Kulturökologie und Literaturdidaktik: Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht 9783737002714, 9783847102717, 9783847002710


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German Pages [426] Year 2015

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Kulturökologie und Literaturdidaktik: Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht
 9783737002714, 9783847102717, 9783847002710

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Themenorientierte Literaturdidaktik

Band 1

Herausgegeben von Berbeli Wanning und Heike Sahm

Sieglinde Grimm / Berbeli Wanning (Hg.)

Kulturökologie und Literaturdidaktik Beiträge zur ökologischen Herausforderung in Literatur und Unterricht

Mit 4 Abbildungen

V& R unipress

®

MIX Papier aus verantwortungsvollen Quellen

www.fsc.org

FSC® C083411

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0271-7 ISBN 978-3-8470-0271-0 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0271-4 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Ó 2016, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Ó Kallejipp, www.photocase.de Druck und Bindung: CPI buchbuecher.de GmbH, Zum Alten Berg 24, 96158 Birkach Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

Inhalt

Einführung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kapitel 1: Die Zukunft meistern – an der Zukunft scheitern Elisabeth Hollerweger »ES SEI DENN, jemand, so wie du,…«: Der Umweltklassiker Der Lorax zwischen Bilderbuch und Kinoleinwand . . . . . . . . . . . . . . . . . .

29

Jana Mikota »Wozu Sehnsucht nach grünen Wiesen und blauem Himmel wecken, wenn sie für uns verloren sind?«: Der Weltuntergang in der Jugendliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nadja Türke Die Suche nach dem guten und gelungenen Leben: Nachhaltigkeit und Literaturunterricht am Beispiel von Birgit Vanderbekes Roman Das lässt sich ändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

71

Gabriele Dürbeck Die Resonanz des Anthropozän-Diskurses im zeitgenössischen Ökothriller am Beispiel von Dirk C. Flecks Das Tahiti-Projekt . . . . . .

83

Harro Müller-Michaels Katastrophen in der Literatur und das Potenzial für die Bildung . . . . . 101 Torsten Pflugmacher Didaktik der Katastrophe am Beispiel der Atomkatastrophe im literarischen, filmischen und journalistischen Diskurs . . . . . . . . . . . 117

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Inhalt

Kapitel 2: Männer und Frauen – Künstliche Körper Sieglinde Grimm Tauschverhältnisse zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur in Literatur und Didaktik: E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann und Gottfried Kellers Pankraz, der Schmoller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Thomas Hardtke Blaupause, Komposition, unbefleckte Empfängnis: Metaphern des reproduktiven Klonens als Herausforderung für den Literaturunterricht . 163 Ulrich Kinzel Vom Idol zur Selbstgestaltung. Modellierungen des jugendlichen Ich durch Bilder und Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 Solveig Lena Hansen, Cathrin Cronjäger »Als alles anders wurde.« Feministische Science Fiction als Medium zur Auseinandersetzung mit Reproduktionstechnologien . . . . . . . . . . . 197

Kapitel 3: Räume – Landschaften – Reisen Werner Graf Der Wald als Metapher. Reflexionen zum literarischen Waldbild als Thema des Literaturunterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Sebastian Susteck Landnahme. Naturprogramme und Bildlichkeit in Friedrich Schillers Drama Die Räuber. Mit einem Blick auf Peter Jacksons Verfilmung von J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 Beate Brunow Kulturökologische Literaturdidaktik: Texte als Orte der Begegnung

. . . 259

Anica Betz ›Räume erfahren durch Literatur – Literatur erfahren durch Räume‹ am Beispiel des Konzeptes der Outdoordidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Almut Hille Westöstliche Konfusionen in einer vernetzten Welt. Reisereportagen von Ilija Trojanow und Matthias Politycki . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291

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Inhalt

Kaspar H. Spinner Atmosphäre: ökologisch, ästhetisch und didaktisch . . . . . . . . . . . . 309

Kapitel 4: Von der Natur lernen – Den Menschen verstehen Ulrike Kruse Natur als Gottes Werk dem Menschen zum Nutzen. Johann Peter Hebels Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Elisabeth Jütten Das Leben als »zänkische, nichtsnutzige, katzbalgerische Lumpenburg«. Zum Paradigmenwechsel des Lebensbegriffs in Pfisters Mühle . . . . . . 341 Susanne Scharnowski Die Wiederkehr des Ästhetischen in der Rede über Natur und Umwelt. Vom Nutzen einer reflektierten Kulturgeschichte der Natur . . . . . . . . 357 Nick Büscher Kulturökologie im Kinderzimmer. Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde – ein anthropofugales ›Kinderbuch‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Bettina Oeste (Kultur-)ökologisches Lernen am Bilderbuch – Der Schäfer, der Wind, der Wolf und das Meer von Einar Turkowski. Vorüberlegungen zum Verhältnis Literaturökologie und Kinder- und Jugendliteratur (KJL) . . . 393 Biobibliographische Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409 Personenregister

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423

Einführung

Die Idee zum neuen, an der Praxis ausgerichteten Forschungsansatz Themenorientierte Literaturdidaktik (TOLD) entstand aus der Legitimationskrise, in die der Literaturunterricht unmittelbar nach dem »PISA-Schock« geriet. Weil der Effekt literarischer Bildung und Erziehung sinnvoll nur begrenzt mit quantitativen Methoden erfasst werden kann, schien es nahezu verzichtbar, alle Kinder in der Schule zum literarischen Lesen und Verstehen anzuleiten: Textkompetenz in einem weit allgemeineren Sinne müsse doch genügen. Bildungsstandards, die als Reaktion auf beschleunigte Modernisierungsprozesse der Gesellschaft entstanden sind, haben eine konstruktive Funktion innerhalb der Bildungsdebatte, sind sie doch Orientierungspunkt und Messlatte zugleich. Ursprünglich darauf bedacht, alle Kinder und Jugendlichen gleichermaßen in die Lage zu versetzen, an einer offenen Gesellschaft selbstbestimmt zu partizipieren, zeigt sich inzwischen, dass ein rein funktionales Bildungsverständnis bei weitem nicht ausreicht, die nächste Generation auf die Zukunft vorzubereiten. Dieses Dilemma wird am Beispiel des Deutschunterrichts besonders gut sichtbar. Ein Umgang mit Sprache und Literatur jenseits der bloßen Formalqualifikation des Schreibens und Lesens dringt in Bereiche vor, die schwer oder gar nicht zu standardisieren sind. Sie dürfen aber keineswegs deswegen marginalisiert werden, vielmehr muss eine auf literarische und kulturelle Inhalte ausgerichtete Bildung kompetenzorientiert Wissen vermitteln, das die Persönlichkeitsentwicklung unterstützt. Ob (zukünftige) Lehrerinnen und Lehrer diese wichtige Aufgabe erfüllen können, hängt stark davon ab, welche kulturelle Vorbildung sie selbst haben. Hier möchte die themenorientierte Literaturdidaktik die Lücke füllen, welche die jahrelange ausschließliche Fixierung auf formale Standards und einen reduktionistisch interpretierten Kompetenzbegriff gerissen hat. Die Literaturdidaktik reagierte in der ersten Dekade des Jahrhunderts auf die oben erwähnte Legitimationskrise, indem sie vieles veränderte: Sie vergrößerte ihr Spektrum und arbeitete an einem erweiterten Literaturbegriff, richtete sich von der bloßen Wissensvermittlung hin zu einer Kompetenzorientierung aus,

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formulierte dazu einschlägige Modelle und Bildungsstandards, die heute praktisch allgemeinverbindlich sind. Die Aufmerksamkeit für die Vermittlung von Literatur in ihrer gedruckten Form wurde ergänzt durch andere Medien, durch Hörspiel, Film und Netzliteratur. Verfahren und Methoden standen auf dem Prüfstand, sie wurden modernisiert und aktualisiert und so dem Stand der Forschung angepasst. Diese positive Entwicklung zeigt aber auch eine Schattenseite: Die Bildungsstandards sind vor allem formal, aber kaum inhaltlich bestimmt.1 Traditionelle Inhalte des Literaturunterrichts, die Beschäftigung mit Literaturgeschichte, mit den Stoffen und Formen, mit den Verflechtungen zwischen deutschsprachiger und der Literatur vergangener und gegenwärtiger anderer Kulturen scheinen randständig zu werden. Die großen Mythen und Geschichten als Grundbestand der literarischen Kultur sind in der nachfolgenden Generation kaum noch allgemein bekannt. Die Vermittlung von Literatur wird anderen vorwiegend funktionalistischen Zielen wie der Kompetenzerweiterung im Umgang mit Texten und Medien oder der Qualitätssicherung im Bereich der Sprachbeherrschung untergeordnet. Während die Zahl der einschlägigen empirischen (Bildungs-)Studien mittlerweile unübersehbar groß geworden ist, welche praktisch alle Defizite in relevanten Lernbereichen nachweisen und dringenden Handlungsbedarf diagnostizieren, steht die Zahl der konkreten Vorschläge zur Verbesserung der Situation in einem umgekehrt proportionalen Verhältnis dazu. Es wird gegenwärtig in der Öffentlichkeit die Forderung2 laut, diese Ausrichtung, die zulasten literarischer und textbasierter Bildung geht, umzukehren und sich wieder auf die Inhalte zu besinnen, diese aber in einer Weise literaturdidaktisch zu präsentieren, die sich den positiven Aspekten der oben beschriebenen Entwicklung der letzten Dekade nicht verschließt. Es gehört zum Grundbestand jeder kulturellen Bildung, der Literatur, ihrer Geschichte, ihren vielfältigen Erscheinungen, Themen und Motiven intensiv begegnen zu können. Dazu müssen die aktuellen Debatten um den Stand und die Zukunft der Literaturdidaktik wieder mit den Inhalten der Literatur verknüpft werden, die Didaktik muss auch von der Sache ausgehend gedacht werden, ohne die Perspektive ihrer Rezipienten zu vernachlässigen. So werden themen- und motivorientierte Spuren gelegt, die zum Entdecken der Literatur und zum forschenden Lernen ermuntern. TOLD stellt aktuelle und traditionelle Themen fachwissenschaftlich fundiert, aber mit einem spezifisch literaturdidaktischen Blick vor und leistet so einen 1 Vgl. Abraham, Ulf; Rauch, Marja: »Eine eigene Kompetenz für Literaturgeschichte als Vermittlungsauftrag des Deutschunterrichts?«, in: Didaktik Deutsch H. 30, 2011, S. 58. 2 »Eine Stimme von vielen: Lankau, Ralf: Bildung – Ganz schön vermessen«, in: DIE ZEIT Nr. 52 vom 17. 12. 2014, URL: http://www.zeit.de/2014/52/bildung-schulen-studien [05. 01. 2015].

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Beitrag zur Vermittlung literarisch-kultureller Bildung, zur Medienkompetenzentwicklung und zur Leseförderung. Diese drei wesentlichen Aspekte, die sich der Neupositionierung und veränderten Schwerpunktsetzung der Literaturdidaktik in der vergangenen Dekade verdanken, liegen allen Beiträgen in individuell unterschiedlicher Gewichtung zugrunde. Dieser Band widmet sich dem Thema Kulturökologie und Literaturdidaktik. Dabei geht es um die Frage: Wie sollen wir leben? Es ist hinlänglich bekannt, dass die Gefährdungen der Umwelt und die Bedrohung des Planeten Erde durch fortschreitende Naturzerstörung globale Ausmaße angenommen haben.3 Die Menschen sind in der Regel über die für das 21. Jahrhundert vorhersehbaren Probleme infolge des massiven Klimawandels, des radikalen Ressourcenabbaus und gravierenden Wassermangels gut informiert. Doch aus diesen Informationen, die auf naturwissenschaftlichen Erkenntnissen fußen und die durch zahlreiche Fakten untermauert sind, folgen noch nicht merkliche Änderungen der Lebensweise, die auf der Einsicht in diese Prozesse beruhten. Der vorliegende Band zeigt interessierten Lehrerinnen und Lehrern sowie Studierenden des Lehramts Deutsch (alle Schulformen) die Vielfalt des kulturökologischen Zugangs der Literaturvermittlung. Er nutzt dabei die große Relevanz, die der Themenbereich »Natur« bzw. »Natur und Kultur« für die Gesellschaft insgesamt und für Kinder und Jugendliche insbesondere hat. Neben der Erhaltung des Friedens gehört die Frage, wie Menschen den Umgang mit Natur und Umwelt angesichts der weltweiten Probleme zukünftig gestalten sollen, zu den zentralen Herausforderungen unseres Jahrhunderts. Umso mehr ist die erziehende Generation gehalten, der jüngeren die Spannweite dieses Themenfeldes bewusst zu machen, ohne auf Pessimismus, Fatalismus oder gar Panikmache zu verfallen. Die Beschäftigung mit Literatur im Unterricht aus einer theoriegeleiteten Perspektive erscheint dann besonders lohnend, wenn didaktisch reflektierte Angebote, wie sie in diesem Band vorliegen, die konkrete Umsetzung in einzelne Unterrichtsstunden bzw. -einheiten erleichtern. Die in der Literatur verhandelten Naturkonzepte bieten eine einzigartige und durch keine andere kulturelle Praxis ersetzbare Möglichkeit für Schülerinnen und Schüler, eigene Einsichten in komplexe Prozesse zu gewinnen sowie Erfahrungen zu sammeln, die ihre Weltsicht verändern und Handlungsoptionen eröffnen. In diesem Band stellen wir keine Patentlösungen oder vorgefertigten Unterrichtseinheiten in den Mittelpunkt, sondern wir geben durch die ganz unterschiedlichen Beiträge vielfältige Anregungen, das eigene unterrichtliche Handeln zu reflektieren und zu verändern. Nicht immer muss das Rad neu erfunden 3 Die Bedeutung dieses Themas speziell für die Fachdidaktik stellt Gerhard Rupp unter der Überschrift »Deutschunterricht im Jahre 2050« heraus, in: ders., Deutschunterricht lehren weltweit, Hohengehren: Schneider Verlag 2014, S. 741–779.

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werden: Oft genügen kleine Impulse, um aus einem »Standardthema« des Deutschunterrichts (wie z. B. Schillers »Räuber«) ein aktuelles Gegenwartsszenario zu machen, das zudem auf ganz neue Weise medial kombiniert werden kann – und schon wird aus einem an kulturökologischen Theoremen ausgerichteten Vorschlag Unterrichtspraxis, die begeistert. Andere Themen, wie etwa der Umgang mit Gentechnik, berühren gleich mehrere Fächer wie z. B. Biologie, Sozialkunde, Recht und Religion. Wie können hier vom Deutschunterricht ausgehend Verknüpfungen gelingen, welches Konzept steht dahinter? Veränderungen beschränken sich jedoch nicht nur auf die menschliche Erscheinung, auch der Außenraum, die uns umgebende Landschaft, wandelt sich, und wir sehen sie mit anderen Augen. Welche Prozesse laufen hier ab, wie können die Kinder und Jugendlichen lernen, diese zu verstehen? Dies sind nur einige der spannenden Themen, die weiter unten näher vorgestellt werden. Die Auffächerung des thematisch konzentrierten Stoffs, mit dessen Hilfe solche und andere Fragen abwechslungsreich bearbeitet werden können, folgt sowohl theoretisch-verallgemeinernden als auch exemplarischen Prinzipien. Dadurch soll es möglich werden, differenzierte Unterrichtsdiskussionen anzustoßen, die auf Werte reflektierende Ideen bis hin zu ethischen Imperativen samt Begründung umfassen. Dabei setzt der Band auf die größtmögliche Freiheit der Lehrkräfte und lebt von deren Unterrichtskompetenz und Gestaltungswillen. Deshalb werden Themen vorgeschlagen, die anregend wirken sollen und dank vielfältiger Hintergrundinformation, Zuspitzung und Bandbreite zugleich einführend sind in andere Denk- und Handlungsweisen. Um die Vielfalt zu erhalten, unter der die Vorschläge im konkreten Unterricht einsetzbar sind, verzichten wir auf detaillierte Lehrvorgaben, Phasenpläne, vorgefertigtes Klausurmaterial usw. und vertrauen auf die Fähigkeiten der zukünftigen und bereits im Beruf stehenden Lehrkräfte. Wer wirklich individuell, nachhaltig und fördernd unterrichten will, orientiert sich an den Bedürfnissen der jeweiligen Lerngruppe und lässt nicht nur vorgefertigte Materialien »durchlaufen«. Die vierteilige Gliederung des Bandes dient zum einen der übersichtlichen Gruppierung der verschiedenen Beiträge, sie ist zum anderen eine Art Statement kulturökologischer Literaturdidaktik, welche die Kategorien, die das Leben jedes Einzelnen essentiell bestimmen (Raum und Zeit, Körper i. S. der naturgegebenen Gestalt und Landschaft i. S. des umgebenden Naturraums) immer wieder zum Gegenstand vertiefter Reflexion macht. Deshalb beginnt der vorliegende Band mit der Zeitkategorie Zukunft, einer zeitlichen Dimension, die für die junge Generation die entscheidende Rolle spielt, ist doch deren Leben wie das kaum einer anderen (älteren) auf Zukunft gerichtet. Zu den wichtigen Zielen eines modernen Deutschunterrichts gehört es, Wissen über Werte und darüber hinaus ein Bewusstsein der Werthaltigkeit von Handlungen (optionalen und tatsächlichen) zu vermitteln. Hierzu gehört auch

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die Bildung für nachhaltige Entwicklung, zu der Literaturunterricht ein ganz spezifisches, anders gar nicht zu erwerbendes Wissen beisteuert. Wissen generiert Kompetenzen, und wenn sich dieses Wissen auf nachhaltige Entwicklung bezieht und zur Anwendung führt, mündet es in Gestaltungskompetenz. Elisabeth Hollerweger stellt in ihrem Beitrag die Frage, wie durch eine literaturdidaktisch fundierte Vermittlung im Unterricht die Gestaltungskompetenz der kommenden Generationen gestärkt werden kann. Sie wählt dazu das Beispiel des Lorax, einer Bilderbuchfigur aus den 1970er Jahren, die mit der Verfilmung des Stoffs 2012 wieder in den Mittelpunkt des didaktisch-kulturökologischen Interesses gerückt ist. Dabei steht die Auffassung im Zentrum, dass fiktionale Erzählungen ästhetisch gestaltete Sonderformen der Gegenwartsanalysen und Zukunftsstudien sind. Hollerweger zeigt, wie der Autor Theodor Seuss Geisel bereits 1971 die drei Säulen des heute gängigen Nachhaltigkeitsmodells in seiner Bilderbuchgeschichte antizipiert hat. Mit der zeitverschobenen medialen Umsetzung als Film gewinnt der Lorax als Symbolfigur eines Kämpfers gegen die Umweltzerstörung eine neue Bedeutung, durch die Schülerinnen und Schüler Dimensionen und Strategien von Nachhaltigkeit kennenlernen können. In einer verflochtenen Interpretation von Buch und Film zeigt Hollerweger die erzähltheoretischen und strukturellen Merkmale mit Blick auf die semantische Mehrfachkodierung, das Identifikationspotential und die Konfliktkonstruktion auf. Besonderen Wert legt sie auf die Veränderung der Effizienzstrategie, die man anhand der Szenariotechnik beobachten und aufgabenorientiert vermitteln kann. So lassen sich Zukunftsfragen auf einer Ebene thematisieren und klären, welche die Lerngruppe interessiert. Der Lorax als Leitfigur in seiner sich wandelnden Form (im Buch und im deutlich späteren Film) eröffnet ihr den Zugang zur Nachhaltigkeitsthematik in einer Weise, die insbesondere auch den Aspekt der Generationengerechtigkeit einschließt. Die jüngere Generation empfindet es sicherlich nicht als gerecht, Erbin einer von den Vorlebenden zerstörten Umwelt zu sein. Die in der Jugendliteratur der Gegenwart sehr beliebten Dystopien wollen mittels einer Warnfunktion verhindern, dass es tatsächlich soweit kommt. Die mal in der näheren, mal in der ferneren Zukunft angesiedelte Handlung zeigt zumeist eine Umwelt, die in weit schlimmeren Maß ruiniert ist als die heutige. Dramatische gesellschaftliche Veränderungen sind die Folge, denen freiheitliche und demokratische Strukturen zum Opfer fallen. Die jugendlichen Helden müssen nun aufwachsen in einer streng reglementierten, teils feindlichen, teils unwirtlichen Gesellschaft, gegen die es schwierig ist zu rebellieren: Unerträgliche Umweltbedingungen, z. B. die Rationierung von Sauerstoff, schränken auch diese Möglichkeiten massiv ein. Dystopien entwerfen ein Bild der Zukunft, das vor allem das Negative, Schreckliche, Bedrohliche betont. Hierarchien bis hin zu radikal durchgesetzten Machtgefügen dominieren das Geschehen, in dem die jugendlichen Fi-

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guren unter vielerlei Entbehrungen einen Gegenentwurf schaffen, der zugleich ihre eigene pubertäre Entwicklung widerspiegelt. Jana Mikota unterscheidet in ihrem Beitrag diese ökologische Dystopie noch von einer weiteren, gesteigerten Form, von Dystopien mit katastrophalen Zukunftsmodellen, die teilweise noch düsterer wirken und Jugendliche mit Zukunftsproblemen konfrontieren, die bis an deren Grenzen gehen. Umso mehr ist hier eine behutsame Didaktik gefragt, um die Warnfunktion dieser Literatur zu erhalten, aus der ein Handeln folgen kann, sofern die Angst nicht überwiegt und lähmt, was die Gefahr des Fatalismus birgt. Es ist eine Gratwanderung, die mithilfe der chronologisch-systematischen Übersichten, die Mikota auf inhaltlicher Basis vorstellt, didaktisch reflektiert wird, welche als Ausgangspunkt für ansprechenden Literaturunterricht dienen: Gefährdungen zeigen, aber zugleich Lösungsmöglichkeiten unterstützen, gleichsam aus dem Jetzt in eine Zukunft hinein, die so nicht kommen soll. Dies geschieht mittels Empathie und Fremdverstehen, weil die Figuren trotz ihrer widrigen Lebensumstände die gleichen Probleme haben wie das jugendliche Lesepublikum: Liebeskummer, Akzeptanzsorgen, Distanzerleben gegenüber den Erwachsenen, Sinnfindungskrisen. Daraus entsteht ein hohes Identifikationspotential, das die ökologischen Inhalte einschließlich ihrer gesellschaftsverändernden Macht transportiert. So bewirkt die Auseinandersetzung mit der (negativ erwarteten) Zukunft ein neues Bewusstsein der Gegenwart. Gegenwartsutopie – dieser scheinbar widersprüchliche Begriff markiert eine Untergattung, zu der Birgit Vanderbekes Roman Das lässt sich ändern gehört. Nadja Türke widmet sich in ihrem Beitrag einer detaillierten Interpretation des Textes, den sie an der Schwelle zur Öko-Utopie sieht. Es geht um eine Liebesgeschichte zwischen der nicht näher benannten Ich-Erzählerin und Adam, die zusammen eine Familie gründen und später, als sie in finanzielle Schwierigkeiten geraten, zu einer Freundin aufs Land ziehen. Hier entstehen bald »Basislager«, kleine Einheiten mitmenschlicher Beziehungen mit gelebter Tauschwirtschaft, nachhaltiger Nutzung aller Gebrauchsgegenstände, schonender Erzeugung von Lebensmitteln und ein gelebtes Miteinander, das Vorbildcharakter hat. Nadja Türke hebt in ihrem didaktischen Zugriff auf diesen Roman besonders den Aspekt der Nachhaltigkeit hervor. Sie zeigt an diesem Beispiel, wie es Literatur gelingen kann, Leitbilder und kreative Visionen zu entwickeln, die bei einer einseitigen Orientierung ausschließlich am »ökonomischen Mythos« verkümmern. Gegen den herrschenden Trend einer auf Optimierung und Effizienz getrimmten Gesellschaft stellt Vanderbekes Roman das Umdenken in den Mittelpunkt der Erzählhandlung, hin zu einer Gemeinschaft, die von Suffizienz und Nachhaltigkeit geprägt ist. Eine Utopie, die in der Gegenwart machbar wäre und doch so fern ist – das macht den besonderen Reiz dieser Geschichte aus. Mit ihrer an Hubert Zapf und Ulrich Beck ausgerichteten Sichtweise gelingt es

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Türke, den Text mehrdimensional zu erschließen und für eine weiterführende didaktische Arbeit zu öffnen. Zu den wichtigen Herausforderungen für die Kulturwissenschaft gehört der Begriff des Anthropozäns, dessen Bedeutung für eine moderne Literaturvermittlung noch viel zu wenig erforscht ist. Damit ist der Beginn eines neuen, seit etwa 1800 währenden Erdzeitalters gemeint, in welchem der Mensch in seinem anthropozentrischen Denken erstmals in globalem Ausmaß Spuren hinterlassen hat, die die Natur so stark nutzen bzw. zerstören, dass sie diese Veränderungen über einen längeren Zeitraum nicht mehr ausgleichen kann. Geprägt vom Nobelpreisträger Paul J. Crutzen, stärkt der Begriff die biozentrische Perspektive und nimmt den Planeten Erde als ganzen in den Blick. Gabriele Dürbeck informiert ausführlich über die Genese und Bedeutung des Terminus und zeichnet die aktuelle Debatte in den Grundzügen nach. Mit dieser Hintergrundinformation tritt sie an den Roman Das Tahiti-Projekt von Dirk C. Fleck heran, der eine besondere Rolle in der Gattung der Ökothriller spielt, zeigt er doch weniger ein Katastrophenszenario ohne Hoffnung als vielmehr einen gangbaren Weg in eine andere, nachhaltigere Zukunft. Angesiedelt im zeitlichen Nahbereich, im Jahr 2022, beschreibt der Autor eine Gesellschaft, die in Tahiti nach den Grundprinzipien des Equilibrismus ausgerichtet ist, der einen Ausgleich zwischen Ökonomie und Ökologie, zwischen Sozialem und Kulturellem anstrebt. Dieser Roman ist selbst didaktisch konzipiert, möchte der Autor doch ausdrücklich die Ideen des Equilibrismus, die in ihrer Komplexität weniger verbreitet sind, durch Einbettung in eine fiktionale und zugleich spannende sowie nachdenklich stimmende Handlung einem breiten Publikum vorstellen. Dürbeck folgt ihm dabei allerdings nicht unkritisch, sondern legt den Blick frei für die vielfältigen Diskurse, die sich im Text finden lassen. Während einerseits eine aus technologischer Perspektive im Sinne der Umweltbewahrung fortschrittliche Gesellschaft dargestellt wird, sind die gender- und postkolonialen Diskurse des Romans eher antiquiert. Doch es ist gerade dieses Spannungsverhältnis, das den Reiz des Werks ausmacht und neben einer hohen Lesemotivation die kritische Auseinandersetzung fördert. In der didaktischen Umsetzung überschneiden sich die informativen mit den fiktionalen Aspekten des Romans und bieten Anlass zu polyperspektivischen Debatten, welche sich immer wieder auf den Begriff des Anthropozäns fokussieren lassen. Inwieweit die Behandlung literarischer Katastrophendiskurse im Unterricht über das Evozieren von Sentimentalitäten hinaus zur Bildung der Jugendlichen beisteuern und einen präventiven Beitrag zu Konfliktlösungen leisten kann, ist das Thema des Beitrags von Harro Müller-Michaels. Heinrich von Kleists berühmte Novelle Erdbeben in Chili (1807) im Blick, beleuchtet er zunächst das Theodizeeproblem, welches durch das Erdbeben von Lissabon 1755 in der Aufklärung heftige Debatten ausgelöst hatte. In der Novelle wird das Thema

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weiter verfolgt: Eine Naturkatastrophe bringt zwei nicht standesgemäß vereinten und gesellschaftlich ausgegrenzten Liebenden unvermutet die Rettung und lässt kurzzeitig sogar die Vision einer besseren Gesellschaft aufscheinen, bevor dann das menschengemachte Blutbad einer vormodernen Lynchjustiz die ›natürliche‹ Katastrophe überrollt. Die Problematik wird anschließend aktualisiert durch literarische Verarbeitungen jüngster Katastrophen, die das allgemeine Bewusstsein heute prägen: In Josef Haslingers Phi Phi Island. Ein Bericht (2007) über den Tsunami vom Dezember 2004 oder Jonathan Safran Foers Extrem laut und unglaublich nah (2005) über den Anschlag auf das World Trade Center 9/11 stehen Protagonisten im Mittelpunkt, die traumatisierende Erlebnisse und den Verlust von Angehörigen verarbeiten müssen; mit John Updikes Roman Terrorist (2006) und Yasmina Khadras Die Attentäterin (2006) wechselt die Perspektive zu jugendlichen Verursachern der Katastrophen selbst. Die Leistungen der Literatur für die Bildung werden gesehen im Durchspielen von Erfahrungen, im Angebot, aus Vergangenem für die Zukunft zu lernen und in der Aktualisierung von Katharsis im Sinne der Erweckung von Mitleid und der Möglichkeit zur Einfühlung. Die Darstellung von Katastrophen als ästhetische Herausforderung steht im Fokus einer Literaturdidaktik, wie sie Torsten Pflugmacher vorschlägt. Er widmet sich der Frage, wie faktuale und fiktionale Diskurse mit »Katastrophen« umgehen und unterscheidet dabei die »reale« Katastrophe von literarischen und filmischen Umsetzungen des Katastrophennarrativs. Dieses wird zum Gegenstand eines Deutschunterrichts, der das Ziel hat, in einer emotional entlasteten Situation – also nicht angesichts einer unmittelbaren tatsächlichen Bedrohung – kognitiv bewusst und rational gesteuert Szenarien zu schaffen, in denen nach einem angemessenen Umgang mit dem Thema gesucht wird. Schülerinnen und Schüler bauen auf diese Weise zweierlei Arten von Wissen auf, historisch-systematisch und theoretisch: Zum einen erhalten sie Kenntnis zahlreicher Ereignisse, die sich entweder tatsächlich (z. B. Atomkatastrophen) oder in dystopischfiktiver Vorwegnahme (z. B. mögliche Totalzerstörung der Erde) ereignen, zum anderen gelingen die Erarbeitung der Grundstruktur einschlägiger Narrative und Einblicke in deren Symbolbildungsstrategien. Auf der Basis dieses Wissens entsteht eine Beurteilungskompetenz, die die Einschätzung kultureller Praktiken im Bereich der Katastrophenbewältigung stärkt und kulturökologisches Bewusstsein fördert. Mit der Kategorie »Körper« tritt ein Doppelbild auf, die einerseits von der Natur vorgegebene Körperlichkeit der Lebewesen und die andererseits beim Menschen vorhandene Möglichkeit, den Körper sehr weitgehend zu manipulieren – sei es in seiner sichtbaren Erscheinung oder unsichtbaren genetischen Struktur bis hin zur vollkommenen Künstlichkeit des Körpers. Die fiktionale Perspektive kennt keine Grenzen des technologischen state of the art und kann

