torfstich. (F. G. Jünger 1978, 248)
Für all das habe, so ihr Vorwurf, der Erzähler als „ungläubiger Thomas“ (F. G. Jünger 1978, 248) keinen Sinn. In der Tat weiß er die Schilderungen der alten Frau wohl einzuordnen. Für ihn zählt einzig und allein die landschaftliche Schönheit, das Wort „Pracht“ fällt gleich zwei Mal (vgl. F. G. Jünger 1978, 245 und 249). Besonders fasziniert scheint er davon zu sein, dass sich die Moorlandschaft in Frühling, Sommer, Herbst und Winter von ganz unterschiedlichen Seiten präsentiert. Man sei „arm daran“, wenn man das „Glück der Jahreszeiten“ (F. G. Jünger 1978, 249) nicht mehr kenne. Er weiß zugleich, dass es aussichtslos ist, der alten Frau sein intensives ästhetisches und also nicht-instrumentelles Verhältnis zum Moor zu erklären. Sowohl ihren Pragmatismus und seine Naturbegeisterung als auch ihren Aberglauben und seine Aufgeklärtheit flaggt der Text als unvermittelbare Positionen aus. Jedenfalls ist es für den Erzähler eine Selbstverständlichkeit, wie es Friedrich Georg Jünger an anderer Stelle formuliert, „jeder Landschaft […] eine ihr eigene Schönheit zuzugestehen“, und zwar „auch den Landschaften, die früher für öde und trist gehalten wurden, den Wüsten, Mooren, Brüchen, Sümpfen,
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Sandstrichen“ (F. G. Jünger 1966b, 76). Denn es sind keine konkreten landschaftlichen Merkmale, die auf Seiten des Subjekts den Modus ästhetischer Wahrnehmung auslösen, sondern umgekehrt: „Der Mensch legt sein Denken und Empfinden in die Landschaft hinein und beseelt und vergeistigt sie nach seinem tiefsten Bedürfnis, und wie in einem Spiegel sucht und findet er sein eigenes Gesicht in ihr.“ (F. G. Jünger 1966b, 76). Erst am Ende des Textes gibt sich der Erzähler als musisch gestimmter Naturdichter zu erkennen, indem er vor der Folie einer knapp skizzierten Erinnerungspoetik ein eigenes Moorgedicht präsentiert. Die 34 Verse, zuerst 196110 und später im Band Es pocht an der Tür publiziert (vgl. F. G. Jünger 1968, 27–28), rücken erneut die phobotopischen Qualität des Moors in den Vordergrund, indem die vielfältigen sinnlichen und durchaus bedrohlichen Eindrücke einer Moorwanderung zur Darstellung gelangen: Wenn ich zurückdenke und mich meiner Gänge im Moor erinnere, wiederhole ich sie. An wolkenleeren Tagen ist der ferne Horizont in blauen Duft gehüllt, und so ist im Erinnern der Duft der Ferne. Vergangenes bewegt sich, bewegt uns; ein neues Leben ist in ihm. So ging es mir, als ich das folgende Gedicht aufzeichnete: Gang im Moor Schatten überlaufen handbreit Die Finger des roten Lichts. Die Schwärze bäumt sich Im fliehenden Scharlach auf. In bildloser Dämmerung Verlor ich den Weg. Den Gefährten des Weges Verlor ich im Dunkel. Sein Gesicht welkte beim Hinsehn Und wurde dürftig Gleich dem Löffel von Blei Schmolz die Stirn dahin. Nebel ziehen jetzt An des Flusses Krümmungen. Im Laub der Esche Hebt die weiße Schlange ihr Haupt.
|| 10 Im Jahresring 61.62 (hg. vom Kulturkreis im Bundesverband der Deutschen Industrie. Stuttgart: DVA 1961, 104).
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Der Schattenbläser läuft Über das herbstliche Moor. Der Mondlichtpfeiler seufzt Auf der Freistatt der Winde.
Die Gräser nesteln an mir, Schwarzes Kraut hält mich auf, Und die Rute des Strauchs Schlägt ins Gesicht mir. Vor dem Spähenden Vergeht das Licht, Vor dem Suchenden Schwindet der Ausblick. Mich beschlägt kalter Wind. Klagen hör ich Mein waidwundes Reh Im Nebel des Buschwalds. (F. G. Jünger 1978, 249–250)
5 Schluss Es sind Gedichte wie diese, wegen denen Friedrich Georg Jünger im literarischen Feld der Bundesrepublik zumeist als Traditionalist eingeordnet wurde. „Natur-, Sumpf- und Moordichter“ (Bender/Höllerer 2009, 26; vgl. auch Holthusen 1953, 321) waren es, die zwar eine breite Leserschaft fanden, aber nicht selten unter Epigonalitäts- und Eskapismusverdacht gestellt wurden. Dass jedoch eine von derartigen Werturteilen freie Charakterisierung der Brüder Jünger als ‚Natur-, Sumpf- und Moordichter‘ durchaus zutreffend ist, konnte hier gezeigt werden – wenigstens, wenn man die Einschränkung akzeptiert, dass damit lediglich eine unter vielen charakteristischen ‚Rollen‘ beider Autoren bezeichnet ist. Lässt man all die Moor-Passagen Revue passieren, nimmt es auch nicht Wunder, dass Ernst Jünger an einen Roman wie Horst Langes Schwarze Weide (1937) die „vollkommene Beherrschung der Sumpfwelt mit ihrer Fauna und Flora und ihrem gärenden Leben“ bewunderte und auch Langes Irrlicht (1943) als präzise Schilderung von Mooren und Sümpfen wahrnahm, „in denen die Kräfte des Untergangs am stärksten leben, ja in denen Fruchtbarkeit von ihnen entfaltet wird“ (E. Jünger 1979c, 201). Ich führe diese Stellen an, weil das Werk Langes ein prädestinierter Ausgangspunkt für eine literaturgeschichtliche Kontextualisierung der Moorpoetik der Brüder Jünger wäre, die auf den vorangegangenen Seiten weitgehend
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ausgeklammert werden musste. Schließlich lag der Schwerpunkt auf einer vorläufigen Systematisierung anhand der Schwerpunkte Autobiographie, Metaphysik und Technik- bzw. Kulturkritik, die trotz fließender Übergänge und zahlreicher motivisch-symbolischer Nuancierungen, denen gesondert nachzugehen wäre, einen heuristischen Mehrwert hat. Zudem konnte am konkreten Beispiel des Moors gezeigt werden, wie verwandt die Werke Ernst und Friedrich Georg Jüngers sind, wie eng sie sich stellenweise berühren, wie einleuchtend es ist, sie interpretatorisch aufeinander zu beziehen. Die wohl zentrale Signatur der vielschichtigen Jüngerschen Moorpoetik ist die heterochronotopische11 Semantisierung des Moors, das Zusammenwirken von Gegenräumlichkeit und -zeitlichkeit. Das Moor wird als ‚anderer‘, ursprünglicher, herrschaftsfreier Raum inszeniert, der über eine „eigene, unverletzte Kraft“ (F. G. Jünger 1954, 110) verfügt. In ihm scheint die Idee einer Suspendierung des hegemonialen Zeit- und Geschichtsregimes der technokratischen Moderne und ihrer Zumutungen und Zurichtungen auf. Es ist dieses sehr allgemein zu verstehende Widerstandspotential des Moors, das es für Ernst und Friedrich Georg Jünger im Kontext der von ihnen reklamierten Opposition gegenüber allen politischen Systemen und gesellschaftlichen Machtapparaten – über die politischen Zäsuren von 1939 und 1945 hinweg – zu einer präferierten Landschaft macht. Auch im ‚Moorgang‘, um aus Ernst Jüngers Waldgang zu zitieren, „betrachten wir die Freiheit des Einzelnen in dieser Welt“, auch der Moorgänger orientiert sich, wie der Waldgänger, an jenen „Mächten, die den zeitlichen überlegen und niemals rein in Bewegung aufzulösen sind“ (E. Jünger 1980a, 297 und 316). Doch diese natürlich-geistige Ressource ist in dem Maße bedroht, wie die Moore entwässert und beim Torfabbau ruiniert werden, wie die Brüder Jünger als Repräsentanten einer konservativen Ökologie betonen. Die Geschichte der Moorlandschaften ist die Geschichte ihrer Zerstörung: „Noch gibt es Sümpfe, doch selbst durch das Amazonasbecken werden schon Straßen gelegt.“ (E. Jünger 1978c, 443). Ernst und Friedrich Georg Jüngers Moorpoetik ist vor diesem Hintergrund ein melancholisches Bewusstsein für das faktische Verschwinden ihres Gegenstandes stets eingeschrieben. In einem am 10. Mai 1942 in Kirchhorst geschriebenen Brief an seinen Bruder Friedrich Georg hält Ernst Jünger mit Blick auf die „Ungunst der Zeiten“ fest:
|| 11 Diese Zusammenführung der Chronotopos- und Heterotopie-Begriffe Bachtins und Foucaults ist nicht meine Erfindung, sondern findet sich allenthalben in der einschlägigen Forschung, ohne dass die Urheberin oder der Urheber dieses Neologismus bekannt wäre.
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Die Sonne bleibt ja dieselbe und das Wasser auch, ebenso die Erde; dieser Konstanz gegenüber sind alle Veränderungen flüchtig, die sich in der Gesellschaft vollziehn. Ich dachte das gestern noch im Moor, das ja wie jede Urlandschaft heilsame Kraft besitzt. Das gehört zu den Vorteilen dieses Hauses, daß man von ihm aus in einer Viertelstunde Weges einen Raum aufsuchen kann, an dem Jahrtausende kaum etwas veränderten. Man müßte sich das noch ganz anders in’s Bewußtsein rufen – so ist doch der Torf, auf dem man dort so achtlos schreitet, weit kostbarer als alle Minen von Peru. (DLA Marbach, Nachlass Ernst Jünger)
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Isabel von Holt
Entremeios: Die bewegliche Landschaft des Pantanals bei João Guimarães Rosa Zusammenfassung: Ausgehend von Manoel de Barros’ Aussage, João Guimarães Rosa sei es als einem der wenigen Schriftsteller gelungen, dem Pantanal gerecht zu werden, da er es transfiguriert und zugleich anthropomorphisiert habe, untersucht dieser Beitrag die literarische Repräsentation dieses größten Feuchtgebiets der Erde in Rosas Erzählung Entremeio – Com o vaqueiro Mariano aus dem Jahr 1947. Als ausgewiesene estória oszilliert dieser Text zwischen oraler und schriftlicher Erzähltradition sowie zwischen regionaler Spezifik und universal-metaphysischem Gehalt. Der Aufsatz legt dar, dass und wie dieses Dazwischen (das titelgebende Entremeio) der textuellen Verfahren und Verfasstheit das Dazwischen der dargestellten Landschaft reflektiert und dabei koloniale Schreibweisen auf subversive Weise unterläuft. Rosas Erzählung des Pantanals wird damit als ein Akt des Widerstands lesbar.
1 Das Pantanal in Historien und estórias Die Region des Pantanals im äußersten Westen Brasiliens, deren Name vom portugiesischen Wort pantano (zu Deutsch: Sumpf) abgeleitet ist, bezeichnet als größtes Feuchtgebiet der Welt eine ausgedehnte geographische Region mit einer einzigartigen Physiognomie. Vegetation und landschaftliche Beschaffenheit variieren in der 400.000m2 großen Region stark. Das Hauptmerkmal ist dabei der saisonale Wechsel von Überschwemmungen (zwischen Oktober und März) und Trockenzeiten (von April bis September). Dieser Rhythmus des Wassers bringt eine sich stets wandelnde Landschaft hervor. Das Pantanal widersetzt sich damit, wie andere Feuchtgebiete auch, seiner Systematisierung sowie der Produktion von wissenschaftlichem Wissen, was sich bereits deutlich an den europäischen Chroniken des 16. Jahrhunderts ablesen lässt. Dort wird die Region aufgrund ihrer Determination durch den Rhythmus des Wassers als bloße Passage, als Durchgangs- und Transitraum charakterisiert. Während sich die dort ansässigen Indigenen mit Hausbooten und Kanus als Fortbewegungsmitteln an ihre Umwelt angepasst hatten, war für die fremden Europäer die Orientierung in diesem Gebiet sowie seine Kartierung geradezu unmöglich,
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weshalb die Chronisten zum Teil in eine Trägheit und einen Unwillen verfallen zu sein scheinen, diese bewegliche Landschaft überhaupt zu erzählen.1 Der Spanier Antonio de Herrera beschreibt die Region in seiner Historia general de los hechos de los castellanos en las Islas y Tierra Firme del mar Océano que llaman Indias Occidentales, auch bekannt unter dem Titel Décadas, zu Beginn des 17. Jahrhunderts erstmals als eine Lagune (Laguna de los Xarayes). Über zwei Jahrhunderte hält sich diese fälschliche Vorstellung, die auf den Ausführungen eines Historikers beruht, der selbst niemals in der Gegend (geschweige denn außerhalb Europas) gewesen ist. Erweitert wird dies in der Mitte des 17. Jahrhunderts durch die Kartographien der Jesuiten vor Ort, die, obwohl sie in der Region lebten, mit Rückgriff auf die Chronik des in Paraguay geborenen Kolonisators Ruy Díaz de Guzmán in der Lagune von Xarayes die sogenannte Paradiesinsel lokalisierten. Dort sollte sich, dem Namen entsprechend, das irdische Paradies befinden. Dass es sich bei der Beschreibung der Amerikas als Figuration des Garten Eden in den europäischen Chroniken der Frühen Neuzeit um eine gängige koloniale Diskursformation handelt, hat Sérgio Buarque de Holanda in seiner grundlegenden Studie Visão do paraíso. Os motivos edênicos no descobrimento e colonização do Brasil nachgewiesen. Mit Blick auf das Pantanal gewinnt dies jedoch besondere Brisanz, da hier die natürliche Wechselhaftigkeit der Landschaft mit der Idee eines verborgenen metaphysischen Raums überschrieben wird. Die Region, die sich aufgrund ihrer Unbeständigkeit jeglicher Einordnung entzieht, wird als idealer Topos passend gemacht. Erst die Expeditionen portugiesischer Kolonisatoren Mitte des 18. Jahrhunderts, die sogenannten Monções, verliehen dem Gebiet angesichts der saisonalen Überschwemmungen den Namen Pantanal. Die literarische Strömung des brasilianischen Regionalismus ist im Zuge der Romantik im 19. Jahrhundert entstanden und schreibt sich in realistischer und modernistischer Ausprägung bis weit ins 20. Jahrhundert fort. Vor allem im vergangenen Jahrhundert findet sich die Tendenz, die Beziehung zwischen Mensch und Natur zu problematisieren sowie Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten zu hinterfragen. Vor diesem Hintergrund stellt João Guimarães Rosas Werk aufgrund seines einzigartigen Stils einen, wenn nicht sogar den Höhepunkt dieser Tradition dar, denn in seinen Texten geht die eigenwillige, regionale Mündlichkeit mit der Standardsprache völlig neuartige Verbindungen ein, was seiner Prosa lyrische Eigenschaften verleiht. Einen Großteil seiner Erzählbände bezeichnet Rosa im Titel als Sammlungen von estórias: Primeiras Estórias (1962), Tutameia – Terceiras Estórias (1967) || 1 Hinsichtlich des kolonialen Diskurses über das Pantanal beziehe ich mich auf Costa 1999.
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Estas Estórias (postum, 1969), Antes das Primeiras Estórias (2011). Das „neue“ Genre estória stellt Rosa in seinem ersten Vorwort Aletria e Hermenêutica zu Tutameia vor: „A estória não quer ser historia. A estória, em rigor, deve ser contra a Historia. A estória, as vezes, quer-se um pouco parecida à anedota.“ (Rosa 1968, 7). [Die estória will nicht Geschichte sein. Die estória muss streng genommen gegen die Geschichte sein. Manchmal ähnelt die estória ein bisschen der Anekdote.]2 Die estória ist damit für Rosa fast schon programmatischer Ausdruck einer Gegengeschichte, da sie von der offiziellen Historiographie übergangene und marginalisierte Personen bzw. Figuren zum Sprechen bringt.3 Letzteres hat sie wiederum mit der Anekdote gemeinsam, ebenso wie das Merkmal der Oralität, da beide Textsorten kurze, zunächst mündliche Erzählungen sind. Außerdem zeichnet sich die estória durch ihren volkstümlichen Ursprung und eine gewisse metaphysische Wahrnehmung der Ereignisse aus. Der Text Entremeio – Com o vaqueiro Mariano [Dazwischen – Mit dem Viehtreiber Mariano] ist in dem Band Estas Estórias erschienen, womit er als eine solche Erzählung ausgewiesen ist. Unter dem Titel Com o vaqueiro Mariano (das vorangestellte Entremeio wurde erst nachträglich hinzugefügt) war der Text erstmals in drei Teilen zwischen Oktober 1947 und März 1948 in der brasilianischen Tageszeitung Correio da manhã erschienen.4 1952 folgte eine auf 110 Exemplare limitierte, rasch vergriffene, von Darel Valença illustrierte und vom Autor signierte Ausgabe. Obwohl dieser Band damit eine Art zweites Buch des zu jener Zeit bereits durch seinen Erzählband Sagarana (1946) berühmten Autors angesehen werden kann, hat der Text bis heute relativ wenig Beachtung gefunden. Mit dem ‚peripheren‘ Pantanal beschäftigt sich die Forschung zu Rosas Werk bislang nur am Rande.5 Das Jahr der Erstveröffentlichung von Com o vaqueiro Mariano, 1947, ist aufschlussreich, denn es setzt den Text in einen direkten Zusammenhang mit einer Exkursion, die Rosa im Juli desselben Jahres ins Pantanal unternommen hat. Diese Reise hat vergleichsweise viele Texte hervorgebracht, die zuerst, wie Com o vaqueiro Mariano, in Zeitungen und danach postum gesammelt in dem Band Ave, Palavra von 1970 publiziert wurden: Sanga Puytã (Correio da Manhã, || 2 Die Übersetzungen sind, wenn nicht anders markiert, meine eigenen. 3 Rosas Unterscheidung von estória und Geschichte wurde von diversen Studien in den Fokus genommen. Einen Forschungsüberblick liefert Sarrapio 2016, 7. 4 „I“ wurde am 26. Oktober 1947 veröffentlicht, „II“ am 22. Februar 1948 und „III“ am 7. März 1948. Die Unterteilung des Textes in drei Kapitel wurde auch in späteren Editionen beibehalten. 5 Einschlägige Studien scheint es kaum zu geben. In jüngster Zeit haben sich vorrangig Nachwuchwissenschaftler*innen in ihren Qualifikationsschriften diesem Text gewidmet, wie die Arbeiten von Vilhena 2017 und Pereira 2018 zeigen.
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Rio de Janeiro, 17. August 1947), Cipango (Folha da Manhã, São Paulo, 17. Februar 1952), Ao Pantanal (Diário de Minas, Belo Horizonte, 5. April 1953) und Uns índios – sua fala (Letras e Artes, Rio de Janeiro, 25. Mai 1954). Joana Passi de Moraes hat Rosas bislang wenig erschlossene Expedition ins Pantanal, die von der Universidade do Brasil in Rio de Janeiro organisiert worden war, rekonstruiert und diese auf Juni und Juli 1947 datieren können (de Moraes 2018, 200). Es wird deutlich, dass nur eine kurze Zeitspanne zwischen der Reise und der Veröffentlichung der ersten daraus resultierenden Texte liegt, nämlich Sanga Puytã und Com o vaqueiro Mariano. Es lässt sich daraus schließen, dass sie sehr rasch verfasst wurden und geradezu unmittelbar von den Eindrücken im Pantanal geprägt sind. Die Datierung ist auch deshalb relevant, weil einige Leser*innen bis heute davon ausgehen, dass Rosas Exkursion ins Pantanal 1952 bzw. 1953 stattgefunden habe. Dazu beigetragen hat u. a. ein Interview mit dem Lyriker Manoel de Barros, der sich seinerseits einer poetischen Verortung und Verhandlung des Pantanals im (brasilianischen) Bewusstsein verschrieben hat. Barros erinnert sich in jenem Interview an eine Begegnung mit Rosa im Pantanal im Juni 1953, was die Forschung gar dazu angehalten hat, Barros mit dem vaqueiro Mariano zu identifizieren.6 Nun weist Barros’ Bericht hinsichtlich dieser Begegnung mit Rosa einige zeitliche Inkohärenzen auf, weshalb auch sein direkter Einfluss auf die Erzählung Com o vaqueiro Mariano unwahrscheinlich ist.7 Auch wenn die tatsächlichen Umstände der Begegnung zwischen beiden Autoren im Dunklen liegen, ist Barros’ Einschätzung des literarischen Schreibens über das Pantanal im Allgemeinen und Rosas poetischen Verdienst im Besonderen jedoch relevant: Quis saber, ele [Rosa], ainda, de meus receios sobre as confusões com o exótico. […] Dei a entender que se estava olhando o Pantanal só como uma coisa exótica. Um superficial para só se ver e bater chapa. Mesmo os que cantavam em prosa e verso ficavam enumerando bichos, carandás, aves, jacarés, seriemas; e que essa enumeração não transmite a essência do pantanal, porém só sua aparência. Havia o perigo de se afundar no puro natural etc. Precisamos de um escritor como você, Rosa, para frear com a sua estética, com a sua linguagem calibrada, os excessos de natural. Temos que enlouquecer o nosso verbo, adoecê-lo de nós, a ponto que esse verbo possa transfigurar a natureza. Humanizá-la. Rosa fez tudo isso. (Barros 1990, 341)
|| 6 Siehe u. a. den Autor Paulo Ribeiro. Für das Interview siehe Barros 1990, 323–343. 7 1953 war Com o vaqueiro Mariano bereits erschienen. Dass sich Barros im Jahr geirrt und das Jahr 1953 mit dem Jahr 1947 verwechselt hat, ist ebenfalls unwahrscheinlich, da Barros zu jener Zeit noch in Rio de Janeiro lebte und nach eigener Aussage erst 1949 nach Corumbá ins Pantanal zurückgekehrt ist und sich dort niedergelassen hat. Siehe dazu Vilhena 2017, 145–147.
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[Er [Rosa] wollte auch wissen, welche Vorbehalte ich vor einer Verwechslung mit dem Exotischen hätte. […] Ich gab zu verstehen, dass das Pantanal nur als etwas Exotisches betrachtet würde. Ein oberflächlicher Ort, der nur angeschaut wird und das war’s. Selbst diejenigen, die in Prosa und Versen davon sangen, zählten immer wieder nur Tiere auf, Carandás [eine regionale Palme], Vögel, Kaimane, Seriemas [eine bodenlebende Vogelart]; und dass diese Aufzählung nicht das Wesen des Pantanals vermittelte, sondern nur seine Erscheinung. Es bestand die Gefahr, in der reinen Natur zu versinken etc. Wir brauchen einen Schriftsteller wie dich, Rosa, der mit seiner Ästhetik, mit seiner kalibrierten Sprache, die Auswüchse des Natürlichen eindämmt. Wir müssen unser Wort in den Wahnsinn treiben, es von uns krank machen, bis zu dem Punkt, an dem dieses Wort die Natur verklären kann. Sie vermenschlichen. Rosa hat dies alles getan.]
Barros’ Urteil kann den folgenden Überlegungen als Ausgangspunkt dienen. Auch wenn Entremeio – Com o vaqueiro Mariano im Fokus der Analyse stehen wird, lohnt es sich, zuvor den Blick auf die Texte Sanga Puytã sowie Ao Pantanal zu richten, die im Umkreis von Rosas Expedition ins Pantanal entstanden sind. Die Auseinandersetzung mit Sanga Puytã, der als erster Text nur wenige Wochen nach Rosas Exkursion publiziert wurde, ist aufschlussreich, da das Pantanal als Grenzraum vorgestellt wird. Aufgrund seiner Beschaffenheit als Feuchtgebiet verschwimmen die Grenzen zwischen fest und flüssig, Erde und Wasser ineinander. Darüber hinaus ist das Pantanal ebenfalls ein politisches Grenzgebiet, da seine westlichen und südwestlichen Ausläufer sich in die Territorien Boliviens und Paraguays erstrecken und damit auch in mehrere Sprachgebiete und Kulturräume. In Sanga Puytã, der Name eines Ortes an der paraguayisch-brasilianischen Grenze, werden diese Elemente miteinander verbunden. Ao Pantanal beschreibt die Passage von Corumbá, der sogenannten Hauptstadt des Pantanals, zur Fazenda Firme in Nhecolândia, wo Com o vaqueiro Mariano spielt. Es ist verlockend, diesen kurzen Text in direktem Zusammenhang mit der längeren Erzählung zu lesen, als Anreise des Erzählers zur Fazenda Firme, unmittelbar vor seiner Begegnung mit Mariano.8 Es werden in Ao Pantanal verschiedene Elemente aufgegriffen bzw. vorbereitet, die in Com o vaqueiro Mariano von zentraler Bedeutung sind, so u. a. die von Barros erwähnte poetische Transfiguration. Schließlich sind auch die Erzähltexte selbst hybrid, da sie sich einer genauen Einordnung entziehen. Während Com o vaqueiro Mariano als estória zwischen oraler und schriftlicher Erzähltradition sowie zwischen regionaler Spezifik und universal-metaphysischem Gehalt changiert, oszillieren Sanga Puytã und Ao Pantanal zwischen logbuchartiger Reisereportage und || 8 Vilhena weist darauf hin, dass auch hier die Datierung diesen Schluss nicht zulasse – die Reise Ao Pantanal findet am „11 de junho“ (Rosa 1970, 170) [11. Juni] statt, Entremeio: Com o vaqueiro Mariano „[e]m julho“ (Rosa 2017, 94) [im Juli] (2017, 180).
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poetischer Verdichtung, Dokumentation und Fiktion. Das Dazwischen [entremeio] der textuellen Verfahren und Verfasstheit reflektiert das Dazwischen der dargestellten Landschaft, sodass Inhalt und Form korrespondieren.
2 Von Sanga Puytã ins Pantanal In Sanga Puytã wird das Pantanal in der Grenzregion von Brasilien und Paraguay aufgrund der Bewegung an und über die politische und physische Grenze eine „zona de osmose“ (Rosa 1970a, 20) [Zone der Osmose] genannt. Damit ist die Bewegung von Gütern, Menschen und Sprachen gemeint, die mit der Bewegung des Wassers parallelisiert wird. So wird bemerkt, dass dort eine bizarre Sprache zu den Besucher*innen spreche. Diese reflektiere die poröse Landschaft, in der eine eigene Kultur aus dem Zusammenfluss des Paraguayischen und Brasilianischen entstehe, nämlich “[]as terras de tangência amorosa, em que os sangues diversos se influem; []esse povo fronteiro, misto, que, cá e lá, valha chamarmos brasilguaios, num aceno de poesia” (Rosa 1970a, 20) [die Länder in verliebter Berührung, in der sich verschiedenes Blut beeinflusst; dieses Grenzvolk, gemischt, das wir, hier wie dort, ebenso gut brasilguayisch nennen könnten, mit einem Hauch von Poesie]. Wie die Gewässer des Pantanals ineinanderfließen, vermischt sich auch das Blut, wobei schon im Namen des Grenzortes, den Rosa beschreibt und der dem Text seinen Titel verleiht – Sanga Puytã – das portugiesische Wort sangue (Blut) anklingt und somit suggeriert, dass der Ort dies schon in seinem klingenden, sprechenden Namen trägt. Die liquide Metaphorik des Wassers und des Blutes wendet Rosa dann auch an, um die beiden Elemente der Mischung zu beschreiben: „o Paraguai, individualizado, talvez já pronto, é extravasante; o Brasil, absorvente, digeridor, vai assimilando todos os elementos, para os plasmar definitivamente. Às vezes, aqui ou ali, há refluxos.“ (Rosa 1970a, 21) [Paraguay, individualisiert, vielleicht schon fertig, ist ausufernd; Brasilien, absorbierend, einverleibend, nimmt alle Elemente auf, um sie endgültig zu gestalten. Manchmal, hier oder dort, gibt es Rückflüsse.] Das Wort refluxo hat zwei Bedeutungen, die beide jeweils mit den im Text aufgerufenen Flüssigkeiten – Blut und Gewässer des Pantanals – in Verbindung stehen. So benennt es zum einen den Rückfluss des Blutes zum Herzen, zum anderen bedeutet refluxo übersetzt Ebbe und ist ein Synonym für vazante, was wiederum die Trockenzeit im Pantanal bezeichnet (im Gegensatz zur enchente als Überschwemmungszeit). Der Begriff refluxo bezieht sich damit auf den lebensnotwendigen Kreislauf sowohl im menschlichen Körper als auch im Ökosystem des Pantanal. Die Fluktuation zwischen Paraguay und Brasilien entspricht folg-
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lich der Umgebung, in der sie stattfindet. Dass darin ebenfalls ein schöpferisches Potential liegt, das sich bereits in der „verliebten Umarmung“ und dem „Hauch von Poesie“ angekündigt hatte, verrät auch das Verb plasmar, das wörtlich „gestalten“, „formen“ bedeutet. Gleichzeitig bildet es (bis auf das auslautende -r im Infinitiv) ein Quasi-Homogramm zu plasma, also Blutplasma, das als flüssiger Anteil des Blutes zu 90% aus Wasser besteht und für den Stoffwechsel verantwortlich ist. Die physische, linguistische und kulturelle Osmose in der Grenzregion um den Ort Sanga Puytã versorgt also einen eigenen Organismus, der in sich die dominierende produktive Kraft des Wassers wiederholt. Der Text Ao Pantanal berichtet, ähnlich einem Logbuch mit genauen Zeitangaben, von der Passage des Erzählers vom urbanen Zentrum Corumbá zur Fazenda Firme in der Provinz Nhecolândia. Die Beschreibung als Passage ist deshalb treffend, weil es sich um eine Durchreise handelt, aber auch weil diese während einer Überschwemmung unternommen wird und mit Dampfern und Schnellbooten als Fortbewegungsmitteln einer Überfahrt übers Meer ähnelt. Selbst Ochsenkarren werden zu „veículos aquáticos“ (Rosa 1970b, 172) [Wasserfahrzeugen]. Das Pantanal ist im Moment der Überflutung als Transitraum gekennzeichnet, in dem lediglich die Passage von einem Zentrum zur nächsten Befestigung – die Fazenda Firme heißt übersetzt (stand)fester Hof – möglich ist, jedoch kein Verweilen. Bereits zu Beginn des Textes wird das Pantanal als Paradies gekennzeichnet. So schlägt der Erzähler im ersten Satz einen zweiten Titel zu Ao Pantanal [Ins Pantanal] vor: „Ou – de como se devassa um Éden“ (Rosa 1970b, 170) [Oder – wie man ein Eden entdeckt]. In der Gleichsetzung des Pantanals mit dem biblischen Garten Eden ist ein Moment der von Barros sogenannten poetischen Transfiguration zu entdecken, da sich realer und metaphorisch-metaphysischer Raum miteinander vermischen. Das Pantanal wird zu einem paradiesischen Ort stilisiert, der weit entfernt liegt und schwer zugänglich ist: „Igual a todo éden, aliás, além e cluso“ (Rosa 1970b, 170) [Wie jedes Eden also, jenseits und verschlossen]. Jedoch verraten bereits die alternativen Titel, dass in der aktiven Bewegung des Erzählers auf das Pantanal zu (ao Pantanal) dieses Paradies auf Erden sein Glücksversprechen eingehalten hat, und der Text liefert eine Anleitung dazu, wie man in dieses Eden vordringen und es entdecken kann (como se devassa um Éden).9 Dass der Text im Präsens und in der ersten Person Plural
|| 9 Der Text wendet damit Strategien der Idealisierung „geographisch lokalisierbare[r], faktisch existente[r] Orte“ an, die sich bei der „konkrete[n] Ausgestaltung paradiesischer Wunschwelten in einer postreligiösen Welt“ (Benthien und Gerlof 2010, 21) beobachten lassen.
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verfasst ist, kreiert dabei eine Unmittelbarkeit und die Illusion, dass der Erzähler sein Lesepublikum mit auf die Reise nimmt. Da sich dieses Eden dem Erzähler (und durch ihn auch seinem Publikum) gerade in Zeiten der Überschwemmung offenbart, verwehrt sich der Text gegen die im europäischen Diskurs spätestens seit dem 18. Jahrhundert gängige und ihre Kolonisierung rechtfertigende Darstellung von Sumpfgebieten als öden Wasserwüsten. Auch Claude Lévi-Strauss hatte dies noch perpetuiert in seinem Bericht über das Pantanal, das er mit der Ethnologin Dina Dreyfus, seiner ersten Ehefrau, zwischen 1935 und 1938 – und damit nur rund zehn Jahre vor Rosa – bereist hatte.10 Kolonisieren und Kolonialisieren stehen in einem engen Zusammenhang, denn gleichzeitig scheint die Perspektive von Rosas Erzähler dem kolonialen Blick des „Entdeckers“ zu ähneln, indem er diesen ihm neuen Raum, die ihm neue Welt des Pantanals als Eden konstruiert. Wie bereits weiter oben auseinandergesetzt wurde, waren z. B. die Ausführungen Ruy Díaz de Guzmáns, der ja das irdische Paradies im Pantanal verortet hatte, an kollektive Repräsentationsmuster im kolonialen Diskurs seiner Zeit angeschlossen, die den amerikanischen Kontinent mit dem biblischen Garten Eden in Verbindung gebracht haben.11 Auch das Narrativ der Passage wiederholt sich in den kolonialen Berichten vom Pantanal (Costa 1999, 63). Dass in Rosas Erzählung die einzelnen Absätze in logbuchartige Einträge gegliedert sind, die jeweils mit einer Angabe der exakten Uhrzeit beginnen, ist als Referenz auf diese Texttradition zu verstehen. Holanda konstatiert, dass die unmittelbare Erfahrung das Weltbild jener Schriftsteller und Seeleute bestimmte und es fast so sei, als würden die Dinge nur aus ihr heraus wirklich existieren (Holanda 2000, 5). Diese Beobachtung lässt sich auf die Auseinandersetzung mit Rosas Ao Pantanal und dessen textuelle Strategie anwenden. So kreiert auch Rosas Erzählung, wie bereits oben erwähnt, aufgrund ihrer kontinuierlichen Verwendung des Präsens, einen Effekt der Unmittelbarkeit. Da der Text außerdem ähnlich einem Schiffsjournal über die Passage
|| 10 Das Pantanal sei eine „Wasserwüste“ (Lévi-Strauss 1978, 153), eine „wilde und traurige Gegend […], deren Monotonie dennoch etwas Grandioses und Erregendes hat“ (152). Dies entspricht dem europäischen Kolonisationsdiskurs seit dem 18. Jahrhundert, wie sich mit Blick auf die in David Blackbourns Die Eroberung der Natur zusammengetragenen Quellen beobachten lässt. Dort wird das Marschland der Norddeutschen Tiefebene als „ein ödes, wertloses Sumpfland“, „eine Wildnis aus Wasser uns Morast“ sowie als „Sumpf- und Wasserwüste“ bezeichnet, das wiederum „von gebildeten Zeitgenossen mit den Feuchtgebieten der Neuen Welt oder gar Amazonien verglichen“ wurde (10). 11 Es sei an dieser Stelle auf Holanda 2000 verwiesen, aber auch auf Costa 1999, die die spezifische Konfiguration des Pantanals als irdisches Paradies durch die spanischen Kolonisatoren herausarbeitet.
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durch das Pantanal gestaltet ist, wird der Erzähler in die Nähe jener von Holanda angesprochenen Schriftsteller und Seeleute gerückt, die durch ihre Erfahrungsberichte Bewusstsein schaffen. Unweigerlich ist hier auch an Walter Benjamin zu denken, der im Seemann einen „archaischen“ (Benjamin 2007, 104) Proto-Erzähler ausmacht. Die Inszenierung von Rosas Erzähler als PseudoSeemann bindet ihn ebenfalls an diese Tradition an. Auch wenn diese Elemente einer kolonialen Schreibweise in der Erzählung Ao Pantanal evoziert werden, so geschieht dies nur, um sie subversiv zu unterlaufen. Zu Beginn des Textes berichtet der Erzähler, dass ihm „sogar in Corumbá“ seine Überfahrt zur Fazenda Firme ausgeredet werden sollte mit den Worten: „‚A Nhecolândia? Aquilo não existe. É o dilúvio…‘“ (Rosa 1970b, 170) [Nach Nhecolândia? Das existiert nicht. Es ist Flut…] Das Pronomen aquilo ist in diesem Kontext ambig, denn es kann sich sowohl auf die Passage beziehen, nämlich dass diese zur Zeit der Überschwemmung unmöglich sei, als auch auf die geflutete Region Nhecolândia. Maria Fátima de Costa rekonstruiert in ihrer Studie mit dem vielsagenden Titel Historia de um país inexistente. O Pantanal entre os séculos XVI e XVIII [Die Geschichte eines inexistenten Landes. Das Pantanal zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert], dass das Pantanal aufgrund der durch den Rhythmus des Wassers bedingten Saisonalität schon im Imaginarium der frühen Kolonialzeit gleichzeitig existierte und nicht existierte. Es wird deutlich, dass auch Holandas allgemeine erkenntnistheoretische Aussage, dass die Dinge nur aus der unmittelbaren Erfahrung der Kolonisatoren heraus wirklich existieren würden, im Besonderen auf das Pantanal zutrifft. Rosas Text zeigt, dass sich dieses koloniale Narrativ im 20. Jahrhundert auch bei den Bewohner*innen der urbanen Zentren in ihrem distanten und diskrepanten Verhältnis zur Peripherie, am Beispiel Nhecolândias, noch fortschreibt. Der Begriff dilúvio, der hier anstelle der üblicheren Bezeichnungen enchente, cheia oder algamento verwendet wird, soll die Überschwemmung benennen, hat jedoch im Zusammenhang mit der Sintflut, dem dilúvio (universal), eine biblische Konnotation. Dies steht in direkter Verbindung zum Garten Eden und damit zur Figuration des Pantanals als irdischem Paradies. Die Aussage des Städters, das periphere Paradies sei mit der (Sint-)Flut versenkt worden, weist der Erzähler entschieden zurück: „Mas existia, e se.“ (Rosa 1970b, 170) [Aber es existierte, und ob.] Dieser Einwand bedeutet eine der Stellen im Text, die das koloniale Narrativ des inexistenten Landes entschieden unterlaufen. Der Beweis für den berechtigten Widerspruch wird sogleich von der „rápido, exato, enfrenteiro“ (Rosa 1970b, 170) [schnellen, exakten, trotzenden] Bevölkerung Nhecolândias angetreten, die damit nicht zuletzt der Arroganz des Städters Widerstand leisten. Der Beweis fällt, wie es sich für ein Paradies gehört, vom
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Himmel: „um aviãozinho […] deixou cair, preso a uma pedra, um bilhete, com o ‚plano‘ do itinerário“ (Rosa 1970b, 170) [ein kleines Flugzeug ließ einen an einem Stein befestigten Zettel mit dem ‚Plan‘ der Reiseroute fallen]. Nicht nur existiert Nhecolândia trotz Flut, auch ist die Passage möglich, „und ob“, auch wenn sie nicht wie während der Trockenzeit vier Stunden mit dem Auto dauert, sondern knapp zehn Stunden (Rosa 1970b, 170). Neben den verschiedenen Fortbewegungsmitteln, die auf dem Weg immer tiefer ins Pantanal in Anspruch genommen werden, widmet sich der Text der Beschreibung von Flora und Fauna, die jedoch weit von der von Barros bemängelten, simplen Aufzählung entfernt ist. Stattdessen wird das Pantanal zu einer Art Gesamtkunstwerk transfiguriert, das Edna Maria Fernandes dos Santos Nascimento passend mit den Worten zusammenfasst: „[T]udo no texto é volume, movimento, cor, som“ (Nascimento 2007, 93) [Alles im Text ist Fülle, Bewegung, Farbe, Ton].12 Das Imaginarium eines Garten Eden wird einmal mehr aufgerufen, wenn es in der Mitte des Textes heißt, das Pantanal sei „um jardim merso, mágico, submerso“ (Rosa 1970b, 172) [ein versunkener, magischer, überschwemmter Garten]. Für diese Beschreibung kommt die reguläre Sprache an ihre Grenzen, sodass der Neologismus merso eingeführt wird, um den sanft ineinander übergehenden Gleichklang des Trikolons „merso, mágico, submerso“ gewährleisten zu können.13 Das Pantanal provoziert und produziert Poesie. Ebendies wird im Folgenden noch weiter potenziert, wenn es nach einer sich über sechs Zeilen erstreckenden Reihung von Farben, die es nur im Pantanal zu sehen gibt, heißt: „Cores que granam, que geram coisas – goma, germes, palavras, tacto, titlo de pálpebras, permovimentos.“ (Rosa 1970b, 172) [Farben, die wachsen, die Dinge hervorbringen – Gummi, Keime, Worte, Berührung, Lidschlag, Bewegungen]. Auch hier wird dem Pantanal, wie bereits in Sanga Puytã, ein schöpferisches Potential zugeschrieben. Da es gerade Worte hervorbringt – sowohl explizit („palavras“) als auch Neologismen –, ist auf den eigenen poetischen Status des Textes verwiesen als einem Produkt des Pantanals. Davon abgesehen unterspült diese spezifische poetische Ordnung die koloniale Hegemonie auf subversive Weise. Nicht etwa die koloniale Schreibweise bringt das Pantanal hervor, sondern das Pantanal selbst bringt („gera“) einen eigenen Wortschatz, ja Poesie, hervor. Es ist damit auch (bzw. vielleicht gerade deswegen) ein „jardim mágico“, weil hier ein sprachmagisches Moment aufscheint. Eine, wie Benjamin sie bezeichnete, „vollkommen erkennend[e]“ (Benjamin || 12 Auch Vilhena 2017, 180–181 macht den Modus der Transfiguration aus, der in seinem Ausdruck „eifriger und verdichteter“ sei als in Com o vaqueiro Mariano. 13 Zur Herleitung des Neologismus merso siehe Martins 2001, 330.
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1977, 152) Sprache, die durch das Paradies Pantanal hervorgebracht wird, scheint möglich. Die Passage ist für den Erzähler transformativ, wie die letzten Sätze des Textes vermitteln. Die Ankunft auf der Fazenda Firme kommt einem Neubeginn, einer Neugeburt gleich, doch nicht nur des Erzählers, sondern auch seiner Welt: „17 hs. 10. Chegamos. De que abismos nascemos, viemos? Mas no princípio era o querer de beleza. No princípio era a cor.“ (Rosa 1970b, 173) [Wir sind angekommen. Aus welchen Abgründen wurden wir geboren, sind wir gekommen? Aber am Anfang war das Begehren nach Schönheit. Am Anfang war die Farbe.] Die Entdeckung des Pantanals und dessen inhärente schöpferische Kraft, die sich in seiner einzigartigen Farbenpracht manifestiert, bringt den Erzähler dazu, die biblische Erzählung von der Schöpfung der Welt umzuschreiben. Dass die Welt nun eine andere ist, der Erzähler ein anderer ist, kommt durch diese letzte kreative Geste zum Ausdruck.
3 Durch das Pantanal mit dem Viehtreiber Mariano „[O] Pantanal é um mundo e cada fazenda um centro“ (Rosa 2015, 112) [das Pantanal ist eine Welt und jeder Gutshof ist ein Zentrum], bemerkt der Ich-Erzähler zu Beginn des dritten Kapitels von Com o vaqueiro Mariano. Das Pantanal wird damit als Mikrokosmos beschrieben. Da der Titelheld des Textes außerdem ein Viehtreiber – oder im weitesten Sinne ein Hirte – ist, drängen sich unweigerlich Bezüge zur literarischen Tradition der Bukolik auf. Deren Mikrokosmos gestaltet sich als locus amoenus aus textuellen Referenzen, durch den sich die Leser*innen an der Seite des zum Dichter idealisierten Hirten bewegen. Der Text Com o vaqueiro Mariano korrespondiert mit seinem Gegenstand, dem Pantanal, wenn er solcherart literarische Bezüge in Form von Mottos als Paratexte situiert und dadurch als ein über seine Ränder hinaus überbordender Text erscheint.14 Eine dieser Referenzen ist die Bukolik, gegen die der Text sich jedoch entschieden abgrenzt, um eine eigene Schreibweise des Pantanals zu profilieren. In Com o vaqueiro Mariano wird das Pantanal durch die Erzählungen des Ich-Narrators und des Titelhelden zuallererst erschaffen. Der Text ist in drei Kapitel unterteilt, was an eine dialektische Gliederung in These – Antithese – || 14 Weiterführend sei auf Vilhenas (2017, 193–205) instruktive Analyse des von ihm sogenannten „Tanz der Epigrafen“ in Com o vaqueiro Mariano verwiesen.
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Synthese erinnert. Diese korrespondiert außerdem mit einer klaren raumzeitlichen Strukturierung: Nacht/Küche der Fazenda – Morgen(grauen)/Stallungen der Fazenda – Tag/Ausritt ins Pantanal. Es zeichnet sich eine allgemeine erzählerische Bewegung und Öffnung des Textes hin zur Weite des Pantanal ab sowie eine Dynamik zwischen den einzelnen Kapiteln, von der nächtlichen Zurückgezogenheit in der Küche bis zur gemeinsamen Passage von Mariano und dem Ich-Erzähler. Dem von Barros beschworenen transfigurativen Gehalt entsprechend weist die beschriebene Dreiteilung ebenso Parallelen zur Schöpfung der Welt sowie zur Struktur eines Triptychons auf: Inferno/locus horribilis – Eden/locus amoenus – Welt post lapsum. Dies geht einher mit einer graduellen Emanzipation des Pantanals von kolonialen und literarischen Zuschreibungen. Der Titelheld Mariano übt Widerstand durch die Erzählung seiner estórias: „narrar é resistir“ (Rosa 2015, 969) [Erzählen ist Widerstand]. Das Pantanal wird als titelgebendes entremeio, als Zwischenraum gekennzeichnet: Als natürliche Welt zwischen locus amoenus und locus horribilis, zwischen Überschwemmung und Trockenzeit, fest und flüssig, stockend und fließend, aber auch zwischen realem, realistischem Ort und poetischer Transfiguration. Durch den sich stets in der beweglichen Landschaft bewegenden Viehtreiber wird dem Ich-Erzähler diese (noch) fremde Realität nach und nach eröffnet. Die Viehzucht prägt das Pantanal bis heute. Der Viehtreiber ist damit zu einer Art menschlichem Repräsentanten der Landschaft geworden. Dies schlägt sich ebenfalls – und das ist für Rosas literarisches Projekt entscheidend – in der regionalen Lexikographie nieder, da es einen bemerkenswerten Begriffsreichtum gibt für Wasser, für den peão (Viehtreiber; vaqueiro ist eine Art Ehrentitel in der Region [Pereira 2018, 21]), für sein Pferd und die Viehwirtschaft (Nogueira und Isquerdo 2009). Wenn Barros also kritisiert, dass eine Aufzählung der regionalen Flora und Fauna nur die Erscheinung, nicht aber das Wesen des Pantanals erfasse und das Pantanal damit exotisiere, dann arbeitet Rosa in Com o vaqueiro Mariano auch dagegen an, indem er den Viehtreiber zu seinem Titelhelden macht. Der wird gleich zu Beginn des Textes wie folgt vorgestellt: Em julho, na Nhecolândia, Pantanal de Mato Grosso, encontrei um vaqueiro que reunia em si, em qualidade e cor, quase tudo o que a literatura empresta esparso aos vaqueiros principáis. Típico, e não um herói, nenhum. Era tão de carne-e-osso, que nele nào poderia empessoar-se o cediço e fácil da pequena lenda. Apenas um profissional esportista: um técnico, amoroso de sua oficina. Mas denso, presente, almado, bom-condutor de sentimentos, crepitante de calor humano, governador de si mesmo; e inteligente. Essa pessoa, este homem, é o vaqueiro José Mariano da Silva, meu amigo. (Rosa 2015, 93) [Im Juli, in Nhecolândia, im Pantanal von Mato Grosso, habe ich einen Viehtreiber getroffen, der in sich selbst, in Qualität und Farbe, fast alles vereint, was die Literatur den
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hauptberuflichen Viehtreibern spärlich angedeihen lässt. Typisch und überhaupt kein Held. Er war so sehr aus Fleisch und Blut, dass er das Altbekannte und Einfache der kleinen Legende nicht verkörpern konnte. [Er war] zuallererst Profisportler: ein Techniker, der sein Handwerk liebt. Aber dicht, präsent, gefühlvoll, ein guter Dirigent der Gefühle, knisternd vor menschlicher Wärme, Herr seiner selbst; und intelligent. Diese Person, dieser Mann, ist der Viehtreiber José Mariano da Silva, mein Freund.]
Ihn lässt Rosa selbst zu Wort kommen. Der Zusatz „mein Freund“ ist dabei bedeutsam, denn er lässt darauf schließen, dass sich der Erzähler und Mariano auf Augenhöhe begegnen. Ebendarin grenzt sich Rosas Text sodann von der „Literatur“ und den „kleinen Legenden“ der Bukolik ab, die nicht den Hirten der Wirklichkeit profilieren, sondern ihn zu einem Ideal stilisieren. So thematisiert der Erzähler später im Text auch die Tradition der Hirtendichtung, um sich angesichts Marianos eines Besseren belehren zu lassen und gegen die wohlgemerkt europäisch geprägte Tradition, wie auch die Verwendung lateinischer und griechischer Begriffe im Folgenden anzeigt, anzuschreiben: Tinha-o ante mim, sob vulto de requieto e quase clássico boieiro — bukólos ou bubulcus — o mais adulto e comandante dos pastores; porém, por vez, se individuou: trivial na destreza e no tino, convivente honesto com o perigo, homem entre o boi xucro e permanentes verdes: um ‚peão‘, o vaqueiro sem vara do Pantanal. (Rosa 2015, 96–97) [Ich hatte ihn vor mir, in der Gestalt eines raffinierten und fast klassischen Rinderhirten – bukólos oder bubulcus –, des erwachsensten und bestimmtesten der Hirten; doch gleichzeitig individualisierte er sich: trivial in Geschicklichkeit und Taktgefühl, ein ehrlicher Gefährte der Gefahr, ein Mann zwischen Rind und Dauergrün: ein „peão“, der Viehtreiber des Pantanals, ganz ohne Stab.]
Mariano tritt hinter diesen literarischen Imaginarien der Hirtendichtung, mit denen der Erzähler auf der Fazenda angereist ist und die auch er anfänglich auf ihn projiziert, als Individuum aus Fleisch und Blut hervor. Er ist entsprechend Homi Bhabhas pointiertem Ausspruch „almost the same, but not quite“ bzw. „almost the same, but not white“ (Bhabha 1994, 128). Dies lässt sich auch auf die Ebene der literarischen Form übertragen, die implizit durch ihre „klassischen“, d. h. antiken, Spielarten griechischer und lateinischer Provenienz, nämlich Theokrits Eidyllia bzw. Vergils Eclogae, aufgerufen wird. Um Mariano, Viehtreiber im Pantanal, gerecht zu werden, ist eine andere, neue Formsprache notwendig. Dies wiederum korrespondiert mit dem Anspruch der estória als gegengeschichtliches, durch orale Erzähltraditionen geprägtes Genre, das marginalisierte Figuren zum Sprechen bringt, und dabei universelle, zuweilen metaphysische Themen behandelt, während das Regionale als einzigartiger Diskurs dargestellt wird.
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Dafür etabliert der Text Mariano selbst als Meister der estória. Im Unterschied zur bukolischen Tradition, die den Hirten als Stellvertreter des idealen Dichters stilisiert, ist das gekonnte Erzählen von estórias in der spezifisch regionalen Kultur des Pantanals verankert. Teil dieser Kultur sind nämlich die Tereré-Runden der Viehtreiber auf den Gutshöfen.15 Dort wird das enge Zusammenleben von Mensch und Tier zum zentralen Gegenstand oraler Erzählformen, den sogenannten causos. Diese mündliche Tradition ist ein in der Kultur des Pantanals gemeinschaftsstiftendes Moment. So beginnt auch Rosas Text, dessen erstes Kapitel eine solche Situation beschreibt. Der zweite Absatz der Erzählung, der auf die Vorstellung Marianos folgt, beginnt und endet mit den Worten: „Começamos por uma conversa de tres horas, à luz de um lampião, na copa da Fazenda Firme. […] Contou muita coisa.“ (Rosa 2015, 93) [Wir begannen mit einem dreistündigen Gespräch im Schein einer Laterne in der Küche der Fazenda Firme. Er hat vieles erzählt.] Angesichts der Erzählung Marianos wird vom Ich-Erzähler das Genre der estória metapoetisch reflektiert: Te aprendo ao fácil, Zé Mariano, maior vaqueiro, sob vez de contador. A verdadeira parte, por quanto tenhas, das tuas passagens, por nenhum modo poderás transmitir-me. O que a laranjeira não ensina ao limoeiro e que um boi não consegue dizer a outro boi. Ipso o que acende melhor teus olhos, que dá trunfo à tua voz e tento às tuas mãos. Também as estórias não se desprendem apenas do narrador, sim o performam; narrar é resistir. (Rosa 2015, 98) [Ich verstehe dich sofort, Zé Mariano, größter Viehtreiber, noch größer als der Erzähler (der du bist). Du kannst mir den wahren Teil deiner Passagen nicht vermitteln, egal wie viele du unternommen hast. Was der Orangenbaum den Zitronenbaum nicht lehrt, und was ein Rind dem anderen Rind nicht sagen kann. Gleichfalls, was deine Augen am stärksten leuchten lässt, was deiner Stimme Kraft verleiht und deinen Händen Stärke. Auch Geschichten lösen sich nicht einfach vom Erzähler, doch sie führen ihn vor; Erzählen heißt Widerstand leisten.]
Welcher Widerstand wird hier geleistet? Und was kann der Erzähler vom Viehtreiber Mariano, seiner Tätigkeit und seinen Erzählungen, für seine eigene Erzählung über das Pantanal lernen? Er kann von ihm lernen, nicht in der Exotisierung einer reinen Natur unterzugehen, wie Barros angemahnt hatte. Und er kann von ihm lernen, nicht in einer literarischen Formsprache und Erzählweise zu versinken, die ihrem Gegenstand nicht gerecht wird. Stattdessen werden diese dominierenden, ja hegemonialen Diskurse durch die estória unterspült.
|| 15 Tereré ist ein auf Mate basierter Tee der traditionell aus dem Gefäß guampa mit der bomba, einer Art Strohhalm, getrunken wird.
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Und einen solchen Widerstand hatten bereits die Bewohner*innen von Nhecolândia in Ao Pantanal geleistet, die das koloniale Narrativ des inexistenten Landes unterlaufen haben, indem sie dem Erzähler die Überfahrt zur Fazenda Firme garantiert haben. Der Sprachfluss Marianos, der während seiner Erzählungen immer wieder ins Stocken gerät, reflektiert den Fluss bzw. das Stocken der sumpfigen Gewässer des Pantanals. Der Erzähler von Com o vaqueiro Mariano, der diese mündlichen Erzählungen ins Schriftliche überführt, gibt dieses Innehalten im Schriftbild wieder durch Gedankenstriche und Auslassungspunkte. Der Viehtreiber des Pantanals widersetzt sich also nicht zuletzt einer gebundenen literarischen Form, wie jener der Ekloge, und bringt aus sich heraus eigene Erzählungen – éstorias – hervor, die ihm Meisterschaft verleihen und an der sich der Erzähler von Com o vaqueiro Mariano, selbst Erzähler einer estória, schult. Im ersten Kapitel des Textes ist die erste diegetische Ebene die des Erzählers, der von seiner Begegnung mit Mariano berichtet. Die zweite diegetische Ebene ist die von Mariano, der von seinen Erlebnissen und Erfahrungen in der Region erzählt (Diniz 2021, 106). Durch die Einfügungen direkter Zitate wird Mariano sukzessive ein immer längerer und umfangreicherer Redeanteil zugesprochen. Zum Ende hin gehört ihm allein über fünf Seiten hinweg uneingeschränkt das Wort. Erst nachdem Mariano ununterbrochen seine für den Abend letzte estória erzählt hat, ist der Erzähler von Com o vaqueiro Mariano dazu fähig, seine eigene estória mit dem zweiten und dritten Kapitel fortzusetzen. Dies wiederum korrespondiert mit Benjamins Ausführungen: „Erfahrung, die von Mund zu Mund geht, ist die Quelle, aus der alle Erzähler geschöpft haben.“ (Benjamin 2007, 104). Mariano ist, anders noch als der Narrator von Ao Pantanal, aufgrund seiner ständigen Passagen nicht nur eine Figuration des Seemanns, sondern auch des Landarbeiters, in dem Benjamin einen zweiten ProtoErzähler ausmacht, denn „nicht weniger gern hört man dem zu, der, redlich sich nährend, im Lande geblieben ist und dessen Geschichten und Überlieferungen kennt“ (Benjamin 2007, 104). Dementsprechend ist Marianos mündliche Erzählweise eine Quelle des Wissens sowie der Kultur und Literatur des Pantanals und ihrer Produktion. Um das Leben und die Lebewesen im Pantanal darzustellen, wird eine liquide Metaphorik appliziert, welche die aquatische Landschaft widerspiegelt. Ein prägnantes Beispiel dafür ist die Beschreibung der Rodeos16: „os animais — || 16 Damit ist die Praxis des Zusammentreibens von Vieh auf einer freien Fläche gemeint. Die Sportart Rodeo (von Spanisch und Portugiesisch rodear, zusammentreiben) hat darin ihren Ursprung und ihren Namen.