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es sich erlauben, phantastische Figuren ohne Rücksicht auf das naturgesetzlich Machbare zu entwerfen, die als Metaphern der Technologiekritik bis hin zu Apologeten einer neuen Welt gelesen werden können – dies eine Frage des Blickwinkels, auf jeden Fall jedoch ein lohnendes Feld kulturökologisch-didaktischer Anstrengungen, zu welchen die im zweiten Kapitel versammelten Texte anregen möchten. In ihrem Beitrag zu zwei kanonischen Texten des 19. Jahrhunderts wählt Sieglinde Grimm Ernst Haeckels Definition von Oecologie, der das Transzendieren des menschlichen Organismus fordert, als (methodischen) Ausgangspunkt und etabliert anschließend die These eines grundsätzlichen Tauschverhältnisses zwischen Mensch und Natur. Daran anknüpfend untersucht sie am Beispiel von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann und Gottfried Kellers Pankraz, der Schmoller zwei Bildungsverläufe, indem sie fragt, in welcher Weise diese durch ›Tauschverhältnisse von menschlicher und nicht-menschlicher Natur‹ geprägt werden. Dazu zieht sie zeitgenössische Naturkonzepte aus der Philosophie Schellings und Aspekte der Human-Animal Studies heran. Im Ergebnis führt dies zu neuen Deutungen: Beide Protagonisten beginnen ihren Bildungsweg von einer anthropozentrischen Position aus; während Hoffmanns Nathanael der Tausch mit der Natur misslingt, weil er im (anthropozentristischen) Ich verharrt, gelingt Kellers Protagonist letztlich ein Tausch mit der Natur, wodurch er sein ich-bezogenes Schmollen überwinden kann. Im zweiten Teil des Beitrags fragt Grimm, welche Konsequenzen ein kulturökologischer Zugang für die Didaktik besitzt. Ihr Vorschlag beruht auf einer Modifikation des bekannten ›4-Phasen-Standard-Typ-Modells‹ nach Kreft aus kulturökologischer Perspektive. Neue Sichtweisen sind dabei die Erkenntnis der eigenen Relativität sowie die Ausgestaltung der ›Anwendung‹ (Applikation) im Sinne von Partizipieren und Antizipieren. Das bis in die Antike zurückreichende Motiv des künstlichen Menschen aufgreifend, thematisiert Thomas Hardtke die Verarbeitung der Gentechnik in literarischen Texten und stellt zugleich die Frage, in welcher Weise Techniken des reproduktiven Klonens die gesellschaftliche Zukunft prägen. Diese Frage bildet die Basis ethischer Reflexionen über literarische Darstellungen der schulischen Umweltbildung und -erziehung. Methodisch stützt sich Hardtke dazu auf metapherntheoretische Ansätze (Lakoff und Johnson 2004) und die ›Hermeneutik der Gentechnik‹ (Schwarke 2000). Ziel ist es, Metaphern als heuristisches Instrument zu verwenden, um den Diskurs der Gentechnik in literarischen Texten sichtbar zu machen. Als literarisches Beispiel wählt Hardtke Charlotte Kerners im schulischen Kanon bereits etablierten Roman Blueprint Blaupause (1999). Darin lässt sich eine berühmte und unheilbar an multipler Sklerose erkrankte Pianistin klonen, um ihre Begabung zu retten. Erzählt wird aus der Perspektive der Klon-Tochter, die ihre eigene Identität erst nach dem Tod

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der Mutter findet. Hardtke zeigt, wie die Problematik der künstlichen Menschenbildung über die Metaphern der Blaupause, des (theologischen) Schöpfergedankens oder der DNA als einer (musikalischen) Komposition erarbeitet werden kann. Ausgehend von der Orientierung gebenden Funktion der Bilder in der Kultur der Moderne zeigt Ulrich Kinzel, dass Bilder wie auch literarische Texte gerade bei Jugendlichen ein Spannungsverhältnis aufweisen: Einerseits fungieren sie als Vorgabe oder Vorschrift, die zu Nachahmung und Mimesis auffordert, andererseits eröffnen sie ein Spiel individueller Reflexion zur Existenzfindung. Anhand von Modellierungen des Körpers in Bildern von Marilyn Monroe als einem Idol der Welt der Models einschließlich deren anorektischer Problematik, über literarische und philosophische Texte zu körperlich bedingten Grenzerfahrungen bis hin zu dem im gleichnamigen Rilke-Sonett beschriebenen Archaischen Torso Apollos entfaltet Kinzel Anregungen für eine Unterrichtseinheit. Nach einleitenden Begriffsklärungen nimmt er den Leser mit auf eine didaktische Reise von Erfahrungen und Analysen des ›mimetischen Regimes‹, in dem Bilder von Idolen und definitorischen Texten dem Leser und Betrachter nur wenig Freiheit lassen, hin zu solchen Texten und Bildern, welche sich öffnen und einen ethischen Spielraum ermöglichen. Ziel der kleinen Einheit ist es, den literarischen »Text nicht als Gegenstand der Analyse«, sondern als »Operator einer Aktivität des Selbst« zu erkennen. Über Hermeneutik und Kompetenzmodelle hinaus erhalten Schüler und Schülerinnen das Angebot, über ihr jugendliches Bedürfnis nach (körperlicher) Verwandlung auf ethischer Basis zu reflektieren. Was ist (noch) Natur am menschlichen Körper? Diese Frage führt uns vom Blick in die Zukunft wieder in die Gegenwart zurück, in der die »Natürlichkeit« des Körpers selbst ein »künstliches« Produkt ist. Die ästhetische, soziale und biomedizinische Entwicklung macht vor dem Körper nicht halt, längst bildet dieser keine Grenze mehr, die nicht zu überschreiten wäre. Da es seit den 1970er Jahren möglich ist, die Reproduktion von der Sexualität zu entkoppeln, veränderte sich das Verhältnis von Männern und Frauen und damit die soziale Ordnung der herkömmlichen Rollen und familiären Strukturen. Solveig Lena Hansen und Cathrin Cronjäger gehen in ihrem spannenden Beitrag Als alles anders wurde intensiv auf die neue Situation ein, durch die die feministische Science Fiction zu überraschenden, die Ordnung des Gewohnten störenden Geschichten angeregt wurde. Das didaktische Potential dieser Texte wird anhand zweier konkreter Beispiele entfaltet und dabei in einen interdisziplinären Zusammenhang gestellt. So führt dieser Unterrichtsgegenstand nicht nur zu neuen literarischen Entdeckungen, sondern auch zu einer veränderten Sicht auf die Verantwortung, die sich für die Menschheit daraus ergibt. Die Autorinnen stellen ein Konzept vor, das zugleich die ethischen Konsequenzen aufzeigt und

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mittels eines fundierten Urteilsschemas die Schülerinnen und Schüler in die Lage versetzt, mit den vorgestellten Gedankenexperimenten reflektiert umzugehen. Außer dem Körper ist auch der Raum bzw. die Landschaft einem ständigen Wandel unterworfen, der in der Moderne bis an die Grenze einer Neudefinition dessen reicht, was unter Raum eigentlich zu verstehen ist. Zugleich ist der Raum / die Landschaft dasjenige, was für Schülerinnen und Schüler ständig präsent ist, was ihrer Allverfügbarkeit unterliegt, was möglicherweise so banal ist, dass es in seiner tieferen Bedeutung nicht erkannt wird. Die im dritten Kapitel zusammengeschlossenen Beiträge eröffnen die didaktische Chance, das scheinbar Selbstverständliche aus der Nähe einer neuen, kritischen Sicht zuzuführen und damit zugleich einen Beitrag zu Umwelterziehung zu leisten. Einen wahren Schatz an literarischen Waldbildern als Thema des Literaturunterrichts bietet Werner Grafs Beitrag. Den theoretischen Rahmen liefert eine Gegenüberstellung von Hans-Magnus Enzensbergers im Kontext des Waldsterbens der 1980er Jahre ideologisch geprägtem Bild vom ›Wald im Kopf der Deutschen‹ und Robert P. Harrisons symbolhafter Deutung des Waldes als Ursprungsmythos, demzufolge die Rodung des Waldes den Beginn der Zivilisation markiert. Nach einem Blick auf das Mittelalter, welches den Wald als Ort der Gefahren, aber auch der Bewährung in einen Gegensatz zur höfischen Gesellschaft bringt, stehen Walddarstellungen im Volksmärchen im Zentrum. Im Märchenwald setzt sich die mittelalterliche semantische Doppelung des Waldes als Ort, der zum einen mit Angst besetzt ist, zum anderen aber zugleich Rettung, Heilung und Bewährung bietet, fort. Zentrale Wirkungskraft erhält der Wald im frühromantischen Konzept der ›Waldeinsamkeit‹ Tiecks, in dem die Zauberkräfte des Waldes gegenüber der Außenwelt den Sieg davontragen. Entgegen einer popularisierenden Deutung des Waldes bei Eichendorff als Garant höherer Werte wie Religion, Seele oder Poesie erscheinen gerade die irreal und sehnsuchtsvoll-utopischen Züge des romantischen Waldes in der Lektüre Grafs als Wegbereitung für die erst später auf den Begriff gebrachte ›Dialektik der Aufklärung‹. Mit der Frage nach der Funktion des Waldes in der politischen Mentalitätsgeschichte erkennt Graf eine mitunter bedenkliche Dimension der Waldmetapher der ›aufrecht‹ in die Höhe wachsenden Bäume als gesellschaftliches Auslesemodell. Er verfolgt dieses Modell von der Aufklärungsphilosophie über die realistischen Dichter des 19. Jahrhunderts (Stifter) bis hin zur politischen Ideologisierung der Waldmetapher für den Krieg und im Nationalsozialismus (Jünger, Wiechert), wobei ›Wald und Heer‹ (Canetti) eine Bedeutungseinheit bilden, die dem Wald die Funktion einer Metapher des ›kollektiven Unbewussten‹ verleiht. Wenngleich Graf ausblickend Enzensbergers ideologiekritischer Haltung zustimmt, so sieht er doch für die aktuelle Situation in Harrisons These das größere Potential.

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Ausgehend von der Konvergenz des systemtheoretisch definierten Begriffs ›Interesse‹ und Ansätzen der Leseförderung und -motivation untersucht Sebastian Susteck die Schnittstellen von Sprachbildern und Naturdarstellungen in Schillers Drama Die Räuber (1781) und Peter Jacksons 2001–2003 in die Kinos gekommene Filmtrilogie von J. R. R. Tolkiens Romanepos Der Herr der Ringe. Bereits die Charakterisierung der beiden ungleichen Brüder Franz und Karl v. Moor wird durch Naturbilder bestimmt: Während Franz’ Ordnungs- und Zerstörungsvorstellungen, die sich in die agrikulturelle Wirklichkeit eintragen, auf Herrschaft und Ausbeutung zielen, zeigt sich bei Karl, der in der Natur aufgeht und Teil derselben wird, eher eine genießend-kontemplative Haltung. Karl und Franz von Moor sind nicht nur die symbolischen Repräsentanten einer spezifischen Kultur-Natur-Beziehung, sondern in ihrer Rede wird ein Interdiskurs erkennbar, der konnektiv-musterbildend wirkt und somit entscheidende Kriterien der ökologischen Literaturtheorie nach Hubert Zapf erfüllt. Als Tertium des Vergleichs mit der materiellen Bildlichkeit des Films dienen Bilder der Landnahme und der Naturzerstörung. Im Zentrum steht die Figur des Zauberers Saruman, dessen Eingriffe in die Natur der Ausweitung eigener Kriegspläne unterstellt sind. Im Vergleich der Bilder entstehen didaktisch relevante Fragen, mit denen sich literarisches Lernen anbietet: Die Sprach- und Vorstellungsbilder des Dramas markieren eine sich bis in die Gegenwart fortsetzende Bildtradition. Zugleich helfen die materiell gegebenen Bilder des Films, das sprachlich Transportierte im Schiller’schen Drama besser zu fassen und zu diskutieren. Didaktisch gesprochen verschiebt sich hier eine Text-Text-Konstellation zu einer Text-Film-Konstellation, in der aus Sicht der jugendlichen Rezipienten ein (außerhalb der Schule wenig gelesener) Text der Hochkultur einem (breit konsumierten) Film der Populärkultur gegenübersteht, verbunden durch das Thema Natur auf der inhaltlichen und Sprachlichkeit / Bildlichkeit auf der formalen Seite. Kulturökologische Relevanz erweist sich dabei zum einen in der offenbar werdenden Mehrschichtigkeit von Franz’ Herrschaftsansprüchen gegenüber der Natur, die mit Unterwerfung und Lebenstilgung einhergehen, und zum anderen in ästhetischen Grundkonstellationen, welche einen – menschlicher Grunderfahrung entsprechenden – abrupten Umschlag vom Schönen zum Hässlichen zeigen bzw. sprachlich evozieren. Aufgabe einer daran anschließenden kulturökologisch informierten Literaturdidaktik ist die Vermittlung der Erkenntnis, dass zivilisatorisch bedingte Deformierungen der Natur mit weniger Aufwand hergestellt werden als deren faktische oder vermeintliche Verbesserungen. Ein neuer Literaturunterricht im Lichte der kulturökologischen Literaturdidaktik steht in dem Beitrag von Beate Brunow im Mittelpunkt. Die neue, veränderte Sichtweise unter besonderer Berücksichtigung des Aspekts der Nachhaltigkeit erfordert kein radikales Umdenken, sondern eher eine Ver-

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schiebung des Schwerpunktes, einen anders gesetzten Betrachtungswinkel. Brunow zeigt dies sehr genau anhand eines Vergleichs von vier Gedichten, bei denen das Verhältnis von Natur, Kultur und menschlicher Seele je unterschiedlich thematisiert wird. Um die kulturökologische Interpretation stärker von anderen zu unterscheiden, beginnt Brunow mit einer ausführlichen Darstellung des Funktionsmodells der Literatur nach Hubert Zapf. Dessen Anschlussfähigkeit an die Literaturdidaktik hebt auf kulturelle Praxis ab und entwickelt verschiedene Bildungskomponenten, die vor allem den transdisziplinären Zugriff auf literarische Texte stärken. Es entsteht gewissermaßen ein neues didaktisches Dreieck, das Text, Kultur und Natur in Beziehung setzt zum Lehrer und Lerner sowie zum Unterrichts- und Lebensraum. Wie im Einzelnen die räumliche Öffnung gelingen kann, die auch einen Bezug zwischen Außen- und Innenwelt herstellt, zeigt Brunow, indem sie zwei sehr bekannte Gedichte von Goethe und Eichendorff (An den Mond und Mondnacht) moderner Naturlyrik gegenüberstellt (Eugen Roths Mahnungen und Margot Scharpenbergs Flußgott). Brunow stellt eine aus drei Komponenten bestehende Literaturdidaktik zur Diskussion, die neben dem Vernetzungsprinzip auch von den drei Säulen der Nachhaltigkeit (Ökonomie, Ökologie und Soziales) getragen wird. Damit schafft sie Ansatzpunkte für ein partizipatives Lernen im Feld der Beziehungen zwischen Natur, Kultur und Umwelt. Erlebbar wird die Schnittstelle zwischen Natur und Kultur im Raum. Anica Betz rückt den Zusammenhang zwischen dem Begriff Raum in seiner komplexen Bedeutung und der realen Lebenswelt in den Mittelpunkt ihres Beitrags über die bisher in der Deutschdidaktik wenig rezipierten Möglichkeiten der Outdoordidaktik. Der Raum als Kategorie der Ordnung menschlicher Wahrnehmung erscheint anders als der literarische Raum, der semantisch aufgeladen ist: Ein Ort kultureller Zuschreibungen. Auch der literarische Raum ist mindestens dreidimensional, er enthält topographisch-physische, kulturell-metaphorische und kognitiv-emotionale Komponenten. Betz fragt, wie diese im Deutschunterricht vermittelt werden können. Dabei zieht sie die Outdoordidaktik nach dem von Jutta Wermke entwickelten Modell heran. Dieses ist mehr als eine bloße »Literaturexkursion«, vielmehr wird versucht, einschlägige deutschdidaktische Themen im Freien zu vermitteln und zu beobachten, wie sich allein durch diesen Raum Wahrnehmung, Wissen und Kompetenzen verändern. Nicht nur das (Vor-)Lesen im Freien macht den Reiz dieses Ansatzes aus, auch Schreiben und andere Kulturtechniken mit einschlägigem Bezug zum Deutschunterricht werden anders erfahren in einem Raum, der nicht der umbaute (Schul-)Raum ist. Methodisch auch an der Kulturgeographie orientiert, erweitert die Outdoordidaktik die Vermittlungsmöglichkeiten von Literatur und Sprache um diese konkrete Dimension des freien Raums. Als Beispiel illustriert Betz die Vorteile dieses Zugangs durch den Umgang mit dem Roman Neue Vahr

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Süd von Sven Regener. Sie kann zeigen, dass die verschiedenen Leseaktivitäten (vor – während – nach) auch hier zum Tragen kommen, nur eben anders. Die »Reise« in den konkreten (Außen-)Raum schafft buchstäblich Freiräume im Umgang mit den Texten, mit den Anderen und schließlich mit sich selbst. Verbunden mit einer erfrischend neuen Reflexion auf Bildungskonzepte untersucht Almut Hille das Genre der Reisereportage als Form einer global und ökologisch orientierten Literatur, die sich dadurch auszeichnet, dass sie den Menschen in seinen natürlichen und sozialen Umgebungen auf vielschichtige und multiperspektivische Weise beobachtet und dabei die Natur in ihrem Eigenwert und in ihrer Bedeutung für den Menschen, der gleichzeitig Bestandteil des Ökosystems ist, wahrnimmt. Anhand von Ilija Trojanows Reportagen Szenen aus der Savanne der Jugend Nairobi 1981–1984 und Der Mensch und sein Wild. Der schwierige Umgang mit den letzten wilden Tieren aus seiner Sammlung Der entfesselte Globus. Reportagen (2010) beschreibt sie eine kosmopolitische Jugend, deren dynamischen Identitäten ein ungewohntes, durch kulturelle Kompetenz geprägtes Bildungskonzept eignet, und deren distanziertes Verhältnis zur kenianischen Natur. Erfahrungen der ursprünglichen Natur Kenias in Wild- und Nationalparks erscheinen als Gegengewicht zur kulturellen Diversität und werden verbunden mit einem Plädoyer für ein ›glokales‹ Miteinander von Natur und Mensch. Aspekte ähnlicher, durch ›west-östliche Konfusionen‹ geprägte Beziehungen zur Umwelt verfolgt Hille in Politickys In 180 Tagen um die Welt. Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl (2008). Der Protagonist Fichtl aus Oberviechtach muss sich nach einem Lottogewinn unversehens im deutschen Kreuzfahrer-Jetset der MS Europa behaupten, in der Natur nur noch als Kulisse erscheint. Das MS Kreuzfahrerschiff, von globaler Exotik ausgezehrt, wird zur Metapher des Rückzugs auf die eigene Position. Die ökologisch orientierten Textlektüren überführt Hille in ein Konzept des globalen Lernens. Dieses zielt auf die Fähigkeit, sich »in einer holistischen Konzeption von Welt zu verorten« und wird verbunden mit der Erkenntnis, dass die eigene Weltsicht keine universale Gültigkeit besitzt; angestrebt wird ein vertieftes Verständnis von Konzepten wie Gerechtigkeit, Menschenrechten sowie die Übernahme von Verantwortung und das Sich-in-Beziehung-Setzen zu globalen Entwicklungen. Den in der Literaturdidaktik noch kaum geläufigen und komplexen Begriff der Atmosphäre beleuchtet Kaspar H. Spinner aus didaktischer, ästhetischer und ökologischer Perspektive. Er unterscheidet zunächst den auf Raumerfahrungen ausgreifenden Begriff der Atmosphäre von dem traditionellen, an das Subjekt gebundenen Begriff der ›Stimmung‹. Auf der Basis eines Ausschnitts aus einem Prosatext erläutert er zunächst mehrere ästhetische Merkmale von Atmosphäre wie Synästhesie, räumliche Wahrnehmung, Bedingtheit durch leibliche Präsenz, wechselseitige Resonanz von Subjekt und Umgebung, existentielle

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Bedeutsamkeit und prosodische Wirkung von Sprache. Sodann werden methodische Möglichkeiten für eine konkrete Umsetzung im Literaturunterricht vorgestellt, und zwar am Beispiel eines Gedichtvergleichs, des szenischen Vorlesens und anhand von Schreib- oder auch Malaufträgen zu Gedichten. Im dritten und letzten Teil wird die Perspektive auf einen ›erweiterten Ökologiebegriff‹ ausgedehnt, der die Beziehungen des Menschen und insbesondere der Schüler und Schülerinnen zur zivilisatorisch gestalteten Außenwelt in den Vordergrund rückt. Möglichkeiten der Inszenierung von Atmosphären sieht Spinner dabei insbesondere in der Theater- und Filmdidaktik. Die Aufmerksamkeit für Atmosphäre als Gespür für die Resonanz zwischen Subjekt und räumlicher Umgebung betrifft den sorgsamen Umgang mit der natürlichen Umwelt und ist so für eine kulturökologisch fundierte Didaktik relevant. Die auf Natur gerichteten Lernprozesse sehen in dieser ein Vorbild, von dem zu lernen ist, wie der Mensch sich selbst verstehen sollte. Die unter dieser Prämisse im vierten Kapitel subsumierten Artikel tragen dazu bei, die »Natur« des Menschen als eine der Bedingungen der gewordenen Kultur zu erkennen und zu beschreiben. Literarische Naturdarstellungen sind daher mitnichten ausschließlich auf den Objektcharakter der Natur gerichtet, sie ermöglichen vielmehr Einblicke in die seelischen, moralischen und sozialen Seiten jedes menschlichen Wesens, sie halten einen Spiegel vor, in dem die Menschen durch das Andere der Natur hindurch sich selbst erkennen. Die hier versammelten letzten Beiträge des Bandes zeigen auf, wie diese spannende und für viele Schülerinnen und Schüler überraschend neue Sichtweise didaktisch erarbeitet werden kann. Anhand dreier Kalendergeschichten untersucht Ulrike Kruse Naturdarstellungen in Johann Peter Hebels Schatzkästlein eines Rheinischen Hausfreunds. Natur – zunächst im Gegensatz zu Kultur stehend gedacht – erscheint im Rahmen der göttlichen Schöpfung als zum Nutzen des Menschen geschaffen und wird zur Verdeutlichung moralischer und religiöser Regeln und Werte funktionalisiert; auf diese Weise verliert ›Natur‹ jedoch ihren Status und wird in der Folge des menschlichen Eingriffs zu ›Kultur‹. Der damit verbundene Bildungsanspruch beruht auf einer Wissensvermittlung über Regeln, die aus dem Weltwissen abgeleitet und mit Orientierungswissen verknüpft werden. Dieser Anspruch kann in der literarischen Form der Kalendergeschichte, deren volkstümlich-unterhaltende sowie didaktische und realitätsbezogene Ausrichtung Hebel entscheidend prägte, auf ideale Weise umgesetzt werden. In Der Mensch in Hitze und Kälte wird die (durch seinen Verstand gegebene) Anpassungsfähigkeit des Menschen an extreme Naturgegebenheiten verglichen mit derjenigen der Tiere und Pflanzen; Der Maulwurf betrachtet das im Titel genannte Tier aus naturkundlicher Sicht entgegen bisheriger Darstellungen nicht als Schädling, sondern als Nützling, der seinerseits wurzelfressende Schädlinge

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vertilgt. Die Kalendergeschichte Baumzucht zeigt die Verbindung des Obstbaums mit religiöser Symbolik im Kontext der Auferstehung des Leibes. Das von Kruse herausgearbeitete Verhältnis von Mensch und Natur enthüllt zwar ein grundsätzlich anthropozentrisches, an der Nutzbarmachung der Natur für den Menschen orientiertes (christliches) Weltbild, doch erscheint hier die ländlichbäuerliche Ökonomie als vereinbar mit einer ökologischen Naturauffassung. Deutschlands erster »Öko-Roman«, das mit dem Untertitel Ein Sommerferienheft versehene Erzählwerk Pfisters Mühle von Wilhelm Raabe, ist bereits 1884 erschienen und basiert auf einem tatsächlichen Fall von Wasserverschmutzung, der vor einem Gericht verhandelt und mit der moderaten Bestrafung der Verursacher beendet wurde. Die Akten lagen Raabe vor, jedoch nimmt er sie nur zum Anlass für eine Geschichte, die in besonderer Weise die Ästhetik des Verfalls und die Folgen des industriellen Wandels behandelt. Natur kann nicht mehr in ihrer Schönheit beschrieben werden, ohne die industrielle Naturzerstörung, die im 19. Jahrhundert längst begonnen hatte, ebenso zu zeigen. Elisabeth Jütten schildert, wie das bis dahin im Zusammenhang mit literarischen Naturdarstellungen oft genutzte Idyllenmotiv kippt, weil es nicht mehr opportun ist. Raabes Roman feiert die Amalgamierung der Natur-Kultur unter dem Vorzeichen des Lebens, folgerichtig bettet Jütten einen Exkurs zur geistesgeschichtlichen Tradition des Lebensbegriffs in ihren Text ein. Dabei berücksichtigt sie, dass auch Raabe von dem antiken Diktum ausgeht, dass das Ganze der Natur das dem Leben zugrundeliegende Gesetz ist – welches nun im Kern beschädigt ist, denn zur Ganzheit der Natur gehört ab jetzt auch ihre durch den Menschen verursachte massive Zerstörung. Von da aus gelangt Jütten zur Problematik eines ausschließlich biowissenschaftlich verstandenen Lebensbegriffs, der die heutige Zeit prägt, und dem sie die antike Doppelwertigkeit von zoe und bios gegenüberstellt. Sie zeigt anhand ihrer Interpretation von Pfisters Mühle, dass im Spannungsfeld von Biologie und Ästhetik ein anderer Lebensbegriff entsteht, der wiederum neues Wissen über die Natur und den Menschen ermöglicht. Ausgangspunkt des Beitrags von Susanne Scharnowski ist die Frage nach Gründen für den gegenüber der Dominanz technisch-naturwissenschaftlicher Diskurse geringen Einfluss ästhetischer und geisteswissenschaftlicher Perspektiven auf Positionen der politischen Ökologie. Scharnowski führt diese Beobachtung zurück auf die primär historische Perspektive der Geistes- und Literaturwissenschaften, insbesondere die Konzentration auf Gedächtnistheorien und die Sprachlichkeit der Gegenstände. Einen weiteren Grund erkennt sie in der Abwendung der Hochkultur von der Natur im 19. Jahrhundert, verbunden mit einem Festhalten an kulturellen Positionen der romantisch-idealistischen Ästhetik. Dies betrifft auch die Heimatbewegung um 1900 (Ludwig Klages, Ernst Rudorff), in welcher sich – gegenläufig zum modernen Demokratiebe-

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wusstsein – eine ästhetisch-kulturell eher konservativ bestimmte Subjektivität herausbildet. Der an und für sich naturnahen Heimatbewegung blieb aufgrund ihrer Fortsetzung in nationalsozialistischem Gedankengut eine Weiterentwicklung hin zur Ökologie verwehrt. Der Blick auf die Natur gerät so zur regressiven Kompensation, derzufolge die Geisteswissenschaften die negativen Konsequenzen des technisch-industriellen Fortschritts ausgleichen sollen. Daraus leitet Scharnowski die These ab, dass Natur zusammen mit einem Bewusstsein für ästhetische Fragen gegenwärtig wiederkehrt. Konsequenzen dieser Entwicklung zeigen sich bis zur heutigen Energiewende, in der sich Fortschritt (Aufstellung von Windparks etc.) und das Bewusstsein der Schönheit der Natur gegenüberstehen. Scharnowski plädiert dafür, inmitten der dominanten Rhetorik der ökologischen Politik emotional-ästhetisch begründeten Positionen um die Debatten über Nachhaltigkeit und Ökologie vermittels des Begriffs der Artenvielfalt eine Stimme zu geben, wozu letztlich der Literaturunterricht beitragen soll. Den soweit überwiegend durch die Disneyverfilmung als Kinderbuchklassiker wahrgenommenen Roman Bambi (1923) von Felix Salten stellt Nick Büscher vor als Beispiel einer ›anthropofugalen‹ Literatur, die sich in einen aus der Kulturkritik des Ersten Weltkriegs gespeisten Diskurs von Misanthropie und Jagdkritik einreiht. Vordergründig geht es nicht um die Bildung des Menschen, der (als ›Er‹ in der Figur des Jägers) an den Rand der Handlung gedrängt wird, sondern um die Bildung des jungen Rehkitzes Bambi. Kulturelle Bildung vollzieht sich aus der Perspektive des Tiers in der Natur, in welcher der Mensch als Gewalt ausübender Fremdkörper erscheint und – lediglich mit dem Personalpronomen benannt – namenlos bleibt. Dennoch verfällt die Darstellung nicht in eine allzu künstliche Naturidylle, wird doch auch der Überlebenskampf der Tiere in den Blick genommen. Die Gemeinschaft der Rehe als Waldtiere bietet eine Reflexionsebene für die Geschehnisse, die geeignet ist, den kulturökologischen Bildungsprozess beim Leser zu initiieren. Das Schicksal des vom Menschen gezähmten Rehs Gobo, das die Fähigkeit verloren hat, Gefahren instinktiv zu gewahren, offenbart die Nähe zum Menschen als Sündenfall. Mit dem Tod des Menschen wird eine anti-anthropozentrische Haltung ausgedrückt. Dies zeigt einerseits dessen Sterblichkeit und bezeugt den Verlust seiner Allmacht und Allgüte; andererseits jedoch kann damit eine im Text freilich bewusst Utopie bleibende Reintegration des Menschen in die Natur diskutiert werden. Tiergeschichten üben eine besondere Faszination auf Kinder aus und transportieren zugleich kulturökologisch bedeutsame Inhalte. Bettina Oeste widmet sich in ihrem Beitrag einem außergewöhnlichen Bilderbuch, das sich nicht nur an die Kleinsten richtet: Der Schäfer, der Wind, der Wolf und das Meer (2010) von Einar Turkowski. Es eignet sich besonders für den intragenerationellen Austausch über Fragen des Naturverständnisses, schließt sich doch Turkowski

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einerseits an die Tradition der Kinderbuchklassiker an, mit deren überlieferten Sichtweisen er andererseits bricht. Um diesen Wandel hervorzuheben, geht Oeste zunächst auf verschiedene Kinderbuchklassiker ein und klärt diesen Begriff, der nicht für eine Epoche, sondern eher für eine traditionelle Gattung steht, in der naturnahe Themen schon immer ihren Platz hatten. Im Zuge der Entwicklung der realistischen Kinder- und Jugendliteratur entstand eine spezifische Form des kulturellen ›Öko-Bewusstseins‹, überraschenderweise ausgelöst von Bilderbüchern. Turkowskis Buch enthält eine subtile Didaktik, auf die sich Oeste konzentriert, weil diese nicht offensichtlich ist. Das Bilderbuch ist sehr beziehungsreich und greift innerhalb des kulturellen Wissens auf Bestände zurück, die den Kindern zunächst nahe gebracht werden müssen. Somit lassen sich zahlreiche Leerstellen und intertextuelle Verweise finden, die erschlossen werden müssen. Oeste legt dar, was die Lehrpläne fordern, nämlich den Aufbau eines Handlungskonzepts und einer kritischen Werthaltung in Bezug auf das Thema Mensch, Natur und Umwelt. Sie zeigt aufschlussreich und ergebnisorientiert, wie der Deutschunterricht das einschlägige Fachwissen um den oft unterschätzten Bereich des emotionalen Wissens ergänzt. Auf diese Weise trägt er dazu bei, dass Schülerinnen und Schüler ein ›aktives Handlungsmodell‹ (Ulrich Beck) im Alltag entwickeln, mit dessen Hilfe sie den Umweltherausforderungen besser begegnen können. Wir danken dem Verlag für die Möglichkeit, die TOLD-Idee einer interessierten Öffentlichkeit vorstellen zu können und allen Beitragenden für die vielfältigen Umsetzungen dieser Idee. Viele Anregungen verdanken wir dem Kreis der Forscherinnen und Forscher des DFG-Netzwerks Ethik und Ästhetik in literarischen Repräsentationen ökologischer Transformationen unter der Leitung von Evi Zemanek. Unermüdlich unterstützte uns das Team der Forschungsstelle Kulturökologie und Literaturdidaktik an der Universität Siegen bei der redaktionellen Bearbeitung, typologischen Gestaltung und Drucklegung. Dieser herzliche Dank geht namentlich an Bastian Dewenter, Jessica Schmidt, Josef Schmitz und Anna Stemmann. Im Team der Universität zu Köln haben Jule Lorleberg und Jan Wittmann mitgearbeitet. Auch ihnen gilt besonderer Dank. Im Herbst 2015 Sieglinde Grimm Köln

Berbeli Wanning Siegen

Kapitel 1: Die Zukunft meistern – an der Zukunft scheitern

Elisabeth Hollerweger

»ES SEI DENN, jemand, so wie du,…«: Der Umweltklassiker Der Lorax zwischen Bilderbuch und Kinoleinwand

»Das Klügste, was Dr. Seuss in ›Der Lorax‹ vollbringt, ist jedoch der sinnliche Beweis der großen Wahrheit, dass noch der allerpragmatischste Kampf gegen das Falsche auf utopischen Brennstoff, Ausgedachtes, sprich: Kunst angewiesen ist. Wo das Falsche wirklich ist, muss man das Unwirkliche denken lernen, um das Richtige zu tun.« (Dath 2012)

Treffender als es Dietmar Dath in seiner Rezension zum Umweltklassiker Der Lorax gelungen ist, lässt sich die Überzeugung von der Wirkungsmacht ästhetisch gestalteter Erzählungen nicht auf den Punkt bringen, die auch dem kulturökologischen Erkenntnisinteresse und damit dem vorliegenden Beitrag zugrunde liegt. Davon ausgehend wird am Beispiel des »legendären Waldmeisters«, als der der Lorax auf dem Plakat zur Kinoverfilmung 2012 angepriesen wurde, herausgearbeitet, inwiefern gerade fiktional gestaltete Geschichten durch ihre semantische Mehrfachcodierung, ihr Identifikationspotential und ihre spezielle Konfliktkonstruktion zum Nachhaltigkeitsdiskurs beitragen können. Da das Buch von Theodor Seuss Geisel alias Dr. Seuss bereits 1971 publiziert wurde, sollen sowohl seine Aktualität als auch seine Aktualisierung durch den zeitversetzten Medienwechsel beleuchtet werden. Daths Einschätzung, dass der Film vom ursprünglichen Werk »einen allenfalls indirekten Begriff vermittelt« (ebd.) wird in einer detaillierten Gegenüberstellung ausgewählter Szenen überprüft. Dabei rücken in einer erzähltheoretischen Analyse zunächst Handlungselemente, Figurenkonzeptionen und Erzählstrukturen in den Fokus der Betrachtung, bevor kulturökologische Funktionen und nachhaltigkeitsrelevante Sensibilisierungspotentiale hinterfragt werden.

Erzähltheoretische Analyse Die Grundstruktur von Rahmen- und Binnenhandlung macht in beiden Repräsentationsformen der Lorax-Geschichte Gegenwart als Produkt der Vergangenheit begreifbar und gliedert deshalb auch den folgenden Medienver-

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Elisabeth Hollerweger

gleich. Die ausgewählten Aspekte bauen auf dem erzähltheoretischen Modell von Martin Leubner und Anja Saupe (Leubner / Saupe 2005) auf.

Vom Wissensdrang zur Verliebtheit: Komplikationen in der Rahmenhandlung Das Geheimnis um den »Weg des entschwundenen Lorax« (Geisel / Budde 2012, S. 7) steht im Fokus der ersten Bilderbuchseite. Das Schild mit der entsprechenden Aufschrift ragt gemeinsam mit dem einzigen verbliebenen Vogel farblich aus der ansonsten grauen Landschaft heraus und erregt ganz offensichtlich die Aufmerksamkeit des kindlichen Protagonisten. Die ihm ins Gesicht geschriebene Verwunderung und der Mangel an entsprechenden Erklärungen treiben ihn voran, um der Existenz dieser rätselhaften Figur auf den Grund zu gehen und werden damit zur zentralen Komplikation der Rahmenhandlung. Durch die synchrone imperative Erzählweise wird die anstehende Weltverbesserung in eine ungewisse Zukunft verlagert und in einzelnen Schritten an den Protagonisten, gleichzeitig aber auch an den Rezipienten herangetragen. Im starken Gegensatz dazu stehen die Eingangsszenen des Films, in denen der Plot durch eine extraextradiegetische Ebene ergänzt wird. In dieser tritt der Lorax vor einem Theatervorhang selber als heterodiegetische Erzählinstanz auf und leitet die von ihm als »wirklich passiert« (Renaud 2012, Min. 01:01) präsentierte Geschichte mit den Worten ein: Wir starten in Thneedville, einer künstlichen Stadt, in der Plastik die ganze Natur ersetzt hat Die Leute dort mögen es so, sind ohne die Bäume zufrieden und froh. Jetzt fragt ihr, wie ist das geschehn? Musik ab, ihr werdet’s gleich sehen. (Renaud 2012, Min. 01:11–01:25)

Der zentralen Frage »Was war der Lorax?« wird durch die retrospektive Erzählform ebenso vorgegriffen wie der im Buch nur prospektiv als »vielleicht« in Aussicht gestellten Rückkehr des Waldhüters. Stattdessen lenkt der Filmanfang das Interesse auf die Entstehung der Plastikstadt Thneedville, in der man Frischluft kauft und den Verbleib von Müll lieber nicht hinterfragt, sondern sich an der schönen Fassade von Bäumen aus Baumfabriken erfreut. Der Protagonist Ted ist weniger daran interessiert, was sich hinter der Fassade verbirgt als an dem Mädchen Audrey und macht sich letztlich nicht aus eigenem Antrieb auf den Weg zum Onceler, sondern nur deshalb, weil dies als die einzige Möglichkeit erscheint, Audreys Herzenswunsch nach einem richtigen Baum zu erfüllen und damit derjenige zu werden, den sie »auf der Stelle heiraten« (Renaud 2012, Min. 06:11) würde.

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Die Grundkomplikation ist demnach zwar ebenfalls ein Mangel, dieser manifestiert sich aber nicht in Teds eigenem Wissensdrang, sondern vielmehr in seiner bislang unerwidert gebliebenen Verliebtheit. Wie sich das nicht zuletzt auf die Rezeption der beiden Medien auswirkt, wird in einer genaueren Figurenbetrachtung weiter ausgeführt.

Vom selbstbestimmten Kind zum weiblich fremdbestimmten Jungen: Figurenkonstruktion in der Rahmenhandlung An wen sich das »Du« der ersten Bilderbuchseiten richtet, wird entsprechend der Erzählform des »geflochtenen Zopfes« (Thiele 2000, S. 230) erst durch die Interdependenz von Text und Bild sichtbar gemacht. Das heißt, Text und Bild ergänzen sich insofern, als der im Text scheinbar direkt angesprochene Rezipient im Bild eine Art »Stellvertreter« (Bergthaller 2007, S. 54) bekommt. Dieser bleibt im weiteren Verlauf ebenso namen- wie sprachlos, wird demnach als Charakter kaum ausdifferenziert und bietet auf diese Weise größtmögliches Identifikationspotential. Die direkte Anrede wird im Film zwar durch den Lorax übernommen, richtet sich hier allerdings an eine unbestimmte Masse, in der der einzelne Rezipient auch untergehen bzw. sich seiner Verantwortung entziehen kann. Darüber hinaus werden Ted von Anfang an spezifische Eigenschaften zugeschrieben, die ihn als eigenständigen Charakter erscheinen und seine Funktion als »Platzhalter« (ebd., S. 62) für den Leser einbüßen lassen. Audrey übernimmt die Rolle einer weiblichen Identifikationsfigur, repräsentiert aber gleichzeitig die Antriebskraft, die im Buch aus dem Protagonisten selbst zu kommen scheint. In der Begegnung mit dem Einstler konzentriert sich im Bilderbuch der Konflikt zwischen der gealterten profitorientierten und der jungen, nach neuen Werten und Wegen suchenden Generation. Der Einstler hält zunächst an seinem materialistischen Prinzip fest, indem er sich sogar (s)eine Geschichte bezahlen lässt und seinen Lohn »noch hundertmal nach[zählt]« (Geisel / Budde 2012, S. 14), gelangt im Akt des Erzählens aber nach Jahren des Grübelns zu der entscheidenden Erkenntnis: ES SEI DENN jemand, so wie du, kümmert sich darum und sieht zu. Denn sonst, das garantier’ ich dir, wird niemals etwas besser hier. (ebd., S. 64)

Die unvermittelte Übergabe des letzten Trüffelasamens und damit der Verantwortung für eine bessere Zukunftsgestaltung scheint in diesem Zusammenhang wie eine Sühne und ermöglicht ein ebenso hoffnungsvolles wie offenes Ende.

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Auch wenn beide Figuren bereichert aus dem Zusammentreffen hervorgehen und die Grundkomplikation der Handlung damit positiv aufgelöst wird, bleibt die Rückkehr des Lorax eine erstrebenswerte Eventualität und deren tatsächliches Eintreten vom aktiven Handeln des Protagonisten alias jedes einzelnen Rezipienten abhängig. Im Film wird zum einen das Figureninventar entscheidend erweitert, was die Konstellation von Ted und dem Einstler zu einer von vielen und bei Weitem nicht der konfliktbeladensten macht. So wird als Teds Gegenspieler vorwiegend der Bösewicht OHare inszeniert, der mit Thneedvilles Frischluftversorgung das große Geld verdient, demnach Teds Überschreitung der Stadtgrenzen ohne Rücksicht auf Verluste zu unterbinden versucht und damit viel mehr zum Spannungsträger wird als der vergleichsweise harmlose Onceler. Zum anderen ist der Besuch beim Onceler von Anfang an auf den letzten Trüffelasamen ausgerichtet. Die Großmutter übernimmt die Eingangsverse aus dem Buch und damit die Position des dort unbestimmt bleibenden Erzählers fast wörtlich und fordert Ted direkt zum Handeln auf. Allerdings bezieht sie sich nicht auf den Verbleib des Lorax, sondern auf den der Bäume, wodurch die Zentralposition der Symbolfigur abgeschwächt wird. Wenn Ted dem Onceler schließlich vorschlägt, seine Ausführungen »etwas ab[zu]kürzen« (Renaud 2012, Min. 16:05–16:07), wird deutlich, dass dessen Geschichte keinen Wert an sich mehr besitzt, sondern lediglich als Mittel zum Zweck fungiert. Demnach bezahlt Ted nicht nur das Erzählen mit den aus dem Buch übernommenen Utensilien, sondern vielmehr den Baumsamen damit, dass er dem Einstler notgedrungen Zeit schenkt und ihm zuhört. Aus dem selbstbestimmten und lediglich durch seine eigene kindliche Neugier vorangetriebenen Protagonisten der Bilderbuchbilder wird damit ein weiblich fremdbestimmter männlicher Teenager, der sich in seiner anfänglichen Fixierung auf den eigenen Vorteil kaum von dem Einstler früherer Tage unterscheidet und erst nach und nach die weitreichende Notwendigkeit seiner Mission erkennt.

Vom Gewinnstreben zur Kindheitspsychose: Komplikationen in der Binnenhandlung Die Schädigung der unberührten Natur durch das Eindringen des Einstlers wird im Bilderbuch als Grundkomplikation der Handlung les- und sichtbar gemacht. Die Auflösung ist durch die schrittweise Ausbeutung aller Ressourcen und die damit einhergehende Zerstörung des Lebensraumes von Tieren und Pflanzen eindeutig negativ. Faktor dieser Komplikation ist ein fast zwanghaft verinnerlichtes Gewinnmaximierungsstreben, dem der Einstler vergleichbar einem Na-

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turgesetz machtlos ausgeliefert scheint und auf das er sich jederzeit zur Rechtfertigung fragwürdigen Handelns berufen kann: Geschäft ist Geschäft! Da kann man nichts tun. […] der Laden muss wachsen, so ist das nun mal. (Geisel / Budde 2012, S. 43;45)

Diese implizite Kritik am wachstumsorientierten Gesellschaftssystem schwächt der Film insofern ab, als er das Handeln des Oncelers auf eine frühe Erfahrung der Erniedrigung zurückführt. So setzt seine Geschichte nicht erst mit der Ankunft im Tal des Lorax ein, sondern bereits mit Oncies Auszug von zu Hause. Seine Absicht, die Welt zu verändern, wird von der überheblichen Mutter mit den Worten kommentiert: »Wenn am Ende deine Erfindung keinen Erfolg hat und du als Versager dastehst…dann wundert mich das überhaupt nicht.« (Renaud 2012, Min. 16:28–16:36). Damit wird der Komplikation des Buches im Film eine weitere vorgeschaltet: der Mangel an Anerkennung, der – anders als bei Ted – nicht von einem umschwärmten Mädchen, sondern von den nächsten Familienmitgliedern ausgeht und im späteren Verlauf auch explizit zur Sprache gebracht wird: »Du hast doch immer gesagt, ich würde nie etwas zustande bringen. […] Das hat mich sehr lange sehr unglücklich gemacht.« (Renaud 2012, Min. 47:13–47:25). Da die Wertschätzung der Verwandtschaft anatrop zum Baumbestand zunimmt, wird dieser Mangel in der Naturzerstörung kurzfristig sogar positiv aufgelöst. Diese Beobachtungen lassen sich in einer genaueren Auseinandersetzung mit der Figurenkonstruktion präzisieren.

Vom selbstbestimmten Geschäftsmann zum weiblich fremdbestimmten Versager: Figurenkonstruktion in der Binnenhandlung Während in der Binnenhandlung des Buches Einstler und Lorax als Gegenspieler auftreten und die Familie des Einstlers namen- und konturlos bleibt, schließen Onceler und Lorax im Film zunächst Frieden und eine Art Freundschaft, als deren Gegenspieler die materialistische Familie des Oncelers auftritt. Das Vorgehen des Einstlers wird im Buch durchweg als kritikwürdiges Resultat kapitalistischer Prioritätensetzung deutlich, deren verheerende Konsequenzen nicht mehr relativierbar sind. Der Einstler ist von der Notwendig- und Richtigkeit dieser Werte überzeugt und vertritt sie entsprechend unnachgiebig und konsequent. Im Gegensatz dazu lässt der Film den Onceler vom aktiven Täter zum passiven Opfer seiner Familie werden und versucht sein Verhalten als Kompensation der lebenslang zugewiesenen Versagerrolle zu rechtfertigen. Verspricht der Onceler dem Lorax zunächst, nie wieder einen Baum zu fällen und

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stattdessen das Material für die Thneeds von den Trüffelas zu pflücken, muss er letztlich vor seiner Mutter kapitulieren: »Kein Aber, Oncie. Du bist jetzt Unternehmer. Du musst jetzt vor allem an deine Firma denken – und an deine Mama.« (Renaud 2012, Min. 50:00–50:06). Lässt sich das umweltschädigende Verhalten des Bilderbuch-Einstlers also direkt auf entsprechende Einstellungen und subjektive Normen zurückführen, wird im Vorgehen des Film-Einstlers aus umweltpsychologischer Sicht eine Verhaltenslücke deutlich, die nur durch intervenierende Variablen (vgl. Katzenstein 2011, S. 16) zu erklären ist. Dabei fällt auf, dass sich die bereits in der Rahmenhandlung zu beobachtende weibliche Dominanz auch in der Binnenhandlung entscheidend auf die Neukonzeption des männlichen Protagonisten auswirkt, wobei Oncie im Gegensatz zu Ted ausschließlich weiblichen Antitypen ausgesetzt ist.

Vom omnipräsenten zum ausgrenzbaren Raum: Raumkonstruktionen im medialen Wandel Die Binnenhandlung ist sowohl im Buch als auch im Film eingebettet in eine Stück für Stück verschmutzende Naturszenerie. Farben und Formen der Trüffelabäume und des sie umgebenden Lebens weisen in beiden Repräsentationsformen große Ähnlichkeiten auf und unterscheiden sich letztlich vor allem durch Bildstile und -dimensionen: So werden aus bunten Farbzeichnungen plastische 3D-Animationen und die seidigen Tuffs fast greifbar :

Abb. 1: Darstellung des Trüffelawaldes in Buch (Geisel / Budde 2012, S. 21.) und Film (Renaud 2012, Min. 17:22)

Während die Handlung im Buch aber direkt an dem »herrlichen Ort« (Budde / Geisel 2012, S. 18) einsetzt und dieser die Idee, Thneeds zu stricken erst hervorbringt, wird die Besonderheit der Landschaft im Film dadurch hervorgehoben, dass der Einstler auf der Suche nach Material für seine bereits geplanten Thneeds zunächst um die ganze Welt reist und damit ganz unterschiedliche

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Räume wie Stoppelfelder, grüne Wiesen und Wüsten durchquert. Das Tal des Lorax wird damit zwar stärker als einzigartiger Naturschatz und Ziel aller Wünsche fokussiert, seine Ausbeutung aber gleichzeitig konkreter lokalisiert auf einen Lebensraum unter mehreren, den man jederzeit wieder verlassen kann. Das Brachland der Rahmenhandlung wird erst im Rückblick als Resultat eines sukzessiven Zerstörungsprozesses deutlich und erscheint im Buch zunächst als unausweichlicher omnipräsenter Status quo. In der nächtlichen Szenerie der ersten Seite lässt sich im Hintergrund eine Stadt mit vereinzelten Lichtern erkennen, die inmitten der tristen Landschaft aufgebaut ist und durch die farbliche Gleichsetzung als fester Bestandteil derselben erscheint. Im Gegensatz dazu lebt die ›perfekte‹ Plastikstadt des Films gerade von der Fassade, die alles Dahinterliegende verbirgt. Lediglich der Name Thneedville verweist auf die Thneeds als Auslöser für den Aufbau der Schein- und Gegenwelt. Die von Menschenhand zugrunde gerichtete Natur wird damit zum ausgegrenzten und auch ausgrenzbaren Raum. Dies mag in Anbetracht der immer globaler werdenden Umweltprobleme zwar als fragwürdiges und nicht mehr zeitgemäßes Konstrukt erscheinen, spiegelt letztlich aber durchaus realistische und gerade im Zusammenhang mit der Erderwärmung immer wieder beobachtbare Wahrnehmungsmuster wider, »[d]enn selbst wenn der Klimawandel den gesamten Globus betrifft, kann er im Alltag nur über lokale Deutungsmuster erfahren werden« (Greschke 2010).

Von der Jeremiade zum Märchen? Erzählstrukturen im Vergleich Wie Hannes Bergthaller in seiner »strategischen Überinterpretation« des Bilderbuchklassikers anmerkt, ist das, was The Lorax als ökologischen Text kenntlich macht, […] die Weise, in der hier geläufige kulturkritische Metaphern verbildlicht und versprachlicht werden, und die strukturelle Affinität des Plots zu jenen Geschichten, welche die populäre Ökologie erzählt. (Bergthaller 2007, S. 59)

Konkret zeigt Bergthaller Parallelen zum triadischen Aufbau der Jeremiade als »klassische[s] Vehikel für Gesellschaftskritik in den USA« (Bergthaller 2007, S. 59 f.). Im Gegensatz dazu erinnert der Filmaufbau eher an Märchenstrukturen. Der Lorax tritt zu Beginn als Märchenerzähler auf, der im ›Es war einmal‹Stil den Vorhang direkt auf den Helden Ted freigibt. Audrey wird vom ersten Augenaufschlag an als begehrenswerte Prinzessin inszeniert, die ihr Heiratsversprechen an eine vermeintlich »verrückte« (Renaud 2012, Min. 06:13) Bedingung knüpft. Drei Anläufe muss der Held unternehmen, bis er den Samen in

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Empfang nehmen und die Prinzessin für sich gewinnen kann. Dabei gilt es immer größeren Widerständen zu trotzen: So stehen Teds erster Überschreitung der Stadtgrenzen Warnschilder im Weg, beim zweiten Anlauf muss er nicht nur seine Mutter austricksen, sondern auch OHare, der durch Überwachungskameras über Teds »geschäftsschädigendes« (vgl. Renaud 2012, Min. 30:11) Interesse an Bäumen informiert ist und das dritte Mal ist das Tor zur Außenwelt hermetisch abgeriegelt. Die Binnenerzählung wird zu einem Bestandteil der Aufgabe des Helden und von der Rahmenerzählung nicht mehr dem Wortsinn nach umschlossen wie im Buch, sondern im Wechsel mit dieser präsentiert. Bei der Überwindung des Gegenspielers fungieren Großmutter und schließlich auch Mutter als Helferinnen, sodass es am Ende zum finalen Kuss zwischen Held und ›Prinzessin‹ kommen kann. Die Reimform, die den Bilderbuchtext durchgehend prägt und sich nicht zuletzt durch Sprachspiele und Lautmalereien auszeichnet, wird im Film in Lieder und vereinzelte Loraxverse verlagert, was ebenfalls an zentrale Märchenverse erinnert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die »ästhetische Dimension – die ganze Menagerie fiktiver Kreaturen, die bunten Illustrationen, das kongeniale Zusammenspiel von Metrik, Sprachklang und suggestiven Wendungen des Plots« (Bergthaller 2007, S. 59) entscheidende Veränderungen erfährt, die die zentrale Botschaft des Buches auf eine Art ›Und wenn sie nicht gestorben sind…‹ herunterbrechen. War der Rezipient im Buch durch die raffinierte Erzählkonstruktion direkt mit aufgefordert, zur Rückkehr des Lorax beizutragen, bekommt er im Film vermittelt, dass diese Mission bereits erfolgreich durchgeführt ist, die Weltrettung also nicht mehr in der Zukunft ansteht, sondern in der Vergangenheit abgeschlossen wurde.

Vom kulturkritischen Metadiskurs zum imaginativen Gegendiskurs? Kulturökologische Funktionen im Wandel Als »zentrale Arbeitshypothese« einer kulturökologisch ausgerichteten Literaturwissenschaft betrachtet Hubert Zapf, dass Literatur sich in besonders komplexer Weise mit der kulturbestimmenden Basisbeziehung von Kultur und Natur auseinandersetzt und dass sie diese »ökologische« Dimension des Diskurses gerade aufgrund der spezifischen Weise, in der sie kulturelles Wissen und kulturelle Erfahrung generiert, d. h. aufgrund ihrer semantischen Offenheit zu erschließen vermag. (Zapf 2008, S. 16.)

Wie im Vorangegangenen gezeigt wurde, ist es gerade diese semantische Offenheit, die sich in Buch und Film grundlegend unterscheidet. Ob und inwiefern sich diese Veränderungen auch auf die kulturökologische Funktion der Erzäh-

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lung auswirken, wird deshalb im nächsten Schritt hinterfragt. In einem triadischen Funktionsmodell differenziert Zapf die »kulturökologische Funktion des literarischen Diskurses innerhalb der Gesamtkultur« (ebd., S. 32) weiter aus und beschreibt in diesem Zusammenhang drei Teilfunktionen, die in folgender Tabelle vereinfacht wiedergegeben werden: Kulturökologische Funktionen von Literatur… Kritische Funktion als kulturkritischer Metadiskurs

…und was damit gemeint ist

Gegendiskursive Funktion als imaginativer Gegendiskurs Vernetzend-reintegrierende Funktion als reintegrativer Interdiskurs

Literatur entwirft imaginäre Gegenmodelle, die kulturell Ausgegrenztes ins Licht rücken Literatur führt kulturell getrennte Spezialdiskurse zusammen, vernetzt Wissen

Literatur resümiert, reflektiert , kritisiert kulturelle Fehlentwicklungen

Ohne sich auf die Terminologie Zapfs zu beziehen, macht Bergthaller im Bilderbuch ein »veritables Kompendium kulturkritischer Topoi« (Bergthaller 2007, S. 59) aus. Die Funktion des Buches als kulturkritischer Metadiskurs zeigt sich schon darin, dass die ökonomische Fokussierung des Einstlers und der durch ihn repräsentierten Gesellschaft als kulturelle Fehlentwicklung entlarvt wird. Darüber hinaus wird der gescheiterte Geschäftsmann durchweg in »Bildern des Gefangenseins, der Isolation, der Vitalitätslähmung, des waste land und des death-in–life« (ebd., S. 33) dargestellt, die Zapf als charakteristisch für kulturkritische Metadiskurse betrachtet. So beschreibt ihn der Text als einsamen Sonderling, der »bei schummrigem Licht« und »[i]m kalten Mief« (Budde / Geisel 2012, S. 10.) seine Lumpen näht und vom Rest der Welt abgeschottet am »Ende der Straße, zum Mickergras hin« (ebd., S. 9) sein Dasein fristet. Parallel dazu ist der Einstler lediglich durch Augen und Hände ins Bild gesetzt, die durch die Ritzen zwischen den Brettern vor seinen Fenstern sichtbar werden, und die Einöde, die sein Haus umgibt, wird durch Grautöne und vertrocknetes Geäst verdeutlicht. Im Film wird diese Inszenierung zwar zunächst übernommen, am Ende aber durch einen imaginativen Gegendiskurs überlagert, der laut Zapf »das Ausgegrenzte ins Zentrum rückt und oppositionelle Wertansprüche zur Geltung bringt« (Zapf 2008, S. 34). Ausgegrenzt sind einerseits die Bäume selbst, was sich in den Eingangsversen des Lorax ebenso zeigt wie in Negativkonnotationen, Fehleinschätzungen und OHares Vernichtung von Audreys Wandbildern. Andererseits und unmittelbar damit verbunden werden durch die Stadtmauer aber auch die katastrophalen Schäden an der Umwelt als Außenwelt ignoriert. Eine Neufokussierung verdrängter Wahrheiten wird durch Teds Einreißen der Stadtmauer möglich und hat letztlich auch eine Befreiung und Reaktivierung des

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Oncelers zur Folge: Sobald der erste Baum gepflanzt ist, öffnet er sein Fenster, offenbart sein Gesicht und tritt sogar vor das Haus, um neue Setzlinge zu gießen und den Lorax zu empfangen. Das Verhältnis von kulturkritischem Metadiskurs und imaginärem Gegendiskurs wird in der Verfilmung aber nicht nur umgekehrt, sondern darüber hinaus durch vernetzend-reintegrierende Aspekte ergänzt. So realisiert sich Werner Bootes Plastic Planet (2009) in Thneedville in pervertierter Form und die im Zentrum des Buches stehende Naturzerstörung zugunsten eines bestimmten Produkts wird im Film mit vereinfachten Exkursen über Photosynthese, Verstrahlung, Wirtschaftsmechanismen und dergleichen verbunden. Da aber kein konkretes Faktenwissen vermittelt wird, tritt diese interdiskursive Funktion eher in den Hintergrund.

Von der individuellen zur kollektiven Mission? Aspekte der Nachhaltigkeitsbildung Als Der Lorax 1971 publiziert wurde, war Nachhaltigkeit zwar bereits ein in der Forstwirtschaft gängiger Begriff, aber noch kein breitenwirksames geschweige denn gesellschaftspolitisches Thema. Aus heutiger Perspektive scheint deshalb interessant, ob im Buch dennoch Grundzüge des Nachhaltigkeitsdiskurses sichtbar werden und inwiefern sich die inzwischen verstärkte Theoriebildung im Film niederschlägt.

Nachhaltigkeitsdimensionen und -strategien

Ökonomie, Ökologie und Soziales in ein langfristig tragfähiges Gleichgewicht zu bringen steht im Zentrum des Konzepts einer nachhaltigen Entwicklung. Die Herstellung von Gerechtigkeit sowohl zwischen den Generationen als auch global ist dabei ein wichtiges Ziel. Das darauf Bezug nehmende Drei-SäulenModell einer nachhaltigen Entwicklung wurde in den 90er Jahren – also nach Seuss’ Tod – entwickelt, hat sich trotz diverser Kritikpunkte im Nachhaltigkeitsdiskurs etabliert und soll nun für die Vergleichsanalyse fruchtbar gemacht werden. Daran, dass zwischen Lorax und Einstler die Fronten verhärtet sind, wird im Bilderbuch von Anfang an kein Zweifel gelassen. Eine harmonische Koexistenz des Sprachrohrs für Bäume und Tiere auf der einen und der Mensch gewordenen Maschine auf der anderen Seite scheint ausgeschlossen. Wenn der Einstler die unberührte Natur als »herrlich« (Geisel / Budde 2012, S. 18) beschreibt und sich

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dabei auf das gesamte Ökosystem und nicht auf gewinnbringende Bestandteile desselben bezieht, lässt sich das zwar nicht nur als rückblickende Verklärung, sondern auch als Zeichen eines letztlich unterdrückten ökologischen Bewusstseins auffassen. Ebenso spiegeln sich in der Argumentation des Lorax nicht nur moralische, sondern durchaus auch marktorientierte Aspekte wider : »Niemand kauft diesen Unsinn, das sage ich dir!« (ebd., S. 30). Trotz dieser punktuellen Annäherungen finden sich allerdings keinerlei übergreifende Ansätze, um ökologische und ökonomische Interessen miteinander zu vereinen. Entsprechend einseitig bleiben auch die Nachhaltigkeitsstrategien. Der Lorax beharrt durch Suffizienzappelle auf totalem Verzicht, der Einstler macht weder Anstalten darauf einzugehen noch Konsistenz, Permanenz oder Effizienz seines Betriebs zu steigern. Vielmehr weist seine Geschäftsidee als »Chance für alle Verwandte« (Geisel / Budde 2012, S. 34) auch eine soziale Dimension auf. Genauso wie der Einstler selbst bleiben aber auch alle seine Familienmitglieder bzw. Mitarbeiter gesichts- wie körperlos und werden lediglich durch permanent beschäftigte Hände und damit als anonymer Teil einer Produktionskette inszeniert. Umgekehrt wirken die Braunfelliwullis, Schwippschwäne und Summerfische durch Gestik und Mimik anthromorphisiert und erscheinen dadurch nicht nur als Repräsentanten einer intakten Natur, sondern im übertragenen Sinne auch eines funktionierenden Gesellschaftssystems, das erst durch fremde Eingriffe ins Wanken gerät. So gesehen fördert der ökonomische Erfolg des Einstlers soziale Strukturen nur innerhalb einer bestimmten Gruppe und grenzt andere Gruppen systematisch aus, lässt also die im Rahmen der nachhaltigen Entwicklung angestrebte intragenerationelle Gerechtigkeit durchweg vermissen. Wie realistisch dieses Szenario auch 40 Jahre später noch ist, zeigt sich nicht nur an indigenen Völkern wie z. B. der Gruppe India Kondh (vgl. Acharya 2010), sondern aus globaler Perspektive auch an den bereits heute zu verzeichnenden Klimaopfern und -flüchtlingen. Intergenerationelle Ungerechtigkeit wird darüber hinaus in der Rahmenhandlung beispielhaft veranschaulicht, wenn der Einstler zwar schuldbewusst, aber hinter Brettern vernagelt und handlungsunfähig geworden die Behebung des von ihm verursachten Schadens appellativ an die nächste Generation weitergibt. Insgesamt lässt sich also feststellen, dass Geisels Erzählung alle zentralen Elemente des Drei-Säulen-Modells in negativer Weise aufgreift, lange bevor dieses wissenschaftlich ausgearbeitet und populärwissenschaftlich verbreitet worden ist. Der Kompromiss, den der Lorax und der Einstler zunächst schließen, ist letztlich in puncto Nachhaltigkeit eine der entscheidendsten Schwerpunktverschiebungen des Films. Das Pflücken der Tuffs ohne Abholzung der Bäume (im Buch nur auf einem Bild angedeutet), repräsentiert die Konsistenzstrategie und zeigt eine mögliche Annäherung und Vereinbarkeit von ökonomischen, ökologischen und sozialen Grundsätzen auf. Alteingesessene und Neuankömmlinge

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können einander bereichern, weitestgehend friedlich nebeneinander existieren und die Geschäfte ohne langfristigen Schaden an der Natur betrieben werden. Letztlich scheitert dieses Idealmodell aber am ökonomischen Druck und die vom Onceler verteilten Marshmallows werden vom angenommenen Friedensangebot zum verachtenswerten Bestechungsversuch. Statt der Effizienzstrategie folgend Pflückmaschinen zu entwickeln, die die Prozesse beschleunigen, wird das Fällen der Bäume und damit eine zum Buch parallel verlaufende Entwicklung forciert, sodass die Interessenskonflikte sowohl zwischen den Nachhaltigkeitsdimensionen als auch intragenerational zwischen radikalen Zerstörern und machtlosen Bewahrern letztlich bestehen bleiben. Durch Individualisierung und Überzeichnung der jeweiligen Vertreter wie z. B. Tante Gwinny und Pipsqueak wird die Entwicklung von Anti- und Sympathien im Film verstärkt provoziert.