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touros, bois, bezerros, vacas, — trazidos grupo a grupo e ajuntados num só rebanho, redondo, no meio do campo plano, oscilando e girando com ondas de fora a dentro e do centro à periferia“ (Rosa 2015, 94) [die Tiere – Stiere, Ochsen, Kälber, Kühe – werden gruppenweise zusammengetrieben und in einer Herde versammelt, die sich in der Mitte des flachen Feldes in Wellen von außen nach innen und vom Zentrum zur Peripherie hin wiegt und dreht]. Die wellenartige Bewegung des Viehs beim Zusammentreiben auf einem freien Feld verweist auf die Passage der Viehtreiber und der Herden durch die vom Wasser geprägte Landschaft als Oszillation „vom Zentrum [der Fazenda] zur Peripherie“. Diese ständige Bewegung der Menschen und Tiere in der Landschaft ist gleichlaufend mit der stets beweglichen Landschaft des Pantanals. Durch seine estórias nimmt Mariano seinen Zuhörer mit auf seine vergangenen Passagen durchs Pantanal – „à garupa“ (Rosa 2015, 96) [auf der Kruppe]. An dieser Stelle fällt besonders die Formulierung „ele foi narrando“ (Rosa 2015, 96) auf. Diese kann zum einen übersetzt werden mit „er erzählte weiter“, aber auch mit „er ging (los) und erzählte dabei“, sodass auch hier der Eindruck der Unmittelbarkeit der Passage entsteht, die in Ao Pantanal ebenfalls bedeutsam war. Bereits im Zusammenhang mit dem Rodeo wurden die Viehtreiber mit „oficiais de uma batalha antiga“ (Rosa 2015, 94) [Offizieren einer alten Schlacht] verglichen. Im Folgenden erzählt Mariano von drei Begebenheiten, die dies veranschaulichen, da sie als Konfrontationen mit der Natur und ihren Elementen allesamt vom Kampf um Leben und Tod handeln. Die „alten Schlachten“ verfügen allesamt über eine zusätzliche mythologische, metaphysische Dimension und qualifizieren diese oralen Erzählungen damit als estórias par excellence. Das Regionale verweist auf das Universelle, ohne aber jemals vollständig darin aufzugehen. Die erste Geschichte hat „há uns tres anos, na seca“ (Rosa 2015, 96) [vor ungefähr drei Jahren, zur Trockenzeit] stattgefunden. Mariano wollte die Rinder aus der Koppel lassen, doch plötzlich wird die trockene Erde in der Luft zu einer roten Wolke aufgewirbelt. Erst als Mariano wieder sehen kann, erkennt er einen Stier, der mit voller Kraft auf ihn zugerannt kommt und sich befreien möchte. Mariano gelingt es unter Einsatz seines Lebens, den Stier schließlich zu fassen. Die Ähnlichkeiten zur Bändigung des Kretischen Stiers, einer der zwölf Arbeiten des Herkules, sind auffällig. Entsprechend bemerkt auch Mariano „era coisa monstra demais – no peso, no ronco, na mexida, até no cheiro“ (Rosa 2015, 96) [es war etwas zu Ungeheuerliches – vom Gewicht her, dem Grunzen, der Bewegung, sogar dem Geruch]. Aufgrund dieser Parallelen erwächst Mariano im Kampf gegen den Stier zu fast mythischer Größe. Er bricht jedoch mit dem tradierten Heldennarrativ und offenbart sich seinem Zuhörer stattdessen in all
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seiner menschlichen Verletzlichkeit – und dies reflektiert er durch den Akt des Erzählens selbst: „Conto, agora, mas no de leve, sem pôr sentido. Se for firmar o sério nisso, ringe aflição, coração embrulha …“ (Rosa 2015, 96) [Ich erzähle das jetzt ganz locker, ohne dem einen tieferen Sinn beizugeben. Aber wenn ich den Ernst der Lage untermauern würde, dann klopft die Beklemmung, das Herz zieht sich zusammen …]. Dies trifft auch auf die zweite Geschichte zu, die Mariano erzählt und die sich komplementär „no tempo da cheia“ (Rosa 2015, 97) [während der Überschwemmungszeit] zugetragen hat, womit sich zeigt, dass sich die Zeit im Pantanal und auch die der Erzählung nach Trockenheit und Überflutung strukturiert. Um einige ausgerissene Rinder einzufangen, war Mariano so tief ins überflutete Gelände geritten, dass er und sein Pferd nur noch schwimmen konnten. Zu spät wurde er der „traição d’agua“ (Rosa 2015, 97) [Betrug des Wassers] gewahr, denn unter der Oberfläche wimmelte es von Piranhas, die sich an einem der entlaufenen Ochsen zu schaffen machten. Der ursprüngliche Lebensraum Marianos und auch des Viehs ist zum tückischen, feindlichen Terrain geworden, das diejenigen, die sich in ihm bewegen, wortwörtlich verschlingt. Die geflutete Sumpflandschaft wird zum locus horribilis, der den Topos des idyllischen Hirtenlebens in der bukolischen Tradition konterkariert. In der Wiedergabe der Ereignisse macht Mariano ebenfalls kein Geheimnis aus seiner inneren Not. Die Angst, seinen Körper nicht retten zu können, veranlasst ihn gar dazu, seine Seele Gott zu überantworten: Der „traição“ setzt er seine „contrição“ (Rosa 2015, 97) [Zerknirschung] entgegen. Daraufhin lässt sich Mariano einfach treiben und ergibt sich damit dem Lauf des Wassers, das hier eine höhere Gewalt – Natur oder Gott – repräsentiert. Diese Haltung rettet ihm schließlich das Leben, als er an den Rand gespült wird. Was der Erzähler bereits im ersten Absatz von Com o vaqueiro Mariano angekündigt hatte, bestätigt sich: Mariano ist kein Held, sondern ein Mann aus Fleisch und Blut, der die altbekannten und vereinfachten Muster der Literatur und Legenden nicht erfüllen kann. Durch seine estórias jedoch, d. h. aufgrund seines eigenen Verdienstes als Viehtreiber und Erzähler, erreicht er Meisterschaft. Nach Erde, Luft und Wasser widmet sich Marianos letzte und längste Geschichte dem Element Feuer. Mariano erzählt, dass er auf einer seiner Passagen durch das Pantanal mit dem Vieh in ein Lauffeuer geraten sei, das sich in rasender Geschwindigkeit um die Viehtreiber und ihre Herden geschlossen hat. Dies wird von Mariano als „fim-de-mundo“ (Rosa 2015, 99) [Weltende], „infer-
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no“ (Rosa 2015, 100) und Purgatorium beschrieben.17 Des Weiteren werden Höllenimaginarien wie der Geruch nach Verbranntem, Haar, Fell, Haut evoziert sowie der bösartige Lärm des Feuers, das, ganz ähnlich wie zuvor das trügerische Wasser, alles verschluckt. Doch nun gerät das Sumpfwasser zur Rettung. Der „bento chão de brejos“ (Rosa 2015, 101) [der gesegnete Sumpfboden], den er weiter als „água morta“ (Rosa 2015, 101) [totes Wasser] beschreibt und als „quase que uma lama só, uma baía já secando“ (Rosa 2015, 101) [fast nur Schlamm, ein schon austrocknendes Schwemmgebiet], gewährt den Viehtreibern und ihrer Herde ein Refugium. Und in diesem Refugium, das sie vor der weiteren Ausbreitung des Feuers schützt, suchen auch Wildtiere des Pantanals (es werden Nasenbären erwähnt sowie Rehe und Hirsche) Schutz (Rosa 2015, 101). In einer vom Feuer verschlungenen Welt bewahrt der Sumpf ähnlich einer Arche Noah Menschen und Tiere. Mariano hebt abschließend hervor: „Vivemos dois dias naquele lugar, mas ninguém perdeu a firmeza“ (Rosa 2015, 102) [Wir haben zwei Tage an jenem Ort gelebt, aber niemand hat die Standfestigkeit verloren.] Dies könnte gar als allgemeingültige Lektion angesehen werden: Niemand sollte in der sumpfigen Landschaft des Pantanals jemals die Standfestigkeit verlieren. Beständigkeit bewährt sich als lebensrettende Tugend. Alle Menschen und Tiere überleben letztlich die Feuersbrunst, auch ein kleiner schwarzer Ochse, der sich angesichts des Feuers geweigert hatte, mit der Herde weiterzulaufen und zurückgeblieben war. Alle hatten angenommen, er sei in den Flammen verendet, als er sich im letzten Moment doch noch in die schlammige Ebene rettet. Diese Nebenerzählung erinnert an das populäre Folklorefest bumba meu boi [Steh auf, mein Ochse!], dessen Thema ebenfalls Tod und Auferstehung eines Ochsen ist. Auch wenn die genauen Einflüsse indigener, afrikanischer und europäischer Provenienzen auf die Entstehung dieses Tanz- und Musikspiels nicht restlos geklärt sind, so stellt das bumba meu boi doch unumstritten eine ursprünglich brasilianische Tradition dar. Für unseren Gegenstand ist dies von Bedeutung, weil Marianos orale Erzählung damit in der volkstümlichen Kultur verankert wird und neben den Evokationen der Hölle und der Arche Noah eine zusätzliche metaphysische Dimension von Tod und Auferstehung erhält, was sie als beispielhafte estória ausweist. Außerdem gehört dieses Folklorespiel zur Gruppe der sogenannten pastorís (übersetzt: Hirtenspiele), die in der Adventszeit die Geburt Jesu und die Erscheinung des Herrn am 6. Januar vorbereiten.18 Auch wenn die pastorís einen nachweislich christli|| 17 Zum Purgatorium heißt es im Text „A gente purgou […] pecados“ (Rosa 2015, 102) [Wir purgierten unsere Sünden]. 18 Zur Tradition der pastorís siehe Pinto 2002.
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chen Ursprung haben, hat über Jahrhunderte hinweg eine Vermischung mit indigenen und afrikanischen Einflüssen stattgefunden, was sie – im Gegensatz zu den Pastoralia der Bukolik – zu genuin brasilianischen Hirtenspielen macht. Mit der estória vom kleinen schwarzen Ochsen schreibt sich Rosa qua Mariano in diese Tradition ein. Der aktuelle Bezug dieser estória ist angesichts der verheerenden Brände im Pantanal im Jahr 2020 offenkundig und soll nicht unerwähnt bleiben. Nach Recherchen von Greenpeace sollen diese von Rinderzüchtern in der Region ausgelöst worden sein, um Schwemmgebiete in Weideflächen umzuwandeln. Auch wenn eine solche Absicht nicht hinter dem Lauffeuer in Rosas Erzählung steckt, so schiebt Mariano ein, dass das Feuer von seinen Kollegen ausgelöst wurde: „[T]inham vindo prendendo fogo no capim, por descuido ou brincadeira de gente sem responsabilidade, e agora estava queimando tudo a rodo, fim-de-mundo …“ (Rosa 2015, 99) [Sie hatten das Gras angezündet, aus Unachtsamkeit oder aus Dummheit von Menschen ohne Verantwortung, und nun brannte alles nieder, Weltende …] Es wird an ein ökologisches Bewusstsein appelliert, nach dem lokale Handlungen globale Auswirkungen haben. Wegen seiner drastischen Schilderung des Überlebenskampfes in der Feuersbrunst bietet der Text ein warnendes Beispiel, das 75 Jahre nach seiner Entstehung aktueller denn je ist. Die aufgerufene Bildlichkeit des Infernos wird im zweiten Kapitel konterkariert. Der Erzähler steht zum Morgengrauen auf, um das Pantanal im Tageslicht zu sehen, was – eine weitere Parallele zu Ao Pantanal – an die biblische Genesis erinnert (Rosa 2015, 103). Das Pantanal erscheint ihm als paradiesische Idylle, in die er nun ganz körperlich, mit all seinen Sinnen eintaucht. Sein Weg führt ihn zu den Stallungen. Dort spürt er die Wärme der Kälber, die mit den Mutterkühen zusammengeführt werden, nimmt ihr Muhen fast schon als Sinfonie wahr und verfolgt dabei das wechselnde Farbenspiel der aufgehenden Sonne. Ähnlich wie in Ao Pantanal wird auch hier die sich dem Erzähler darbietende Landschaft zum Gesamtkunstwerk transfiguriert. Als Mariano sich zu ihm begibt, erzählt dieser ihm von den Wesenszügen der einzelnen Kühe, womit die Tiere personifiziert werden. Auch hat Mariano ihnen allen, ihrem Charakter entsprechend, Namen gegeben, wodurch er wiederum als eine Figuration Adams erscheint, fähig zu jener paradiesischen, „vollkommen erkennend[en]“ Sprache, die von Benjamin beschrieben wurde. Während Adam in der jüdisch-christlichen Mythologie der gemeinsame Ahne aller Menschen ist, stellt der Viehtreiber einen Vorfahren dar, der historisch zur Gebietserweiterung beitrug und erste Siedlungen gründete. Dies gilt im Besonderen für die brasilianische Geschichte, denn die Viehzucht ist eine Spur des europäischen Kolonialismus. Rinder und Pferde, die gerade die Landschaft des Pantanals prägen, sind
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keine in den Amerikas einheimischen Tiere, sondern wurden aus Europa eingeführt. Im Zuge der kolonialen Siedlungspolitik wurden sie in den erschlossenen Gebieten verbreitet und stellen somit einen strategischen Aspekt der Landnahme dar. In Pé duro, Chapéu-de-Couro bezeichnet Rosa den Viehtreiber deshalb auch als „bandeirante permanente“ (Rosa 1970c, 136–137) [permanenten Bandeirante]. Bandeirantes wurden die Mitglieder portugiesischer Expeditionstrupps genannt, die ab dem 17. Jahrhundert ausgehend von São Paulo das Landesinnere des heutigen Brasiliens erkundeten und in Besitz nahmen. Die Monções waren Flussexpeditionen, die zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert stattfanden (Costa 1999, 19). Sie waren eine Fortsetzung der Mission der Bandeirantes und spielten eine wichtige Rolle bei der Kolonialisierung der zentralwestlichen Region des heutigen Brasiliens und damit des Pantanals. Die Monçoeiros waren es auch, die dem Pantanal seinen Namen verliehen haben. Die Übergänge zwischen der Kolonisierung und der Kolonialisierung des Pantanals sind fließend und Mariano als so zu nennender permanenter Monçoeiro ist nicht unschuldig, was ihn wiederum in die Nähe des postlapsarischen Adams rückt. Allein seine Vornamen „José“ (Josef) und „Maria-no“ wecken Assoziationen mit der Welt jenseits des Paradieses, die jedoch nicht der Möglichkeit zur Erlösung entbehrt. In seiner wörtlichen Bedeutung adressiert der Nachname „da Silva“ [vom Wald] einen weiteren Naturraum, der dem Pantanal wesenhaft entgegengesetzt scheint und auf das portugiesische Hinterland deutet. Gleichzeitig handelt es sich dabei um den häufigsten luso-brasilianischen Familiennamen, was auf den dargelegten kolonialen Komplex verweist. Mit seiner ursprünglichen Konstruktion des Pantanals als Paradies hatte der Erzähler selbst den kolonialen Blick des ‚Entdeckers‘ adaptiert. Diese Wahrnehmung wird jedoch durch Mariano, der das Wesen des Pantanals kennt, korrigiert. Die Kühe nämlich, so weiß Mariano, „‘tão bentas“ (Rosa 2015, 111) [sind gesegnet]. Das haben sie mit dem „bento chão de brejos“, dem gesegneten Sumpfboden, gemeinsam. Gleichzeitig sind beide aber der „humanosfera“ (Rosa 2015, 110) [Humanosphäre] unterworfen. Gerade weil den Kühen der grobe, rohe, brutale Anteil fehlt, der allein dem Menschen post lapsum eignet – „humano e bruto“ (Rosa 2015, 111) werden parallelisiert –, sind sie, so schließt der Erzähler das Kapitel, nunmehr die einzigen die „capazes de Éden“ (Rosa 2015, 111) [fähig zu Eden] sind, denn in ihnen halte sich „obscuro o poder de eternidade“ (Rosa 2015, 111) [im Dunklen die Macht zur Ewigkeit]. Im dritten und letzten Kapitel des Textes zeigt sich schließlich, dass das Pantanal kein Garten Eden ist. Hatte Mariano den Erzähler im ersten Kapitel mittels seiner estórias „auf der Kruppe“ mit auf seine Passagen genommen, so reiten sie jetzt gemeinsam auf zwei Pferden aus in die flache, geflutete Land-
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schaft, die der Erzähler nun „País do Boi“ (Rosa 2015, 112) [Land der Rinder] nennt – vielleicht weil er inzwischen weiß, dass die Rinder mit ihrer „Macht zur Ewigkeit“ die wahren Potentaten sind. Der Modus wechselt vom Erzählen („Contou muita coisa“) ins Zeigen („ia mostrar-me“ [Rosa 2015, 112]). Dies geht einher mit der Feststellung des Erzählers zu Beginn des Textes, dass Mariano ihm durch seine estórias den „wahren Teil“ seiner Passagen nicht vermitteln könne. Ersetzen kann die Erzählung die Erfahrung nämlich nicht. So wie damit die Grenzen der Erzählung verhandelt werden, werden auch die Grenzen des Pantanals abgesteckt. Während der Erzähler überwältigt von der Umgebung ist und sich in Naturbeschreibungen ergießt, zeigt Mariano diese Grenzen konsequent auf. Dies macht sich zuallererst an einer Trennung von hier und dort bemerkbar,19 aber auch an linguistischen Demarkationen, die durch die Region verlaufen: „Vaqueiro de lá, é capaz de homem cidadão como o senhor nem entender a fala deles.“ (Rosa 2015, 120) [Viehtreiber von dort, es kann sein, dass ein Herr wie Sie ihre Sprechweise nicht einmal versteht.] Die ultimative Limitation des Pantanals aber ist der Tod. Er ist die Grenze, die das Pantanal vom Paradies scheidet. Mariano nennt mit Überschwemmung, Schlangenbiss, Nachtkälte, aber auch Kämpfen unter den Tieren verschiedene Beispiele dafür, wie Rinder zu Tode gekommen sind. Ihre Fähigkeit zu Eden verschont sie nicht davor, in der Welt zu sein. Und dass das Pantanal eine Welt bzw. Welt ist und nicht Paradies, wird damit offenbar. Schließlich ist der Tod als Konsequenz der Vertreibung aus dem Paradies erst in die Welt gekommen. Angesichts dieses andauernden Kampfes um Leben und Tod identifiziert der Erzähler Marianos schwarze Arbeitskleidung, über die er sich zu Beginn der Passage noch amüsiert hatte, sodann als „traje de luto, coisa de guerra“ (Rosa 2015, 123) [Trauerkleidung, wie aus dem Krieg]. Auf dem Ritt zurück zur Fazenda Firme werden die beiden Männer von Vögeln attackiert, die sich und ihre Nester beschützen wollen. Sie verteidigen ihre Brutstätte „com empinada resistência“ (Rosa 2015, 123) [mit aufbäumendem Widerstand]. Damit ist abschließend eine Verbindung hergestellt zum Beginn des Textes, wo Marianos Erzählung mit Widerstand gleichgesetzt wurde („narrar é resistir“). Am Ende des Textes also widersetzen sich die Vögel einer idyllischen, naiven, deskriptiven Beschreibung ihrer selbst und ihres Habitats und
|| 19 „p’ra muito p’ra riba daqui” (Rosa 2015, 120) [weit weg von hier], „naquela beirada de mato“ (119) [an jenem Rand des Waldes], „na beira do corixo, ali“ (117) [am Ufer des Flussarms, dort]. Zu den Grenzen des Pantanals in der Erzählung siehe auch Vilhena 2017, 186–187.
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führen diesen Widerstand vor, der Marianos und Rosas estórias als widerständigen Erzählweisen des Pantanals entspricht.
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Lesley Penné und Arvi Sepp
Kulturwissenschaftliche Annäherungen an das Moor: Figurationen von Sumpf und Torf in der ostbelgischen Gegenwartsliteratur Zusammenfassung: Literatur aus Grenzregionen zeichnet sich oft durch eine spezifische transkulturelle Poetik aus, die das Liminale als Diskurs und Erfahrung reflektiert. In der Gegenwartsliteratur aus Ostbelgien – dem deutschsprachigen Grenzgebiet um Eupen, Sankt Vith und Malmedy, staatlich umgeben von Deutschland, den Niederlanden und Luxemburg – nimmt die Repräsentation von Sumpf und Torf einen wichtigen gesellschaftspolitischen Platz ein. In Shadow and Shelter (2006) bezeichnet Anthony Wilson Moore als „dialogic participants in cultural definition“ (S. xi), die die komplexe Definition von nationaler und regionaler Identität durch historische Konflikte und kulturelle Spannungen zum Ausdruck bringen. Um die landschaftspolitische Dialogizität des Moores in der deutschsprachigen belgischen Gegenwartsliteratur zu erforschen, sollen drei Romane analysiert werden: Bosch in Belgien (2006) von Freddy Derwahl, Unterwegs zu Melusine (2006) von Hannes Anderer und Wege aus Sümpfen (2001) von Leo Wintgens. In diesen Romanen hat das Hohe Venn als zentrales landschaftliches Wahrzeichen eine wichtige geographische Bedeutung. Es stellt eine natürliche Grenze und Trennung zwischen den beiden Gebietsteilen Ostbelgiens dar: dem ‚Eupener Land‘ und der ‚Belgischen Eifel‘. Aber auch in symbolischem Sinne zieht sich das Moor-Motiv durch die Texte, um eine mentale Grenze auszudrücken: Das ‚Eupener Land‘ ist eher urbanisiert und fortschrittlich, während die ‚Belgische Eifel‘ als vielmehr ländlich und konservativ bezeichnet werden kann. Darüber hinaus symbolisiert das Hohe Venn das schwierige Verhältnis der Protagonisten zur Vergangenheit der deutschsprachigen Minderheit, die durch zwei Weltkriege zwischen deutscher und belgischer Nationalität hin- und hergerissen wurde. Anhand einer kulturwissenschaftlichen Analyse der verschiedenen Figurationen von Sumpf und Torf wird untersucht, wie das Verhältnis von Moorlandschaft und Gemeinschaft in der ostbelgischen Gegenwartsliteratur dargestellt und konzipiert wird.
https://doi.org/10.1515/9783110786743-009
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1 Einführung Die Literatur aus Grenzregionen zeichnet sich häufig durch eine spezifische transkulturelle Poetik aus, die das Grenzwertige widerspiegelt. Der Schwerpunkt liegt auf der Reflexion über den spannungsreichen Übergang zwischen verschiedenen Landschaften, Gebieten, Ländern und Sprachen. In der zeitgenössischen Literatur aus Ostbelgien – dem deutschsprachigen Grenzgebiet um Kelmis und Eupen, Sankt Vith und Malmedy – nimmt die Darstellung von Mooren in diesem Zusammenhang einen wichtigen Platz ein. Um die landschaftspolitische Bedeutung von Mooren als Grenzmotiv in der deutschsprachigen belgischen Gegenwartsliteratur zu untersuchen, werden wir drei historische Familienromane der prominentesten Schriftsteller aus dem deutschsprachigen Belgien analysieren: Bosch in Belgien (2006) von Freddy Derwahl, Unterwegs zu Melusine (2006) von Hannes Anderer und den zweiteiligen Roman Wege aus Sümpfen (2001 und 2006) von Leo Wintgens.1 Durch ihre Landschaftsdarstellungen zeichnen diese Werke ein Bild voller Widersprüche und Zweideutigkeiten des Verhältnisses zwischen kollektiver Identität und kulturellem Gedächtnis in Ostbelgien seit dem Ersten Weltkrieg. Die Beschreibung der Vor- und Nachgeschichte des Ersten, aber auch des Zweiten Weltkriegs ist in den Romanen von zentraler Bedeutung. So skizzieren sie als Familienromane auch die lange Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs und die Biographie der Großelterngeneration im Deutschen Reich. Der Handlungsraum des Hohen Venns ist immer besonders auffällig, sowohl wegen seiner historischen Symbolik als auch wegen seiner zentralen geographischen Lage in den Romanen. Das Hohe Venn wird als ein grundsätzlich ambivalenter Raum beschrieben, der zwischen locus amoenus und terribilis, zwischen Freiheit und Enge, Kosmopolitismus und Provinzialismus schwankt. Wir werden die Figurationen von Moor und Torf in diesen Romanen als Interpretationsrahmen nutzen, um dominante Spannungsfelder in der deutschsprachigen belgischen Literatur aufzudecken. Ausgehend von einer kulturgeschichtlichen Lektüre der verschiedenen Figurationen von Moor und Torf wird in diesem Artikel untersucht, wie die direkte, aber ambivalente Beziehung zwischen Landschaft und Gemeinschaft in dieser Literatur gestaltet ist. Die Bodenständigkeit – die lokale Verankerung – ist ein wichtiges Element in der kulturellen Selbstdefinition von Ostbelgien. Dabei beleuchten wir auch eine spezifische literarische Darstellung der condition humaine einer wenig erforschten Grenzre-
|| 1 Der vorliegende Beitrag geht zum Teil auf Penné und Sepp (2021) zurück.
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gion in Belgien. Die Bilder des Sumpfes sind mit einem metaphorischen Potenzial aufgeladen, das über die Geographie hinausgeht und existenzielle Fragen aufwirft, wie David Miller auch in einem anderen Kontext – dem amerikanischen – zum Ausdruck bringt: „[S]uch diverse attributes of the swamp as dense vegetation, stagnation, mephitic atmoshpere, or nameless terror all can be seen from a broader perspective in order to condense the sum of interlocking metaphors that masks a fundamental aspect of human experience.“ (Miller 1989, 17). Die Protagonisten der drei ostbelgischen Romane dokumentieren die landschaftliche Räumlichkeit des Sumpfgebietes und reflektieren ihre kulturgeschichtliche Position in Belgien.
2 Topographie von Ostbelgien Es wird oft nicht bemerkt, dass Belgien nicht zwei, sondern drei Landessprachen hat. Neben Niederländisch und Französisch ist Deutsch eine Amtssprache und die Muttersprache eines kleineren Teils der Bevölkerung. Für viele Außenstehende ist Belgien institutionell gesehen ein kompliziertes Land, das aus drei Regionen, drei Gemeinschaften und vier Sprachgebieten besteht. Die drei Regionen sind die Flämische Region, die Wallonische Region und die Region Brüssel-Hauptstadt; die drei Gemeinschaften sind die Flämische, die Französische und die Deutschsprachige Gemeinschaft; die vier Sprachgebiete sind die niederländische, die französische, die deutsche und die niederländisch-französische zweisprachige Region der Region Brüssel-Hauptstadt. Die Deutschsprachige Gemeinschaft ist eine offizielle Sprachminderheit in Belgien und mit etwas mehr als 78.000 Einwohnern viel kleiner als die beiden anderen Gemeinschaften. Das Gebiet wurde 1919 gemäß dem Vertrag von Versailles als Kriegsentschädigung für die im Ersten Weltkrieg erlittenen Verluste an Belgien angegliedert. Es grenzt an drei Länder: an das Großherzogtum Luxemburg, an Deutschland und an die Niederlande. Gleichzeitig liegt es an der germanisch-romanischen Sprachgrenze, was das Gebiet zu einem Kreuzungspunkt verschiedener Länder, Landesteile, Bevölkerungsgruppen, Kulturen und Sprachen macht. Das deutschsprachige Gebiet in der belgischen Provinz Lüttich ist nicht nur durch seine Grenzlage zu anderen Regionen gekennzeichnet, sondern besteht auch aus zwei geographisch getrennten Teilen: dem Eupener Land im Norden und der belgischen Eifel (Eifel-Ardennen) im Süden. Das Hohe Venn bildet als Sumpfgebiet eine wichtige geographische Grenze zwischen den beiden deutschsprachigen Regionen und ist Teil des Naturschutzgebietes Hohes Venn-Eifel. Zwischen diesen beiden Teilen gibt es historische Unterschiede in
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Mentalität und Dialekt. Bis zum achtzehnten Jahrhundert gehörte der größte Teil des Eupener Landes zum Herzogtum Limburg und die belgische Eifel zum Herzogtum Luxemburg. Dies spiegelt sich auch in den Dialekten wider, die in beiden Gebieten bis heute gesprochen werden: Während das Ripuarische (Nordmittelfränkisch) in beiden Gebieten gesprochen wird, wird im Eupener Land auch Unterfränkisch und in der belgischen Eifel Moselfränkisch gesprochen. Auch während des Zweiten Weltkriegs lassen sich grundlegende historische Unterschiede zwischen den beiden Regionen feststellen. So wurden beispielsweise St. Vith und andere Dörfer in der belgischen Eifel während der Ardennenoffensive 1944 geradezu vollständig zerstört, während die Region Eupen kaum betroffen war. Dies spiegelt sich auch in der Natur der belgischen Eifel wider, wo die Trichter der Bomben- und Granateneinschläge noch lange Zeit das Landschaftsbild prägten (Brüll et al. 2014, 8). Während das Eupener Land dichter besiedelt und städtisch ist, ist die belgische Eifel eine sehr ländliche Region. Ernst Leonardy schreibt über den innergemeinschaftlichen Kontrast zwischen der deutschsprachigen Bevölkerung im Eupener Land und in den EifelArdennen: Le nord et le sud de l’actuelle communauté, la région d’Eupen avec ses industries et celle de St-Vith à prédominance rurale, n’étaient pas seulement séparés par les Hautes Fagnes, barrière naturelle quasi infranchissable depuis des siècles, mais aussi par un fossé d’ignorance mutuelle. Jusqu’à l’heure actuelle, les Eupenois affublent les habitants du sud des Hautes Fagnes du sobriquet quelque peu méprisant de „Motessen“. Suivant Leo Wintgens, il proviendrait de „Matthias“; et en effet: on peut aisément concevoir que la forme dialectale „Mattes“ a pu paraître aux Eupenois comme un nom typique pour un paysan inculte. Il est d’ailleurs incontestable que le sud accusait dans le domaine culturel un retard certain par rapport à la ville d’Eupen. (Leonardy 2004) [Der Norden und der Süden der heutigen Gemeinschaft, die industriell geprägte Region Eupen und die ländlich geprägte Region St. Vith, sind nicht nur durch das Hohe Venn getrennt, eine natürliche Barriere, die jahrhundertelang fast undurchdringlich war, sondern auch durch eine Kluft der gegenseitigen Unkenntnis. Bis heute bezeichnen die Einwohner von Eupen die Bewohner des südlichen Hohen Venns etwas herablassend als „Motessen“. Nach Leo Wintgens leitet sich dieser Spitzname von „Matthias“ ab, und es ist in der Tat leicht zu verstehen, wie die mundartliche Form „Mattes“ den Eupenern als typischer Name für einen ungebildeten Bauern in den Sinn kommen konnte. Es ist auch unbestreitbar, dass der Süden kulturell hinter der Stadt Eupen lag.] [Übersetzung: Penné, Sepp]
Die Geschichte des deutschsprachigen Raums in Belgien ist durch seinen Grenzcharakter geprägt. Die Bewohner dieser kleinen Region waren mehrmals gezwungen, ihre Staatsangehörigkeit zu wechseln. Allein während der beiden Weltkriege musste die Bevölkerung innerhalb von fünfundzwanzig Jahren drei
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Wechsel der Staatsangehörigkeit verkraften. Diese Hin- und Herbewegung zwischen Belgien und Deutschland führte zu einer Problematisierung des Konzepts der Grenze als natürlicher Trennlinie zwischen den Staaten in Ostbelgien. Belgien, Deutschland und die Niederlande werden von demselben kleinen Fluss – der Rur – durchquert, der somit auch verschiedene Sprach- und Kulturräume miteinander verbindet. Dieter Lamping weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass literarische Texte, die an der Schnittstelle von Sprachen und Kulturen angesiedelt sind, aus poetischer Sicht einen polemischen, kritischen Charakter haben, weil sie in der Lage sind, den Begriff „Grenze“ zu dekonstruieren: „Sie handeln nicht nur von Grenzübertritten, sie vollziehen sie auch, indem sie jeweils eine Grenze in der Sprache und durch die Sprache überschreiten. Sie überwinden die Grenze.“ (Lamping 2001, 152). Diese Grenzen und Kontaktzonen werden in der ostbelgischen Literatur als ein Raum voller Widersprüche und Mehrdeutigkeiten dargestellt, in dem Gefahren wie Provinzialismus oder Nationalismus lauern, der aber auch neue Möglichkeiten birgt und neue Perspektiven aufzeigt. Der zentrale Begriff „Heimat“ – als ideale Verbindung von geographischem Raum und persönlicher sowie kollektiver Identität – wird als dynamischer, sich wandelnder Raum verstanden, in dem die Darstellung von Sümpfen und Torfmooren eine wichtige Rolle spielt.
3 Sumpf und Torf als liminaler Topos Verschiedene alte Mythen und Märchen zeigen, dass das Motiv des Sumpfes eine lange kulturgeschichtliche Tradition hat. Der Sumpf wird oft als tückisch und gefährlich angesehen: „Der Sumpf ist ein nicht festes, nicht flüssiges, in unablässiger Bewegung befindliches Konglomerat, an dem die Elemente Wasser, Erde, Luft und Feuer gleichermaßen beteiligt sind. Er bildet ein tückisches Terrain – gefährlich und unberechenbar.“ (Rüth 2007, 191). Bekannte Beispiele in der deutschen Lyrik sind Annette von Droste-Hülshoffs Gedicht „Der Knabe im Moor“ oder Richard Dehmels „Über den Sümpfen“. Der Sumpf erscheint in der literarischen Überlieferung oft als gefährlicher, unheimlicher Ort, aber er wird auch mit dem Mütterlichen, mit Wachstum und Fruchtbarkeit assoziiert. Dies zeigt die kulturelle und historische Ambiguität des Sumpfes. Sumpf und Moor zeigen die Beziehung zwischen der Darstellung von transkultureller Räumlichkeit und kollektiver Identität. Grenzregionen wie Ostbelgien sind sowohl Erfahrungsräume als auch Zwischenräume. Aus dieser nicht-nationalen Perspektive ist Ostbelgien kein Randgebiet, sondern eine transnationale Region in der Nähe industrieller Ballungszentren wie Lüttich,
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Aachen und Maastricht. Solche Zwischenräume entwickeln im Laufe der Geschichte ihre eigene kulturelle und politische Dynamik (vgl. Ther 2014, 11–14). Für Jurij Lotman spielt die Grenze in dieser Perspektive eine wesentliche Rolle (vgl. Lotman 1990, 291). Die Grenze wird nicht nur als eine statische Linie verstanden, sondern als ein Grenzgebiet, das zu beiden Teilen gehört und sie miteinander verbindet. Auf diese Weise werden Grenzbereiche zu Kontaktzonen, die statische Unterschiede in Bewegung setzen können. Das Hohe Venn ist eine wichtige symbolische Projektionsfläche für diese Kontaktdynamik in der ostbelgischen Literatur. In Le Neutre (2002) vertritt Roland Barthes die Auffassung, dass Bedeutung auf der Grundlage binärer Gegensätze zugewiesen wird: heiß/kalt, weiß/schwarz, Erde/Meer, nass/trocken usw., wobei ein Begriff unter Ausschluss der anderen gewählt werden muss (vgl. Laury-Nuria, Lécole Solnychikine 2014, 14). Für Barthes ist „das Neutrale“ jede Figur, die sich dieser binären Tyrannei der Bedeutung verweigert und damit feste Kategorisierungen als aktives Prinzip untergräbt. Vor diesem Hintergrund kann der Sumpf, der zugleich Wasser und Land, nass und trocken, flüssig und fest ist, als ein tertium quid in der deutschsprachigen Literatur gesehen werden, das dichotome Zuordnungen wie „deutsch“ und „belgisch“ überschreitet und in Frage stellt. In der ostbelgischen Literatur wird der Sumpf immer wieder als ein Raum dargestellt, der in der Lage ist, das NichtZuschreibbare zu reflektieren und damit feste Identitätskonstruktionen von Nation und Staat zu dekonstruieren (vgl. Laury-Nuria, Lécole Solnychkine 2014, 27). Im Kapitel „Im Hohen Venn“ von Derwahls Bosch in Belgien entdeckt die Hauptfigur Albert die Schönheit des Hohen Venns wieder. Er vergleicht ihn mit dem Goldschatz am Ende des Regenbogens in Kindergeschichten und kommt zu dem Schluss, dass dieser Schatz keine Legende ist, sondern wirklich existiert (vgl. Derwahl 2006, 230). Gleichzeitig wird das Gebiet als Gegenpol zur bürokratischen Staatsmacht in Ostbelgien beschrieben (vgl. Derwahl 2006, 230–231). Die Wildheit der Natur in diesem Sumpfgebiet wird tatsächlich mit Begriffen wie Zivilisation und Politik konfrontiert. Zur politischen Bedeutung der Sumpfmetapher schreibt Josef Quack, dass der Sumpf und das Moor „häufig nicht nur ein deskriptiver Ausdruck für einen konkret gemeinten Naturzustand ist, sondern auch eine Metapher für einen politischen Zustand, die Bodenlosigkeit, Haltlosigkeit, Unbeständigkeit oder Unfaßbarkeit einer politischen Stellung.“ (Quack 2004, 123). Sümpfe und Moore sind nicht nur ein ökologisches, sondern auch ein kulturelles, historisches und literarisches Phänomen, das stets ein problematisches Gleichgewicht aufweist. Politisch verweist die Sumpfmetapher in der ostbelgischen Literatur auch auf die Unbeständigkeit
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und Instabilität der Grenzregion, die im Laufe der Zeit zu verschiedenen Staaten gehört hat. Das Hohe Venn suggeriert das Ende der Zivilisation, was angesichts der an einigen Stellen in Derwahls Roman geäußerten Umweltkritik sowohl positiv als auch negativ interpretiert werden kann. Schließlich ist die ökologische Sensibilität im Hohen Venn spürbar. Gleichzeitig ist das Hohe Venn „ein seltener Ort des Einsamen und Freien“. (Derwahl 2006, 233). Diese Einsamkeit wird mit „Heimtücke“ (Derwahl 2006, 231), aber auch mit Schmerz, Angst, Ungewissheit und Tod assoziiert: „Wer kam hierher, was trieb die Einsamen um?“ (Derwahl 2006, 233), fragt sich Albert. Die Kreuze im Hohen Venn erinnern an diejenigen, die das Abenteuer suchten, aber nie zurückkehrten. Sie verraten nicht viel über den Verstorbenen und flößen Angst ein. Es ist klar, dass es sich dabei immer um tragische, unvorhergesehene und plötzliche Ereignisse handelt. Damit kommen wir zur anderen Seite der Medaille. Abgesehen davon, dass die wilde Natur des Gebiets mit der politischen Bürokratie kontrastiert und mit Schönheit und Weite assoziiert wird, ist das Hohe Venn in den Romanen gleichzeitig ein Symbol für die mentale Grenze zwischen den Bevölkerungen der beiden ostbelgischen Regionen, nämlich dem Eupener Land und der belgischen Eifel (vgl. Bergmans 2020, 149). Der Ursprung dieser mentalen Grenze liegt in politischen und sprachlichen Konflikten. Das Hohe Venn ist also nicht nur eine buchstäbliche, natürliche Grenze zwischen den beiden Regionen, sondern auch eine symbolische. James C. Scott weist darauf hin, dass der Sumpf als „nichtstaatlicher Raum“ betrachtet werden kann, der in einem staatlichen Kontext nur schwer zu institutionalisieren und zu kontrollieren ist: „Nonstate space […] points to locations where, owing largely to geographical obstacles, the state has particular difficulty in establishing and maintaining its authority.“ (Scott 2009, 13). Das Hohe Venn als „nichtstaatlicher Raum“ steht in der deutschsprachigen belgischen Literatur einerseits für eine Form von Freiheit und Selbstverwirklichung, andererseits für die Entfremdung vom belgischen Staat. Das Hohe Venn wird also sowohl geographisch als auch symbolisch als „Mauer“ zwischen dem Eupener Land und der belgischen Eifel dargestellt, wie die folgende Passage aus Bosch in Belgien zeigt: Auf der Rückfahrt ist Albert mehr denn je bewusst geworden, dass die Wälder und das Hohe Venn eine souveräne Grenze bilden. Zwischen dem Eupener Land und der Eifel steht eine Wand. Wäre nicht die einsame, mitunter schwer passierbare Straße, man würde in den Torflöchern versinken, sich im Nebel verirren. Über den gurgelnden Wassergräben schlägt das Wetter, heulen die Winde. Die Wege versumpfen, Bäume verkümmern. Alle Jahreszeiten sind Spätgeburten; karges, scheues Grün, nur resistente Pflanzen überleben. Es herrscht das Regime einer anderen Geologie, selbst die Wasserläufe trennen sich und fließen in verschiedenen Strömen, der Maas und dem Rhein, entgegen. (Derwahl 2006, 231)
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Das Zitat stellt das Hohe Venn und die Wälder der Ardennen als „souveräne Grenze“ und „Wand“ dar und beschwört eine bedrohliche Atmosphäre herauf, weil viele Bäume „verkümmern“ und es nur „karges, scheues Grün“ gibt. Außerdem zeigt das Zitat, dass selbst die Wege des Hohen Venns wegen des sumpfigen Bodens nicht leicht begehbar sind. Dies spiegelt die geologische Lage des Venns in einem Sumpfgebiet wider. Der Erzähler spricht von „Torflöchern“, von „gurgelnden Wassergräben“, von „sumpfigen“ Wegen. Die geographische Trennung zwischen den beiden Teilen Ostbelgiens, die durch das Venn gebildet wird, wird also durch die sumpfigen und schwierigen Wege noch verstärkt.
4 Historische Figurationen von Moor und Torf In jedem der drei Romane enthält die geographische Dimension des Sumpfes eine zentrale historische Komponente. Die Hauptfiguren sehen den sumpfigen Boden als ein Terrain, in dem sie leicht versinken können. Freddy Derwahl beschreibt, wie sumpfig der Boden in dieser Region ist: „Der Boden ist weich und morastig, schon die Römer, die in den Sumpflöchern von Les Wéz mühselig an einer ‚Via Mansuerisca‘ buddelten, wussten, wie tief zu schaufeln ist, bevor man in diesem Terrain für kurz bemessene Jahreszeit auf festen Halt stößt.“ (Derwahl 2006, 235). Der sumpfige Boden ist instabil, und so bleiben die Passanten, Bewohner, aber auch Eindringlinge, darin gefangen. Das Bild des Sumpfes verweist auf das schwierige Verhältnis der Figuren zur Vergangenheit, die sie am liebsten einfach vergessen würden. Auch Leo Wintgens spielt im Titel seines Romans Wege aus Sümpfen auf die Gefahr der Verstrickung an. Wintgens assoziiert den Sumpf mit Bedrohung und Gefahr, denn er soll die Heimat von Dämonen sein: Der Teufel hat aber seit Menschengedenken auch in diesem Raum seine Finger im Spiel. Nicht nur beim Bau des Aachener Doms, wo im Türgriff der Hauptpforte ein abgebissener Finger an ihn erinnert, auch quer durch das Venn hat er seine Zeichen hinterlassen. So wird erzählt, dass Karl der Große, wie später Dr. Faustus, eines Tages einen Pakt mit dem Teufel schloss. […] Ob der Sumpfteufel, um sich zu rächen im gesamten Gebiet und auch auf Karls nächstliegendem Königshof die Karten falsch gemischt hat, kann nur vermutet werden. Jedenfalls herrschten hier bis in die jüngste Zeit hinein im Allgemeinen und im Enzelnen derartig verworrene Zustände, dass lange Jahre kein Frieden einkehrte, so dass die banale Realität selbst dem unbefangenen Betrachter oft wie eine Erscheinung, wie ein Film anmutet – manchmal sogar wie ein Albtraum, ein Gruselfilm. (Wintgens 2001, 5–6)
Auf diese Weise wird der „Sumpfteufel“ als Ursache für die turbulente Vergangenheit identifiziert, mit der die Grenzregion zu kämpfen hatte und die noch
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heute ihre Spuren hinterlässt: Er verwandelt selbst die Banalität des Alltags in etwas Unwirkliches, das wie ein Alptraum wirkt. Der Sumpf wird mit dem Unheimlichen2 assoziiert, das sich nach Freud nicht im Fremden oder Neuen zeigt, sondern im Bekannten und Vertrauten, das verdrängt wurde und plötzlich wieder zum Vorschein kommt (Cassin 2014, 432). Durch diese Assoziation mit dem Unheimlichen wird der Sumpf zu einem Symbol für das Verdrängte, wie auch David Miller in seiner Studie über die amerikanische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts feststellt, wo Schriftsteller wie Henry David Thoreau den Sumpf mit der spezifischen Absicht darstellten, „to illustrate certain primitive or deeply repressed psychological complexes“ (Miller 1989, 15). Die verdrängte Vergangenheit des deutschen Nationalismus in der Zwischenkriegszeit und der Kollaboration während des Zweiten Weltkriegs wird gleichsam auf dem schlammigen, sumpfigen Boden festgehalten. Dem „Sumpf“ der Vergangenheit zu entkommen, scheint eine besonders schwierige Aufgabe zu sein, die die Romanfiguren selbst bewältigen müssen, wie es in der Einleitung zu Wege aus Sümpfen heißt: „Aus so einem Sumpf könnte man sich nur an den eigenen Haaren herausziehen [...]“ (Wintgens 2001, 9). Das Sumpfmotiv spielt also darauf an, dass in diesem Naturschutzgebiet viele Geheimnisse verborgen liegen, die die verdrängte Vergangenheit, aber auch die latenten Widersprüche zwischen der belgischen Eifel- und Eupener Landschaft und die Intrigen der politischen Parteien betreffen (Derwahl 2006, 231). Die Geheimhaltung des kollektiven Gedächtnisses, das im Boden wie eine Moorleiche aufbewahrt wird, führt dazu, dass das Moor auch die Mumifizierung der traumatischen Kriegsvergangenheit vor staatlicher Kontrolle schützt, die die Bevölkerung Ostbelgiens erneut der Macht Brüssels ausliefern könnte. Literatur als öffentliches Medium kann dazu beitragen, dass die eigene Geschichte und die Ursprünge der kollektiven Identität – wie auch immer definiert – nicht vergessen werden. Vor diesem Hintergrund, so Freddy Derwahl in einem Feature von Christian Linder im Band Ostbelgische Autoren im Portrait (1999), müsse die ostbelgische Literatur dazu beitragen, die Erinnerung an die Verstrickungen der Ostkantone während des Nationalsozialismus wach zu halten: Deshalb gilt es immer dann, wenn die Eupener (und überhaupt die deutschsprachigen Belgier) hinter ihre Gardinen flüchten möchten, nichts gewußt haben und nichts gewesen sein wollen, die Stimme zu erheben, sich ein- und auszusetzen gegen die Gefahren des uns umschleichenden, tödlichen Vergessens. (Derwahl 1999, 103) || 2 Diese Dimension des Unheimlichen, Undurchsichtigen und Unerreichbaren in der Sumpfmetapher wird auch von Monika Schwarz-Friesel (2015, 155) hervorgehoben.
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Das Hohe Venn bedeutet in der deutschsprachigen belgischen Literatur zwar einen Schutz vor staatlichen Eingriffen, aber dieser Schutz ist auch ein Rückzug in die Peripherie des Staates, der zur Unsichtbarkeit in der nationalen Öffentlichkeit führt. Es ist gleichzeitig ein Schutzraum und eine Unterwerfung. Die Sumpfmetapher steht also auch politisch für die Verwahrlosung und Entmenschlichung der Bevölkerung: „Das System (und der Mensch in ihm) lassen sich abbilden mit den Metaphern [...] des Sumpfes [...], einer exhumanen biogenen Struktur jenseits von Gut und Böse. Im Bild des Sumpfes wird der Mensch vom System unterworfen und malträtiert.“ (Geilenberg 2020, 134). Das Motiv des Sumpfes ist nicht nur mit Aspekten der Vergangenheit und der politischen Intrige verbunden, sondern auch mit dem Sprachproblem, mit dem die ostbelgische Bevölkerung lange Zeit konfrontiert war. In diesem Zusammenhang spricht Wintgens im zweiten Teil seines Romans vom „Sprachenmorast“ (Wintgens 2006, 8 und 432) der Region. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg litt die deutsche Sprache in der Region lange Zeit unter der Verdrängung durch die französischsprachigen belgischen Behörden. Deutschsprachige wurden von der wallonischen Bevölkerung mit Misstrauen betrachtet. Darüber hinaus wird das Motiv auch als religiöses Symbol verwendet, etwa wenn Hannes Anderer vom „Sumpf der Sünde“ spricht (Anderer 2006, 256). Auch hier wird der Sumpf mit dem Unergründlichen assoziiert, und das Motiv erhält eine Bedeutung, die sich auf soziale Stagnation, soziale Isolation und moralischen Verfall bezieht, wie auch Wilson in seiner Arbeit über die Darstellung des Sumpfes in der Kultur der Südstaaten der USA hervorhebt, nämlich „swamps as apt metaphors for a civilization in moral and cultural decay“ (Wilson 2006, 22). 3 Der Sumpf, im Gegensatz zum Fluss, das Leblose als Gegenteil von panta rhei (πάντα ῥεῖ), steht für den organischen Unterschied zwischen dem Unfruchtbaren und dem Fruchtbaren. Im Buch Ezechiel 47,11/12 wird in diesem Zusammenhang auf diese Unterscheidung angespielt, wenn vom Wasser in der Küstenregion die Rede ist: Die Lachen und Tümpel aber sollen nicht gesund werden; sie sind für die Salzgewinnung bestimmt. An beiden Ufern des Flusses wachsen alle Arten von Obstbäumen. Ihr Laub wird nicht welken und sie werden nie ohne Frucht sein. Jeden Monat tragen sie frische
|| 3 Stewart und Strathern betonen in diesem Zusammenhang auch die religiöse Relevanz von lokal verankerten Landschaftswahrnehmungen: „The sense of place and embeddedness within local, mythical, and ritual landscapes is important. These senses of place serve as pegs on which people hang memories, construct meanings from events, and establish ritual and religious arenas of action.“ (2003, 3).
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Früchte; denn das Wasser des Flusses kommt aus dem Heiligtum. Die Früchte werden als Speise und die Blätter als Heilmittel dienen.
In dieser biblischen Perspektive verweist Anderers „Sumpf der Sünde“ auch auf die Schwierigkeit, sich in einem Zustand der moralischen Unbeweglichkeit von der „Sünde“ zu befreien. In L’eau et les rêves (1997 [1942], 96) betont Gaston Bachelard, dass die „unergründlichen“, „düsteren“ stillen Wasser der Tümpel und Sümpfe eine Quelle der Reflexion sind, eine „Lektion“ über den Tod: [C]e n’est pas la leçon […] d’une mort qui nous emporte au loin avec le courant, comme un courant. C’est la leçon d’une mort immobile, d’une mort en profondeur, d’une mort qui demeure avec nous, près de nous, en nous. [Es ist nicht die Lektion [...] eines Todes, der uns mit der Strömung weit weg trägt. Es ist die Lektion eines unbeweglichen Todes, eines Todes in der Tiefe, eines Todes, der bei uns, in unserer Nähe, in uns wohnt.] [Übersetzung: Penné, Sepp].
Die Unbeweglichkeit des Sumpfes symbolisiert die Auflösung der Zeit. Sie ist ein Symbol für den Tod und das Leben der Figuren und auch ein Zeichen für die Unveränderlichkeit des Gebiets. In dieser Umgebung, in dieser Landschaft, haben die Protagonisten der Romane keine andere Wahl, als über ihr Schicksal nachzudenken. Schließlich wird das Motiv des Sumpfes verwendet, um die veränderte Perspektive in Zeiten des Krieges zu betonen. In Kriegszeiten lebt man sozusagen in einer anderen Realität, in der bestimmte Elemente eine andere Bedeutung bekommen. Der Sumpf wiederum erhält eine positive Konnotation, indem er die Bevölkerung in diesen turbulenten Zeiten schützt: Vor einigen Tagen hatte Paa in einer Suhle hinterm Haus zufällig einen Blindgänger entdeckt. Die deutsche Granate war, von Aachen her abgefeuert, über Nacht nur wenige Zentimeter am Geäst der Linde vorbei über den First in die Kälberwiese gesaust. Dort saß sie in einem Feuer fest. Da wär vom Königshof nicht mehr viel übrig geblieben, hatte Vater gemeint [... ]. (Wintgens 2001, 82)
Der Schlamm schützte die Familie vor der Explosion der Granate, indem er sie buchstäblich aufsaugte. Obwohl die negative Konnotation des Sumpfmotivs in den untersuchten Romanen vorherrscht, könnte der Schutz, den der Sumpf der Familie in Kriegszeiten bot, mit der weiblichen Assoziation zusammenhängen, die dem Sumpf in der literarischen Tradition zuweilen zuteilwird, da das Mütterliche mit der Lebensspende und mit Aspekten der Pflege und des Schutzes assoziiert wird. Anstatt den Sumpf als abgegrenzten Raum in der deutschsprachigen belgischen Literatur zu sehen, kann er vielmehr als Element eines Netzes
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sozialer Beziehungen betrachtet werden, die ein Zugehörigkeitsgefühl ermöglichen, das nicht rein lokal, sondern im Gegenteil transnational ist: Das Venn ist [...] nicht nur ein trennendes, sondern auch ein verbindendes Element, da es sich als belgisch-deutsches Naturschutzgebiet von der Wallonie nach Deutschland erstreckt und als Hochmoor alle umliegenden Regionen insbesondere über die Flüsse Weser, Gileppe, Warche und Rur mit Wasser versorgt. (Bergmans 2020, 106)
Wie Norbert Mecklenburg in seiner Studie Erzählte Provinz über den literarischen Regionalismus feststellt, ist die Spannung zwischen dem Regionalen und dem Universellen der Regionalliteratur inhärent, da sie versucht, den universellen Menschen in der Besonderheit der Region zu verorten: „Autoren des regionalen Romans [haben] seit je paradoxerweise ihr Selbstverständnis geradezu anti-regionalistisch formuliert, um ihren Universalitätsanspruch glaubhaft zu machen.“ (Mecklenburg 1982, 42). Die Dialektik von regionaler und globaler Perspektive in der deutschsprachigen belgischen Literatur ist keineswegs als Widerspruch zu verstehen. Im Gegenteil, die beiden Arten der Wahrnehmung sind untrennbar miteinander verbunden. Der ostbelgische Sprachwissenschaftler Manfred Peters weist zu Recht darauf hin, dass in der deutschsprachigen transkulturellen Grenzliteratur in Europa Heimat und Kosmopolitismus zwei Seiten derselben Medaille sind: Einerseits wachsen viele Autorinnen und Autoren über ihre Region hinaus. Aber in einer [europäischen] Gemeinschaft von fast einer halben Milliarde Bürgerinnen und Bürgern braucht der Mensch die Verbundenheit mit den Wurzeln, was keineswegs gleichzusetzen ist mit Kirchturmpolitik oder – im literarischen Bereich – mit Regionalliteratur. (Peters 2009, 18)
Lise Gauvin weist darauf hin, dass eine „kleine“ Literatur (sensu Deleuze/Guattari) in einer „großen“ Sprache sinnbildlich für die Position der Autoren an der Schwelle ist, die ihre eigene Deterritorialisierung aufzuwerten scheinen, indem sie die Universalität der menschlichen Existenz vom Rand ins Zentrum rücken (Gauvin 2003, 21).
5 Fazit Aufgrund ihrer persönlichen Erfahrungen während des Krieges oder in der unmittelbaren Nachkriegszeit stehen die Schriftsteller Freddy Derwahl, Hannes Anderer und Leo Wintgens einem romantischen, volkstümlichen Heimatverständnis negativ oder zumindest sehr kritisch gegenüber. Auch Bruno Kartheu-
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ser – eine weitere wichtige Stimme im ostbelgischen Literaturbetrieb – wendet sich deshalb in einem seiner Essays gegen die Idee einer exklusiven Heimat. Er schreibt in diesem Zusammenhang: Die ganze Heimat ist eine Illusion. Es geht immer nur um die individuelle Summe von parzellarischen Elementen. Das sind Örtlichkeiten jeder Art, in der Erinnerung aufgehobene Glücksmomente der Vergangenheit, freigewähltes und begeistertes Schaffen, geistige Orte des Erlebten […]. (Kartheuser 2007, 197)
Aufgrund seiner ambivalenten Bedeutung scheint es, als ob das Hohe Venn die Essenz des gesamten Gebiets enthält: ein Gebiet voller Kontraste, ohne wirkliche Einheit. Der Sumpf überwindet die landschaftliche Dichotomie zwischen Land und Wasser und hat als „poetisches Labor“ (Laury-Nuria, Lécole Solnychkine 2014, 14) das Potenzial, gesellschaftliche Spannungsfelder sichtbar zu machen. In einem symbolischen Sinne wird das Motiv von Sumpf und Torf tatsächlich als Topos verwendet, um eine mentale Grenze auszudrücken. Die literarische Darstellung dieser Landschaft legt in dieser Sichtweise die geographische und erinnerungskulturelle Beziehung zwischen Region, Nation und Welt offen. In Shadow and shelter. The swamp in southern culture (2006) bezeichnet Anthony Wilson Sümpfe als „dialogic participants in cultural definition“ (2006, xi), die die komplexe Definition der nationalen und regionalen Identität durch historische Konflikte und kulturelle Spannungen zum Ausdruck bringen. David C. Miller (1989, 3) hebt in einem anderen Zusammenhang – dem der amerikanische Kunst – auch die kulturgeschichtliche Widersprüchlichkeit des Moores hervor, indem der Topos sowohl „the domain of sin, death, and decay; the stage for witchcraft“ bedeuten mag, als auch „an exhilarating and self-renewing experience“ bieten kann. Einerseits ist das Motiv der Sümpfe und Torfmoore in der ostbelgischen Literatur eine Darstellung des regionalen Widerstands gegen die Eingriffe des belgischen Staates in die Sprach- und Kulturpolitik und kann somit als „stateresistant place“4 betrachtet werden. Das Hohe Venn symbolisiert die schwierige Beziehung der Protagonisten zur Vergangenheit ihrer Gemeinschaft, die durch zwei Weltkriege zwischen der deutschen und der belgischen Nationalität hinund hergerissen wurde. Der sumpfige Boden wird mit der unbearbeiteten,
|| 4 Diese Widerstandsfähigkeit gegenüber staatlichen Eingriffen hat der Sumpf mit anderen niedrig gelegenen Feuchtgebieten wie Deltas, Mangroven, Schären usw., aber auch mit Gebirgen gemeinsam, wie James C. Scott betont: „A complete accounting of state-resistant places would have as many pages devoted to low, wet places – marshes, swamps, fens, bogs, moors, deltas, mangrove coasts, and complex waterways and archipelagoes – as to high mountain.“ (Scott 2009, 169).
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„mumifizierten“ Vergangenheit assoziiert. Andererseits markiert das Hohe Venn in geographischer Hinsicht die Mentalitätsunterschiede zwischen den beiden deutschsprachigen Gebieten, die in den Romanen dargestellt werden, nämlich dem Eupener Land und der belgischen Eifel. Das eine Gebiet ist eher städtisch und fortschrittlich, das andere eher ländlich und konservativ. In diesem Zusammenhang kann die ostbelgische Literatur als ein privilegiertes Medium der Kritik angesehen werden, um den Druck des Unausgesprochenen und Verschlossenen zum Ausdruck zu bringen und öffentliche Diskussionen innerhalb der Gemeinschaft anzustoßen.
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Antje Schmidt und Jule Thiemann
Chronik einer Moorlandschaft: Gelungene Interspezies-Begegnungen und anthropozäne Melancholie in Sarah Kirschs Allerlei-Rauh (1988) Zusammenfassung: Der Aufsatz widmet sich dem bedrohten Naturraum des Moors in Sarah Kirschs Prosatext Allerlei-Rauh (1988). In der autofiktionalen Chronik verbinden sich Topoi der Melancholietradition mit einer akribisch fürsorglichen Naturbetrachtung und -dokumentation, die den Naturdichtungen Annette von Droste-Hülshoffs ebenso nahestehen wie dem Genre des Nature Writing. So bezeugt und ästhetisiert eine melancholisch affizierte Instanz die schleswig-holsteinische Moorlandschaft als Ort gelungener InterspeziesBegegnungen und doch als prekäres Idyll, an dem die zerstörerischen Folgen anthropozäner Moorkolonisierung und Naturausbeutung im ausgehenden 20. Jahrhundert bereits deutlich zutage treten. Negiert wird somit eine langwährende hierarchisch und dichotomisch geprägte Tradition des Schreibens über das Moor als wüster und artenarmer locus terribilis, den es durch den Menschen zu zivilisieren und auszubeuten gilt.
1 Einleitung Im umfangreichen lyrischen und prosaischen Werk der Autorin Sarah Kirsch ist das Moor mitsamt seiner typischen Flora und Fauna allgegenwärtig. Es finden sich darin etwa imaginierte Moorgänge mit der Dichterin Annette von DrosteHülshoff (vgl. Kirsch 2005 [1974], 107) oder allein (vgl. Kirsch 2005 [1984], 266), eine unbetretbare Moorwiese wird zum verhexten Sehnsuchtsort von Mensch und Tier (vgl. Kirsch 2006 [1982], 236) oder das Moor dient als unheimliche Herkunft eines verwilderten „Wiedergänger[s]“, dessen Füße sich in „Torfmoos“ verfangen (Kirsch 2006 [1984], 263). Auffallend häufig findet die Moorlandschaft in solchen Texten Kirschs Erwähnung, in denen sich autofiktionale und fiktionale Handlungselemente verschränken, lebte die reale Autorin doch in Moornähe und dokumentierte diese in ihren Tagebüchern oder inszenierte die sie umgebende Landschaft in Prosa und Lyrik.
https://doi.org/10.1515/9783110786743-010
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In ihrem als „[e]ine Chronik“ (AR 211)1 untertitelten lyrischen Prosatext Allerlei-Rauh,2 der in diesem Beitrag im Zentrum stehen wird, entwirft Sarah Kirsch ihre reale Heimat, das in Schleswig-Holstein befindliche Dellstedter Birkwildmoor als der Melancholie sowie dem Tod verbundenen Raum: In den 1980er Jahren, in denen sich die Folgen anthropogener Naturzerstörung bereits deutlich, auch in Moorgebieten, zeigen, entwickelt sie eine melancholische Moorphilosophie, die sich als Besorgnis nicht nur um ihre heimische Moorlandschaft, sondern auch um die Folgen menschlichen Handelns für den gesamten Planeten erweist. Infolge dieser durch Sorge begründeten Ethik inszeniert Kirsch die erweiterte Moorlandschaft in Allerlei-Rauh als Ort für Praktiken artenimmanenter wie artenübergreifender Fürsorge. Damit schreibt sie an gegen eine dominante literarische Tradition, die das realiter oft artenreiche Moor als locus terribilis, als ebenso öde wie wüst und leer charakterisiert und seine Elemente als Symbole für menschliche Zusammenhänge einsetzt. Wie im Folgenden zu erörtern sein wird, erscheint die Moorlandschaft im Werk Kirschs somit gleichermaßen als pluraler Lebensraum jenseits ausschließlicher literarischer Vereinnahmungen der Natur, die dem Moor traditionell keinen Eigenwert zugestehen.
2 Moor als Ödnis und Raum der Melancholie „Öde heißt man das Moor, und traurig und verlassen. Wer es so schimpft, der kennt es nicht.“ (Löns 1924 [1911], 51). Mit diesen Worten fühlt sich der als Heidedichter bekannt gewordene Hermann Löns 1911 in einer Prosaminiatur bemüßigt, eine Kurskorrektur in Bezug auf eine dominante Tradition literarischen Schreibens über das vermeintlich tote und traurige Moor bzw. die wüste Sumpflandschaft anzumahnen, die sich spätestens seit dem 17. Jahrhundert durch die deutschsprachige Literaturgeschichte verfolgen lässt. In Andreas Gryphius’ be-
|| 1 Zitate aus dem Prosastück Allerlei-Rauh (1989) von Sarah Kirsch werden im Folgenden unter Verwendung der Sigle AR, gefolgt von der Seitenzahl, nachgewiesen. Alle Zitate folgen der Ausgabe Kirsch 2006. 2 Kirschs Allerlei-Rauh kann im Anschluss an stilistische und strukturelle Gattungsbestimmungen als „lyrische Prosa“ qualifiziert werden, insofern der Text sich nicht nur durch eine stark verdichtete Symbolik bzw. Allegorik sowie eine lyriktypische „Überstrukturiertheit“ (Link 1992, 94) auszeichnet, sondern auch durch seinen montageartigen Aufbau auf eine „pragmatische Handlungsführung“ (Göttsche 2010, 42) verzichtet. Gattungshybride Texte, die lyrisches, prosaisches, teils dokumentarisches und journalartiges Schreiben vereinen, lassen sich in allen Werkphasen Kirschs nachweisen.
Anthropozäne Melancholie in Sarah Kirschs Allerlei-Rauh | 197
kanntem Einsamkeits-Sonett dient etwa das Feuchtgebiet der Etablierung des locus terribilis, eines einsamen und gefährlichen Ortes, an den sich der in melancholischer Anfechtung befindliche Sprecher zur heilenden meditatio begibt (vgl. Mauser 1982, insb. 235–239). An diesem Ort ist die „mehr denn oͤ den wuͤ sten / Gestreckt auff wildes Kraut / an die bemoͤ ste See“ (Gryphius 1963 [1650], 68). Unfruchtbar, wild und sumpfig ist der religiös-allegorisch codierte Raum, in dem Elemente wie „der rauhe Wald / der Todtenkopff / der Stein“ sowie „die abgezehrten Bein“ (Gryphius 1963 [1650], 68) die bedrohliche und vergängliche Beschaffenheit der materiellen irdischen Welt und Sündennatur des Christenmenschen widerspiegeln, der es mit beständigem Glauben zu begegnen gilt. Am zugleich als wüst, waldreich und sumpfig imaginierten Schauplatz kann der Meditierende betrachtend die Vanitas, die „Tatsache der Eitelkeit alles Irdischen“ (Mauser 1982, 232) sowie seine eigene „heilsgeschichtliche Bestimmung“ (Mauser 1982, 232) erkennen und verwirklichen, weshalb Gryphius die erschreckend leblos imaginierte Landschaft paradoxerweise als „schön und fruchtbar“ (Gryphius 1963 [1650], 68) für den Sprecher ausweist, der in ihr den Auftrag zur Glaubensfestigkeit erkennt. Man findet hier also einen nicht näher definierten Sumpf als Teil eines religiös grundierten Phobotops, das die Gefahren der Glaubensferne versinnbildlicht. Historisch in einer Zeit vor der umfassenden Kolonisierung der Moor- und Sumpfgebiete des deutschsprachigen Gebiets datierend, verkörpern die Feuchtgebiete in besonderer Weise die todbringenden Gefahren des Feststeckens und Versinkens, die bei Gryphius zumindest entfernt auch in ihrer allegorischen Dimension anklingen. Dabei ist die evozierte Landschaft des Sonetts, bestehend aus Sumpf, Wald und Wüste, jedoch nicht nur irreal in ihrer Zusammensetzung (vgl. Mauser 1982, 233), sondern religiös und heilsgeschichtlich kodiert, insofern „die Entscheidung für den Ort […] und für die Zusammenstellung der Gegenstände“ (vgl. Mauser 1982, 233) ausschließlich im Hinblick auf ihre symbolische Bedeutung für die zu vermittelnde heilsgeschichtliche Botschaft getroffen wurden. Die Naturelemente werden hierzu aus „bereits vorgeprägten Bedeutungseinheiten synthetisiert“, sodass ein komplexes „Meta-Emblem“ entsteht (Detering 2015, 208). Dieser instrumentelle und artifizielle literarische Umgang mit den Elementen der aufgerufenen Wildnis, zu der der Sumpf zählt, ist zum einen zu erklären durch eine barocke Poetik, der ein wirklichkeitsgetreuer und unmittelbarsinnlicher Umgang mit Landschaften, wie er etwa im aus dem angloamerikanischen Kontext stammenden Genre des Nature Writing seit dem 18.
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Jahrhundert gepflegt wird,3 noch weitestgehend fern liegt (vgl. Mauser 1982, 233). Dennoch sind historisch spätere sowie programmatisch und poetologisch abweichende Moordarstellungen, wenn auch in der Regel sinnlich-anschaulicher und weniger versatzstückartig als im Barocksonett, immer wieder bestimmt durch symbolische, allegorische oder theoretische Darstellungsregien, zum Beispiel naturphilosophische, und ihnen entsprechend untergeordnet. Wie Heinrich Detering herausstellt, sind etwa die „zunächst gleichnishaft evozierten Moore, Gruben, Heidefelder“ im Werk Annette von Droste-Hülshoffs zwar auf „individuelle Naturräume bezogen […], gehen aber überhaupt erst aus den allegorischen, dabei auf barocke Emblematik zurückgreifenden Bildern einer christlichpessimistisch gedeuteten Sündenwelt hervor“ (Detering 2015, 209). Die realistischen Naturgedichte Droste-Hülshoffs konkretisieren die Landschaft so, „dass die religiöse Deutung aus ihnen hervorzugehen scheint“ (Detering 2015, 209). Sarah Kirsch, die ein Gedicht in ihrem Band Zaubersprüche unter den Titel „Der Droste würde ich gern Wasser reichen“ (Kirsch 2005 [1974], 107) stellt und darin unter anderem einen gemeinsamen Moorgang des artikulierten Ich und der Autorin imaginiert, scheint das Werk Droste-Hülshoffs nicht nur genau studiert zu haben, sondern auch diese Form des (allegorischen) Schreibens über konkrete Naturräume wie die Moorlandschaft auf zeitgenössische Weise weiterzuentwickeln. So sind Kirschs literarische Verfahren der detaillierten Beobachtung und Beschreibung von Naturphänomenen (z. B. auffälliges oder typisches Pflanzenwachstum im Moor) unter Zugriff auf botanische Fachtermini aus heutiger Perspektive anschlussfähig an Theorie-Settings des bereits erwähnten und derzeit stark diskutierten Genres des Nature Writing.4 In einem teils literarischen, teils dokumentarischen Text des Reiseschriftstellers Johann Georg Kohl steigert sich die bei Gryphius etablierte Trope des melancholischen Moors zu einer zur Schau gestellten Abscheu gegenüber der Landschaft. Im 1863 im Magazin Die Gartenlaube erschienenen Bericht über einen Ausflug in das Teufelsmoor bei Bremen, das gegen Ende des 19. Jahrhunderts ein beliebtes Sujet der Worpsweder Künstler*innen wurde, weist Kohl die Abwesenheit einer lebendigen Flora und Fauna als Hauptkennzeichen des noch nicht kolonialisierten Gebietes aus, obwohl in den Zeilen selbst deutlich wird,
|| 3 Vgl. für eine Übersicht zu Traditionslinien des Nature Writing und seine neueren Entwicklungen: Smith 2017. 4 Für die deutschsprachige Diskussion über das Nature Writing vgl.: Goodbody 2008, Fischer 2019, Dürbeck/Kanz 2020.
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dass es nur die Abwesenheit bestimmter Spezies ist, die in der Erzählinstanz den Eindruck einer vermeintlichen Leere auslöst:5 Obgleich wir mitten in der schönsten Jahreszeit dort waren, in der Alles umher, was nicht Moor war, grünte und blühte, und in der alle Gebüsche vom Gesange der Vögel erklangen, so war doch auf diesem Plateau Alles todt und öde, als wäre es der tiefste Winter. Vögel giebt es da nicht, weil kein Gebüsch und keine Gelegenheit zum Nesterbau vorhanden ist. Keine Lerche jubelt in den Lüften. Selbst Fuchs und Hase können in diesen Sümpfen nicht wohnen und leben. Obgleich die Sonne lieblich strahlte, stolperten wir in Wasserstiefeln auf tiefen schmutzigen Morastwegen wie im trüben November. Die Oberfläche war überall mit verschiedenen Sorten schmieriger und schwammiger Moose bewachsen. Wir konnten uns einbilden, es wäre ein riesiger verfaulter, auf der Erde hingestreckter Baumstamm, auf dessen todter Rinde wir wie kleine Käfer kröchen. (Kohl 1863)
Winterliche Ödnis, fehlender Bewuchs der Landschaft mit „Gebüsch“, die daraus resultierende Abwesenheit von Singvögeln, etwa der „Lerche“ und größerer Säugetiere wie „Fuchs und Hase“ rücken das Moor symbolisch in die Nähe des Todes. Die einzigen Pflanzen, die „Moose“, werden als „schmierig[]“ und „schwammig[]“ charakterisiert. Diese abstoßende Qualität des Moors wird zusätzlich durch einen Vergleich evoziert: Die Wanderer kriechen „wie kleine Käfer“ auf einem modrigen Weg, der mit den „verfaulte[n]“ Baumstämmen verglichen wird, die wiederum als vermoderte Substanz an der Entstehung von Hochmooren wie dem Teufelsmoor beteiligt sind. Deutlich wird an diesem kurzen Abschnitt, wie der Besuch im Moor die unerwünschte Nähe des Berichtenden zu seiner als abjekt und unzivilisiert empfundenen niedrigen und buchstäblich erdnahen Natur evoziert, ausgedrückt nicht nur in der konkreten materiellen – schmierigen, schlammigen und fauligen – Beschaffenheit des Moors, sondern auch im Vergleich der Menschen mit kleinen Käfern. Dieser symbolischen Nähe des Moors und seiner Bewohner*innen zum vermeintlich Unzivilisierten und Irrationalen mag es zudem geschuldet sein, dass die Landschaft traditionell häufig als Phobotop entworfen wird, in dem Wandernde nicht nur mit den Gefahren des Todes, sondern auch des Übersinnlichen, etwa in Gestalt von Irrlichtern, Hexen oder Geistern konfrontiert werden, wie etwa in Droste-Hülshoffs „Der Knabe im Moor“ (Droste-Hülshoff 1985 [1844], 67–68) und auch in Kirschs Allerlei-Rauh. Darin ist ein Moorgebiet in MecklenburgVorpommern Refugium einer namenlosen Frau, die in einer alten „Moorkate“ lebt und magische Kräfte in Bezug auf Geburts- und Erntevorgänge zugesprochen bekommt (AR 271). || 5 Vgl. dazu auch Fischer 2009 und 2019. Fischer meint, dass Kohl hier „hinter die Erhabenheitsästhetik zurückgeht“ (2019).
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In Kohls Reisebericht ruft das noch weitgehend unbebaute und vermeintlich nutzlose Gebiet des Teufelsmoors letztlich den Wunsch nach gewaltvoller Kultivierung hervor: „Je mehr dieses Bergwerk vorwärts und zu den Seiten sich in die Masse einfrißt und den Torf bis auf den Unterboden abarbeitet, desto mehr Wiesen und Ackerfelder kommen an den Tag, und desto reicher und blühender wird das Dorf.“ (Kohl 1863). Kohls Erzählinstanz offenbart hier also nicht nur den Wunsch, dem scheinbar wüsten Teufelsmoor Rohstoff und blühende Dörfer abzuringen, sondern damit indirekt das Bedrohliche und Abjekte, die zu Stellvertretern für das vermeintlich Unzivilisierte der menschlichen Natur stilisiert werden, zu beherrschen. Nach Ludwig Fischer sei es dabei auch das rhetorische Ziel, dass die Rezipierenden gemeinsam mit dem Schriftsteller über die im Zuge der Kultivierung erfolgte Ästhetisierung der Landschaft triumphieren (vgl. dazu ausführlich Fischer 2009, 5–7). Hinter diesem hegemonialen Begehren steht ein repressives und asymmetrisches Naturverhältnis, das von ökofeministischen Strömungen im Diskursumfeld Sarah Kirschs in den 1970er und 1980er Jahren als zerstörerisch und patriarchalisch kritisiert wurde und in ihrer strukturellen Verbindung zur Unterdrückung anderer Spezies und Gruppen, etwa dem weiblichen Geschlecht, gesehen wurde.6 Das entworfene agonale und instrumentelle Verhältnis zwischen Mensch und Moor steht dabei zudem exemplarisch für eine dominante kulturgeschichtliche Tradition des Naturbezugs. So bedingen sich Fischer zufolge spätestens seit dem 18. Jahrhundert die Furcht vor dem gefährlichen, noch in großen Teilen unkultivierten Moor und der menschliche Wille zur konkreten ökonomischen und ästhetischen Gestaltung und Unterwerfung (vgl. Fischer 2019). In Sarah Kirschs Allerlei-Rauh hingegen, das in den späten 1980er Jahren erscheint, zeigen sich realweltlich bereits die Auswirkungen der anthropozänen Zerstörung der deutschen Moorlandschaften,7 sodass Kirschs Umwertung der Tradition im Kontext eines sich wandelnden Bewusstseins für die Notwendigkeit einer Bewahrung des nunmehr nicht bedrohlichen, sondern selbst bedrohten Ökosystems Moor zu sehen ist. Im Zentrum stehen in Allerlei-Rauh, komplementär zur Tradition des melancholischen Moors als Ort des Todes und der Einsamkeit, die ebenfalls aufgegriffen wird, die Inszenierung von sehr lebendigen Praktiken der artenübergreifenden Fürsorge auf diskursiver Ebene ebenso wie auf formaler Ebene literarische Modi der genauen Naturwahrnehmung und
|| 6 Inwiefern Sarah Kirsch von ökofeministischen, aber auch anderen der Umweltbewegung zuzurechnenden Gruppen, Strömungen und Autor*innen, wie z. B. Rachel Carson oder Donna Haraway, beeinflusst wurde, stellt bislang noch ein (wohl lohnenswertes) Forschungsdesiderat dar. 7 Vgl. zur Geschichte der mitteleuropäischen Moore: Succow 2001.
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-beschreibung jenseits ausschließlich allegorischer Vereinnahmung nichtmenschlicher Umwelten.
3 Moor und Melancholie in Sarah Kirschs AllerleiRauh Sarah Kirschs Allerlei-Rauh, erstmals publiziert im Jahr 1988, ist ein autofiktionales Prosastück. Untertitelt als „Chronik“ spielt es mit der Ästhetisierung und Fiktionalisierung teils realer und identifizierbarer Episoden, Personen und Naturräume. Anders als es die Gattungszuordnung vermuten lässt, denn eine Chronik präsentiert in der Regel eine chronologisch und narrativ geordnete und damit für Leser*innen gut nachvollziehbare Abfolge von realgeschichtlichen Ereignissen,8 handelt es sich um einen sprunghaft zwischen zeitlichen und räumlichen Ebenen wechselnden, in hohem Maße überstrukturierten und bedeutungsoffenen Text, der weder Kapitelunterteilungen noch spezifische temporale oder spatiale Marker zur Orientierung enthält. Die Erzählung ist dabei mosaikartig zusammengefügt aus kurzen Szenen des Lebens der Ich-Erzählerin, die der Autorin Sarah Kirsch in vielerlei Hinsicht ähnelt, zwischen Ost- und Westdeutschland, sie besteht aus Traumschilderungen, Erinnerungen, Geschichtssplittern, aber ebenso aus Sequenzen des titelgebenden, modifizierten Märchens Allerlei-Rauh. Auffällig ist, dass nicht nur dem menschlichen Figurenpersonal, sondern auch anderen Tieren, Pilzen und Pflanzen, aber ebenso Lebensräumen, Landschaften und Wetterlagen eine bedeutende Rolle im Rahmen dieser Erzählung zukommt.9 Die erzählte Gegenwart der Chronik ist im agrarisch geprägten Raum Dithmarschens verortet. Sowohl die reale Schriftstellerin Sarah Kirsch als auch die Ich-Erzählerin leben in der schleswig-holsteinischen Gemeinde Tielenhemme. Die reale Person Sarah Kirsch kaufte dort mit ihrem Partner 1983 ein altes Schulhaus, das inmitten von Feldern auf einem Eiderdeich gelegen ist, um einen ruhigen Ort zum Schreiben zu haben. Sie lebten dort gemeinsam mit Scha|| 8 In der neueren Forschung wird die Chronistik als „ein Notationsverfahren verstanden, um markante zeitgeschichtliche Ereignisse aufzuschreiben, zu dokumentieren, erzähl- und erfahrbar zu machen. Bei allen Unterschieden zeichnen sich chronistische Schreibweisen aus durch sequentielles, oft stark zeitmarkiertes Erzählen (zeit)historischer Ereignisse, durch die Verbindung von narrativen und dokumentarischen Verfahren“. (Weidner 2022) 9 Hierin liegt eine weitere Parallele zum Werk Annette von Droste-Hülshoffs: vgl. Borgards 2018, 650.
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fen, einem Esel und Katzen. Nach der Trennung von ihrem Partner blieb Kirsch bis zu ihrem Tod im Jahr 2013 mit ihrem Sohn vor Ort (vgl. Schneider 2018). Tielenhemme liegt direkt neben dem heutigen Naturschutzgebiet Dellstedter Birkwildmoor, einem zweigeteilten Hochmoorrest, bestehend aus Nordermoor und Ostermoor. Daran angrenzend befinden sich zur Zeit der Entstehung von Kirschs Werk (und bis heute) zahlreiche Feuchtwiesen, die durch Entwässerung des Moors entstanden und landwirtschaftlich genutzt werden (vgl. Landesamt für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume des Landes SchleswigHolstein (LLUR) 2017). Dieses realweltliche, historisch situierte Moor ist innerhalb der Erzählung Allerlei-Rauh immer wieder geographischer und allegorischer Bezugspunkt der Erzählerin. Zwar wird der historische Topos des Moors als Ort der Einsamkeit, Todesnähe und Melancholie darin aufgenommen, aber er steht nun im Kontext einer sorgenden und auf Bewahrung ausgerichteten Mensch-Natur-Beziehung. So erscheinen die konkreten Moorlandschaften mit den anthropogen kultivierten Wiesen, Weiden, Feldern und Gärten in AllerleiRauh als fruchtbare und dabei höchst fragile Lebensräume, in denen Mensch, Tier und Pflanze auf gemeinschaftliche Weise verbunden sind. Der Text setzt mit Schilderungen der bäuerlichen Idylle Tielenhemmes ein, beschrieben wird die Arbeit auf den Moorwiesen und Feldern sowie das Zusammenleben in der ländlichen Gemeinschaft (vgl. AR 213–216). Detailreich wird die Topographie der Landschaft geschildert, die Beschaffenheit der Böden, die lokale Nutzviehhaltung und andere bäuerliche Tätigkeiten sowie die typische Mentalität der Dorfbewohner*innen Tielenhemmes werden ausführlich erörtert (vgl. AR 213–216). Zudem bezeichnet die Erzählerin die heimatliche Umgebung Dithmarschens als „Einöde“ (AR 213) sowie „sumpfige“ Gegend, in der die „Seelen weit verteilt“ (AR 214) seien und stellt so die traditionelle Verbindung zwischen Moorlandschaft und Einsamkeit her. Passend zu diesem Verfahren detailreicher Schilderung des gewöhnlichen bäuerlichen Betriebs wird das poetologische Programm dieser Chronik als Poetisierung des Alltäglichen angegeben: „[B]unt, aber sehr langsam dreht sich im Norden das Kaleidoskop unser Leben geheißen, und mitunter bleibt es auch eine Weile stehen, daß der Betrachter sich ein Bild überaus deutlich einprägen kann, nichts Besonderes, nur unvergeßlich.“ (AR 213). Die spezifische Todesnähe, die das Hochmoor als an die Heimat der IchErzählerin angrenzender Raum bedeutet, wird gleich auf den ersten Seiten in einer Anekdote betont: Ein Peugeot mit einem „fremdländischen Nummernschild“ (AR 216), das sich in einer ironischen Wendung doch als Kieler Nummernschild herausstellte, wurde zum Dorfgespräch. „Er wurde in Moorhof, Rethbucht und Königsfähre gesichtet, er schlich am Deich lang, rollte dem Schäfer in
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seine Herde, und jeder, der ihn sah, wunderte sich über solche Geschäftigkeit ohne Sinn […].“ (AR 216). Der Fahrer wird als verirrter Gast eingeführt, der buchstäblich und im übertragenen Sinne sein Ziel verloren hat. Ein Bauer schildert schließlich, dass er ins Ostermoor fuhr, um sich dort mit Abgasen, die er in sein Auto leitete, das Leben zu nehmen, was mit allgemeinem Gleichmut hingenommen wird: „Jedereen weet am besten, wat sien Vördeel is, schnappten wir auf und daß der Bauer den Selbstmörder nicht störte. Wir leben lange genug hier, uns nicht zu verwundern.“10 (AR 216–217). Diese Szene erscheint paradigmatisch für eine aktualisierte symbolische Codierung des Hochmoors der späten 1980er Jahre, die von Kirsch jedoch nicht expliziert wird, sondern implizit bleibt, sodass wir es hier mit einem narrativen Effekt infolge einer Sylleptisierung zu tun haben:11 Nicht mehr das Moor selbst birgt Todesgefahr durch Versinken oder Verirren, sondern der aus anderen Gründen verirrte Mensch fügt sich selbst mit giftigen Motorgasen, die synekdochisch für die Umweltbelastungen durch einen industrialisierten und mobilen westlichen Lebensstil stehen, den tödlichen Schaden zu. Das Dithmarscher Ostermoor ist nur noch Schauplatz des Sterbens, nicht mehr todbringender Agent, denn der Mensch hat es auch realweltlich in den 1980er Jahren umfassend kultiviert – bis hin zu seiner teilweisen Vernichtung.12 Seit Beginn der 1980er Jahre versucht man das Dellstedter Birkwildmoor zu renaturieren, auch um das namensgebende Birkwild wiederanzusiedeln, was jedoch bislang gescheitert ist (vgl. LLUR 2017). Bei der Lektüre der Chronik fällt zudem das stark akzentuierte ökologische Bewusstsein der Ich-Erzählerin ins Auge: Noch in ihrer Kindheit, die als einsam, melancholisch und naturverbunden geschildert wird, entwickelt sie eine Trostphilosophie gegen den schädlichen menschlichen Eingriff in die ökologische Ordnung. Diese basiert auf einer Vorstellung des zyklischen Werdens und Ver-
|| 10 „Jedereen weet am besten, wat sien Vördeel is“ bedeutet auf Hochdeutsch: „Jeder weiß am besten, was sein Vorteil ist.“ 11 Sylleptisierungen sind nach Benjamin Biebuyck Effekte erzählerischer Vernetzung, die es unmöglich machen „zu entscheiden, wie die Redeweise aufzufassen ist – im wortwörtlichen oder übertragenen Sinne“ (Biebuyck 2016, 201). Somit entsteht der Eindruck, dass sich „unter der textlichen Oberfläche ein Geheimcode versteckt, den nur ausgewählte Leser dechiffrieren können“ (Biebuyck 2016, 201). Auch in Allerlei-Rauh lauern unter den dokumentarisch anmutenden Passagen weitere implizite Bedeutungsebenen, auf deren Auslegung jenseits der ‚Text-‘ bzw. ‚Handlungsoberfläche‘ sich jedoch meist keine Hinweise finden. 12 Wie einem Flyer des Landesamts für Landwirtschaft, Umwelt und ländliche Räume des Landes Schleswig-Holstein (LLUR) zu entnehmen ist, wurde das Naturschutzgebiet Dellstedter Birkwildmoor kurz nach Erscheinen von Kirschs Chronik zum „deutlich erweiterte[n] Naturschutzgebiet“ erklärt, was auf seine Gefährdung schließen lässt. Vgl. LLUR 2017.
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gehens von Materie, in dem trotz allem „kein Stäubchen verloren [geht]“ (AR 221). Als erwachsene Frau ist die Ich-Erzählerin von dieser kindlichen Wahrheit nicht mehr überzeugt. Wiederholt ist in apokalyptischer Diktion die Rede vom „Ascheplaneten“ (AR 300) Erde, der seinem finalen Ende zueilt. Trauer überkommt die Erzählerin zudem in einem nicht näher bestimmtem „Frühjahr, in welchem die Unheilbarkeit des Jahrhunderts sichtbar geworden ist“ (AR 293) und sie über diese letale Krankheit der Erde und den assoziativ verknüpften Tod eines verstorbenen Freundes zugleich ihre eigene Todesnähe spürt: „Wenn er schon tot ist, so kann ich leichter davon.“ (AR 293). Heilloser Planet, verstorbener Freund und sterbliches Ich werden so auf unheilvolle Weise analogisiert. In einer exponierten Episode am Ende der Chronik formuliert die Erzählerin schließlich eine weitere Philosophie und knüpft dabei an die christlich-barocke Vanitas-Tradition an. Ihre Überlegungen zu einer „Moorphilosophie“ (AR 309) setzen mit einer Anekdote aus dem „Ende des Sommers“ ein, in dem sie „einen ganzen Tag mit dem Schäfer Moorschnucken in den Binsenwiesen“ hütete (AR 308). Es folgt eine Überblendung der Erzählerin mit der traditionell (überwiegend) männlich kodierten Dichter-Hirtenfigur, wie sie etwa in der frühneuzeitlichen Bukolik oder in der bildkünstlerischen Gattung der Pastorale üblich ist, und die sie sich hier in feministischem Gestus aneignet: Er gab mir seinen langen Schäferstock, mich darauf zu stützen wie auf den alten Gemälden, und ich stand zwischen den Sumpflöchern in originaler Haltung, die Füße weit ausgefahren, die Hände übereinandergelegt auf dem Stockknauf, das Kinn darauf gestützt, der Leib völlig entspannt, von Bienengetön, dem leichten fächelnden Wind umgeben, während der Kuwacs [Hirtenhund, Anm. der Autorinnen] die eigentliche Arbeit wohl übernahm, ich nur auf das Blöken der Lämmer achthaben mußte [...]. (AR 308)
Die fruchtbare und doch bis zu einem gewissen Grad unwegsame Sumpfwiese dient als ideales Refugium für Hirte, Hund und Dichterin, die in dieser Beschreibung als Interspezies-Kollektiv arbeitsteilig agieren. Ihre schöpferische Tätigkeit besteht analog zur Arbeit des Schäfers in der behutsamen Bewahrung natürlicher Phänomene, hier das „Blöken der Lämmer“, auf das sie achtgibt und im Akt des Aufschreibens konserviert. Der Blick der Erzählerin auf die Landschaft ist gleichwohl erkennbar ästhetisierend und idealisierend, was im Fortgang der Erzählung jedoch gebrochen wird, denn das Bild der sich die Moorwiese aneignenden Dichterin wird umgekehrt. So ist es schließlich das Moor, das sich der Dichterin bemächtigt: Sie wird „allmählich wie ein Stück Natur in diesem Flachland […], der brütenden Sonne ausgesetzt wie ein xbeliebiger modernder Baumstamm“, sodass ihr „jedes Zeitgefühl abhanden kam und mein Körper so porös wurde, daß die Lerchen durch ihn hindurchgerieten“ (AR 308). Die Erzählerin imaginiert sich also als leibhaftiger Teil des sich jahr-
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hundertelang aufschichtenden Moors, als „x-beliebiger modernder Baumstamm“. Dies ist ein eindringliches Bild nicht nur für menschliche Ohnmacht, sondern ebenso für die konkrete materiell-organische Zugehörigkeit des vermeintlich aufrechten und potenten Menschen zum Erdreich, seine Sterblichkeit sowie seine physische und emotionale Durchlässigkeit für Naturphänomene. Die Natur-Kultur-Dichotomie, die noch im Bild der Dichterinnenhirtin etabliert wird, die sich die Natur aus der Distanz schauend und hörend aneignet, wird somit subvertiert. Aus dieser Warte einer tiefenzeitlichen Perspektive entwickelt die Erzählerin schließlich ihre melancholische Moorphilosophie: Sie findet, einsinkend ins Moor, „gefallen daran, für den Blauen Planeten eine archaische und eine augenblickliche Natur zu unterscheiden“ (AR 308). Die kultivierte Moorwiese ist dabei ein Zwischenglied zwischen rein archaischer, also wilder, und augenblicklicher Natur, wie sie die Stadt mit ihren Eitelkeiten darstellt. Die eine, sagte ich mir und sank fußbreit ins Moor, lappt mancherorts noch in die andere über, und ich war es in diesem Augenblick sehr zufrieden, an solcher Stelle mich aufzuhalten, weil eine Existenz in rein archaischer Natur, wenn ich sie noch gefunden hätte, mir meiner Bedürfnisse wegen und der meinem Alter angemessenen Fähigkeiten nicht mehr möglich schien, die zeitgenössische Natur jedoch, wie sie eine Stadt vielleicht abgibt, für mich nur noch ein gelangweiltes Entsetzen brachte vor Leere und Fülle, blitzendem Tand. Mitleid kommt auf, kann denn die Wasserblas, der leichte Mensch bestehn? (AR 308–309)
Aus dieser Philosophie eines idealen Aufenthalts in halb archaischer, halb zivilisierter Natur schließt sie jedoch nicht auf eine menschliche Sonderstellung innerhalb der zu zähmenden Natur, die sich traditionell aus der neuplatonischen Trennung von Körper und Geist, von materieller und geistig-rationaler Existenz ableitet. Das leicht variierte Zitat aus Gryphius’ kanonischem Barocksonett, das unter dem Titel „Es ist alles eitel“ bekannt ist, deutet bereits darauf hin, dass eine vergänglichkeits- und vergeblichkeitsbewusste Philosophie der Demut entfaltet wird, die semantisch eng mit dem Moor als Standort der sinnierenden Dichterin verknüpft ist. Heißt es bei Gryphius „Solt denn die Wasserblaß / der leichte Mensch bestehn?“ (Gryphius 1963 [1637], 8; Hervorh. die Autorinnen), ersetzt Kirsch das Modalverb und erzeugt Vieldeutigkeit durch das barockisierende Bild der „Wasserblas“ im neuen Kontext ihrer Moorphilosophie. Denn die „Wasserblas“ könnte einerseits eine aufsteigende, bald zerplatzende Seifenblase, andererseits eine blubbernde Sumpfblase sein. Beide Phänomene verweisen auf die Fragilität und Natürlichkeit menschlichen Seins, die die Erzählerin auch explizit annimmt: „Ich sah mich gezwungen, ihn [den Menschen] dennoch als
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natürliches Wesen, wie andere noch, in dieser Welt zu begreifen […].“ (AR 309). Die entfaltete Moorphilosophie basiert also auf der Annahme der Natürlichkeit menschlichen Seins, seiner Zugehörigkeit zur materiellen Welt, die bereits in der Imagination des ‚Moorwerdens‘ figuriert ist. Alles, sowohl die körperliche als auch die geistig-kulturelle Existenz des Menschen, sei letztlich „seiner Natur zuzurechnen“ (AR 309). Dennoch, und darin liegt ein weiterer Rückgriff auf eine barocke VanitasTopik, sei es jene eitle ‚Natur‘ des Menschen, die zugleich das vorgezogene Ende des Planeten herbeiführe: Verglichen mit einem archaisch-natürlichen Ende, wenn der Kosmos einstmals verglühte oder erfröre, erschien mir die vorgezogene Auslöschung dieses Planeten durch sein Geschöpf den Menschen bedeutend rationeller und gleichzeitig angemessen absurd vor sich zu gehen. Mit solchem Trauerwürmlin im Kopf keinen selbstgefälligen Misanthropen abgeben war für mich in meinem Sumpf aufgestützt ebenso schwer wie gleichzeitig leicht. (AR 309)
Ambivalent bleibt also die Haltung der Ich-Erzählerin zur menschlichen Natur, insofern sie seine Zugehörigkeit zur nicht-menschlichen Umwelt ebenso umfasst wie sein planetares Zerstörungswerk. Moderat historisierende Schreibweisen wie „Trauerwürmlin“ im obigen Zitat tauchen im Prosatext Kirschs vielfach auf und erzielen durch die so übereinandergelegten ‚Sprachschichten‘ Verfremdungseffekte, die historische Texte und vergangene Zeiten mit der erzählten Gegenwart verschränken.13 Die Moorphilosophie der Erzählerin, die eine Reflexion der menschlichen Stellung im Kosmos und seines zerstörerischen und gestaltend-sorgenden Einwirkens auf das planetare Geschehen im ausgehenden 20. Jahrhundert umfasst, schließt mit den Worten: Die feige Flucht in sanfte Utopien, nein, ich konnte mich auch nicht mit dem paradiesischen Zustand als Gedankenspiel für eine kurze glückliche Frist befreunden, wo niemand Wolf oder Lamm war und Lamm nicht das Gras fraß, Gras das Moor nicht verdrängte. […] Ich muß mit meinem Gehirn Mord und Totschlag annehmen und die Endlichkeit dieser Erde [...]. (AR 310)
Hier wird nun explizit die gewaltvolle Verdrängung des originär intakten Moors durch das agrarisch genutzte Grasland als exemplarisch für den Vorgang der menschlichen Naturzerstörung angeführt. Somit weist die Erzählerin ebenso den eigenen, zuvor als ideal ausgewiesenen Standort – mit den Füßen in den
|| 13 Vgl. etwa AR 225: „warumb“; AR 226: „Strasze“ (innerhalb eines unmarkierten KlopstockZitats); AR 244: „Noth-Quartier“; AR 248: „sey“, „that“.
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Sumpflöchern des Graslandes, das der Kolonisierung und Entwässerung des Hochmoors zu verdanken ist – als Teil der verheerenden Verstrickung des Menschen des Anthropozän (avant la lettre) in die Natur aus. Seine exzeptionelle Stellung als außerhalb der Natur stehend wird also einerseits negiert, andererseits wird der Hybris des Menschen die Schuld an der Zerstörung der einst „archaischen Natur“ zugewiesen. Das Moor erscheint der Erzählerin dennoch an anderer Stelle aufgrund der Robustheit seiner Vegetation als kluger Lebensort im Angesicht der erwarteten Apokalypse: Ich erachte es wie jeden Tag noch als außergewöhnlich geschickt, am Ende des Klugheitsjahrhunderts in Meerumschlungen mich eingeschmuggelt zu haben, und nicht etwa in Donaublau oder einen Schwarzwald, oder gar geblieben zu sein, wo ich herkam und die Sonne einem schnell viereckicht scheint. […] Die wenigen Erlen und Pappeln, die schöngefiederten vielfältigen Pappeln würden ihre Zeit haltbar verbringen auf St. Nimmerlein zu. (AR 224)14
Die heimische Moorlandschaft ist nicht zufällig Ort derartiger Reflexionen. In den späten 1980er Jahren ist die reale Kolonisierung des Dellstedter Birkwildmoors so weit fortgeschritten, dass bereits ein Moorschutzprogramm zur Wiedervernässung eingeleitet wurde. Moorschnucken, die in den zitierten Passagen Erwähnung finden, werden in der Gegend zudem gezielt gehalten, um das konkurrenzstarke Pfeifengras zurückzudrängen. Erst hierdurch kann die typische Moorvegetation sich regenerieren (vgl. LLUR 2017). Nach über 180 Jahren der Entwässerung und intensiven Nutzung (Torfabbau, Trockenlegung und landwirtschaftliche Erschließung) wurde ein Teil des Birkwildmoors 1989 schließlich zum Naturschutzgebiet erklärt. Die Sorge um diese durch Menschenhand versehrte Natur, beispielsweise um „die aussterbenden Brachvögel“ (AR 281), aber auch die Bemühung, diese konkrete Landschaft literarisch zu konservieren, durchzieht daher den Prosatext Kirschs. In der literaturwissenschaftlichen Forschung wurde die zitierte Passage, die die Moorphilosophie der Erzählerin entfaltet, als Zeugnis für die Suche „nach einer ursprünglichen vom Schutt der Zivilisation noch nicht überdeckten Natur und deren Entfremdung“ (Frühwald 1993, 673) gewertet, aber ebenso dafür, || 14 Das wiederholte Aufrufen der Pappeln ließe sich zudem als symbolische Referenz lesen, steht doch die Pappel im christlichen Volksglauben für die Apokalypse und gilt in der griechischen Mythologie als Baum des Todes. Weiterhin fungiert die Pappel in der deutschsprachigen Lyrik – bei Brentano, aber auch bei Droste-Hülshoff – als Baum der romantischen Erinnerung an die verstorbene Geliebte (vgl. zur Symbolik der Pappel: Hattori 2021). So ruft die IchErzählerin also einerseits diese der Pappel eingeschriebenen Symboliken auf, beschreibt jedoch andererseits mit der Nennung der Erle und Pappel die konkrete Moorvegetation.
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dass das Werk Kirschs in einer Tradition stehe, die „dem Einverständnis der Jahrhunderte entnommen [sei], wonach die Frau der Natur näher steht als der Mann“ (Frühwald 1993, 673). Dies scheint jedoch eine verkürzte und auch essentialistische Lesart zu sein. Denn in den diskutierten Passagen der Chronik geht es vielmehr um ein Eingeständnis der Eingebundenheit der Menschen insgesamt in das durch ihn versehrte Netz der Natur, hier in Gestalt der heimischen Moorlandschaft – immerhin sind es Schäfer, Dichterinnenhirtin und Hund, die gemeinsam agieren.
4 Das Moor als Raum für Praktiken artenübergreifender Fürsorge Es ist also nicht wie etwa in den historischen Texten Gryphius’ oder Kohls Melancholie oder gar Abscheu angesichts der eigenen Kreatürlichkeit und Sterblichkeit, die die Moorlandschaft widerspiegelt bzw. in allegorischer Weise repräsentiert, sondern das Moor mit seiner als schön und lebendig inszenierten Tier- und Pflanzenwelt ist Gegenstand der Sorge um einen insgesamt versehrten Planeten geworden, als Ursache für dessen Niedergang sich die Ich-Erzählerin stellvertretend für die Menschheit erkennt. Aus dieser melancholischen Besorgnis um den erlöschenden Planeten erwachsen in Kirschs Allerlei-Rauh die Darstellung sowie textinterne Performanz zwischenmenschlicher wie artenübergreifender Fürsorge. Wie ein indirektes Aufgreifen dieses auch poetologischen Programms erscheint die folgende Passage, in der die Erzählerin ihre Moorphilosophie einer demutsvollen Haltung gegenüber nicht-menschlichen Umwelten mit der Forderung nach Zuneigung verbindet: Die aussterbenden Bäume, Löcher im Himmelsgewölbe, die heillos werdende Luft und die vergifteten Wasser der Erde, alles erleichtert es, deutlicher als frühere Generationen die Lage zu sehen, den Aufstieg der eigenen Art aus dem Tierreich zu beklagen ob der Möglichkeit, den Planeten aus den Angeln zu sprengen. Der Erdenkloß brauchte, um weiterhin leben zu wollen, viel zärtliche Demut, ein gerüttelt Maß wahnsinniger Zuneigung für seine arme absterbende Welt. (AR 301)
Nach Donna Haraway ist die Fähigkeit des Menschen, artenübergreifende Trauer (für Menschen, Tiere, Pflanzen und den Planeten) zu empfinden, „ein Weg, um verwickeltes Leben und Sterben zu verstehen; wir Menschen müssen mittrauern, weil wir von und im Gewebe der Zerstörung leben“ (Haraway 2018, 58). Erst dann könne eine Reflexion des Menschen über seine zerstörerischen Praktiken erfolgen, erst mit dieser Erkenntnis kann überhaupt eine Klage artikuliert
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werden. Die menschliche Fähigkeit des Mit-trauerns und Mit-leidens wird in der Chronik wiederholt durch das fürsorgende Verhältnis der Erzählerin zur Natur gespiegelt, die für den „Erdenkloß“ neben „zärtliche[r] Demut“ auch „Zuneigung für seine arme absterbende Welt“ fordert. Kirschs Prosa lässt sich daher gewinnbringend im Hinblick auf den ebenfalls in jüngeren Diskursen des Nature Writing diskutierten ethisch(-feministischen) Aspekt der Fürsorge perspektivieren.15 Das bereits erwähnte Dellstedter Birkwildmoor und seine Umgebung, die dem Moor abgerungenen Feuchtwiesen und die Deiche, die agrarwirtschaftlich zur Rinder- und Schafzucht genutzt werden, sind die Heimat der autofiktiven Ich-Erzählerin der Chronik, auf die sich in besondere Weise ihre Besorgnis richtet. Dass dabei nicht nur die Menschen vor Ort, sondern alle lebendigen Organismen miteinbezogen werden, zeigt sich an verschiedenen Stellen der Chronik. In der einführenden Sequenz erwägt sie etwa auch die einheimischen Säugetiere zu den Bewohner*innen des Dorfes zu zählen, verwirft diese Idee jedoch mit Blick auf das tendenziell unsentimentale Verhältnis der Einheimischen zu ihren Nutztieren: Einhundertvierzig sog. Seelen hat unser Dorf, wenn man von Kühen, Schafen, Pekingenten, Hunden und Säuen absieht, mit denen wir gut eintausend wären, aber von Viehseelen spricht man hier nicht, obgleich sich alles um die gehörnten rotweißen Rinder dreht, man ihnen fortwährend begegnet. (AR 213)
Doch verfolgt und dokumentiert die Ich-Erzählerin die landwirtschaftliche Arbeit um sie herum kenntnisreich und mit einiger Akribie (vgl. z. B. AR 214–215), wobei ihre Aufmerksamkeit meist in gleichen Teilen den Menschen und den Säugetieren gilt. So listet sie kundig und in schwärmerisch anmutendem Gestus die Namen verschiedener einheimischer Schafarten auf, die sie „gründlich“ (AR 228) betrachtet und benennt. Auch identifiziert die Erzählerin sich als Gärtnerin mit den einheimischen Bauern, die wegen „Regen und Kälte“ um ihre Ernte bangen: „Im Garten verschwinden die Saaten schon wieder. Und was das Wetter uns nicht verdarb, das läßt die Schermaus glatt in die Erde rutschen. Schon verstehe ich mich aufs Jammern wie ein ansässiger Bauer.“ (AR 223). Ferner schildert sie, wie sie an der Tür ihrer „Schreibstube über den Wolken“ in Anspielung an die biblische Arche Noah (vgl. Gen 6–9) „einen Aufkleber der Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger“ anbringt und berichtet gleich darauf von
|| 15 Vgl. hierzu z. B. Eric Oifers Kommentar Nature Writing as Footing for Caring: „The practice of and discourse of nature writing is the practice that will enable citizens to grieve for what has been lost and inspire the awe that will move citizens to take the path of ecological citizenship“ (Oifer 2013).
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gegenwärtig in ihrer Heimat elendig auf überschwemmten Wiesen sterbenden Kühen sowie von den Schafen und Pferden ihrer Kindheit (vgl. AR 234–235). Wesentlich zeigt sich das lebendige und fürsorgliche Verhältnis der Erzählerin zur Natur in den präzisen, kenntnisreichen Naturbeobachtungen und kaleidoskopartigen Schreibweisen. In zahllosen Textpassagen haben die Schilderungen vornehmlich dokumentarischen Wert, sie verzeichnen und konservieren, wie der Lebensraum Moor sowie seine rare und nicht als öde, sondern vielmehr als üppig und einzigartig inszenierte Vegetation und Tierwelt zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt beschaffen sind. Bei einem Ausflug in eine Moorkate von Aussteiger*innen, gemeinsam mit einem namenlos bleibenden „Herzensfreund[]“ (AR 224), mit dem sie ein Lamm für einen anderen Freund erwerben möchte, schildert sie etwa ausführlich die erblickte Vegetation im Garten (vgl. AR 226) sowie typische Pflanzen auf der Moorweide, auf der auch die Schafe und Lämmer grasen: An den unsichtbaren, knurrenden Hunden in der Milchkammer entlang gerieten wir zunehmend ins Sumpfland mit seinen weitläufigen Weide-Inseln darin, wo die Schafe saßen und kauten. Das weiße Schnabelried blühte, und die großen Sträuße der Königsfarne neben den Wassertrichtern warfen einen geringen Schatten. Die trockenen Blütenstände des Beinbrechs und das leuchtende Sumpfblutauge kamen uns vor die Füße, und die Gagelsträuchlein verströmten ihren bitteren Duft. (AR 228; vgl. ähnlich AR 250)
Indem die Erzählinstanz hier die Pflanzenwelt des Sumpflandes in ihrer sinnlich wahrgenommenen Spezifik beschreibt, wird die Flora und Fauna des geteilten Lebensraumes Moor nicht zuvörderst mit symbolischen Bedeutungszuschreibungen versehen oder anthropomorphisiert, sondern in ihrer Phänomenalität ausgestellt und somit ihre Materialität in den Vordergrund gerückt. Wie bereits Annette von Droste-Hülshoff bindet Kirsch in ihren Naturdarstellungen „Fragen des Bedeutens immer wieder an Situationen des Wahrnehmens“ (Borgards 2018, 655) zurück, entsteht doch keine Bedeutung jenseits konkreter (Natur-)Wahrnehmung. So gilt auch für ihr Werk, was Borgards mit Blick auf Droste-Hülshoffs Lyrik argumentiert: Die „Rückwendung ins Konkrete“, die sich in der „physiologischen Wahrnehmung“ der Erzählerin ebenso wie in der Thematisierung „spezifische[r] Existenzbedingungen einzelner Lebewesen“ offenbart, inszeniert die Erzählinstanz als affizierter und sorgender Teil des Netzes von Interspezies-Beziehungen, und nicht außerhalb von diesem (Borgards 2018, 655). Häufig erscheinen die Naturbetrachtungen dennoch wie verschlüsselte, implizite Allegorien, wobei sie gemäß des chronistischen Anspruchs des Werks zugleich dokumentarisch anmuten und folglich den realweltlichen Raum als solchen abbilden und ästhetisieren. So etwa, wenn die Erzählerin plötzlich Pilze
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„wie Invasoren in unserem Garten“ (AR 231) vorfindet – sie beunruhigen sie, denn „[z]u groß, zu farbenprächtig wuchert die Nebelkappe zwischen den Herbstzeitlosen, steckt die Herkuleskeule im Chrysanthemen-Beet fest. Auch scheinen sie nachts von den zahlreichen Schnecken verschont zu werden“ (AR 231). Die Erzählerin hat „nicht die Bravour, die Fruchtkörper längere Zeit anzuschauen, geschweige zu ernten“ (AR 231), es scheint ihr zudem, wenn sie den Blick abwendet, als würde sich „ein merkwürdiger breiiger Himmel“ (AR 232) zu ihr herabsenken. Die Sequenz enthält keinen eindeutigen Hinweis auf eine mögliche Auslegung des Ereignisses der plötzlich auftauchenden, wohlschmeckenden Pilze, auch wird der Grund der Beunruhigung der Erzählerin nicht deutlich. Aufgrund der kriegerischen Metaphorik könnte es möglicherweise ein verdeckter Hinweis auf Thomas Hobbes Gleichnis von den autonomen Menschen sein, die „als ob sie gerade der Erde entsprungen wären und plötzlich, wie Pilze, zu voller Reife kommen, ohne einander begegnet zu sein“.16 In der feministischen Theorie wird dieses Gleichnis gelesen als „Bild völliger Autonomie“ (Benbahib, Nicholson 1987, 533), als Leugnung der menschlichen bzw. männlichen Abhängigkeit von einer gebärenden und sorgenden Mutter, die wiederum für die Leugnung der Abhängigkeit des Menschen von einem Netz kooperativer sozialer Beziehungen insgesamt steht. Assoziativ ließen sich Überlegungen zum Modell des Kriegszustandes aller gegen aller bei Hobbes anfügen (vgl. Hobbes [1651] 2010), das Kirschs Vorstellung eines demütigen, verwobenen und fürsorglichen Weltverhältnisses diametral gegenübersteht. Hierin könnte ein Grund liegen, weshalb die Erzählerin den Blick erschreckt von den invasiven Pilzen abwendet. Doch dies ist sicherlich nur eine mögliche Lesart, insofern der Abschnitt keinen expliziten Hinweis auf Kontexte allegorischer Deutungen enthält und somit äußerst hermetisch ist. Die Einsamkeit Tielenhemmes und die Nähe zur agrarisch kultivierten Moorlandschaft und zum wilden Hochmoor dienen der misanthropischen IchErzählerin als Refugium zum Leben und Schreiben. Ihre Erzählposition beschreibt sie als „Warte nun über den Sümpfen, aus deren Blasen ich nichts Zukünftiges lese“ (AR 219). Darin liegt nicht nur ein Hinweis auf ihre Rolle als melancholische Chronistin, sondern auch eine versteckte feministische Allusion an die aus patriarchaler Sicht bedrohliche Figur der mit seherischen Kräften begabten und kräuterkundigen Hexe (vgl. Schmidt 2004, 455). Kirsch spielt in ihrem Werk immer wieder auf Praktiken und Traditionen von Hexerei und Zau|| 16 Im Original: „Let us return to the state of nature, and consider men as if but even now sprung out of the earth, and suddenly, like mushrooms, come to full maturity, without all kinds of engagement to each other.“ Hobbes 1991 [1642], 205.
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berei an, besonders deutlich sind diese Rekurse etwa im Lyrikband Zaubersprüche (1974). Im übertragenen Sinne schöpft Kirschs autofiktionale Figur in Allerlei-Rauh Inspiration für den Schreibprozess aus der ‚sumpfigen‘ Gegend, was die poetologische Bedeutung der Moorlandschaft Tielenhemmes und ihrer Umgebung unterstreicht. In einer retrospektiv geschilderten Traumsequenz findet die Erzählerin für diesen Zusammenhang zwischen Moor, InterspeziesGemeinschaft und Inspiration folgendes Bild: „Mir träumte, ich sei auf meinem Esel ins Moor geritten, die Füße schwebten dicht über den Wasserlöchern, doch blieben sie trocken. Aus seinen Hufabdrücken, die sich mit schwarzem Wasser füllten, wuchs gleich der Blutwurz. Ein schöner Anblick, wenn ich rückwärts mich wandte.“ (AR 219). Blutwurz wächst unter anderem in Heiden und Niedermooren und ist als Heilpflanze bekannt, denn ihr werden blutstillende und desinfizierende Eigenschaften nachgesagt (vgl. Chevallier 2017, 255). Dem Ritt durch die unwegsame, gefährliche Gegend des Moors, gemeinsam mit einem Esel, der auch noch in einer anderen Traumsequenz auftritt (vgl. AR 298), erwächst also Heilsames. Mit der Blutwurz, die aus schwarzen Wasserlöchern wächst, findet die Erzählerin ein tröstliches Bild, das sowohl poetologisch als auch psychologisch gelesen werden kann. Es erinnert nicht nur an DrosteHülshoffs „Knabe im Moor“, bei dessen Moorgang „[u]nter jedem Tritte ein Quellchen springt“ (Droste-Hülshoff 1985 [1844], 67) – wobei es in diesem Fall bezeichnenderweise der Esel ist, der die ‚Quellchen‘ und schließlich das vegetabile Wachstum verursacht. Es scheint, als wäre der gefährliche Ritt durch das Moor nur durch die Kompliz*innenschaft mit anderen Spezies, in diesem Fall einem Esel, möglich. Eng verwoben werden hier verschiedene Motive: Der Esel gilt nicht nur in christlicher Symbolik als Zeichen der Demut, sondern ist gleichzeitig das Tier, das in der französischen Vorlage des Grimm’schen Märchens Allerleirauh – Eselshaut (Peau d’Âne) von Charles Perrault (1694) – seine Haut lassen muss, bevor das Mädchen vor dem heiratswilligen Vater flieht. Im Zuge der literarischen Aneignung der einst verfemten Tradition der Sumpf- und Kräuterhexen erfolgt fernerhin eine Identifizierung mit den unheimlichen, vermeintlich unzivilisierten Kräften des Moors, denen der (meist männliche) Mensch antagonistisch gegenübersteht. Die weibliche Figur hingegen schöpft Kraft und Inspiration aus diesen dunklen Kräften, verschwistert sich mit ihnen ebenso wie mit dem demütigen Tier, das sie begleitet. Das Moor ist somit nicht Ort der Ödnis und des Todes, sondern in seiner Unheimlichkeit dennoch höchst schön, (poetisch) fruchtbar und Ort lebendiger Interspeziesbeziehungen. Sowohl Kirschs heimatliche Wohnsituation inmitten der von der IchErzählerin akribisch dokumentierten Pflanzenwelt der Moorlandschaft als auch ihr Leben mit domestizierten und wilden Tieren kann mit Haraway als ökofemi-
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nistisches Kinship im Zeitalter des Chthuluzän gelesen werden.17 Haraway erläutert den Begriff des Chthuluzän in ihrem Buch Unruhig bleiben (2016): „Anders als das Anthropozän und das Kapitalozän setzt sich das Chthuluzän aus Fortsetzungsgeschichten und artenübergreifenden Praktiken des MiteinanderWerdens zusammen“ (Haraway 2018, 80). Insbesondere das in Haraways Überlegungen zentral gesetzte „[a]rtenübergreifende Gedeihen“ (Haraway 2018, 11) von Akteur*innen menschlicher und nicht-menschlicher Art zwecks eines verwandtschaftlichen Lebens (Haraway führt hier die Kategorie Kin im Sinne von Verwandtschaft oder Sippschaft ein) findet sich wiederholt nicht nur in sorgenden und schreibend-bewahrenden Haltungen und Praktiken der Chronistin, sondern auch in ihren notierten Träumen und Fantasien. So betont sie die Identifikation mit den Organismen der Moorlandschaft, wenn sie sich in einer Szene mit Schneeschuhen über die weißen, verschneiten Felder Tielenhemmes bewegt und konstatiert: „Es gab weder Erinnerungen noch Träume, keine Prophezeiungen, alles, was ich kannte, geriet aus dem Bewusstsein, und ich hätte eine beliebige Frau, ein Mann, ein Kind, ein Tier oder ein Baum [...] darstellen können.“ (AR 300). Ein artenübergreifendes Verwoben-Sein wird zudem im Titel der Prosa als poetologisches Programm aufgerufen: In Analogie zur mosaikartigen Textgestaltung kann das der Chronik ihren Titel gebende Märchen, Allerlei-Rauh, als formale wie inhaltliche Rahmung verstanden werden. In dem aus dem Korpus der Grimm’schen Kinder- und Hausmärchen stammenden Text versteckt sich eine kindliche Prinzessin nach dem Tod ihrer Mutter aus Angst vor dem heiratswilligen Vater in einem Baumstamm (vgl. Grimm 1812). Um dem inzestuösen Begehren des Vaters zu entkommen (so heißt es in der Grimm’schen Originalversion des Märchens, von dem Kirsch leicht abweicht), verlangt das Mädchen von ihm einen Fellmantel „von tausenderlei Pelz zusammengesetzt“ (Grimm 1812, 609), der von verschiedenen Tieren stammen soll. Entgegen der Erwartung des Mädchens beschafft der Vater den Mantel, woraufhin die Prinzessin in den Mantel gehüllt flieht. Der Mantel als textiles Flechtwerk unterschiedlicher Pelzund Fellsorten dient dem Mädchen als Camouflage, als Schutz vor Kälte und patriarchalen Machtstrukturen. Gleichzeitig ist das aus ‚Allerlei-Rauh‘ bestehende Kleidungsstück auch Vorlage für die formale Textstruktur der Chronik Kirschs, in der die unterschiedlichen Schreibweisen, Ortswechsel und temporalen Überlagerungen von Erzählebenen einem narrativen Flickenteppich gleichen. Die zahlreichen Versatzstücke der Naturbeobachtungen, der bildhaften und poetisch überhöhten, aber auch immer wieder naturkundlich fundierten Be|| 17 Vgl. für eine Übersicht der jüngeren Forschung Haraways auch Sandilands 2017.
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schreibung der Tier- und Pflanzenwelt können ebenfalls als (meta-)poetologische Verarbeitung des Märchenstoffes gelesen werden. Das Mädchen in Allerlei-Rauh muss sich in größter Verzweiflung in eine animalische Haut flüchten, um den adoleszenten weiblichen Körper zu verhüllen und in einem hohlen Baumstamm gleichsam Teil der Landschaft zu werden – ohne Erfolg jedoch, denn die königlichen Schergen greifen sie auf. Die Suche nach Schutz in einem Gewebe aus Pflanzen und Tieren des Moorgebietes kann als poetologisches Programm geltend gemacht werden: Mehr noch als Familie, Freund*innen oder andere Personen ist die Verwobenheit der autofiktiven Erzählerin in die lokale Ökosphäre der Moorlandschaft der eigentliche Gegenstand der ‚Chronik‘. Auch das bewahrende Verhältnis zu menschlichen und nicht-menschlichen Wesen ihrer Heimat darf als ihr poetologisches Programm gelten. Dennoch ist der Pelzmantel aus dem Grimm’schen Märchen ein ambivalentes poetologisches Bild: Pelze bestehen bekanntlich aus toten Tieren, und so ist dies ein Hinweis darauf, dass der Text eine Reflexion über das verwobene Leben des Menschen mit den Tieren (und anderen Elementen der Natur) bei ihrer gleichzeitigen Vernichtung durch eben diese Menschen darstellt. Auch das chronistische Schreiben kann dieser Lesart folgend als eine Form der Stillstellung des einst Lebendigen angesehen werden, das seine einstige Vitalität nicht vollends (wieder-)herstellen, sondern nur auf Papier bewahren kann.
5 Resümee Ist das Moor in der literarischen Tradition seit dem 17. Jahrhundert häufig und nicht selten mit speziesistischem Subtext als toter, wüster und weitestgehend unbelebter Ort charakterisiert worden, erscheint die Moorlandschaft rund um das schleswig-holsteinische Tielenhemme in Sarah Kirschs Allerlei-Rauh als vitaler, die dichterische Produktion inspirierender, jedoch durch anthropogene Einflüsse bedrohter Lebensraum. Im Rahmen einer „Moorphilosophie“ inszeniert die autofiktionale Ich-Erzählerin eine heimische Moorweide einerseits als angemessenen Standort des Nachdenkens über die Natürlichkeit auch des menschlichen Leibes, der nach seinem Ableben nichts als organische Materie wird. Andererseits zeigt sich anhand der kultivierten Moorlandschaft des späten 20. Jahrhunderts – auch im Unterschied zu optimistischen Moortexten des 19. Jahrhunderts, die die Unterwerfung und Kultivierung ‚wilder‘ Hochmoore wie das Teufelsmoor bei Bremen noch als Zeichen zivilisatorischen Fortschritts deuteten – der verheerende Einfluss des Menschen auf einst intakte ökologische Zusammenhänge. Dieses andauernde humane Zerstörungswerk wird als
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direkte Folge moderner Anthropologien gedeutet, die den vermeintlich autonomen Menschen aus dem Netz der Natur herausgehoben und ihm eine Sonderstellung zugewiesen haben. Demgegenüber, und in Erwartung des menschenbewirkten Weltendes, entwirft Kirsch in Allerlei-Rauh ein ethisches und zugleich poetologisches Programm der demutsvollen und fürsorglichen Naturbetrachtung und -bewahrung, die nicht die Überlegenheit und Getrenntheit der menschlichen Spezies von ihrer Umwelt in den Mittelpunkt rückt, sondern ihre Verbundenheit. Die Ich-Erzählerin dokumentiert und ästhetisiert in dem als ‚Chronik‘ ausgewiesenen, jedoch gewissermaßen posthuman ausgelegten Prosaformat Praktiken des gemeinsamen Werdens und Sterbens von Menschen und nicht-menschlicher Umwelt im historisch in den späten 1980er Jahren situierten Raum des Dellstedter Birkwildmoors, um ihnen ein literarisches Nachleben zu verschaffen. Auch Motive des aktiven Sorgetragens und der Übernahme von Verantwortung gegenüber Akteur*innen der Sphäre des NichtMenschlichen ziehen sich inhaltlich gleich einem roten Faden durch den gewebeartig arrangierten Text. Dennoch wird auch die Vergeblichkeit dieser literarischen Bemühungen in der Wahl des Titels ‚Allerlei-Rauh‘ deutlich, der in Anlehnung an das gleichnamige Grimm’sche Märchen nicht nur die Vitalisierung, sondern ebenso die Mortifizierung des Dokumentierten nahelegt.
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Anthropozäne Melancholie in Sarah Kirschs Allerlei-Rauh | 217
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Annika Hammer und Friederike Reents
Kontaminierte Speicher: Sondagen in literarische Moore der Gegenwart Zusammenfassung: Die am Beispiel von Karen Duve, Thomas Kling und Marcel Beyer untersuchten Moore der Gegenwartsliteratur dienen mit Blick auf die dargelegten literaturgeschichtlichen, aber auch historisch bedingten Implikationen als anthropogen und geschichtlich kontaminierte Speicher, die eine öko-, geschichts- und selbstkritisch verschränkte Poetik entwerfen. Während bei Karen Duve der Schauereffekt der unheilbringenden Natur weitertradiert und um neue, dezidiert ökokritische, der Selbstkonfrontation dienende Aspekte ergänzt wird, schreitet auch das lyrische Subjekt bei Thomas Kling im Spiegel der Vergangenheit die Ränder einer anthropozentrisch geprägten Zeit selbstreflexiv ab, das Gedicht wird zum Wahrnehmungsmedium der Gegenwart mit historischem Bezugspunkt. Klings ‚Moorpoetik‘ beruht auf einer „spracharchäologischen“ Auseinandersetzung, an die ein Erkenntnisanspruch in der Gegenwart geknüpft ist. Die reflexive Standortbestimmung bei Marcel Beyer erfolgt schließlich als Form historisch- und historiographie-kritischer Auseinandersetzung, doch bleibt beim Eintauchen in historische Tiefen das körperliche Erleben und damit eine permanente Rückbindung an die Gegenwartserfahrung des lyrischen Subjekts präsent. Auch wenn die Modi der Erkenntnis und Perspektivierung in den untersuchten Texten divergieren, weisen sie doch alle in ihrer kritischen Dimension einen Gegenwartsbezug auf. Dabei wird deutlich, wie die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte, die Frage nach Vergangenheitsbewältigung immer auch eine der Zukunftsgestaltung ist.