Abb. 2: Inszenierung von Tante Gwinny als feiste Kalkulationsmaschine (Renaud 2012, Min. 53:03) und Pipsqueak als eine dem Kindchenschema entsprechende schützenswerte Kreatur (ebd., Min. 20:12).

In der Rahmenhandlung spitzt sich durch OHare die Radikalität ökonomischen Kalküls zu. Bereits in der Binnenhandlung taucht er als kleinwüchsiger Junge mit Zahnspange auf, der nach dem Scheitern des Oncelers an dessen finanzielle Erfolge anzuknüpfen plant. Sein Streben nach Macht und Geld wird durch die Betonung der Lächerlichkeit seiner Körpergröße ähnlich wie beim Onceler als Möglichkeit der Kompensation von Minderwertigkeitskomplexen inszeniert und somit eher individualpsychologisch als gesellschaftlich motiviert. Das Traumtänzerische und Idealistische des Film-Oncelers wird bei OHare zu bösartiger Berechnung, die ihn eine Art Überwachungsstaat errichten und Umweltverschmutzung gezielt herbeiführen lässt, denn: »Je mehr Smog auf der Welt, umso üppiger fließt Geld« (Renaud 2012, Min. 47:10–47:25). Ökonomie und Ökologie schließen sich also auch hier grundsätzlich gegenseitig aus, sodass das Einpflanzen des letzten Trüffelasamens erst möglich wird,

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nachdem OHare aus der Stadt ›geschossen‹ worden ist. Seine sozialen Angebote wie Traumjobs und kundenorientierte Stadtplanung werden in Anbetracht der Umweltschäden als Farce entlarvt. Ähnlich wie der Lorax – wenn auch mehr fremdbestimmt – ›fliegt‹ OHare im wahrsten Sinne des Wortes aus dem System, in das er nun nicht mehr passt. An diesem ›Entweder-/Oder-Prinzip‹ ändert auch die Versöhnung zwischen Lorax und Onceler nichts, denn wenn der Lorax den Onceler mit den Worten begrüßt: »Das hast du gut gemacht, Bohnenstange. Gut hast du das gemacht.« bezieht er sich letztlich auf die Abkehr des Oncelers von ökonomischen Bestrebungen und seine Einsicht in ökologische Zusammenhänge. Davon abgesehen scheint das Lob in keiner Relation zur Beteiligung des geläuterten Homo Oeconomicus an der Weltverbesserung zu stehen. Intergenerationelle Gerechtigkeit wird am Ende durch Dan und Aileen explizit thematisiert, da sie zugunsten einer gesünderen Zukunft für ihren bereits grün glühenden Sohn Westley Handlungsbedarf sehen.

Gestaltungskompetenz in den und durch die Geschichten Als zentral für die nachhaltige Entwicklung sieht Gerhard de Haan die Herausbildung von Gestaltungskompetenz an: Mit Gestaltungskompetenz wird die Fähigkeit bezeichnet, Wissen über nachhaltige Entwicklung anwenden und Probleme nicht nachhaltiger Entwicklung erkennen zu können. Das heißt, aus Gegenwartsanalysen und Zukunftsstudien Schlussfolgerungen über ökologische, ökonomische und soziale Entwicklungen in ihrer wechselseitigen Abhängigkeit ziehen und darauf basierende Entscheidungen treffen, verstehen und individuell, gemeinschaftlich und politisch umsetzen zu können, mit denen sich nachhaltige Entwicklungsprozesse verwirklichen lassen. (Bormann / de Haan 2008, S. 23.)

Fasst man fiktionale Erzählungen als ästhetisch gestaltete Sonderform von Gegenwartsanalysen und Zukunftsstudien auf, liegt es nahe, sie hinsichtlich ihres Potentials zur Vermittlung und Förderung von Gestaltungskompetenz in den Fokus zu rücken. Ausgehend von de Haans Ausdifferenzierung des Konzeptes der Gestaltungskompetenz in zwölf Teilkompetenzen wird in den nächsten Abschnitten deshalb gezeigt, an welchen Punkten Buch und Film ansetzen und inwiefern sie Möglichkeiten für die Nachhaltigkeitsbildung eröffnen. Teilkompetenzen, die in der Auseinandersetzung mit den beiden Werken zu Redundanzen führen würden, werden gebündelt betrachtet.

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»Weltoffen und neue Perspektiven integrierend Wissen aufbauen« Treffender lässt sich auch die Entwicklung des Protagonisten in der Rahmenhandlung des Buches kaum auf den Punkt bringen. Seine Weltoffenheit wird schon auf der ersten Seite dadurch deutlich, dass er bei Nacht die Stadtgrenzen überschreitet, sich in unbekannte Gefilde begibt und Irritationen wie das LoraxSchild zum Anlass nimmt, den Dingen auf den Grund zu gehen. Die Erzählung des Einstlers eröffnet dem Kind nicht nur dessen Perspektive, sondern in vermittelter Form auch die des Lorax und letztlich derjenigen, als deren Sprachrohr der Lorax fungiert. Auf der Basis des dadurch erworbenen Wissens wird er zum Hoffnungsträger für eine bessere Zukunft. Nimmt man Bergthallers Einschätzung des Protagonisten als »Stellvertreter« (s. o.) des Lesers wörtlich, scheint das Buch besonders zur Förderung dieser Teilkompetenz geeignet und ließe sich im Unterricht z. B. durch Einteilung der SuS in Gruppen, die in einer fingierten Podiumsdiskussion die konträren Interessen vertreten sollen, einsetzen. Im Film ist Ted hingegen lediglich offen für Audreys Weltsicht und baut sein Wissen sehr zielgerichtet auf, um dem unerreichbar erscheinenden Highschoolmädchen zu imponieren. Die anderen Standpunkte interessieren ihn nur, sofern sie ihm zum Erfolg verhelfen. Dadurch, dass Ted aber nicht als (einzige) Identifikationsfigur konzipiert ist, wesentlich mehr Figuren mit unterschiedlichen Intentionen auftreten und ihre Ansichten direkter als im Buch in Dialogen artikulieren, unterstützt auch der Film die Aneignung von Wissen vor dem Hintergrund verschiedener Perspektiven. Aufgrund des Symbolgehalts der Erzählung handelt es sich dabei weniger um Fakten- als vielmehr um Systemwissen, sodass die Grundkomplikation durch entsprechende Transferleistungen in verschiedenen Kontexten diskutiert werden kann. Dieses Vorgehen ebnet gleichzeitig den Weg für die nachfolgende Teilkompetenz.

»Interdisziplinär Erkenntnisse gewinnen und handeln können« Besonders durch die Polysemie der Thneeds bzw. der Schnäuche bieten sich verschiedene Möglichkeiten für eine an die Geschichte anknüpfende interdisziplinäre Wissensvermittlung. Interessant erscheinen dabei nicht zuletzt Bedeutungszuschreibungen im Wandel der Zeit. Während Seuss’ ›Propaganda‹ (vgl. Bergthaller 2007, S. 53) zunächst als Affront gegen die US-amerikanische Holzindustrie aufgefasst wurde, 1989 aufgrund vehementer Proteste durch gesetzliche Verbote aus Schulen und Büchereien verbannt werden sollte und die Gegendarstellung The Truax (Birkett 1991) provozierte, lässt sich ihre Aktualität auch heute noch an zahlreichen Beispielen aufzeigen. Das »was jedermann braucht« (Budde / Geisel 2012, S. 30) ist im Fall der 2012 medial ausgeschlachteten Besetzung und Räumung des Hambacher Forstes Braunkohle, im Fall der

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Debatten um Tropenholz in Kinderbüchern Papier und im Fall der aktuellen Kontroversen um Fracking Erdgas. Eine eingehende Auseinandersetzung mit Mehrfachcodierungen in Buch und Film kann deshalb fächerübergreifende Unterrichtseinheiten vorbereiten, in denen die SuS zu eigenständigen Analogiebildungen motiviert werden. Erste Brainstormings zu Fragen wie »Was ist für Dich/Deine Freunde/Familie/Gesellschaft ein Schnauch/Thneed? Welche natürlichen Ressourcen werden für die Herstellung benötigt? Wer oder was wird dadurch in welcher Weise beeinträchtigt?« können dabei auf Tafeln gesammelt werden, die Arbeit in verschiedenen Gruppen einleiten und vorbereiten auf die nachfolgenden Teilkompetenzen. »Vorausschauend Entwicklungen analysieren und beurteilen können« bzw. »Risiken, Gefahren und Unsicherheiten erkennen und abwägen können« Beide haben eine Fokussierung der Zukunft gemeinsam, sodass sich insbesondere Methoden der Zukunftsforschung eignen, um den damit einhergehenden Anforderungen gerecht zu werden. Eine dieser Methoden ist die Szenariotechnik, mittels derer ausgehend von einer konkreten Fragestellung verschiedene vermeidens- und wünschenswerte Szenarien entwickelt werden. Je weiter der Zielzeitpunkt von der Gegenwart entfernt liegt, desto breiter wird die Spanne zwischen worst- und best-case-Szenario, sodass sich die Darstellung in Form eines Trichters etabliert hat. Versteht man ein Szenario als »die Beschreibung der zukünftigen Entwicklung eines Prognosegegenstandes bei alternativen Rahmenbedingungen«, in das »einerseits konkrete Zielvorstellungen und andererseits plausible, d. h. nachvollziehbare Visionen« Eingang finden und in dem es »weniger darum [geht], Wahrscheinlichkeiten für den Eintritt von Ereignissen zu bestimmen, sondern eher um die Ermittlung von Wirkungszusammenhängen« (Krzeminska 2011), liegen die Parallelen zur Geschichte des Lorax auf der Hand. Dadurch, dass mittels der doppelten Zeitstruktur »[d]er tatsächliche Verlauf der Handlung […] durch die Erzählung […] in einen ›Horizont‹ möglicher alternativer Geschichten gestellt« (Bergthaller 2007, S. 60) wird, lässt sich die Binnenhandlung als eine Art vermeidenswertes Forecastingszenario auffassen. Forecasting heißt, dass ausgehend von der Gegenwart extrapolativ eine mögliche Zukunftsentwicklung ermittelt wird, die in Der Lorax in der Totalabholzung des Trüffelawaldes besteht und damit als Frühwarnsystem fungiert.1 Die im Film am Ende gelungene Renaturierung ist hingegen als Backcastingszenario zu begreifen. Backcasting meint, dass ein bestimmtes Zukunftsziel entworfen wird, 1 Aus heutiger Perspektive ist anzumerken, dass sich diese Prognose in vielen Teilen der Welt bereits realisiert hat.

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von dem ausgehend es Bedingungen und Handlungsoptionen in der Gegenwart zu erschließen gilt, die dazu beitragen, dass es sich realisieren lässt. Wie Szenarien zur BNE beitragen können, fasst de Haan im Rahmen der Virtuellen Akademie zusammen (de Haan 2012). Im Gegensatz dazu ist die Bedeutung von Fiktionen für Zukunftsforschung bislang nur beschränkt auf Science-Fiction-Texte und ohne Bezug zur Nachhaltigkeitsbildung angedeutet (vgl. Tiberius 2011) und vereinzelt untersucht (vgl. Steinmüller 1995) worden. Eine Betrachtung ökokritischer Erzählungen als nachhaltigkeitsrelevante Szenarien stellt damit ein innovatives, transdisziplinäres Forschungsfeld dar, das der kulturökologisch ausgerichteten Literaturdidaktik entscheidende Impulse geben könnte. »Gemeinsam mit anderen planen und handeln können« bzw. »Sich und andere motivieren können, aktiv zu werden« bzw. »An kollektiven Entscheidungsprozessen teilhaben können« Diese drei auf Gruppenprozesse und Gruppendynamik abzielenden Teilkompetenzen rücken im Buch aufgrund der direkten »Du«-Anrede sowie der Besetzung der unterschiedlichen Positionen mit nur jeweils einer Figur in den Hintergrund und lassen sich deshalb allein durch die Rezeption des Ursprungsmediums nicht vermitteln. Im Film wird hingegen deutlich, dass Veränderungen nur durch Solidarisierungen, kooperative Strategien, breitenwirksame Argumente und gemeinsames Aufbegehren gegen eine unhinterfragt mächtige Minderheit möglich sind. So tritt Teds Großmutter von Anfang an als Verbündete Teds auf, wohingegen Teds Mutter sein Interesse an Bäumen zunächst ablehnend kommentiert: »Igitt. Du willst mir nicht erzählen, dass du lieber so einen schmuddligen Holzklumpen hättest, der aus der Erde rausragt und wozu Nutze ist?« (Renaud 2012, Min. 06:51–06:58). Erst bei der Pflanzaktion wird sie zu einer entscheidenden Mitstreiterin, sodass es der Familie gemeinsam mit Audrey gelingt, die Einwohner Thneedvilles gegen OHare statt gegen Ted aufzubringen. Die 180-Grad-Drehung der Bevölkerung nimmt am Ende des Films nur wenige Minuten ein, wird aber letztlich dennoch als Resultat von Teds konfrontativem Vorgehen deutlich und erneut musikalisch unterstrichen. Das Lied »Pflanz ihn ein…« (Renaud 2012, Min. 01:13:02–01:16:02.) stellt durch die multiperspektivische Strophenaufteilung die alten und neuen Einsichten verschiedener Bürger einander gegenüber und schlägt zudem eine Brücke zu der Szene, in der der Lorax und die Tiere den Tod des ersten Trüffellabaumes betrauern. Ebenso wie um den ersten Baumstumpf wird auch um den ersten Setzling ein Steinkreis errichtet und dieselbe Melodie, die erst durch Klavier und Streicher die traurige Stimmung der Waldbewohner vermittelt, wird später durch veränderte Rhythmik und Instrumentalisierung in Kombination

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mit dem Text zum Ohrwurm, der die Massen mobilisiert. Resignation und Aufbruch grundverschiedener Populationen werden durch diese medienspezifische Kombination von Bild und Ton kontrastiv einander gegenüber gestellt, sodass die Opfer der Vergangenheit zu Tätern im Sinne einer besseren Zukunft werden. Im Unterricht ließe sich diese fiktionale Konstruktion zum Anlass nehmen, auf ähnliche verbreitungsbasierte ›Erfolgsstorys‹ aus der Lebensrealität wie die des neunjährigen Felix Finkbeiner und seiner Initiative plant-for-theplanet zu rekurrieren und davon ausgehend eigene Projekte zu entwickeln. »Zielkonflikte bei der Reflexion über Handlungsstrategien berücksichtigen können« bzw. »Die eigenen Leitbilder und die anderer reflektieren können« bzw. »Empathie für andere zeigen können« Da alle drei Teilkompetenzen mit jeweils unterschiedlichem Schwerpunkt darauf abzielen, sich in gegenläufige Standpunkte hineinzuversetzen, darauf aufbauend Kompromisse zu schließen und dabei direkt auf das oben bereits an Buch und Film nachvollzogene Drei-Säulen-Modell einer nachhaltigen Entwicklung abzielen, soll an dieser Stelle nur noch einmal zusammenfassend festgehalten werden, dass Dimensionen und Strategien der Nachhaltigkeit das Verständnis der Wirkungsmechanismen in der Lorax-Geschichte systematisch erweitern können und sich demnach auch im Literaturunterricht grundlegend begreifund nutzbar machen lassen. »Vorstellungen von Gerechtigkeit als Entscheidungs- und Handlungsgrundlage nutzen können« »Ich kenn meine Rechte, ich weiß, was ich sag« (Geisel / Budde 2012, S. 55) proklamiert der Einstler im Buch gegenüber dem Lorax, unmittelbar bevor der letzte Trüffelabaum zu Fall gebracht wird. Im Film wird diese Szene durch ein Lied (Renaud 2012, Min. 51:33–54:12) ausgestaltet, in dem der Onceler in Reaktion auf die Vorwürfe des Lorax rhetorisch fragt: »Bin i-i-i-ich etwa schlecht?«, um sich direkt selbst zu antworten: »Ich beanspruche doch nur mein Recht.« Im nächsten Absatz des Refrains beruft er sich sogar explizit auf Gerechtigkeit: »Bin i-i-i-ich etwa schlecht? Das zu sagen wäre ungerecht.« Um diese Einstellung zu rechtfertigen, wird in den folgenden Strophen erst auf das Recht des Stärkeren als Naturgesetz und schließlich auf das Recht des Reicheren als ›Wirtschaftsgesetz‹ Bezug genommen und das eigene Vorgehen den Marktgesetzen unterworfen: »Die Wirtschaft boomt und ich bin nur ihr Knecht. […] Das Volk will konsumieren.« Da die Argumentation des Oncelers durch die Erzähldramaturgie in beiden Medien direkt ad absurdum geführt wird und das Recht ohne die Objekte, auf die

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es sich anwenden lässt, wertlos wird, bieten sich diese Passagen der allegorischen Geschichte besonders an, um das Verhältnis zwischen Recht und Gerechtigkeit gegenüber natürlichen Ressourcen herauszuarbeiten. Die Gerechtigkeitsvorstellungen des Einstlers werden trotz ihrer juristischen Legalisierung als sehr kurzsichtige Entscheidungs- und Handlungsgrundlage entlarvt und provozieren eine Gegenposition, die im Buch offen gehalten bzw. dem Rezipienten überlassen und im Film durch Ted und Audrey konkretisiert wird. Bei der Besprechung der Geschichte im Unterricht lässt sich daran anknüpfen und der Gerechtigkeitsbegriff aus verschiedenen Blickwinkeln beleuchten. In Form eines ›Gerechtigkeitslexikons‹ könnten Definitionen der einzelnen Vertreter erarbeitet und mit tatsächlichen Dudeneinträgen verglichen werden. Im Anschluss daran wäre auszuwerten, welches Verständnis von Gerechtigkeit für eine nachhaltige Zukunftsentwicklung umsetzbar erscheint. Wie bereits oben gezeigt, werden dabei in beiden Medien auch intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit ausgestaltet, sodass je nach Zielgruppe die Erkenntnisse auch in diese Richtung vertieft werden könnten.

Von der Warnung zur Hommage? Eine abschließende These Insgesamt sollte deutlich geworden sein, dass sich im Rahmen des zeitversetzten Medienwechsels Erzählweise, diskursive Funktion sowie nachhaltigkeitsrelevante Aspekte der Lorax-Geschichte zum Teil grundlegend verändert haben. Was das Buch durch die Konzentration ästhetischer Finessen auf wenigen Seiten auf den Punkt bringt, wirkt im Film teilweise verkürzt und umgedeutet. Die »Paraphrase jener Geschichten über die Zerstörung der natürlichen Umwelt durch eine konsumorientierte, auf materiellen Gewinn fixierte Gesellschaft« (Bergthaller 2007, S. 57) bleibt aber trotz unterschiedlicher Gattungsgesetze, Schwerpunktbildung und Entstehungsbedingungen sichtbar, sodass sich beide Medien in einem ›nachhaltigen‹ Literatur- und Medienunterricht einsetzen lassen. Dadurch, dass der Protagonist des Films den Vornamen des Bilderbuchmachers trägt und seine Angebetete den der zweiten Frau Geisels, lässt sich der Film über die Neuinterpretation der literarischen Vorlage hinaus auch als Hommage an den Künstler auffassen. So gesehen wäre es Theodor Seuss Geisel wie Ted und Audrey auf der 3D Leinwand gelungen, mit seinem Werk einen Samen einzupflanzen, der auch über 40 Jahre später noch Früchte hervorzubringen vermag.

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Quellenverzeichnis Primärliteratur Birkett, Terri (1991): The Truax., verfügbar unter : http://www.myteacherpages.com/ webpages/NDow/files/TRUAX1.pdf [20. 02. 2013]. Geisel, Theodor / Budde, Nadia (2012) [1971]: Der Lorax. München. Renaud, Chris / Balda, Kyle (2012): Der Lorax, DVD, 01:22:47 Min., USA: Illumination Entertainment / Universal Pictures.

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»Wozu Sehnsucht nach grünen Wiesen und blauem Himmel wecken, wenn sie für uns verloren sind?«:1 Der Weltuntergang in der Jugendliteratur »Die ursprüngliche Rose brauchte viel Pflege – jede Blüte war ein Triumph. Die neue Variante dagegen ist robust, prächtig und auf lange Haltbarkeit gezüchtet.« Condie 2011, Band 1, S. 178

Dystopien avancierten spätestens seit dem Erscheinen der Trilogie Die Tribute von Panem von Suzanne Collins 2008 (dt. 2009) zu einem beliebten Genre innerhalb der Jugendliteratur. Diskutiert werden in den unterschiedlichen Texten ökonomische Ungleichheiten, ökologische Zerstörungen, Entindividualisierungen, hierarchische und totalitäre Gesellschaftsentwürfe sowie die Unterdrückung und Zensur von Wissen, wobei insbesondere Literatur eine tragende Rolle in den einzelnen Werken spielt. Tatsächlich bietet die Dystopie als mahnende Literatur viele Ansatzpunkte, die Probleme Heranwachsender zu thematisieren und kann somit nicht nur als eine Warngeschichte verstanden werden (vgl. Glasenapp 2003 und 2012), sondern auch als Adoleszenzliteratur. Im Mittelpunkt der Romane stehen Jugendliche, die sich nicht nur gegen das Regime erheben, nach alternativen Gesellschaftsformen streben, sondern auch eine eigene Identität entwickeln, sich gegen ihre Familien stellen und letztendlich im Laufe der Handlung erwachsen werden. Somit erhalten Dystopien als Lektüre unterschiedliche Bedeutungen: Einerseits lassen sie sich trotz aller Kritik (vgl. Schweikart 2012) als gesellschaftskritische Texte lesen, andererseits ermöglichen solche literarischen Texte »ihren Lesern Erfahrungen, die für seine persönliche Entwicklung und seine Interaktion mit der Gesellschaft von hoher Bedeutung sein können« (Leubner / Saupe 2010, S. 28). Oder anders gesagt: Bereits in der Antike hat der römische Dichter Horaz der Literatur die Funktionen von prodesse (nützen) und delectare (erfreuen) zugeschrieben: Solche Funktionen treffen sicherlich auch auf aktuelle Dystopien seit 2008 zu. Die hier vorgestellten Texte versuchen in einer unterhaltsamen und spannenden Gestaltung den jugendlichen Lesern/innen ein Wissen über Gesellschaftsformen nahe zu bringen und ihnen alternative Lebensmodelle zu präsentieren. Sie führen den Lesern/innen bestimmte Sichtweisen oder Erfahrungen vor, greifen 1 Poznanski 2012, S. 263.

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zugleich auf bereits Vertrautes zurück. Die neuen Sichtweisen sind ungewohnt, können die Leser/innen irritieren und so zwingen, über das Gelesene nachzudenken sowie es zu reflektieren. Hinzu kommen Aspekte der Empathie, die möglicherweise zu einer Neubildung von Sichtweisen führen können. Empathie wird nach den us-amerikanischen Wissenschaftlern Hastings, Zahn-Waxler und McShane als »the ability to understand another’s perspective and to have a visceral or emotional reaction« definiert (zit. nach Kümmerling-Meibauer 2012, S. 127). Jugendliche lesen, wie die Protagonisten sich kritisch mit den Gesellschaftsformen auseinandersetzen, langsam die hierarchischen Strukturen entlarven und sich letztendlich gegen das System erheben. Aber auch der Aspekt der Kulturökologie spielt in den Dystopien eine herausragende Rolle, denn die Welt ist meist aufgrund von Umweltkatastrophen zerstört und eine neue Gesellschaftsform reflektiert und begründet in der Regel ihr totalitäres Regime vor allem mit der vorangegangenen Zerstörung der Umwelt. Was den Texten jedoch fehlt, ist ein pädagogischer oder moralischer Duktus, denn es bleibt den Lesern/ innen selbst überlassen, die dargestellten gesellschaftlichen Schichten zu bejahen oder eben abzulehnen. Dystopien oder auch Anti-Utopien zählen, so Schweikart in seinem Aufsatz Nur noch kurz die Welt retten. Dystopien als jugendliterarisches Trendthema (2012), »zu einer Subgattung der literarischen Utopie« (Schweikart 2012, S. 4). Utopien zeichnen bekanntlich ein positives Zusammenleben und entwerfen harmonische Gesellschaftsformen. Anti-Utopien bzw. Dystopien zeichnen dagegen ein anderes Bild: Anders als in der Utopie wird hier die Zukunftsvorstellung in ein Bild des Schreckens gekleidet, welches erst durch die konsequente Weiterentwicklung der gegenwärtigen Missstände entstehen kann. (Kirchner 2009, hier zit. nach Schweikart 2012, S. 4)

Dystopien, so Gabriele von Glasenapp, »dienen im erheblichem Maße […] dazu, Missstände, Ängste und Übel der jeweiligen Gegenwart zu spiegeln« (Glasenapp 2003, S. 14). Daher verwundert es nicht, dass die Anti-Utopie innerhalb der Kinder- und Jugendliteratur entstanden ist als sich der problemorientierte Jugendroman als realistisch-kritisches Genre durchsetzen konnte und zwar in den 1980er Jahren. Ähnlich wie der problemorientierte Jugendroman werden auch in Dystopien die jugendlichen Leser/innen bekanntlich mit einer Gesellschaftskritik konfrontiert, wobei sich die Themen im Laufe der letzten vierzig Jahre gewandelt haben. Zugleich greifen Dystopien »aktuelle Diskurse, Ereignisse und Katastrophen« (Glasenapp 2012) auf, beziehen sich aber zugleich auch auf andere Texte, in denen bereits bestimmte Katastrophen diskutiert wurden – insbesondere der Bezug zu klassischen Dystopien wie Brave New World oder 1984 ist den Texten immanent. Im Mittelpunkt der Dystopien steht in der Regel ein Einzelschicksal: Während

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in den klassischen Dystopien von Huxley, Bradbury und Orwell der männliche Held die Gesellschaft hinterfragte und letztendlich scheiterte, sind es in den jugendliterarischen Dystopien Heldinnen, die die Gesellschaft hinterfragen, tatsächlich auch Veränderungen schaffen und auch überleben. Die Hauptfigur fühlt sich bereits zu Beginn der Handlung anders und findet außerhalb der Gesellschaftsmodelle Verbündete. Zugleich fällt ihr Gefühl der Andersartigkeit auch in den Bereich der Pubertät, denn alle hier vorgestellten Mädchenfiguren sind mitten in der Pubertät. Die Geschichte wird zudem mit einem love interest ausgestattet, so dass das Mädchen oftmals von einer männlichen Figur aufgeklärt und so zur Gegnerin der Gesellschaft wird. Die aktuellen Dystopien wollen eine tradierte Schwarz-Weiß-Malerei verlassen und zeigen, dass selbst jene Lebensmodelle, die außerhalb der Gesellschaft existieren, diese kritisieren und hinterfragen, mit hierarchischen Strukturen arbeiten und es ebenfalls um Macht und Herrschaft geht. Daher sind, wie etwa in der Panem-Trilogie, es die Jugendlichen selbst, die einen anderen, und damit einen dritten gesellschaftlichen Entwurf finden müssen. In der Rolle der Jugendlichen spiegelt sich jedoch ein utopischer Charakter der Texte wider und die entworfenen Helden bieten sich nicht nur als Identifikationsfiguren an, sondern besitzen einen Mut, der die Leser zum Nachahmen animieren möchte. Der vorliegende Beitrag unterscheidet zwei Gruppen von Dystopien: (1) die ökologische Dystopie (z. B. Die Wolke, Die letzten Kinder von Schewenborn; Die Welt, wie wir sie kannten, Euer schönes Leben kotzt mich an, Die Verlorenen von New York) (2) Dystopien mit katastrophalen Zukunftsmodellen bzw. -welten (z. B. Die Bestimmung, Gebannt, Delirium, Dark Canopy, Cassia & Ky) Die ökologische Dystopie greift den ökologischen Diskurs auf, zeigt, was atomare oder Umweltkatastrophen für Folgen haben, benennt teilweise klar Schuldige und spielt in einer nahen Zukunft. Diese Texte möchten aufklären und den Jugendlichen wachrütteln. Die zweite Gruppe steht in der Tradition der Dystopien von Wells, Huxley, Bradbury und Atwood, entwirft eine düstere Zukunft, bleibt jedoch hinsichtlich bestimmter Fragestellungen auch der Zeitdiagnostik verpflichtet. Dystopien sind seit den 1970er Jahren fester Bestandteil der modernen Jugendliteratur. Bereits in Michael Endes Momo (1973) finden sich Aspekte jener Entindividualisierung, die auch heutige Dystopien charakterisiert und sich auch in der Kleidung widerspiegelt: Bekanntlich tragen die »grauen Herren« in Momo graue Kleidung und auch in den Dystopien achten die Herrschenden darauf, dass die Menschen einheitlich bekleidet sind, dunkle Farben tragen und bestimmte Farben zudem Funktionären bzw. Klassen zugeordnet werden. Besonders deutlich wird dies in der Panem-Trilogie, denn hier sind die Herr-

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schenden farbenfroh und ausgefallen bekleidet, die Menschen in den unterdrückten Bereichen dagegen einfach und grau. Eine solche Kleidung hebt nicht das Individuelle hervor, sondern eben das Gemeinsame. Die Gefahren der atomaren Energie schildern neben Robert C. O’Briens Z wie Zacharias (1977) insbesondere die Romane von Gudrun Pausewang: Die Kinder von Schewenborn (1983) und Die Wolke (1987) gehören mittlerweile zu Klassikern der dystopischen (Jugend-)Literatur. Aber auch Überwachung und totalitäre Gesellschaftsformen sind keine (literarische) Erfindung der aktuellen Dystopien, sondern werden bereits in Reinhold Zieglers Version 5 Punkt 12 oder in Lois Lowrys Hüter der Erinnerung (1994) geschildert. Weitere Themen in den 1990er Jahren waren dann Kloning und gentechnische Experimente, von denen u. a. Romane wie Geboren 1999 (1989) oder Blueprint – Blaupause (1999) von Charlotte Kerner erzählen. In den aktuellen Dystopien tritt jedoch der kulturökologische Diskurs konkreter auf, die Umweltzerstörung ist den Protagonisten präsent und wird immer wieder thematisiert.

Die ökologische Dystopie Darstellung der Katastrophen »Es kam ganz plötzlich, so plötzlich, dass es viele Leute in Badehosen oder im Liegestuhl überrascht hat. Es kam wie aus heiterem Himmel« (Pausewang 1987, S. 13). In ihrem 1983 veröffentlichten Roman Die letzten Kinder von Schewenborn oder … sieht so unsere Zukunft aus? gestaltet Pausewang die Auswirkungen eines fiktiven Atombombenangriffs auf Deutschland. Nicht die konkreten Ursachen stehen somit im Mittelpunkt des Textes, sondern die Tage, Wochen und Jahre danach. Der Roman basiert auf Dokumenten über Hiroshima und Nagasaki, was aus den Paratexten hervorgeht und als zeitdiagnostische Rahmung dient. Roland, der zu Beginn der Handlung fast 13jährige Ich-Erzähler, befindet sich mit seinen Eltern und seinen Geschwistern auf der Fahrt zu seinen Großeltern als die Atombombe auf Deutschland fällt. Der Ost-West-Konflikt ist eskaliert, Deutschland ist verwüstet und nach und nach mehren sich die Gerüchte, dass fast alle (west-)deutschen Großstädte zerstört wurden. Die Familie bleibt zunächst in Schewenborn, die Großeltern sind bei dem Angriff auf Fulda verstorben. Den Angehörigen bleibt kaum die Möglichkeit der Trauer. Das Grauen steigert sich noch, das Leiden der Bevölkerung nimmt zu. Roland muss erleben, wie sein bisheriges Leben auseinander bricht. Er beobachtet, wie Verletzte an ihrem Haus vorbeiziehen, um Essen betteln und kaum Hilfe von den Überlebenden bekommen:

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Ich schaute über die Reihen hin. Da lag Mensch neben Mensch: Männer, Frauen und Kinder durcheinander, Verletzte, Verstümmelte, Verbrannte. Bei den meisten hing die Haut in Fetzen herunter. Manche lagen in ihrem Erbrochenen, andere in ihrem Blut. Es roch nach Kot und Urin. Und wie in Wellen – mal lauter, mal leiser, dann wieder anschwellend zu wildem Geschrei – wehte das Gebettel, das Gestöhn, das Gejammer der Verdurstenden nach Wasser bis auf die Straßen hinaus. (Pausewang 1987, S. 52)

Roland hilft schließlich Verletzten und Kranken in einem Hospital, während seine ältere Schwester Judith der Katastrophe machtlos gegenüber steht und sich im Haus der Großeltern aufhält. Erst nach und nach wacht sie aus der Starre auf, erkrankt jedoch an Folgen der Strahlung und überlebt nicht. Die Mutter stirbt während der Geburt eines missgestalteten Kindes und in den nächsten vier Jahren leben Roland und sein Vater alleine in Schewenborn. Sie richten eine Schule ein und bemühen sich um etwas Normalität. Pausewang bietet den Lesern und Leserinnen kein Happy Ending an. Roland unterrichtet jüngere Kinder, erlebt, wie seine Schüler und Schülerinnen in seiner Klasse erkranken und sterben. Doch möchte er sein Engagement nicht aufgeben: Es gibt so viel Wichtigeres als Lesen, Schreiben und Rechnen, was ich ihnen unbedingt beibringen will: Sie sollen ein Leben ohne Plündern, Stehlen, Töten haben wollen. Sie sollen einander wieder achten lernen und helfen, wo Hilfe nötig ist. Sie sollen einander sprechen lernen und sollen für ihre Schwierigkeiten gemeinsame Lösungen finden, ohne gleich aufeinander einzuschlagen. Sie sollen sich füreinander verantwortlich fühlen. Sie sollen einander lieb haben. Ihre Welt soll eine friedliche Welt werden – auch wenn sie nur von kurzer Dauer sein wird. (Pausewang 1987, S. 187 f.)

Verantwortung gegenüber einer besseren Zukunft möchte Roland seinen Schülern und Schülerinnen weitergeben. Roland fungiert offensichtlich als Sprachrohr für die Vorstellungen, die die Autorin ihren Lesern und Leserinnen vermitteln möchte. Sie sieht in den Kindern Hoffnungsträger einer besseren Zukunft. Zugleich möchte Pausewang an die Leser/innen appellieren, etwas zu verändern und gegen eine atomare Aufrüstung zu protestieren. Der Roman Die Wolke (1987) trägt als Mahnung den Untertitel Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten von nichts gewusst, was die Intention der Autorin noch betonen soll: Der Roman kritisiert das Verschweigen der Gefahren, die von Kernkraftwerken ausgehen. Hintergrund des Romans ist der Reaktorunfall in Tschernobyl 1986. Erzählt wird die Geschichte aus der Sicht der 14jährigen Janna-Berta, die alleine mit ihrem Bruder Ulli einen Reaktorunfall miterlebt und mit ihm aus Schlitz, Nordhessen, fliehen muss. Unterwegs stirbt Ulli, den Leichnam muss Janna-Berta zurücklassen. Sie gerät in radioaktiven Regen und bricht an der Grenze zur DDR zusammen. Im Krankenhaus muss sie erfahren, dass ihre Eltern und ihre Großmutter Jo verstorben sind. Ihre Tante

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Helga holt sie nach Hamburg. Doch sie verlässt die Tante, kehrt in das Katastrophengebiet zurück und hilft den Opfern. Nach 2000 erscheinen ökologische Dystopien, auch wenn die zweite Gruppe dominiert. Beispielhaft werden hier die Moon-Reihe mit den Werken Die Welt, wie wir sie kannten (dt. 2010), Die Verlorenen von New York (dt. 2011) und Das Leben, das uns bleibt (dt. 2012) von Susan Beth Pfeffer sowie Euer schönes Leben kotzt mich an (2010) von Saci Lloyd vorgestellt: Beide lassen sich als Vertreter bestimmter Erklärungsmuster der Umweltzerstörung lesen: Während Pausewang und auch Lloyd ganz klar Schuldige der Umwelt- bzw. atomaren Katastrophe benennen, die Elterngeneration offen angreifen, wird in der Moon-Reihe die Umweltkatastrophe nicht als eine von Menschen herangeführte Katastrophe entworfen. In Die Welt wie wir sie kannten, also dem ersten Teil der Moon-Reihe, tritt Miranda als Ich-Erzählerin auf und schildert ihr Leben und das ihrer Familie vor und während der Katastrophe. Sie lebt mit ihrer Mutter, ihrem jüngeren Bruder in einer Kleinstadt in Pennsylvenia. Ihr älterer Bruder Matt ist auf dem College, ihr Vater hat erneut geheiratet und erwartet mit seiner jetzigen Frau Nachwuchs. Ein Asteroid prallt auf den Mond und löst den Mond so aus seiner Umlaufbahn. Damit erlebt Miranda die Katastrophe auf dem Land, während der zweite Band, Die Verlorenen von New York, zeigt, wie Menschen in der Stadt leiden und hungern. Erzählt wird aus der Sicht des 17-jährigen Alex, der sich um seine beiden Schwestern Bri und Julie kümmern muss. Seine Mutter ist auf dem Weg zur Arbeit als die Katastrophe beginnt, sie ist wahrscheinlich in der U-Bahn ertrunken, und ihr Vater ist auf der Beerdigung seiner Mutter in Puerto Rico. Auch hier fehlt ein Lebenszeichen, und nach und nach muss sich Alex eingestehen, dass auch der Vater nicht mehr lebt. Alex überlebt, denn er hat einerseits einen starken Glauben, andererseits helfen ihm die Menschen aus seiner Gemeinde und Schule. Pfeffers Romane können hoffnungsvoll bezeichnet werden und die Besinnung auf bestimmte Werte ist offensichtlich: Während im ersten Band vor allem die Familie als Rückzugsort positiv besetzt ist, so ist es im zweiten Band der Glaube von Alex, der zwar zwischendurch ins Wanken gerät und doch sind es immer wieder die Priester oder Nonnen, die ihm und seinen Schwestern helfen. Sie sind es dann auch, die ihm und Julie nach dem Tod von Bri den Auszug aus der Stadt ermöglich. Kritisch dagegen wird der Reichtum der Menschen betrachtet. Sowohl Alex als auch Miranda wachsen an den Aufgaben, verändern sich im Laufe der Handlung und werden zu vernünftigen, altruistischen Wesen, wobei Alex im Vergleich zu Miranda von Beginn an wesentlich vernünftiger konzipiert ist. In Pausewangs Romanen werden klar Schuldige benannt: Es sind die Eltern und Großeltern, also die Erwachsenen, die u. a. die atomare Energie und Auf-

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rüstung unterstützen, die Gefahren negieren und den Fortschritt in einer solchen Energie sehen. Susan Beth Pfeffer verzichtet dagegen auf einen solchen Konflikt. Das Zusammentreffen zwischen dem Asteroiden und dem Mond ist keine von Menschen gemachte Katastrophe, sondern willkürlich. Beide Romane enden hoffnungsvoll: Miranda und ihre Familie bekommen zehn Tüten mit Essen, Miranda kann ihren 17. Geburtstag feiern und Alex und seiner Schwester Julie wird die Ausreise aus New York ermöglicht. In Euer schönes Leben kotzt mich an von Saci Lloyd ist die Frage der Umweltzerstörung etwas differenzierter. Auch hier ist die Welt nach einem »Großen Sturm« nicht gänzlich zerstört, aber doch so, dass sich die Lebensführung der Menschen – insbesondere in Großbritannien – verändert. Erzählt wird die Geschichte von der 16-jährigen Laura. Laura dokumentiert die Veränderungen in ihrem Tagebuch, das ein Jahr umfasst und zeigt, wie sich ihre Familie behaupten muss. Anders als in den Romanen von Susan Beth Pfeffer, aber auch in den Romanen von Gudrun Pausewang, ist Laura keine wirkliche Heldin, sondern sie leidet unter den Veränderungen und hebt nicht nur hervor, dass jetzt ihr Leben gänzlich anders ist, sondern zeigt auch die Machtlosigkeit der Erwachsenen, die allesamt schwach erscheinen. Hinzu kommen jedoch auch ganz klassische Probleme von Jugendlichen wie unerwiderte Liebe, Konflikte mit Erwachsenen, Identifikationsfragen, die einen breiten Raum in den Tagebucheinträgen einnehmen. Insofern können alle drei Romane auch als Adoleszenzliteratur bezeichnet werden. Während in Die Welt, wie wir sie kannten die Umweltkatastrophe nicht von Menschenhand gemacht wurde, so ist in Euer schönes Leben kotzt mich an klar, wer die Verantwortung trägt. Es ist die Elterngeneration, die gar nichts getan hat und auch jetzt wenig tut und fast kopf- und machtlos nach Lösungen sucht. Sie suchen Lösungen im religiösen Wahn oder in der Gartenarbeit, ohne jedoch sich selber der Verantwortung zu stellen. Der Roman nimmt Zeitungsnotizen auf, in denen zudem auch die Machtlosigkeit der Politiker gezeigt wird und der Protest der Menschen, der sich immer mehr radikalisiert und schließlich in bürgerkriegsähnlichen Schreckensszenarien endet. Die Handlung ist 2015 angesiedelt und die britische Regierung beschließt, gesetzlich den CO2-Verbrauch zu reduzieren. Man bekommt eine CO2-Karte, muss seinen Verbrauch notieren und berechnen. Im Mittelpunkt steht Laura, die in ihrem Tagebuch die Veränderungen festhält und reflektiert. Am 1. Januar schreibt die Familie ihren Luxuswunschzettel auf, der zeigt, wie sich das Leben mit den Ersparnissen verändern wird. Ein Umgewöhnen wird schwer, denn der Verbrauch der Familie ist enorm: Als ich nach Hause kam, waren meine Eltern vor dem Fernseher eingeschlafen, jede einzelne Lampe im Haus brannte und in Kims Zimmer liefen der CD-Player und der

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HD-Fernseher, obwohl sie selbst im Bad war. Ich weiß nicht, was aus dieser Familie werden soll, wenn die Rationierung erst mal wirklich zuschlägt. (Lloyd 2010, S. 13)

Die Eltern sind keine Vorbilder, sondern verschwenden Energie und erfinden immer neue Ausreden. Sie fasst in einem Aufsatz zusammen: Die Elterngeneration der 1970er Jahre war sehr egoistisch. So haben sie beispielsweise das Moodlight erfunden, statt wie unsere Großeltern die Socken unter einer 40-WattBirne zu stopfen. Sie ließen sich von Lifestyle-Magazinen wie der Daily Mail beeinflussen, was zu zügellosem Konsumverhalten führte. Meine Eltern sind Exhippies aus der Generation von 1970, ihr Hochzeitsfoto ist einfach superpeinlich. Alle beide haben darauf so viele Haare, als würden sie darum wetteifern, wer die meisten hat. Sie sehen aus wie Einwanderer aus Osteuropa, dabei kommt mein Vater aus Axminster in Devon und leitet den Fachbereich Reise und Tourismus in einem College und meine Mum kommt aus dem Norden des Staates New York und arbeitet in einem Verlag. Meiner Meinung nach gehören Exhippies zu der gefährlichsten Sorte von Leuten, weil sie ihr Leben tatsächlich für lebenswert halten. (Lloyd 2010, S. 32 f.)

Als dann die Energiekarten kommen, verschlimmert sich die Situation. Nichtsdestotrotz beachten nicht alle die Regeln und es sind vor allem die Erwachsenen, die sich nicht immer anpassen können. Die Rationierung erfolgt auch hier nach einer Umweltkatastrophe, denn ein Sturm hat weite Teile Englands zerstört und so die Lebensmittelknappheit beschleunigt: Die Elterngeneration hat, so zeigt es der Roman, Schwierigkeiten, sich der neuen Situation, u. a. dem Energiesparen, anzupassen und auf bestimmte Hobbies zu verzichten. Ähnlich wie in dem Roman Die Welt, wie wir sie kannten müssen sich die Erwachsenen erst zurechtfinden und ihre neue Rolle definieren. Während also die Texte zur ökologischen Aufklärung den Hippie als Paradebeispiel des Umweltschützers positiv besetzen, ihn immer wieder auftreten lassen und seine Haltung zur Natur hervorheben, so setzt sich Lloyd in Euer schönes Leben kotzt mich an kritisch mit der Hippiekultur auseinander und prangert eine mögliche Doppelmoral an. Hippies wie Lauras Eltern, haben die Jugendkultur eine Zeit lang genossen, eine alternative Lebensform ausprobiert und diese dann abgelegt. Nicht nur die Frisuren und Kleidung haben sich verändert, auch die Ideale sind nach und nach verschwunden. Lloyd entwirft die Familie nicht als den Hort des Zusammenhaltes, sondern zeigt, wie eine Familie zerbricht und erst nach und nach wieder zusammenfindet. Ähnlich wie Lauras Familie muss sich auch die Gesellschaft auf bestimmte Werte wie Solidarität und Verantwortung besinnen, um so die Welt zu retten. Erst als sich Familie und zumindest die Bevölkerung, die in der Straße lebt, in der auch Lauras Familie wohnt, zusammenrauft und sich untereinander unterstützt, scheint sich die Situation zu verbessern:

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Das ist also der letzte Tag. Ich wünschte, ich hätte ein paar große Worte zum Abschied, aber die habe ich nicht. Ich hab’s geschafft – aber wie es mit meiner Familie, den Angels, der Schule in Zukunft weitergeht – ich weiß es nicht. Wie Adi gesagt hat: von jetzt an einen Tag nach dem anderen. Etwas anders bleibt mir nicht übrig. (Lloyd 2010, S. 343)

Lauras Familie hat überlebt, findet wieder zueinander und kann am Ende wieder als Familie funktionieren – so zumindest deutet es der Eintrag am 25. Dezember an. Laura findet zudem ihre große Liebe.

Gesellschaft Pausewang entwirft in beiden Romanen Mitläufer, Gegner, Befürworter und Opfer der Kernkraftenergie. Sie zeigt, wie egoistisch und hilflos die Menschen auf das Schreckenszenarium reagieren. Janna-Bertas Großmutter Berta glaubt beispielsweise nicht an die Gefahren und hält Atomkraft für den Fortschritt. Mit Großmutter Jo, den Eltern und Tante Almut werden Gegner entworfen, die immer wieder vor den Gefahren gewarnt und öffentlich demonstriert haben. In Die letzten Kinder von Schewenborn prangern erst am Ende des Romans Jugendliche und Kinder die Erwachsenen an, dass sie nichts gegen einen nahenden Atomkrieg getan hätten – etwa sich in der Friedensbewegung zu engagieren. In Die Wolke ist es vor allem Janna-Berta, die das Vergessen und Verschweigen kritisiert und sich nicht scheut, sich kahlköpfig in der Gesellschaft zu zeigen. Am Ende trifft sie auf ihre Großeltern, die aus Mallorca nach Schlitz zurückkehrt sind, und konfrontiert sie mit der Wahrheit. In beiden Romanen zeigt Pausewang, wie drastisch Menschen sich ändern, kritisiert nicht nur ihren Egoismus, sondern zeigt auch, dass sie nach solchen Katastrophen schweigen und vergessen möchten. Insgesamt lässt sich festhalten, dass in den hier vorgestellten ökologischen Dystopien noch keine neue Gesellschaftsform entworfen wurde: Vielmehr prangern Pfeffer und Lloyd mangelnde Eigenschaften in der Gesellschaft an: Solidarität fehlt, der Egoismus dominiert und vor allem die Elterngeneration, die in Lloyds Roman mit der Hippiekultur gleichgesetzt werden, wird kritisiert. Doch die Romane enden hoffnungsvoll: Die Menschen finden zueinander, helfen und unterstützen sich gegenseitig. Die Moon-Trilogie von Susan Beth Pfeffer konzentriert sich auf Familie und Kirche als Grundpfeiler der (US-amerikanischen) Gesellschaft und deutet an, wie wichtig und lebensentscheidend ein Rückbesinnen auf christliche und familiäre Werte ist. Der ökologische Diskurs wird lediglich auf die Katastrophe mit dem Meteoriten-Aufprall reduziert und ist somit, wie bereits erwähnt, nicht von Menschenhand gemacht. Damit greift Pfeffer einen Diskurs auf, der sich nicht

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mit der eigentlichen Klimakatastrophe beschäftigt, sondern diese z. T. negiert und auch Pfeffers Romantrilogie greift nicht den Aspekt der von Menschen gemachten Umweltkatastrophe auf. Alle Romane greifen somit ein Gesellschaftsmodell auf, das an demokratische und westliche Konzepte erinnert. Gezeigt wird jedoch, wie stark die Gesellschaft, ohne dass sie es ahnt, von der Natur abhängig ist. Nach der atomaren Katastrophe ist die Erde verseucht, Landwirtschaft kann nicht betrieben werden und somit bricht Hunger aus. Auch in der Moon-Reihe ist die Umwelt nach der Mond-Katastrophe zerstört, Tsunami, Erdbeben und Unwetter kommen auf und zerstören nicht nur Städte, sondern auch die Landwirtschaft. Aufgrund der veränderten Wetterverhältnisse ist zudem die Pflanzenwelt auch in jenen Gegenden völlig zerstört, in denen es nicht zu Stürmen oder Erdbeben kam. Miranda und ihre Familie erkennen jetzt, wie stark sie von einem ökologischen Gleichgewicht abhängig waren. Pfeffer kritisiert jedoch nicht die Zerstörung der Natur, sondern vielmehr das Verhalten der Menschen nach der Katastrophe. Pausewang und Lloyd dagegen greifen den ökologischen Diskurs, appellieren an die Leser/innen sparsam mit den Ressourcen umzugehen und deuten an, wie abhängig die Menschen von einer intakten Natur sind.

Die Welt Jahrzehnte bzw. Jahrhunderte nach der Katastrophe Dystopien dieser Gruppierungen thematisieren nicht die unmittelbare Katastrophe, sondern entwerfen ein Leben, das in der Zukunft verortet ist und neue Gesellschaftsmodelle vorstellt. Ihnen gemeinsam ist die Entindividualisierung des Einzelnen, denn gerade der Einzelne, so das Credo der Machthaber der neuen Gesellschaftsform, ist für die vergangenen Katastrophen verantwortlich. Eine Gleichheit bzw. Gleichförmigkeit schafft dagegen längerfristigen Frieden und Sicherheit. In allen hier vorgestellten Dystopien basieren die Gesellschaftsmodelle auf Macht einzelner Gruppen, die bewusst der Bevölkerung Wissen vorenthalten, Literatur und Musik verbieten. Die Vielzahl der Romane lässt sich in drei Gruppen einteilen: (1) Totalitarismus (u. a. Die Bestimmung, Godspeed, Panem-Trilogie, AmorTrilogie) (2) »Schöne neue Welt« (u. a. Ugly-Tetralogie, Cassia & Ky-Trilogie) (3) Vormoderne Gesellschaftsformen (u. a. Ashes-Trilogie, Eden-Trilogie) Weitere in den Romanen behandelte Themen lassen sich wie folgt zusammenfassen: Pervertierung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts; außer Kontrolle geratene Technik; völlige Manipulation des Individuums sowie totale Überwachung. Hinzu kommt auch eine kulturökologische Sicht auf die Natur,

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die in den Bänden sowohl als kultivierter (Natur-)Raum entworfen ist, der für den angepassten Menschen Sicherheit samt gleichzeitiger Überwachung bedeutet, als auch als wilde Natur, in der die Menschen fernab der Zivilisation leben und in der sie mit zahlreichen Gefahren konfrontiert werden. Insbesondere dieser Lebensraum wird von den Rebellen besetzt, deren Wildheit, die ihnen von der herrschenden Masse attestiert wird, mit der Wildheit der Natur korrespondiert.

Gesellschaftsformen Totalitarismus Die Gesellschaft, so deuten es zumindest Dystopien wie die Amor- und PanemTrilogie (dt. 2009 ff.), aber auch Die Bestimmung von Veronica Roth (dt. 2012) oder Gebannt von Veronica Rossi (dt. 2012) an, funktioniert nur dann, wenn alle Menschen, ihrer Individualität beraubt, kontrolliert werden und ein fremdbestimmtes Leben führen. In der Regel werden den Menschen Nahrungsmittel zugeteilt, die medizinische Vorsorge ist gewährleistet ebenso wie die Berufs- und Partnerwahl. Die Partner werden nach komplizierten Parametern ausgesucht, so dass einer glücklichen Ehe wenig im Wege steht. Biologische Familien geraten dabei in den Hintergrund und auch eine Anklage an die Elterngeneration fehlt. Insbesondere in der Darstellung der Familie deuten sich somit Unterschiede an zu den vorgestellten ökologischen Dystopien. In Die Verratenen von Ursula Pozananski (2012), in denen überwiegend die Kinder in vitro sind, heißt es: »Familien«, erkläre ich Quirin dennoch, »werden überschätzt. Eltern stehen ihren eigenen Kindern zu nah, um sie optimal fördern zu können. Bei uns war das anders und es war gut.« (Poznanski 2012, S. 390)

In den totalitären Dystopien wachsen die Jugendlichen in Gemeinschaften auf, sind oftmals nicht auf biologischem Wege gezeugt, und damit existiert keine enge Verbindung zu der Familie, sondern vielmehr zum Staat. In der Regel gibt es in den Erzählungen eine Gemeinschaft, die den Staat bildet und befürwortet, und eine Gemeinschaft der Anderen bzw. der Ausgestoßenen, die gegen den Staat kämpfen: Die Welt außerhalb der Biosphäre nannten sie die ›Todeszone‹. Dort draußen gab es eine Million Möglichkeiten, sein Leben zu verlieren. Aria hätte nie geglaubt, dass es für sie einmal so eng werden würde. (Rossi 2012, S. 7)

Die Gemeinschaft der Befürworter lebt ein geordnetes Leben, gehört oftmals zu der Elite bzw. den Hochbegabten. Gemeinsam ist ihnen, dass sie keine Zweifel an

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der Gesellschaft hegen. In der Tat ist die Welt außerhalb der sicheren Zonen zerstört und, so wird es zumindest den Einwohnern der Zonen suggeriert, eine Gesellschaftsform existiert dort nicht: Es herrscht Gewalt. Die Bewohner der Zonen außerhalb werden als Barbaren, Wilde oder Primitive wahrgenommen: Ihre Welt ist nicht hochtechnisiert, sie sind weniger gebildet und werden daher kaum akzeptiert. Doch die Menschen außerhalb der Zonen haben ihre Individualität nicht verloren, werden nicht kontrolliert und erscheinen daher freier. In Die Verratenen von Ursula Poznanski, in der ebenfalls ein totalitärer Staat entworfen wird, heißt es: »Ich weiß, es ist schwer zu verstehen«, sagt sie [Tomma] zögernd. »Aber ich fühle mich hier so lebendig. Die Leute sind ganz anders als zu Hause. […] An der Akademie ist es nur um Leistung gegangen, um Punkte, um den Platz in der Reihung. Und weißt du, hier arbeiten auch alle hart, aber sie haben auch wirklich etwas von dem, was sie tun. Fleisch oder Wolle oder Brennstoff. Und wenn sie mit der Arbeit fertig sind, gehört die Zeit ihnen allein.« (Poznanski 2012, S. 381)

Dieser Dialog spielt sich zwischen Ria und Tomma ab, die beide aus der Sicherheit der Sphären flüchten mussten und Unterschlupf bei den so genannten »Prims« gefunden haben. Die Prims leben außerhalb der Sphären, die errichtet wurden, um einen Teil der Menschheit vor der Eiszeit zu schützen. Dennoch schaffen es die Bewohner außerhalb, die sich in Clans zusammengetan haben, zu überleben: Ihr Leben wird, das stellt Tomma fest, nicht kontrolliert, sie sind frei, während die Sphärenbewohner kontrolliert und überwacht werden. Während also die Protagonistinnen wie Lena, Aria oder Ria in den Städten bzw. Sphären ein geschütztes und privilegiertes Leben genießen konnten, so erfahren sie in der Wildnis zwar Freiheit, aber eben auch den Kampf ums tägliche Überleben. Die gesellschaftlichen Strukturen unterscheiden sich von der geordneten und kontrollierten Welt in den Städten: In der Wildnis herrschen Clans oder Stammesfürsten, Gewalt dominiert und insbesondere hier werden die Naturkatastrophen der letzten Jahrzehnte deutlich. Die Schauplätze, in denen die neuen Gesellschaftsformen verortet werden, sind den Lesern/innen bekannt: Nordamerika – etwa Chicago oder New York –, aber auch Köln, Augsburg oder Wien. Veronica Roth siedelt beispielsweise ihren Roman Die Bestimmung, die ebenfalls als Auftakt einer Trilogie konzipiert ist, im Chicago der Zukunft an. Immer wieder wird auf bestimmte Bauwerke verwiesen, doch die Stadt ist zerstört, von der Außenwelt abgeriegelt und die Menschen bewegen sich fast wie Gefangene in der Stadt. Poznanski entwirft in Die Verratenen dagegen eine Dystopie, die in Europa spielt und in der ihre Figuren durch das zerstörte Deutschland reisen. Die Zukunft erscheint düster und doch wird dies zunächst nicht hinterfragt, da die Menschen glauben, einen Weg gefunden zu haben, um

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Kriegen und dem Morden zu entkommen. Die Gesellschaft ist in der Dystopie Die Bestimmung in fünf Gruppen eingeteilt: Altruan sind die Selbstlosen, Candor die Freimütigen, Ken die Wissenden, Amite die Friedfertigen und Ferox die Furchtlosen. Mit 16 Jahren wird jeder Mensch einem Test unterzogen und einer der Gruppierungen zugeordnet. Er muss seine Familie verlassen und sich den Lehren der jeweiligen Gruppe unterordnen. Eine solche Einteilung wird nicht in Frage gestellt, denn es ist ein Weg, um in Frieden miteinander zu leben. Oder anders gesagt: Die biologische Familie spielt eine untergeordnete Rolle. Der Ausschluss aus den Fraktionen bedeutet übrigens ein Leben in Armut. Bereits während ihrer Tests fürchtet Beatrice nichts mehr als den Ausschluss aus den Fraktionen: Und wenn sie mir nun sagt, dass ich für keine der Fraktionen infrage komme? Dann muss ich auf der Straße leben, bei den Fraktionslosen. Das schaffe ich nicht. Fraktionslos zu sein bedeutet nicht nur, ein Leben in Armut und Elend zu führen, es bedeutet auch ein Leben abseits der Gesellschaft, ohne das Wichtigste im Leben: die Gemeinschaft mit anderen. Meine Mutter hat es mir genau erklärt. Wir können nicht alleine überleben, und selbst wenn wir es könnten, wir würden es nicht wollen. Ohne eine Fraktion hat unser Leben keinen Sinn und Zweck. (Roth 2012, S. 25)

Eine solche Passage ist charakteristisch für alle hier vorgestellten Dystopien, die die Protagonisten zwingen sich der Gesellschaftsstruktur unterzuordnen und ihr Leben von den Herrschenden bestimmen zu lassen. Ein Verlassen des vorbestimmten Weges ist nicht möglich, denn dies bedeutete nicht nur das Ausgestoßenwerden aus der Gesellschaft, sondern auch den Verzicht auf ein friedliches und angenehmes Leben. Gezeigt wird jedoch auch ein Leben, das eine völlige Individualität verbannt und als störend empfindet. Nicht nur Die Bestimmung, sondern auch Dystopien wie Gebannt, Delirium von Lauren Oliver (dt. 2011) oder Dark Canopy von Jennifer Benkau (2012) entwerfen eine Gesellschaft in der das Fremde bzw. das Andere eine Bedrohung für die Gemeinschaft bedeutet. Und noch etwas zeigt diese Passage: Die Romane der Umweltkatastrophe betonten die Gemeinschaft, forderten ein Miteinander ein sowie das Hinterfragen der gesellschaftlichen Muster. Die Romane, die Zukunftsmodelle nachzeichnen, zeigen wiederum, dass eine solche Überbetonung der Gemeinschaft gefährlich sein kann, in dem Aufgeben der Individualität münden kann und fordern erneut eine neue Gesellschaftsform. Die Entwertung menschlicher (Liebes-)Beziehungen wird in der Amor-Trilogie mit den Bänden Delirium und Pandemonium von Lauren Oliver (2012) radikalisiert und kann sicherlich als Extrembeispiel im Kontext der romantischen Dystopie betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht das Mädchen Lena, die als Ich-Erzählerin auftritt, und den Lesern einen Blick in ihre Alltagswelt ge-

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stattet. Sie ist 17 Jahre alt und steht genau fünfundneunzig Tage vor dem Eingriff, der am 3. September, ihrem Geburtstag, stattfinden soll. Der Eingriff soll sie vor der Krankheit »amor deliria nervosa« schützen, also vor der Krankheit Liebe, die verantwortlich gemacht wird für Kriege, Hass und Elend. Der Eingriff, der sie immun macht gegen unterschiedliche Liebeserfahrungen, soll Lena ein glückliches Leben ermöglichen. Tatsächlich glaubt Lena, dass ein solcher Eingriff ein besseres Leben ermöglicht und die Menschen einander nicht nur näher bringt, sondern sie gleich macht und somit zahlreiche Probleme überwindet: Ich bin froh, dass jemand anders die Wahl für uns trifft. Ich bin froh, dass ich nicht selbst wählen muss – aber in erster Linie bin ich froh, dass ich nicht jemand anderen dazu bringen muss, mich auszuwählen. Für Hana wäre es natürlich kein Problem, wenn die Dinge immer noch so wären wie in den alten Zeiten. (Oliver 2011, S. 29)

Fast alle Menschen müssen solche Eingriffe an sich vornehmen lassen, wer sich wehrt wird verhaftet und gilt als gefährlich. Bis zu ihrem Eingriff werden Jungen und Mädchen getrennt erzogen und Begegnungen zwischen den Geschlechtern sind streng untersagt. Der Eingriff, um es verkürzt auszudrücken, zerstört alle Empfindungen. Man kann sich nicht mehr verlieben, doch man kann auch weder Schmerzen noch Glück empfinden. Man lebt in einer Art Wattebausch, erlebt eintönige Tage, bekommt den Partner zugewiesen und die Regierungen kontrollieren, ob sich die Menschen auch ›richtig‹ benehmen: Nach dem Eingriff lachen sie kaum, zeigen keine Spontaneität und vergessen auch ihr Leben und ihre Freunde vor dem Eingriff.