1 Begehungen: Das Moor in der Literaturgeschichte Nicht nur in der Landschaftsmalerei hat die Darstellung des Moores über die Jahrhunderte einen festen Platz inne, auch die Faszination, die das unwägbare Moorgelände auf Literat:innen ausübt, ist bis heute ungebrochen. „Das Moor ist niemals langweilig“, heißt es in Arthur Conan Doyles Roman Der Hund von Baskerville (1987, 77, engl. The Hound of the Baskervilles 1901) und weiter: „Sie können sich gar nicht vorstellen, was für wundervolle Geheimnisse es birgt. Es ist so groß, so unfruchtbar, so mysteriös“ (1987, 77). Inzwischen haben neue Formen
https://doi.org/10.1515/9783110786743-011
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literarischer Moordarstellungen solche, wie wir sie noch prominent bei Annette von Droste-Hülshoff finden, wie etwa den schaurig-schönen „Haiderauche“ (1988, 68, V. 2) oder „Röhricht“, das „knistert im Hauche“ (1988, 69, V. 8), von der Bildfläche oder genauer gesagt von der Textoberfläche verdrängt. Die programmatische Zeile „O schaurig ist’s übers Moor zu gehn“ (1988, 68, V. 1) aus Drostes Ballade Der Knabe im Moor (1842) steht stellvertretend für die Literatur des 19. Jahrhunderts, in der die Chiffre der Ästhetisierung eines vermeintlich ursprünglichen Naturraums dominiert, der seine Anziehung nicht zuletzt durch die ‚erhabene Schauererfahrung‘ des Menschen in seiner Umwelt gewinnt. Mit dem Anbruch der Moderne wandelt sich das Moor zum Erfahrungsraum, der sowohl durch inspiratorische als auch durch regressive Tendenzen charakterisiert ist. Letztere, wie sie etwa beim frühen Gottfried Benn in dem Wunsch kulminierten, ein ratiofreies „Klümpchen Schleim in einem warmen Moor“ zu sein (Gesänge I, 1913), verschwanden historisch-ideologisch bedingt zur Zeit des Nationalsozialismus nahezu gänzlich aus der Literatur. Moorlandschaften sind kein Sehnsuchtsort, sondern stehen im doppelten Sinne für den unsicheren Boden, auf dem man steht (etwa in Elisabeth Langgässers Der Gang durch das Ried, 1936) und sind vor allem atmosphärisch von Bedeutung (wie in Horst Langes Schwarze Weide, 1937). Das Moor als Element des Unbeherrschbaren ist bedrohlich, da man sich darin verirren kann (Ernst Weiß, Der Augenzeuge, 1938). In Wolfgang Langhoffs Die Moorsoldaten (1935) wird das Moor von KZ-Häftlingen und Kriegsgefangenen entwässert und damit ur- und beherrschbar gemacht – wie auch die dafür eingesetzten Menschen. Weniger regressive, sondern inspiratorische Implikationen hat das Moor noch vor Benns Urschleim-Phantasien bei Rilke, der in seinem Essay über die von Mooren umgebene Worpsweder Künstlerkolonie und mit Bezug auf die dort entstehende Kunst im Jahr 1902 schreibt: „So lagen die Flächen allein, ganz mit sich beschäftigt, jahrhundertelang. Das Moor bildete sich. Und endlich begann es sich an einzelnen Stellen zu schließen, leise, wie eine Wunde sich schließt“ (Rilke 1995, 28). Dafür, dass sich manche Wunden niemals schließen, steht Paul Celan. Bei ihm birgt das literarische Moor die Möglichkeit, Erinnerung zu bewahren. In seinem Gedicht Denk Dir, das im Juni 1967 nach Beendigung des Sechs-TageKriegs entstand (vgl. Olschner 2012, 176), versetzt er die Figur des Moorsoldaten in den Kontext der symbolträchtigen israelischen Stätte Masada: „Denk dir: / der Moorsoldat von Massada / bringt sich Heimat bei“ (Celan 1967, KG1, 262, V. 1–3). Mittels Verschränkung von geschichtlichen Verweisen – der Belagerung der Bergfestung Masada im Jahr 70 n. Chr. und der nationalsozialistischen Konzentrationslager (das im KZ Börgermoor entstandene Lied Die Moorsoldaten;
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vgl. May 2012, 254) – sucht er die Erinnerung an das endlose Leid, das „Unbestattbare […]“ (V. 24), zu bewahren. Moorlandschaften oder genauer das „Hochmoor“ (Celan, Todtnauberg 1968, KG11, 282, V. 24) stellen für Celan stets auch Massengräber dar (Jamme 2012, 271). Bei Rilke ist der langsame Prozess des Verschließens jedoch noch nicht als ein Vertuschen menschlicher Untaten zu verstehen, ein unkritisches ‚unter Verschluss halten‘ anthropogenen Wirkens, vielmehr stellt Rilke dieses im Hinblick auf mögliche Konsequenzen der Moornutzung dezidiert ökokritisch zur Diskussion: „Was bedeutet es, daß wir die äußerste Oberfläche der Erde verändern, daß wir ihre Wälder und Wiesen ordnen und aus ihrer Rinde Kohlen und Metalle holen […]“ (Rilke 1995, 12) – eine Frage, die über hundert Jahre später noch immer Aktualität besitzt und in zeitgenössischen Werken unter veränderten Vorzeichen und unter Rückgriff auf erweiterte Wissensbestände neu verhandelt wird. Heute weiß man, dass intakte Moore unter Sauerstoffabschluss durch Ablagerungsprozesse unvollständig zersetzten organischen Materials große Teile des terrestrischen Kohlenstoffs binden. Als KohlenstoffdioxidSpeicher fungierend leisten sie so einen wichtigen Beitrag dazu, die steigende Erderwärmung zu stoppen. Der Frage danach, wie diese Ökosystemdienstleistung sichtbar – oder auch hörbar und spürbar – gemacht werden kann, widmet sich die Dichterin Sylvia Geist zusammen mit der Moorforscherin Susanne Abel in ihrer Performance „Sensing … CO2“ (Geist 2021) anlässlich eines Gesprächsexperiments zwischen Gegenwartslyrik und Wissenschaft,2 bei dem „Kooperationspaare aus Wissenschaft und Dichtung je einen Begriff [in diesem Fall ,CO2‘] in die perspektivische Zange genommen“ haben, um damit „Einblick in ihren Arbeitsprozess [zu geben] und […] die Konturen ,ihres‘ Begriffs unter dem speziellen Blickwinkel ihrer persönlichen und fachlichen Hintergründe [zu beleuchten].“3 Die wissenschaftlich-künstlerische Interaktion offenbart neue, multisensuelle An- und Einsichten in den Bewahrungsauftrag
|| 1 Im Folgenden wird unter der Sigle KG Bezug auf Gedichte der 1. Aufl. der Kommentierten Gesamtausgabe genommen, die 2003 erschienen ist. 2 Der Dialog von Sylvia Geist und Susanne Abel wurde aufgezeichnet und ist abrufbar unter: https://www.youtube.com/watch?v=XBtpQbzP0Lk (13. Juni 2022). 3 (15. Mai 2022). Das Gesprächsexperiment fand im Rahmen der Konferenz „eins: zum andern“ als Initiative des Netzwerks Lyrik e. V. in Kooperation mit der Universität Fribourg (CH), der Universität Hamburg, der Universität und dem Literaturhaus Leipzig, der LudwigMaximilians-Universität München und der Universität Trier, mit dem Adalbert Stifter Verein, der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, dem Kunstverein München, der Stiftung Lyrik Kabinett München und der Alexander von Humboldt Stiftung im September 2021 in München statt.
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der nunmehr positiv aufgeladenen Moore der Gegenwart angesichts zunehmender Treibhausgasemissionen bei gleichzeitigem Verlust natürlicher CO2Speicher. Im Zuge der Bewusstwerdung destruktiver Folgen der weitreichenden anthropogenen Eingriffe in die über Jahrhunderte gewachsenen Ökosysteme scheint die Frage „[K]önnen wir noch mal anfangen“ (Geist 2021, 4) zur Programmatik der Gegenwart zu werden, die weit über die Auseinandersetzung mit Moorrüben und Moormais, Trockenlegung und Wiedervernässung hinausreicht.
2 Tiefenbohrungen im Grenzgelände Auch die Moore der Gegenwartsliteratur, die im Folgenden intensiver betrachtet werden, genauer gesagt die von Karen Duve, Thomas Kling und Marcel Beyer, fungieren als Speicher, allerdings nicht als geologische Speicher von Treibhausgasen, sondern, auf der Basis der skizzierten literaturgeschichtlichen, aber auch historisch bedingten Implikationen, als anthropogen und geschichtlich kontaminierte Speicher, die für eine geschichts-, selbst- und auch ökokritisch verschränkte Poetik stehen. Anliegen des vorliegenden Beitrags ist es daher, ausgewählte Moore der Gegenwartsliteratur abzuschreiten und „Sondagen“ ins „unverzeichnete“ (Kling [2002] BM, 56, V. 94)4 durchzuführen, wie es bei Kling programmatisch heißt. Dabei ist die Analyse keineswegs als Trockenlegungsprojekt intendiert, sondern als vorsichtiges Vordringen in tiefere Schichten, ohne das Kunstwerk dabei zu (zer)stören – gewissermaßen als literarische Paludikulturtechnik, die den Anspruch der vertiefenden Nutzung bei gleichzeitig erhellendem Erhalt beinhaltet. Während die Beschreibung von Landschaften traditionell durch idyllische Elemente charakterisiert ist und die Betrachtung gewöhnlich an der Oberfläche verbleibt, lädt das Moor dazu ein, nicht nur bei der Wahrnehmung des Sichtbaren zu verweilen, sondern in tiefere Schichten vorzudringen. Um noch einmal Rilke zu zitieren: „Der gewöhnliche Mensch, der mit den Menschen lebt und die Natur nur so weit sieht, als sie sich auf ihn bezieht, wird dieses rätselhaften und unheimlichen Verhältnisses selten gewahr. Er sieht die Oberfläche der Dinge […]“ (Rilke 1995, 13). Bei der (literarischen) Moordurchquerung hingegen betreten wir einen Schwellenraum, in dem sich nicht nur Vergangenheit und Gegen-
|| 4 Auf die Gedichte Klings wird im Zuge der Interpretationen anhand folgender Siglen Bezug genommen: BM (BÄRENMARKE, MOORFUNDE) und RS (RETINA SCANS). Die Angabe der Sigle wird um die jeweilige Seitenzahl und Versangabe der zitierten Werkausgabe von 2020 ergänzt.
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wart berühren, sondern auch terrestrische und limnologische Einflussfaktoren aufeinandertreffen und so einen Erfahrungsraum des uneindeutigen – teils bedrohlichen und stets nicht zu kontrollierenden – Ineinanders schaffen, den es nicht nur horizontal, sondern auch vertikal zu durchdringen gilt. Im Folgenden bewegen wir uns auf weiter Flur, wenn wir zum Einstieg auf den Fußspuren von Karen Duve dem weitertradierten Schauereffekt der unheilbringenden Natur nachgehen, daraufhin Thomas Klings poetisches Grenzgelände mit Archivfunktion betreten, in dem das lyrische Subjekt im Spiegel der Vergangenheit die Ränder einer anthropozentrisch geprägten Zeit abschreitet und dabei spracharchäologisch versiert seine Poetik der Sondagen entwirft, und schließlich, Marcel Beyer folgend, in die Tiefen eines selbsterschaffenen Moorbunkers vordringen, in dem die Frage nach Verortung und Orientierung zu einer der geschichtlichen Aufarbeitung und Selbstreflexion wird.
3 Regenroman als Schauer-Roman (Karen Duve) Wie schon bei Ernst Weiß’ eingangs genanntem Roman Der Augenzeuge fungiert das Moor auch in Karen Duves Regenroman (RR, 1999) als Topos des Verirrens und Verschwindens, wird aber vor allem auch stimmungsästhetisch aufgeladen, um aufziehendes Unheil anzukündigen und um die begrenzte Handlungsfähigkeit (Agency) des Menschen aufzuzeigen. Schon die Gattungsbezeichnung als „Regenroman“ enthält das Motiv des Wassers. Zugleich erinnert der Regen an den Schauer und knüpft damit indirekt an die Tradition der entsprechenden Gattung, des Schauerromans an. Bei Duve zieht ein junges Paar in ein heruntergekommenes Haus, das direkt an eine unheimlich surrealistisch anmutende Moorlandschaft anschließt, die u. a. mit Mitteln technisch geprägter Industrieproduktion beschrieben wird: Die Sumpfwiese ist ein „verfilzter Teppich aus hellgrünen Pflanzenpolstern mit kreisrunden dunkelbraunen Wasserlöchern“ (RR, 38), der über dem Moor liegende Dunst ist violett und lässt die „Konturen in psychedelischen Lichteffekten verschwimmen“ (RR, 38), die „Rohrkolben“ sind „dicke [..] Zigarren“ und alles ist „so deutlich wie Scherenschnitte“ (RR, 39). „Der Schauerroman“, so heißt es bei Ursula Kluwicks Einordung des Schauerromans als ökologisches Genre, „lebt vom Hervorbrechen des Unheimlichen unter der glatten Oberfläche der Zivilisation“ (Kluwick 2018, 181–182). Bei Duve ist die glatte Oberfläche von Beginn an von Rissen durchzogen, die Einblicke in vielfältige Störungen erlauben: zwischenmenschliche und gesellschaftliche, aber auch Störungen des ökologischen Gefüges, wobei sich die Agency des Moores als „natürlicher Systemzustand“ gegenüber dem Menschen durchsetzt.
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Wie im Schauerroman werden auch bei Duve „verdrängte Präsenzen“ (Kluwick 2018, 183) sichtbar gemacht, als „fremde Natur zeigt [das Moor] den Figuren, dass sie in dieser fremden Welt keinen fixen Platz haben“ (Kluwick 2018, 185), sondern sich ihren Raum immer wieder aufs Neue erschließen müssen, bevor dieser erneut von der Übermacht des Moores eingenommen wird und die Menschen zurückdrängt. Das junge Paar wird somit fortlaufend zur „Neupositionierung gezwungen und damit zur Neuaushandlung ihrer Subjektposition“ (Kluwick 2018, 185). Diese erfolgt jedoch nicht im Modus der Selbstreflexion und daraus resultierender Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Handlungsmacht, sondern verbleibt unreflektiert im andauernden und verzweifelten Ringen der Figuren um ihre Einflussspäre. Die Neuaushandlung der Subjektposition vollzieht sich demnach rein auf der Handlungsebene fernab einer grundsätzlichen Infragestellung der menschlichen Selbstpositionierung. Duves Regenroman ist zwar ganz Schauerroman, bei dem “[d]as Unheimliche [..] schleichend aus der und durch die Natur [kommt]“ und „die Menschen im physischen Kontakt mit der Umwelt erschaudern [lässt]“ (Kluwick 2018, 189), doch besitzt das Moor hier primär materielle Qualität und wird als Wirkinstanz greifbar, das sich an seinen Rändern etwa als Nacktschneckenplage äußert. Entsprechend steht das Moor bei Duve hier, in der Tradition der gothic novel, weniger für eine Ästhetik des Erhabenen, für eine Schauererfahrung, die in ihrer diffusen Wirkung Impulse für eine Auseinandersetzung setzt, das Moor wird „nicht bloß zum Ort, sondern zum Träger der Heimsuchung“ (Kluwick 2018, 189). Anstatt einer Neukonstituierung des „Selbst im Kontakt mit dem Erhabenen“, mündet der Kontakt mit dem Moor in der Ich-„Zersetzung“ (Kluwick 2018, 189). Psychisch bedingt sich diese durch die fortlaufende Unterminierung der eigenen Wirkmacht, physisch findet sie letztgültig im Bild der Moorleiche, die durch ihre nur partielle Zersetzung das Scheitern der Inbesitznahme des Naturraums nachhaltig vor Augen stellt, ihren Ausdruck.
4 Spracharchäologie im Unverzeichneten (Thomas Kling) Sehr viel nüchterner, technisiert und weitgehend ohne unheimlichen Überbzw. Unterbau, beschreibt Thomas Kling das Moor in seinem Gedicht „BÄRENMARKE. MOORFUNDE“ (BM, 94). Veröffentlicht wurde es 2002 in dem Band Sondagen, dessen Titel poetologisch zu verstehen ist. Denn, so Kling in einem Interview, „[e]ine Sondage ist in der Archäologie der Vorgang, wenn Sie eine
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Grassode abheben und darunter ein Geviert ausheben, dann ist an der Form und Farbe der verschiedenen Bodenschichten z. B. das Alter zu erkennen, auch, um welche Funde es sich handelt“ (Müller 2003). Das zu Grunde liegende archäologische Prinzip überträgt Kling auf die „Verbindung zwischen Sprachund Diskursarchäologie“, die nicht nur horizontal, sondern vor allem auch vertikal agiert (May 2019, 216–217). Die Tiefenbohrungen haben zugleich quasimedizinischen Charakter, ermöglichen also einen „mikroinvasiven Eingriff in die Sprache“ (Kling 2003) und sind somit „Suchbewegungen […], die sowohl die Stratifizierungen der Landschaft, der Sprache, der Kultur, aber auch des Körpers betreffen“ (May 2019, 217). Anders als bei Duve haben wir es bei Kling also nicht nur mit einer horizontalen, an der Oberfläche verbleibenden Beschreibung des Moors zu tun, sondern mit sondierenden Tiefenbohrungen. Zunächst aber scheint es auch hier an der Oberfläche zu bleiben, „im grünen Bereich“ (BM, 94, V. 1), wie es im Gedicht „BÄRENMARKE. MOORFUNDE“ mindestens doppeldeutig heißt. Anders als die Tiefenschichten der Erde ist deren Oberfläche (häufig) grün; zugleich ist, umgangssprachlich gefasst, alles in Ordnung, also „im grünen Bereich“ – eine Bezeichnung, die sich von technischen Messgeräten herleitet, die grüne (und keine roten) Signale zeigen, wenn das System stabil ist. Der von Beginn an von „medialen Signalen durchzogen[e]“ Schauplatz (May 2019, 219) von „BÄRENMARKE. MOORFUNDE“ wird zunächst salopp vorgestellt als „so ne art nor-/discher safaripark, kameraüberwacht“ (BM, 94, V. 1–2). Schärfere Konturen gewinnt die Gegend in „küstennähe“ (BM, 94, V. 2) durch die Beschreibung „harte büsche. heide, borstig. eichen und moor: in küstennähe / sumpfgebiete, mooreiche“ (BM, 94, V. 4–5), was eine Vegetation evoziert, die an raue Umweltbedingungen angepasst ist. In diesem „kulturell und medial überformten Naturraum“ (May 2019, 221) bewegen sich auf horizontaler Ebene „ranger der moore, / wanderer in grenzgeländen, die ihre füße aufsetzen, vorsichtig“ (BM, 94, V. 4–6). Dabei geben die „vorgeblichen öden“ (BM, 94, V. 5) bereits Hinweis auf die titelgebenden „MOORFUNDE“, die unter der Oberfläche liegen. Das Gedicht gehört, neben den Gedichten „Kiel“, „Gaumensegel“, „Rollen“, „RETINA SCANS“, „Menhirreihen“ und „Der Similaun. Director’s Cut“, zum Zyklus Beowulf spricht, der auf das altenglische mittelalterliche Heldenlied Beowulf verweist: Im mit Fotografien versehenen, separat veröffentlichten Zyklus (nur die ersten vier Gedichte, Arnold 2000, 3–13) geht es auch zunächst gar nicht um Moore, sondern um Meere: um „meermonster“ und „seewetterbericht“ („Kiel“), um „hochseeboote“ („Rollen“), um „salzwellen“ und „salzzerfressene ränder“ („Gaumensegel“). Und doch ist die Brücke vom Moor zum Meer – jenseits der morphologischen Nähe (Vriddhi-Ableitung), im Sinne von „das, was zum See gehört“ (Kluge 2002) – von Beginn an präsent: Die zu bergenden „wracks in der
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tiefe, die abgetauchten, ertrunkenen“ („Kiel“) sind bereits poetologisch als „wortwracks“ gedacht, die es zu bergen gilt, oder eben, wie es weiter heißt: es sind „zufallsfunde aus dem moor“ („Rollen“).5 Um einen solchen Zufallsfund, nämlich den einer weiblichen, gut erhaltenen Moorleiche aus längst vergangener Zeit, dreht sich dann das Gedicht „RETINA SCANS“ (RS, 95–96), das im Zyklus Beowulf spricht ursprünglich nicht vorhanden war. Im Rahmen erhabener Schauererfahrung im Moor ist die Assoziation mit dem Auftauchen einer Leiche naheliegend, im Gedicht wird der Fund jedoch nüchtern beschrieben: „aus torfen und mudden, aus der versenkung / aufgetaucht, zeigt sich die menschenhand / zuerst“ (RS, 95, V. 1–3). Die „ausgehobene grazile frau“ (RS, 95, V. 10) ist „sprachloses / opfer einer gottheit aus der bronzezeit“ (RS, 95, V. 10–11). Der konservierte Körper ist Zeugnis vergangener Zeiten und (Miss-)Handlungen: Wie in dem Hexengedicht „Über die Art wie sie Hagelschlag zu erregen pflegen“ (Kling 2020, 106) das ausgestellte, mit Folterspuren übersäte Hexenhemd von den inhumanen Hexenprozessen erzählt, so geht es in „RETINA SCANS“ nicht primär um die Schauererfahrung des Leichenfunds, sondern um die Geschichte hinter dem Beweisstück (dort das Hemd, hier die Leiche). Letztere „wird beäugt, nicht scheu, und / ist dies eine frauenhand, schöne, einer jungen toten / aus dem moor. Mit allen linien, lebensnahe sonne, / um die uhrzeit, auf diese abendstraße draußen / hingeschienen. straße aus der bronzezeit.“ (RS, 95, V. 3–7). Ein „halbes bergungsfoto“ (RS, 95, V. 25) gibt Auskunft über den Zustand der Moorleiche, die eine „halb / heruntergerutscht[e]“ (RS, 95, V. 22–23) „augenbinde“ (RS, 95, V. 22) trägt und nun „in halbem schutz“ (RS, 95, V. 24) im Museum „leicht sakral“ (RS, 95, V. 8) den scannenden Blicken der Besucher ausgesetzt ist. Die Betrachtung des konservierten Körpers evoziert das Ereignis, das der Konservierung vorangegangen ist und hält dieses gleichzeitig auf observierend-reflexiver Distanz. [D]enn unter / diesem licht und unsren augn muß sie / liegen, diese ausgehobene grazile frau. sprachloses / opfer einer gottheit aus der bronzezeit. / über deren augenbinde wandern unsere halb- / verrutschten augen. scannen die ab. verwechseln / nichts, und machen uns im kopf davon / ein halbes bergungsfoto. (RS, 96, V. 8–15)
Dem Moor kommt damit die Funktion des Erhaltens und Erinnerns und folglich auch der Möglichkeit zur Auseinandersetzung zu, die erst durch den Verwahrungscharakter des Ökosystems ermöglicht wird: „und glucksend schließt / sich || 5 Zur transmedialen Konzeption des Zyklus vgl. May 2019, 218–219: „Durch den Wegfall der Fotos in späteren Ausgaben geht ein wesentliches kompositionelles Moment des Zyklus verloren“ (hier: 219).
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das moor. das wie beton den körper umschließt, wie beton, treibsände treiben’s ähnlich … / moorklammer also“ (RS, 96, V. 31–33). Durch den dem Moor eigenen über lange Zeit gedehnten Zersetzungscharakter und die damit verbundene, dem Konservierungsprozess inhärente fehlende Unmittelbarkeit, sind jedoch Zugang und analysierende Aufarbeitung zugleich ein schwieriges Unterfangen – ganz gleich, ob man im Moor als Naturraum oder aber in diesem als Textraum versucht, (Be-)Greifbares zu Tage zu fördern. Als ein solcher differenzierter Konservierungsspeicher eignet sich das Moor jedoch nicht nur zum Erhalt jahrhunderteralter Leichen, sondern dank seiner unterschiedlichen Tiefenschichten als Metapher für den bei Kling immer präsenten, in Schichten funktionierenden und qua Sondagen zu erschließenden „Sprachspeicher“6, der zum Bergen, aber ebenso Archivieren der Funde dient. Dabei müssen es keine spektakulären Funde wie Moorleichen (besonders gut konservierte Überreste) oder Mooreichen (besonders gehärtetes Holz) sein; es können durchaus auch andere überlieferungswürdige oder wenigstens -fähige Dinge sein, wie – und damit kommen wir zurück zum Gedicht „BÄRENMARKE. MOORFUNDE“ – der klangvolle Name „Bärenmarke“, der sich auf die Büchsenmilch-Marke bezieht und offenbar dem lyrischen Subjekt aus Kindheitstagen bekannt ist. Die bereits im Titel vorgenommene, zunächst unverständliche Kombination von Bärenmarke und Moorfunden ist nicht nur „Resultat der spracharchäologischen Exkursion in die kollektive wie individuelle Vergangenheit“ (May 2019, 225), sondern lässt sich erneut, wenn auch auf andere Weise durch die Archivierungs- und Konservierungsfunktion der Moore erklären. Denn das Moor steht für Klings eigenen „Sprachspeicher“, der alles konserviert, und dies über lange Zeit und vor allem sehr genau. Die BüchsenmilchAssoziationen im Gedicht bewahren einen für Nichteingeweihte weitgehend unverständlich bleibenden Kindergedächtnisraum aus den bundesrepublikanischen 1960er Jahren, der andernfalls irgendwann vergessen worden wäre. Weniger vielleicht die Marke als solche mit ihren prägnanten Werbesprüchen, sondern das, was offenbar kleine Jungen in den 1960er Jahren mit der Büchsenmilch „im schutz der sog. Sonntagsdecke“ (BM, 94, V. 10–11) gemacht haben: „drippings“ (BM, 94, V. 12) von Kondensmilch, einen „bilderteppich“ (BM, 94, V. 12), und dies „in tiefer versenkung“ (BM, 94, V. 13–14), also hochkonzentriert. Die gekleckste Kondensmilch ist – und dadurch verbindet sich
|| 6 So der Titel von Klings „Übersetzungen“ von „200 Gedichte[n] auf deutsch vom achten bis zum zwanzigsten Jahrhundert“. Eingelagert und moderiert von Thomas Kling. Köln: Dumont 2001.
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Vergangenheit mit Gegenwart – nicht nur flüchtig hingekleckert, sondern ist nunmehr langfristig als „sprachklebe“ (BM, 94, V. 11) im Gedicht konserviert. Dieser Bärenmarken-Klecks gleicht einem „unscheinbaren flecken“ (BM, 94, V. 15), der – und hier kommt die Rückbindung ans Moor – qua „hochmoorerkennung“ (BM, 94, V. 16) aufgespürt wird. Das hier benannte Hochmoor meint weniger ein biographisch erklärbares, weitestgehend trockengelegtes geographisches Areal in der Nähe von Münster (vgl. Burgenmeister 2018, 92), sondern ist ein weiteres Bild für Klings Poetik: Die Hochmoor-Erkennung ist poetologischer Bestandteil der Kling’schen Sprachspeicheranalyse, der für den Archivierungsund Kanonisierungsprozess, bei dem hohe oder als hoch erachtete Literatur, also Hochliteratur (oder Höhenkammliteratur) als solche erkannt wird. Was demnach auf die Erkennung des Hochmoors folgt, „sind dann keine zufallsfunde mehr“ (BM, 94, V. 17), sondern „kartenlesen im unverzeichneten“ (BM, 94, V. 18). Dabei verweist das Unverzeichnete in diesem Kontext nicht primär auf die Kontingenzerfahrung der Gegenwart, vielmehr sind die in Orientierungs- und Positionierungsfragen heranzuziehenden Karten jene der Vergangenheit, die dem Kollektivbewusstsein nicht länger zugänglich sind: Mit dem Unverzeichneten ist also nicht das noch nicht Verzeichnete, sondern „das nicht mehr Verzeichnete, gemeint“, so Kling im Gespräch, die „Traditionen“ (Kling / Müller 2003). Dieses Kartenlesen im ‚Nicht-mehr-Verzeichneten‘, in den Traditionen, die Sondagen in die Tiefe, der „spracharchäologische Erkenntnisanspruch“ (May 2019, 226) „nennt sich“, so metareflexiv das Gedicht über sich selbst, „gedicht“ (BM, 94, 18–19), was als „Wahrnehmungsinstrument“ fungiert (Küchemann 2002). Auch wenn ursprünglich über den Seefahrer Beowulf und die beigegebenen Fotos das Meer im Zentrum des Zyklus stand, so gewinnt die programmatisch-poetologische Bedeutung durch das Moor als spracharchäologisch zu sondierendes Materiallager in den späteren Ausgaben (ohne Fotos, mit ergänzenden Gedichten wie „RETINA SCANS“) an Kontur. Aber auch ohne das intermediale Zusammenspiel erfolgt Klings spracharchäologisches Wahrnehmen und Er-Kennen kollektiver und individueller Vergangenheitsräume stark visuell. So wird in „RETINA SCANS“ die gefundene Moorleiche „beäugt“ (RS, 95, V. 3), später liegt sie im Museum „unter / diesem licht und unsren augn“ (RS, 95, V. 8–9), die sie abscannen und „ein halbes bergungsfoto“ (RS, 95, V. 15) „im kopf davon“ (RS, 95, V. 14) machen. In „BÄRENMARKE. MOORFUNDE“ kommt es zu einem sprachlichen Verschmelzen von Wahrnehmung und Landschaft: Es ist die Rede von „knicks in der pupille“ (BM, 94, V. 3), also unzureichenden Voraussetzungen des Individuums, einen unverfälschten Blick auf seine Umgebung einzunehmen und von „blickgrannen“
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(BM, 94, V. 3), Fremdkörpern, die von außen als Störfaktoren die Wahrnehmung beeinträchtigen. Beide Gedichte, „RETINA SCANS“ und „BÄRENMARKE. MOORFUNDE“, verhandeln unterschiedliche Zugänge kultureller Archivierung, Auseinandersetzung und Aufarbeitung und deren implizite Formen der Bedeutungszuschreibung. Diese ist an verschiedene Wahrnehmungs- und Erkennungsmodi geknüpft und wirft dadurch Fragen nach Perspektivierung, Bewertung und (Neu-)Orientierung in der Gegenwart auf. Während es im programmatisch-poetologischen Gedicht „BÄRENMARKE. MOORFUNDE“ weniger um abgesunkene Traumata vergangener Zeiten, sondern um die Suchbewegung, die Wahrnehmungs- und Erkenntnisfähigkeit spracharchäologischer Arbeit geht, rückt in „RETINA SCANS“ die unmittelbare Auseinandersetzung mit materialen Zeitzeugnissen vor Augen. Auch wenn in der observierenden Betrachtung die persönliche Betroffenheit reduziert und damit eine gewisse Distanz zum vergangenen Geschehen gewahrt bleibt, wirkt die Gefahr und Gewalt des Moors bis in die Gegenwart hinein. Als „moorklammer“ (RS, 96, V. 33) umschließt es „wie beton den körper“ (RS, 96, V. 31), ein gewalttätiges Moment und Bild höchster Beklemmung, das sich auch in Marcel Beyers sechsteiligem Zyklus „Die Bunkerkönigin“ aus dem Band Dämonenräumdienst (2020) wiederfindet.
5 Bewusstseinsarchäologie im Moorbunker (Marcel Beyer) Ganz anders als in den bislang hier betrachteten Moor-Texten der Gegenwart versinkt bei Marcel Beyer das lyrische Subjekt nicht unfreiwillig im Moor, sondern – und da wäre eine Linie zu Benn zu ziehen – begibt sich freiwillig hinein. Allerdings nicht zum Zwecke der Regression und Verdrängung, sondern im Gegenteil: um der körperlich spürbaren, in jedem Fall sehr unangenehmen Konfrontation und damit verbundenen Aufarbeitung willen. Es wird dabei von Beton umschlossen, es begibt sich in eine Art Bunker, in den das Moor auf schauderhafte Weise langsam einströmt. Der in der bislang untersuchten Moorliteratur ansonsten allenfalls unfreiwillig erfahrene Schauereffekt wird hier – und hier ist erneut eine Parallele zu Benn – provoziert und mit diesem laborgleich experimentiert, um herauszufinden, wie es sich anfühlt, wenn man sich bewusst einem solchen klaustrophobischen Erstickungsszenario aussetzt. Erst unter diesen Bedingungen werden die (Nach)Kriegstraumata präsent, die von
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da aus nicht, wie bei Kling, spracharchäologisch, sondern nun bewusstseinsund geschichtskritisch aufgearbeitet werden können. Eine derartige „Tiefenforschung in (ost-)europäischer Geschichte und Landschaft“ (Emmerich 2012, 398) offenbart jedoch auch poetologische Parallelen zum lyrischen Sprechen Celans, der einen wichtigen Referenzpunkt für Beyers Dichtung insgesamt7 und explizit für seinen Zyklus „Die Bunkerkönigin“ darstellt – nicht zuletzt in Bezug auf die Erinnerungsfunktion der Moore. Die Suchbewegung des lyrischen Subjekts führt also nach innen. Der zu Beginn des Gedichts „Die Bunkerkönigin“ (BK, 156–167)8 beschriebene nächtliche Abstieg in die Tiefen eines Betonraums („Bei Nacht bin ich in den leeren Bunker gestiegen“ (BK I, 156, V. 1–2) ist Ausdruck einer Konfrontation des lyrischen Subjekts mit sich selbst und seiner Geschichte: „Ich räume auf vor meinem inneren Auge“ (BK VI, 167, V. 39–40) lautet der programmatische Anspruch, der zugleich die formale Rahmung für den im Gedicht geleisteten Prozess darstellt. In Gang gesetzt wird dieser, indem das lyrische Subjekt „Moorbrühe aus dem Betonboden sprudeln“ (BK I, 156, V. 4–5) lässt, „die nach eingeschlossenen, unverweslichen Pflanzenfasern schmeckt“ (BK I, 156, V. 11–13), also beladen ist mit diffusen Versatzstücken der Geschichte, die in den Bewusstseinsraum, „den leeren Bunker“ (BK I, 156, V. 1–2), einströmen. Statt der spracharchäologischen und damit kognitiv basierten Tiefenbohrung im Kollektivbewusstsein, wie sie bei Kling zu beobachten war, entfaltet sich in Beyers Gedicht ein Grenzraum, der primär durch sensorische Erfahrung des Individuums geprägt ist: „Ein übles, dunkles Gemisch umgibt mich, Unfarbe und Feuchtigkeit, säuerlich, unbewegt, sauerstoffarm“ (BK I, 156–157, V. 18– 21). Dient der Bunker eigentlich als abgeschlossener Schutzraum, so wird diese Funktion nichtig, wenn sich das Moor schrittweise nicht nur des Bunkers bemächtigt, sondern schließlich auch die Grenze zum lyrischen Subjekt verwischt und dieses damit zu überwältigen droht: „das Sickerwasser nimmt mir den Atem“ (BK I, 157, V. 24–25), „Ich weiß nicht, wer ich bin, die Finger im blühenden Moos vergraben, Moorbrühe auf den Lippen“ (BK I, 157, V. 35–38). Eindringlich erinnert das Verschwinden des Subjekts im Moor bzw. sein Verschmelzen mit der Moorbrühe an Celans Eingangsverse des Gedichts „Mitternacht“ (1961): „Ich habe keinen Namen. (Der fault im Menschenmoor.) / Ich habe keinen Namen und nur die eine Hand.“ (KG1, 460, V. 5–6).
|| 7 Weiterführend Marcel Beyer 2002. 8 Der Gedichtzyklus „Die Bunkerkönigin“ (BK) besteht aus sechs Teilen mit jeweils vierzig Versen. Im Folgenden stehen die Siglen BK I–VI für die einzelnen Teile des Zyklus, die um die entsprechenden Seitenzahlen und Versangaben der Ausgabe ergänzt werden.
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Die evozierten Bilder sind bedrohlich und lustvoll zugleich, das anfangs rational gesteuerte Ich löst sich auf in der schaurig-schönen Moorlandschaft und taucht damit ein in verdrängte oder auch unbewusste Erinnerungen und Geschichten: „Und ich / kneife die Augen zusammen, / ich baue innerlich um, ein / ungewaschenes Trümmerkind“ (BK I, 157, V. 30–31). Als der Nachkriegsgeneration zugehörig ist das nun erstandene „ungewaschen[e] Trümmerkind“ (BK I, 157, V. 31) mit diffusen Geschichtsrelikten konfrontiert, unaufhörlich produzieren die Wände des Bunkers „ihren Betonrotz, sie sondern ihren ewigen Bunkerschnodder ab“ (BK I, 156, V. 15–17). Zwar dürstet das lyrische Subjekt nach Aufarbeitung („halb im Schlaf Rost vom Moniereisen schleck[end]. Ich giere danach“ [BK I, 157, V. 32–34]), es muss jedoch zugleich seine Überforderung angesichts dieser körperlich-seelischen Kraftanstrengung eingestehen, wie es in „Bunkerkönigin II“ heißt: „Ich kann nicht jede Nacht auf Knien gehen, ich kann mich, durch kalte, graubraune Suppe watend, nicht jede Nacht erbrechen“ (BK II, 159, V. 29–33). Der Anspruch des „inneren Aufräumens“ (vgl. BK I, 156, V. 3–4) verharrt im ersten Teil des sechsteiligen Gedichts, noch in der Erkenntnis „ich mache mir etwas vor“ (BK I, 157, V. 23– 24). Diese ist jedoch keineswegs mit einer Kapitulation des lyrischen Subjekts verbunden, sondern wird zum Ausgangspunkt eines intendierten Ermächtigungsprozesses, der sich auf das Individuum und dessen Erleben, aber auch auf die Geschichtsschreibung bezieht: „Düster wie draußen ist es in meiner Höhlenphantasie. Ich werde ihr ein Ende bereiten, nicht mehr heute nacht, aber sobald ich Bunkerkönigin bin“ (BK V, 165, V. 36–40). Historia selbst tritt im Gedicht personifiziert als Bunkerkönigin auf, der jedoch entgegen der Antizipation ihres Namens keinerlei Herrschaftsanspruch und damit Anrecht auf geschichtliche Bedeutungszuschreibung und deren Geltungsanspruch zukommt. So heißt es im vierten Teil des Zyklus: „Ohne Macht über diesen Bunker, in dem sie zu Hause ist, ohne Gewalt über seine Bewohner und ohne Umriß, der sie glaubhaft aus der Erinnerung nachzeichnen ließe“ (BK IV, 162, V. 1–6), „in ihrem eigenen Bunker nur zu Gast“ (BK IV, 163, V. 37–39) hockt sie „am Fuß einer Treppe, die niemand je bis zur letzten Stufe hinabsteigen will“ (BK IV, 163, V. 29–31). Innerhalb dieser Verse wird somit auch ein historiographisch-kritisches Potenzial fassbar: Die Geschichte ist „ohne Umriß“ (BK IV, 162, V. 4), „[o]hne Macht“ (BK IV, 162, V. 1), schreibt sich nicht selbst, sondern ist eine vom Menschen geformte, die sich erst in dessen Auseinandersetzung und Aneignungsprozessen (re)konstituiert. Ableiten lässt sich daraus die Forderung, in die „von keiner Taschenlampe erhellt[en]“ (BK IV, 162, V. 13) Tiefen hinabzusteigen – bis zum Fuße jener Treppe, die in den Bewusstseinsbunker führt, um dem histori-
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schen Fundament der Gegenwart und damit auch dessen Wirkfaktoren buchstäblich auf den Grund zu gehen. Doch dieses Treppenende, so wird es im Gedicht offenkundig, erreicht in Ermangelung fehlender Bereitschaft zur Konfrontation fast niemand, worin eine Kritik an fehlender geschichtlicher Aufarbeitung und Reflexion historiographischer Prämissen fassbar wird. Um eine solche zu bewerkstelligen, braucht es Werkzeuge der Prozessierung des Geschehenen. Dabei kommt der Sprache, wie auch bei Kling, eine besondere Bedeutung zu, ist hier jedoch weniger archäologisches Konservierungsmedium, das die Vergangenheitsbewältigung erst ermöglicht, sondern erlaubt eine narrativverarbeitende Befreiung aus der atemraubenden Enge des Moorbunkers: „Umluft bleibt irgendwann stehen. Atemluft will erzählt sein“ (BK II, 158, V. 6–8) – hier eine weitere Verbindungslinie zu Celans ‚Atem(wende)poetik‘. Sprache erfüllt ihre Funktion in Form eines narrativen Aufarbeitungsinstruments, darf jedoch nicht mit einer Verhaftung in „immer gleichen Geschichten“ (also „Umluft“ [BK II, 158, V. 6]) einhergehen, sondern muss prozessierenden Charakter besitzen. Solange es „kein Alphabet. Keine Großbuchstaben“ (BK III, 160, V. 21– 22) gibt, die sprachbasierte Auseinandersetzung und Bedeutungszuschreibung ermöglichen „keine Pfeile und keine Bindezeichen“ (BK III, 160, V. 23–24), die Verknüpfungen herstellen und Richtung weisen können, ist eine Distanzierungs- und Autonomisierungsbewegung nicht zu leisten: „Wir waren die Wände, wir waren der Boden, wir waren die Decke […]. Ich lag da, meine Haut wurde rissig. Mein Hirn wurde schwarz“ (BK III, 161, V. 25–31). Eingetaucht in die Konfrontation mit der Geschichte, aber ohne Werkzeuge, dieser habhaft zu werden, droht das Individuum sich, dank der darin herrschenden Bunkermentalität, in dieser aufzulösen, selbst zum diffusen Bestandteil der Moorbrühe zu werden, gefangen in der Enge des eigenen Bewusstseins und zugleich konserviert im geschichtlichen Moorbunker, der die eigene Lebensgeschichte überdeckt: „Eines Tages dann nennt man es Biographie. Hier gibt es nichts zu graben“ (BK III, 161, V. 38–40).9 || 9 Das Moor ist durch einen permanenten Wasserüberschuss und daraus resultierendes Einströmen von Wasser in geschaffene Aushebungen charakterisiert, sodass im Bild des Grabens als Aufarbeitungsprozesses implizit eine Problematisierung dieses Vorhabens geleistet und der Prozess selbst in Frage gestellt wird. Die Bestrebung des Vordringens in tiefere Moor- und damit im übertragenen Sinne in tiefere Bewusstseinsschichten wird durch das stetige Hereinbrechen weiterer „Moorbrühe“ untergraben. Diese sinnbildlich für weitere Erinnerungen und Traumata stehende nachströmende Moorbrühe zeigt auf, dass es sich bei geschichtlicher Aufarbeitung um ein Unterfangen handelt, das fortlaufender Arbeit bedarf, das jedoch nie gänzlich abgeschlossen werden kann.
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Dieser resignativen Haltung widersetzt sich das lyrische Subjekt, das sich in der Verantwortung sieht, die eigene Lebensgeschichte zu durchleuchten, in tiefere Schichten vorzudringen und dabei nicht nur individuelle, sondern auch historische Erinnerungen zu prozessieren, die sich des kognitiven Zugriffs entziehen. [H]ier suche ich nicht / nach Grabbeigaben oder / nach Leichenschatten, ich lasse / Moorbrühe sprudeln in der / Kammer, auf den Gängen, lasse / die Bunkerlauge, den ewig / nachtropfenden Bunkerschweiß, / lasse das ganze faule Gebräu sich / mit Kriegs- und Nachkriegsdreck / vermengen, lasse Betondecken / Moorboden sein: Ich räume / auf vor meinem inneren Auge. (BK VI, 167, V. 29–40)
Damit wird im Gedicht auch eine transgenerative Bedeutungsdimension geschichtlicher Geschehnisse angesprochen, die im Bild des Moores ihren Ausdruck findet: Entsprechend der Generationenabfolge baut jede neue Schicht auf den sich zuvor gebildeten Schichten auf. An der Oberfläche, also in der jeweiligen Gegenwart, wandern jene „ranger der moore“ (BM, 94, V. 5), „die ihre füße aufsetzen, vorsichtig“ (BM, 94, V. 6), von denen bei Kling die Rede war. Deren Orientierungsbewegung beschränkt sich, so wäre eine Synthese der Moorfunktionen bei Kling und Beyer (und vielleicht sogar Benn) zu denken, nicht nur auf eine Erkenntnisdimension im spracharchäologischen Sinne, sondern beinhaltet auch einen erfahrungsbasierten oder gar bewusstseinsfernen Zugang zu tieferen Schichten. Werden bei Kling abgesunkene Traumata im Sinne von „zufallsfunden aus dem moor“ (BM, 94, V. 17) geborgen und auf kritisch-reflexiver Betrachtungsdistanz gehalten, so dominieren bei Beyer in der Tradition von Benn und Celan gleichermaßen unmittelbare Bildgewalt und sensorische Überwältigung: Tiefmoor-Erkennung im individuellen und kollektiven Unbewussten – gewissermaßen ein Graben in der Erinnerung an diejenigen, die „gruben und gruben“ (Celan, „Es war Erde in Ihnen“, KG 1, 125, V. 3). Beyers Bewusstseinsarchäologie im Moorbunker offenbart schließlich nicht nur neue Formen dichterischer Vergangenheitsbewältigung, sondern verkörpert auch, wie die Lyrik Klings, den von Hermann Korte beschriebenen eindringlichen „Poetik-Dialog [von Benn und Celan] mit der jüngeren deutschsprachigen Lyrik seit den 1990er Jahren“ (Korte 2007).
6 Fazit Die hier beschriebenen Moore der Gegenwartsliteratur dienen mit Blick auf die zu Beginn dargelegten literaturgeschichtlichen, aber auch historisch bedingten Implikationen, als anthropogen und geschichtlich kontaminierte Speicher, die
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eine öko-, geschichts- und selbstkritisch verschränkte Poetik entwerfen. Dabei wird bei Karen Duve der Schauereffekt der unheilbringenden Natur weitertradiert und um neue, dezidiert ökokritische Aspekte ergänzt: Das Moor wird hier zum Verhandlungsraum von Handlungsmacht und zur Spiegelfläche diverser miteinander verschränkter ökologischer und gesellschaftlicher Störungsprozesse. Damit gewinnt die literarische Perspektive im Kontext der im Regenroman dargestellten weitreichenden anthropogenen Eingriffe eine neue reflexive Dimension, die sich auf die Selbstpositionierung des Menschen in (ineinander übergehenden) natürlichen und kulturellen Systemen bezieht. Der Schauereffekt entsteht dabei eben durch die Verwischung der vom Menschen vorgenommenen systematisierenden Grenzziehung und die damit einhergehende Orientierungslosigkeit. Das Unheimliche findet demnach weniger in Konfrontation mit dem Schauer evozierenden Außenraum seinen Ausdruck, sondern verlagert sich zunehmend in die Sphäre der Selbstkonfrontation. Nicht weniger selbstreflexiv schreitet das lyrische Subjekt bei Thomas Kling im Spiegel der Vergangenheit die Ränder einer anthropozentrisch geprägten Zeit ab. Zudem wird hier implizit in der Darstellung des poetischen Grenzgeländes mit Archivfunktion eine gattungs- und sprachreflexive Ebene bedient und das Gedicht somit zum Wahrnehmungsmedium der Gegenwart mit historischem Bezugspunkt. Basiert die ‚Moorpoetik‘ Klings primär auf einer „spracharchäologischen“ Auseinandersetzung, an die ein Erkenntnisanspruch in der Gegenwart geknüpft ist, so erfolgt die reflexive Standortbestimmung bei Marcel Beyer zwar unter dem Eindruck vergangener Ereignisse, doch bleibt beim Eintauchen in historische Tiefen das körperliche Erleben und damit eine permanente Rückbindung an die Gegenwartserfahrung des lyrischen Subjekts anhaltend präsent. Während sich bei Kling öko- und sprachkritische Auseinandersetzung verbinden und durch den Fokus auf die Sprachgebundenheit stets eine reflexive Distanz erhalten bleibt, erzeugt Beyer trotz metaperspektivischer Implikationen eine Form historisch- und historiographie-kritischer Auseinandersetzung in der Darstellung eines unmittelbaren Erfahrungsraum. Auch wenn die Modi der Erkenntnis und Perspektivierung in den untersuchten Texten divergieren, weisen sie doch alle in ihrer kritischen Dimension einen Gegenwartsbezug auf, der in der von Sylvia Geist formulierten Frage „Können wir nochmal anfangen?“ kulminiert. Und dies eben nicht unter Ausschluss historischer Perspektiven und Auseinandersetzungen, sondern ausgehend von in die Vertikale eintauchenden und in die Horizontale ausgreifenden „Sondagen“, die jedoch neben der sprach- auch einer geschichts- und ökokritischen Perspektive bedürfen, um ein Fundament für die Neupositionierung in der Gegenwart zu begründen. Auch wenn bei Duve, Kling und Beyer der ökokritische Bezug weniger offensichtlich ist als bei Geist
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und Abel, so fördert die aktualisierende Lektüre des Regenromans, der Moor- und Bunkergedichte eben diese Aspekte auf frappierende Weise zu Tage. Es wird deutlich, wie die kritische Auseinandersetzung mit der Geschichte, die Frage nach Vergangenheitsbewältigung immer auch eine der Zukunftsgestaltung ist. „‚Wir werden oft vor dem Unbekannten innezuhalten haben‘“ heißt es schon bei Rilke (1995, 34). Auch wenn Kling das „Unverzeichnete“ dezidiert als das Verlustige, das ‚Nicht-mehr-Verzeichnete‘ ausweist, so rekurriert der Ausdruck gleichermaßen auf die Kontingenzerfahrung der Gegenwart und damit auf eine Zukunft, die es gleichermaßen zu imaginieren und zu gestalten gilt und die nicht zuletzt eines Tages als Vergangenheit verzeichnet worden sein wird. Denn dann werden wir auch die Frage beantwortet haben, die Sylvia Geist in ihrem Text so eindrücklich wiederholt: „können wir noch mal anfangen / reicht die Zeit / haben wir no[chmal Zeit anzufangen]10?“ (Geist 2021, 6).
Literatur Arnold, Heinz Ludwig. Thomas Kling. Text + Kritik. Bd. 147. München: Richard-Boorberg-Verlag, 2000. Benn, Gottfried. „Gesänge I“. In Sämtliche Werke. Band I, Gedichte 1, Stuttgarter Ausgabe in Verbindung mit Ilse Benn. Hg. Gerhard Schuster. Stuttgart: Klett-Cotta, 2002. 23. Beyer, Marcel. „Die Bunkerkönigin.“ Dämonenräumdienst: Gedichte. Berlin: Suhrkamp, 2020. 156–167. Beyer, Marcel. „Landkarten, Sprachigkeit, Paul Celan“ Paul Celan. Text + Kritik 48/49. München, 2002. 48–65. Burgenmeister, Sophia. „Der ‚Blick auf Beowulf`‘: eine Spurensuche zwischen Medialität und Materialität bei Thomas Kling und Ute Langanky“. Bielefeld: Transcript, 2018. Celan, Paul. Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe. Hg. u. komm. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. Doyle, Arthur Conan. Sherlock Holmes. Der Hund von Baskerville. München [u. a.]: Delphin Verlag, 1987. Droste-Hülshoff, Annette von. Sämtliche Gedichte. Hg. Ricarda Huch. Frankfurt a. M.: InselVerlag, 1988. Duve, Karen. Regenroman. Frankfurt am Main: Eichborn, 1999. Emmerich, Wolfgang. „Literarische Wirkungen“. Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann. 2. Aufl. Stuttgart [u. a.]: Metzler, 2012. 396– 402.
|| 10 Die schriftliche Fassung des Gedichts endet mit Ellipse „haben wir no“ und wurde hier dem mündlichen Vortrag der Dichterin entsprechend ergänzt, bei der das Gedicht mit der Frage „Haben wir nochmal Zeit anzufangen“ endet. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=XBtpQbzP0Lk (16. Juli 2022).
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Geist, Sylvia. unbezahlbar wie Atmen ist. Greifswald Moor Centrum-Schriftenreihe 04/2021 (Selbstverlag, ISSN 2627‐910X). https://greifswaldmoor.de/files/dokumente/GMC%20Schriften/202104_Geist_Lesung.pdf (4. Januar 2023). Grimm, Erk. „Lesarten der zweiten Natur. Landschaften als Sprachräume in der Lyrik Thomas Klings“. Thomas Kling. Text + Kritik 147, München, 2000. 59–69. Jamme, Christoph. „Martin Heidegger“. Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann. 2. Aufl. Stuttgart [u. a.]: Metzler, 2012. 268–272. Kluge, Friedrich. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Bearbeitet von Elmar Seebold. Berlin [u. a.]: De Gruyter, 2002. Kluwick, Ursula. „Die unheimliche Natur. Schauer- und Sensationsroman als Spielarten einer ökologischen Ästhetik“. Ökologische Genres: Naturästhetik – Umweltethik – Wissenspoetik. Hg. Evi Zemanek. Bd. 16. Umwelt und Gesellschaft. Göttingen [u. a.]: Vandenhoeck & Ruprecht, 2018. 181–194. Kling, Thomas. „Gedichte 2000–2005, Gedichte aus dem Nachlass“. Werke in vier Bänden. Hg. Marcel Beyer in Zusammenarbeit mit Frieder von Ammon, Peer Trilcke. Gabriele Wix. Bd. 3. Berlin: Suhrkamp, 2020. Kling, Thomas. Sondagen. Gedichte. Bd. 11. Köln: DuMont, 2002. Kling, Thomas / Küchemann, Fridtjof. „Gegen die Lehrerlempelhaftigkeit“. faz.net v. 13.9.2002, https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/interview-dichter-thomas-kling-gegen-die-lehrerlempelhaftigkeit-180153.html. (4. Januar 2023). Korte, Hermann. „Säulenheilige und Portalfiguren. Benn und Celan im Poetik-Dialog mit der jüngeren deutschsprachigen Lyrik seit den 1990er Jahren“. Schaltstelle. Neue deutsche Lyrik im Dialog. Hg. Karen Leeder. Amsterdam, New York: Rodopi, 2007. 109–137. May, Markus. „‚Es stand Jerusalem um uns‘: Israel“. Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann. 2. Aufl. Stuttgart [u. a.]: Metzler, 2012. 254–255. May, Markus. „Kartenlesen im Unverzeichneten“. Gedichte von Thomas Kling. Interpretationen. Hg. Frieder von Ammon, Rüdiger Zymner. Paderborn: Mentis, 2019. 211–226. Müller, Alexander. „Gegen die abgerissene Bardenhaftigkeit des deutschen Gedichts. Ein Gespräch mit Thomas Kling über ‚Sondagen‘“. literaturkritik.de (Januar 2003). https://literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=5629. (4. Januar 2023). Olschner, Leonard. „Die Ansprache in Israel“. Celan Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Hg. Markus May, Peter Goßens, Jürgen Lehmann. 2. Aufl. Stuttgart [u. a.]: Metzler, 2012. 175–177. Rilke, Rainer Maria. „Worpswede“. Sämtliche Werke. 2. Aufl. Bd. 5. Frankfurt am Main: InselVerlag, 1995.
Weitere Quellen Abel, Susanne und Sylvia Geist. Sensing… CO2: https://www.youtube.com/watch?v=XBtpQbzP0Lk (4. Januar 2023). Lyrik & Wissenschaft. „Eins: zum Andern. Ein Gesprächsexperiment zwischen Lyrik und Wissenschaft.“ https://www.lyrikundwissenschaft.de/veranstaltungen (4. Januar 2023).
Laura Ganzmann
„Der Knabe“ in den Moorgeistern: Eine intertextuelle Spurensuche im Moor in Angela Sommer-Bodenburgs und Annette von Droste-Hülshoffs Moortexten Zusammenfassung: In Angela Sommer-Bodenburgs Kinderroman Die Moorgeister wird direkt zu Anfang die erste Strophe von Annette von Droste-Hülshoffs berühmtem Gedicht „Der Knabe im Moor“ rezitiert. Von dieser intertextuellen Referenz ausgehend, soll Die Moorgeister im Hinblick auf die Einflüsse von „Der Knabe im Moor“ untersucht werden. Dabei wird die Funktion des Gedichts als Prätext für den Kinderroman vor allem im Hinblick auf die Knabenfiguren und die Darstellung des Moors von Relevanz sein. Zunächst wird, um das Gedicht in seinen Entstehungskontext einzubetten, der „Knabe im Moor“ als eines von Droste-Hülshoffs „Haidebildern“ kurz vorgestellt. Anschließend wird die vergleichende Untersuchung der Texte mit Blick auf die Moorgänge, die Figur des Knaben, den topographischen Raum ‚Moor‘ und schließlich die Moorgeister selbst durchgeführt.
1 Das Gedicht im Kinderroman – Einleitung „‚Kennst du das Gedicht ‚Der Knabe im Moor‘ von Annette von Droste-Hülshoff?‘“ (Sommer-Bodenburg 2003, 11)1 – Mit diesem Satz wird der zwölfjährige Timo aus dem Kinderroman Die Moorgeister, der in den Ferien mit dem Zug zu seiner Tante nach Moorkaten fährt, erstmals mit der Welt des Moors konfrontiert. Expliziter könnte ein intertextueller Verweis kaum sein; zumal der Fremde, der Timo im Zug anspricht, im Anschluss die gesamte erste Strophe des Gedichts der Droste rezitiert. Timo identifiziert besagten Fremden am Ende des Kinderromans als einen Geist aus einer anderen Zeit – und von dort mitgebracht hat er das berühmte Gedicht der Droste. Drostes Text selbst wirkt in Die Moorgeister jedoch nicht antiquiert, sondern wird im Gegenteil aktualisiert. Sommer-Bodenburgs Kinderroman nimmt an vielen Stellen explizit Bezug auf Droste-Hülshoffs „Der Knabe im Moor“. Bereits im Klappentext wird auf das
|| 1 Die Moorgeister wird im Folgenden mit der Sigle MG angegeben. https://doi.org/10.1515/9783110786743-012
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Gedicht verwiesen, zudem wird es im Anhang für die Lesenden bereitgestellt. Sowohl im Gedicht als auch im Kinderroman betritt ein Junge ein Moor und ist gezwungen, sich den Gefahren zu stellen, die an diesem besonderen Ort lauern. Schon in Der kleine Vampir, Sommer-Bodenburgs erfolgreicher Kinderbuchserie um den Vampir Rüdiger, spielt Intertextualität eine wesentliche Rolle. Die Buchreihe wird „durch eine Vielzahl echter, in der erzählten Welt situierter intertextueller Referenzen Katalysator[in] weiterer Lektüren […].“ (Penke 2015, 29). Die Moorgeister verweist im Gegensatz zum Kleinen Vampir vor allem auf einen Referenztext: „Der Knabe im Moor“ von Droste-Hülshoff. Inwiefern das berühmte Gedicht der Droste im Kinderroman aufgenommen und weiterverarbeitet wird, soll im Folgenden untersucht werden. Winfried Jung legt in seinem Beitrag „Timo im Moor“ die Lektüre nahe, bei dem Jungen handle es sich um einen „neuen Knaben im Moor“ (Jung 1997, 32). Dieser Spur soll vertiefend nachgegangen werden, verbleibt diese Behauptung bei Jung doch in vielen Punkten in einer Nacherzählung der Ereignisse, ohne wirklich in einem detaillierten Vergleich zu münden. Zudem wird eine genauere Untersuchung der Inszenierung der Moorlandschaft selbst angestrebt, die in beiden Texten bereits durch die jeweilige Nennung im Titel als zentrales Thema gesetzt und bei Jung nicht berücksichtigt wird.
2 „Der Knabe im Moor“ – ein „Haidebild“ Den zwölf Gedichte2 umfassenden Gedichtzyklus der „Haidebilder“ beschließend, steht „Der Knabe im Moor“ an exponierter Stelle in einem prominenten Werk. Die Münsterländer Heide, die als Referenzpunkt für die „Haidebilder“ gilt, war „im 19. Jahrhundert eine widerspenstige, dem nährstoffarmen Sandboden angepasste Landschaft, die genügsame Pflanzen (wie Heide) und Sträucher hervorbrachte, aber auch Waldgebiete und großflächige Moore aufwies“ (Blasberg, Grywatsch 2018, 212). Der Zyklus besteht aus einer Eingangsgruppe, die durch das Gedicht „Die Lerche“ einen Sonnenaufgang in der Heide inszeniert, einer Mittelgruppe und schließlich einer Schlussgruppe, deren Gedichte vorrangig in den || 2 Zumeist wird das Gedicht als Ballade interpretiert, jedoch wird diese Zuordnung von Droste keinesfalls selbst vorgenommen (vgl. Weiß-Dasio 1996, 135). Indem die Autorin den „Knaben im Moor“ dem Gedichtzyklus der „Haidebilder“ zuordnet und ihn als Landschaftsbild beschreibt, entscheidet sie sich klar gegen die Klassifizierung als Ballade. Weiß-Dasio zufolge liegt den Balladen der Droste oft „ein geschichtliches Ereignis zugrunde, das im Horizont des Drosteschen Zeitbefundes gedeutet wird.“ (Weiß-Dasio 1996, 137).