Schöne neue Welt »Noch nie zuvor ist eine Gesellschaft der Perfektion so nahe gekommen« (Condie 2011, Band 1, S. 143): Dieses Zitat charakterisiert eine mögliche Gesellschaftsform, die den Aspekt der schönen neuen Welt, wie sie bereits Huxley in seinem Roman Brave New World (dt. Schöne neue Welt) aufgenommen hat. Entworfen wird eine perfekte Welt, die zwar totalitäre Züge trägt, die jedoch hinter einer Ordnung und auch einer Unterhaltungsindustrie versteckt werden. In der Ugly-Reihe von Scott Westerfeld (dt. 2007–2012) werden nicht nur die Menschen in einer sicheren Welt gezeigt, sondern sie werden mit 16 bzw. 17 Jahren einer Schönheitsoperation unterzogen, um Neid und Missgunst zu unterbinden. Die Operationen erfolgen nach bestimmten Schönheitsvorstellungen und nach einer erfolgreichen OP genießen die Menschen ein erfülltes Partyleben, machen Karriere und sind zufrieden. Sie leben in der Stadt »New Pretty Town« (Westerfeld 2005, S. 7), in der sie ein, so zumindest der erste Eindruck, erfülltes Leben führen. Bereits zu Beginn der Reihe blickt die Protagonistin Tally

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Youngblood, die noch keine Schönheitsoperation hatte, sehnsüchtig auf die Wolkenkratzer der New Pretty Town: Sie konnte durch ihr offenes Fenster New Pretty Town sehen. In den Partytürmen brannte schon Licht, und Prozessionen aus flackernden Fackeln zogen sich wie Schlangen durch die Vergnügungsparks. Einige Heißluftballons ruckten vor dem dunkler werdenden rosa Himmel an ihren Halteseilen, die Fahrgäste beschossen andere Ballons und vorübergleitende Drachenflieger mit Sicherheitsfeuerwerk. Lachen und Musik hüpften wie Kieselsteine über das Wasser, und ihre Kanten kratzten an Tallys geschundenen Nerven. (Westerfeld 2005, S. 7)

Die Schönen leben in einer bunten und fröhlichen Gesellschaft während die Hässlichen außerhalb dieser Welt auf ihre Schönheitsoperation vorbereitet werden. Erst nach und nach wird Tally deutlich, dass Hässlichkeit nicht wirklich existiert, sondern von der Gesellschaft definiert und konstruiert wird. Schönheit bedeutet zugleich den Verlust der Individualität, aber auch der eigenen Identität. Mittels Drogen werden die Menschen in einen tranceähnlichen Zustand versetzt und leben in einer oberflächlichen Welt, in der vor allem der Spaß dominiert. Auch die Trilogie Cassia & Ky von Ally Condie (dt. 2011–2013) entwirft zwar eine Gesellschaft, die totalitäre Züge trägt, aber zumindest noch im ersten Band Cassia & Ky. Die Auswahl an Huxleys Brave New World erinnert. Auch hier wird alles kontrolliert: Ernährung, Partnerwahl, Sterben, Kleidung und Beruf, aber die Menschen wirken glücklich und zufrieden. Sie besitzen keine Individualität, sondern wirken wie Marionetten, auch wenn sie zufrieden und glücklich wirken. Nach und nach zweifeln die Protagonisten, erkennen, wie sie manipuliert werden und beginnen, all die ihnen zugestandenen Privilegien zu kritisieren.

Vormoderne Gesellschaftsentwürfe Nach der Katastrophe können sich gesellschaftliche Modelle entwickeln, die sich zwar totalitärer Muster bedienen, die jedoch auch Strukturen aus früheren Epochen aufgreifen. Insbesondere das Geschlechterverhältnis verändert sich in diesen Romanen, denn während sowohl die Dystopien mit totalitären Systemen als auch jene mit »schönen« Welten eine Gleichberechtigung der Geschlechter praktizieren, so greifen die Romane, die zu dieser Gruppierung gerechnet werden können, patriarchale, aber auch matriarchale Muster auf und zeigen, wie ein gendertrouble in der Zukunft entworfen werden könnte. In seiner Trilogie Das verbotene Eden zeigt Thomas Thiemeyer (2011, 2012) eine radikale Veränderung der Gesellschaftsordnung: Nach dem Freisetzen eines Virus entstand ein Kampf der Geschlechter und seit fast 70 Jahren leben Männer und Frauen getrennt. Ein gemeinsames Leben existiert nicht und doch wird im

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Laufe der Trilogie angedeutet, dass es noch versteckte Formen gibt, in der das Miteinander der Geschlechter funktioniert. Beide Geschlechter entsprechen bekannten tradierten Rollenmustern: Das Weibliche symbolisiert das Natürliche, lebt im Einklang mit der Natur, kennt sich in Heilkunde aus und betet zu Naturgöttinnen. Die Frauen leben in der Natur und sind auch diejenigen, die die Natur mit Erfolg bewirtschaften. Die Männer dagegen leben in den zerstörten Städten, sind stark religiös geprägt und äußerst brutal. Sie respektieren die Natur nicht, aber auch nicht die Gesetze, die nach der Trennung der Geschlechter erfolgt. In der Trilogie Ashes von Ilsa J. Bick (dt. 2011, 2012) ist die Situation eine andere: Die Hauptfigur Alex zieht sich in die Natur zurück, um über ihr Leben und ihre unheilbare Krankheit nachzudenken. Während ihrer Wanderung geschieht eine Katastrophe, die die Menschheit ausrottet und nur die Alten und Jungen überleben. Bis auf wenige Ausnahmen sind alle zwischen 20 und 60 verstorben. Die Ursachen der Katastrophe werden erläutert, allerdings nicht die Auswirkungen. Junge Menschen mutieren, ernähren sich von Menschenfleisch, alte Menschen werden gesund und möchten die Welt beherrschen. Alex kommt in das Dorf Rule, das von alten Männern beherrscht wird. Entworfen wird eine Gesellschaft, die nicht nur patriarchale Strukturen aufgreift, sondern stark von dem fundamentalistischen Glauben der Männer geprägt ist. Jüngere Frauen und Mädchen werden als Gebärmaschinen betrachtet, sollen mit den jungen Männern verheiratet werden und den Fortbestand der Gesellschaft sichern.

Mittel der Machtausübung Susan Sontag betonte in ihrer Dankesrede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, dass Literatur Freiheit bedeutet: Access to literature, world literature, was escaping the prison of national vanity, of Philistinism, of compulsory provincialism, of insane schooling, of imperfect destinies and bad luck. Literature was the passport to enter a larger life; that is, the zone of freedom. Literature was freedom. Especially in a time in which the values of reading and inwardness are so strenuously challenged, literature is freedom. (Susan Sontag 2003)

Das, was Susan Sontag in ihrer Rede beschreibt, lässt sich fast wörtlich auf die Funktion von Literatur in den unterschiedlichen hier vorgestellten Dystopien aufzeigen. Allen ist gemeinsam, dass die Herrschenden Mittel gefunden haben, um ihre Gewalt auszuüben. Diese Mittel basieren einerseits wie bereits erwähnt auf einer strikten Überwachung, möglichen Operationen, aber auch in der Zerstörung von Wissen und Kultur. Tatsächlich werden in den Romanen lite-

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rarische Texte und Musik als besonders gefährlich eingestuft und den Menschen nicht offen zugänglich gemacht. Ihnen steht nur ein bestimmter Kanon von Texten und Musikstücken zur Verfügung, literarische Bildung, das Lesen von Romanen, Hören von Musik oder Malen werden nicht unterstützt und sogar als gefährlich eingestuft. In Cassia & Ky. Die Auswahl wird der Vorgang der Kanonisierung von bestimmten Texten aufgenommen: Hundert Lieder, Hundert Gemälde, Hundert Gedichte. Alle anderen Kunstwerke wurden vernichtet. Zerstört für immer. Zu unserem Besten, sagte die Gesellschaft, und alle glaubten es, weil es Sinn machte. Wie können wir irgendetwas richtig wertschätzen, wenn wir mit zu vielem überschüttet und belastet sind? (Condie 2011, Band 1, S. 38)

Und tatsächlich werden die Heldinnen oftmals dann rebellisch, wenn sie mit Musik oder Literatur konfrontiert werden. Literatur wird auch daher verboten, da sie die Phantasie der Menschen anregen und zu einem kritischen Bewusstsein erziehen könnte. Das Leben, das Lauren Oliver entwirft, ist schlicht und einfach furchtbar : Menschen werden kontrolliert und genetisch so verändert, dass sie sich erst gar nicht wehren können. Erst mit Alex lernt Lena, dass Empfindungen wie Liebe, Hass oder Schmerz zu Menschen gehören und sie zu Menschen machen. Nach dem Eingriff funktionieren die Menschen wie Maschinen und sind scheinbar zufrieden, aber eben ohne jegliche Empfindungen. Ist dies eine Alternative und ist Liebe tatsächlich eine Krankheit und verantwortlich für Kriege, Gier, Eifersucht und Gewalt? Kontrolliert wird nicht nur das Leben der Menschen oder ihr Verhalten, sondern auch die Literatur. Lyrik beispielsweise ist seit Jahrzehnten verboten, denn es ist insbesondere die lyrische Sprache, die die Leute aufwecken und wachrütteln könnte. Die Macht von Worten und Sprache ist den Machthabern bewusst, Dramen wie Romeo und Julia gelten als Lehrstücke und nicht als Weltliteratur, um die Jugendlichen vor der Liebe zu schützen. Alex macht Lena klar, dass die Stücke auch eine andere Bedeutung haben können. Literatur bedeutet also in den hier vorgestellten Texten nicht nur das Verstehen, es geht vielmehr um Emotionen, die literarische Texte und Musik bewirken können. Die Figuren entwickeln im Laufe der Geschichte das, was innerhalb der Literaturdidaktik als eine der Funktionen von Literatur definiert wird: Empathie, Fremdverstehen und schließlich Akzeptanz des Fremden. Sie lernen durch literarische Texte andere Erfahrungen kennen – etwa in Das verbotene Eden – und erkennen zugleich, welche Macht Worte haben können.

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»Die Welt ist so viel größer, als ich geahnt habe!«:2 Naturbilder in Dystopien Natur spielt in allen Dystopien eine herausragende Rolle, denn es ist insbesondere die komplette Zerstörung der Umwelt, die eine neue Gesellschaftsform ermöglicht bzw. erst überhaupt zu einer neuen Gesellschaft geführt hat. Die neuen Machthaber nutzen zugleich die Zerstörung, um ihre Macht zu begründen. Die Zeitrechnungen werden den Katastrophen angepasst, denn man rechnet vor und nach der Katastrophe. Begründet wird das Versagen der Menschen mit ihrem Streben nach Macht und Geld, aber auch mit Emotionen wie Liebe, Hass und Eifersucht. Als Katastrophen werden neben Erdbeben Eiszeiten genannt, die zu einer fast vollständigen Zerstörung geführt haben. In den Texten wird mit einer Teilung gearbeitet, die aus vielen nichtdystopischen Texten bekannt sein dürfte: In den Städten und Sphären wird Natur kultiviert, genetisch verändert und die Menschen dürfen sich eingeschränkt bewegen. Demgegenüber ist die Natur draußen wild und zerstört: »Aria wusste, dass sie in dieser kontaminierten Welt nicht überleben konnte. Dafür war sie nicht geschaffen. Ihr Tod war nur eine Frage der Zeit.« (Rossi 2012, S. 87). Alle hier vorgestellten Dystopien lassen ihre Protagonisten in beiden Welten agieren und der Gegensatz zwischen den beiden Kulturentwürfen wird nicht nur beschrieben, sondern die Protagonisten fühlen die einzigartige Beschaffung der nicht künstlich hergestellten oder der kultivierten Natur. Zugleich erobert sich die Natur die Erde zurück und vor allem die Sonne, die in vielen Dystopien aufgrund der Verschmutzung »verschwunden« ist, scheint durch »Wolkendecken« (Rossi 2012, S. 87). Vor allem der Anblick der Sonne versetzt die Protagonisten in Glück, spüren sie doch die Wärme: Aber niemand hat von uns von diesem Gefühl erzählt, von dieser Wärme, die so anders ist. […] Aber noch nie bin ich der Sonne von Angesicht zu Angesicht begegnet, habe sie gespürt, gerochen, mich von ihr durchdringen lassen. (Poznanski 2012, S. 260)

Die Sonne bedeutet zugleich Hoffnung und neues Leben. Aber sie ist auch das Symbol dafür, dass sich die Gesellschaft wieder verändern könnte. Den Protagonisten wird schnell deutlich, dass es außerhalb der Biosphäre auch unterschiedliche Welten – Wälder, Wüsten, Gebirge – gibt, die sich stark von den virtuellen Welten, die die Jugendlichen in den Sphären erleben, unterscheiden. Aria atmet mit Interesse die Gerüche, sammelt Steine und erfährt so, was es heißt, in der realen Welt zu leben. Auch Lena aus Delirium bemerkt zuerst die Blumen: »Die Luft riecht so stark nach Blumen und Leben, dass es sich anfühlt, als wäre sie etwas Massives, wie ein Vorhang, den man zur Seite ziehen könnte« 2 Condie 2012, S. 131.

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(Oliver 2011, S. 267). Die Natur scheint intakt und sich ihre Wildheit zurückerobert zu haben. Überwältigend ist auch die Dunkelheit, die den Protagonisten so nicht vertraut ist. Aber trotz aller Gefahren wird die wilde Natur positiv entworfen und mit Freiheit und Individualität gleichgesetzt. Daher verwundert es nicht, dass sie zudem auch mit sakralen Bauten verglichen wird: Die Zweige über uns bilden einen Baldachin, der mich an die gewölbte Decke der St.Paul-Kathedrale erinnert, wo ich immer in der Sonntagsschule gesessen und mir Predigten über Tome, Wahrscheinlichkeit und Gottes Ordnung angehört habe. Die Blätter rascheln und zittern um uns herum, bilden ein ständig wechselndes Muster aus Grün und Schwarz, das von unzähligen unsichtbaren Wesen, die von Ast und zu Ast hüpfen, zum Tanzen gebracht wird. […] Es ist unglaublich. So etwas habe ich noch nie gesehen – all dieses Leben, das überallhin drängt, wächst, als dehnte es sich in jeder Sekunde weiter aus. (Oliver 2011, S. 269).

Natur wird also mit Schönheit gleichgesetzt, aber auch mit jenen Begriffen, die immer wieder im Bereich der Naturdarstellungen in der Literatur vorkommen und eindeutig positiv konnotiert sind. Die wilde Natur, auch die von Menschen zerstörte, fungiert als Gegenentwurf zu der neuen Gesellschaftsordnung. Die Unregelmäßigkeiten der Natur werden genutzt, um die Hauptfiguren auf Individualität vorzubereiten. Und letztendlich erleben die Figuren erst in der freien Natur glückliche Momente. Aber die Wildnis bedeutet nicht nur Individualität und Freiheit, sondern auch neue Gefahren wie Krankheiten, Tod und Hunger. Die Menschen müssen ohne Technik zurechtkommen: »Alles braucht Zeit«, (Oliver 2012, S. 37) stellt daher Lena im zweiten Teil der Amor-Trilogie fest.

Fazit oder: Was leisten Dystopien im Kontext einer kulturökologischen Literaturdidaktik Die Dystopie boomt und da die meisten Bände als Mehrteiler konzipiert sind, ist ein Ende noch lange nicht in Sicht. Die hier vorgestellten Dystopien stehen in der literarischen Tradition eines Orwells oder Huxleys, aber auch Bradbury und Atwood. Die Dystopien, das zeigt die Auswahl, thematisieren neben Problemen des Aufwachsens und damit gängige jugendliterarische Themen, auch das Thema der Andersartigkeit und des Umgangs mit Andersartigkeit. Auch wenn die Dystopien den ökologischen Diskurs mitunter nur am Rande streifen, erfüllen sie im Kontext einer kulturökologischen Literaturdidaktik wichtige Funktionen: In den Texten werden die Abhängigkeiten der Menschen von der Natur charakterisiert, der Umgang der Menschen hat zu einer Zerstörung der Umwelt beigetragen, die zu veränderten Gesellschaftsformen führen

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musste. Die Gesellschaftsformen bemühen sich in totalitären Systemen ein Zusammenleben zu ermöglichen, das Frieden und das Wohl der Umwelt pflegt, aber Freiheiten und Individualität einschränkt. Zugleich betonen die Protagonisten immer wieder, wie wichtig ein verantwortungsvoller Umgang mit der Natur sei. Doch nicht nur das: Alte Pflanzen werden kultiviert und ihre Samen gespeichert. Geschichten und das Wissen über vergessene Pflanzenarten werden von Generation zu Generation weiter getragen. So heißt es beispielsweise in Cassia & Ky. Die Auswahl: »Es gibt eine Blume, die heißt ›Queen Anne’s Lace‹, die Spitzen der Königin Anne«, erzählte meine Mutter zum Beispiel, gedankenverloren und mit sanfter Stimme. »Das ist die Wilde Möhre. Man kann die Wurzeln der jungen Pflanzen essen. Die großen Blütendolden gleichen zarter weißer Spitze, einer alten Stoffverzierung. Wunderhübsch. Die einzelnen Blüten sehen aus wie lauter kleine Sterne.« (Condie 2011, S. 179)

Deutlich wird in solchen Textpassagen nicht nur, dass die Natur vielfältiger ist als die von Menschen kultivierten Pflanzen, sondern auch, dass wilde Pflanzen essbar sind. Der Diskurs um den Erhalt älterer Pflanzen, aber auch darum, jene anzubauen, die charakteristisch für bestimmte Regionen sind, wird somit nicht nur in ökologischen Diskursen der Gegenwart aufgenommen, sondern auch in den jugendliterarischen Dystopien. Die Naturbilder sind unterschiedlich: In einem Teil der Dystopien – etwa in Die Verratenen oder Gebannt – leben die Eliten in künstlich erschaffenen Sphären, in denen auch die Natur künstlich erschaffen wurde. Die Welt draußen dagegen ist kaum bewohnbar, Kälteperioden haben die Pflanzen- und Tierwelt fast gänzlich zerstört und nur die nicht anerkannten und akzeptierten Menschen leben in Clans außerhalb der Sphären in bitterer Armut. Aber auch in den Romanen wie der Amor-Trilogie, der Ugly-Tetralogie oder Cassia & Ky-Trilogie gibt es ein »drinnen« und ein »draußen«: Hier sind es jedoch die Großstädte, die der Elite Sicherheit geben, die Reisemöglichkeiten dagegen einschränken. Außerhalb dieser Territorien dominiert die wilde Natur, die sich nach der Katastrophe zu erholen versucht. Die dystopische Jugendliteratur steht in der Tradition der Aufklärung, möchte Leser/innen für aktuelle Diskurse sensibilisieren und greift vor allem Fragen aus den Umweltdebatten auf. Im Kontext einer kulturökologischen Literaturdidaktik sollten diese Texte berücksichtigt werden, denn sie bieten zahlreiche Möglichkeiten der Anschlusskommunikation, die in diesem Beitrag lediglich gestreift werden konnten.

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Quellenverzeichnis Primärliteratur Bick, Ilsa J. (2011): Ashes. Brennendes Herz. INK Egmont: Köln. Bick, Ilsa J. (2012): Ashes. Tödliche Schatten. INK Egmont: Köln. Condie, Ally (2011): Cassia & Ky. Die Auswahl. FJB: Frankfurt/Main. Condie, Ally (2012): Cassia & Ky. Die Flucht. FJB: Frankfurt/Main. Condie, Ally (2013): Cassia & Ky. Die Ankunft. Frankfurt/Main. Lloyd, Caci (2010): Euer schönes Leben kotzt mich an. Ein Umweltroman aus dem Jahr 2015. Arena: Würzburg. Oliver, Lauren (2011): delirium. Carlsen: Hamburg. Oliver, Lauren (2012): Pandemonium. Carlsen: Hamburg. Pfeffer, Susan Beth (2010): Die Welt, wie wir sie kannten. Carlsen: Hamburg. Pfeffer, Susan Beth (2011): Die Verlorenen von New York. Carlsen: Hamburg. Pfeffer, Susan Beth (2012): Das Leben, das uns bleibt. Carlsen: Hamburg. Pausewang, Gudrun (1987): Die letzten Kinder von Schewenborn. Ravensburg: Maier. Pausewang, Gudrun (1997): Die Wolke. Ravensburg: Ravensburger Buchverlag. Poznanski, Ursula (2012): Die Verratenen. Loewe: Bindlach. Rossi, Veronica (2012): Gebannt. Unter fremden Himmel. Oetinger : Hamburg. Roth, Veronica (2012): Die Bestimmung. Cbt: München. Thiemeyer, Thomas (2011): Das verbotene Eden. David und Juna. Pan: München. Thiemeyer, Thomas (2012): Das verbotene Eden. Logan und Gwen. Pan: München. Westerfeld, Scott (2007): Pretty – Erkenne dein Gesicht. Carlsen: Hamburg. Westerfeld, Scott (2007): Ugly – Verlier nicht dein Gesicht. Carlsen: Hamburg. Westerfeld, Scott (2011): Special – Zeig dein wahres Gesicht. Carlsen: Hamburg. Westerfeld, Scott (2012): Extra – Wer kennt dein Gesicht. Carlsen: Hamburg.

Sekundärliteratur Ermisch, Maren/Kruse, Ulrike/Stobbe, Urte (Hg.): Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen. Göttingen: Universitätsverlag 2010. Glasenapp, Gabriele von (2003): »Alptraum Zukunft. Die Risikogesellschaft und ihre literarischen Utopien.« In: Terlinden, Roswitha/Ewers, Hans-Heino (Hg.): Anderswelt in Serie. Tutzinger Materialien Nr. 89, S. 9–28. Glasenapp, Gabriele von (2013): »Apokalypse now! Formen und Funktionen von Utopien und Dystopien in der Kinder- und Jugendliteratur.« In: Ewers, Hans-Heino/ Glasenapp, Gabriele von/ Pecher, Claudia Maria (Hg.): Lesen für die Umwelt. Natur, Umwelt und Umweltschutz in der Kinder- und Jugendliteratur. Schriftenreihe der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur Band 41. Baltmannsweiler : Schneider Verlag Hohengehren, S. 67–86. Goodbody, Axel: »Literatur und Ökologie: Zur Einführung.« In: Goodbody, Axel (Hg.): Literatur und Ökologie. Amsterdam: Ropodi 1998, S. 11–40. Kümmerling-Meibauer, Bettina (2012): »Emotional Connection: Representation of

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Internetquelle http://www.friedenspreis-des-deutschen-buchhandels.de/sixcms/media.php/1290/2003 %20Friedenspreis%20Reden.pdf [09. 03. 2013]

Nadja Türke

Die Suche nach dem guten und gelungenen Leben: Nachhaltigkeit und Literaturunterricht am Beispiel von Birgit Vanderbekes Roman Das lässt sich ändern

Vor der Folie der Geschichte eines ungleichen Paares kreist Birgit Vanderbekes Erzählung Das lässt sich ändern von 2011 um die Frage ›Wie wollen wir leben?‹. Die Ich-Erzählerin und ihr Freund Adam stellen sich gegen einen zunehmend lebensfeindlichen Kapitalismus und die Umweltzerstörung und entwerfen ihr eigenes Lebensmodell. Gemeinsam mit Freunden bauen sie die ›Basislager‹ auf, die sich schon bald, als viele kleine Utopien, von den Rändern her, über die ganze Welt verteilen. Dabei werden diese (Öko-)Utopien lediglich angedeutet und verbleiben im Unklaren. Im Zentrum steht das titelgebende Leitmotiv. Es ist also nicht das Ende eines geglückten Prozesses, sondern der Weg dahin, der hier beschrieben wird. Dabei geht es vorrangig um sozial-ökonomische Fragen, die immer unweigerlich mit der Umweltproblematik verbunden sind und Auswirkungen auf die Romanfiguren haben. Mit ihrem Roman greift Vanderbeke eine Thematik auf, die vor allem als ein Trend in der Non-Fiction-Literatur zu finden ist. In Büchern wie Karin Duves Anständig essen. Ein Selbstversuch, Christiane Pauls Ökobaustelle oder Hilal Sezgins Landleben. Von einer, die raus zog steht die Suche nach einem nachhaltig(er)en Lebensstil im Mittelpunkt. Die Idee der Nachhaltigkeit, als das Leitbild des 21. Jahrhunderts, wurde bisher zu wenig mit Literaturwissenschaft respektive -didaktik in Verbindung gebracht. Immer noch verengt als ökonomisch-politische oder naturwissenschaftlich-technische Aufgabe wahrgenommen, wird dabei übersehen, dass die ästhetisch-kulturelle Bildung einen maßgebenden Beitrag leisten kann. Darüber hinaus kann eine kulturökologisch ausgerichtete Literaturbetrachtung im Bildungsbereich auch als Reaktion auf die Forderung der von den Vereinten Nationen für die Jahre 2005 bis 2014 ausgerufenen Weltdekade ›Bildung für nachhaltige Entwicklung‹ (BNE) verstanden werden. Um den mehrdimensionalen Begriff der Nachhaltigkeit und dessen Hintergründe besser zu verstehen, wende ich mich im Folgenden einer Begriffsbestimmung zu. Hieraus lässt sich auch die Begründung für ein Überdenken des Selbstverständnisses der Akteure in der kulturellen Bildung respektive Literaturdidaktik ableiten, wenn es um einen Beitrag zu einer Bildung für nachhaltige

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Entwicklung geht. Im Anschluss daran ergibt sich die leitende Perspektive für die anschließende Betrachtung des Romans von Birgit Vanderbeke.

Die Suche nach einer neuen Rahmenerzählung Die Debatte um mehr Nachhaltigkeit beherrscht schon seit über zwanzig Jahren die öffentliche und politische Agenda. Zumindest medial kommt niemand mehr ohne das Schlagwort aus. Dabei hat der Begriff seine Popularität wohl vor allem seiner Unschärfe zu verdanken (vgl. Ott 2010, S. 164). Was ursprünglich als forstwirtschaftliches Prinzip verstanden wurde, hat als Sustainable Development (im Deutschen in der Regel mit »nachhaltige Entwicklung« übersetzt) mit dem sogenannten »Brundtland-Bericht«1 von 1987 eine allgemeingültigere Bedeutung erhalten. Nachhaltigkeit steht seitdem für eine Debatte über die zukünftige Entwicklung der Menschheit. Eine nachhaltige Entwicklung ist dann erreicht, »wenn die Bedürfnisse der Gegenwart befriedigt [sind], ohne zu riskieren, dass künftige Generationen ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können« (Grunwald / Kopfmüller 2012, S. 12).2 Eine zentrale Stellung nimmt dabei der verantwortungsvolle und schonende Umgang mit den »natürlichen Ressourcen«3 ein, denn nur so kann die Sicherung der Bedürfnisse aller heute lebenden Menschen und die der nachfolgenden Generationen gewährleistet werden. Damit wird Nachhaltigkeit zum normativen Leitgedanken, der die Lebensbereiche eines jeden und in jeglicher Weise betrifft, überall auf der Welt.4 1 Der Brundtland-Bericht wurde 1987 von der Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (WCED = World Commission on Environment and Development) veröffentlicht. Die WCED wurde 1983 von den Vereinten Nationen als unabhängige Sachverständigenkommission gegründet. Sie hatte das Ziel, Handlungsempfehlungen aufzustellen. Der Bericht wurde nach der Vorsitzenden Gro Harlem Brundtland, damalige Ministerpräsidentin von Norwegen, benannt und trägt offiziell den Titel »Our Common future« (Grunwald / Kopfmüller 2012, S. 23 f.). 2 Allerdings besteht keineswegs eine Einigung darüber, von welchen Bedürfnissen hier gesprochen werden kann und wie eine gerechte Verteilung zwischen den heute lebenden und den zukünftigen Generationen (sogenannte intra- und intergenerationelle Gerechtigkeit) aussehen kann (vgl. Ott 2010, S. 163 ff.). 3 Diese Bezeichnung ist gängige Praxis in der Nachhaltigkeitsdebatte. Um auf seine ökonomische Färbung hinzuweisen, ist der Begriff hier in Anführungszeichen gesetzt. 4 Dabei gibt es in der politischen Debatte und im wissenschaftlichen Diskurs verschiedene Auslegungen des Konzepts Nachhaltigkeit. Im faktischen Sprachgebrauch hat sich als geläufige Modellierung das »Drei-Säulen-Modell« durchgesetzt, vor allem wegen seiner vagen Formulierungen. Hiernach müssen die soziale, ökologische und ökonomische Dimension in den Zielformulierungen gleichrangig berücksichtigt werden. Kritiker argumentieren, dass die Ökologie als Grundvoraussetzung von sozialen und ökonomischen Handlungsfeldern nicht substituierbar ist und deswegen nicht gleichberechtigt, sondern vorrangig ist. Sie fordern das Modell mindestens zu erweitern, z. B. durch die Leitlinien einer sogenannten »starken Nachhaltigkeit« (Ott 2010, S. 165 f.).

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Nachhaltigkeit ist in diesem Sinne eine Querschnittsaufgabe, die zusammenführend als »Gestaltungsaufgabe« verstanden werden kann (Grunwald / Kopfmüller 2012, S. 15). Diese Aufgabe stellt sich unter Berücksichtigung verschiedener Dimensionen: »Ökologie«, dem »Prinzip der Fairness«5 und, sich aus den anderen ableitend, die Frage nach der »Lebensqualität«. »Ökologie« umfasst die Forderung nach dem Erhalt, maßvollen Verbrauch und schonenden Umgang mit der Natur. Das »Prinzip der Fairness« folgt aus dem Anspruch auf Gerechtigkeit, der dem Nachhaltigkeitsgedanken zugrunde liegt. Aus den ersten beiden ergibt sich die Dimension der »Lebensqualität«. Sie umfasst die Fragen nach einem gelungenen Leben innerhalb der vorgegebenen Normen. Selbstverständlich kann diese Definition des Nachhaltigkeitsgedankens hier lediglich eine heuristische Verwendung finden. Dahinter steht eine ausgedehnte und langjährige Diskussion, an der mehrere wissenschaftliche Disziplinen beteiligt sind.6 Sie erscheint mir aber mit Blick auf Vanderbekes Roman zielführend, weist sie doch auf die Mehrdimensionalität und Tragweite des Nachhaltigkeitsgedankens hin. Ein großes Problem der Nachhaltigkeitsdebatte ist die einseitige Vermittlung von Sach- und Faktenwissen über lediglich argumentative Zugänge (vgl. Meinert 2012), denn es werden vor allem auf politischer und technischer Ebene verschiedene Strategien zur Umsetzung postuliert (Verordnungen und Regulierungen z. B. von Emissionsgrenzen; erneuerbare Energien, Elektroautos). Es fehlt an Leitbildern und kreativen Visionen, wie eine »lebenswerte Zukunft« und eine »positive gesellschaftliche Veränderung« (http://www.bne-portal.de) aussehen sollen, um an dieser Stelle auf die Ziele der UN-Dekade Bildung nachhaltiger Entwicklung zurückzugreifen. Der Politikwissenschaftler Sascha Meinert fordert »unser narratives Repertoire – auf individueller und gesellschaftlicher Ebene – um einen ›Mythos nachhaltiger Entwicklung‹ zu erweitern« (ebd., Hervorhebung N.T.).7 Es sind vor allem vier große Mythen, die dem Okzident zugrunde liegen: der Heldenmythos, der religiöse Mythos, der demokratisch-wissenschaftliche Mythos und der ökonomische Mythos (ebd.).8 Diese Mythen sind kulturge5 Diese Formulierung ist Konrad Otts Umweltethik-Einführung entlehnt (Ott 2010, S. 163). 6 Dabei ist die Frage nach dem guten Leben nicht neu: sie reicht zurück bis in die antike Philosophie von Platon und Aristoteles. 7 Die (wechselvolle) Auseinandersetzung mit einer Mythentheorie und einem (uneinheitlich verstandenen) Mythenbegriff als Welterklärungsmodell oder kulturelles Ordnungsprinzip, verfolgten im 20. Jahrhundert u. a. Blumenberg, Levi-Strauss, Barthes oder Cassirer. Meinert, Leiter des Instituts für prospektive Analysen in Berlin sowie Autor zahlreicher Publikationen im Bereich der Politischen Bildung und der Bildung für Nachhaltige Entwicklung, bezieht den Mythos-Begriff an dieser Stelle noch einmal deutlich auf die aktuelle Nachhaltigkeitsdebatte. 8 Meinert stützt sich dabei auf die Arbeiten von Joseph Campell und Betty Sue Flowers (Meinert 2012).

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schichtliche Meta-Erzählungen, die Zivilisationen zur Herstellung von Sinnstrukturen geschaffen haben und in die wir unsere ›Selbsterzählungen‹ auf verschiedenste Weise einbetten. Denn das Erzählen von Geschichten ist eine ureigene Eigenschaft des Menschen, die wir brauchen und nutzen, um Sinn zu schaffen. Meinert nennt es den »narrativen Modus«: »In Form von Geschichten deuten wir die Realität, indem wir einzelne Ereignisse oder Fakten in einen Zusammenhang stellen und ihnen so Bedeutung geben« (ebd.). Die ineinander verflochtenen Erzählungen einer Gesellschaft formen sich zu »Rahmenerzählungen«, aus denen individuelle und kollektive Identitäten hervorgehen (ebd.). Als dominierende Rahmenerzählung nutzen wir in erster Linie den ökonomischen Mythos (vgl. Meinert 2012). Es wird also vorrangig in den Modi »Effizienz, Vorteilsmaximierung und Aufwandsminimierung« gedacht, eine »gelungene Identität« begreift sich hier über (noch mehr) Wachstum (ebd.): Es liegt im Wesen des ökonomischen Mythos, möglichst effizient auf vorhandene Bestände zuzugreifen, und wenn notwendig – und das ist es oft – von anderen zu nehmen oder von der Zukunft zu borgen, um die eigenen Ansprüche der Gegenwart zu bedienen. (ebd.)

Ein Ausdruck davon ist, dass verschiedene Akteure versuchen, den Begriff ›Nachhaltigkeit‹ zu besetzen: Nicht nur medial ein Topseller, etabliert sich Nachhaltigkeit inzwischen als eine (gut verkäufliche) Marketingstrategie, in deren Folge eine Schwemme von Produkten hervorgebracht wird, die mit dem Label ›natürlich‹ das Bedürfnis nach mehr ›Natürlichkeit‹ bedienen, ohne Verhaltensweisen oder Lebensstile ändern zu müssen. Geschweige denn, dass hier an ›natürlichen Ressourcen‹ gespart wird. Gleichzeitig wird zunehmend suggeriert, dass Nachhaltigkeit etwas ist, das sich nur Besserverdienende leisten können. Oder es verkehrt sich ins Gegenteil und Nachhaltigkeit wird lediglich verkürzt in der negativ besetzten Kategorie ›Verzicht‹ gedacht, was aber innerhalb der Sinnstrukturen der ökonomischen Rahmenerzählung nur logisch erscheint, wenn sich eine gelungene Identität ausschließlich über ein ›Mehr‹ identifizieren kann. Es bedarf einer weitergehenden Sinngebung, um den Herausforderungen zu begegnen. Die alten Rahmenerzählungen scheinen dafür nur unzureichend geeignet zu sein. Daraus ableitend unterstreicht die Lücke eines fehlenden »Mythos nachhaltiger Entwicklung«, die Meinert aufzeigt, die Bedeutung der Auseinandersetzung mit Literatur. Den alltäglichen narrativen Modus hebt Literatur auf die Ebene des Textes und der Imagination. Schließlich ist es gerade das Literarische, das neue Welten, Sehnsuchtsorte oder – in der Umkehrung – abschreckende Lebensgemeinschaften erfindet und damit zum »Experimentierfeld möglicher Kulturentwürfe« (Finke 2005, S. 272) wird. Dabei spielt die spezifische Form und Funktion von literarischen Texten eine

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zentrale Rolle. Hubert Zapf schlägt ein Funktionsmodell von Literatur als »kultureller Ökologie« vor. Literatur wird als ökologische – und damit meint er »regenerative« und »revitalisierende« – Kraft im kulturellen System betrachtet (Zapf 2002, S. 53 ff.). Das heißt, dass Literatur innerhalb der Kulturen darauf hinwirkt, das Wechsel- und Abhängigkeitsverhältnis von Natur und Kultur offenzulegen. Im Modus des Ästhetischen bindet der Text geistig-kulturelle mit konkret-sinnlichen Prozessen zusammen, womit er die überlieferte Geist-Körper-Dichotomie unterläuft und die Wechselwirkung von Rationalität und Emotionalität, von Innenwelt und Außenwelt, von Kultur und Natur in besonderer Eindringlichkeit, Vielfalt und Komplexität zur Geltung bringt. (Zapf 2008, S. 9)

In der Öffentlichkeit wird eine Bildung nachhaltiger Entwicklung eher einseitig als Angelegenheit von naturwissenschaftlich-technisch oder politisch ausgerichteten Fächern wahrgenommen. Als literarischer Stoff liegt der Fokus nicht auf Faktenwissen, sondern auf dem sinnlichen Erfassen von (fremden) Erfahrungsräumen. Die Betrachtung von Literatur unter kulturökologischer Perspektive erlaubt die Möglichkeit, einen anderen Zugang aufzuzeigen. Darüber hinaus kann Literatur als Ort »einer beständigen Erneuerung von Sprache, Wahrnehmung und kultureller Kreativität« (Zapf 2008, S. 10) neue Impulse setzen, indem sie neue Sichtweisen und Fragehorizonte aufzuzeigen vermag. So verstanden, als eigene Form des Wissens, kann Literatur über diesen wirkungsästhetischen Ansatz auch zur Vermittlung komplexer Sachverhalte beitragen und bei der Sensibilisierung von sogenannten ›Umweltfragen‹ mitwirken. Diese Vorgehensweise ist natürlich immer auch eine Gratwanderung. Gilt es doch in erster Linie den verwendeten literarischen Text in seinem ästhetischen Eigenwert angemessen wahrzunehmen. Ein lediglich zum Erreichen eines Lernziels eingesetzter Text wird schließlich auch von der Zielgruppe als langweilig empfunden (Leubner / Saupe / Richter 2010, S. 94).

Auf der Schwelle zur Öko-Utopie: Birgit Vanderbekes Roman Das lässt sich ändern Der Roman Das lässt sich ändern von Birgit Vanderbeke ist eigentlich eine Liebesgeschichte. Die namenlose Ich-Erzählerin beschreibt, wie sie den jüngeren Adam Czupek kennen lernt und sich dadurch ihr Leben und ihre Einstellung zum Leben radikal verändern. Bei nur 150 Seiten erstreckt sich die Erzählung über einen Zeitraum von mehr als 20 Jahren. Realhistorische Bezüge, wie den Fall der Mauer oder die Anschläge auf die Zwillingstürme des World Trade Centers, lassen erahnen, in welchem Zeitrahmen sich die Erzählung bewegt. Der

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Roman ist im bekannten »Vanderbeke-Sound« (Freundel 2004) verfasst, einem lakonischen Sprachton, der gesellschaftliche Probleme markant auf den Punkt bringt. Als sich die beiden Protagonisten kennenlernen, haben die achtziger Jahre gerade begonnen, »das war die Zeit, als alle irgendwie links waren« (Vanderbeke 2011, S. 13). Die Tochter ›aus gutem Hause‹ und der Schreinerlehrling Adam, der »nach Werkstatt, nach Holz, nach Metall und nach Arbeit« riecht und »schon damals Hände [hatte], an denen der Dreck festgewachsen war« (ebd., S. 10), kommen aus verschiedenen Welten. Die Erzählerin ist studierte Linguistin, die »an Sprache glaubt«. Adam hingegen beschreibt Sachen und Begebenheiten mit »ätzend«, »geil« oder Zeilen aus Liedtexten seiner Lieblingsbands Die Ärzte oder Ton Steine Scherben. Er ist eines von fünf Kindern, seine Mutter »aktenkundig durchgeknallt« (ebd., S. 9), dokumentiert durch jährlich wiederkehrende Zwangsaufenthalte in psychiatrischen Einrichtungen. Und damit ist Adam »draußen«: »Adam war schon immer draußen. Draußensein ist gefährlich, aber Adam kannte es nicht anders, und ich hatte keine Ahnung, dass ich drinnen gewesen war, bis ich Adam begegnete« (ebd., S. 7). Während der ersten Zeit wohnen sie gemeinsam in der kleinen Wohnung der Ich-Erzählerin in Frankfurt. Als Adam zur Geburt des ersten Kindes frei nehmen möchte, trifft er auf Unverständnis, Kinderkriegen sei schließlich Frauensache (ebd., S. 16). Zur Prüfung fertigt er eine Wickelkommode und wird – wie Adam es vorausgesehen hatte – nicht in den Betrieb übernommen. In der Folgezeit arbeitet er ›schwarz‹ und baut Studienrats- und Professoren-Paaren Einbauküchen in deren Altbauwohnungen. Nach der Geburt des zweiten Kindes wird der Familie die Wohnung gekündigt. Wegen mangelnder Perspektiven zieht sie in die fiktive Kleinstadt Ilmenstett, zu Fritzi, einer Studienfreundin der Ich-Erzählerin. Diese hat dort ein großes Haus geerbt. Gemeinsam träumen sie nun vom »Mysteryland«, benannt nach einem Songtitel der Band Die Ärzte. Für die Ich-Erzählerin und Adam wird daraus ein Synonym für die gemeinsame Vorstellung einer abenteuerlichen, aber lebenswerten Zukunft. Während Adam die Restaurierung von Fritzis Haus vorantreibt, arbeiten die beiden Frauen als Logopädin bzw. Psychotherapeutin und lernen dadurch einige Ilmenstetter und deren Sorgen gut kennen. Adam freundet sich mit dem Nachbarn Bauer Holzapfel an. Dieser kommt seit dem Tod seiner Frau mit dem Hof nicht mehr zurecht, da sich Landwirtschaft im Kleinstbetrieb nicht mehr lohnt. »Das lässt sich ändern«, meint Adam, und baut Holzapfels Scheune zur Pferdepension um. Weil er denkt, dass dieser damit aber noch nicht ausgelastet ist, überredet Adam Holzapfel, seinen lang gehegten Traum zu verwirklichen: alte Hühnerrassen zu züchten. Auch an den Verkauf des Fleisches hat Adam gleich mitgedacht, deshalb bringt er Bauer Holzapfel mit dem Imbissbesitzer Özyilmaz zusammen, der die Hühner mit Holzapfels Schlachtanlage nach islamischen Vorschriften schächtet.

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Aus Dankbarkeit vermacht der Bauer Adam und seiner Familie seine Streuobstwiese, die vor Fritzis Haus liegt. Gleichzeitig geraten immer mehr Ilmenstetter in Bedrängnis: Große Handelsketten breiten sich aus, Jugendliche finden keine Lehrstellen mehr und auch sonst gefällt Adam nicht, was er täglich aus den Nachrichten erfährt. Diesen Entwicklungen widersetzen sich die Ich-Erzählerin, Adam, Fritzi, ihr Freund Massimo, ein ausgestiegener IT-Spezialist, der Bauer Holzapfel, die Familie Özyilmaz und weitere Ilmenstetter. Der Widerstand beginnt mit einem Fest und dem Bau einer Jurte, ein traditionelles Zelt der Nomaden aus West- und Zentralasien. In der Folgezeit wird die Streuobstwiese zu einem Treffpunkt und Umschlagplatz für das »Menschheitswissen aus zehntausend Jahren« (ebd., S. 147): darunter ein geldloser Tauschhandel, alternativer Gemüseanbau, Handarbeit, artgerechte Tierhaltung. Ilmenstett amüsierte sich eine Weile lang prächtig über das Durcheinander, das bei den Gutmenschen auf der Streuobstwiese ausbrach, über die Jurten, die ersten Versuche mit der Schnapsbrennerei, die Bienenzucht, die Kaninchen, den Ziegenkäse, die Schmiede, die alte Nähmaschine mit dem Pedal daran, weil uns etliches daneben ging, aber irgendwann hatten wir den Dreh raus, und danach hagelte es den Ärger, mit dem Adam gerechnet hatte, weil sich immer jemand findet der die Bullen ruft. Schwarzarbeit, Kinderarbeit, was weiß ich. Keine Zulassung. Keine Lizenz. Die Kanalisation. Die Europanorm. Der Sortenkatalog. Die Hygiene. Die Sicherheit. Wenn das alle so machen würden. […] Aber da war der Virus schon in der Welt und nicht mehr zu stoppen. […] Wir waren draußen, und nachdem das neue Jahrhundert angebrochen war, wurden es immer mehr, die rausflogen und draußen waren, Dreher, Hebammen, Schneiderinnen, so geht Monopoly. […] [N]achdem die Türme zusammen gekracht, die Blase geplatzt und die letzten Kriege erklärt, nachdem die Kröten geschluckt und unter Applaus vor den Glotzen die Würmer gefressen waren, ging in Ilmenstett das Abenteuer in die nächste Runde. (ebd., S. 144 ff.)

Aus dem Treiben auf der Streuobstwiese entsteht das erste »Basislager«. Der Roman endet mit dem Ausblick, dass sich ähnliche »Basislager« über die ganze Welt erstrecken und, dank Massimo, dem IT-Spezialisten, miteinander in Verbindung stehen. Was auf alpinen Wanderungen der Ausgangspunkt zur Gipfelbesteigung ist, wird hier nun zum Ausgangspunkt eines alternativen Lebensmodells. Zunächst noch von denen, die »drinnen« sind, nicht ernst genommen, sogar als »Gutmenschen« oder an anderer Stelle als »Öko-Spinner« belächelt (ebd., S. 143), realisiert sich das »Mysteryland« schlussendlich für eine Menge mehr Menschen als nur in Ilmenstett. Durch die »Basislager« vollzieht sich eine neue Art des Miteinanders und Zugehörigkeitsgefühls. Es kann jetzt selbst entschieden werden, wer »drinnen« ist. Hier verwirklicht sich das utopische Element, das schon im Titel angelegt ist und sich als Leitmotiv durch den gesamten Roman zieht. Dabei macht die Erzählstruktur deutlich, dass es sich nicht um eine ferne Zukunft, sondern gewissermaßen um einen ›Ausblick auf die

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Gegenwart‹ handelt. Die ansonsten streng chronologisch erzählte Geschichte wird durch Einschübe aus der Erzählgegenwart durchbrochen: Es war ein Donnerstag, den ich nicht vergessen werde, weil an diesem Donnerstag der Keim für das Basislager gelegt wurde, für das erste der vielen Basislager, die inzwischen aus dem Boden sprießen, die sich selbständig machen, hier eines, dort eines, Lager, die in Verbindung bleiben, ein Netz, das sich ausbreitet in den Nischen der Städte, auf stillgelegten Betriebsgeländen, irgendwo in der Pampa, wo vorher nichts war als Brachland. So ein Netz kennt keine Grenzen. An diesem Donnerstag hatte es angefangen. (Vanderbeke 2011, S. 123.)

Vanderbeke beschreibt dabei nichts Neues, die »Basislager« erinnern an ökologisch-alternative Aussteigerszenarien, wie sie sich zahlreich in der Literatur finden lassen.9 Der Familienumzug aufs Land stellt die Nähe zur Natur bereits räumlich her. Nahrungsmittel werden im Eigenanbau, ohne Einsatz von schädlichen Düngemitteln oder Monokulturen, erzeugt. Gebrauchsgegenstände werden recycelt und repariert, alte Kulturtechniken erleben eine Renaissance. Näheres erfährt man allerdings nicht. Die Art und Funktionsweise der »Basislager« werden nur angedeutet, der Roman verbleibt damit gleichsam auf der Schwelle zur Öko-Utopie.

»Was wirklich zählt«: Adams Lebensmotto Auffällig ist, dass die Wortfelder um ›ökologisch Leben‹ oder ›Schutz der Natur‹ ausgespart bleiben. Antrieb der Romanfiguren ist nicht ein wie auch immer geartetes Umweltbewusstsein, sondern es sind vor allem sozial-ökonomische Fragen, die den Fortlauf der Erzählung bestimmen. In seiner Untersuchung Weltrisikogesellschaft macht Ulrich Beck genau diese Verschiebung vor : Es geht nicht mehr um ein Gefahrenszenario, das außerhalb der Gesellschaft, also in der Umwelt passiert. Die Gefährdungen respektive Risiken werden stattdessen innerhalb der Gesellschaft angesiedelt, als »Innenwelt-Probleme« (Beck 2007, S. 153, Hervorhebung im Original). »Die scheinbar selbstverständlichen Schlüsseltermini ›Natur‹, ›Ökologie‹ und ›Umwelt‹, die die Unterscheidung zum Sozialen betonen«, werden ersetzt, die »von Menschen hergestellte Unsicherheit [rückt] ins Zentrum« (ebd., Hervorhebung im Original).10 9 Stellvertretend für weitere Werke können Henry David Thoreaus Walden oder Leben in den Wäldern von 1854, der 1975 erschienene Roman Ökotopia. Notizen und Reportagen von William Weston aus dem Jahre 1999 von Ernest Callenbach, Der Strand von Alex Garland von 1996 oder Das Tahiti-Projekt von Dirk C. Fleck (2008) genannt werden. 10 Statt den Roman also in die Nähe der Öko-Utopien zu rücken, könnte er auch als »Über Lebenskunst« gewertet werden, wie es die Herausgeberinnen Katharina Narbutovicˇ und Susanne Stemmler und ihre AutorInnen in dem Band Über Lebenskunst. Utopien nach der

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Diese Verschiebung führt auf der Erzählebene zur Infragestellung der bestehenden Verhältnisse und Werte, die sich vor allem an der Figur des Adam festmacht. Bereits sein sprechender Name weist unmissverständlich auf seine Funktion hin. Während alle, die »drinnen« sind, sich gemäß dem ökonomischen Mythos verhalten, kann Adam, der schon immer »draußen« war, aus der Distanz heraus Missstände und Unsicherheiten besser erkennen. Wie kann man den Bau von Jeeps mit 213 PS in Mitteleuropa als Fortschritt verkaufen, wenn der Sprit dafür in einigen Jahren alle sein wird, wundert er sich (Vanderbeke 2011, S. 73). Ebenso unklar bleibt ihm, wofür man in den hiesigen Breitengraden überhaupt einen Jeep braucht. Sein Unverständnis richtet sich nicht nur gegen die inkonsequenten Verhaltensweisen der eigenen Zeitgenossen, sondern auch gegen das dahinterstehende ökonomische Prinzip, das die Einsicht des gesunden Menschenverstandes ignoriert, wonach jedes System seine Grenzen hat. Das Immermehr-wollen wird weiter ad absurdum geführt, wenn der Vater der Ich-Erzählerin dem Enkel zur Geburt Wertpapiere seiner Firma schenkt, für eine »gepolsterte Zukunft«. Am Auszahlungstag, dem achtzehnten Geburtstag des Enkels, gibt es die Firma allerdings nicht mehr, »die war unterwegs von irgendeinem Konzern gefressen worden, Agropharma, der über Anatols Zettel nur lachen würde« (ebd., S. 18). Bereits in der Frankfurter Zeit durchsucht Adam Sperrmüll nach Gebrauchsgegenständen, die er repariert und in weiser Voraussicht im Keller oder Dachboden der Frankfurter Wohnung einlagert. Alle von Adam »geretteten« Gegenstände finden im Laufe der Erzählung ihre Bestimmung, darunter eine gusseiserne Jugendstil-Gartenbank, eine Betonmischmaschine, ein ausgebauter Waschmaschinenmotor und ein altes Kinderfahrrad. Adam fand immer etwas Vernünftiges, das er der Vergänglichkeit entreißen und in eine Zukunft mitnehmen musste, die seiner festen Überzeugung nach dem heillosen Wahnsinn geweiht war und ein Desaster würde, weil sie uns bis dahin so weit hätten, dass wir zu blöd zum Kartoffelschälen wären und nicht mal mehr einen Knopf würden annähen können. (ebd., S. 30).

Das ist ein Seitenhieb auf die Wegwerfgesellschaft, in der ein sorgsamer Umgang mit Gütern nicht mehr notwendig erscheint, denn neue sind zu einem bezahlbaren Preis jederzeit zu haben – trotz des Wissens über begrenzt vorhandene

Krise formulieren. Im Vorwort schreiben sie, dass in Zeiten des Klimawandels und der Wirtschaftskrise eben nicht nur die ökologische Dimension in den Blick genommen werden muss, sondern auch Fragen nach dem »Wir«, den Akteuren der Weltgemeinschaft, und unserem Lebensbegriff. Dabei wird Literatur als »Überlebenswissenschaft« (Ottmar Ette) ausgelegt, »denn sie stellt nicht nur Lebenswissen zur Verfügung, sondern macht Lebensformen erfahrbar« (Narbutovicˇ /Stemmler 2011, S. 12).

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Rohstoffe. Dahinter steht vor allem eine Kritik an der Haltung des ›Nicht-Wissen-Wollens‹: Adam sagt, das fing in den Achtzigern an, die Verdummung, Ende der Siebziger haben wir all das gewusst, was inzwischen läuft, das ganze Elendsprogramm; tote Erde, wohltätige Speisung der Armen, an den Tropf mit den Alten und Armen, und heute tut die Welt, als wäre sie überrascht, gerade so, als hätte man Ende der Siebziger nicht gewusst, dass es den Bach runtergehen würde. (Vanderbeke 2011, S. 12)11

Allen apokalyptischen Zukunftsvisionen, die Adam sich ausmalt, setzt er seine Vision vom »Mysteryland« entgegen. Dieses vage »Mysteryland« kann vielleicht am besten mit einem Ausspruch auf dem Klappentext des Romans umschrieben werden: Rückbesinnung auf das, »was wirklich zählt«. Es geht um die Vermittlung eines Lebensprinzips, das sich für Adam vor allem in immateriellen Werten wie soziales Miteinander und Genügsamkeit erfüllt. Hier kann nun konkret an die Nachhaltigkeitsdebatte angeknüpft werden: In der Umweltpolitik als auch in der Umweltethik und in verwandten Disziplinen wird diese Haltung mit dem Begriff ›Suffizienz‹ beschrieben. Suffizienz, als eine Strategie zur Umsetzung des Nachhaltigkeitsgedanken, zielt auf eine veränderte Vorstellung von einem guten und gelungenen Leben ab. Es geht um ein Umdenken, weg von einem Wohlstandsverständnis, das sich vorrangig aus materiellen Werten ableitet (vgl. Linz / Bartelmus / Hennike / Jungkeit u. a. 2002.). Als eine Schlüsselstelle hierfür kann die »Rutschautoepisode« gelesen werden. Kurz bevor die Familie nach Ilmenstett zieht, kauft die Ich-Erzählerin ihrem Sohn Anatol ein Rutschauto, da sie durch Adams Windelkauf-Technik (eine Packung bezahlen, zwei mitnehmen) Geld gespart haben. Als sie abends das bunte Auto präsentiert, ist Adam entsetzt. Er findet, dass das Geld besser im renovierungsbedürftigen Haus von Fritzi angelegt wäre und damit in die gemeinsame Zukunft. Er sieht auch nicht ein, dass man für ein Stück Plastik »dreißig Mack« (Vanderbeke 2011, S. 57) ausgeben kann (wenn doch gebrauchte Kinderfahrräder für ›lau‹ zu haben sind, s. o.). Die Ich-Erzählerin rechtfertigt den Kauf zunächst mit Argumenten wie »ausgezeichnete Qualität« und »TÜV geprüft« (ebd.). Doch geht es bei dem Streit schon nicht mehr um den Erwerb einer Plastikspielware, sondern um den Grundgedanken: eben nicht um »Verzicht«, sondern ein »Genug-Haben«. Adam erklärt es mit einer Liedzeile aus Rio Reisers Für immer und dich: 11 Beck konstatiert, dass dies auch eine Folge der »Weltrisikogesellschaft« ist, in der es keine klaren Unterscheidungen mehr gibt zwischen Wissen und Nicht-Wissen, nur noch »Relativwahrheiten« angesichts der diffusen Bedrohung wie dem Klimawandel (Beck 2007, S. 22). Anders als in den 70er Jahren noch, wo es klare Feinbilder wie industrielle Großkonzerne oder Atomkraftwerke gab, gegen die protestiert wurde. Wobei Beck in seiner Typologie von Nichtwissen die Wissensfigur des Nicht-Wissen-Wollens klar abgrenzt von der des NichtWissen-Könnens (Beck 2007, S. 230).

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Ich streich den Himmel blau für dich, sagte er leise mit weicher Stimme in die verdunkelte Küche hinein. […] Nur kaufen, sagte Adam sanft und bestimmt, kann ich sie nicht, nicht den Himmel, nicht den Mond, nicht die Sterne. (ebd., S. 59)

Das Auto wird dann doch nicht umgetauscht. Dennoch ist hier eine Transformation zu erkennen, die sich in der nun positiven Besetzung von dem, was vorher »Verzicht« hieß, äußert. Die zum Teil stark simplifizierende Erzählung und dichotomische Struktur von »drinnen« und »draußen« kippt an vielen Stellen ins Parabelhafte. Diese allzu sorglose und offensichtliche Verwendung von Klischees und die konfliktfreie Figurenkonstellation führten in den Rezensionen über den Roman zu Kritik (vgl. Reichart 2011 / Schmitz-Kunkel 2011). Diese Erzählstrategie, namenlose Figuren, die große Themen verhandeln, in lakonischer Sprache zu beschreiben, ist allerdings typisch für Vanderbekes Texte. Das lässt sich ändern ist dabei nicht ihr erster konsumkritischer Roman. Bereits 2004 mit Geld oder Leben setzt sie sich mit dem Thema auseinander. Schon damals dem Vorwurf der Parabelhaftigkeit ausgesetzt, antwortet sie in einem Interview: »Es sollte natürlich die Leichtigkeit haben, das kann ich gar nicht anders, so schreibe ich, das ist meine Art Geschichten zu erzählen« (Freudel 2004). Trotz der genannten Schwächen vermag der Roman, im Zusammenhang mit der Nachhaltigkeitsdebatte eine alternative Sichtweise narrativ erlebbar zu machen. Es sind nicht die »Basislager«, die lediglich im Unklaren verbleiben. Es ist vor allem Adams Lebensprinzip, das dazu einlädt, die angebotene Weltsicht mit der eigenen Lebenswirklichkeit abzugleichen. Damit kann konkret an die »Gestaltungsaufgabe«, als die Hauptaufgabe von Nachhaltigkeit, angeknüpft werden, die Literatur durch die Aktualisierung von bekannten Narrativen und das Aufwerfen neuer Fragehorizonte einzulösen vermag. Hierbei sind die emotionale und kreative Beteiligung, das Mitfühlen und Weiterdenken, spezielle Leistungen von Literatur. Es ist dann der Schluss, der die utopische Kraft des Romans noch einmal unterstreicht, wenn er mit der Frage endet: »Und wenn das aufginge?« (Vanderbeke 2011, S. 147).

Quellenverzeichnis Primärliteratur Vanderbeke, Birgit (2011): Das lässt sich ändern. München.

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Sekundärliteratur Beck, Ulrich (2007): Weltrisikogesellschaft. Auf der Suche nach der verlorenen Sicherheit. Frankfurt am Main. Finke, Peter (2005): Die Ökologie des Wissens. Exkursionen in eine gefährdete Landschaft. Freiburg. Grunwald, Arnim / Kopfmüller, Jürgen (2012): Nachhaltigkeit. Eine Einführung. Frankfurt am Main. Leubner, Martin / Richter, Matthias / Saupe, Anja (2010): Literaturdidaktik. Berlin. Linz, Manfred / Bartelmus, Peter / Hennike, Peter / Jungkeit, Renate / Sachs, Wolfgang / Scherhorn, Gerhard / Wilke, Georg / Winterfeld, Uta von (Hg.) (2002): Von nichts zu viel: Suffizienz gehört zur Zukunftsfähigkeit. Über ein Arbeitsvorhaben des Wuppertal Instituts. Wuppertal. Narbutovicˇ, Katharina / Stemmler, Susanne (2011): Über Lebenskunst. Utopien nach der Krise. Frankfurt am Main. Ott, Konrad (2010): Umweltethik zur Einführung. Hamburg. Zapf, Hubert (2002): Literatur als kulturelle Ökologie. Zur kulturellen Funktion imaginativer Texte an Beispielen des amerikanischen Romans. Tübingen. Zapf, Hubert (2008): »Kulturökologie und Literatur. Ein transdisziplinäres Paradigma der Literaturwissenschaft.« In: Zapf, Hubert (Hg.): Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einem transdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Heidelberg, S. 15–44.

Internetquellen BNE-Portal: UN-Dekade »Bildung für nachhaltige Entwicklung«, verfügbar unter : http:// www.bne-portal.de [31. 01. 2013]. Freundel, Natascha: »Schwere Themen leicht erzählt. Birgit Vanderbekes Roman ›Geld oder Leben‹«, 03. 03. 2004, verfügbar unter : http://www.dradio.de/dlf/sendungen/bue chermarkt/244302/ [31. 01. 2013]. Meinert, Sascha: »Narrative für eine Nachhaltige Entwicklung. Herausforderungen und Zugänge für die politische Bildung«, 29. 5. 2012, verfügbar unter : http://www.bpb.de/ gesellschaft/kultur/kulturelle-bildung/136713/narrative-fuer-eine-nachhaltige-ent wicklung?p=all [31. 01. 2013]. Reichart, Manuela: »Traum vom besseren Leben. Birgit Vanderbeke: ›Das lässt sich ändern‹« 01. 04. 2011, verfügbar unter : http://www.dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/ 1426333/ [31. 01. 2013]. Schmitz-Kunkel, Birgitte: »Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt«, 10. 03. 2011, verfügbar unter : http://www.fr-online.de/literatur/belletristik-wer-sich-nicht-wehrt–lebt-verke hrt,1472266,7810114.html [31. 01. 2013].

Gabriele Dürbeck

Die Resonanz des Anthropozän-Diskurses im zeitgenössischen Ökothriller am Beispiel von Dirk C. Flecks Das Tahiti-Projekt

An ökologischen Utopien und Dystopien ist auch 40 Jahre nach dem Bericht des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums (1972) und Ernest Callenbachs Bestseller Ecotopia (1975) kein Ende, seien sie sozialistisch, antimarktwirtschaftlich oder biozentrisch orientiert. Ökodiktatorische Dystopien, Warnutopien, Klimaapokalypsen und nicht zuletzt Ökothriller, um die es in diesem Beitrag gehen soll, behaupten eine anhaltende Präsenz auf dem Buchmarkt, nicht nur in den USA, Großbritannien und Deutschland. In der Forschung zur Umweltliteratur wird Ökothrillern eine ambivalente Funktion zuerkannt. Einerseits wird ihr kritischer Gehalt gelobt, da sie durch die dramatisierende Darstellung von Umweltkatastrophen großen Ausmaßes die Leserschaft zum Nachdenken anregen, für einen nachhaltigen, schonenden Umgang mit der Umwelt eintreten oder sogar zu »Intervention und Handeln« (Murphy 2009a, S. 57)1 aufrufen können. Glaubwürdigkeit erreicht Umweltliteratur vor allem durch eine detaillierte Unterfütterung des Plots mit wissenschaftlichen Fakten (Goodbody 2013, S. 95). Andererseits wird insbesondere dem Ökothriller vorgeworfen, dass er das Umweltthema nur zur dramatischen Handlungsführung ausbeute (Otto 2012, S. 108). So oszillieren Ökothriller mit ihren oft apokalyptischen Szenarien zwischen Vergnügen an und Warnung vor einer Zerstörung der Natur oder des Planeten (Kerridge 2000, S. 245 f.). Bestseller wie Frank Schätzings Der Schwarm (2004) oder Sven Böttchers Prophezeiung (2011) können konsumiert werden, ohne dass sich die Leserschaft zu einem nachhaltigeren Verhalten gegenüber der Umwelt aufgefordert sieht. Deshalb ist es wichtig, das Aufklärungspotenzial von Ökothrillern gegenüber den unterhaltenden Seiten kritisch zu analysieren. Die folgenden Ausführungen nehmen Erfahrungen von zwei literaturwissenschaftlichen Lehrveranstaltungen zu Ökothrillern und zu Naturkatastrophenliteratur an der Universität Vechta 2012 und 2013 auf. Durch die Allge1 Die Aufforderung zu »intervention and action« formuliert Murphy (2009, S. 57) in Bezug auf Neil Stephenson’s Zodiac: The Ecothriller (1988).