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Abend- und Nachtstunden angesiedelt sind und so bereits „das Moment des Unheimlichen und Gefahrdrohenden“ thematisieren (Niggl 1986, 101–103). Dieser letzten Gruppe gehört auch „Der Knabe im Moor“ an. Die zwölf Texte lassen sich einerseits in ihrem Ensemble als Komposition gemeinschaftlich betrachten und andererseits in ihrer individuellen Verarbeitung der Heidethematik untersuchen (vgl. Blasberg, Grywatsch 2018, 214). Letzteres ist für einen sich anschließenden Vergleich mit den Moorgeistern an dieser Stelle ertragreich. Während Sommer-Bodenburgs Kinderroman bislang kaum Aufmerksamkeit in der Forschung fand, ist Droste-Hülshoffs Gedicht in eine umfangreiche Forschungstradition eingebettet. „Der Knabe im Moor“ ist einer der populärsten Texte der Droste und dementsprechend mag es kaum verwunderlich sein, dass die Geschichte seiner Interpretation „immer wieder von Extremen gekennzeichnet [war] und […] häufig weniger über den Text selbst [aussagte], als vielmehr etwas über das Bild […], das sich der jeweilige Interpret von der Autorin gemacht hatte“ (Plachta 1997, 206). Baumgärtner (1998) deutet den Text als naturmagische Ballade – dieser Deutung folgen nach Linder vor allem ältere Deutungsversuche, doch auch sie selbst geht von naturmagischen Tendenzen innerhalb des Textes aus, verweist jedoch zugleich auch auf das Moment des Religiösen, das im Text zu finden sei (vgl. Linder 2017, 107). Woeseler plädiert für eine Perspektivverschiebung innerhalb des Gedichts, wodurch „nicht ganz klar auszumachen ist, wo die Grenze zwischen Außen- und Innenperspektive verläuft“ (Woesler 1981, 246), was eine Einordnung des Textes erschwert. Plachta (1997) geht vor allem im Hinblick auf die Geistererscheinungen von einer sozialkritischen Deutung aus, Vogt und Belland deuten den Text psychoanalytisch; der eine eher individualpsychologisch (vgl. Vogt 2003) und der andere eher sozialpsychologisch (vgl. Beland 2003). Niggl (1986) macht vor allem im Hinblick auf die Lichtmetaphorik eine religiöse Deutung des Textes stark und Cwik (2015) schließlich, an Niggl anknüpfend, legt eine poetologische Lektüre des Gedichts nahe. Nach Wortmann sind im Grunde vor allem zwei Lesarten möglich: Entweder präsentiert Der Knabe im Moor ein naturmagisches Szenario, in der [sic!] die Natur zum Leben erweckt ist, oder aber alle der genannten Erscheinungen haben einen Ursprung, nämlich den Knaben selbst, der seine Ängste auf die Naturszenerie projiziert – das Moor avanciert in dieser Perspektive zur Seelenlandschaft. (Wortmann 2018, 254)
Diese Zugänge zeigen sich auf die eine oder andere Weise in den jeweiligen Interpretationsbestrebungen und beschreiben damit das Spannungsfeld, in dem „Der Knabe im Moor“ angesiedelt ist. Im weiteren Verlauf sollen nun vergleichend wesentliche Aspekte des Gedichts unter Zuhilfenahme der verschiedenen Forschungspositionen mit dem Kinderroman in Verbindung gebracht werden.
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3 Spuren im Moor – „Der Knabe im Moor“ als Prätext in Die Moorgeister Durch das explizite Zitat sowie die Verweise auf das Gedicht im Paratext des Romans wird eine intertextuelle Lektüre von „Der Knabe im Moor“ und Die Moorgeister nahegelegt. Dabei fungiert das berühmte Gedicht der Droste als Prätext für den Kinderroman. Grund genug, sich die Funktion des „Knaben im Moor“ für Sommer-Bodenburgs Text genauer anzusehen und dabei die Rolle des Moors und die Figur des Knaben besonders zu beleuchten.
3.1 Die Moorgänge Dass Droste-Hülshoffs Gedicht in den Moorgeistern eine exponierte Stellung einnimmt, wird spätestens ersichtlich, wenn der Fremde im Zug auf dem Weg nach Moorkaten den Protagonisten Timo danach fragt und die erste Strophe rezitiert (vgl. MG, 12). Die Handlung des Kinderromans spielt in diesem kleinen Dorf, in das Timo für die Sommerferien reisen soll. Neben seiner Tante Mimi, die dort wohnt, lernt er Lydia, ein Mädchen aus der Nachbarschaft, kennen. Sie ist auch diejenige, die ihn ins Moor hineinführen wird. Nach der Einstimmung auf das Moor durch den Fremden im Zug wird Timo insgesamt dreimal das Moor betreten. Vor allem der zweite Gang ins Moor, der bei Anbruch der Dunkelheit stattfindet und bei dem er zum einzigen Mal allein ist, lässt Parallelen zum Gedicht der Droste erkennen. Dementsprechend soll hierauf der Fokus gelegt werden. Ein bedeutsamer Unterschied ist zunächst, dass Timo im Gegensatz zum Knaben im Gedicht das Moor nicht allein betritt; vielmehr ist nicht nur die gleichaltrige Lydia, sondern darüber hinaus beim zweiten Gang auch deren Vater dabei, was etwas von der Spannung nimmt, die bei einer alleinigen Konfrontation mit den – möglichen – Gefahren des Moors deutlich stärker akzentuiert würde. Nach einer Auseinandersetzung zwischen Lydia und ihrem Vater, bei der es zur Eskalation kommt und Lydia wegläuft, geht ihr Vater ihr nach und Timo bleibt allein im Moor zurück. Ab diesem Zeitpunkt sind die Gegebenheiten in Gedicht und Kinderroman denkbar ähnlich: „Nun war Timo allein. Ein Schauer lief ihm über den Rücken und angstvoll blickte er sich um.“ (MG, 118). In dieser Einsamkeit begegnet Timo zunächst einer Gruppe von drei Moorgeistern und anschließend einem vierten in Gestalt von Lydia. Timo erkennt recht schnell, dass es sich nicht um Lydia handeln kann und kaum spricht er dies aus, geht „eine schreckliche Veränderung mit ihr vor“ (MG, 126). Der Moorgeist verwandelt sich in ein Fischungeheuer, das versucht, Timo zu packen. Erst jetzt ergreift Timo die Flucht: „Da
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drehte er sich um und rannte. Er rannte wie um sein Leben und erst als er Tante Mimis Haus erreicht hatte, wagte er es, anzuhalten und einen Blick zurückzuwerfen.“ (MG, 126). Das Fluchtmotiv ist auch in Drostes Gedicht durchgehend präsent: „Und rennt, als ob man es jage“ (Droste-Hülshoff 1985, 67, V. 10),3 „Voran, voran, nur immer im Lauf,/ Voran, als woll’ es ihn holen“ (KM, V. 25–26).4 Die Flucht endet in beiden Fällen mit dem Verlassen des Moors und dem Wiedereintreten in den Kulturraum. Während beim Knaben im Gedicht die – mögliche – Verfolgung beim Erblicken der heimatlich flimmernden Lampe endet, kommt Timo erst zur Ruhe, „als er Tante Mimis Haus erreicht hatte“ und erst dann „wagte er es, anzuhalten und einen Blick zurückzuwerfen“ (MG, 126). Den Blick zurück riskiert auch der Knabe im Moor: „Tief athmet er auf, zum Moor zurück/ Noch immer wirft er den scheuen Blick“ (KM, V. 45–46). Sobald beide den rettenden Kulturraum erreichen und ihr Zuhause in greifbare Nähe rückt, enden die Verfolgung und die Angst. Durch den Blick zurück wird die Distanz zum Moor und seinen dort lauernden Gefahren augenscheinlich. Auf etwas zurückblicken kann nur, wer es bereits überwunden hat. Der Blick zurück geht allerdings nicht immer so glimpflich aus, wie in den beiden Texten dargestellt – etwa bei Orpheus’ geliebter Eurydike oder Lots Frau in der Bibel. Für beide bedeutet der Blick zurück den Tod. Diese Tradition wird in den Moortexten explizit durchbrochen. An ihre Stelle tritt ein Blick zurück, der aus einer Distanz heraus geschieht und Sicherheit bedeutet. Während sich das Heimatliche in Drostes Gedicht durch den Schein einer Lampe manifestiert, handelt es sich beim Kinderroman um das Haus der Tante. Die Lichtmetaphorik im „Knaben im Moor“ ist in der Droste-Forschung zum Anlass für vertiefende Überlegungen zu seiner möglichen Semantik geworden. So geht etwa Niggl – im Gegensatz zu Woesler (vgl. 1981, 251) – davon aus, dass es sich beim Schein der Lampe nicht mehr nur um einen realen Lampenschein handelt, sondern dass auf die „christliche[] Lichtsymbolik der Dichterin“ (Niggl 1986, 105) rekurriert wird.5 Diese Dimension wird in Die Moorgeister nicht
|| 3 „Der Knabe im Moor“ wird im Folgenden mit der Sigle KM und der Versangabe zitiert. 4 Durch die Verwendung des Konjunktivs drängt sich die Lesart auf, das Kind phantasiere, so etwa Wortmann: „Zwar ist das Setting durch das konjunktivische ‚als ob‘ als ein imaginiertes gekennzeichnet, für das Kind selbst aber ist diese modale Differenz nicht von Relevanz.“ (Wortmann 2018, 254). 5 In diesem Zusammenhang wird in der Forschung auch die Frage nach der Bedeutung des Schutzengels (KM, V. 38) gestellt. Woesler stellt sich in diesem Punkt explizit gegen religiöse Deutungen ebenso wie Kraft (1987) oder auch wieder Niggl (1986): „Trotzdem ist die gängige Deutung, die Droste habe hier christliche Welt gegen Macht der Finsternis setzen wollen,
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übernommen, wird doch der Schein der Lampe durch das Haus der Tante ersetzt, das für Timo zum Sinnbild eines heimatlichen Wohlfühlortes in Moorkaten geworden ist. An dieser Stelle endet „Der Knabe im Moor“ – wie es für den Jungen im Gedicht weitergeht, muss offen bleiben; die Forschung ist sich nicht darüber einig, ob es sich um eine Verirrung ins Moor handelt oder um einen Schulweg, der vom Jungen täglich bestritten werden muss. So fragt auch Wortmann: „Ob es sich beim Lauf durch das dunkle Moor um eine Gefahr handelt, der sich der Knabe nur einmal auszusetzen hat, ist fraglich. Der Gang zur Schule muss schließlich jeden Tag aufs Neue angetreten werden.“ (Wortmann 2018, 256). Wortmann deutet an dieser Stelle eine „Zirkelstruktur“ (2018, 256), sofern davon ausgegangen wird, dass der Knabe gezwungen ist, sich dieser Gefahr immer wieder auszusetzen. Weiß-Dasio zufolge gibt der Text hierzu keinerlei Antwort: „Überhaupt bleibt vieles unklar: hat [sic!] er [d. i. der Knabe] sich hierher, ins schaurige Moor, verlaufen? Oder ist er auf dem gewohnten Heimweg? Ist er abgewichen vom richtigen Weg? Der Text gibt hierzu ausdrücklich keine Antworten.“ (Weiß-Dasio 1996, 128). Der Kinderroman hingegen hat an dieser Stelle noch knapp dreißig Seiten vor sich inklusive eines weiteren Moorgangs bei Tag für ein Picknick. Auf Anweisung des Herdgeistes aus Mimis Küche gehen Lydia und Timo hierbei ein letztes Mal zum schwarzen Geistersee im Moor, der für Timo eine etwas platte Botschaft bereithält. Diese richtet sich vermutlich vor allem an die jüngeren Leser*innen und kann als ‚Moral von der Geschichte‘ gedeutet werden, wenn Timo eine Stimme aus dem See zu sich aufsteigen hört: „‚Du wirst Moorkaten verlassen, aber Moorkaten wird dich nicht verlassen. Sei du selbst! Und höre niemals auf zu hoffen, zu wünschen und – zu träumen!‘“ (MG, 149). Es ist beachtenswert, dass die Lichtmetaphorik aus dem Gedicht an dieser Stelle doch noch aufgenommen wird: „Dieses helle Licht auf dem Wasser – jetzt nahm es eine warme, gelbliche Färbung an. Nein, es war kein Licht, eher ein Leuchten. So weit Timos Blick reichte, war der Geistersee mit einem warmen, gelben Glanz überstrahlt – wie mit Gold.“ (MG, 149). Womöglich handelt es sich bei den Lichtern, die den See erstrahlen lassen, um die Seelen der Geister, die Timo beim zweiten Gang durch das Moor begegnet sind und die nach einem schwarzen Spiegel suchten, um ihre Seelen hineinzutauchen – Timo verweist sie an den schwarzen Geistersee. So könnte sich hier für die kindlichen Leser*innen ein glückliches Ende für die umherirrenden Gestalten herauskristallisieren, die noch rechtzeitig ihre || unbefriedigend. An keiner anderen Stelle ihres Werkes oder ihrer Briefe spricht sie vom ‚Schutzengel‘.“ (Woesler 1981, 250).
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erlöschenden Seelen in den See getaucht haben, wodurch sich Timo als heldenhafte Figur entpuppt – eine Eigenschaft die ihr Äquivalent im Gedicht nicht finden kann. Vor dem Hintergrund dieser ersten Beobachtungen lohnt es sich, weiterhin zu fragen, inwiefern die Darstellung und das Verhalten der beiden Knaben sich in den Texten gleichen und wie das Moor und seine Geister dort inszeniert werden.
3.2 Darstellung der Knaben In beiden Texten steht ein Knabe im Zentrum des Geschehens. Das, was Lesende über die Figur erfahren, variiert – zu großen Teilen der Textgattung geschuldet – jedoch deutlich. So wird um die Figur Timo eine Hintergrundgeschichte und eine narrative Einbettung geknüpft, während Drostes Knabe kaum kontextuelle Informationen erhält und namenlos bleibt. Eine der wenigen Informationen, die über den Knaben in Drostes Gedicht gegeben wird, ist die Fibel in seiner Hand. Wird davon ausgegangen, dass der Knabe die Fibel besitzt, dann wäre er als Erstklässler einzustufen und deutlich jünger als Timo. Es liegt nah, dass das Alter des Jungen im Kinderroman an die Zielgruppe für die Lektüre angepasst worden ist, um die Identifikation zu erhöhen. Stärker als im heterodiegetisch erzählten Roman stellt sich im Gedicht die Frage nach der Erzählinstanz. Die gesamte erste Strophe beschreibt die Schrecken, die im Moor lauern: „O schaurig ist’s, über’s Moor zu gehn,/ Wenn es wimmelt vom Haiderauche“ (KM, V. 1–2). Gänzlich geklärt werden kann an dieser Stelle nicht, aus welcher Perspektive gesprochen wird. Durch die Interjektion am Anfang des Gedichts, die anschließend noch zweimal wiederholt wird, lässt sich eine Involviertheit in das Geschehen annehmen, die als interne Fokalisierung des Kindes gelesen werden kann. So wäre es gut möglich, dass in der ersten Strophe und in den letzten beiden Versen des Gedichts, die gleichsam einen Rahmen bilden,6 das Kind selbst zu Wort kommt und seine Ängste schildert: „Ja, im Geröhre war’s fürchterlich,/ O schaurig wars in der Haide!“ (KM, V. 47–48). Auffällig ist zudem, dass die Angst selbst und die Gefühle, die der Gang durch das Moor hervorrufen kann, nur in der ersten Strophe und eben in den letzten beiden Versen
|| 6 Die Kreuzreime in den letzten beiden Versen beziehen sich wieder auf die ersten Verse zurück, wodurch eine Rahmung entsteht. Diese wird auch inhaltlich verstärkt, indem der letzte Vers des Gedichts „O schaurig war’s in der Haide!“ (KM, V. 48) auf den Eröffnungsvers rekurriert: „O schaurig ist’s, über’s Moor zu gehn“ (KM, V. 1) (vgl. Wortmann 2018, 254).
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erwähnt werden. Ähnlichkeiten lassen sich diesbezüglich mit einer Ballade der Droste, dem „Fräulein von Rodenschild“, erkennen, bei der sich zu Anfang der ersten Strophe ebenfalls eine Unsicherheit bezüglich der Perspektive ergibt: „Sind denn so schwül die Nächt’ im April,/ Oder ist so siedend jungfräulich’ Blut?“ (Droste-Hülshoff 1985, 260, V. 1–2). Im Anschluss an diese Verse wird dann eindeutig die Außenperspektive markiert, indem in der dritten Person Singular vom Fräulein gesprochen wird. Je nachdem von welcher Perspektive beim „Knaben im Moor“ ausgegangen wird, lässt sich bei der Innenperspektive des Knaben annehmen, dass die Geisterfiguren, die der Junge sieht, aus einer Angst heraus imaginiert sind, gespeist von Erzählungen aus der eigenen Zeit. So weist etwa Beland darauf hin, dass die Geister im Moor „kollektiv geglaubte[] Gespenster[]“ (2003, 92) seien und dementsprechend die Angst des Kindes durch die Gesellschaft der Zeit entstehe. Gleichzeitig legt Lindner jedoch nahe, dass es sich bei den Formulierungen im Gedicht nicht um eine kindliche Sprachform handele und liefert dergestalt ein Argument für naturmagische Züge innerhalb des Textes (vgl. Lindner 2017, 102). Es mag sich möglicherweise auch um eine Erzählinstanz handeln, die intern fokalisiert sowohl die Gefühle des Knaben wiedergibt, als ihn auch gleichzeitig beschreibend beobachtet („Der Knabe rennt, gespannt das Ohr/ Durch Riesenhalme wie Speere“ [KM, V. 19–20]). Die Riesenhalme, die wie Speere beschrieben werden, wären dementsprechend nur aus der Perspektive des Kindes derartig geformt oder aber sie wirken im Dämmerlicht unabhängig von Angstgefühlen speerartig. Eine derartige Ebene in der Frage der Perspektive wird in Die Moorgeister nicht aufgemacht. Der ganze Roman ist durchweg intern fokalisiert, die Erzählinstanz bleibt ganz bei Timo und seiner Sicht. Die Klarheit der Perspektive wird ebenfalls durch das Tempus unterstützt. Im Gedicht wird eine Gleichzeitigkeit von Erzähltem und Erlebtem dargestellt, die eine Involviertheit nahelegt. So wird der Eindruck unterstützt, der Knabe durchlebe die Gefahren des Moors in eben diesem Moment, wodurch unklar bleibt, wer tatsächlich erzählt. Im Kinderroman hingegen wird durchweg in der Vergangenheitsform erzählt. Auf diese Weise wird eine Distanzierung vom Erzählten erreicht, zudem entsteht weniger der Eindruck, es handle sich bei den phantastischen Gestalten um Einbildungen Timos. Außerdem ist er nicht der Einzige, dem sich Geister offenbaren: Auch Lydia kann Geister sehen, so entdeckt sie zusammen mit Timo den Holundergeist Frau
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Holde7 (vgl. MG, 99) und auch ihre Tante Mimi glaubt an die Existenz von Geistern (vgl. MG, 37). Beide Texte sind durchzogen von der Angst der beiden Knaben. Im Gegensatz zum „Knaben im Moor“ wird Timo jedoch von seiner Angst zunächst nicht vollständig beherrscht. So hält er sich anfangs an die Anweisungen von Lydias Vater, sich „nicht vom Fleck“ (MG, 117) zu rühren und kämpft gegen seine Angst an, als er sich mit den ersten drei Gestalten konfrontiert sieht. Auch beim ersten Gang ins Moor, bei dem er bereits Unbehagen verspürt, betont er, „nicht so ängstlich“ (MG, 55) zu sein, wie Lydia von ihm annimmt. Beim Auftreten der falschen Lydia bleibt er zunächst stehen und stellt sich der Konfrontation, als jedoch „eine schreckliche Veränderung mit ihr vor[geht]“ (MG, 125), siegt die Angst und Timo flüchtet. Timos Name stammt von Timotheus dem Gottesfürchtigen ab und wird durch die Tilgung des zweiten Teils des Namens zum Furchtsamen.8 Mit dem dritten Gang ins Moor macht Timo jedoch im Gegensatz zum Knaben der Droste Fortschritte in seiner Entwicklung und stellt sich seiner Angst. Unterstützt wird er dabei von Lydia, die ihn von Beginn an provoziert und anstachelt und vor der er nicht schwach erscheinen will. Schlussendlich lässt sich ein Wandel im Jungen beobachten, den der Gang durch das Moor und die Konfrontation mit der eigenen Angst in Timo hervorgerufen haben: „Er würde in die Stadt zurückkehren – aber das Moor und die Moorgeister würde er nie vergessen!“ (MG, 149). Es wird deutlich, dass Timo eine Verbindung zum Moor aufgebaut hat, die ihn verändert hat. Bei der Rückfahrt äußert er sich zum ersten Mal positiv über seine roten Haare – zuvor hatte er sich bei der ersten Begegnung mit Lydias Vater noch geärgert, als er ihn auf seine roten Haare angesprochen hatte (vgl. MG, 28). Im Verlauf des Buchs wird jedoch immer wieder darauf verwiesen, dass Rothaarige besondere Fähigkeiten besäßen (vgl. MG 64); so sind vor allem Lydia und Timo in der Lage, die Geister zu sehen, sind doch beide gleichermaßen rothaarig. Auch der Herdgeist in Tante Mimis Küche betont die Außergewöhnlichkeit Timos anhand seiner Haarfarbe. Als sein Vater schließlich im Auto auf der Rückfahrt aus Moorkaten || 7 Neben der namentlichen Ähnlichkeit, die Assoziationen zur Märchenfigur Frau Holle hervorruft, bedeutet ein Holundergeist, dass das Glück desjenigen gewahrt wird, bei dem der Holunderbusch wächst, den der Geist bewohnt. Werden Holundergeister nicht mit Respekt behandelt, verschwinden sie „und mit ihnen das Glück“ (MG, 104). Die Begegnung mit einem Holundergeist kann dementsprechend Glück versprechen, aber auch Pech bringen, wenn der Geist verschwindet. Die Dichotomie ‚Glück‘ – ‚Pech‘ erinnert an die Begegnung der Goldmarie und der Pechmarie mit Frau Holle. Auch dort hängen das eigene Glück und Pech vom respektvollen Umgang mit der Welt der Frau Holle und auch mit ihr selbst ab. 8 Altgriechisch ‚Τιμόθεος‘ (‚Timótheos‘) bedeutet ‚fürchte Gott‘.
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von Lydia als „Rotschopf“ spricht, entgegnet Timo: „‚Du solltest nicht so abfällig über rote Haare sprechen […] Rothaarige sind nämlich etwas Besonderes!‘“ (MG, 150). Nach der Grenzüberschreitung, die das Betreten des Moorraums darstellt, ist Timo ein anderer. Er ist mutiger und selbstbewusster geworden, hat die Furchtsamkeit abgelegt und schließlich einen neuen Blick auf sich selbst und die Welt erlangt. Diese Art von Veränderung ist ein Alleinstellungsmerkmal Timos. Für den Knaben im Gedicht der Droste kann eine derartige Entwicklung nicht angenommen werden, hat er doch seine Ängste keineswegs besiegt, sondern ist vor ihnen geflohen. Sie machen ihn unfähig, sich den potenziellen Gefahren, die im Moor – oder auch in der Gesellschaft seiner Zeit9 – lauern, zu stellen und bleibt dementsprechend in einer passiven Rolle. Timo emanzipiert sich hingegen von einem Mitläufer an der Seite Lydias hin zu einem selbstbewussten Jungen, der gelernt hat, mit seiner Angst umzugehen (vgl. Jung 1997, 38), und der den Respekt des Landkindes Lydia erlangt hat.
3.3 Das Moor als topographischer Raum Das Moor selbst ist im Gedicht der Droste als ein besonderer Raum konstituiert. Der topographische Raum ‚Moor‘ wird durch die Verwendung von Adjektiven charakterisiert: „schaurig“ (KM, V. 1), „[u]nheimlich“ (KM, V. 18) oder „fürchterlich“ (KM, V. 47). Diese Inszenierung trägt zur unheimlichen Stimmung, die im Gedicht herrscht, bei. Auffallend ist, dass es, auch in Anknüpfung an die Tradition der Schauerballade, keine sachliche Beschreibung des Moors gibt; Lesende sind dementsprechend von den subjektiv gefärbten Darstellungen des Moors abhängig. Die Beschreibungen des Moors finden vor allem als atmosphärische Inszenierungen statt. Durch Personifikationen der Flora des Moors sowie durch die Verwendung von Adjektiven wird eine Stimmung inszeniert, die eine tatsächliche Darstellung
|| 9 Vor allem Plachta macht eine sozialkritische Deutung des Gedichts fruchtbar. So verweist er darauf, dass es sich bei der „verdammte[n] Margreth“ um eine Kindsmörderin handeln soll (vgl. hierzu auch Kraft 1987, 116): „Mit der Identifizierung des Verbrechens, das die ‚verdammte Margreth‘ […] begangen hat, hat sich die Droste-Forschung bislang schwergetan. […] Ohne Zweifel muß es sich bei dem hier gemeinten Verbrechen um ein Kapitalverbrechen handeln, denn nicht ohne Absicht bildet die Geistererscheinung der ‚verdammten Margreth‘ den Höhepunkt in der Gestaltung des gruseligen Geschehens im Moor, und auch das der Verbrecherin zugeordnete Attribut ‚verdammt‘ bezeichnet die Schwere des Delikts.“ (Plachta 1997, 215–216). Plachta verweist im Anschluss allerdings selbst darauf, dass ein „endgültiger Beweis für deren Identifizierung als Kindsmörderin wohl nicht zu bringen sein wird“ (1997, 216).
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des Moors zwar erahnen lässt, jedoch kann an keiner Stelle von einer Neutralität der Beschreibung ausgegangen werden. Letztlich stellt sich die Frage, inwiefern das Moor sich überhaupt als neutrale, uninteressierte Schilderung beschreiben ließe, schließlich erfüllt das Moor in der Literatur eigentlich immer eine Funktion – bei der Droste ist es in diesem Fall unter anderem die Inszenierung des Schaurigen. Zwar widerspricht Niggl dieser Deutung, indem er eher „einen religiösen Dualismus“ (Niggl 1986, 105) annimmt, jedoch lässt sich durchaus plausibel die Dichotomie der semantischen Räume ‚Natur‘ versus ‚Kultur‘ aufstellen. Im Gedicht wird das Moor vor allem als Naturraum inszeniert, wohingegen der Kulturraum nur an wenigen Stellen Erwähnung findet; etwa durch die Fibel oder den Lampenschein („Die Lampe flimmert so heimathlich“ [KM, V. 43]). Er lässt sich zum einen durch das Adjektiv – das im direkten Gegensatz zu den Adjektiven, die zur Beschreibung des Moors genutzt werden, steht – semantisieren und zum anderen durch die Reaktion des Knaben, die ebenfalls eine indirekte Charakterisierung dieses Raums darstellt. „Tief athmet er auf“ (KM, V. 45) lässt sich demgemäß als pure Erleichterung des Jungen deuten, die den Kontrast zwischen Natur- und Kulturraum noch einmal verdeutlicht. Die Natur wird als etwas Rohes, Wildes und Fremdes dargestellt, dessen Gefahren unübersichtlich sind und die im Gegensatz stehen zu Geborgenheit, Sicherheit und Heimeligem, die der Schein der Lampe widerspiegelt.10 Anhand der Dichotomie ‚Natur‘ – ‚Kultur‘ lassen sich weitere Zuschreibungen finden, die beide Räume weiter ausschraffieren. So können etwa Dunkelheit und Helligkeit (vgl. Weiß-Dasio 1996, 133), laut und leise oder wild und gezähmt die grundlegenden Unterschiede zwischen den beiden Räumen verdeutlichen. Jedoch sind die Räume nicht vollends getrennt. Zum einen dringt das dem Kulturraum zuzuschreibende Kind mit seiner Fibel in der Hand abrupt in den Naturraum ein. Ob es diese Grenze intentional übertritt, um den Weg durch das Moor als Abkürzung zu nutzen, oder sich verlaufen hat und dementsprechend unfreiwillig das Moor betritt, spielt dabei kaum eine Rolle. So stoßen in diesem Ereignis Kultur- und Naturraum aufeinander. Zum anderen wird marginal auf die Aneignung des Kulturraums durch den Naturraum hingewiesen: „Seine bleichenden || 10 Beland zweifelt den Kulturraum als sicheren Zufluchtsort an. „Der Junge hätte zu Hause jedoch immer zu hören gekriegt, was die Droste erfunden hat, wenn es die Dörfler selber so erfunden hätten. Das nimmt der Lampe doch ziemlich viel von ihrem milden Schein.“ (Beland 2003, 95). Angst wird dementsprechend im Kulturraum geschürt und in den Naturraum übertragen. Folgt man Beland in seiner Deutung, so ist die Dichotomie zwischen Natur- und Kulturraum nicht so deutlich zu bestimmen, vielmehr bedingen sich die Semantisierungen der beiden Räume gegenseitig.
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Knöchelchen fände spät/ Ein Gräber im Moorgeschwehle.“ (KM, V. 39–40). Auch wenn es sich um eine hypothetische Aussage handelt, verdeutlicht sie doch die Tendenzen, die sich im 19. Jahrhundert längst gefestigt haben: Das Moor wird besiedelt und Torf wird abgebaut, wodurch der Naturraum verändert wird (vgl. hierzu etwa die Einleitung in diesem Band). Die Menschen, die dem Kulturraum angehörig sind, zerstören die Einheit des Naturraums und die Grenze verschwimmt. Einige der dargestellten Aspekte finden sich, zum Teil deutlich verändert, im Kinderroman wieder. Dass gerade beim Betreten des Moors das Gedicht der Droste für den Roman eine bedeutsame Rolle spielt, wird durch das erneute Rezitieren der ersten Strophe beim Eintritt ins Moor verdeutlicht. Folgendermaßen wird Timos erste Begegnung mit dem Moor dargestellt: Sie durchquerten das Wäldchen – und da erblickte Timo eine weite, mit Binsen und Gras bewachsene Fläche, aus der hier und da schwarze, abgestorbene Bäume aufragten. Etwas Wildes, Urwüchsiges ging von dieser Landschaft aus, das Timo das Herz bis zum Hals schlagen ließ. Ihm fiel das Gedicht ein, das der Fremde im Zug gesprochen hatte: […] Er dachte an die Geister und Dämonen, von denen im Gedicht die Rede war: die unselige Spinnerin, den Gräberknecht, die verdammte Margret. Ob es die wirklich gab – irgendwo dort vor ihm in den Sümpfen? (MG, 51–52)
Die Abgegrenztheit vom übrigen Naturraum, den das Birkenwäldchen darstellt, und der Eintritt in den tatsächlichen Moorraum werden durch eine Leerstelle mittels eines Gedankenstrichs dargestellt. Er lässt die Erzählinstanz, die durchweg aus Timos Perspektive spricht, wohl mitten im Satz innehalten, womöglich schnappt sie nach Luft. Das Satzzeichen deautomatisiert die Lektüre und schärft die Aufmerksamkeit auf das Folgende: die Beschreibung des Moors. Dabei wird anders als im Gedicht das Moor nicht durch Personifikationen, sondern durch eine explizite Beschreibung dessen, was Timo erblickt, geschildert. Das Moor wird als etwas „Wildes, Urwüchsiges“ (KM, 51) beschrieben und erhält somit dieselbe Charakterisierung wie auch im Gedicht der Droste. Dort geschieht dies jedoch implizit. Die Flora beider Moorlandschaften enthält die üblichen Pflanzen: „Röhricht“ (KM, V. 8) und „Riesenhalme wie Speere“ (KM, V. 20) bzw. „Rohrkolben und Schilf“ (MG, 60) sowie „Gestumpf“ (KM, V. 17) bzw. „abgestorbene Bäume“ (MG, 51). Es wird erneut deutlich, dass sich die Darstellung des Moors in Gedicht und Kinderroman zwar unterscheidet, jedoch das, was die Knaben sehen, ähnlich ist. Es handelt sich im Kinderroman dementsprechend um einen der wenigen noch unangetasteten Naturräume. Das Nebelmotiv aus dem Gedicht („Wenn es wimmelt vom Haiderauche,/ Sich wie Phantome die Dünste drehn“ [KM, V. 2–3]) wird bei Timos zweitem Gang ins Moor aufgenommen, betritt er das Moor zu diesem Zeitpunkt doch erst in der
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Dämmerung. Der Nebel, „der aus dem Moor herankroch“ (MG, 118), erscheint ähnlich gespenstisch wie im Gedicht und wird in beiden Fällen personifiziert; schließlich bringt er die drei Moorgeister mit, die sich Timo in den Weg stellen. Überhaupt wird im Kinderroman ebenfalls eine Vielzahl von Adjektiven genutzt, um den Moorraum zu semantisieren: „fahl und gespenstisch“ (MG, 118), „abgestorben“ (MG, 118), „unheimlich“ (MG, 118), „angstvoll“ (MG, 118). Auch hier lassen sich deutliche Parallelen zum Gedicht erkennen; nicht nur bilden die Adjektive eine Isotopie, darüber hinaus wird etwa „unheimlich“ oder „gespenstisch“ tatsächlich aus dem Gedicht übernommen. Möglicherweise wird dergestalt an das Wissen angeknüpft, das Timo durch das Gedicht der Droste im Zug eingeschärft worden ist und das er nun in das Moorerlebnis hineinprojiziert. In beiden Texten lässt sich zudem eine Akzentuierung des topologischen Raums ‚unten‘ feststellen: „Unter jedem Tritt ein Quellchen springt“ (KM, V. 5) und „[v]or seinem Fuße brodelt es auf,/ Es pfeift ihm unter den Sohlen/ Wie eine gespenstige Melodey“ (KM, V. 27–28) stehen deutlich in Verbindung mit: „Umso lauter klang ihm das leise schmatzende Geräusch in den Ohren, das seine Gummistiefel verursachten, wenn er sie aus dem weichen, morastigen Boden zog.“ (MG, 66). Überhaupt wird beim Betreten des Moors im Kinderroman besonders auf den Untergrund geachtet (vgl. etwa auch MG, 52). In beiden Texten erfüllt der unsichere Boden dieselbe Funktion. Das Moor wird als etwas Unsicheres, Unbestimmtes dargestellt; die beiden Knaben verlieren nicht nur sprichwörtlich den Boden unter den Füßen, vielmehr betreten sie eine Welt, die eigenen Gesetzen zu folgen scheint und die durch Rationalität für beide nicht zu erklären ist. Der Gang ins Moor wird im Gegensatz zum Gedicht, bei dem sich der Knabe unmittelbar in der Szenerie befindet und der Eintritt ins Moor als Leerstelle offenbleibt, im Kinderroman explizit inszeniert: „Ein Steg aus Holzbohlen führte über einen Graben ins Moor hinein.“ (MG, 52). Lydia erklärt ein wenig später, dass es sich dabei nicht um einen gewöhnlichen Steg handle, sondern um „die Brücke zum Reich der Geister.“ (MG, 52). Und auch Timo spürt, „dass er eine Welt betreten hatte, in der andere Gesetze galten, in der eine grüne Wiese vielleicht gar keine Wiese war, sondern ein tückischer Sumpf, ein Baumstumpf vielleicht ein übelwollender Geist“ (MG, 54). Die Besonderheit dieses Ortes wird im Kinderroman expliziert. Beim Betreten des Moors handelt es sich um eine Grenzüberschreitung in einen anderen Raum, die erzählerisch klar gekennzeichnet wird. Die Welt des Moors ist ein Naturraum, der zudem der Welt der Geister angehört. Durch den Gang über den Holzsteg wird der ansonsten schwammige und unsichere Untergrund des Moors jedoch abgesichert, sodass Timo und Lydia beim Betreten des Moors auf sicherem Grund stehen. Dergestalt wird etwas von der (Todes-)Gefahr des Droste’schen Moors getilgt und der KJL gemäß angepasst. Der
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Weg durch das Moor ist für Timo und Lydia zwar immer noch unheimlich und nicht ungefährlich, aber doch harmloser. Die Moorgeister ist in einer Zeit situiert, in der Moore bis auf wenige Ausnahmen vollständig kultiviert sind und der Großteil des Torfs abgebaut ist. Im Kinderroman wird äußerst kritisch auf das Abbauen der Moore geschaut (vgl. MG, 91; vgl. Jung 1997, 37). Die Naturräume, die zu der Zeit, als „Der Knabe im Moor“ erscheint, noch an einigen Stellen intakt sind, sind nun vollumfänglich zurückgedrängt. Deutlich wird dies im Kinderroman anhand von Timo dem Stadtkind und Lydia dem Landkind. Timo kommt aus einer Stadt nach Moorkaten und ist bis zu diesem Zeitpunkt nicht mit Geistern in Berührung gekommen, da diese vor allem im Naturraum zu finden sind, der in den Städten fast gänzlich zurückgedrängt worden ist. Jedoch gibt es auch aus dem Naturraum im Kinderroman Einbrüche in den Kulturraum durch die Geister, die sich in Teilen nicht nur auf das Moor beschränken. So lässt sich eine Gegenbewegung beobachten von hartnäckigen Geistern im Kinderroman, die sich nicht aus den Naturräumen verscheuchen lassen, die ihnen noch geblieben sind, ja vielleicht die Kulturräume wieder zurückzuerobern beginnen. In Moorkaten leben Geister des Naturraums und Menschen, die dem Kulturraum angehören, in einer friedlichen Koexistenz. So erklärt Tante Mimi Timo, dass der Herdgeist ihr den Ofen stets sauber halte und dafür sorge, dass keine Speisen anbrennen, wenn er im Gegenzug dafür eine Schale Grütze erhalte (vgl. MG, 82). Die Geister in Tante Mimis Küche und auch Lydias Naturgarten, in dem der nützliche Holundergeist Frau Holde lebt (vgl. MG, 104), teilen sich diesen Lebensraum mit den Menschen im Sinne eines Kollektivs.11 Im Städtischen, wo Timo beheimatet ist, sind derartige geteilte Lebensräume getilgt worden, indem der Naturraum zurückgedrängt wurde. Im Kinderroman wird auf diese Weise Kritik am Umgang mit der Natur geäußert. Gerade im zeitlichen Entstehungskontext des Romans, publiziert 1986, erscheint diese Tendenz naheliegend.12
|| 11 In einem Kollektiv nach Latour können „menschliche und nicht-menschliche Wesen […] sich […] summieren, ohne daß ihr Gegenüber verschwinden müßte.“ (Latour 2018, 109). Nichtmenschliche Wesen werden dann nicht mehr länger als „widerstreitende Form des stummen Objekts [betrachtet], sondern [weisen] die ökologische Form des perplexen nicht-menschlichen Wesens auf[], [] das mit dem Kollektiv in Beziehung tritt“ und damit als sozialer Akteur mit menschlichen Wesen auf Augenhöhe interagieren kann (Latour 2018, 110). Diese Art von Koexistenz ist als Leben im Einklang miteinander in bestimmten Räumen im Kinderroman in Tante Mimis Küche oder auch in Lydias Wildgarten existent. 12 In der Zeit ab 1970 und verstärkt noch einmal ab 1980 ändert sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Blick auf Ökologie und Umweltprobleme, dabei lässt sich von einer
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3.4 Darstellung der Moorgeister Das Moor wird im Kinderroman als „Reich der Geister“ (MG, 52) beschrieben und ist dementsprechend durchzogen von geisterhaften Figuren, die durch die Moorlandschaft spuken. Im „Knaben im Moor“ begegnet das Kind im Verlauf des Gedichts vier Geistern. Dabei handelt es sich nicht um tradierte Figuren aus Spukgeschichten der Zeit, vielmehr finden die Figuren an anderer Stelle bei der Droste Erwähnung13 und Plachta verweist auf die sozialkritische Funktion, die dem Gedicht durch die Erscheinungen inhärent ist, „die die soziale Wirklichkeit in ihrer Krisenhaftigkeit abbilden […]: Sonntagsarbeit, Betrug und Diebstahl sowie Kindsmord“ (Plachta 1997, 212). Gesellschaftskritische Deutung oder nicht, offen bleiben muss dennoch, ob der Knabe die Geister lediglich imaginiert. So verweist etwa Cwyk darauf, dass „jede Bewegung des Knaben sowohl als eine visuelle als auch als eine akustische Beschreibung verstanden werden kann“ (Cwyk 2015, 265), wodurch eine Imagination der Geister wahrscheinlicher wird. Jedoch wird dieser Eindruck beim Auftritt der „verdammte[n] Margreth“ gebrochen, als diese zu sprechen beginnt. „[I]n dem Moment, in dem das Hörbare nicht mehr als Landschaftsgeräusch interpretiert werden kann, sondern als konkrete sprachliche Aussage vorkommt, wird die Frage aufgeworfen, ob die Gestalten nicht doch etwas Reales sein könnten.“ (Cwyk 2015, 271). Dennoch gilt das Gedicht der Droste nicht als phantastischer Text.14 || ökologischen Epochenschwelle sprechen, in deren Anschluss das Bewusstsein für die Relevanz ökologischer Themen an Zulauf gewinnt (vgl. Bühler 2016, 17). 13 „Die häufigsten Gespenster in Moor, Haide und Wald sind arme Seelen aus dem Fegefeuer, deren täglich in vielen tausend Rosekränzen gedacht wird, und ohne Zweifel mit Nutzen, da man zu bemerken glaubt, daß die ‚Sonntagsspinnerin‘ ihre blutigen Arme immer seltener aus dem Gebüsche streckt, der ‚diebische Torfgräber‘ nicht halb so kläglich mehr im Moore ächzt und vollends der ‚kopflose Geiger‘ seinen Sitz auf dem Waldstege gänzlich verlassen zu haben scheint.“ (Droste-Hülshoff 1978, 71). Plachta weist darauf hin, dass außer der „verdammte[n] Margreth“ alle „Gespenstererscheinungen in dieser Textpassage als ironisch gebrochene Reminiszenz wieder auf[tauchen]“ (Plachta 1997, 226). Das Schweigen bezüglich Ersterer erklärt Plachta damit, dass sich aufgrund der Schwere ihres Verbrechens (vgl. Fußnote 9) eine „ironische Brechung ausschließt.“ (Plachta 1997, 226). 14 Durch die Einbettung des Gedichts in den Heidezyklus, dessen Heidetopos den realen Ausgangspunkt auch für den „Knaben in Moor“ darstellt, wird das Naturmotiv der Heide aufgenommen und verarbeitet. Zwar lässt die Literatur der Droste keine eindeutige Zuordnung zu den Periodisierungsmodellen ihrer Zeit zu und „macht es [...] den Literaturkritikern nicht leicht“ (Blasberg 2018, 52), jedoch lässt sich wohl unproblematisch konstatieren, dass das Gesamtwerk der Droste und vor allem auch die „Haidebilder“ mit der Naturlandschaft der Heide als Referenzpunkt, tendenziell dem Realismus zuzuordnen sind. Die auftretenden Geister lassen sich jedoch als Störfaktoren in der realistischen Darstellung der Heidemotivik nicht wegargumentieren. Sie
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Die Moorgeister hingegen ist derart durchzogen von (über-)natürlichen Figuren, die den Text auch auf handlungsstruktureller Ebene bestimmen, so dass der Text dem Genre der Phantastik15 zugeordnet werden kann. Die Geister beschränken sich nicht nur auf das Moor selbst, sondern sind auch im Haus oder im Garten zu finden, sodass eine Entstehung der Geister in Timos Gedanken unwahrscheinlich ist. Im Gegensatz zum Gedicht führt Timo sogar ein Gespräch mit den Geistern, wodurch es beinahe ausgeschlossen erscheint, dass er sie etwa durch akustische Äquivalenzen schlichtweg imaginiert. Zudem ist Timo nicht der Einzige, der Geister sehen kann (vgl. MG, 64), und sie scheinen zum Leben in Moorkaten ganz selbstverständlich dazuzugehören. In der kleinen Welt Moorkatens sind die Natur- und Moorgeister keineswegs so übernatürlich, wie es scheint. Vielmehr gliedern sie sich ein in den Naturraum und sind als elementarer Teil von ihm zu betrachten. Es sind vielmehr die Menschen, die diesem natürlichen Ensemble im Weg stehen, sich nicht einfügen und dem Naturraum letztlich entwachsen sind. Ein besonderer Akzent soll schließlich auf die Geister gelegt werden, die Timo bei seinem Gang durch das Moor begegnen, da es sich hierbei speziell um Moorgeister handelt und nicht um gemeine Naturgeister. Lydia erklärt Timo, dass es im Moor von Geistern nur so wimmle: Irrlichter, Nebelfrauen, Binsengespenster (vgl.
|| brechen die realistisch anmutende Darstellung. Das Auftreten von Gespenstern im Realismus widerspricht „den weltanschaulichen Prämissen wie der Poetologie der realistischen Literatur [...].“ (Begemann 2013, 13). Die Verwendung von Geistern und Widergängern bekommt jedoch eine andere Färbung. So konstatiert Begemann, dass im Realismus gerade in den „Atavismen, Rückfällen und Überlebseln aber [...] die Vergangenheit und gerade diejenigen ihrer Aspekte zurück[kehren], die die Moderne aus sich ausschließen zu müssen meinte: Irrationales, Mythisches, Animistisches und ‚Abergläubisches‘.“ (Begemann 2018, 104). Die Unsicherheit über die tatsächliche Existenz der Geister im Gedicht lässt sich mit Durst zudem im Gegensatz zu phantastischer Literatur anders funktionalisieren: „Während eine phantastische Struktur im Bereich dominanter realitätssystemischer Strukturen die Kohärenz der erzählten Welt zerstört, schwächt sie im subordinierten Bereich das Wunderbare, indem sie es zu einer lediglich peripheren Eventualität degradiert.“ (Durst 2012, 64). Brittnacher, May ergänzen zudem, dass „der späte Realismus die phantastischen Potenziale der Romantik zwar sozialpsychologisch entschärft, aber zugleich in eine Anklage der Gesellschaft überführt, die ihren Mitgliedern Doppelgesichtigkeit und Rollenspiel als Bedingung eines sozial gelingenden Lebens abverlangt.“ (Brittnacher, May 2013, 470). Sozialkritische Deutungen der Geister sind zudem im Rahmen der Droste-Forschung nicht unpopulär (vgl. hierzu v. a. Plachta 1997). 15 Die Klassifizierung der Moorgeister als Phantastik hängt von der zugrunde gelegten Theorie ab. So lässt sich der Text etwa mit Nikolajevas (1988) Zwei-Welten-Theorie oder auch mit Haas’ (1982) argumentationsstruktureller Definition als phantastischer Text begreifen. Hingegen mit Todorov (1972) gesprochen, ließe sich der Text als wunderbar und nicht als phantastisch bezeichnen, produziert er doch keine Unschlüssigkeit, sondern weist den phantastischen Elementen – wie bereits aufgezeigt – einen faktischen Status zu.
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MG, 55) – sie alle seien in den Sümpfen heimisch. Auf diese Weise wird hervorgehoben, dass es sich beim Moor um einen Naturraum par excellence handelt, wird doch im Kinderroman die Natur grundsätzlich durch die Existenz von Geistern charakterisiert und im Moor sind sie besonders präsent, schließlich stellt es eines der wenigen unberührten Biotope dar. Nach Lydias Einführung dauert es auch nicht mehr lange, bis Timo den ersten Geist erblickt: Er beobachtet wie sich die schwimmenden Gräser und Moose auf dem Graben teilten und der Kopf einer Frau aus dem Wasser heraufkam. Timo fand, dass sie sehr schön war: mit langen, grünen Haaren, die wie Binsen auf dem Wasser lagen, und einer hell schimmernden grünlichen Haut. Sie lächelte ihm zu, und dann begann sie zu singen – eine gleichmäßige, einschläfernde Melodie. (MG, 63)
Der erste Moorgeist wird im Gegensatz zu den Geistern im Gedicht der Droste nicht als eine unheimliche Erscheinung inszeniert, sondern ganz harmonisch im Zusammenspiel der Naturelemente. Es wird deutlich, dass der Geist mit der Natur um ihn herum verwoben ist, ja sogar eins zu sein scheint.16 Im „Knaben im Moor“ werden die Geister zwar ebenfalls in die Natur eingebettet, jedoch auf eine andere Weise; etwa bei der Darstellung der „unselige[n] Spinnerin“ (KM, V. 22): „Der Knabe rennt, gespannt das Ohr,/ Durch Riesenhalme wie Speere;/ Und wie es rieselt und knittert darin!/ Das ist die unselige Spinnerin,/ Das ist die gebannte Spinnlenor’,/ Die den Haspel dreht im Geröhre!“ (KM, V.19–24). Im Gedicht vernimmt der Knabe akustische Reize, die von der Natur ausgehen, und erkennt darin die Spinnerin. Verbunden sind die Gespenster mit der Natur des Moors bei der Droste vor allem durch die Akustik, überhaupt wird im Gedicht viel mit der Akustik gespielt (vgl. hierzu Cwyk 2015). Timo hört jedoch nicht bloß, er sieht – und zwar einen Moorgeist mit Binsen als Haaren. Auf diese Weise wird der Moorgeist sehr viel stärker zum Bestandteil des Moors. Und die „gleichmäßige, einschläfernde Melodie“ findet auch ihr Äquivalent im Gedicht: „Es pfeift ihm unter den Sohlen/ Wie eine gespenstige Melodey;/ Das ist der Geigemann ungetreu“ (KM, V. 28–30). Die gespenstische Melodie, die der Knabe vernimmt, bewirkt bei ihm das Gegenteil des Impulses, der bei Timo ausgelöst wird: „Eine seltsame Anziehungskraft ging von dieser Melodie aus – und ohne dass Timo etwas dagegen tun konnte, bewegte er sich auf die Frau zu.“ (MG, 64). Der verführerische Gesang,
|| 16 Visualisiert wird dies im Roman zudem durch eine Illustration von Reinhard Michl, die den Moorgeist mit weichen Strichen auf der Wasseroberfläche zeigt und dessen Haare tatsächlich die Binsen, die den Rand des Gewässers säumen, darstellen. Der Kinderroman nutzt an einigen Stellen unterstützende Illustrationen zur Veranschaulichung, so etwa auch bei den drei Geistern, die Timo mit ihren Seelen begegnen.
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der Timo in seinen Bann zu ziehen scheint, flicht das Sirenen-Motiv in die Darstellung des Moorgeistes ein. Sirenen gelten in der Mythologie als „weibliche Mischwesen, die auf Inseln, an Meeresufern und auf Klippen hausen und die vorbeifahrenden Seefahrer mit ihrem Gesang zugrunde richten“ (Hinz 2008). Auch Timo verliert beim Lauschen des Gesangs die Kontrolle über sich selbst und schließlich ist es Lydia, die ihn davor rettet, zum Moorgeist in den Sumpf zu steigen. Im Gegensatz zur Melodie im Gedicht klingt selbige im Roman also verführerisch und nicht angsteinflößend.17 Die Geister im Kinderbuch scheinen dementsprechend vordergründig vorzugeben Andere zu sein, als sie sind. Hinter ihrer Fassade versteckt sich jedoch zumeist ein fataler Kern, den Timo erst im späteren Verlauf der Ereignisse durchschaut. Durchaus geheimnisvoll inszeniert werden die drei Gestalten, die Timo bei Nacht im Moor begegnen. Dabei handelt es sich um eine alte Frau von der Größe eines kleinen Mädchens, einen alten, faltigen Mann mit langem Bart und schließlich „ein höchst sonderbares Wesen: Es hatte eine spitze Schnauze und war über und über mit grauen Haaren bedeckt. Es sah aus wie ein alter, struppiger Wolf – aber es trug einen Umhang, und es ging aufrecht auf zwei Beinen“ (MG, 120). Bis auf das Geschlecht der ersten beiden Figuren könnten die dargestellten Geister den Erscheinungen im „Knaben im Moor“ nicht weniger ähneln. Sie scheinen eher vom Märchen inspiriert zu sein; hierfür spricht vor allem die Figur des anthropomorphen Wolfs. Die drei Figuren unterscheiden sich deutlich von allen anderen vorkommenden Geistern im Kinderroman, sind sie doch weniger eingebunden in den Naturraum und scheinen dort ebenso fremdartig zu wandeln wie Timo. Eine spirituelle Dimension erhält die Begegnung durch die Seelen der Gestalten, die diese vor sich hertragen und die sie in einen schwarzen Spiegel eintauchen müssen. Wieder lässt sich zudem das Motiv der Verführung konstatieren. Die Gestalten versuchen, Timo zu überreden mit ihnen zum Geistersee zu gehen. Ihren Höhepunkt erreicht die Geisterbegegnung schließlich, als Timo sich mit der Gestaltwandlerin in Form von Lydia konfrontiert sieht. Diese versucht erneut, ihn zum Geistersee zu locken, doch auch diesmal bleibt Timo standhaft. Jedoch löst die Verwandlung des Moorgeistes dieses Mal dieselbe Reaktion aus wie die Begegnung des Knaben in Drostes Gedicht mit der verdammten Margret:
|| 17 Ähnliche Dimensionen werden auch in den Moorgedichten Christian Morgensterns aufgemacht. So „lockt und droht“ (Morgenstern 1971, 42, V. 6) etwa in Am Moor der Tod mit der Fidel. In Die Irrlichter werden „traurig-süße Lieder“ (Morgenstern 1971, 10, V. 5) von den Irrlichtern gesungen und auf diese Weise Wandernde ins Moor gelockt (vgl. hierzu auch van de Löcht in diesem Band). Das Motiv der Verführung und Verlockung ist in beiden Texten eng an eine Melodie geknüpft, die diejenigen, die ihrer gewahr werden, in ihren Bann zieht.
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Er flieht. Die „verdammte Margreth“ und die falsche Lydia haben indessen außer der hervorgerufenen Reaktion des Kindes nichts gemein. Weiß-Dasio weist darauf hin, dass es sich bei der „verdammte[n] Margreth“ um eine Wiedergängerin handelt. „Gegenüber den gespenstigen und unseligen Gestalten der vorangehenden Strophen ist die verdammte Margret diejenige, über die das Urteil bereits gesprochen ist.“ (Weiß-Dasio 1996, 131). Ihre Seele scheint bereits verloren. Über die Seele des Moorgeistes in Gestalt von Lydia wird nichts gesagt, jedoch sind die drei vorherigen Gestalten, die Timo begegnen, allesamt noch im Besitz ihrer Seelen und versuchen, diese zu retten. In diesem Sinne lässt sich im Hinblick auf die Geisterfiguren eine deutliche Unterscheidung hinsichtlich ihres Schicksals feststellen. Während die Geister im Droste-Text dazu verdammt sind, weiterhin durch das Moor zu spuken, ohne Ruhe zu finden, scheint es für die Geister im Kinderbuch glimpflich ausgegangen zu sein. Es stellt sich schließlich die Frage, welche Bedeutung den Geistern innerhalb der Texte zukommt. Im Gedicht der Droste sind sie Schlüsselfiguren und bestimmen die Lesart des Gedichts: Wird von ihrer Echtheit ausgegangen, handelt es sich um eine naturmagische Ballade, die die Natur zu charakterisieren anstrebt, bei einer psychologisierenden Deutung werden die Geister in der Phantasie des Jungen aus der Angst heraus imaginiert. Dass es sich bei den Moorgeistern um einen phantastischen Text handelt, in dem die Geister zur Gesamtstruktur der Geschichte beitragen, lässt sich fast bedenkenlos argumentieren. Dennoch ist beiden Texten gemein, dass es sich um Kinderfiguren handelt, die in der Lage sind, Geister zu sehen. Im Moorgeister-Text ist es nämlich nicht nur Timo, sondern auch Lydia, die Geister sehen kann, allerdings sind hierzu weder Tante Mimi noch Lydias Vater in der Lage.18 Möglicherweise steht gerade das Kind-Sein19 mit dem Geister-Sehen in Verbindung.20 Die Moorgeister im gleichnamigen || 18 Lediglich die Figur der alten Elfrun soll ebenfalls in der Lage sein, Geister zu sehen. Jedoch taucht sie im Laufe des Romans nicht auf, sondern wird nur erwähnt. Alte Frauen in der Literatur werden oft als „Außenseiterinnen“ inszeniert (Belzer-Kielhorn 2017, 26). Durch den individuellen Blick, den die alte Elfrun auf die Natur zu haben scheint, wird ihr Anders-Sein deutlich, sie wird überhaupt nur durch dieses qualifiziert. 19 „Kindheit ist nicht als anthropologische Universalie, sondern als kulturelle Tatsache zu verstehen, die zu einer gegebenen Zeit in der Geschichte der westlichen Gesellschaften diskursbestimmend geworden ist“, so Giuriato (2018, 7). Damit gibt der Kindheitsdiskurs in der Literatur einer jeden Zeit Aufschluss darüber, welche Kindheitskonzepte zu eben dieser Zeit dominant sind. So „scheint das Kind bis heute nichts von seiner unheimlichen und verstörenden Rätselhaftigkeit eingebüßt zu haben [...] [und] die Literatur [tritt] umso mehr als derjenige Diskurs in Erscheinung, der an die anhaltende Alterität des Kindes erinnert“ (Giuriato 2018, 20–21). 20 In On Fairy Stories erklärt Tolkien die Lektüre phantastischer Texte folgendermaßen: Innerhalb der Sekundärwelt des Phantastischen wird alles als wahr aufgefasst, „[y]ou therefore
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Kinderroman kommen vorrangig als Teile der belebten Natur vor und sind eindeutig dem Naturraum zuzuordnen. Auch im Gedicht werden die Geister im Naturraum inszeniert. In beiden Texten betreten Kinder die Anderswelt ‚Moor‘, die eine besondere Naturform darstellt. Es wäre denkbar, dass gerade Kinder, die noch eine engere Verbindung zur Natur haben, diese Geister als Teil der belebten Natur wahrnehmen können. Der unverstellte Kinder-Blick ermöglicht das Schauen einer anderen, den Erwachsenen verborgenen, Welt. Man denke hier an E. T. A. Hoffmanns Das fremde Kind, das sich ebenfalls nur von ganz bestimmten Kindern wahrnehmen lässt. Auch dort kann die Begegnung mit dem fremden Kind einen kindlich-naiven und unverstellten Blick auf eine andere Wirklichkeit bieten. Dieser unverstellte kindliche Blick könnte sowohl in Droste-Hülshoffs als auch in Sommer-Bodenburgs Text imitiert und inszeniert werden.
4 Fazit – Ein neuer „Knabe im Moor“? Als Timo zu Anfang des Romans mit dem Gedicht der Droste konfrontiert wird, ahnt er noch nicht, was er in den kommenden Wochen erleben wird. Die Lesenden jedoch bereiten sich vor: Durch die Bekanntheit von „Der Knabe im Moor“ werden die Erlebnisse im Kinderroman in ein bestimmtes Setting eingebettet. Unheimliches und Geheimnisvolles lauert im Moor; einem Ort, der sich durchaus als Anderswelt charakterisieren lässt. Durch die Verflechtung von Gedicht und Kinderroman wird automatisch eine Ebene eröffnet, die eine Lektüre des Romans vor dem Hintergrund des Gedichts nahelegt. Auf diese Weise schärft sich, wie gezeigt, die Wahrnehmung im Hinblick auf die Darstellung von Ort und Figuren im Kinderroman. Dergestalt manifestiert sich die Mehrfachadressierung anspruchsvoller KJL (vgl. Ewers 2012, 58). Erfahrene Lesende erkennen eine Ebene im Kinderroman, die das Gedicht mit dem Roman verbindet und dementsprechend die Narration komplexer gestaltet. Kindlichen Lesenden mag diese Ebene noch verschlossen bleiben, jedoch werden auch sie auf die Spur des Gedichts gebracht, der sie nachgehen können, wodurch der Kinderroman mit seinen Impulsen zur
|| believe it, while you are, as it were, inside. The moment disbelief arises, the spell is broken; the magic, or rather art, has failed. You are then out in the Primary World again, looking at the little abortive Secondary World from outside.“ (Tolkien 2014, 52). Derart in die Phantastik einzutauchen, ist vor allem ein kindliches Merkmal; Tolkien spricht von „‚willing suspension of disbelief‘“ (Tolkien 2014, 52). Jedoch können auch Erwachsene, wenn sie sich wirklich auf die Ereignisse einlassen, die phantastische Welt mit kindlichen Augen sehen. Es ist gerade der kindliche Blick, der den Zugang zu alternativen Welten eröffnet.
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literarischen Sozialisation anregt. So bereichert das Gedicht nicht nur Die Moorgeister um eine weitere Ebene, sondern regt darüber hinaus zur Weiterlektüre des Gedichts selbst an, wird zum „Katalysator“ (Penke 2015, 29). Im Verlauf des Romans wird außerdem deutlich, dass er im Hinblick auf sein kindliches Lesepublikum den Droste-Stoff deutlich entschärft. Dennoch verspricht die Lektüre für Kinder spannungsreiche Momente auch mit wenig Relation zum Gedicht. Das volle Potenzial der Moorgeister entfaltet sich jedoch erst beim Einbezug des Gedichts in die Geschichte Timos. Timo lässt sich durchaus als ein neuer Knabe im Moor betrachten. Sowohl in „Der Knabe im Moor“ als auch in Die Moorgeister wird das Moor als ein besonderer Ort inszeniert und in den Mittelpunkt des Erzählten gestellt. Es ist der Ort, an dem sich die Jungen ihren Ängsten stellen müssen – ob real oder imaginiert. Beide fliehen vor den Gefahren des Moors, jedoch kann Timo im Gegensatz zu Drostes Knaben seine Angst überwinden. Eine unheimliche, schaurige und unberührte Landschaft, die das Sicherheit bringende Zuhause in weite Ferne rücken lässt und dem beide schutzlos ausgeliefert zu sein scheinen, unterstreicht die Verbindung zur Natur. Der Aspekt der Natur wird in beiden Texten besonders stark gemacht. Es ist vor allem die Darstellung des Moors, die in Sommer-Bodenburgs Text am stärksten an Droste-Hülshoffs Gedicht erinnert. Das Moor selbst wird mitunter als Ort beschrieben, an dem zu Vergessendes abgelegt werden soll (vgl. hierzu van de Löcht in diesem Band). Die von der Gesellschaft Ausgestoßenen und Vergessenen treiben folglich im Moor ihr Unwesen und werden durch das Kind reaktualisiert. Timo findet jedoch im Moor nicht unbedingt Ausgestoßene, sondern Moorgeister, die stark in den Kreislauf der Natur eingeflochten sind – und schließlich findet er tief im Moor eine Erkenntnis. Dementsprechend wird das Moor semantisch umcodiert und kann in Die Moorgeister als Ort der Erkenntnis wahrgenommen werden. Das Moor selbst wird in beiden Texten als etwas Rohes, Unheimliches und Ursprüngliches begriffen, das Geheimnisse und Gefahren birgt, die aus dem heimischen Kulturraum vertrieben worden sind. Gerade in der Aufnahme von Droste-Hülshoffs Moorlandschaft liegt das Potenzial des Sommer-Bodenburg’schen Textes, der die Geister des Moors wieder zum Leben erweckt.
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Laura M. Reiling
Torfmoos: Botanische Erkundungen bei Marion Poschmann und Klaus Modick Moose sind ja bekanntlich keine Kosmopoliten. Sie wurzeln wurzellos im Lokalen. (Modick 2021, 123)
Zusammenfassung: In Mooren wachsen Moose, die wiederum im Rahmen des gegenwärtigen Nature Writing literarisch zur Darstellung kommen. Der Beitrag rückt zwei gattungsdifferente Texte der deutschsprachigen Literatur in den Fokus: Marions Poschmanns Gedicht „Moosgarten, ein Ready-made“ und Klaus Modicks Novelle Moos. Untersucht wird, nach einem literarhistorischen Blick auf Emily Brontë, Walt Whitman, Robert Macfarlane und Gerhart Falkner, inwiefern sich botanische Spezifika des Mooses, also bryologische Taxonomie und Nomenklatur, und aufmerksamkeitsökonomische in literarischen Verarbeitungen niederschlagen. Dabei steht die Frage des Verhältnisses und der Affizierung von Mensch und Natur im Mittelpunkt, die unmittelbar verknüpft ist mit der Diskussion über die (ästhetisch-poetologische) Agentialität von einerseits Pflanze (Moos) und andererseits Mensch, Autor*in, Erzählstimme und Wissenschaftler-Figur.
1 Moor und Moos Moor und Moos sind eng verflochten.1 Hochmoore etwa sind von Moosen, den ursprünglichsten Landpflanzen, besiedelte Habitate, Torfmoose sorgen für Moorwachstum. So kommt auch der Literaturwissenschaftler Ludwig Fischer, der seine 2019 publizierte Schrift Natur im Sinn mit einem umfangreichen Kapitel zu einem eigenen Aufenthalt im Großen Moor beim niedersächsischen Rotenburg beschließt,2 auf Torfmoos zu sprechen, indem er die Frage stellt, ob || 1 Vgl. Kluge 1989, 487: „Moos n. (= Pflanze). Mhd. ahd. mos, mndl. mose ‚Moos, Moor, Sumpf‘ (das Moor ist der mit Moos bewachsene Ort) aus g. *musa-/ōn m./n. ‚Moos, Moor‘, auch in anord. mosi m.,ae. mos.“ 2 „Die Stunden im Moor waren (und sind) also auch Exerzitien, Unterbrechungen des Erarbeitens und Schreibens, die eine ganz andere Form der Konzentration verlangen – und gewähren“ (Fischer 2019, 266). https://doi.org/10.1515/9783110786743-013
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dieses im Rahmen der Renaturierung des Moores „erneut zu wachsen beginnt“ (2019, 233). Der Lyriker Jan Wagner schreibt in seinem 2014 in den Regentonnenvariationen erschienenen, gewohnt konkret benannten Gedicht „torf“: „was folgte, waren stunden / um stunden durch die kälte mit dem glucks- / en und furzen / des deinen linken schuh und ganze urwälder verzehren- / den moors, auf moose tretend […] / […] meilen um meilen / mit einem klumpfuß schlamm an der hacke / […] das archiv von torf“ (2017, 56). Dargestellt wird in dem zehnstrophigen Gedicht der beschwerliche Weg durch ein moosbesetztes „hochmoor“, immer „an noch mehr torf / vorbei“ (Wagner 2017, 56). Am Ende sinkt das den unwirtlichen moorigen Naturraum („schwere[] tore“, „bibbernd“, „schwärze“ [Wagner 2017, 56, 57]) erkundende Subjekt erschöpft in die Knie, überfordert vom durchquerten übermoosten Moor. Walter Hettche erkennt hierin eine „angsteinflößende Expedition in eine aus verwirrenden akustischen und visuellen Eindrücken zusammengesetzte Moorlandschaft, die sich dem Zugriff einer sachlichen Beschreibungssprache entzieht“ (Hettche 2016, 40).3 Im Folgenden sollen nach einer knappen Vorstellung des gegenwärtigen Feldes von Moos-Diskursen zwei literarische, gattungsdifferente Texte im Fokus stehen, die Moos und entsprechendes botanisches Wissen, ästhetisch modifiziert, explizit ins Zentrum rücken und dadurch das Verhältnis von Mensch und Umwelt neu befragen. In den Blick genommen wird zum einen Marion Poschmanns Gedicht4 „Moosgarten, ein Ready-made“ in ihrem Band Mondbetrachtung in mondloser Nacht von 2016, zum anderen Klaus Modicks Novelle Moos, bereits 1984 als sein literarisches Debüt erschienen, 2021 neu aufgelegt5 und vom Verlag Kiepenheuer & Witsch im Klappentext beworben als ‚erstaunlich aktuell‘, als, „ein faszinierendes Stück ‚Nature Writing‘ über unsere von Sehnsucht und Missverständnissen geprägte Verbindung zur Natur“. Analysiert wird, wie Moos in beiden Texten dargestellt wird und wie sich in der Evokation eines ob der präsenten Moose botanisch spezifischen literarischen Raums der Konnex von Naturwahrnehmung, Literatur und Wissenschaft gestaltet.
|| 3 Hettche führt weiter aus: „Jan Wagners Torfgedicht ist nicht einfach ein weiterer Beitrag zur umfangreichen Moordichtung, die seinem literarischen Besuch in diesem Biotop vorausgegangen ist“, Moor und Torf seien „sprachliche Zeichen, und der Text, in den sie eingebunden sind, ist wiederum ein Archiv im wörtlichen Sinn, ein Speicher und Erinnerungsort für Moortexte aus früheren Epochen“ (2016, 42), etwa von Groth, Löns, Morgenstern, Trakl und DrosteHülshoff. 4 Poschmann ordnet den als „ein Ready-made“ betitelten Text gattungsästhetisch ein: „Mein Gedicht ist deswegen ein Ready-made. Es besteht aus zehn Strophen zu je zehn Versen; jeder Vers ist einer Moosart gewidmet“ (2019, 119). 5 Eine ähnliche Publikationshistorie zeigt sich bei Robin Wall Kimmerers Moos-Buch.
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2 Moos sammeln: Hinführung Torfmoos (Sphagnum), das auch in Wagners Gedicht „torf“ den Weg des durch das Moor Wandernden säumt und von dem es in Mitteleuropa allein etwa dreißig Arten gibt, ist klein und unscheinbar und zugleich die wichtigste Pflanze im Hochmoor. Es wächst auf nassen Böden, breitet sich aus und überdeckt ältere Pflanzenschichten. Neue Teile der Pflanze wachsen nicht weiter nach oben, sondern decken darunter liegende, ältere Pflanzenbestandteile ab, die wiederum absterben. Die nicht zersetzten Teile bilden eine Schicht aus Torf, die sich sukzessive aufbaut – Wagner spricht von „torf in scheiben / oder als haufen“ (2017, 56). Torf entsteht also vor allem aus abgestorbenen Moospflanzen, die sich während des Wachstums von Torfmoosen bilden. Hochmoortorf ist eine Art Regenwasser speichernder Schwamm. Dass das leicht zu übersehende Moos zunehmend, auch im Kontext von Renaturierungs-Projekten, in den Fokus biologischer, aber darüber hinaus auch kulturhistorischer und literarischer Betrachtung rückt, zeigt der schmale, von ökokritischen Autoren wie Robert Macfarlane und Richard Powers lobend besprochene Band Gathering Moss: A Natural and Cultural History of Mosses, den die Botanikerin Robin Wall Kimmerer 2003 in der Oregon State University Press vorgelegt hat. Im Zuge der gegenwärtig erstarkenden Popularität ökokritischer Diskurse und einer entsprechenden Publikationsdichte wurde das Buch 2021 in Großbritannien bei Penguin neu aufgelegt, 2022 ist es in deutscher Übersetzung von Dieter Fuchs als Das Sammeln von Moos. Eine Geschichte von Natur und Kultur in der Reihe „Naturkunden“6 bei Matthes & Seitz erschienen. Kimmerer, Mitglied der Citizen Potawatomi Nation, eines in Oklahoma beheimateten, traditionell Algonkin sprechenden indigenen Stammes, entwickelt ihre MoosPerspektivierung über das Moment der Aufmerksamkeit („attentiveness“), des genauen Blicks für das Kleine – sie spricht vom Moos als „celebration of smallness“ (2021, 22) – und für das daher mehrheitlich Nicht-Wahrgenommene.7 Hervorstechend ist in ihrem Band das Kapitel „Learning to See“, in dem die Autorin ausgehend von der eigenen Suche nach Moosen in Upstate New York nicht nur über Prozesse der Benennung von Moos spricht, was für die literarischen Auseinandersetzungen mit Moos bei Modick und Poschmann ein essentieller Aspekt ist, sondern auch die Vielfalt der Moose und die deshalb erforderli-
|| 6 Vgl. hierzu Probst 2020, insb. 282–283. 7 Vgl. Kimmerer 2021, x: „I want to tell the mosses’ story, since their voices are little heard und we have much to learn from them.“ Ferner ebd., 10.
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che Umstellung von Sehgewohnheiten reflektiert. Kimmerers Text ist durch einen appellativen Duktus geprägt, der sich in der Nutzung eines kollektiven „we“ und „us“ und Sätzen wie dem folgenden manifestiert: „Every day we pass over them without seeing. Mosses and other small beings issue an invitation to dwell for a time right at the limits of ordinary perception. […] Look in a certain way and a whole new world can be revealed“ (2021, 10). Einen Grund der neuerlichen Moos-Aufmerksamkeit sieht Kimmerer auch in der pandemiebedingten Achtsamkeit für (kleine) Dinge, die uns unmittelbar umgeben. In einem Interview mit Rachel Cooke im Juni 2021 für den Guardian heißt es: Looking at mosses close up is, she [Kimmerer] insists, a comforting, mindful thing: „They’re the most overlooked plants on the planet. But they’re gifts, too. They provide us with another model of how we might live. […] We’re busy looking for biological, ecological and cultural solutions to climate chaos,“ says Kimmerer. „But mosses, which have been with us ever since they arose, 400 million years ago, have endured every climate change that has ever happened. […] They are great indicators of air quality, and of heavy metals in the environment; because they have no epidermis, they’re intimate with the world. They’re storytellers.“ (Cooke 2021, o. S.)
Die Autorin erkennt im „storyteller[]“ Moos, das sie als ökologisch und zivilisatorisch wertvoll sieht sowie humanoid konturiert (‚Erzähler‘), eine Indexfiguration, weil sich ihrer Ansicht nach Moos als Markierung ökologischer Prozesse und anthropogener Umweltprobleme sowie als agenzielles Wesen darstellt. Artikuliert wird hier eine tendenziell biozentrisch8 gelagerte Perspektive, die den Fokus gegen den anthropozentrischen9 Blick auf die Pflanze selbst zu ver|| 8 Im Anschluss an Evi Zemanek: „Mit zunehmender Selbstkritik am Anthropozentrismus wächst in der medialen Öffentlichkeit das Interesse am (Eigen-)Leben und Erleben der Pflanzen“ (2018a, 290). Ferner Hayer 2018, 85, 86 (zu Poschmann, Scheuermann und Wagner); er liest Wagners Gedicht „melde“ als „poetische[] Hommage an eine Pflanze des stillen Widerstandes“ und führt fort: „Zwar eignet der Lyriker dem Doldengewächs [Giersch] im Gegensatz zu Poschmann und Scheuermann keine eigene Stimme zu. Die Darstellungen legen allerdings einen gemeinsamen Kern frei. Indem Wagner die Pflanze als militantes Lebewesen schildert, das sich kaum von der zivilisatorischen Übermacht einschüchtern lässt, bricht er die anthropozentrische Machtdisposition auf. Die Ökosphäre mobilisiert Energien […].“ 9 Vgl. zum der Biozentrismus-Debatte korrespondierenden Anthropozän-Diskurs Dürbeck 2018, 2–3, 13: „Der Anthropozän-Diskurs hat eine Karriere in verschiedenen Wissenschaftsbereichen von der Geologie und den Umweltsystemwissenschaften, über die Science and Technology Studies, Sozialökonomie, Rechts-, Sozial- und Politikwissenschaften bis in die Archäologie und Geschichte, Philosophie und Theologie sowie Literatur- und Kulturwissenschaften angetreten. Dadurch ist ein schwer überschaubares Diskursgeflecht entstanden. […] Die Anthropozän-Hypothese mit der Idee eines vom Menschen geprägten Erdsystems stellt die kategorische Unterscheidung zwischen Natur und Kultur infrage und verlangt nach einer Neube-
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legen sucht und damit dem Moos agency zuerkennt – das Moos ist es, das erzählt. In dem Guardian-Artikel heißt es dementsprechend weiter, „[t]he engine of her next book will be ‚ecological compassion‘ for plants. She would like people to come to understand them as sovereign beings in their own right, if not people. […] ‚Take off your anthropocentric lenses […]‘“ (Cooke 2021, o. S.). Kimmerers Perspektive ist ökoaktivistisch, sie entwirft im Anvisieren vegetabilischer Handlungsmacht eine explizit auch non-humane Perspektive, die auf rezente literarische Texte ausgreift.
3 Kurze literarhistorische Sammlung Bei Moor- und Moos-Texten denkt der*die Leser*in womöglich unmittelbar, etwa neben Daphne du Mauriers Jamaica Inn (1936) oder Annette von DrosteHülshoffs Geistliches Jahr (1851),10 an Emily Brontës Wuthering Heights (1847), einen der wohl wichtigsten Moor-Romane der europäischen Literaturgeschichte. Nicht zufällig stellt auch Ted Hughes in seinem Gedicht „Emily Brontë“ das Moor zentral, er beschließt das Poem mit dem Vers: „Her death is a baby-cry on the moor“ (2022, 126). Präsent ist in Wuthering Heights ein realgeographisch in Yorkshire lokalisierter ruraler Raum. Moos tritt jedoch, obgleich die Handlung im Moor situiert ist, bloß an zwei Textstellen und in einem spezifischen Modus hervor, und zwar in dem des etwaiger Metaphorizität und Symbolhaftigkeit befreiten Beschreibens. Moos stellt sich dar als nicht besonderer Erwähnung werter, syntaktisch gar in einen Einschub gefasster vegetabilischer und atmosphärischer Bestandteil des erzählten Raums: „‚No,‘ she [Cathy Linton] repeated, and continued sauntering on, pausing at intervals to muse over a bit of moss, or a tuft of blanched grass, or a fungus spreading its bright orange among the heaps of brown foliage […]“ (Brontë 1998, 230 [Hervorhebung L. M. R.]).
|| stimmung der Stellung des Menschen als Bestandteil der lebendigen Welt“, weiter: „Ursula Heise […] sieht die Anthropozän-Idee als Chance, […] ihn [den Menschen] als ein ‚Teil von Netzwerken verteilter Handlungsträger‘ zu konzipieren, ‚die auch Tiere, Pflanzen, Substanzen und Gegenstände einschließen‘. Dieser Gedanke bezieht sich auf philosophische und wissenschaftstheoretische Debatten [u. a. Haraway, Latour], die seit den frühen 1990er-Jahren die lange Zeit gültige Gegenüberstellung von Natur und Kultur problematisiert haben.“ Vgl. ferner, jüngst erschienen: Probst et al. 2022. 10 Vgl. Detering 2020a, 86–92 (Kap. „Heide, Felsen, Moore: Metaphysische und westfälische Landschaften“).
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Vergleichsweise nonchalant und wenn überhaupt eher hintergrundhaft (und damit anders als bei Poschmann und Modick) bietet sich Moos in Emily Brontës Lyrik dar. Beispielsweise dichtet Brontë 1838: „The mute bird sitting on the stone, / The dank moss dripping from the wall, / The garden walk with weeds o’ergrown, / I love them – how I love them all!“ (Brontë 2021, 102). Moos ist hier neben einem nicht näher spezifizierten ‚stummen Vogel‘ und ‚Dornstrauch‘ ein natürliches Element der Landschaft, das keine genauere Ausfaltung erfährt – also nicht detailliert beschrieben oder in ein Handlungsgefüge eingespannt wird. Eine vergleichbare Szene findet sich in einem exklamatorischhymnisch „For the moors!“ rufenden, das „moorland“ beschreibenden Gedicht. Darin lautet eine Strophe: „There are no yellow stars on the mountain, / The bluebells have long died away / From the brink of the moss-bedded fountain, / From the side of the wintry brae“ (Brontë 2021, 100). Augenfällig ist trotz der Kürze die ökologisch informierte Lokalisierung des Mooses, nämlich, wie später auch bei Vita Sackville-West, auf Gestein (Mauer, Brunnen).11 Hierzu schreibt Kimmerer, ähnlich wie Modick schon knapp zwanzig Jahre zuvor:12 „There is an ancient conversation going on between mosses and rocks, poetry to be sure. […] Moss communities may be a mystery to scientists, but they are known to one another. Intimate partners, the mosses know the contours of the rocks“ (Kimmerer 2021, 5). In Wuthering Heights wird Moos an einem im Bildgedächtnis topischen Ort lokalisiert: auf dem Grabstein.13 Moos krieche, so die Worte des (einen) Ich-Erzählers Lockwood, daran empor: „I sought, and soon discovered, the three head-stones on the slope next the moor — the middle one grey, and half buried in the heath — Edgar Linton’s only harmonized by the turf, and moss creeping up its foot — Heathcliff’s still bare“ (Brontë 1998, 338). Über Moos wird hier Zeit semantisiert: Die Fülle des Mooses markiert die acht Monate zwischen Lintons Tod und dem Heathcliffs. Bemerkenswerterweise nimmt wiede-
|| 11 Vgl. ebenso auf Seite 149: „The parting at the moss-grown gate“. Sackville-West schreibt 1931 in ihrem Virginia Woolf gewidmeten Gedicht „Sissinghurst“: „Buried in time and sleep, / So drowsy, overgrown, / That here the moss is green upon the stone, / And lichen stains the keep“ (Dowson 1996, 112). 12 In Moos heißt es: „Die Klaffmoose siedeln sich nur auf Urgesteinsfelsen an, auf Findlingen aus den Eiszeiten. Sie überziehen die Oberflächen mit dunklen, fast schwarz gefärbten Polstern. […] In ihrem Wachstum folgen sie allen Unebenheiten der Gesteinsoberfläche. Sie verankern sich fast untrennbar mit Stein. […] Dann ziehen sie weiter über die Steine“ (Modick 2021, 104–105). 13 So auch bei Modick: „Polster aus Weißmoos […], das in Kranzbindereien und auf Friedhöfen gern als Schmuck verwandt wird“, auch metaphorisch: „Moos. Grab der Steine“ (2021, 69, 104–105).
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rum Emily Dickinson, die selbst nie in die nordenglischen Gefilde der BrontëSchwestern gereist ist, dieses Bild auf, wenn sie das Grab von Emilys verstorbener Schwester Charlotte14 beschreibt: „All overgrown by cunning moss / All interspersed with weed“ (2021, 126). Moos findet, so deutet es diese exemplarische Skizze zu Emily Brontë an, zumeist eher nebensächlich Eingang in literarische Texte – und vollzieht damit in gewisser Weise eine Mimikry sowohl seiner eigenen Gestalt als auch der ihm entgegengebrachten (wissenschaftlichen) Aufmerksamkeit. Das zeigt sich auch in der Gegenwartslyrik: Esther Kinsky eröffnet ihren Band Schiefern von 2020, in dem auch Moorlandschaften eindrücklich beschrieben werden,15 mit dem Gedicht „Memory“, dessen erste Verse lauten: „Glasgow to Oban sommer farblos / bis auf gestein moose farnwische / schon zum frühherbst ausgegrünt“ (Kinsky 2020, 11, V. 1–3). Moos ist, den realen schottischen Raum durch das Gedicht spiegelnd, präsent, wird zumindest direkt im zweiten Vers des Bandes und damit herausgehoben platziert und evoziert, taucht danach aber nicht mehr auf, im Gegensatz zu Farnen, Flechten und Heidekraut. Ähnlich wie in der lyrischen Beschreibung seine grüne Farbe im Herbst verblasst, verschwindet das Moos nach dieser ersten und einzigen Erwähnung wieder aus dem Text. In der Abteilung „Flora“ von Silke Scheuermanns Band Skizze vom gras (2014), in der ein Moor erwähnt wird („Moor, das sich selber erstickt“ [Scheuermann 2015, 46]), sucht man Moos, anders als gesteinseroberndes Efeu (Scheuermann 2015, 49), vergeblich. Tomas Tranströmer beschreibt in seinen Gedichten (schwedische) Moore, nennt Moos aber nur einmal.16 Vergleichbar wenig präsent ist Moos, trotz der Anderes erwarten lassenden Titel, in Thomas Klings Gedicht „Schönes
|| 14 Vgl. wiederum ihr Gedicht „Mementos“: „All in this house is mossing over; All is unused, and dim, and damp / […] And outside all is ivy, clinging / To chimney, lattice, gable grey; / Scarcely one little red rose springing / Through the green moss can force its way“ (Brontë 1988, 7). Vgl. ferner ebd., 19, 112. 15 Explizit erwähnt wird das Moor auf S. 52, 86 („und nichts zu deuten / an der landschaft moor / büsche aufgereiht“), 87 („das brackmoor verhält den atem“) und 89 („weit hier und da / büschel im sumpfland aufrecht / zum zeichen der festigkeit indessen / bettet altgras sich schwadenweise / […] / übers moor“). 16 Moos kommt in Tranströmers Gedicht „Weiter hinein“, in der Abteilung „Pfade (1973)“, vor („Dort, im Moos, liegen Steine“), über Moore geht es in „Schwedische Häuser, einsam gelegen“ („über die Meilen der Mooräcker“) und „Elegie“ („Fahrende des Torfmoors“, „als das Torfmoor trockengelegt wurde“) (1997, 124, 33, 25).
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Widertonmoos“ (2018)17 und Friederike Mayröckers Journal da ich morgens und moosgrün. Ans Fenster trete (2020).18 Schaut man noch einmal zurück ins 19. Jahrhundert, meint man ob des Titels einer Sammlung von zwölf Gedichten in einem Notizbuch von Walt Whitman aus dem Jahr 1859, Live Oak, with Moss,19 hier nun doch auf dezidierte Moos-Texte gestoßen zu sein. Es geht bei Whitman aber primär um homosexuelle Liebe, was – auf den ersten, botanisch unerprobten Blick – nicht heißt, dass Moos gar nicht vorkommt. In dem zweiten der zwölf Gedichte beschreibt das lyrische Ich eine Eiche in Louisiana und sieht darin eine Metapher für Einsamkeit, was wiederum die Erkenntnis befördert, selbst nicht allein sein zu wollen. Whitman schreibt: „I saw in Louisiana a live-oak growing, / All alone stood it, and the moss hung down from the branches / Without any companion it grew there […] / And I plucked a twig with a certain number of leaves upon it, and / twined around it a little moss“ (2021, 8). Doch trotz des Wortes „moss“ handelt es sich hier nicht um Moos, denn Heinrich Detering erklärt in seinem Kommentar „Grashalme, Eiche und Moos. Walt Whitmans vergessener Gedichtzyklus“, Live Oak sei die populäre botanische Bezeichnung einer Eichenart, die in den amerikanischen Südstaaten zuhause ist, der Quercus virginiana: einer […] Eiche […], von deren Zweigen oft wie langes Haar das Spanish Moss [Tillandsia usneoides] herabhängt – das botanisch kein Moos ist, sondern eine in Symbiose mit dem Baum lebende „Aufsitzerpflanze“. (Ganz irreführend wäre also die Assoziation mit einer von Kissen grünen Mooses bewachsenen deutschen Eiche.) (Whitman 2021, 44)
Live Oak, with Moss ist somit, wenn botanisch korrekt betrachtet, doch kein Text ‚mit Moos‘ – und damit verflüchtigt sich bei Whitman die Moos-Spur.
|| 17 Poschmann nimmt (dennoch) Bezug darauf (2019, 118). 18 Bei Mayröcker steht Moos prominent im Titel, ist aber eher Bild für den Morgen und kommt, abgesehen von der Ortsbezeichnung Rohrmoos, nur an drei Stellen explizit vor (und dort auch nicht in biozentrischer Form oder einer, die dezidiert Subjekt/Sprache und Natur ineinander verschränkt bzw. Mensch und Pflanze verschiebt/austauscht/ineinander auflöst, wie man bei Mayröcker erwarten könnte): „Liebling tief verschleiert verschlossen entschlafen, meine Hand mein Mund, suchen nach dir …… die Erinnerung liebliche, das Moos mit bloszen Füszen, das Moos, ich habe dieses Buch verzückterweise“ (2020, 18), ferner ebd., 48 („Moschus Moosen“), 131 („grün wie ein Moos“). 19 Whitman hat die Gedichte 1860 in die dritte Ausgabe von Leaves of Grass aufgenommen. Die Gedichte wurden separat zuerst 1953 durch Fredson Bowers publiziert. 2019 sind sie neu herausgegeben worden, 2021 hat Detering eine Übersetzung vorgelegt: Lebenseiche, moosbehangen / Live Oak, with Moss.
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Fündig wird man dann aber in der Gegenwartslyrik bei Gerhard Falkner, wenngleich auch hier das Moos recht zurückhaltend hervortritt. In seinem Gedichtband Schorfheide. Gedichte en plein air von 2019 wird eine Waldlandschaft in Brandenburg geschildert. Falkner erläutert hierzu im Schlusswort: Die titelgebende Gegend dieses Gedichtbands, das heutige Biosphärenreservat Schorfheide, ist nicht im strengen Sinn die topographische oder naturhistorische Unterlage dieser Gedichte. […] In diesen Gedichten sind die fließenden Übergänge in weite Teile der übrigen Uckermark […] einbegriffen, großenteils glazial geprägte Landschaften mit unzähligen Seen, Söllen und Mooren […]. (Falkner 2019, 112)
Die Gedichte – die meisten sind gleichlautend mit „Schorfheide“ überschrieben – würden, so Falkner selbst in seinem Paratext, auf Ideen ‚überspringen‘, es handele sich daher nicht um „reine Freilichtpoesie“, Natur sei für ihn insbesondere ein „Zeichensystem“ (Falkner 2019, 112). Das ‚Moor‘ wird auf den knapp hundert Seiten des Lyrikbandes sechsmal, das ‚Moos‘ viermal explizit erwähnt, also durchaus nicht besonders häufig.20 Es ist die Rede von den „Trampolinböden / des Moors“, also den ob der Feuchtigkeit nachgebenden Flächen, „[d]ie Rohrdommel (der Moorochse) / knarzt im Fenn“, es „schwärmt das Moor / tuschelt das Schilf“ und das lyrische Ich beschreibt die Blaufärbung vom „Moorfrosch“ (Falkner 2019, 40, 41, 54, 63) – der literarische Raum des Feuchtgebiets wird also auch über die entsprechenden Habitatbewohner wie Vogel und Frosch ausstaffiert. „Hitze bäckt Moos“, das Rot des „blühenden Mooses“ sticht dem Ich in die Augen und „[m]an hört, wie Moos zerbricht / Hanf einknickt“ (Falkner 2019, 44, 52, 80). In einem der Gedichte wird eine Jagdszene beschrieben – ein „Schuss“ auf Bekassinen – und wie in einer Art Zwischenbemerkung oder Nachtrag stehen dort zwei, durch Leerzeilen auch typographisch abgesetzte Verse: „Süßgräser, sibirische Glockenblume / intrinsisches Moos“ (Falkner 2019, 97). Dieses Beispiel hebt hervor, was auch die anderen MoosStellen zeigen: Moos ist lyrisch beschriebenes natürliches Element des künstlerisch hergestellten Raums, gewinnt aber bei Falkner, vergleichbar etwa mit dem englischen romantischen Naturdichter John Clare,21 keine besondere agency.
|| 20 Falkner 2019, 23, 40, 41, 44, 52, 54, 63, 74, 80, 97. 21 In Clares Gedichten kommt Moos vielfach vor, beispielsweise in „The Primrose“ („Welcome, pale Primrose!, starting up between / Dead matted leaves of ash and oak […] / Mid creeping moss and ivy’s darker green“), „The Village Minstrel“ („Through the moss’d bridge“), „April“ in „The Shepherd’s Calendar“ („And linnet green and speckled thrush / Prepare their mossy nest“), den Vogelgedichten wie „The Blackcap“ und „The Redcap“, „Spring Comes“ („Bluebells, how beautiful and bright they look, / Bowed o’er green moss and pearled in morn-
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Selbst wenn Vögel und Beobachtersubjekt ob der Jagd in höchster Aufruhr sind („Brust zerschossen / Schnepfe zerstört“ [Falkner 2019, 97]), bildet die Flora und als Teil derer auch das Moos, durch die unpassende Adjektiv-Zuordnung (‚intrinsisch‘) überdies dem literarischen Feld ‚Natur‘ entfremdet, eine Art ruhig stellende Erdung der Szene beziehungsweise des evozierten Affekts. Robert Macfarlane, einen der viel besprochenen Vertreter*innen des Nature Writing22 (wenngleich, so auch Poschmann, Kinsky und Wagner, sich gegen diese Zuordnung wehrend23), drängt es wie Falkner und Fischer, der explizit auf Macfarlane rekurriert,24 in Moorlandschaften. Das mit „Peat“ (Torf) betitelte Kapitel in seinem Buch The Old Ways: A Journal on Foot von 2012 beginnt wie folgt: „deer tracks in moor mud […]. I […] set off uphill and inland, onto the peat and into the wind, following the deer paths that laced the moor. The peat thinned as I gained height […]“ (Macfarlane 2013, 141). Augenfällig ist, entsprechend der Diskussionen zum Ecocriticism,25 das präsente erlebende und erzählende || ing dew“) und „Autumn“ („And from the mossy elm-tree takes / The faded leaf away“) (1965, 24, 28, 80, 213, 214, 282, 305). 22 Vgl. hierzu Dürbeck, Kanz 2020, 1–2 (im Verweis auf Macfarlane): „Während das amerikanische Nature Writing seine Hochphase in den 1990er Jahren hatte, seine Grenzen bald erweitert wurden und es als Genre der breiteren Kategorie der Umweltliteratur (environmental literature) subsumiert wurde, ist die neue Welle des britischen New Nature Writing anders gelagert. Britische New Nature Writing-Autor*innen wenden sich gegen den immer wieder erhobenen Vorwurf eines nostalgischen und elitären Eskapismus, nehmen Stimmen ethnischer Minderheiten auf, reflektieren die globale Klimakrise und erkunden neue Repräsentationen von ‚Wildnis‘ – auch in urbanen Orten und postindustriellen Brachlandschaften. Diese starke Erweiterung in der britischen und irischen Literatur zeigt sich auch in der formalen Bestimmung, nach der das New Nature Writing nicht auf nicht-fiktionale Literatur begrenzt ist, sondern vielfältige Formen und Genres aufweist.“ 23 Vgl. dazu die Debatte 2015 in The New Statesman zwischen Macfarlane und Mark Cocker (u. a. Crow Country: A Meditation on Birds, Landscape and Nature [2007]), https://www.newstatesman.com/culture/2015/06/death-naturalist-why-new-nature-writing-sotame, https://www.newstatesman.com/culture/2015/09 /robert-macfarlane-why-we-need-naturewriting (11. April 2022), zu Kinsky vgl. ihr Gespräch mit Katharina Teutsch für den Deutschlandfunk: https://www.deutschlandfunk.de/nature-writing-ueber-natur-schreiben-heisst-ueber-den100.html (11. April 2022). 24 Macfarlane habe „ein großes Buch über ‚Alte Wege‘ geschrieben, über die Verläufe, die Beschaffenheit und die historischen Einlagerungen alter Pfade und Straßen durch Großbritannien, und gar nichts Provinzielles ist an diesem Buch“ (Fischer 2019, 246). 25 Vgl. u. a. Detering 2020b, 28: „Dabei ist das Erste, was literarische Texte im Dialog mit den Wissenschaften zum Ausdruck bringen können und was damit zum Gegenstand des Ecocriticism wird, die Involviertheit des schreibenden Subjekts in ökologische Zusammenhänge. Das schließt den schreibenden Körper ein, der die beschriebenen Phänomene zuerst als sinnliche Eindrücke wahrgenommen hat […].“
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Ich. Das wandernde Ich geht durch das Hochmoor der Hebriden, also durch eine nördlichere Gegend als die der Brontës und nahe der von Kinsky beschriebenen. Hier zeigt sich eine dem Autor gleichende Subjekt-Figur, welche den Naturraum, die „wilderness“ (Macfarlane 2013, 157), erkundet – also in ähnlicher Perspektive verhaftet ist wie die wandernde Figur in dem anfangs zitierten Gedicht von Wagner oder in Falkners Gedichten. Bei Macfarlane ist, wie bei Wagner, von den Moorwegen als „archive“ und damit als Speicherraum die Rede (Macfarlane 2013, 153). Der durch das einsame Moor wandernde Schriftsteller interessiert sich für die einst von Torfstechern angelegten Wege. Mit dem Moor verbindet sich eine Habitat-Erkundung, die auf Ermattung und drohenden Orientierungsverlust angelegt ist, so werden die Gefahren wiederholt (etwa „the moor itself held the perils of bog and deep water“, „sucked down into the peat“ [Macfarlane 2013, 143, 152]), und zugleich den Versuch des Erinnerns birgt. Macfarlanes Weg durch die schottischen Feuchtgebiete ist nicht nur ein alter, den das wandernde Ich wiederzuentdecken sucht und der als Erinnerungsraum semantisiert wird, sondern er entzieht sich sogleich im Moment gegenwärtiger Erkundung aufgrund seines spezifischen ökologischen Zustands, denn „[t]he peat swallows paths“ und „[t]he peat, springy and spongy, gulps down the paths that run across it unless they are kept in regular use“ (Macfarlane 2013, 143). Moos ist in dem realgeographischen schottischen Raum überaus präsent, wird aber in der literarischen Verarbeitung bei Macfarlane marginalisiert, es kommt explizit bloß an drei Stellen vor: „micro-terrains of lichen and moss“, „the heather and moss concealed a widespread miniature gorse“ und: „The peat was slippery and cool, and where I stepped on sphagnum it surged up and around my foot, damp as a poultrice“ (Macfarlane 2013, 155, 160, 158). In Macfarlanes Torf-Kapitel stellt sich der Konnex von Mensch und Moos, ähnlich wie bei Brontë, recht traditionell dar, indem der Mensch als der Erkundende und die Natur als das Erkundete zur Darstellung kommt. Damit brechen die Texte von Poschmann und Modick deutlich.
4 Ready-Made Moos Über ihren Band Mondbetrachtung in mondloser Nacht bemerkt Poschmann im Vorwort, er versammele ‚chronologisch Betrachtungen‘, arrangiert seien neunzehn „Versuche“ (Poschmann 2019, 8), die sich, so Detering, als „Übergangszonen zwischen Texten, die […] zugleich als literarisch und als meta-literarisch
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gelten können“ (Detering 2020b, 33), präsentieren. Einer dieser gattungs- und formhybriden26 „Versuche“ trägt den Titel „Kunst der Unterscheidung. Poetische Taxonomie“,27 umfasst zwanzig Buchseiten und besteht aus verschiedenen kürzeren Texten zu Lemmata wie ‚Taxonomie‘, ‚Merkmale‘, ‚Poiesis‘, ‚Ordnung‘ und ‚Kryptogamen-Flora‘. Das Moos steht dabei im Zentrum, dementsprechend ist dem „Versuch“ eine Abbildung vorangestellt, die Meyers Großem Konversations-Lexikon aus dem Jahr 1908 entnommen ist und vierzehn Moosarten zeigt, versehen mit den lateinischen Linné’schen Termini wie Blasia pusilla (Flaschenmoos), Splachnum luteum (Schirmmoos) und Sphagnum cymbifolium (Sumpf-Torfmoos). Die Abbildung illustriert, was die Autorin in den folgenden differenten Texten des „Versuch[s]“-Feldes literarisch-reflexiv nachstellt, und zwar die Konstitution von und den Umgang mit Taxonomie, also, so Poschmann, mit der „Lehre von der Einordnung der Lebewesen“ (Poschmann 2019, 116). Unter dem Lemma ‚Taxonomie‘ legt Poschmann dar: Mit der Absicht, das Unbekannte zu erforschen und in Bekanntes zu überführen, hat Carl von Linné die wissenschaftliche Nomenklatur begründet, die jeden Organismus mit einer zweigliedrigen lateinischen Bezeichnung versieht, an der der Name der Gattung und der der Art abzulesen ist. Der entscheidende Kunstgriff bei dieser neuen Weltordnung war es, Beschreibung und Benennung der Lebewesen voneinander zu trennen. […] Jedes Wesen erhielt einen Platz innerhalb einer Begriffspyramide […]. (Poschmann 2019, 116)
Bemerkenswert ist, dass Poschmann, wie Kimmerer und etwa Michael Ohl, das Moment der Benennung (Nomenklatur) als wesentlich herausstellt. Kimmerer konstatiert: „But mosses don’t usually have common names, for no one has bothered with them. They have only scientific names, conferred with legalistic
|| 26 Der hybride Charakter wird auch, explizit markiert (Poschmann 2019, 132), durch den intertextuellen Rekurs auf den Katalog HUM. Die Kunst des Sammelns zu einem Symposium der Jungen Akademie mit dem Museum für Naturkunde Berlin betont, in dessen Kapitel „Taxophilia“ es etwa um Nomenklatur geht (vgl. Gerlach und Klein 2008). 27 Felix Lempp, Antje Schmidt und Jule Thiemann arbeiten weiter an dem Begriff der ‚Poetischen Taxonomie‘: Es gehe um die „literarischen Potenziale[] der Taxonomie als Thema, Form wie Verfahrensweise“, gegenwärtige Texte würden etwa mit naturwissenschaftlichen Listen, Tabellen und Protokollen operieren, omnipräsent seien „literarische Spuren eines taxonomischen Naturzugriffs“, vgl. https://deutscher-germanistenverband.de/wp-content/uploads/2021/06/CfP_Poetische-Taxonomien.-Literarische-Un-Ordnungen-der-Natur_-Felix-Lempp-Antje-SchmidtDr.-Jule-Thiemann.pdf (26. Juli 2022). Poschmann erklärt hierzu: „Ein taxonomischer Blick wäre für mich einer, der die Welt mit dem Ziel betrachtet, die Dinge ein- und anzuordnen, was wiederum ein Schema voraussetzt, in das die Dinge passen. Das Interessante an der Taxonomie ist für mich, daß es dieses vorgängige […] Schema eigentlich nicht gibt, daß es in Wirklichkeit eine Konstruktion ist, die immer neu austariert werden muß“ (2021b, 78).
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formality according to protocol set up by Carolus Linnaeus, the great plant taxonomist“ (Kimmerer 2021, 2–3). Sie führt weiterhin aus, dass durch das Verfügen über Worte die Moosformen überhaupt erst differenzierbar würden, Worte würden Zugang zur Pflanze schaffen und während für viele die lateinischen Namen der Moose zu einem Moment der Entfremdung von der Pflanze führen würden, sehe sie in den wissenschaftlichen Namen eine Schönheit, welche die der Pflanze repliziere; Kimmerer fügt aber hinzu: „Knowing mosses, however, does not require knowing their scientific names. The Latin words we give them are only arbitrary constructs“ (Kimmerer 2021, 12, 13). In Poschmanns Gedichtband Geistersehen (2010) findet sich die Reihe „Trugbilder: Herbarium“ mit auch lateinisch betitelten (biozentrischen) Pflanzengedichten wie „Rosa canina (Hundsrose)“ (Poschmann 2021c, 59), was Poschmann wiederum so kommentiert: „Die lateinischen Titel haben für mich einen ganz besonderen Reiz. […] Diese Pflanzenbezeichnungen oszillieren für mich […] zwischen exakter Wissenschaft und Zauberspruch“ (Poschmann 2021b, 77). Sie erkennt also, erst einmal ähnlich wie Kimmerer, eine auch ästhetische Wirkmacht in den Linné’schen Namen, fügt der lateinischen Benennung aber ein verbalmagisches Moment hinzu, das Kimmerers Konstruktionsbegriff übersteigt. Poschmann arbeitet in Mondbetrachtung in mondloser Nacht an und mit den Namen, nicht nur indem sie deren Vorkommen, wie gerade zitiert, essayistischpoetologisch beschreibt, sondern indem sie die Namen, und zwar nicht die lateinischen, sondern die deutschen gleichermaßen zu Form und Inhalt ihres Moos-Gedichts werden lässt. Zugleich kritisiert Poschmann ebendiese Moosnamen: „Zu blumig, um […] einen Eindruck von der Feinheit, der Fragilität und Unvereinnahmbarkeit von Moosen vermitteln zu können. Die deutschen Namen der Moose wecken starke Assoziationen. Sie sentimentalisieren, anthropologisieren, mythologisieren […]“ (Poschmann 2019, 118–119). Diese Kritik an der Namensgebung markiert schon ein sprach- und wahrnehmungskritisches Moment, das mit dem Gedicht „Moosgarten, ein Ready-made“ ästhetisch weiterentwickelt wird. Es ist, Jürgen Goldstein, Gabriele Dürbeck und Christine Kanz folgend, eben nicht nur das Moos, sondern der Umgang mit Sprache, der hier zur Disposition steht.28 Fernerhin werden mithilfe des Mooses wahrnehmungs-
|| 28 Vgl. Goldstein 2019, v. a. 211–213; Dürbeck, Kanz 2020, 18: „Die im Zusammenhang mit dem neuen Nature Writing eingeforderte ‚Aufmerksamkeitsschulung‘ ist untrennbar mit der Arbeit an der Sprache verbunden. In dieser Hinsicht führt Goldstein in seiner Laudatio Poschmanns Gedicht ‚Moosgarten, ein Ready-made‘ als gelungenes Beispiel an, das eine Vielzahl von Moosarten in der heimischen Flora vor Augen führt und mit dem ‚Reiz der Namen‘ eine Differenzierung und Genauigkeit erlaubt, die dem bloßen Auge zunächst nicht zugänglich ist.“
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ästhetische Dispositionen reflektiert, denn es wird künstlerisch daran gearbeitet, inwiefern, mit Goldstein gesprochen, „dem lyrischen Sprachspiel eine eigene welterschließende Funktion zu[kommt]“, das Gedicht „eine Sichtbarmachung des Sichtbaren, aber Übersehenen, [betreibt]“, es „für eine lustvolle Steigerung der Aufmerksamkeit [steht]“ (Goldstein 2019, 212). Dass das Moos, wie Kimmerer aufzeigt, selbst fast topisch für das nicht oder kaum Beachtete, aber Omnipräsente steht, spitzt die Prägnanz der lyrischen und poetologischen Aushandlung bei Poschmann zu. Das Lemma „100 Moosarten“, das auf „Taxonomie“ folgt, liest sich als weitere, sozusagen gestaffelte Hinführung zu dem Gedicht „Moosgarten, ein Readymade“. Die Autorin beschreibt, autobiographisch verankert,29 ihren eigenen Besuch eines japanischen Tempelgartens, dem Kokedera (Saihō-ji) – einem 731 gegründeten Moostempel bzw. Moosgarten in Kyōto.30 Sie habe Schreibutensilien erhalten, um ein ‚Sutra‘, einen Lehrsatz, abzuschreiben, und fragt, sich selbst wie eine allgemeinere Leserschaft adressierend: „Waren wir Besucher erst nach dieser Einstimmung in der Lage, die Moose mit der gebotenen Subtilität zu betrachten?“ (Poschmann 2019, 117). Nicht beantwortet, aber gewissermaßen repliziert wird diese Frage, und auch eine japanische Schreibpraxis,31 im Rahmen der Textzusammenstellung, weil Poschmann ihren Leser*innen erst eine Hinführung (gleich einer Einstimmung) zur Lektüre gibt, bevor sie dann ihr Moos- und Garten-Gedicht vorlegt. Was aber vor allem an dieser paratextuellen, als Vorbemerkung lesbaren Stelle auffällt, ist die wahrnehmungsästhetische Differenz zu dem darauffolgenden Gedicht. Während die Autorin retrospektiv beschreibt, sie habe in dem japanischen Garten nur drei Moose erkannt, nicht aber die siebenundneunzig anderen, führt sie dann, zurück aus Japan in || 29 In der Villa Kamogawa in Kyōto arbeitete Poschmann an Geliehene Landschaften sowie an Mondbetrachtung in mondloser Nacht. Für Die Kieferninseln reiste sie abermals nach Japan. Der Japan-Teil in Geliehene Landschaften nimmt mehrfach Bezug auf Moos (Poschmann 2016, 75, 76, 78): In „Koniferenkunst“ ist die Rede von „trockene[n] Moose[n] an seinem Pullover“, „Moos-Odem, Moos“. 30 Saihō-ji diente auch als Inspiration für László Krasznahorkais 2005 (orig. 2003) publizierten Roman Im Norden ein Berg, im Süden ein See, im Westen Wege, im Osten ein Fluss. Gedankt sei Roxana-Andreea Ghiță für die wertvollen Auslassungen zur Differenz von realem und fiktionalem Moosgarten hinsichtlich Antisubjektivismus und Natürlichkeit. Ihre Lesart im Rahmen der Konferenz „Literature and Botany“ an der Universität Warschau knüpfte an Christian Tagsolds Spaces in Translation (2017) an, wo es heißt, es gebe keinen ‚wesenhaften‘ japanischen Garten, sondern nur „many versions and interpretations of the idea of a Japanese garden“ (Tagsold 2017, 125). Auch Poschmanns Text ist eine Ausformung dieser ‚Idee‘. 31 Vgl. Poschmann 2019, 118: „In der japanischen Tradition ist es üblich, daß ein Dichter, der einen berühmten Moosgarten besucht, ein entsprechendes Gedicht verfaßt.“
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Deutschland verfasst, im Gedicht „Moosgarten, ein Ready-made“ hundert Moosarten der „hiesige[n] Vegetation“ (Poschmann 2019, 118) auf. In dem Gedicht werden diese Moosarten im Rahmen von zehn durch Nummerierung voneinander abgesetzten Strophen ohne jegliche Interpunktion aufgelistet. Die erste Strophe liest sich, exemplarisch für die anderen, wie folgt (hier findet sich auch schon das Torfmoos): Nickendes Pohlmoos Gemeines Quellmoss Glashaar-Widertonmoos Einseitswendiges Torfmoos Dreilappiges Peitschenmoos Nacktmundmoos Flaschenmoos Breitringmoos Vielfruchtmoos Gewelltes Plattmoos (Poschmann 2019, 119)
Von einer permanenten Epipher innerhalb des Gedichts zu sprechen, wäre wohl übertrieben, aber in jedem Vers (wenngleich dieser Terminus hier ob der Kürze und der Reduktion auf Arten-Namen etwas unpassend erscheint) wird eine Moosart benannt und fast jeder Vers endet mit dem Wortbestandteil „Moos“, außer an sieben der hundert Stellen. An denen schreibt Poschmann stattdessen „Sparriger Runzelpeter“, „Ordenskissen“, „Goldenes Frauenhaar“, „Katzenpfötchen“, „Hasenpfötchen“, „Eichhornschwanz“ und „Dünnästiger Wolfsfuß“ (2019, 120–122). Poschmann hätte hier auch „Sparriges Kranzmoos“, „Gemeines Weißmoos“, „Laubmoos“, „Goldenes Frauenhaarmoos“, „Großes Haarmützenmoos“, „Eichhornschwanz-Weißzahnmoos“ und „Dünnästiges Trugzahnmoos“ nennen können, was ebenfalls zutreffende Begriffe für die sieben Arten sind, die jedoch den Wortbestandteil ‚Moos‘ führen und damit womöglich der sprachlichen Einheitlichkeit dienlicher gewesen wären. Es stellt sich auch aufgrund dieser kleinen sprachlichen Unebenheiten die Frage nach dem ästhetischen und naturkundlichen Verfahren des Gedichts. Die Lektüre lässt die Rezipierenden in einem fast zeitdeckenden Modus Moose, ein typisches Element japanischer Gärten, ausschließlich sprachlich erblicken, ohne dass sich eine erklärende oder reflektierende Stimme einschaltet, die zum Beispiel die Lage der Moose, deren Menge, Aussehen, Haptik oder Geruch beschreibt. Von einer ‚Repräsentation‘ des japanischen Gartens oder der Moose zu sprechen, ist auch aufgrund des Wechsels zwischen der Gartenerfahrung in Japan
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und der Niederschrift in Deutschland problematisch. Passender scheint die Frage nach dem Transfer – oder „Import“32 – des ökologischen Objekts und des entsprechenden sprachlichen Ausdrucks in die Literatur.33 Die Auflistung der Moos-Arten greift zurück auf botanische Klassifikationsmuster und nutzt Taxonomie und Nomenklatur für die eigene literarische montagehafte Moos-Schau. Poschmann weist in einem Gespräch mit Yvonne Pauly darauf hin, dass dabei stets ein sehr subjektiver Blick virulent wird: „Jeder Dichter verfolgt […] ein anderes Verfahren, beschreibend, konstruierend, montierend, assoziierend, evozierend, und daraus entsteht jeweils eine private Taxonomie, eine eigene Ordnung aus persönlichem Wortgebrauch“ (Poschmann 2021b, 75). Die Autorin betitelt – und in Titeln erkennt sie „eine Art Etikettfunktion“ (Poschmann 2021b, 76) – das Gedicht, per se artifizieller Gegenstand, mit „Moosgarten, ein Ready-made“, akzentuiert also durch den Rekurs auf das Konzept und Kunstwerk Ready-Made34 noch einmal im Titel die Künstlichkeit des Objekts respektive des literarisch Dargestellten, und auch ein japanischer Moosgarten ist ein hochartifizielles Element. Es müsste sich also laut Titel, der zugleich Kontextualisierung und Konzeptualisierung ist, bei dem Garten um einen bereits vorgefundenen Gegenstand handeln, der neu positioniert und dadurch neu perspektiviert wird. Hier ist es nicht etwa ein Duchamp’sches Pissoir, ein industriell hergestellter Gegenstand, versetzt in den musealen Raum, sondern ein durch die eigene Erinnerung re-präsent gemachter japanischer Garten mit Moosen, ein kulturell hergestellter Ort, nun textuell angereichert mit Namen ökologischer ‚Objekte‘ wie „Flaschenmoos“, „Ufermoos“, „Tannenmoos“, „Filzmoos“ und „Federmoos“. Dieser wird in den Essay- oder „Versuchs“-Band und somit in den literarischen Raum versetzt. Wie stark das Gedicht auf den realen Ort, den Tempelgarten in Kyōto, rekurriert, bleibt, auch sprachlich, offen; im Gedichttitel heißt es weder ‚ein‘ noch ‚der‘ „Moosgarten“. Der Konnex zum realiter erfahrenen Ort ist folglich sekundär.
|| 32 Vgl. van de Löcht 2020, 155: „Neben einer Ästhetisierung der Naturkunde lässt sich die entgegengesetzte Form des Austauschs beobachten: der Import naturwissenschaftlicher bzw. naturkundlicher Darstellungsformen in die Ästhetik und Poetik […]“, weiter schreibt sie (ebd., 160): „Als hartes Kriterium für die Bestimmung von ‚Anthropozän-Literatur‘ ist die Adaption von naturkundlichen bzw. naturwissenschaftlichen Wissensbeständen und Schreibweisen demnach nicht geeignet, sie kann jedoch als Indiz gewertet werden, das sich letztlich in einer kritischen Detaillektüre als tragfähig erweisen muss.“ 33 Was im Übrigen wiederum die Frage nach der notwendigen Nähe zum beschriebenen Objekt tangiert, die Poschmann in Die Kieferninseln literaturhistorisch grundiert. Das Motto des Romans lautet: „Willst du etwas über Kiefern wissen – geh zu den Kiefern. Matsuo Basho“ (Poschmann 2020, 6). 34 Vgl. beispielsweise https://www.hatjecantz.de/readymade-5052-0.html (11. April 2022).
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Wichtiger ist, inwiefern Poschmann hier mittels der unscheinbaren Moose an einer prägnanten naturlyrischen Position arbeitet, die die Rolle menschlichen Sprechens über die Natur befragt und damit, ganz in der Perspektive rezenter Diskurse zum Anthropozän, das Verhältnis von menschlichem und pflanzlichem Ausdruck und die Relation von Naturerfahrung und literarischästhetischer Sprache diskutiert. Es geht weniger um Mimesis von Natur, sondern vielmehr um die Entfaltung eines Resonanzraums vegetabilen Daseins. Das Gedicht ist lesbar als eine recht freie, sich auf Erinnerung sowie Recherche stützende imitatio eines stark komprimierten Moos-Gartens, der qua Nomenklatur zu den Rezipient*innen zu sprechen scheint, der aber nicht den Modus sprechender oder dichtender Pflanzen annimmt. Es sprechen hier nicht etwa anthropomorphisierte Moose, stattdessen scheinen die Namen selbst zu sprechen. Sie evozieren einen Raum der Rede, der sich durch das Sprachmaterial konstituiert. Die Namen ersetzen sowohl ein lyrisches Ich, das zum Beispiel expressis verbis den Moosgarten erkundet, als auch ein ‚pflanzliches Ich‘. Vielleicht wäre hier am ehesten von dem Versuch einer Zwischenform von, Evi Zemaneks Termini nutzend, ‚botanischer‘ und ‚pflanzlicher Poetik‘ zu sprechen. Zemanek schreibt: Von einer ‚botanischen Poetik‘ kann man vorschlagsweise sprechen, wenn eine an pflanzenkundlichem Wissen orientierte Poetik – wie paradigmatisch bei Goethes Die Metamorphose der Pflanzen – vorliegt, und von einer ‚pflanzlichen Poetik‘ dann, wenn (notwendig fiktive, dichtende) Pflanzen eine eigene, die pflanzliche ‚Perspektive‘ vermittelnde Poetik vorstellen. (Zemanek 2018a, 305)
Poschmann nutzt, bryologisch informiert, mit den Namen der Arten botanische Wissensbestände. Allerdings mit den deutschen Namen statt den Linné’schen Termini einer gemeinen Leserschaft geläufigere. Sie hat, wie sie selbst anmerkt, Moose unter die Lupe genommen (Poschmann 2019, 118) und etwa, so legt es der Abdruck nahe, Meyers Großes Konversations-Lexikon zurate gezogen. Zugleich merkt sie an, dass den Moosnamen anthropologische (wenn nicht gar, so könnte man es pointieren, anthropomorphisierende) Perspektiven korrespondieren (Poschmann 2019, 119), dass also bereits aus den Namen menschliches Agieren, nämlich das botanische Einordnen, spricht. Der Versuch einer ‚pflanzlichen Poetik‘ durch eine die Pflanzenkunde imitierende Taxonomie, die zusätzlich in die artifizielle Form eines Gedichts gebracht wird, fällt also notwendigerweise in eine botanische und damit genuin menschliche (weil kulturell und wissenschaftlich determinierte) Perspektivierung zurück. Erscheint es noch nachvollziehbar, dass ein Efeu beklagt, ständig Vorwürfe vom Menschen hören zu müssen („Lichtkonkurrenz, flächendeckend, wuchernd, zu viel“ [Scheuermann, 2015,
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49]), oder eine Knospe in Ruhe gelassen werden möchte,35 so wäre es hingegen kaum schlüssig, warum Moose daran Interesse hätten, ihre Arten, die sie selbst wohl auch nicht kennen würden bzw. benennen könnten, aufzulisten. Lohnenswert ist hier der Blick auf Matthias Schaffricks und Niels Werbers Aufsatz „Die Liste, paradigmatisch“ (2017).36 Schaffrick und Werber rekurrieren auf den britischen Medientheoretiker und Ethnologen Jack Goody, der in seinem Aufsatz „Woraus besteht eine Liste?“ konstatiert: „Die Art, wie Wörter (oder ‚Dinge‘) in einer Liste angeordnet werden, ist selbst eine Art der Klassifikation oder der Eingrenzung eines ‚semantischen‘ Feldes, denn der Vorgang impliziert, daß einzelne Elemente ein- und andere ausgeschlossen werden“ (Goody 2012, 384). Schaffrick und Werber folgern, Listen seien komplex, kontingent und nicht selbstverständlich, sie seien „sprachlich und medial konstruierte Formen […], die soziale und epistemische Ordnungen produzieren“, seien aber keine Narrative, sie würden stattdessen semantische Zusammenhänge produzieren, weil die Elemente durch die Eintragung in der Liste „vereinheitlicht“ würden (Schaffrick und Werber 2017, 304, 305, 308). In Poschmanns Gedicht werden bestimmte Moosarten ausgeschlossen, wie die Autorin selbst anmerkt. Zugleich sei die Reihenfolge, so die Autorin, „recht willkürlich[]“; es gebe zwar Kategorien wie ‚Zwerge‘, ‚Haare‘ und ‚Kissenartige‘, also auf Äquivalenz zielende Gruppierungen, allerdings seien diese inkonsequent angewandt (Poschmann 2019, 122). Poschmann erwähnt auch die „Albernheit“, die aus einigen Benennungen spricht, sowie die Dichte möglicher Assoziationen (Poschmann 2019, 123, 119). Manchmal denkt man gar, man habe es mit Personifizierungen zu tun, zum Beispiel bei dem „Nickende[n] Pohlmoos“ gleich im ersten Vers des Gedichts. Allerdings ist das tatsächlich der Name einer Moosart: Pohlia nutans. Poschmanns Gedicht als Liste, ihre Liste als Gedicht, fügt nominal Namen zusammen und entwirft dadurch in der eigenen literarischepistemischen Ordnung eine sprachliche Dichte (es fehlen Konjunktionen, Artikel, Verben), welche die selbst realiter erfahrene vegetabilische Dichte im japanischen Garten, die unter dem Lemma „100 Moosarten“ dargestellt wurde, neu sprachlich hervorbringt. Weg fällt aber eine sich (disziplinär) kenntlich machende, subjektive Beobachterinstanz (wie etwa bei der Gehölz-Liste in Die Kieferninseln, die von der Figur Gilbert erdacht wird),37 wenngleich durch die
|| 35 Vgl. Raphael Urweiders Gedicht „knospe“ in seinem Band Wildern (Urweider 2018, 59). 36 Vgl. hierzu meine breiten Ausführungen in: Reiling 2021, 145–149. 37 Vgl. Poschmann 2020, 108–109. Impuls des Auflistens ist hier der Denk-/Einschlafprozess Gilberts („Er dachte an Laub […]“). Die deutschen, also wieder nicht lateinischen Namen von
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textuelle Rahmung eine autobiographische Grundierung des Gedichts nicht zu bestreiten ist. Zugleich erinnert Poschmanns etwas kurioser lyrischer Moosgarten – und damit wird seine Zufälligkeit weiter revidiert und sein artifizieller Charakter weiter betont – an eine andere literarische Liste, und zwar an die von Tieren in Jorge Luis Borges’ Erzählung „Die analytische Sprache von John Wilkins“ von 1952.38 Der reale Sinologe und Übersetzer Franz Kuhn, der zur Logik von Klassifikationen gearbeitet hat, soll laut Borges eine Tierklassifikation in „einer gewissen chinesischen Enzyklopädie“ entwickelt haben, in der diese Liste enthalten sei: Auf ihren weit zurückliegenden Blättern steht geschrieben, daß die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, j) unzählbare, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen. (Borges 1987, 111)
Hierzu schreibt Michel Foucault in seinem Vorwort zu Die Ordnung der Dinge: Die Monstrosität, die Borges in seiner Aufzählung zirkulieren läßt, besteht […] darin, daß der gemeinsame Raum des Zusammentreffens darin selbst zerstört wird. Was unmöglich ist, ist nicht die Nachbarschaft der Dinge, sondern der Platz selbst, an dem sie nebeneinandertreten könnten. […] [Sie] könnten sich nie treffen, außer in der immateriellen Stimme, die ihre Aufzählung vollzieht, außer auf der Buchseite, die sie wiedergibt. Wo könnten sie nebeneinandertreten, außer in der Ortlosigkeit der Sprache? (Foucault 2008, 22–23)
Borges’ seltsame Taxonomie sei, so Foucault, ein „Atlas des Unmöglichen“ (Foucault 2008, 21, 23). Poschmann nun fügt auf den Textseiten in Mondbetrachtung in mondloser Nacht innerhalb von formalisierten Strophen, welche die Form der mit Buchstaben versehenen Aufzählung bei Borges spiegeln, Moosarten zusammen, bei denen es so scheint, als könnten sie auch außerhalb der Buchseite „nebeneinandertreten“, nämlich in dem Garten in Kyōto. Allerdings durchkreuzt die Autorin bereits paratextuell diese Rezeptionserwartung (Auslassen von Arten, Kenntnis nur über drei Arten etc.). Sie hat nicht genau diese hundert
|| 65 Gehölz-Arten, von „Rotahorn“ bis „Erlen“, werden innerhalb eines Absatzes, je getrennt durch einen Punkt, aneinandergereiht. 38 Goldstein (2019, 213) dagegen ist erinnert an eine Liste von Gesteinsarten in Edward Abbeys Désert solitaire (dt. Die Einsamkeit der Wüste. Eine Zeit in der Wildnis), erstmals publiziert 1968, geschrieben in den 1950ern. Dort heißt es: „Chalzedon, Karneol, Jaspis, Chrysopras, und Achat, Onyx und Sardonyx“ und „Kalkstein, Sandstein, Marmor, Schiefer, Gabbro, Tonschiefer“ (Abbey 2016, 86).
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Arten des Kokedera niedergeschrieben, sondern entwirft mithilfe der Einzäunung durch Anzahl und Strophenform einen eigenen imaginären ‚Garten‘, der erst im Gedicht selbst arrangiert wird – und damit die imitatio letztlich wieder unterminiert. Es ist kein Ready-Made auf Grundlage des realiter besuchten Gartens, sondern es tut nur so, als ob es das wäre. An die Stelle der Nachahmung tritt eine eigene literarische Pflanzenkunde, die den Klang der Benennungen zentral stellt, oder, wie die Autorin selbst, ähnlich wie Kimmerer, sagt: „Nicht der mikroskopische Blick ist ausschlaggebend, der ein Moos vom anderen zu trennen weiß, sondern eine Sensibilität dafür, aus welcher emotionalen Schicht ein Wort, ein Bild stammt“ (Poschmann 2019, 130–131). Poschmann fügt hinzu: Der Dichter ist der Taxonom des Unbestimmten. Er teilt eine entscheidende Erfahrung mit dem Taxonomen der Biologie: Je genauer man hinsieht, desto unschärfer und vieldeutiger werden die Dinge. Doch diese Hinwendung, diese Genauigkeit erzeugt eine andere Art von Klarheit, eine Transparenz für den schöpferischen Prozeß. (Poschmann 2019, 132)
Das Gedicht spiegelt ebendiese Vieldeutigkeit wider, indem es zwar genau (mithilfe der Artennamen) spezifiziert und ohne zusätzliche Beschreibung oder Handlung konzentriert hinschaut, aber in ebendieser Präzision zugleich einen ökologisch-literarischen Raum entwickelt, der ob des „kreative[n] Potenzial[s] von Sprache(n)“ (Zemanek 2018b, 13) – der Text entscheidet sich etwa für das Wort „Runzelpeter“ und nicht ‚Kranzmoos‘ – fast unergründlich scheint. Poschmanns Gedicht rückt jedes etwaig dirigierende, perspektivierende Ich in den Hintergrund und lässt allein die Namen der Moose sprechen. So stark man aber die menschliche Stimme auf semantisch-diskursiver Ebene zu marginalisieren sucht, ästhetisch-strukturell schlägt sie durch die per se kulturell hergestellten Namen und durch den naturkundlich-bryologisch konnotierten Prozess des Auflistens wieder durch.
5 Moos-Metamorphose Während „Moosgarten, ein Ready-made“ die Moose durch die Reduzierung auf die Namen und den damit korrespondierenden Transfer von Botanik zu Literatur(wissenschaft)/Poetologie zur Darstellung bringt, stellt sich in Modicks Novelle Moos das Moment differenter agency von Mensch und Pflanze als noch signifikanter heraus. Modicks Figurenpersonal korreliert insofern mit der Schreibhaltung und den wahrnehmungs- und rezeptionsästhetischen Reflexionen in Poschmanns Text „Poetische Taxonomie“, als Modick einen Botaniker zum Protagonisten macht, der wiederum andere Botaniker wie Sir William Tur-
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ner Thiselton-Dyer liest (The Folk-lore of Plants von 1883 [Modick 2021, 70]) und über Dichtung reflektiert.39 Der Ich-Erzähler, Professor Lukas Ohlburg, ist emeritierter Biologe. Als er krank wird, zieht er sich in sein „Landhaus im Ammerland“ (Modick 2021, 9), eine reale moorreiche norddeutsche Gegend (etwa Fintlandsmoor, Dänikhorster, Kayhauser Moor), zurück und gibt sich bis zu seinem Tod um das Moos kreisenden Erinnerungen und Träumen hin, die oft in einer Art Plauderton, einerseits ironisch gebrochen,40 andererseits aber auch einen elaborierten akademischen Sprachduktus andeutend,41 präsentiert werden. Ohlburg überlegt, inwiefern ihn die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Natur von dieser entfremdet hat. Dieses Nachdenken findet in dezidiert leiblichem Kontakt zur Natur statt, so heißt es beispielsweise: „Wenn ich im Sumpfgras der Böschung sitze […]“ oder: „Das Moos, in dem ich vom Schwimmen raste, das durch die Zwischenräume meiner Zehen quillt […]“. Oder auch: „[W]enn ich mit meinen Füßen das Moos berühre, berührt zugleich auch das Moos meine Füße. Das Moos zieht mich an, ich wende mich ihm zu“ (Modick 2021, 21, 22, 48). Die Professor-Figur Ohlburg verfasst Aufzeichnungen, die ursprünglich unter dem Titel „Zur Kritik der botanischen Terminologie und Nomenklatur“ stehen, dann jedoch mit „Moos“ überschrieben (Modick 2021, 12) und post mortem von dessen Bruder gefunden werden. Jener, ein Dr. Franz Ohlburg, reicht das Manuskript bei einem Verlag ein und berichtet vom seltsamen Tod des Bruders: Man habe ihn umgeben von Moos, genauer: mit „Vermoosungen“ im Gesicht (Modick 2021, 10 u. ö.), gefunden. Modick selbst bezeichnet die Novelle in einem Gespräch in der Stiftung Kunst und Natur im Oktober 2020 als „ökologisch durchdrungene ästhetische Theorie, weil der Text sich dafür interessiert, inwieweit poetische literarische Verfahren natürliche Phänomene möglicherweise besser abbilden und verstehen und begreifen können als Wissenschaftssprache“.42 Diese poetologische Standortbestimmung berührt einen Aspekt, der bereits bei Poschmann aufgezeigt wurde: den Transfer differenter epistemischer Ordnungen und ihrer jeweiligen Codes und Aktanten. Wiederholt verweist Modicks Erzähler auf seine || 39 Vgl. Modick 2021, 72 („Ein Dichter bin ich nicht“), 83 (Mikroskop versus Naturgedicht), 108. Zum Rekurs der Novelle auf diverse fiktionale und naturwissenschaftliche Texte vgl. Braunbeck 2017, 112. 40 Vgl. Modick 2021, 26 („etc. pp.“), 31 („War es das, was ich sagen wollte? Ich bin nicht mehr sicher“). 41 „Problematik der Methode, dies Ausgreifen auf sekundäre Phänomene“, „will ich […] exemplifizieren“, „a priori“ (Modick 2021, 25). 42 „Moos“ – Klaus Modick im Gespräch mit Catherine Mundt, 14.10.2020, Stiftung Kunst und Natur: https://www.youtube.com/watch?v=aZRyMRqVw-0 (26. Juli 2022), 12:55–13:30.
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Sprachlosigkeit angesichts des Mooses. Begriffe scheinen der WissenschaftlerFigur nichtig, da sie nicht den Kern des wahrgenommenen (ökologischen) Objekts treffen. Damit wird nicht nur ein literarischer Topos der Sprachkritik evoziert – etwa das Hofmannsthal’sche fast inflationär, hier dennoch ein weiteres Mal zitierte Moment des Sprachzerfalls gleich modrigen Pilzen –, sondern auch ein wichtiger Gesichtspunkt wissenschaftstheoretischer Reflexion und Theoriebildung, der sich beispielsweise in der Blumenberg’schen Kritik an wissenschaftlicher Begriffsbildung konzentriert, die insbesondere unter dem Stichwort ‚Theorie der Unbegrifflichkeit‘ (so auch Blumenbergs gleichnamiger NachlassBand von 2007) firmiert.43 Blumenbergs Kollege Odo Marquard formuliert hierzu in seiner Laudatio auf Blumenberg anlässlich der Verleihung des SigmundFreud-Preises für wissenschaftliche Prosa: Von der ‚Metaphorologie‘ zur allgemeinen ‚Theorie der Unbegrifflichkeit‘ weitergehend, unterstreicht er: die exakte Kunstsprache ist nicht die unüberbietbare Gestalt der Wissenschaftssprache. Das cartesische Programm der Terminologisierung und Formalisierung der Wissenschaften ist unzureichend. Keine Wissenschaft kommt aus ohne Mythen und Bilder.44
In einen ähnlichen Reflexionszusammenhang wird Modicks WissenschaftlerFigur Ohlburg gestellt. Sie konstatiert: „[D]ie botanische Terminologie als Benennungssystem der Naturerscheinungen […] sagt bestenfalls, was da wächst, das aber seelenlos und unverständig. […] Aber für die Sprache [der Natur] fehlt mir jedes Wort“ (Modick 2021, 17 [Hervorhebung i. O.]). Zwar sagt Ohlburg: „Zweifellos verlangt die Botanik, wie jede Wissenschaft, ein einfaches, klares, von den Botanikern aller Länder befolgtes System der Nomenklatur […]“, es komme dadurch aber zu einer ‚Entfremdung‘ von Mensch und Umwelt (Modick 2021, 18). Hieran schließt sich auch eine explizite Kritik an Linné an, die mit Kimmerers Position zur lateinischen Benennung von Moosen kontrastiert, und die hier binnenfiktional, im retrospektiven Modus, autobiographisch rückgebunden wird:45
|| 43 Vgl. Blumenberg 2007, 9: „Der Begriff hat etwas zu tun mit der Abwesenheit seines Gegenstands. Das kann auch heißen: mit dem Fehlen der abgeschlossenen Vorstellung des Gegenstandes.“ Dann folgt die Beschäftigung mit dem Konzept der ‚actio per distans‘. Zur Metapher, vgl. ebd., 61–65. 44 Odo Marquard, Laudatio auf Blumenberg: https://www.deutscheakademie.de/de/auszeichnungen/sigmund-freud-preis/hans-blumenberg/laudatio (11. April 2022). 45 Vgl. zu dieser Linné-Kritik vonseiten Ohlburgs Braunbeck 2017, 115–116 (lateinische Begrifflichkeit versus „agenzielle Kraft der Natur – ausgedrückt im mimetischen Namen“).
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Heute weiß ich, dass mein Vater, der jeden Vogel kannte, jeden Baum mit seinem lateinischen Namen belegen konnte, mit diesen Begriffen seine Angst vor der Natur bannen, die Aufregung bezähmen wollte, die ihn ansprang, wenn das Moos aus den Fugen quoll. Begriffe waren die geistigen Drahtbürsten meines Vaters. […] Die künstlichen Bildungen von begrifflicher Exaktheit, die unverwechselbaren Termini […], mit denen Linné vor zweihundert Jahren aus dem Gänseblümchen ‚Pellis perennis‘ machte, haben der Natur nicht Namen gegeben, sondern ihr die Namen gestohlen. Linnés Nomenklatur ist noch in anderer Hinsicht eine schwere Erbschaft, denn ihr System ist nicht bloß beschreibend, sondern auf seltsam infame Weise auch wertend. […] Die Vernichtung des Namens durch den Begriff, des lebendigen Ausdrucks durch den Terminus, hat die Entfremdung des Menschen von der ihn umgebenden Natur beschleunigt und besiegelt. […] Unter dem grauenhaften Terminus ‚Leucobryum glaucum‘ wird die Schönheit des Weißmooses, des Ordenskissens, unter wissenschaftlicher Kontrolle gehalten. (Modick 2021, 37–38, 127)
Modicks Protagonist schlägt, entgegen der Linné’schen Benennungsstrategie, die Etablierung einer „zärtliche[n] Wissenschaft“ vor, die das Schöne sucht und das sich terminologisch Entziehende neu fasst: Es müsste das doch eine Sprache sein, die auf die intersubjektiv verbindliche, eindimensionale Katalogisierung und Kategorisierung verzichtet; eine Sprache, und hier ist das Paradoxon, die definiert, indem sie dem Undefinierbaren das Wort gibt. […] Aber je stärker ich auf eine analytische, terminologische, gattungsbestimmende Sichtweise verzichte, desto stärker scheine ich das Moos anzuziehen. […] Aber die Wissenschaft zehrt nur von der Fülle und beutet sie aus im botanisch stechenden Blick. Der Blick, den ich suche, müsste die Natur aus dem Ungesonderten nicht ins Katalogisierte münden, sondern durch dies hindurch wieder in die Fülle strömen sehen. (Modick 2021, 19, 48, 107)
Bemerkenswert ist der sprachlich-ästhetische Dreh, den die Novelle mit dieser von der Figur vorgebrachten Sprachkritik entwickelt, denn mithilfe des literarischen Prosatexts wird ästhetisch umgesetzt, wonach der fiktionale Aktant des biologisch-botanischen Feldes sich sehnt: sprachliche Fülle, die in Beschreibungslust und Metaphorizität aufzugehen vermag. Entsprechend heißt es in Modicks Novelle, Ohlburgs Terminologie-Kritik ‚wachse‘, ‚gedeihe‘ und ‚wuchere‘ (Modick 2021, 84).46 Die Sprachkritik wird somit selbst in Bilder des Mooses und des Moos-Wachstums gefasst. Was Ohlburg kritisiert, die Vernichtung durch Begriffe, verkehrt der literarische Text ins Gegenteil. Er ersucht, die ‚Entfremdung‘ zwischen Mensch und Natur, Forschersubjekt und Moos, zu revidieren und baut eine metaphorisierende Moos-‚Fülle‘ auf, in poststrukturalistischer Diktion könnte man auch sagen, er webt ein dichtes sprachliches Netz aus und über Moos.
|| 46 Vgl. Braunbeck 2017, 119.
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Ohlburg nimmt Bezug auf zahlreiche Moos-Arten, die einem als Poschmanns Leser*in bereits vertraut sind, zum Beispiel auf das Frauenhaar-Moos, Leuchtmoos, die Kissenmoose, Klaffmoose, Weißmoose und das Ordenskissen, er nutzt hingegen, trotz der Einführung eines Wissenschaftler-Protagonisten, nur selten die Linné’schen lateinischen Begriffe wie „Polytrichales, für Katharinen-Moos und Frauenhaar-Moos“ (Modick 2021, 25, 55, 104, 110, 118, 127). Wiederholt verweist der Protagonist auf die Abstammung des Mooses von den Algen, mehr noch: Er meint, das Moos selbst ‚erinnere‘ sich an diese, seine „Herkunft“ (Modick 2021, 22), benannt wird auch die „scheinbare[] Unscheinbarkeit“ (Modick 2021, 22, 51, 75, 111) des Mooses. Moos sei eine regressive Pflanze, „entstanden aus einer aufs Wesentliche vereinfachten Form der längst verschwundenen primitiven Landpflanzen“, und „eine archaische Pflanze“ (Modick 2021, 93, 22), weil sie sich nicht weiterentwickelt habe. Dabei werden zunehmend ökokritische Momente laut. Moos wird von Ohlburg beschrieben als „Indikator […] für waldwirtschaftlich abgenutzte, ausgelaugte Böden“, ferner verhindere es die Austrocknung der Böden (Modick 2021, 127, 106). Bei Moosen sei beobachtet worden, so Ohlburg, […] dass sie erstaunliche Fähigkeiten entwickeln, gewisse chemische Stoffe in beachtlichem Umfang aus der Umwelt in sich aufzunehmen, zu binden, zu neutralisieren. Radioaktive Abfälle […] sind beispielsweise in einem in Frankreich heimischen Moos […] gefunden worden. […] Vielleicht bedeutet es nichts anderes, als dass die Moose aus ihrem evolutionistischen Dauerschlaf erwacht sind und angesichts der Vernichtung der Erde, des Verschwindens der Menschen, einen verzweifelten Versuch beginnen, diese Vernichtung mit ihren schwachen Mitteln aufzuhalten. Zuzutrauen wäre dem Moos das. (Modick 2021, 98)
Wesentlich ist, dass nicht nur mit diesem binnenfiktionalen ökokritischen Impetus dem Moos agency und Indexhaftigkeit in ökologischen Kreisläufen und industriellen Prozessen zugesprochen wird, sondern dass das Moos gleichermaßen in histoire und discours (handlungs-)mächtig wird. Zum einen drückt sich die agency darin aus, dass Moos den Protagonisten zu überdecken beginnt, bis sich Moos und Mensch in einer seltsam phantastischen „Vermoosung“ treffen (Modick 2021, 10, 91). Zum anderen durchzieht die Reflexion über das Moos den gesamten Text und wird dadurch zum lavierenden Moment des Erzählens, das sich auch in der Syntax niederschlägt: Einschübe, Assoziationen, Wiederholungen prägen die Erzählung. Modicks Novelle gestaltet eine agency des Mooses, die wieder, wie bei Poschmann, beide Seiten der Zemanek’schen heuristischen Unterscheidung der botanischen und pflanzlichen Poetik touchiert, aber nicht erfüllt. Man hat es in Moos mit einem botanisch versierten Ich-Erzähler zu tun, der das Moos, ähnlich
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etwa einem Goethe in Die Metamorphose der Pflanzen, kundig zu beschreiben wüsste. Zugleich zielt die Handlung um die Wissenschaftler-Figur auf eine imaginäre, phantastisch konturierte Vereinigung, eine Metamorphose in praxi, von Mensch (Wissenschaftler) und Pflanze (Moos), die auch Perspektiven jenseits der bryologisch informierten Sprechinstanz installiert,47 das aber weniger in dem Sinne, dass, so Zemanek, „Pflanzen textintern das Wort an den Menschen richten, […] sie ihm diktieren, wie und worüber er zu schreiben habe“ (Zemanek 2018a, 290). Zemaneks Analyse zielt hier auf ein „Verfahren der Anthropomorphisierung“. Dazu sei zu sagen, dass dessen Einsatz immer eine genauere Betrachtung erfordert und ambivalent zu beurteilen ist: Einerseits kann man die Vermenschlichung von Tieren, Pflanzen und anderen Naturphänomenen als anthropozentrisch motivierte Geste der Unterwerfung und Aneignung alles Nicht-Menschlichen verstehen – und damit als Weigerung, dessen Andersartigkeit zu ergründen sowie dessen Eigenständigkeit oder gar Gleichwertigkeit anzuerkennen. Andererseits kann poetische Anthropomorphisierung auch ein (zuweilen etwas unbeholfener) Ausdruck der Anerkennung einer Agency, das heißt einer Wirkmacht aller Elemente der Natur sein, auf die seit einiger Zeit im Rahmen des New Materialism hingewiesen wird. (Zemanek und Rauscher 2018, 104)48
Ohlburg/Modick lässt das Moos nicht sprechen, wenngleich er solche Momente vegetabilischer Sprache andeutet, nämlich bezogen auf Bäume: „Die große Kiefer neigt sich zu mir. Ich weiß, sie spricht“, der Ich-Erzähler zeigt aber die Grenzen menschlicher Rezeption dieser ‚Sprache‘ auf, denn er führt fort: „Aber ich bin taub“ (Modick 2021, 35). Das Moos wird in der gleichnamigen Novelle mehrheitlich nicht ‚vermenschlicht‘, sondern seine botanische Eigenschaft, das Wuchern und Einanderüberlagern, wird jenseits des eigentlichen eigenen Aktionsradius (Pflanzen untereinander) ausgefaltet, also im Kontakt mit dem Menschen, der dadurch wiederum auch seines Aktionsradius entfremdet wird, indem er selbst ‚verpflanzlicht‘ wird bzw. Pflanze zu werden wünscht. Das Moos wird als grenzenlos beschrieben: Die „Ebenen von Moos“ sind „[h]orizontlos“, „[h]immellos“, „[g]ehen in kreisendem Grün“, Moos zieht den Protagonisten || 47 Braunbeck spricht von „poröse[n] Grenzen zwischen Körpern und Texten“ bzw. Mensch und natürlicher Umwelt (2017, 109, 110). 48 Ähnlich Hayer 2018, 87: Dem Zubilligen eines „eigenen Sprachraum[s]“ (der Pflanzen bei Poschmann und Scheuermann) wohne „ein durchaus anthropomorpher Wesenszug inne[]. Die Natur spricht und agiert wie Menschen. […] Einerseits liegt ihnen [den Gedichten] der Versuch zugrunde, Flora und Fauna vom zivilisatorischen Zugriff zu emanzipieren, andererseits belegen sie, dass die künstlerische Auseinandersetzung mit der Natur nie ganz von einem menschlichen Dispositiv zu trennen ist. Dem Humanum bleibt eine Außenposition, die Beobachtung und Reflexion ermöglicht.“
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mit, dieser „fließe […] pulsierend nach nirgends“, er legt „die Füße ins Moos“, ist „[i]m Moos“ und, so die Klimax, alles „übermoos[t]“ ihn, er spiegelt sich untrennbar in der Pflanze und sie in ihm – „[ü]berall Moos“ (Modick 2021, 61, 90, 92, 100–101, 104): „Ich habe mich in Moos verliebt, und da ich spüre, wie diese Liebe erwidert wird, sehne ich den Moment herbei […] da meine wachsende Fähigkeit, dem Moos ähnlich zu werden, Metamorphosen einzugehen, übergehen wird in die reine, nicht mehr deutungsbedürftige Identität“ (Modick 2021, 106). Körper und Moos werden, sprachlich markiert durch Metapher und Vergleich, verquickt: Ohlburg lässt sich einen Bart wachsen, den er „das Moos des Alters“ nennt, seine Tränen erscheinen ihm wie „Tau des Frauenhaar-Moos“ (Modick 2021, 84, 113): Wir gehen zum Moos. Wir liegen im Moos. Wir sinken ins Moos. Es umhüllt uns. Es wächst über uns zusammen. Es wuchert durch uns hindurch. Wir zerfließen in ihm. […] Das Moos kommt auf mich zu. […] Ich werde Wald sein, See sein, Moos sein. […] Ich wachse in alle Richtungen. Es wächst mich nach überall. (Modick 2021, 112, 120, 124, 125)
Es stellt sich eine semantische Unschärfe heraus, die das Verschwinden der Figur im Moos diskursiv durch das Verschwinden der Figur im Text einholt. Man erkennt hier die Vagheit einer nicht mehr klar konturierten Ich-Instanz, die aber auch nicht ganz durch die Pflanze substituiert wird, denn der Ausdruck „[e]s wächst mich“ irritiert sprachlich und verdeutlicht diesen etwaigen Ersetzungsprozess. Die metaphysische Unmöglichkeit, als menschliches Subjekt zur Pflanze zu werden, übersetzt der Text durch ein Mäandern im Ausdruck: im Moos, ins Moos, durchwuchert, umhüllt, zerfließend. Perspektiven oszillieren. Das lavierende Suchen nach Ausdruck und Identität substituiert das Linné’sche Beschreiben, macht den Text ausgehend vom Gegenstand Moos selbst zu etwas Oszillierendem. Zwar versinkt, verschwindet der Protagonist im Moos und das Moos wird im Prozess dieser Hybridisierung zum Aktanten, weil es wächst, wuchert, ihn aufnimmt, aber es ist dennoch die Perspektive Ohlburgs, die wir als Leser*innen einnehmen (können), es ist sein Hadern mit Taxonomie und Nomenklatur, das wir beschrieben finden. Es deutet sich also eine Biozentrik an, die auch Perspektiven auf Lesarten des Post-Humanismus ermöglicht, aber dennoch die Sichtweise des menschlichen Aktanten beibehält. Eine Umkehrung wird hier zwar inhaltlich gestaltet und sprachlich angedeutet, aber nicht in Gänze vollzogen; und, ähnlich wie in „Moosgarten, ein Ready-made“, kann (und soll) sie es vielleicht auch nicht. Eine bemerkenswerte diskursive Schleife liegt darin, dass der Text in die Verschiebung der agency auch eine autopoietische und schreibprozesshafte Logik einflicht. Poschmann rahmt ihren Gedicht-Text durch Lemmata, die als
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poetologische Texte lesbar werden, zugleich aber die Lexikographie assoziieren, also wissenschaftliche Textformen zitieren. Bei Modick wird die Erzählung in eine Herausgeberfiktion eingefasst, die fiktive „Vorbemerkung des Herausgebers“, die von Ohlburgs Tod und der Zusammenarbeit des Herausgebers mit dem Bruder in der Rolle des Nachlassverwalters berichtet. Die Vorbemerkung zitiert aus einem Brief dieses Bruders. Das fiktive Herausgeber-Ich ist an das des Autors zurückzubinden, wird die Vorbemerkung doch mit K. M. signiert und auf 1983 (kurz vor Erscheinen der Novelle) datiert. Es ist hier Modick als Herausgeber-Figur, die spricht und die sich zugleich anagrammatisch über den Vornamen Klaus (Modick) in Lukas (Ohlburg) verwebt.49 Die fiktiv herausgegebenen Aufzeichnungen Ohlburgs werden wiederum paratextuell ein zweites Mal gerahmt, und zwar durch einen Rekurs auf Droste-Hülshoffs Gedicht „Im Moose“ aus Fels, Wald und See von 1844, in dem das lyrische, weibliche Ich im Moos liegend seinen Tod voraussieht: „Und noch zuletzt sah ich, gleich einem Rauch, / Mich leise in der Erde Poren ziehen“ (Droste-Hülshoff 1844, 97). Diese Sterbevision und die Lokalisierung „im Moose“ transferiert Modicks Text im Gewand einer herausgegebenen Schrift in Ohlburgs ‚Vermoosung‘. Zu dieser literarischen Referenz kommt der Akzent auf das Schreiben des Professors, denn der Herausgeberbericht erklärt, Ohlburgs Aufzeichnungen seien in grüner Tinte geschrieben. Die Farbe des Mooses, das Grün, lagert sich in den Schreibprozess selbst ein und die Tinte als Instrumentarium des Schreibens wird zur offensichtlichen Stellvertreter-Figuration des Mooses. Ohlburg lässt grüne Zeichen auf dem Papier wachsen, die Tinte zieht, synästhetisch, „leise“ ein und es fühlt sich für den Protagonisten an, als zöge er mit, sei er selbst durchfeuchtet (Modick 2021, 122). Ohlburg geht also nicht nur mit dem Moos als ökologischem Material eine Art metamorphische Beziehung ein, sondern auch mit der grünen Tinte. Die Metamorphose verdichtet sich folglich im Schreibprozess, in dem Moos, Figur, Tinte und Schrift an Trennschärfe einbüßen: Schreibe ich wie jetzt, wie schon so oft, das Wort Moos nieder, fallen meine Augen mit den beiden mittleren Buchstaben ineinander. Ich falle in Räume von dunklem Grün, durchschwimme Algenwälder, aus denen die Moose geboren wurden, sinke in Zellen, flaschenförmige Kanäle, […] das Chlorophyll ist abwesend, graue Nebelschleier überall, ich treppenförmig, wassergleich, große weiße Flecken wuchern über einen farblosen Himmel, die Leinwand wird sichtbar, das leere Papier […]. (Modick 2021, 101–102)
|| 49 Der Konnex von Ohlburg und Modick ließe sich womöglich auch räumlich nachvollziehen: Letzterer ist Oldenburger, die Handlung von Moos spielt „im Ammerland“ (Modick 2021, 9), einem Kreis nordwestlich von Oldenburg.
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Indem die Augen des Protagonisten sich spiegeln und in dem wiederholten Buchstaben ‚o‘ von ‚Moos‘ verschwinden (vorher hieß es bereits: „das doppelte O im Moos, es spiegelt meine Brille“ [Modick 2021, 50]), wird eine Hybridisierung von erzähltem Raum und Mensch-Natur-Konnex ins Werk gesetzt. Bei dieser geht die erst realistisch gezeichnete Wissenschaftler-Figur durch das selbst geschriebene Wort hindurch, lexikalisch-typographisch verstärkt, in eine oszillierende Mooslandschaft ein. Das ist wiederum eine Landschaft, in der nicht nur die menschliche Sprechinstanz ihre leiblichen Konturen sukzessive verliert („treppenförmig“, „wassergleich“), sondern die auch genuin papieren ist, die also, wie Poschmanns „Moosgarten“, nur auf der Textseite, auf Papier, existiert, und zwar als poetische und poetologische Moos-Konstruktion.
6 Moos-Werk: Fazit Sowohl Poschmanns Gedicht als auch Modicks Novelle rücken Moos in den Fokus und berühren Fragen und Problematiken pflanzlicher agency und entsprechender ästhetischer Performanz im Spannungsfeld von Literatur und Botanik/Empirie. Björn Hayer schreibt, Texte zeitgenössischer Autor*innen würden „im Modus lyrischer Evokation neue Ausdrucksmöglichkeiten aus[loten], die auf eine Selbstbehauptung des Natürlichen abzielen“ (Hayer 2018, 71). Auf offenkundig biozentrisch perspektivierte Gedichte von Poschmann wie „Rosa canina (Hundsrose)“,50 von Scheuermann („Efeu“) und Wagner („melde“) mag das zutreffen. Bei den beiden untersuchten gattungsdifferenten Moos-Texten ist es komplizierter, da sie Figurationen vegetabilischer Handlungsmacht zwar andeuten, diese aber zugleich durch (eine eigene poetische) Taxonomie, ihr Sprachspiel, wissenschaftliches Figurenpersonal und menschliche Sprechinstanz unterminieren. Sie sind ob dieser Oszillation wie Kommentare, MetaTexte, die mit dem Konzept und, wie Mayröcker kritisch anmerkt, „Modewort ‚nature-writing‘“ (Mayröcker 2020, 57, 97) künstlerisch eigenwillig agieren. Zum einen fällt auf, dass beide Texte autobiographisch verankerte Toponyme gebrauchen. Bei Poschmann wird der „Kokedera“ (Poschmann 2019, 117) in Japan benannt,51 bei Modick das „Ammerland“ (Modick 2021, 9).52 Beide Texte || 50 Ein explizites Pflanzen-Ich artikuliert sich: „ich vergaß den Autobahnabhang, auf den / ich geklettert war“, „ich klebte am Damm / ich verstärkte mein Blühbemühen“, die Hundsrose habe „Efeugefühle“ (Poschmann 2021c, 59). 51 Vgl. Dürbeck, Kanz 2020, 33, die schreiben, „dass der ‚sense of place‘ in der deutschsprachigen Literatur nicht notwendig mit der Bindung an heimische Orte verknüpft ist und damit
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lassen jedoch diese Lokalisierung insofern verblassen, als bei Poschmann irgendwo „[z]urück in Deutschland“ (Poschmann 2019, 118) die Beschäftigung mit heimischen Moosen verbunden mit der Gedichtniederschrift stattfindet und sich bei Modick die Handlung als „Abschied von der empirischen Welt“ (Modick 2021, 15), so sagt es die Botaniker-Figur anfänglich selbst, in Phantasievorstellungen abkoppelt, in denen etwa Darwin „[i]n einem Baum sitzt“ und dessen „Bart winkt“ (Modick 2021, 61). Beide Texte markieren zum anderen, auch ex negativo, als realistischen Bezug die Linné’sche Naturforschung, botanische Taxonomie und Nomenklatur:53 Poschmann expliziert das vor allem paratextuell zum Gedicht innerhalb des etwas mystischen Versuchs „Kunst der Unterscheidung“ sowie in ihrem Gespräch für Sinn und Form, aber auch durch bewusste Entkopplung von Linné innerhalb des Listen-Gedichts, indem sie zum Beispiel das (mooraffine) „Unechte[] Dünnkelchmoos“ und nicht den lateinischen Terminus Mylia anomala auflistet. Bei Modick geht es sowohl in der zwischen Fiktion und Fakt oszillierenden Vorbemerkung als auch im Haupttext um bryologische Ordnung und Benennung (etwa nach Linné und Johann Hedwig), Taxonomie und Ohlburgs Kritik daran. Geographie und Naturgeschichte sind zwei Bezüge, von denen die Texte, ihrem Gegenstand ähnlich, in Form zweier post-pastoraler Moos-Gebilde wegwuchern. Haben Moose keine Wurzeln, sondern Rhizoide, haarförmig wachsende Zellen, so sind, kongruierend, die Moosarten in Poschmanns Gedicht trotz Strophenform nicht wirklich miteinander verwurzelt oder, etwa allein typographisch durch Kommata, verbunden und bei Modick entwurzelt sich das Moos klarer Perspektivierungen, die weder ganz menschlich noch ganz pflanzlich sind. Poschmanns Gedicht ist ein stark artifizieller Text, da ein spezifischer sammelnder und ordnender Blick mit den kulturellen Bedeutungsschichten der
|| einer nationalen Konnotation des Nature Writing keine vergleichbare Geltung wie in der angelsächsischen Tradition zukommt“. 52 Dieser subjektiv-biographische Konnex kann auch als Anhaltspunkt für eine Lesart im Sinne des Nature Writing gelten. Für Fischer etwa, so Dürbeck, Kanz (2020, 17), sei beim Nature Writing wesentlich, dass „‚die literarische Ausarbeitung auf intensive, ‚authentische‘ Wahrnehmung und Erkundung von konkreter Natur und Landschaft zurückgeht, auf sozusagen leibhaftige Begegnung und Auseinandersetzung mit nichtmenschlichen Lebewesen‘“ und dass das schreibende Subjekt die Erfahrungen selbst gemacht habe. 53 Vgl. Dürbeck, Kanz 2020, 28: „Für deutschsprachige Texte über eigene Naturerfahrungen, erkundungen und -beschreibungen können mit Linné zwar durchaus dieselben Quellen wie bei der angelsächsischen Traditionslinie ausgemacht werden, doch würde allein eine solche Verbindung einen Autor nicht notwendig bereits zu einem Nature Writer machen, sondern es müssen noch andere spezifizierende Charakteristika hinzutreten.“
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Namen agiert, die an die Moose angelagert sind. Der eigenen Betitelung und ästhetisch-taxonomischen Zuordnung entsprechend, stellt der Text (als ReadyMade) primär etwas aus, und zwar die Namen der hundert Moosarten, über die jedoch teilweise, aber nicht primär, ihr Aussehen, ihre Haptik und andere Eigenschaften durchscheinen („Gewelltes Plattmoss“, „Federmoos“). Man sieht als Rezipient*in qua Mangel an Beschreibung und narrativer Ausfaltung, etwa durch eine sicht- und hörbare (Erzähl-)Stimme, weniger das Moos, als vielmehr zuvörderst das Sprachmaterial – was auch bei der Novelle der Fall ist, aber Poschmanns Liste verschiebt die Perspektive noch deutlicher weg vom Signifikat auf den Signifikanten. Natürliche Materie und sprachliche Verfügbarmachung konfligieren, denn einerseits scheint das Moos äußerst präsent in seiner Fülle der hundert Arten, andererseits macht es sich unverfügbar, widersetzt sich dem sprachlichen, taxonomischen und ästhetischen Zugriff und figuriert damit eine Kritik am (Linné’schen) System der Benennung, auf das man zugleich, wenn auch ex negativo, zurückfällt. Das Moos erscheint insofern handlungsmächtig, als es bei Poschmann nichts Anderes neben sich erlaubt und bei Modick nicht nur den Protagonisten, sondern auch den Text überwuchert, metaphorisch und autoreflexiv bis in die Tinte dringt. Das ermöglicht einerseits eine biozentrische Lesart, andererseits bricht diese am logozentristischen Perspektivieren, denn der Name, das Projekt Dichtung substituiert letztendlich die Pflanze. Nicht zufällig rahmen Poschmann und Modick ihre Moos-Texte poetologisch und reflektieren damit selbst den Anti-Authentizitätsgestus, denn nicht das Moos selbst wird dargestellt, sondern eine artifizielle Konstruktion, die ihre Künstlichkeit wiederum selbst betont, indem poetologische und schreibästhetische Perspektiven entwickelt werden. Das Moos tritt als literarisches Ding hervor, weniger als natürliche Materie, es wird auch poetisch-poetologischer Index, indem es nicht nur, so der Erzähler in Moos und später Kimmerer, anthropogene Umweltschädigungen anzeigt, sondern auch den diffizilen Konnex von Natur und Literatur und dessen Thematisierung. Goldstein bestimmt Nature Writing, so fassen es Dürbeck und Kanz zusammen, als ‚Haltung‘ der ‚Aufmerksamkeit‘ […] und eine ‚sprachgeleitete Schule der Aufmerksamkeit für eine Entdeckung des Sichtbaren, aber Übersehenen‘. Diese recht weite Bestimmung nimmt das Lokale, Alltägliche und Naheliegende in den Blick, das der subjektiven ‚Aufmerksamkeit‘ für wert erachtet wird. […] Die im Zusammenhang mit dem neuen Nature Writing eingeforderte ‚Aufmerksamkeitsschulung‘ ist untrennbar mit der Arbeit an der Sprache verbunden. (Dürbeck, Kanz 2020, 17–18; Goldstein 2018, 104)
Dies sieht man in den beiden untersuchten Moos-Texten in unterschiedlicher Gewichtung umgesetzt. Bemerkenswert ist dabei das Moment der Dekonstrukti-
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on der Binaritäten Moos und Mensch und der gegendiskursiven Vereinigung in der Fiktion (bei Modick zugespitzt durch die Metamorphose), die zugleich vage ist, indem unklar bleibt, wer (sich) da auflistet und wie eine Figur ähnlich einem Stein ‚vermoosen‘ kann. Botanik und Literatur gehen hier, das Moos imitierend, neue Verbindungen ein, die genuin autoreflexiv sind. In ihrem Essay Laubwerk (2021) fragt Poschmann: Die schiere Masse an Wörtern, die sprachliche Fülle aufgefaßt als Laub? Das Wachstum der Natur enggeführt mit dem schöpferischen Potential der Sprache? Die Rede über Bäume spiegelt in der Regel besonders deutlich das grundsätzliche Problem von Welt. Der Baum mit seinem wogenden Laub bleibt stets ein Geheimnis, er bleibt das Unerkennbare und Unbeschreibliche, der Gegenstand, an dem die Sprache scheitert. Daher nützt es kaum, einen Baum minutiös zu beschreiben. Ein Blatt, ein weiteres Blatt, noch eins und noch eins? Müßte ich nicht jedes einzelne Blatt aufzählen, auch die Blätter, die von anderen Blättern verdeckt sind? (Poschmann 2021, 37)
Beim Moos listet sie auf, minutiös, aber nicht beschreibend. Das Listen-Gedicht richtet die Lupe auf die Moose, schafft eine ästhetische Erfahrung qua Text, die aber auf den entsprechenden Wahrnehmungsmodus und ˗horizont beschränkt bleibt. Hat man Poschmanns und Modicks Moos-Werke gelesen, hat man nicht in einem Moosgarten gestanden und auch nicht die Ammerländer Gegenden durchstreift, man wird die Moosarten in der Natur wohl auch nicht besser erkennen als zuvor, aber man kann als Leser*in ästhetisch sensibilisiert worden sein für die Artenvielfalt. Als Botaniker*in auf Pohlia nutans zu stoßen, gleicht nicht der Erfahrung, im ersten Vers bei Poschmann auf „Nickendes Pohlmoos“ zu stoßen. Botanik und Literatur können einander aber, so zeigt sich an den Moos-Werken, produktiv erkunden und Literatur kann mit Epistemen arbeiten, die in ihren wissenschaftlichen Disziplinen womöglich, wie die Taxonomie, überholt sind, um neue Ordnungen zu erdenken.
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Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara als Morbus Moor Eine Landschaftsanalyse Zusammenfassung: Im Roman Morbus Kitahara setzt sich Christoph Ransmayr mit der Frage der Vergangenheitsbewältigung auseinander. Er erzählt eine alternative Geschichte der Zweiten Nachkriegszeit. Mit seinem Gebirge und Denkmälern erinnert das fiktive Gebiet „Moor“, in dem der Roman spielt, an eine wahrhaft „kontaminierte Landschaft“. Im Rahmen des Beitrags wird die Landschaft zum einen in Hinsicht auf ihre kartographische Darstellung analysiert, wobei auf das Konzept des „glatten“ Raum und die geopolitischen Reflexion über den „Nomos“ von Schmitt und Deleuze und Guattari zurückgegriffen wird. Im Rahmen der Debatte um das „Nachgedächtnis“ und die Frage nach einer Phänomenologie des Gedächtnisses und des Vergessens wird zum anderen die allegorische Bedeutung des Ortnamens „Moor“ untersucht. Dies führt zur Erkenntnis, dass die Geographie des Romans zu einer neuen Ästhetik des Erhabenen anspornt, die mit anderen Kulturmetaphern denkt – mit „Mooren“ anstelle des „Gebirges“.
1 Einleitung Christoph Ransmayrs dritter Roman Morbus Kitahara, 1995 erschienen, spielt in den 1960er Jahren und erzählt eine alternative Geschichte der Zweiten Nachkriegszeit (Forster 1999, 114). Nach der bedingungslosen Kapitulation Österreichs wird der „Friede von Oranienburg“ mit den Alliierten geschlossen, der sich bald als eine Vergeltung für die Gräueltaten der Nazi-Zeit enthüllt. Einerseits lehnt Ransmayr den Friedensvertrag von Oranienburg an den Entwurf gebliebenen Friedenplan von Henry Morgenthau an: Der amerikanische Finanzminister riet, dass das damalige ‚Dritte Reich‘ nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Agrarstaat umwandelt werden solle. In einer ähnlichen Weise versetzt der „Frieden von Oranienburg“ Österreich „zurück in die Steinzeit“ (Ransmayr
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2017, 43).1 Andererseits ist die Bergregion, in der Morbus Kitahara spielt, auf keiner Landkarte zu finden. Der Schauplatz des Romans heißt „Moor“. Seine Morphologie ähnelt jedoch dem geographischen Gebiet des Salzkammerguts, wo 1943 eine Außenstelle des Konzentrationslagers Mauthausen am südlichen Ufer des Traunsees eröffnet wurde (Honold 1998, 114). Daran erinnert Ransmayr in einem Interview über den Roman (Löffler 1997, 213). Dort bezieht er den Granitsteinbruch des „steinernen Meers“ auf das ehemalige KZ (Forster 1999, 121); auch spielt Ransmayr auf die Sehenswürdigkeiten des Salzkammerguts an: Im Roman gilt der Gipfel der „schlafenden Griechin“ als der Name eines Schiffs (Landa 1998, 139). Dies fügt sich in Ransmayrs poetische Überlegungen, denen zufolge der Erzählprozess ein „Prozess der Verwandlung“ sei: „Ich erzähle dann nicht von einem erfahrenen, sondern von einem erschaffenen Ort“, wie er in Hinblick auf Morbus Kitahara erklärt (Ransmayr 2017, 48). Im „erschaffenen Ort“ von „Moor“ thematisiert Ransmayr die Frage nach der Mitschuld Österreichs an den Gräueltaten des Nationalsozialismus. Mit dem Trauma der Judenvernichtung setzen sich die drei Hauptfiguren des Romans unterschiedlich auseinander. Die Zwangsarbeit im Granitsteinbruch von „Moor“ hinterlässt bei Ambras, einem ehemaligen Lagerhäftling dieses KZ, tiefe Spuren. Obwohl er nach der Kapitulation zur Vertrauensperson von Major Elliot geworden ist und bis dahin in einer Villa lebt, hält ihn seine Vergangenheit so gefangen, dass er den Eindruck hat, den Steinbruch von „Moor“ nie wirklich verlassen zu haben (Ransmayr 2017, 212). Sein Leibwächter Bering und seine Freundin Lily haben ein anderes Verhältnis zur Vergangenheit, weil sie zur zweiten Generation der Täter zählen und keine Erinnerung an den Krieg und an die Verfolgungen der Juden haben. Lilys Eltern sterben, als sie noch zu jung ist, um sie Fragen über das Vergangene stellen zu können, und der Vater von Bering erzählt ihn nichts, nachdem er aus der Gefangenschaft nach „Moor“ zurückgekehrt ist. Die drei Hauptfiguren müssen jedoch im Laufe des Romans erleben, dass ihnen der Abschied von der Vergangenheit nicht gelingt. Als sie „Moor“ für die brasilianische Stadt von „Pantano“ verlassen, merken sie, dass der Ortsname ihrer Exilstadt auf Deutsch „Sumpf, sumpfige Wildnis, Feuchtgebiet – Moor“ meint (Ransmayr 2017, 404). Den Opfermythos Österreichs problematisierte Ransmayr schon in seiner Reportage über das Kraftwerk von Kaprun, als er die Meinungen der Bergarbeiter wiedergab, die 1930er Jahren seien eine „großdeutsche“, keine „österreichische Zeit“ gewesen (Ransmayr 1997, 79). Auch die Eingeborenen von „Moor“ wollen || 1 Ich beziehe mich auf die siebte Auflage des Romans, die 2017 veröffentlicht wurde.
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zwar glauben, dass sie ab und zu den Insassen des Zwangslagers im Granitsteinbruch geholfen haben (Ransmayr 2017, 64), wissen jedoch „jeder für sich, daß keiner von ihnen jemals einen Lagerflüchtling versteckt gehalten hatte, und erinnerten sich wohl, daß die Angst von der Feldpolizei […] seinerzeit stets größer gewesen war als das Mitleid“ (Ransmayr 2017, 65, Hervorhebung im Original). Das vorliegende Essay zielt auf eine Analyse der metaphorischen Bedeutung der Moorlandschaft in Morbus Kitahara ab. Dabei gehe ich im Folgenden von den methodologischen Prämissen der Science-Fiction-Theorie von Darko Suvin aus. Dieser unterscheidet die Science-Fiction von den naturalistischen Fiktionen, insofern sie keine realistischen Dinge beschreibe (Suvin 1979, 4). Genauer noch wirkt die Science-Fiction als eine „Literatur der kognitiven Verfremdung“ (Suvin 1979, 3): „SF is […] a literary genre, whose necessary and sufficient conditions are the presence and interaction of estrangement and cognition, and whose main formal device is an imaginative framework alternative to the author’s empirical environment“ (Suvin 1979, 7–8). Mit der empirischen Umwelt verweist Suvin auf das sozio-politische Milieu des Schriftstellers, der anhand der Darstellung einer verfremdeten Welt eine Kritik an seiner Gegenwart äußert (Suvin 1979, 24). Das Konzept der Kognition bedeutet eine kritische Auseinandersetzung mit der realen Welt: „It implies a creative approach tending toward a dynamic transformation rather then toward a static mirroring of the author’s envinroment“ (Suvin 1979, 24). Das gilt auch für Morbus Kitahara. Obwohl Ransmayr dort eine „alternative Geschichte“ der Nachkriegszeit entwirft (Forster 1999, 113), stilisiert der Plot die Frage nach der Mitverantwortung Österreichs für die Gräueltaten der NS-Zeit (Piontek 2015, 111). Anhand der Verfremdung der Lebenswelt der österreichischen Nachkriegsgesellschaft gelingt es Ransmayr, die Rekonstruktion als einen Mythos zu enthüllen (Honold 1998, 114). Im Allgemeinen betrachtet Ransmayr die Erinnerung als eine Form der Fiktion. Auch will er das Vergangene nicht objektiv darstellen, sondern es „für die Gegenwart“ rekonstruieren (Godel 2009, 88). In diesem Sinn bezieht sich Morbus Kitahara auch auf die Kriege im zerfallenden Jugoslawien, wie es Thomas Wild überzeugend dargestellt hat (Wild 2014, 219). Obwohl der Schauplatz des Romans eingebildet ist, verschaltet Ransmayr die Schrecken seines Kriegs mit denen von anderen Kriegen, die sich seit Anfang der 1990er Jahre sozusagen vor seiner Tür entfesselten (Wild 2014, 219). So hat Ian Forster wohl Recht, wenn er vermutet, dass der Eisenhut auf dem Umschlag von Morbus Kitahara den Wunsch veranschaulicht, die Gewalt mit der literarischen Darstellung der Gewalt homöopathisch zu bekämpfen: Der Eisenhut ist zwar eine der giftigsten Pflanzen Mitteleuropas, sie hat jedoch auch einen homöopathischen Einsatzbereich (Forster 1999, 116). In einer ähnlichen
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Weise dient die Darstellung der Gewalt in Morbus Kitahara dazu, die Gewalt in der Wirklichkeit zu vermeiden (Forster 1999, 116). Der vorliegende Text erforscht zum einen die rechtspolitische Bedeutung der Kapitulation von „Moor“ anhand des philosophischen Raumverständnisses von Gilles Deleuze und Félix Guattari sowie im Kontext der metaliterarischen Bedeutung der Kartographie für Ransmayr. Zum anderen bietet er eine phänomenologische Deutung der Beziehung der metaphorischen Moorlandschaft des Romans zum „bodyscape“ und zum Vergessen. Abschließend wird die „Moorer“ Landschaft als ein Beispiel des ökologischen Erhabenen analysiert.
2 „Moor“ und die Krise des Nomos der Erde Folgen wir der kanadischen Autorin Margaret Atwood, so ist die Kartographie „a map-drawing, and the map is, among other things, a map-making entity. […] From our earliest days […] we are inscribing maps of our surroundings onto the neural pathways in our brains and […] our own tracks, markings, namings and claimings onto the landscape itself“ (Atwood 2011, 57). Dass Karten und die in ihnen geübte Landschaftsrepräsentation nicht unschuldig sind, hat der bekannte Historiker der Kartographie J. Brian Harvey in den 1980er Jahren behauptet. Laut Harvey dient die Landkarte als ein heuristisches Model zur Bewertung der sozioökonomischen und politischen Diskurse einer Nation (Harvey 1988, 277). Schon die graphische Darstellung eines Landes sagt folglich viel über seine Kultur aus. Zwar zeigen Landkarten die Morphologie eines Territoriums, sie machen aber gleichzeitig die sozialen, politischen und kulturellen Werte einer Gesellschaft anschaulich: „maps are a way of conceiving, articulating and structuring the human world which is biased towards, promoted by, and exerts influence upon particular sets of social relations“, behauptet Harvey (Harvey 1988, 277–278). Historisch unterstützten Landkarten die Entstehung von neuen Konzepten der Raumverteilung und sogar den Aufstieg des Kapitalismus (Harvey 1988, 285). Nicht zuletzt spielten die Landkarten eine zentrale Rolle für den Kolonialismus: Sie beschrieben die Eroberung eines Landes und veranschaulichten die Befriedungsstrategie der Eroberer (Harvey 1988, 282). Aus der Rezeption der Aufsätze von Harvey entwickelte sich seit den 1990er Jahren die kritische Kartographie im anglo-amerikanischen Raum. Angelehnt an die Wissenschaftssoziologie von Bruno Latour und Thomas Kuhn, erforscht solch eine Kartographie die diskursiven Bedingungen der Kartenproduktion: Die Philosophie von Gilles Deleuze und Félix Guattari gibt überdies wichtige
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Anstöße zur Analyse der Karten als Modelle der (Re-)Produktion der Welt (Picker 2013, 10). Wie der Titel eines vielfach wiederaufgelegten Essays von Harley lautet, handelt es sich um ein Dekonstruieren der Karte, das den Kartierungsbegriff verallgemeinert (Glasze 2009, 186). Die kritische Kartographie versteht das Kartographieren als ein menschliches Tun, anhand dessen man mit der geographischen Welt Sinn zu machen versucht (Glasze 2009, 186). Diese Sichtweise halte ich für die literarische Darstellung der Landkarte von „Moor“ im zweiten Kapitel von Morbus Kitahara für angemessen. Dort erzählt Ransmayr von den ersten Lebensjahren Berings. Im letzten Jahr des Kriegs geboren, erlebt er während der Kindheit die politischen Unruhen nach dem Frieden von Orangenburg. Damals fahren die versprengten Soldaten von sechs verschiedenen Armeen in „Moor“ vor und Raubzüge sind an der Tagesordnung (Ransmayr 2017, 17). Eine Landkarte des eroberten „Moors“ veranschaulicht diese Krise der vor dem Krieg herrschenden rechtspolitischen Ordnung des Landes nach der Kapitulation. So wird die Karte von „Moor“ beschrieben: An der Kartenwand der Kommandantur erschien das Moorer Hügelland nur noch als ein Schnittmusterbogen der Kapitulation. Immer neue Verhandlungen zwischen rivalisierenden Siegern bestimmten und verzerrten die Demarkationslinien, verfügten Täler und Straßenzüge aus der Gnade des einen in die Willkür des nächsten Generals, teilten Kraterlandschaften, versetzten Berge. (Ransmayr 2017, 18)
Einerseits scheint die Landkarte von „Moor“ strategisch wichtig. Sie hängt an der Kartenwand der amerikanischen Kommandantur, weil nur die Amerikaner – und Ambras als ihr vertrauter Beauftragter – das Vorrecht genießen, Karten zu lesen. Anderseits erweist sich der Wert der Landkarte von „Moor“ als fragwürdig: Was für eine strategische Bedeutung kann eine Landkarte haben, deren Demarkationslinien ständig verzerrt werden? Indem Ransmayr die Nutzbarkeit dieser Landkarte in Frage stellt, problematisiert er das übliche, abendländische Verständnis des Raumes als „gekerbt“. Das „Gekerbte“ definiert laut Deleuze und Guattari einen metrisch abgemessenen Raum, der durch die Verbindung zwischen Punkten, Linien und Oberflächen bestimmt wird (Deleuze, Guattari 2006, 658). Das heißt, dass jeder Punkt des gekerbten Raums eine fixe Bedeutung hat, denn solch ein Raum versinnbildlicht die organisierende Struktur der politischen Staatsmacht: „Staat bedeutet Souveränität. Aber Souveränität herrscht nur über das, was sie verinnerlichen, sich räumlich aneignen kann“, behaupten Deleuze und Guattari in Tausend Plateaus (Deleuze, Guattari 1992, 494). Das Nomos-Konzept des nationalsozialistischen Staatsrechtlers Carl Schmitt bietet ein Beispiel für die rechtspolitische Bedeutung des „gekerbten Raums“
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(Ojakangas 2004, 121). Laut Schmitt beruht „die wahre, eigentliche Grundordnung […] in einem wesentlichen Kern auf bestimmten räumlichen Grenzen und Abgrenzungen, auf bestimmten Maßen und einer bestimmten Verteilung der Erde“ (Schmitt 2020, 71). Diese „Grundordnung“ nennt er den „Nomos“. Aus dem griechischen Verb „nemein“ stammend, meint das Wort „Nomos“ bei Schmitt sowohl die Land- und Seenahme als auch das Teilen und Verteilen eines eroberten Gebiets (Schmitt 2020, 71). Außerdem definiert der Nomos die Bewirtschaftung eines Territoriums, so dass er zusammenfassend „die grundlegende Teilung und Verteilung des Bodens und die darauf beruhende Eigentumsordnung“ meint (Schmitt 2020, 71). Für Schmitt versinnbildlicht der Nomos die „Einheit von Ordnung und Ortung“ (d. h. vom Raum und Recht), die die Erde kennzeichnet (Schmitt 2011, 13). „Das Recht ist erdhaft und auf die Erde bezogen“, glossiert Schmitt im Nomos der Erde (Schmitt 2011, 13). Im Gegensatz dazu erscheint ihm das Meer als „ein freies Feld freier Beute“ (Schmitt 2011, 14), so führt er aus: „Zwar werden auch die Reichtümer des Meeres […] von Menschen in harter Arbeit gewonnen, aber nicht, wie die Früchte des Erdbodens, nach einem inneren Maß von Saat und Ernte. In das Meer lassen sich auch keine Felder einsäen und keine festen Linien eingraben“ (Schmitt 2011, 13). Die Bearbeitung von Ackerland mit dem Pflug betrachten Deleuze und Guattari eben als ein Merkmal des „gekerbten Raums“ (Gottschling 2018, 97). Beruft sich laut Schmitt das deutsche Recht auf das Land und die Landnahme (Schmitt 2020, 94), so denkt dagegen die englische und amerikanische Geopolitik „in Stützpunkten und Verkehrslinien“ (Schmitt 2020, 94). England könne sogar „wie ein Fisch an einen anderen Teil der Erde schwimmen, denn es ist ja nur noch der transportable Mittelpunkt eines über alle Kontinente zusammenhanglos verstreuten Weltreiches“ (Schmitt 2020, 94). Diese Raumauffassung definieren Deleuze und Guattari als „glatt“. Im glatten Raum vollziehen sich „Öffnungen, Deterritorialisierungen, Möglichkeiten und Vielheiten von Verhaltensweisen“ (Deleuze, Guattari 1993, 494). Als das Zeichen einer Deterritorialisierung sind nicht nur die „verzerrten“ Demarkationslinien der Landkarte von „Moor“ zu betrachten (Ransmayr 2017, 18), sondern auch die durch die Übersetzung hergestellte Synonymie zwischen „Moor“ und der brasilianischen Exilstadt „Pantano“, deren Ortsname sich als eine Übersetzung für „Moor“ herausstellt (Ransmayr 2017, 404). Diese verweist darauf, dass „Moor“ vielleicht nur ein anderer Name für den Einbruch des Prekären, Diskontinuierlichen in den Westen ist, für die „Brasilianisierung“ des Westens.
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Den glatten Raum kennzeichnet überdies eine „haptische“ Wahrnehmung (Deleuze, Guattari 2006, 663), hierzu führen Deleuze und Guattari aus: „Während im gekerbten Raum die Formen eine Materie organisieren, verweisen im glatten Raum die Materialen auf Kräfte oder dienen als Symptome“. Dies ist vergleichbar mit der räumlichen Wahrnehmung Berings seit seiner Augenkrankheit, der „Morbus Kitahara“ des Titels des Romans: Manchmal sitzt er mit geschlossenen Augen auf der Veranda und krault einem Hund den Nacken und […] dann ist ihm, als ob ihm sein Gehör, sein Geruchsinn, seine Haut und seine Fingerkruppen die Welt neu entschlüsseln wollten als einen Zusammenhang von rauhen, rissigen und glatten Oberflächen, von schmerzenden oder besänftigenden Geräuschen und Melodien, von Duft und Gestank, kühlen, warmen, fieberheißen Temperaturen und atmenden und erstarrten Formen des Daseins. (Ransmayr 2017, 267)
Ein Beispiel für den „glatten Raum“ ist, so Deleuze und Guattari, die Wüste (Deleuze, Guattari 2006, 663). Wüsten stellen sich als „Affekt-Räume“ dar, die von „Intensitäten, Winden und Geräuschen“ und „taktilen und klanglichen Kräften und Qualitäten“ besetzt werden (Deleuze, Guattari 2006, 663). „Die Wüste lässt alles Organische, schon gar intelligente Organische, einzigartig und kostbar erscheinen. In der scheinbaren Leere hat jede Bewegung, natürlich auch die mit Menschen, eine andere Deutlichkeit“, meint auch Ransmayr im langen Gespräch Das Menschenmögliche zur Sprache bringen (Wilke 2014, 62). Wie der Ozean, so bietet laut ihm die Wüste das Naturschauspiel einer „glühenden, scheinbar grenzenlosen Landschaft“ (Wilke 2014, 62). Und an eine Wüste erinnert „Moor“, als die Frühlingsstürme „über die morastigen Felder feinen Sand [treiben], von dem es in Moor hieß, er käme mit den Südwinden aus den Wüsten Nordafrikas“ (Ransmayr 2017, 52). Und als Bering die „Krähe“ fährt, die Limousine von Ambras, stellt er sich gerne vor, die Geschwindigkeit lasse „Hügel zu Wanderdünen“ werden (Ransmayr 2017, 96). Ein weiteres Beispiel der metaphorischen Darstellung von „Moor“ als einem ‚glatten‘ Raum findet sich im Roman, als Bering meint, dass die Landschaft von Moor aus dem „halbrunden Fenster“ des ehemaligen Billardzimmers der Villa Flora wie eine „noch unentdeckte, unbetretene Welt“ aussieht (Ransmayr 2017, 141–142). So träumt Bering, „als brauste hier nicht der Wind in den Nadelkronen, sondern die Brandung eines unsichtbaren Meers, das ihn nun von […] dem alten Leben trennte“ (Ransmayr 2017, 141–142). Das Zitat ist hier in doppelter Hinsicht von Interesse: weil das Meer als ein Emblem für den ‚glatten‘ Raum gilt (Deleuze, Guattari 2006, 663) und weil die Meerlandschaft ein poetologisches Sinnbild für das Schreiben von Ransmayr bietet. In seiner Poetik eröffnet die Literatur infinite Möglichkeitsräume: Wie ein Kartograph kartographiert auch der Schriftsteller noch unentdeckte „Kontinente, submarine, von Ozeanen be-
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deckte Gebirge, riesige Städte, Wüsten“ (Peter 2013, 113). Mit der Vorstellungskraft könne Ransmayr, wie er meint, ein „Komplementärbild“ der Wirklichkeit entwerfen: „die bloße Möglichkeit“ (Ransmayr 2014, 38).
3 Die Kontingenz des Schreibens „Moor“ ist der Ortsname einer Alpenlandschaft (Landa 1998, 139). Durch seine geographische Isolation gekennzeichnet, liegt das Land im Gebirge von der Felswand des „steinernen Meers“ eingeschlossen. In einer Schrift aus dem Jahr 1777, Über den Granit, pries Goethe den Granit als die Urgrundlage, auf der sich die Gebirge hinaufgebildet hätten. Auch die Granitschichten von „Moor“ erzählen von der antiken Geschichte des „steinernen Meers“, dessen Gebirge sich in der Prähistorie aus einem wirklichen Meer heraushoben hatte (Ransmayr 2017, 271). Daran erinnert der Weg durch das Gebirge, der „von Muscheln“ übersät ist: „Als Überreste eines prähistorischen Meeres lagen sie wie die mit Silber ausgegossenen Spuren einer riesigen, verschollenen Reiterarmee über mächtige Felsplatten und Geröllfelder verstreut.“ (Ransmayr 2017, 304). Diese, von Ransmayr als eine „Katastrophe“ beschrieben (Ransmayr 2017, 271), verweist im Roman auf eine andere „Katastrophe“. Die „brüchigen Bänder“ des „tiefgrüne[n] Granit[s]“ im Steinbruch von „Moor“ erzählen mit ihren „verworrenen Linien“ (Ransmayr 2017, 271) vom Zivilisationsbruch des Holocaust. Wie die absolute Katastrophe für die Antike den Untergang einer sicheren Lebenswelt meinte (Flaig 2007, 37), so offenbart die Vernichtung der Juden im Arbeitslager im Granitsteinbruch von „Moor“ eine Tragödie, in der „nicht nur das Glück und das Leben ihrer Opfer, sondern eine ganze Welt zu Ende ging“ (Ransmayr 2017, 118). Im Allgemeinen bezeichnet die Katastrophe eine „ubiquitäre Krisenkategorie“ und es ist ein Spezifikum von Ransmayrs Schreiben, dass katastrophale Ereignisse ständig den Verlauf der Geschichte bedrohen (Wohlleben 2019, 575). Das hängt mit der poetologischen Bedeutung der Kontingenz in seinem Schreiben zusammen, denn indem die Kontingenz das Eintreten eines Ereignisses nur als möglich beschreibt, relativiert sie zugleich die Behauptung einer inneren Notwendigkeit der Geschichte (Peter 2013, 97). Im Aufsatz Nietzsche, die Genealogie, die Historie präsentiert Michel Foucault die genealogische Methode von Friedrich Nietzsche als eine antimetaphysische Annäherung an das philosophische Denken. Wie Nietzsche mit der „Genealogie“ gegen den Historismus polemisierte, so behauptet Foucault eine grundlegende Differenz zwischen der genealogischen und der historischen
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Methode: Sucht die Historie nach Einheit, berücksichtigt die Genealogie dagegen die „Diskontinuität“ und „die Einzigartigkeit von Ereignissen“, die vom Zufall geprägt seien (Foucault 2009, 195). An die Reflexion von Foucault anknüpfend, prägen Deleuze und Guattari das Konzept einer „Geophilosophie“, in der die Geographie „nicht bloß der historischen Form einen Stoff und variable Orte“ bieten würde (Deleuze und Guattari 1996, 109–110), sondern sie „entreißt die Geschichte dem Kult der Notwendigkeit, um die Unreduzierbarkeit der Kontingenz zur Geltung zu bringen. Sie entreißt sie dem Kult der Ursprünge, um die Macht eines ‚Milieus‘ zu bejahen“ (Deleuze und Guattari 1996, 109–110). Die Kontingenz hilft folglich zur Problematisierung der Grenze zwischen der Literatur und der Geschichtsschreibung, wobei sich die referentielle Brüchigkeit der Literatur als ein „Reflexionsmedium der Verfasstheit und Problematiken historischer Narration“ erweist (Peter 2013, 100). Diese Frage erscheint für Morbus Kitahara von besonderem Interesse, denn der Roman lässt sich als „Nachgedächtnis“ an den Holocaust lesen. Mit diesem Konzept erforscht Marianne Hirsch die erzählerischen Strategien, anhand derer die traumatischen Erinnerungen an den Holocaust von der nächsten Generation zum Ausdruck gebracht werden. Die Erzählungen dieser Generation berufen sich zwar auf keine direkte Erfahrung, gelten aber laut Hirsch als eine bestimmte Form des „Gedächtnisses“ (Hirsch 2008, 111). Dieses Gedächtnis veranschaulicht einen radikalen Bruch mit der psychischen Kontinuität im Seelenleben der Generationen aufgrund des Kriegstraumas. Hirsch behauptet: The structure of postmemory clarifies how the multiple ruptures and radical breaks introduced by trauma and catastrophe inflect intra-, inter- and trans-generational inheritance. It breaks through and complicates the line […] connecting individual to family, to social group, to institutionalized historical archive. That archive, in the case of traumatic interruption, exile, and diaspora, has lost its direct link to the past, has forfeited the embodied connections that forge community and society. (Hirsch 2008, 111)
Der Verlust einer direkten Beziehung zur Vergangenheit offenbart sich in Morbus Kitahara nicht zuletzt in der unerwarteten Verwendung von Archivdokumenten aus der ehemaligen Granitsteinbruchverwaltung des „steinerden Meers“. Die Einwohner von „Moor“ möchten die Vergangenheit vergessen. Für sie erfindet aber der Major Elliot neue „Rituale der Erinnerung“, anstatt „den Dingen ihren Lauf und die Schrecken der Kriegsjahre allmählich blass und undeutlich werden zu lassen“ (Ransmayr 2017, 46). Anhand von Dokumenten der damaligen Lagerverwaltung wird die Geschichte des Barackenlagers am Schotterwerk belegt – und belebt: Die alten Photographien von den Lagerhäftlingen verwendet Major Elliott zur Inszenierung von „gespenstischen Massen-
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szenen“, in denen die „Moorer“ Eingeborenen unter dem Befehl von Elliott die Rolle der Zwangsarbeiter spielen müssen (Ransmayr 2017, 47). In „gestreiften Drillichanzügen mit aufgenähten Nationalitätsabzeichen, Erkennungswinkeln und Davidsternen“ kostümiert, müssen sie „vor einem ungeheuren Granitblock mit Hammer, Keilen und Brechstangen posieren – und mußten vor den Grundmauern der zerstörten Baracken zu ebensolchen Zählschlappen antreten, wie Elliot sie in seinem Album abgebildet sah“ (Ransmayr 2017, 47–48).
4 Die Moorlandschaft und das „bodylandscape“ In der Phänomenologie der Wahrnehmung behauptet Maurice Merleau-Ponty, der Leib erstrecke sich in einer metaphorischen Weise bis zum Horizont des Sichtbaren und Fühlbaren. Den Leib erklärt er als eine „sinnliche Masse“, die sich „mit der Masse des Empfindbaren“ vereinigt (Merleau-Ponty 1964, 123). Da das Denken über die Welt sich von der Welt umgegeben findet, erscheint das Wahrnehmen als eine Weise des Welterfahrens (Schürmann 2005, 273). Subjekt und Objekt seien daher untrennbar: Der Leib sei „unser Ankerplatz in der Welt“ (Merleau-Ponty 1964, 124). Eine phänomenologische Sicht vertritt auch Augustin Berque. Seine Erkenntnistheorie beruft er auf die Behauptung, es gebe zwischen Subjekt und Objekt keine Dichotomie: Vielmehr würden sich die Menschen und die Umwelt gegenseitig beeinflussen (Berque 2004, 388). Diese Wechselbeziehung heißt „médiance“ (Wetzel 2019, 167). Das Wort kommt vom Lateinischen „medietas“ und definiert die unmittelbare Relation des Leibs zum ihn umgebenden Milieu: „Ce terme de médiance […] signifie que notre être est constitué de deux moitiés indissociables […] dont l’une est notre corps (individuel), et l’autre notre milieu (collectif)“ erklärt Berque (Berque 2004, 394). So interagiert der Leib mit dem historischen und medialen Kontext seiner Gemeinschaft (Berque 2004, 398). Indem sie das Zusammenspiel vom Leib und Raum deutlich macht, erweist sich die Landschaft als die symbolische Dimension des „Milieus“. Die Landschaft definiert daher auch die gefühlsbestimmten und physischen Erlebnisse der Räumlichkeit (Meschiari 2008, 126). Mit anderen Worten lebt die Landschaft „nicht nur durch das in ihr Sichtbare“, sondern „ebenso durch die Gestalten, die in ihr unsichtbar […] anwesend sind, ob sie nun aus Büchern, Bildern, Erinnerung oder Überlieferung stammen; das Vergangene, Erfundene oder Wirkliche gilt hier gleich viel“ (Tumler in: Wagner 2011, 55). Das Vergangene spiegelt sich eben in der Landschaft „Moor“. Denn schon ihr Name betont, dass man vor der Vergangenheit nicht fliehen kann. Dass in
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einem Moor das Wasser nicht abfließt, veranschaulicht die Unmöglichkeit eines Auswegs aus der Geschichte. „Jeder Kiesel dieser Ladung, […] erinnerte an die Unwegsamkeit und Abgeschiedenheit Moors […] und an seine Güterwege und Schlammstraßen, an denen kein Fortkommen war“, denkt Bering verbissen (Ransmayr 2017, 226). In „Moor“ steht die Zeit still oder sie läuft „rückwärts“ (Ransmayr 2017, 150). Die Moorer wissen allzu gut, dass bei ihnen das „Neue“ letztlich „immer nur das Alte“ sei und bleibe (Ransmayr 2017, 231). Die phänomenologische Relation der Landschaft von „Moor“ zum Leib veranschaulicht das englische Wort für „nochmals, mehr“, „more“, mit dem Lily und Bering um ein Dacapo des Songs der Rockband des „General Pattons“ bitten (Ransmayr 2017, 170). In der Gebärdenmetaphorik des Rockkonzertes ist eine unbewusste Wiederholung des Vergangenen dort zu vermuten, als Lily die Arme von Bering hochreißt und seine Handgelenke nicht loslässt (Ransmayr 2017, 170). Bering denkt in diesem Moment an Ambras, denn „tänzerisch leicht und hoch über den Kopf, wie in dieser Nacht Bering und Lily mit Tausend anderen Begeisterten ihre Arme zu einem einzigen wehenden Feld erhoben, würde [er] seine Arme niemals mehr erheben können“ (Ransmayr 2017, 174). Daniela Henke vermutet, dass Ransmayr eine „body-narration“ in Morbus Kitahara entfaltet, um das Trauma des Vergangenen darzustellen: „By this I mean a narrative style which is characterized by the representation of physical processes, physical movements and choreographies of action“ (Henke 2021, 61). Sie unterstreicht, dass Ransmayr den Leib als ein metaphorisches Speichermittel des kollektiven Gedächtnisses und der Geschichte in Morbus Kitahara versteht (Henke 2020, 58). Die Beziehung zwischen dem phänomenologischen Konzept des „Leibs“ und der metaphorischen Moorlandschaft des Romans lässt sich anhand des Begriffs von „bodyscape“ verstehen. Den Begriff prägt der Kunsthistoriker Nicholas Mirzoeff, um die Ästhetik der Körperdarstellung aus einer semiotischen Perspektive zu erforschen. Er argumentiert: In representations, the body appears not as itself, but as a sign. It cannot but represent both itself and a range of metaphorical meanings, which the artist cannot fully control, but only seeks to limit by the use of context, framing and style. This complex of signs is what I shall call the bodyscape (Mirzoeff 1995, 3).
Sich auf die Theorie von Elisabeth Grosz berufend, bezeichnet Mirzoeff daher den Leib als eine konkrete Organisation von Organen, Nerven, Fleisch, Muskeln und Skelett, die erst der soziale Diskurs als ein Ganzes strukturiert (Mirzoeff 1995, 21). Deswegen kann man von einem „offenen“ Leib sprechen (Mirzoeff 1995, 21).
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Die Beschreibung des Denkmals für die Opfer des Zwangslagers von „Moor“ macht die Offenheit des Leibs deutlich. Dass die Vergangenheit in „Moor“ „noch lange nicht vergangen“ sei (Ransmayr 2017, 178), hängt auch von der Bestrafungspolitik des Generals Stellamours ab. Die amerikanische Besatzung betrachtet „Moor“ als eine Bühne, auf der Re-Education-Maßnahmen inszeniert werden sollten. So wird die Gebirgskette des „steinernen Meers“ anlässlich der „Stellamours-Partys“ (Ransmayr 2017, 41) zum „Hintergrund aller Erinnerungen“ (Ransmayr 2017, 147) an die Folterungen und Gräueltaten der Nationalsozialisten. Sogar die Wände des Granitsteinbruchs von „Moor“ werden zum „Denkmal“ für die Opfer des ehemaligen Zwangslagers am steinernen Meer. Die Inschrift des Denkmals lautet: Hier liegen elftausendneunhundertdreiundsiebzig Tote erschlagen von den Eingeborenen dieses Landes (Ransmayr 2017, 35).
Obwohl Ransmayr schreibt, dass die Buchstaben der Inschrift an „Menschen“ erinnern (Ransmayr 2017, 35), stellt er sofort klar, dass diese Menschen bald den „verschollenen Soldaten“ von „Moor“, bald den „Kolonnen der Zwangsarbeiter beim Zählappel“ und den „Sieger[n] unter den gehissten Flaggen ihres Triumphes“ vergleichbar sind (Ransmayr 2017, 36). Die vieldeutige Bedeutung der Inschrift und der dort versinnbildlichten Leiber enthüllt die Rolle des kulturellen Kontexts in der Ausdeutung des „Leibs“. Das Offenbleiben des hermeneutischen Horizonts der Inschrift inszeniert zugleich die kennzeichnende Mehrdeutigkeit der Denkmäler: „monumental work […] has a horizon of meaning: a specific or indefinite multiplicity of meanings, a shifting hierarchy, in which now one now another meaning comes momentarily to the fore, by means of – and for the sake of – one particular action“, vermutet Henri Lefebvre (in: Landa 1998, 21). In diesem Sinn verweist das Denkmal zur Erinnerung an die ExHäftlinge des Zwangslagers auf das Schreiben Ransmayrs (Landa 1998, 21), indem es die Vielfalt an ideologischen Positionierungen seines Romans veranschaulicht (Piontek 2015, 114). In Morbus Kitahara sind folglich disparate und unvereinbare Sprecherpositionen bemerkbar, denn Ransmayr lässt die Wirklichkeit des Besiegten und die des Siegers gleichzeitig zu Wort kommen (Piontek 2015, 114).
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5 Multidirektionale Erinnerung, multidirektionales Vergessen Wie schon erwähnt wurde, reflektiert Ransmayr mit Morbus Kitahara über die verschiedenen Geschichtsdiskurse zur Mitschuld und zum Trauma im deutschsprachigen Raum, die ich anhand der Rhizom-Theorie von Deleuze und Guattari thematisiere. Deleuzes und Guattaris Konzept des Rhizoms kommt aus der Botanik. Dort definiert das Wort einen Spross, dessen oberirdische Komplexe wieder abwärts wachsen und im Erdreich neue Wurzeln bilden können: Das Rhizom hat weder Anfang noch Ende (Deleuze, Guattari 1992, 41). Daher fungiert es als Gegenbild zur Metapher des „Baums des Wissens“, die sich seit Platon als ein beliebtes Denkmuster des philosophischen Diskurses erweist: Die rhizomartigen Verhältnisse entsprechen am ehesten der dezentralen und unhierarchischen Ordnung des modernen Wissens (Deleuze, Guattari 1992, 42). Der Genealogie Foucaults ähnlich, erscheint das Rhizom als ein Mittel, um der Heterogenität des Gegenwärtigen gerecht zu werden (Sprick 2017, 35). Diese Annäherung bietet hier den spekulativen Kontext des Begriffs der „multidirektionalen Erinnerung“ an, der in den komparatistischen Forschungsfeldern der Holocaust-Studies und des Postkolonialismus entstanden ist. Das Konzept prägt Michel Rothberg in seiner Polemik gegen die Annahme, dass die Erinnerung durch eine „Logik des Nullsummenspiels“ bestimmt werde (Axster, König, Rothberg 2021, 11). Das würde bedeuten, dass die Erinnerung an die Shoah die Erinnerung an andere Geschichten in der öffentlichen Sphäre verhindern würde – und umgekehrt (Axster, König, Rothberg 2021, 11). Die Erinnerung ist jedoch für Rothberg nicht kompetitiv, sondern sie funktioniert durch „Vergleiche, Analogien, Aneignungen und Nachhallen“ (Axster, König, Rothberg 2021, 11). Diese Annäherung berücksichtigt die komplexen Wechselbeziehungen der globalisierten Gesellschaft, denn, so behauptet Rothberg: unsere Welt besteht aus zahlreichen, zum Teil andauernden Brüchen, die gegenwärtig die Zukunft des menschlichen und nicht-menschlichen Lebens auf unserem Planeten bedrohen. Um uns diesen Problemen zu stellen, müssen wir meiner Meinung nach eine multidirektionale Perspektive entwickeln, die die zahlreichen Implikationen offenbart, in denen wir gefangen sind. Der Rückzug auf sakralisierte Diskurse der Einzigartigkeit wird uns wenig helfen, den Gefahren für unser aller Welt zu begegnen. (Axster, König, Rothberg 2021, 16)
Die multidirektionale Erinnerung bietet neue Wege in den Holocaust-Studies, da sie die Beziehung der Erinnerung zur Identität hinterfragt (Axster, König,
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Rothberg 2021, 16). Auch Morbus Kitahara stellt die Frage danach, ob es je eine Normalität zwischen Juden und Nicht-Juden in Österreich und Deutschland geben könne, und zwar mit Blick auf „kommende, perspektivische Linien“ (Ransmayr 2014, 96). In einer ähnlichen Weise eröffnet die Thematisierung des Holocausts in Morbus Kitahara neue Bedeutungen des Erinnerns: „Erinnern […] um nicht zu vergessen, wozu unsereins unter Umständen fähig ist. Diese Umstände sind ja nicht bequemerweise für immer in der Vergangenheit begraben, sondern erwarten uns möglicherweise in der Zukunft“, sagt Ransmayr im Interview Das Menschenmögliche zur Sprache zu bringen (Wilke 2014, 96). Mit Morbus Kitahara zielt er auf eine Inszenierung der Beschaffenheit der deutschen und österreichischen Opferdiskurse ab (Piontek 2017, 187), so verweist im Roman die Beschreibung der Tätergruppe (der „Moorer“ Eingeborenen) als Opfergruppe (der Ex-Häftlingen des Zwangslagers) auf den nationalen Mythos, Österreich sei das erste „Opfer“ der Nationalsozialisten gewesen. So bemerkt der Erzähler beispielsweise, dass der Zug, mit dem die freigelassenen Gefangenen der Amerikaner nach Kriegsende in „Moor“ ankommen, aus Viehwaggons besteht, wie diejenigen, die zuvor mit „Zwangsarbeitern und Feinden“ gefüllt waren (Ransmayr 2017, 25). „Der gleiche Gestank, als die Schiebetüren endlich offenstanden. Nur hatten diesmal keine uniformierten, schwerbewaffneten Aufseher und keine brüllende Feldpolizei an den Bahndämmen Stellung bezogen“ (Ransmayr 2017, 25). Ein Beispiel der multidirektionalen Erinnerung sind die phantasmatischen Gestalten aus der Vergangenheit und aus dem traumatischen Verdrängten des Holocausts, die Bering in den Skotomen in seinem Gesichtsfeld sieht: […] an manchen Tagen gelang es ihm sogar, ohne daß er sich dessen bewusst wurde, das fehlende, von diesem blinden Flecken verdunkelte Fragment seiner Welt zu ergänzen – und sah dann einen Hundeschädel, sah einen Stein, eine Strähne von Lilys Haar oder unter Ambras Lupe die Wachstumskanäle eines Smaragds, wo in Wahrheit nur Dunkelheit war. (Ransmayr 2017, 195)
Aus seiner Ergänzungsstrategie ergibt sich eine Fantasterei, deren Bilder eine bestimmte Beziehung zum Vergangenen veranschaulichen. Zwar glaubt Bering, in den Flecken seiner Augen eine „Strähne von Lilys Haar“ sehen zu können, er verwechselt aber Lily mit der Geliebten von Ambras. Auf ihn, den „Hundekönig“, verweisen der „Hundeschädel“ und die im Zitat erwähnte Haarsträhne. Das geschnittene Haar gilt seit der Todesfuge als ein relevanter Topos der Holocaustliteratur. Zumal Ambras Bering erzählt, dass er so schwarze Haare wie die seiner Geliebten erst wieder „im Lager gesehen [hatte], in einer Halle, in der
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abgeschnittene Zöpfe, Locken und Büschel lagen, zu einem Haufen zusammengeworfen, in Leinensäcke gestopft“ (Ransmayr 2017, 216). Erscheint im Roman die Erinnerung als rhizomartig, so könnte man sich fragen, was für Strategien des Vergessens dort durch die Moorlandschaft inszeniert werden. Im kurzen Essay An Ars Oblivionalis? Forget it! wirft Umberto Eco die Frage nach einer Kunst des Vergessens auf. Als eine Mnemotechnik betrachtet er die Semiotik, weil sie Bilder (lexikalische Einheiten) mit metaphorischen Orten verbindet (Eco, Migiel 1988, 255). Er kommt dann zu dem Ergebnis, dass eine Mnemotechnik des Vergessens schon deswegen unvorstellbar sei, weil die semiotischen Zeichen Anwesenheiten und nicht Abwesenheiten darstellen: „If one did, the ars oblivionalis would also be a semiotics, and it is proper to a semiotics to make present something absent. Language-like all semiotic systemshas the ability to render present what is not present.“ (Eco, Migiel 1988, 258). Man könne zwar von einzelnen Techniken des Vergessens sprechen – eine gezielte Kunst des Vergessens stehe jedoch außer Frage. „One forgets not […] by producing absence but by multiplying presences. And this explains why the authors of the treatises on memory feared that one might remember so much as to confuse one’s ideas and, therefore, for all practical purposes, to forget“, vermutet Eco (Eco, Migiel 1988, 260). So etwas passiert eben in „Moor“, dessen Einwohner sich oft wünschen, dass „endlich wieder alles werden könnte, wie es vor dem Krieg gewesen war“ (Ransmayr 2017, 68). So taufen sie den neuen Dampfer auf denselben Namen wie den alten, der seit Jahren „gut sichtbar beim ruhigen Wasser und Windstille“ am Seegrund liegt: „Die schlafende Griechin“. Mit jeder Fahrt der neuen „Griechin“ ist es aber, als ob ihre Schaufelräder, Schraube und Ruderblatt „nicht bloß den Sand und Schlick des Grundes aufwirbelten und die Sicht trübten, sondern das Vergessen selbst“ (Ransmayr 2017, 93). So führt die Vergegenwärtigung des Vergangenen zum Vergessen: Auch die Erinnerungsrituale von „Moor“ haben die Erinnerung an das Geschehen ausgelöscht, so dass Bering sogar glaubt, „die Gefangenen des Barackenlagers hätten niemals […] ein eigenes Gesicht gehabt als die starren Züge jener Toten, die man auf den Plakaten der Armee nackt und aufeinandergeworfen vor den Baracken […] liegen sah“ (Ransmayr 2017, 178). Die Überlegung von Eco bietet einen interessanten Ansatz zur Analyse der metaphorischen Bedeutung von Begräbnisstätten: Indem die Gräber einen Ort und einen Objektcharakter haben, dienen sie als Erinnerungszeichen (Burmeister 2008, 436). Die semiotische Triade von Signifikant (eine erkennbare Grabanlage), Signifikat (die Vorstellung eines Ahnen) und Referenz (d. h. die Beziehung auf alle Grabanlagen) bricht jedoch das Moor als Begräbnisstätte (Burmeister 2008, 439). Das scheint auch der Fall in Ransmayrs Roman zu sein,
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in dem „Moor“ als eine „kontaminierte Landschaft“ als ein Ort des Vergessens dargestellt wird. Als „kontaminierte Landschaften“ bezeichnet der österreichische Journalist und Schriftsteller Martin Pollack die „Landschaften, die Orte massenhaften Tötens waren, das jedoch im Verborgenen verübt wurde, den Blicken der Umwelt entzogen, oft unter strenger Geheimhaltung“ (Pollack 2014, 20). Mit verschiedenen Orten kommen, wie Pollack bemerkt, unterschiedliche Täter und Opfer ins Spiel: Massengräber befinden sich in Babyn Jar, wo die SS mehr als 30.000 Juden erschossen hat, in Katyń, wo die Russen Tausende von polnischen Offizieren ermordeten, in Slowenien und in anderen, vielleicht hunderten Orten in Ost- und Mitteleuropa (Pollack 2014, 26). Die Frage dreht sich aber immer darum, wie Menschen in solchen Landschaften leben, in denen Menschen namenlos verscharrt wurden (Pollack 2014, 27). Diese Frage kehrt in einer impliziten Weise in Morbus Kitahara wieder. Das „rote Band“ des Mohns thematisiert laut Piontek die Kontaminierung der Landschaft durch die versteckten Massengräber der ermordeten Juden (Piontek 2017, 185). Mohn verweist deutlich auf das Blut: auf den Opfertod von Celina – der Mohn ist übrigens das nationale Symbol Polens –, auf die „Maske aus geronnen Blut“, mit der Ambras in einer Zelle aufwacht, nachdem er von der NS-Truppen brutal verprügelt wurde (Ransmayr 2017, 218). Aber selbst die anorganische Natur der Gebirge scheint das menschliche Blut aufgesogen zu haben, denn die Steine sehen in der Wahrnehmung Berings so „glanzlos wie geronnene Blutstropfen“ aus (Ransmayr 2017, 206). Der Klatschmohn, der im Frühling auf den Feldern von „Moor“ wächst und von dessen Blüten die „Kartoffel- und Krautäcker, die steilsten Rieden […] rot gesprenkelt, rot gesäumt, rot durchwachsen“ waren (Ransmayr 2017, 134), veranschaulicht andererseits die Motivik des Vergessens. Auf der einen Seite versteht Berings Mutter die Blüte des Klatschmohns als ein Zeichen des Zorns der Madonna gegen ihren Sohn, der sich an ihr versündigt habe, als er einen Menschen erschoss (Ransmayr 2017, 134). Auf der anderen Seite weist der Mohn auf die Titel der Sammlung Mohn und Gedächtnis von Paul Celan hin, in der die Blume eben für das Vergessen stand. Dass „Moor“ im Frühling von Mohn überwachsen wird, verweist in diesem Sinn darauf, dass Nationalsozialisten die Sümpfe als den geeignetsten Ort für die körperliche Ausbeutung der Juden betrachteten, um sie dann in den Sümpfen verschwinden zu lassen (Pollack 2014, 59). Die unbekannten Opfer der Massenermordungen des letzten Jahrhunderts dem Vergessen zu entreißen, heißt laut Pollack die Aufgabe der Geschichte (Pollack 2014, 43). Sie muss sich ein Bild der kontaminierten Landschaften von Europa anhand der modernen Technik der forensischen und der Holocaust-
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Archäologie machen (Pollack 2014, 106) und die Widerstände der Menschen überwinden, die in „kontaminierten Landschaften“ ruhig leben wollen (Pollack 2014, 108). Im Allgemeinen wird das Vergessen im Roman als ein metaphorisches „Versinken“ stilisiert. Je mehr die Erinnerung an den Krieg verblasst, desto tiefer scheint sie „mit seinem Toten von Jahr zu Jahr […] in die Erde“ zu „sinken“ (Ransmayr 2017, 13). Auch die „verjährten Ehrenzeichen, Orden und Heldenbüsten“ der Nationalsozialisten sinken mit dem endgültigen Sieg der Alliierten „in Fahnen und abgestreifte Uniformen gewickelt, zum Grund von Jauchengruben hinab“ (Ransmayr 2017, 16), ebenso wie gerostete Maschinen, die „in den weichen Grund“ eintauchen (Ransmayr 2017, 54). Selbst „die Zeiger der großen Uhr am Dampfersteg klirrten eines Morgens vom Zifferblatt und versanken im See“ (Ransmayr 2017, 230). So spielt die Darstellung des kulturellen Gedächtnisses von „Moor“ ironisch auf den Volksglauben an, man könne im Schlamm der Moore versinken und vergessen werden. „Moor“ stellt Ransmayr überdies als eine kontaminierte Landschaft dar, in der die Erinnerung keinen richtigen Platz findet. Lily zeigt Bering während der Reise ins Tiefland einen „Dolinenfriedhof, in dessen Schächte die Toten einer Flüchtlingskolonne geworfen worden seien, die während der letzten Kriegswochen den verminten Talstraßen auf der gleichen Route ausweichen wollte, auf der auch sie sich befanden“ (Ransmayr 2017, 297). Am klarsten offenbart sich jedoch die Kontaminierung der Landschaft in der Augenkrankheit, an der Bering im Roman leidet. Mit dem „Morbus Kitahara“ verweist Ransmayr auf die Augenentzündung Chorioretinitis centralis, eine Entzündung der Netzhaut und der Aderhaut, an der er selbst erkrankte (Landa 1998, 137). Die Entzündung hat unterschiedliche Krankheitsverläufe und entwickelt sich manchmal zur Blindheit. Im Roman genest Bering von der Krankheit, deren erste Symptome er als einen „durchlöcherten Blick“ erlebt (Ransmayr 2017, 195). Der Grund, warum sich Ransmayr für diese Krankheit interessiert, hat mit seiner Vorliebe für die Metaphorik der Verwandlung zu tun. Wie der Erstlingsroman Die letzte Welt bezeugt, so gilt für ihn die Verwandlung nicht nur als beliebtes Thema, sondern auch als Grundprinzip seiner Schreibweise (Bombitz 2011, 91). In diesem Sinn offenbart die Sehstörung Berings ein „Umsehen der Dinge“, anhand dessen Ransmayr die Räumlichkeit in Morbus Kitahara darstellt (Landa 1998, 140). Schon bevor er vom Augenarzt Doc untersucht wird, erahnt Bering die psychosomatische Natur seiner Sehstörung. Nachdem er seine Mutter „in einem Loch begraben hat, so schwarz und grundlos wie die Tiefe der Erde selbst, klafft in seinem Blick nicht bloß ein Loch […], sondern wie ein Spiegelbild dieser
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Lehmgrube auch ein zweites“ (Ransmayr 2017, 268). Zum einen bestätigt das Zitat, dass bei Ransmayr die „schwarzen Flecken“ Sinnbilder für Verlust und Verschwinden sind (Cook 1997, 194). Zum anderen funktioniert die „Lehmgrube“ als ein „Spiegelbild“ des Moores. An Moore und Sümpfe erinnern die aufgelassenen Lehmgruben, wenn sie sich mit Grundwasser füllen. Der Fleck in Berings Blickfeld ist daher wortwörtlich – zum Moor geworden.
6 Das Bergerhabene: Der Wirbel Das Erhabene definiert den Versuch des Menschen, sich durch den Kampf mit der wilden, ungezähmten Natur zu definieren (Bodei 2018, 18). Als „erhaben“ wurden daher die Landschaften empfunden, in denen der Wanderer feierliche Naturpanoramen genießen könne (Bodei 2018, 75). Da ästhetische Urteile jedoch von der jeweiligen Kultur abhängen, spricht die Ästhetik des Erhabenen auch von der Geschichte der Auseinandersetzung mit der Berglandschaft. Sie wird oft mit der Entdeckung der Alpen parallelisiert und beginnt bekanntlich in der Schweiz mit dem Alpenpoem von Albrecht von Haller und der englischen Grand Tour (Bodei 2018, 76). Unverzichtbare Ansätze zur Definition des Erhabenen sind die Theorien von Immanuel Kant und Jean-François Lyotard. So wie es Hoffmann zurecht betont, bilden Naturgegenstände den Ausgangspunkt der Unterscheidung zwischen dem Schönen und dem Erhabenen in den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von Immanuel Kant (1764). Für Kant sieht, so Hoffmann, die schöne Natur „fröhlich und lächerlich“ aus, während die erhabene ein „Wohlgefallen mit Grausen“ erfüllt (Hoffmann 2012, 22). Die Analytik des Erhabenen (1790) setzt die Debatte um die Differenz zwischen Schönem und Erhabenem fort: Der Grund des Schönen liege nach Kant außer uns, während der des Erhabenen in uns gesucht werden müsse (Hoffmann 2006, 25). Das Erhabene wird daher in das Subjekt verlagert, wobei es nochmals bedrohliche, wilde Naturszenerien sind, welche die erhabenen Gefühle in der Kritik der Urteilskraft (1790) auslösen, wie die „kühn überhängenden gleichsam drohenden Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, […] Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt“ (Kant 1922, 107). Lust entsteht dort aus dem Bewusstwerden der eigenen Überlegenheit über die Natur. An die Definition knüpft Lyotard in seiner Analytik des Erhabenen an, wenn er das Erhabene einen „Abgrund zwischen den Vermögen“ nennt: Das Erhabene markiert die Unmöglichkeit der Einbildungskraft, die Vernunftidee zu gestalten (Hoffmann 2006, 34). Da die Idee der Vernunft an das Undarstellbare des Absoluten anschließt und
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sich dagegen die Einbildungskraft am Darstellbaren orientiert, ist der Konfliktfall der zwei Vermögen nicht aufzulösen (Hoffmann 2006, 35). Das Erhabene beschreibt Lyotard daher als „das Kind der unglückseligen Begegnung von Idee und Form“ (Lyotard 1989, 201). Unglückselig, „weil sich diese Idee so wenig konzessionsbereit, das Gesetz (der Vater) so autoritär, so bedingungslos, die Rücksicht, die es fordert, so ausschließlich zeigt, dass es diesem Vater egal ist, ob er mit der Einbildungskraft zu irgendeiner Übereinkunft kommt“ (Lyotard 1989, 201). Um das Erhabene in der Poetik Ransmayrs zu erforschen, beruft sich Torsten Hoffmann auf ein Essay von Hans Graubner, Rilkes Christus und das Erhabene der Zeit (2003). Ransmayr habe, wie Hoffmann behauptet, die WirbelMotivik des Erhabenen von Rilke in einem nachmodernen Kontext weiter entfaltet (Hoffmann 2006, 304). Laut Graubner reflektiert Rilke über die Verwandtschaft zwischen Erhabenen und Schönen in seiner späten Poetik, indem er Metaphern und Bilder zu vermitteln versucht, in denen sich gleichzeitig der Zeitcharakter des Schönen (die Ruhe und Stille) und der Schrecken des Erhabenen (die Vergänglichkeit des Lebens) offenbaren würden (Graubner 2003, 593). Eine erhabene Metapher sei in dieser Hinsicht der Wirbel: Alles an ihm ist Bewegung in der Zeit. Trotzdem läßt gerade die Beschleunigung der Bewegung in der Rotation etwas Ruhendes erblicken, das die Bewegung aufzuheben scheint. So kann ein Wirbel der Doppelgestalt des Erhabenen eine treffende anschauliche Verdichtung geben, indem sie den Schrecken der offenen Zeit mit dem schönen Schein eines kurzen Aufenthalts vor dem Eintritt ins Vergehen vereinigt. (Graubner 2003, 593–594)
Die Wirbelmetaphorik kehrt auch in Morbus Kitahara als eine Figuration des Erhabenen wieder. So bildet das erhabene Schauspiel der Sprengung eines Waffendepots in den Gebirgen des Steinernen Meers eine Variation der Wirbelmotivik Rilkes. Bering beschreibt die Szene wie folgt: In einem einzigen Augenblick wächst eine Kuppel hoch über das weiße Land hinaus, ein Feuergebäude, eine Festung aus Flammen. […] Wie ein Schwarm erschreckter Vögel schwirren dieser Flut Bruchholz und Gesteinssplitter voran. Eisbrocken, Klumpen gefrorener Erde, Steine, alles, was eben noch kalt und unverrückbar zusammengefügt schien, springt und wirbelt jetzt federleicht und wie befreit von der Schwerkraft hinaus in den Raum. (Ransmayr 2017, 253)
Die Stelle verweist einerseits auf die Kant’sche Ästhetik des Erhabenen. Das Naturschauspiel thematisiert das freie (und schreckliche) Spiel der Naturelemente, die, von aller Schwerkraft befreit, durch die Luft fliegen. Andererseits kann von dem Bewusstwerden einer Überlegenheit des Menschen über die Natur nicht die Rede sein. Bering identifiziert sich mit der Natur und bemerkt, dass
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das Loch in seiner Welt vielleicht „nur der lächerliche Fetzen einer größeren Dunkelheit war, nur einer von unzähligen blinden Flecken, die ihn umwirbeln und über ihn zusammenschließen zu einem einzigen Abgrund“ (Ransmayr 2017, 254). Man könnte zwar behaupten, dass diese Unmöglichkeit, sich von der Natur zu distanzieren ein Zeichen des „ökologischen Erhabenen“ offenbart. Mit dem Begriff meint Christopher Hitt, dass das Erhabene dem Menschen seine Eitelkeit bewusst macht und dadurch von ihm ein Gefühl der Demut vor den Naturkräften fordert (Hitt 1999, 609). Er führt dazu aus: „There will always be limits to our knowledge, and nature will always be, finally, impenetrable. An ecological sublime would remind us of this lesson by restoring the wonder, the inaccessibility of wild nature.“ (Hitt 1999, 620). Die als erhaben dargestellte Natur erscheint aber in Morbus Kitahara schon dadurch verfremdet, dass sie zum Spielraum einer zerstörerischen Technik geworden ist. Die Tatsache, dass „das ganze Ufer, die Dörfer bis hinauf nach Eisenau, die Rübenäcker und Weinrieden“ am Ende des Romans zum „Operationsgebiet für Bomber und Panzerverbände“ werden (Ransmayr 2017, 285), ist wohl ein ironischer Hinweis auf Leslie Stephens schwärmerisches Lob der Alpen als The Playground of Europe (1870). Nein, Bering distanziert sich von der erhabenen Natur nicht, weil der metaphorische Wirbel des Erhabenen ein Sinnbild für die paradoxale Zeitkonstellation des Romans ist. Als erhaben wirkt die Eröffnung eines Möglichkeitshorizonts, der die gleichzeitige Koexistenz von Gegenwart und Vergangenheit für einen Augenblick erlaubt, um sie dann beide auszulöschen.
7 Abschließende Bemerkungen Ein Moor ist weder ein Land noch ein Meer. Und die Gebirge sind, was sie einmal waren: ein verdampfte[s] Meer[], dessen Seegraswiesen, Muschelbänke, Korallenriffe und Abgründe in einem Weltalter jenseits aller Menschenzeit von einer katastrophalen tektonischen Gewalt emporgehoben, den Wolken entgegengestemmt und im Verlauf von Äonen in die Gipfel und Eisfelder eines Gebirges verwandelt worden waren. (Ransmayr 2017, 306)
Moore und Gebirge sind daher im Roman Ransmayrs Zwischenräume, in denen sich Verwandlungen abspielen. Die Feuchtigkeit von „Moor“ hat die „verwahrlosten“ Maschinen verrostet lassen: Nach jeder Reparatur sehen diese „mutierten, wieder und wieder umgebauten“ Maschinen wie „Mißgeburten“ aus (Ransmayr 2017, 233). Im Gesteinslabyrinth des Steinernen Meers verwandelt
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sich „alles Licht in aschgraue Schatten und blaue Schatten und Schatten in den vielen Farben der anorganischen Natur“ (Ransmayr 2017, 34). Moore sind dann leere Landschaften und die Leere, so Ransmayr, ist „schließlich auch Projektionsfläche“: „Nicht zuletzt deswegen sind Bilder wie jenes der Fata Morgana so legendär und zauberisch geworden: Eben da war noch nichts, und plötzlich ist da etwas, vielleicht sogar ein Bild unserer Sehnsucht oder unserer Tagträume […]. Ist das nun Wirklichkeit oder Traum?“, fragt er sich im Interview Das Menschenmögliche zur Sprache bringen (Ransmayr 2017, 64). In einer ähnlichen Weise ist es nicht immer deutlich zu bestimmen, in wieweit der Ortsname „Moor“ mit der geschilderten Landschaft übereinstimmt. Zwar bezeichnet Ransmayr mit „Moor“ eine Bergregion des deutsch-österreichischen Raums, die für den Roman so zentrale Frage des Holocaust-Traumas beruft sich aber auf die Stilisierung der Moorlandschaften als geeigneten Orten der Judenvernichtung während der Nazi-Zeit. In Morbus Kitahara ist daher „Moor“ eine kontaminierte Landschaft: ein ungeheures Massengrab, wo die gesichtslosen Opfer der Massenermordungen des letzten Jahrhunderts liegen.
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Autor*innenverzeichnis Dr. Emanuela Ferragamo ist italienische Germanistin. Sie wurde mit einer Arbeit über die parodistische Poetik Christian Morgensterns promoviert (Paradies Parodie, Königshausen & Neumann, 2021) und arbeitet als Postdoktorandin an der Universität Turin. Laura Ganzmann hat den Master of Education in Deutsch, Französisch und katholischer Theologie sowie den Master of Arts Kulturpoetik der Literatur und Medien an der Universität Münster studiert. Sie arbeitet dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut, Abteilung Literatur- und Mediendidaktik, im QLB-Teilprojekt Textverstehen im Fach mit dem Forschungsschwerpunkt: Fachspezifisches Textverstehen im Literaturunterricht. Annika Hammer, M. Ed. Germanistik/Biologie, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität EichstättIngolstadt. In ihrer Promotion im Forschungsfeld des Ecocriticism beschäftigt sie sich mit subtilen Störungen in der Lyrik nach 1945. Dr. Isabel von Holt ist Visiting Assistant Professor am Department of German der Northwestern University. Sie hat Neuere deutsche Literatur und Lateinamerikanistik an der Freien Universität Berlin und der University of Texas at Austin studiert. Ihr Buch Figurationen des Bösen im barocken Trauerspiel. Eine Studie zu Andreas Gryphius und Daniel Casper von Lohenstein ist 2022 erschienen. Ihr aktuelles Forschungsprojekt trägt den Titel „‚Barocke‘ Bewegungen. Literarische Praxis und Kulturtheorie in Deutschland und Lateinamerika seit 1970“ und untersucht den Dialog, den die moderne und postmoderne Gegenwart mit der frühneuzeitlichen Vergangenheit führt. Dr. Philip Kraut ist seit 2011 Mitglied der Arbeitsstelle Grimm-Briefwechsel (HU Berlin) und wurde 2020, nach Studienabschlüssen in Deutscher Literatur, Geschichte, Philosophie und Historischer Linguistik, mit einer Studie über die wissenschaftlichen Arbeitsmaterialien und Praktiken der Brüder Grimm promoviert, die durch das DFG-Graduiertenkolleg „Literatur- und Wissensgeschichte kleiner Formen“ gefördert wurde. Er ist Mitherausgeber der kritischen Ausgabe des Grimm-Briefwechsels, Mitautor des Digitalen Grimmarchivs und Verfasser von Aufsätzen u. a. zu baltischen und nordischen Studien der Brüder Grimm. Zu seinen Forschungsinteressen zählen die deutsche Literatur des Mittelalters und der Romantik, Editionsphilologie sowie philologische und linguistische Wissenschaftsgeschichte. Dr. Joana van de Löcht wurde nach einem Studium der Assyriologie, Vorderasiatischen Archäologie und Editionswissenschaft an der Universität Heidelberg im Jahr 2018 mit einer Arbeit zu Ernst Jüngers Tagebüchern des Zweiten Weltkriegs promoviert (Aufzeichnungen aus dem Malstrom. Die Genese der ‚Strahlungen‘ aus Ernst Jüngers privaten Tagebüchern, Klostermann 2018.). Darauf aufbauend erarbeitete sie gemeinsam mit Prof. Dr. Helmuth Kiesel eine historisch-kritischen Edition von Jüngers Tagebüchern der Jahre 1939–1948. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt ist die Literatur der frühen Neuzeit. Seit April 2021 ist sie wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Münster mit einem Postdoc-Projekt zur Literatur der Kleinen Eiszeit.
https://doi.org/10.1515/9783110786743-015
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Dr. habil. Erik Martin ist akademischer Mitarbeiter im BMBF-Forschungskolleg „European Times – A Transregional Approach to the Societies of Central and Eastern Europe“ an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Er wurde 2011 mit einer Arbeit zu Formen der Negation bei L. N. Tolstoj an der Eberhard Karls Universität Tübingen promoviert und habilitierte sich 2021 an der Universität Viadrina im Fach Slavische Literaturwissenschaft und AVL mit einer Arbeit zu „Poetologien der Endlichkeit. Kulturelle Ressourcen in der polnischen und russischen Literatur von der Aufklärung bis zur Nachmoderne“. Jonas Meurer ist seit 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, seit 2021 Mitglied der Bamberger Graduiertenschule für Literatur, Kultur und Medien und seit 2022 assoziiertes Mitglied im DFG-Graduiertenkolleg Literatur und Öffentlichkeit in differenten Gegenwartskulturen an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Promotionsprojekt über die Publizität, die Netzwerke und die Rezeption Friedrich Georg Jüngers nach 1945. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: deutschsprachige Literatur um 1800, zwischen 1918 und 1968 sowie der Gegenwart, Literaturpolitik der ‚Neuen Rechten‘ sowie Literatur- und Interpretationstheorien. PD Dr. Niels Penke ist Privatdozent und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Siegen, wo er seit 2015 am Germanistischen Seminar forscht und lehrt. Studium der Germanistik, Skandinavistik und Philosophie sowie Promotion (2012) in Göttingen, Habilitation 2022 in Siegen. Momentane Forschungsschwerpunkte sind die Theorie und Geschichte des Populären, Fantasy-Literatur, der Harz als NaturKultur-Landschaft und seine literarischen Verarbeitungen. Aktuelle Veröffentlichungen: Instapoetry. Digitale Bild-Texte (2022); Bilder des Nordens in der Populärkultur (Hg., 2021); Populäre Kulturen zur Einführung (2018, mit Matthias Schaffrick). Dr. Lesley Penné ist pädagogische und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Programm Sprache und Literatur an der Vrije Universiteit Brussel, wo sie Mitglied der Forschungsgruppe Centre for Literary and Intermedial Crossings ist. Sie verteidigte ihre Dissertation über Heimat und Erinnerungskultur in ostbelgischen Gegenwartsromanen. Ihre Forschungsinteressen konzentrieren sich auf die Konzepte Heimat, Erinnerung, Identität, europäische Grenzregionen, deutschsprachige Minderheitenliteratur und Mehrsprachigkeit in der Literatur. Prof. Dr. Friederike Reents ist Lehrstuhlinhaberin am Institut für Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Sie wurde promoviert mit einer Arbeit über Gottfried Benn und habilitierte sich mit einer Studie zur Stimmungsästhetik (vom 17.-21. Jahrhundert). Schwerpunkte ihrer Forschungstätigkeit sind Poetik und Ästhetik im 20. und 21. Jahrhundert, besonders die Lyrik der Gegenwart und Environmental Humanities. Dr. Laura M. Reiling studierte Komparatistik, Politikwissenschaft sowie Psychologie an der FU Berlin und an den Universitäten Zürich und Münster. Sie promovierte, gefördert durch die Studienstiftung des deutschen Volkes, in Münster und Köln zum Thema Raum- und Wissenspraktiken in gegenwärtigen Universitätserzählungen (transcript 2021). Derzeit ist sie Referentin für Wissenschaftskommunikation und Mit-Herausgeberin des literaturwissenschaftlichen Journals Textpraxis. Zuletzt erschien von ihr der Sammelband Vögel aus Federn. Verschriftlichungen des Vogels seit 1800 (Metzler 2022).
Autor*innenverzeichnis | 321
Dr. Hedwig Roderfeld hat an den Universitäten Bonn und Göttingen Geographie studiert und 1992 eine moorkundliche Dissertation angefertigt. 1993–1994 hat sie als Postdoc an der Universität Helsinki zum Einfluss des Torfabbaus auf die Kohlenstoffakkumulation von Moorökosystemen in Finnland gearbeitet. Seit 1996 ist sie an der Universität Münster in Projekten zur Klimafolgenforschung und im Wissenschaftsmanagement tätig. Seit 2019 ist sie Referentin für Transfermaßnahmen im Prorektorat der Universität Münster. Antje Schmidt ist Doktorandin der Germanistik und derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsprojekt „ProfaLe“ an der Universität Hamburg. Ihr Dissertationsprojekt widmet sich der Transformation barocker Vanitas-Motivik in der deutschsprachigen Gegenwartslyrik. Weitere Forschungsschwerpunkte: Literatur und Botanik, Insekten in der Literatur, Lyrikologie, poetologische Lyrik, Kinder- und Jugendlyrik. Prof. Dr. Arvi Sepp ist Professor für literarische Übersetzung und deutsche Kulturwissenschaften an der Vrije Universiteit Brussel und Research Fellow am Institut für Jüdische Studien der Universität Antwerpen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Minderheitenliteratur, deutschjüdische autobiographische Literatur und mehrsprachige Literatur im Kontext von Exil und Migration. Darüber hinaus beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Ideologie und Ästhetik in der deutschen Literatur. Dr. Jule Thiemann absolvierte eine Doppelpromotion an der Universität Hamburg und der Macquarie University Sydney (2016–2019) zu Verfahren der Flanerie in der postmigrantischen Gegenwartsliteratur. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Postmigration, Urban Humanities, Ecocriticism und Nature Writing. Sie ist Mitbegründerin und Koordinatorin des Forschungsnetzwerks „Widerständige Praxen. Postmigration in Literatur, Medien und Sprache der Gegenwart“ (Universität Hamburg).
Personenregister Abbey, Edward 279 Abel, Susanne 221, 235 Adam von Bremen 64 Adelung, Johann Christoph 10, 53, 56ff., 60ff., 70, 80 Anderer, Hannes 12, 179f., 188ff. Angelus Silesius (Johannes Scheffler) 46, 50 Arcos-Palma, Ricardo Javier 89 Atkins, William 1, 34, 47f., 50, 86 Atwood, Margaret 298 Bachtin, Michail 8, 127 Bacon, Francis 35, 89 Barros, Manoel de 158f., 161, 164, 166, 168, 176f. Barthes, Roland 184 Bataille, Georges 119ff. Benecke, Georg Friedrich 54 Benn, Gottfried 220, 229 Berque, Augustin 304 Beyer, Marcel 12f., 219, 222f., 229f., 233ff. Blackbourn, David 5, 141 Blumenbach, Johann Friedrich 47, 50 Blumenberg, Hans 41, 50, 282, 291 Boner, Ulrich 76 Bopp, Franz 58 Borges, Jorge Luis 279 Boulez, Pierre 44 Bräuner, Johann Jacob 35f., 50 Brockes, Barthold Hinrich 32, 46f., 50 Brockhaus, Friedrich Arnold 54 Brontë, Charlotte 267 Brontë, Emily 261, 265ff., 271, 292 Buffon, Georges-Louis Leclerc de 32ff., 50 Burckhardt, Jacob 58 Bürger, Gottfried August 94 Burke, Edmund 41, 48, 51 Caesar, Gaius Julius 57, 59f., 68, 70 Celan, Paul 220f., 230, 232f., 235f., 310 Clare, John 269 Cocker, Mark 270 Cromer, Martin 77
https://doi.org/10.1515/9783110786743-016
Dante, Alighieri 87 Darwin, Charles 289 Dauthendey, Max 7 Decius, römischer Kaiser 59 Dehmel, Richard 183 Deleuze, Gilles 14, 44, 51, 295, 298ff., 303, 307, 316 Derrida, Jacques 112 Derwahl, Freddy 12, 179f., 184ff., 190, 192 Descartes, René 35, 51 Díaz de Guzmán, Ruy 156, 162 Dickinson, Emily 267 Dietmar von Merseburg 73 Długosz, Jan 77 Doyle, Arthur Conan 9, 219 Dreyfus, Dina 162 Droste-Hülshoff, Annette von 2, 10, 80, 85, 90f., 93ff., 101, 103ff., 183, 195, 198f., 201, 210, 212, 215, 220, 237ff., 244ff., 251ff., 255ff., 265 Dunbar, James 33, 35, 51 Duve, Karen 12, 219, 222ff., 234f. Eco, Umberto 309, 316 Emerson, Ralph Waldo 8 Engels, Friedrich 49, 52, 97 Ernesti, Johann August 61 Estok, Simon 88f., 104 Falconer, Thomas 35 Falkner, Gerhard 261, 269ff. Faye, Andreas 79 Findorff, Jürgen Christian 21, 32, 36, 41f., 45, 51f. Fischart, Johann 76 Fischer, Hugo 135 Fontane, Theodor 40, 51 Foucault, Michel 89, 127, 130, 150, 279, 292, 302f., 307 Fraas, Carl 10, 56, 65ff., 70, 74, 80 Franz, Friedrich Christian 61 Friedrich Georg Jünger 128f., 132, 134, 138ff., 143, 146, 148ff. Friedrich II. 1, 21, 32, 36ff., 45, 49, 51
324 | Personenregister
Galen 6 Gallus, Trebonianus 59 Gehlen, Arnold 120f., 124 Geist, Sylvia 221, 234ff. Geltinger, Gunther 9 Gennep, Arnold van 109ff., 114 Geograph von Ravenna 63 Georges, Karl Ernst 54 Geßner, Salomon 47 Gladkov, Fedor 119 Goethe, Johann Wolfgang von 41, 49ff., 96, 103, 122, 285, 292f., 302 Goody, Jack 278 Gray, Thomas 48 Greenblatt, Stephen 4 Grimm, Jacob 10, 54ff., 58ff., 62ff., 67, 69ff., 74ff., 212ff. Grimm, Wilhelm 53f., 56, 58, 62, 67, 74ff., 80, 212ff. Groth, Klaus 10, 85, 97, 99ff. Gryphius, Andreas 196ff., 205, 208, 216f. Guattari, Félix 14, 44, 51, 295, 298ff., 303, 307, 316
Jünger, Ernst 11, 119, 127ff., 131ff., 137f., 141ff., 145, 148ff. Jünger, Friedrich Georg 11, 127f., 130, 138, 149f. Jung-Stilling, Johann Heinrich 39, 51 Junkmann, Wilhelm 94 Justi, Johann Heinrich Gottlob von 43, 51
Haller, Albrecht von 32, 36, 51, 312 Hanke, Martin 77 Haraway, Donna 44, 51, 89, 103, 200, 208, 212f., 216f. Hedwig, Johann 289 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 119 Heidegger, Martin 138 Herakles 87 Herbort von Fritzlar 76 Herder, Johann Gottfried 35 Herennius Etruscus 59 Herrera, Antonio de 156 Heß, Moses 97 Hippokrates 6, 57 Hirschfeld, Christian Cay Lorenz 46 Hobbes, Thomas 87, 211 Hoche, Johann Gottfried 61f. Holanda, Sérgio Buarque de 156
Lachmann, Karl 54, 67 Lange, Horst 148, 220 Langgässer, Elisabeth 220 Langhoff, Wolfgang 220 Lappenberg, Johann Martin 64f., 69 Latour, Bruno 44f., 52, 250, 259, 298 Lenin, Wladimir Iljitsch 118 Lévi-Strauss, Claude 162 Liebig, Justus von 23 Lindenschmit, Ludwig 56, 74f. Linné, Carl von 272f., 277, 282ff., 286, 289f. Livius 76 Loewe, Elke 1 Löns, Hermann 102, 196, 217 Lotman, Jurij 184 Lyotard, Jean-François 312f., 316f.
Indriðason, Arnaldur 1 Iolaos 87 Johnstone, John 32
Kant, Immanuel 48, 52, 312f., 316 Karl I. 87 Karsch, Anna Louisa 47, 52 Kimmerer, Robin Wall 262ff., 272ff., 280, 282, 290, 292 Kinsky, Esther 267, 270f., 292 Kirsch, Sarah 12, 195f., 198ff., 205ff. Klemm, Gustav 10, 56ff., 60ff., 70ff. Kling, Thomas 1, 12, 219, 222ff., 230, 232ff., 267 Kohl, Johann Georg 198ff., 208 Kojève, Alexandre 115, 119 Krasznahorkai, László 274 Kubitschek, Götz 140 Kuhn, Thomas 298
Macfarlane, Robert 1, 261, 263, 270f., 293 Marquard, Odo 282 Marx, Karl 38, 49, 52, 97, 118 Maurier, Daphne du 265 Mayröcker, Friederike 268, 288, 293 McDermid, Val 1
Personenregister | 325
Merleau-Ponty, Maurice 304, 317 Miechowita, Maciej 77 Mieszko I. 77 Miller, David 181, 187, 191 Mirzoeff, Nicholas 14 Modick, Klaus 13, 261ff., 266, 271, 280ff., 293 Montesquieu, Charles Louis de 35 Morgenstern, Christian 7, 97, 101 Morgenthau, Henry 295 Müllenhoff, Karl 53, 56, 58, 67ff., 74, 80 Müller, Peter Erasmus 78 Nassehi, Armin 140 Nietzsche, Friedrich 302 Noeldechen, Friedrich Wilhelm 45, 52 Ohl, Michael 272 Ohler, Norman 1 Olav II. (der Heilige) 78 Ostwald, Wilhelm 121 Paul, Hermann 80 Peregunov, Aleksandr 118 Perrault, Charles 212 Petrarca, Francesco 90 Plinius d. Ä. 60f., 63f. Podolyns’kyj, Serhyj 121, 125 Pomponius Mela 68 Poschmann, Marion 13, 261ff., 266, 268, 270ff., 284ff., 288ff. Powers, Richard 263 Prišvin, Michail 10, 107ff., 120, 122ff. Properz 90 Püttmann, Hermann 97 Quesnay, François 37 Račev, Evgenij 107 Ransmayr, Christoph 13, 295ff. Rask, Rasmus 58, 71 Raumer, Rudolf von 56 Rilke, Rainer Maria 220ff., 235f., 313 Robertson, William 35 Roediger, Max 68 Rosa, João Guimarães 155ff., 170ff. Rössig, Carl Gottlob 32
Rousseau, Jean-Jacques 45, 50, 52, 141 Rühs, Friedrich 61 Scheuermann, Silke 264, 267, 277, 285, 288, 292f. Schmitt, Carl 44, 87, 115, 295, 299f., 317 Schottel, Justus Georg 46 Schrader, Otto 80 Scott, James C. 185, 191 Scott, Walter 77f. Seneca 61 Soles, Carter 89, 105 Sommer-Bodenburg, Angela 237ff., 256ff. Stengel, Stephan Freyherr von 41, 52 Stephen, Leslie 314 Stifter, Adalbert 142 Suvin, Darko 297 Tacitus 5f., 53f., 56ff., 60f., 64, 68, 70, 76, 87 Thaer, Albrecht 45 Theweleit, Klaus 136 Thoms, William John 78 Thomsen, Christian Jürgensen 70 Thoreau, Henry David 8, 187 Tidwell, Christy 89 Tolkien, John Ronald Reuel 79 Trakl, Georg 7 Tranströmer, Tomas 267 Tsing, Anna 103 Vangerow, Friedrich Wilhelm von 72 Voltaire 37 Voß, Johann Heinrich 47, 51f. Wagner, Friedrich August 73 Wagner, Jan 8, 262ff., 270f., 288, 292f. Waitz, Georg 65 Warnstedt, Adolph von 58 Weber, Carl Albert 25 Weerth, Georg 10, 85, 97f., 104f. Weiß, Ernst 220, 223 Whitman, Walt 261, 268, 293 Whitmore, Felicity 1 Wilson, Anthony 3, 179, 188, 191, 193 Winckelmann, Johann Joachim 70 Wintgens, Leo 12, 179f., 182, 186ff., 193 Wladimir I. 77
326 | Personenregister
Worsaae, Jens Jacob Asmussen 70 Zedler, Johann Heinrich 3, 31, 53
Zeuß, Kaspar 56, 58f., 62ff., 68ff. Zosimos 59