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genwart der ökologischen Krise finden solche Themen ein breites Interesse bei Studierenden. Dabei ist die akademische Lehre herausgefordert, auf Klimawandel und Naturkatastrophen bezogene Literatur durch die Auseinandersetzung mit aktuellen Forschungsansätzen wie dem Ecocriticism, der Kulturökologie oder der Anthropozän-Debatte aufzuschließen. Der Begriff des Anthropozäns benennt nicht nur ein neues Erdzeitalter, sondern auch einen interdisziplinären Diskurs zwischen Natur- und Geisteswissenschaften und stellt die aktuellste Herausforderung für die Literatur- und Kulturwissenschaften dar. Deshalb zielt der vorliegende Beitrag darauf, die Debatte für die Analyse eines Ökothrillers fruchtbar zu machen. Da es im Anthropozän um die Zukunftsverantwortung und den Gestaltungsspielraum des Menschen geht, bieten sich vor allem Beispiele aus der umweltbezogenen Science Fiction-Literatur und Ökothriller an. Die Wahl von Dirk C. Flecks Zukunftsroman Das Tahiti-Projekt (2008) erscheint deshalb besonders geeignet, da darin nicht nur ein unterhaltsames Katastrophenszenario mit Warnfunktion, sondern auch eine Utopie mit ganz konkret umsetzbaren technischen Möglichkeiten eines sozialökologisch fundierten Modellstaats entworfen werden und eine Alternative zum vorherrschenden Lebensstil zumindest im fiktionalen Rahmen als greifbar dargestellt wird. Das erste Kapitel legt wesentliche Elemente des Anthropozän-Diskurses dar. Nach einem Überblick über Zielsetzung, Rezeption und Genrewahl von Dirk C. Flecks Das Tahiti-Projekt analysiert das dritte Kapitel die Bezüge des Romans zum Anthropozän. Das vierte Kapitel fragt nach den Funktionen des ExotismusNarrativs und zeigt die Grenzen des Romans.

Das Anthropozän als Herausforderung für die Literatur- und Kulturwissenschaften Der von dem Atmosphärenchemiker Paul Crutzen und dem Biologen Eugene Stoermer 2000 eingeführte Begriff Anthropozän bezeichnet den dominanten Einfluss des Menschen auf die geologischen und physikalischen Systeme im planetaren Maßstab. Das Anthropozän wird als »Menschenzeit« (Schwägerl 2010), als »an epoch of our making« (Syvitski 2012, S. 12) betrachtet. Es soll das Holozän ablösen, das die seit ca. 11.700 Jahren andauernde Warmzeit bezeichnet (Wanner 2009, S. 15). Belege dafür sind u. a. die Sedimentationsrate, die chemische Verschmutzung der Weltmeere, die Zunahme von CO2-Gasen, Klimawandel und Artensterben sowie die globale Ausbreitung von Pflanzen und Tieren. Gemäß dem Umweltgeographen Erle Ellis (2011) sind mindestens 75 % der eisfreien Landoberfläche bereits durch den Eingriff des Menschen verändert. Die terrestrische Biosphäre ist in »Anthrome« transformiert, so dass die Rede

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von ›Mutter Natur‹ obsolet geworden sei. Auch der Historiker Chakrabarty Dipesh spricht vom Menschen als einer ›geophysikalischen Kraft‹, so dass nicht nur die etablierte Natur-Kultur-Dichotomie in Frage gestellt wird, sondern auch ganz neuartige Herausforderungen für den Menschen entstehen, Vergangenheit und Zukunft zu konzipieren.2 Als interdisziplinärer Forschungsgegenstand hat das Anthropozän in der letzten Dekade eine Karriere in verschiedenen Wissenschaftsbereichen von der Geographie und Stratigraphie der Sozialökonomie bis zur Umweltpolitik angetreten (Leinfelder 2012a, S. 20). Vermittelt durch die Medien, die eine zunehmend wichtigere Rolle in der Kommunikation von öffentlich akzeptiertem ökologischem Wissen spielen (Baghel 2012, S. 2), ist die Anthropozän-Debatte auch in den Geistes- und Kulturwissenschaften und der öffentlichen Kulturszene angekommen. Kennzeichen dafür ist das im Januar 2013 aufgenommene »Anthropozän-Projekt« im Berliner Haus der Kulturen der Welt, das mit Vorträgen und Ausstellungen »kulturelle Grundlagenforschung mit den Mitteln der Kunst und der Wissenschaft« betreibt.3 Ein ähnliches Ziel verfolgt die Ausstellung »Anthropozän. Natur und Technik im Menschzeitalter«, die 2015 im Deutschen Museum München gezeigt wird (Leinfelder u. a. 2012, S. 16).4 In der Anthropozän-Forschung steht zum einen die Frage der zeitlichen Bestimmung und Periodisierung zur Diskussion. 2008 wurde von der Stratigraphischen Kommission der Geologischen Gesellschaft London der Nutzen des Begriffs für die Bezeichnung einer neuen geologischen Zeitskala herausgestellt (Zalasiewicz u. a. 2010). Allerdings bedarf es, so der Paläobiologie Jan Zalasiewicz (2011), noch viel Forschung, um die gegenwärtigen Änderungen auch in einer Tiefenzeit einordnen zu können. Während einige Geologen das Anthropozän bereits im Neolithikum beginnen lassen, da schon in dieser Zeit anthropogene Eingriffe in die geologische Substanz der Erde nachweisbar sind, scheint sich die zeitliche Verortung im späten 18. Jahrhundert durchzusetzen, als mit der Industrialisierung anthropogene Prozesse auf intensive Weise global 2 So in seiner Eröffnungsrede zum Anthropozän-Projekt zum Thema »History on an Expanded Canvas: The Anthropocene’s Invitation« im Haus der Kulturen der Welt am 13. 01. 2013, http://www.hkw.de/de/programm/2013/anthropozaen_eine_eroeffnung/veranstaltungen_83 251/veranstaltungsdetail_83957.php, [15. 03. 2013]; vgl. auch Chakrabarty (2009). 3 https://www.hkw.de/de/programm/2013/anthropozaen/anthropozaen_76723.php [01. 08. 2103]. Vgl. auch das Projekt auf der documenta 13 von Jill Bennett: Living in the Anthropocene (2012). 4 Die Ausstellung wurde von einem interdisziplinären Expertenteam in enger Kooperation mit dem Rachel Carson Center for Environment and Society (München) und dem Haus der Kulturen der Welt (Berlin) vorbereitet. Dabei soll das Anthropozän-Konzept einen »neuen Denk- und Handlungsrahmen« schaffen, »der eine Brücke zwischen Natur- und Geisteswissenschaften schlägt und die Geschichte unseres Planeten und der Rolle der Menschheit mit seiner Gegenwart und Zukunft verknüpft«. http://www.deutsches-museum.de/ausstellungen/ sonderausstellungen/2014/anthropozaen/ [01. 08. 2012].

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wirksam wurden. Einzelne datieren den Beginn des Anthropozän auch auf die 1940er Jahre, als mit den ersten Atombombentests dauerhafte radioaktive Isotope auf der Erde hinterlassen wurden (zit. n. Kolbert 2010). Das AnthropozänKonzept stärkt die systemisch-biozentrische Perspektive auf den Planeten und fordert die Zukunftsverantwortung des Menschen heraus. Demgemäß betont der Geowissenschaftler Reinhold Leinfelder (2012a, S. 20 f.), dass der technischindustrielle Stoffkreislauf in die Gestaltung der zukünftigen Welt einzubeziehen ist, was die Erforschung von Skalierungen, Entwicklungen und Dynamiken der Natur und deren Interaktion mit der Anthroposphäre erfordert. Kontrovers wird diskutiert, welche ökonomischen, ökologischen, politischen und ethischen Konsequenzen die neue Anthropozän-Perspektive hat. Allgemein lassen sich zwei Sichtweisen unterscheiden: Einerseits eine pessimistische Darstellung des Menschen als Zerstörer, als ›Parasit‹ unseres Planeten (vgl. Krause 2012), der sich in Zukunft beschränken müsse, um die Gattung zu erhalten; das Anthropozän steht hier für die »Summe der ökologischen Frevel« (Leinfelder u. a. 2012, S. 15). Die andere Seite vertritt eine pragmatische Perspektive, wonach die Menschheit ihr Schicksal selbst in der Hand habe und ›Gestalter‹ der Erde sei (vgl. Schwägerl 2010). Bei der Betonung der Gestaltungskraft des Menschen gibt es unterschiedliche Auffassungen über die Einteilung und den Umgang mit den begrenzten Ressourcen. Hier lassen sich drei Positionen voneinander abheben: 1. die Verminderung der Ursachen der Umweltzerstörung (Mitigation) durch höhere Umwelteffizienz und notfalls auch durch verminderten Konsum; 2. die Anpassung an Umweltveränderungen und 3. das Geo-Engineering. Bei der Verminderung der Ursachen insbesondere des Klimawandels geht es um eine »responsible stewardship of the Earth System« (Crutzen / Steffen 2003, S. 256), einen verantwortlichen Umgang mit den Ressourcen, grundlegend verbesserte Technologien, nachhaltige Bewirtschaftung und Naturschutz, für die viele Anthropozäniker werben. Crutzen und Schwägerl (2011) ermutigen mit dem Slogan: »the Earth provides enough to satisfy every man’s needs, but not every man’s greed.« Bei der Anpassung wird nicht Ursachenbekämpfung betrieben, sondern es geht um möglichst effiziente und weitsichtige Strategien, um die Verletzbarkeiten (vulnerabilities), die sich aus einer sich schnell verändernden Umwelt ergeben, zu minimieren und die Funktionsfähigkeit der sozial-ökologischen Systeme zu stabilisieren. Geo-Engineering hingegen beschreibt das Projekt einer großskaligen Manipulation der Atmosphäre und der Biosphäre, etwa die Stimulierung des Planktonwachstums durch Einbringen von Eisensulfat in die Ozeane oder die Verminderung des Erwärmungseffektes durch Emission von Schwefelsulfat in die Atmosphäre oder gar die Stratosphäre. Der Anthropozän-Diskurs scheint – v. a. im letzten Fall – den ›technisch-ökonomischen Apparat‹ (Dibley 2010, chap. IV) zur Verbesserung der globalen Infrastruktur zu legitimieren.

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Der Befürwortung von Anpassung und Geo-Engineering ist eine Management-Perspektive gemeinsam. Sie findet deshalb etliche Kritiker, die darin einen neo-prometheischen Umgang mit der Natur und die Gefahr einer fortgesetzten destruktiven Auswirkung auf die ökonomischen, sozialen und ökologischen Systeme sehen (Rose u. a. 2012, 2 ff.). Entscheidend ist deshalb die Frage, ob eine Reflexion auf sozialökologische Prozesse stattfindet, die dem Management zugrunde liegt. Das Potsdam Memorandum (2007) zur »Global Sustainability«, das die Crutzen-These aufgreift, fordert deshalb nicht nur einen Paradigmenwechsel, dass der Mensch Verantwortung gegenüber der Umwelt in globaler Dimension übernimmt, sondern auch Lösungen für eine demokratische und friedliche Entwicklung der wachsenden Weltbevölkerung sowie Erhaltung der natürlichen Ressourcen (vgl. Töpfer 2013, S. 39). Neue Konzepte wie »Uns-Welt« statt Umwelt (Leinfelder 2013) in Anlehnung an Teilhard de Chardins spirituell geprägten Begriff der »Noosphäre« (vgl. Cunningham 1997) oder das Konzept des »Weltgärtners« (Leinfelder 2013a) geben dem Anthropozän-Diskurs eine neue Stoßrichtung, die entgegen einem rein technokratischen Eingriff in die Umwelt ein Verständnis für das menschliche Handeln in der Komplexität des Gesamtsystems für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich macht. Vor diesem Hintergrund soll es nun um die Frage gehen, wie sich die Anthropozän-Debatte in der zeitgenössischen fiktionalen Literatur über Umwelt- und Klimawandel niederschlägt.

Dirk C. Flecks Das Tahiti-Projekt – ein Ökothriller zur Popularisierung des Equilibrismus Der Zukunftsroman und Ökothriller Das Tahiti-Projekt des Hamburger Journalisten und Romanautors Dirk C. Fleck stellt die Utopie eines sozioökologischen Modellstaats dar, der durch den Abbau von Manganknollen im Südpazifik durch multinationale Energiekonzerne bedroht ist, sich aber durch die internetgestützte Mobilisierung einer breiten Weltöffentlichkeit gegen die neokolonialistische Ausbeutung erfolgreich zur Wehr setzt. Der Roman wurde 2009 mit dem deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet und ins Englische und Französische übersetzt. Die Handlung spielt im Jahr 2022. Der Roman ist in fünf Kapitel eingeteilt (Emergency ; Die Ankunft; Das Tahiti-Projekt; Die Bedrohung; Der Widerstand). Ein Glossar der technischen Lösungen und sozialökologischen Modelle und ein kurzes Nachwort im Anhang zeigen die informative Appellfunktion des Romans an. Das Glossar sucht durch eine knappe, präzise Sprache die wissenschaftliche Botschaft des Textes gebündelt zu vermitteln, während der fiktionale Text auf ein breites, heterogenes Publikum angelegt ist, die techni-

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schen und sozialen Lösungsmodelle beispielhaft in einzelnen Situationen vorstellt und dafür eine exotische Kulisse verwendet. In der Literaturkritik fiel das Urteil zweigeteilt aus. Gelobt wird die »hoffnungsvolle Idee« (Recktenwald 2009), die im Vergleich zu den boomenden amerikanischen Ökothrillern »mit Fakten unterfüttert« und daher »nicht so platt« sei (Kolodziejczyk 2008). Einigen erscheint dabei die Ökotopie etwas naiv, anderen als zu »unwahrscheinlich« (Schilk 2008), doch wird der Roman als reizvoller und lehrreicher begrüßt als typische Untergangsszenarien (Jacquemain 2008). Kritisiert wird hingegen die Dramaturgie des Thrillers, da nur bedingt Spannung aufkomme und der »moralische Zeigefinger« die Unterhaltung störe (Siegler 2008). Auf Ablehnung stößt auch die Darstellung der weiblichen Protagonistin Maeva, die ein »exotisches Südseeklischee« (Loewenberg 2009) bediene. Die im Tahiti-Projekt dargestellte Realutopie basiert weitgehend auf der sozialökologischen Auffassung des Equilibrismus (Freystedt / Bihl 2005), der mittlerweile auch durch einen Verein5, Webseiten und weitere Internetforen popularisiert wird. Der Equilibrismus strebt nach einem »Ausgleich zwischen Ökologie, Ökonomie, Politik, Sozialem und Kulturellem.«6 In globaler Perspektive sollen »Öko-Alternativen«, ein »natürliches Kreislaufwirtschaftssystem«, eine »nachhaltige Wirtschaftsordnung« geschaffen und die Vereinten Nationen als Parlament aller Länder reformiert werden (Freystedt 2009, S. 113).7 Dabei wird eine systemische Einheit von Mensch und Umwelt vorausgesetzt, die sich gegen den verbreiteten Anthropozentrismus richtet. Der Roman war von Beginn an als Plattform einer Vermittlung der Ideen des Equilibrismus »an ein größeres Publikum« geplant, da sich »viele Menschen […] ungern mit Theorien und Konzepten befassen« und dies den Experten und der Politik überlassen würden (ebd.). Die Wahl des Ökothrillers erschien den Autoren dafür das geeignete Medium auf unterhaltsame Weise zu veranschaulichen, dass »ökologische, ökonomische und politische Alternativen zu echtem Fortschritt führen können« und »ein bereichertes, glücklicheres und nachhaltiges Leben« (Freystedt 2009, S. 114) auch ohne Wohlstandsverlust realisierbar ist. Vom Autor und den Equilibristen wird betont, dass es sich bei dem Tahiti-Projekt um einen »Modellversuch« handelt (ebd.), der ausschließlich auf erprobten oder real um5 Vgl. »Presse-Information« des Vereins Equilibrismus e.V. von 25. 10. 2012, http://www.equi librismus.org/index.php?sdmon=wp-content/uploads/Pressemappe_Equilibrismus.pdf [15. 07. 2013]. 6 https ://www.equilibrismus.org/versand/equilibrismus-eric-bihl-volker-freystedt/ [15. 07. 2013]. 7 Weitere Ziele sind u. a. »Regionalisierung und Subsidiaritätsprinzip«, »Vielfalt statt Monopolisierung«, vorausschauendes Handeln, Umsetzung neuer Ziele statt Reaktion auf Probleme, Handeln »im Einklang mit der Natur« (Freystedt 2009, S. 113).

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setzbaren Technologien vom Hanfbeton bis zu Elektrofahrzeugen beruhe. Seit mehreren Jahren ist sogar eine tatsächliche Umsetzung des Projekts auf der französisch-polynesischen Insel Rapa Iti in Planung (http://www.tahiti-project.org). 2011 erschien eine Fortsetzung des Ökothrillers unter dem Titel Maeva!, worin die gleichnamige Protagonistin als kosmopolitisch agierende Ökoaktivistin auftritt. Hier ist der Fokus nicht mehr auf eine kleine Südpazifikinsel begrenzt, sondern auf eine transnationale, globale Perspektive ausgeweitet (vgl. Mehnert 2012, S. 30). In der Taschenbuchausgabe des Romans wurde der Titel in Das Tahiti-Virus (2012) abgeändert, was ein Motiv aus dem Tahiti-Projekt aufgreift (S. 242)8 und die Hoffnung auf eine ›virale‹ Verbreitung der Ideen unterstreicht. Ausgangspunkt des Tahiti-Projekts ist ein dystopisches globales Szenario: permanente Naturkatastrophen im Zuge des Klimawandels, Artensterben, gewaltsame Verteilungskämpfe um die letzten Ressourcen wie fossile Energie und Wasser, genmanipulierte Nahrungsmittel, Seuchen, Atomkatastrophen und Terrorismus. Im gesellschaftlichen Bereich herrscht eine große Kluft zwischen Arm und Reich, Bürgerkriege sind an der Tagesordnung. Die soziale Verelendung wird beispielhaft inmitten der Metropole, in Hamburg angesiedelt und damit nah an das Publikum herangerückt. Drogenprobleme, Medikamente zur Ruhigstellung der Arbeitslosen und radikale Segregation der Gesellschaft (nur Personen mit einem Kontostand über 100.000 Euro haben Zugang zur City) prägen die einst angesehene Hafenstadt. Der ökologische, ökonomische und soziale Kollaps wird explizit als Folge der Industriellen Revolution (S. 37) dargestellt und liegt damit in der Verantwortung des Menschen. Die drastisch gezeichnete nahe Zukunft weist auch Merkmale des Anthropozäns auf. Zu Beginn der Romanhandlung werden ökologische Missstände von der radikalen Umweltschutzorganisation »Earth First« angeprangert, die gewaltsam die letzten Redwood-Bestände zu retten versucht und eine »Weltregierung« fordert, die Bevölkerungskontrolle, Konsumverzicht und einen nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen militärisch durchsetzen soll. Damit knüpft der Roman unmittelbar an Flecks vorausgegangenen Roman GO! Die Ökodiktatur (1994) an, worin die Organisation ›Global Observer‹ mit faschistischen Maßnahmen die Rettung des Planeten erzwingt. Dazu gehört das Verbot des Individualverkehrs, rigide Ein-Kind-Politik, Rationierung von Strom und Wasser, Ausstieg aus der Kernenergie, Umstellung auf alternative Energien sowie Verbot der Genmanipulation (vgl. Fleck 2006, S. 304). »Die Harmonie mit der Natur [wird] zum 8 Zitate aus Flecks Roman Das Tahiti-Projekt werden im Folgenden mit Seitenangabe in Klammern im Text angeführt. Andere Texte des Autors hingegen werden mit Autornamen und Angabe des Datums der Ausgabe zitiert.

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obersten Gebot erhoben« (ebd., S. 165) und dient als Pseudolegitimation für völlig unverhältnismäßige Strafe bei Umweltvergehen (z. B. Todesstrafe für Rasenmähen oder anarchistische ›Stadtlager‹ als Ghetto für Ökoverbrecher, AidsKranke, Strahlenverseuchte). Das Tahiti-Projekt ist als Gegenkonzept zu den dystopischen Szenarien in GO! Die Ökodiktatur konzipiert und kann als zweiter Teil einer Trilogie mit Maeva! als Abschluss betrachtet werden. Der Autor Fleck versteht Tahiti-Projekt als »Ausweg aus der Depression«9 und stellt sich damit bewusst gegen den Katastrophismus in der Darstellung des Klimawandels. Gleichwohl sind ökodiktatorische Lösungsversuche der Umweltkrise in Form des Computerspiels »World Warrior V« (S. 96) auch im Tahiti-Projekt als Negativfolie präsent. Mit der Wahl des Ökothrillers als Genre positioniert sich der Roman im Feld der Umweltliteratur (vgl. Murphy 2001, S. 264), genauer des umweltbezogenen Science Fiction-Romans, der themenorientiert und auf Verhaltensänderung angelegt ist (vgl. Murphy 2009, S. 377). Das Publikum erwartet einen spannenden Plot, welcher eine drohende Umweltkatastrophe und deren unmittelbarste Ursache verdeutlicht und den Prozess darstellt, wie ein oder mehrere wissenschaftliche Experten die Katastrophe zu verhindern oder zu bewältigen suchen (vgl. Otto 2012, S. 114). Typisch für Ökothriller sind außerdem die Globalität der Umweltkrise, meist dargestellt durch eine Vielzahl wechselnder Schauplätze, sowie der Anspruch auf Aktualität und eine durchgehende Spannungsdramaturgie mit Tendenz zur Eskalation, wobei eindimensionale Charaktere oder Typen als Protagonisten im Kampf ums Überleben und konventionelle Darstellungsmuster vorherrschen; häufig wird ein mythisch-spiritueller Diskurs aufgerufen, aus dem Antworten zur Rettung der Menschheit bezogen werden (Dürbeck / Feindt 2010, S. 214). Darüber hinaus bestehen Ökothriller meist aus einer Mischung von Spannungsroman, Science Fiction10, Reportage und Dokumentarliteratur, wobei collagenhaftes Erzählen dominiert. Für den Fall von Flecks Tahiti-Projekt treffen die genannten Elemente weitgehend zu, wobei allerdings die Thriller-Handlung gegenüber der reportagehaften Popularisierung der Ideen des Equilibrismus zurücktritt und die Science Fiction als eine real umsetzbare Utopie angelegt ist. In Flecks Tahiti-Projekt wird die nahe Zukunft als ökologischer Kollaps geschildert; der Roman ist demgemäß genremäßig als Warnliteratur konzipiert. 9 Vgl. Fleck: http://www.equilibrismus.org/blog/ [15. 07. 2013]. 10 Eric C. Otto (2012) betont für die Ökothriller Der Schwarm Frank Schätzings und The Rapture von Liz Jensen die Koppelung von Science Fiction und Thriller und unterscheidet für den Transport von ökologischen Ideen heuristisch zwischen einem »ecothriller reading« (113 ff.) und einem »science fiction reading« (115 ff.) mit der These, dass nur die Extrapolation von wissenschaftlichen Ideen eine Reflexion auf politische, ethische und praktische Dimensionen von Umweltfragen erlaube.

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Zugleich soll mit dem Projekt ein letzter Ausweg aus dem Ökozid aufgezeigt werden. Damit geht der Roman von der gleichen Ausgangsposition wie der Anthropozän-Diskurs aus, in dem die Gestaltungsmöglichkeit des Menschen betont wird. Welche Rolle spielt dabei die Verantwortung des Menschen gegenüber der Natur? Inwieweit kommt im Roman eine Managementperspektive zum Tragen? Inwiefern wird ein geändertes Mensch-Natur-Verhältnis dargestellt? Diese Fragen sollen im Folgenden mit Blick auf philosophische Bezüge und die verwendeten Narrative untersucht werden.

Resonanzen und Differenzen zum Anthropozän-Diskurs im Tahiti-Projekt »Wenn wir es nicht schaffen, unsere Gemeinden und Regionen autark zu machen, bauen wir auf dem Weg in eine bessere Welt nur Luftschlösser. Das Zauberwort für die Zukunft heißt Dezentralisierung. Wir müssen weg von den seelenlosen, aufgeblähten Staatsgebilden. Das Wissen der Ureinwohner ist die wichtigste Ressource der Menschheit. Nur wenn es gelingt, dieses Wissen mit der modernsten umweltschonenden Technik in Verbindung zu bringen, haben wir noch eine Chance, die fürchterlichen Entwicklungen umzukehren, die unseren göttlichen Lebensraum Erde in einen verrottenden Industrie- und Verkehrspark verwandelt haben. Die Zivilisation ist mit ihrem Latein am Ende. Sie gleicht einem Schiff, das ohne Kenntnis der Naturgesetze gebaut wurde und nun orientierungslos dahinschlingert. Es fehlt ihr an spiritueller Verbundenheit, mit deren Hilfe sie bewusst einen Kurs hätte wählen können, der eben nicht in die Katastrophe mündet.« (S. 318)

In diesem Zitat des fiktiven Präsidenten Omai sind die wichtigsten Dimensionen der Utopie des Tahiti-Projekts stichwortartig gebündelt: staatliche Dezentralisierung, ökologisch verträgliche Technik, spirituelle Erneuerung, Lernen von lokalem und traditionellem Wissen im Umgang mit der Umwelt. Dabei ist die westliche Zivilisation durch Entfremdung von der Natur gekennzeichnet. Dieser rousseauistische Gedanke wird hier insofern vereinfacht und zugespitzt, als einseitige Ausbeutung natürlicher Ressourcen, Industrialisierung und Globalisierung als Hauptursachen für die ökologische Krise angeführt werden. Der Anthropozän-Diskurs zielt auf eine »Neuausrichtung des Mensch-Natur-Verhältnisses im Sinne einer Wahrnehmung der Verantwortung des Menschen gegenüber der Natur, deren Teil er ist und ohne die er nicht überleben kann« (Töpfer 2013, S. 31). Flecks Tahiti-Projekt veranschaulicht alternative Lösungsmöglichkeiten, die dieser Forderung Rechnung tragen. Der Roman beruht auf einer biozentrischen Auffassung, wonach ein respektvolles, auf Nachhaltigkeit und Naturschutz ausgerichtetes Mensch-Natur-Verhältnis leitend ist, auch wenn dies noch rational zu begründen ist (vgl. Piechocki 2010, S. 206 ff.).

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Manche würden bei dieser Auffassung auch von einem »reflektierten Anthropozentrismus« sprechen, da für den Menschen eine biozentrische Position grundsätzlich unmöglich sei (Murphy 2001, S. 264). Als Kronzeuge für eine veränderte Naturauffassung, welche den Dualismus zwischen Natur und Geist aufhebt, wird im Roman Novalis genannt (S. 85; S. 131). Dabei wird aber weniger eine organologische Metaphorik benutzt, sondern die Theorie des Netzwerks. Als der Protagonist Cording von seiner Geliebten Maeva eine Einführung in das Tahiti-Projekt erhält, folgert er : »Auf Tahiti schien alles miteinander verknüpft« (S. 133; S. 254; S. 168). Eine Erklärung kann deshalb bei jedem beliebigen Detail ansetzen, seien es die regenerativen Technologien vom Elektroauto bis zur Bioethanol- und Solaranlage, das Sozialsystem mit Grundeinkommen, oder die Besteuerung von Ressourcen wie Wasser, Boden und Rohstoffen statt des Arbeitseinkommens (S. 125). Wichtig dabei ist die breite Nutzung von Naturmaterialien in Architektur und Straßenbau und als Treibstoff für Mobilität oder als Abfallstoff zur Energiegewinnung. Die neuartige Nutzung natürlicher Ressourcen bewirkt im Roman eine Verschiebung im Mensch-Natur-Verhältnis, das nicht mehr durch einseitige Ausbeutung gekennzeichnet ist, sondern durch eine nachhaltige Landwirtschaft, welche schonend mit den Ressourcen umgeht. Komplementär dazu verhalten sich die Reduktion des Individualverkehrs, flächendeckende Verfügbarkeit von öffentlichem Nahverkehr, und der Ausbau dezentraler Strukturen, welche die Städte entlastet. Ein wichtiger Baustein des Tahiti-Projekts ist nicht nur der radikale ökologische Umbau (S. 171), sondern auch der gezielte »Rückbau« (S. 130) und die Renaturalisierung von zerstörten Landschaften. Zum Beispiel werden durch den Abbau von Werbetafeln, Supermärkten, Tankstelle und Schrottplatz »die sanft ansteigenden Hügel ›der kleinen Normandie‹« (ebd.) wieder freigelegt oder man überlässt alte Hotelanlagen dem natürlichen Verfall, so dass die »wuchernde Natur« sie zurückerobern kann (S. 77). Damit wird die aktive Rolle der Natur betont, die ihr Recht zurückerhält. Die Wiederaneignung des Orts durch die ursprünglichen Bewohner soll auch Umweltgerechtigkeit herstellen, die durch die Tourismusindustrie zerstört war. Wenn der Protagonist Cording zudem die wieder frei gestellte Kirche und den neu gewonnenen Blick auf kleine Pirogen statt auf Motoryachten begrüßt (S. 130) oder die Kabinen des öffentlichen Schienenverkehrs als »gläserne Schiffchen« am »Sandsichelstrand« bezeichnet werden (S. 189), nimmt dies implizit Bezug auf die small is beautiful-Philosophie Ernst Schuhmachers (Stableford 2006, S. 143), die auch dem in Flecks Roman zitierten Ökotopia Callenbachs (S. 15) zugrunde liegt. Weiterhin sind im Roman eine Vielzahl von Situationen mit aktiven Beziehungen zwischen Mensch und Umwelt (Ackerbau, Mobilität, Freizeit u. a.) dargestellt, wobei jeder Bewohner als Teil des Ganzen gilt. Ein Beispiel, das auch noch eine andere Perspektive eröffnet, ist der Umgang mit der Pflanze Miconia

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calvescens (S. 93), einer wuchernden südamerikanische Baumart, die 1937 als Ziergehölz nach Tahiti eingeführt wurde und sich dort innerhalb von 50 Jahren zur dominanten Baumart ausgebreitet und andere verdrängt hat (S. 171). Jeder Einheimische sieht sich in der Verantwortung, neue Sprösslinge zu entfernen, um einheimischen Pflanzen das Wachstum zu ermöglichen. Der invasiven Art wird zugleich ein Nutzen zuerkannt, da sie in der Biogasanlage in neue Energie umgewandelt wird. Damit greift der Roman das Thema des Verlusts von Biodiversität durch Pflanzenmigration auf, die eine gängige globale Praxis zur Lösung des Welternährungsproblems im Anthropozän darstellt.11 Hier wird die Herstellung des ökologischen Gleichgewichts zur allgemeinen Aufgabe erklärt, was die Verflechtung von sozialen, ethischen und ökologischen Bereichen im Tahiti-Projekt illustriert. Die Analogie von Umweltbezug und sozialem Austausch wird auch in einer Aussage von Präsident Omai auf den Punkt gebracht: »Die menschliche Gemeinschaft ist unsere Heimat, ebenso wie die Natur unsere Heimat ist« (S. 72). Der Dualismus zwischen Mensch und Natur ist zugunsten einer wechselseitigen Verbundenheit aufgehoben, wobei in der sozialökologischen Utopie die Zugehörigkeit zum Ort und der Schutz der Pflanzen, die als »Seele Tahitis« (S. 184) gelten, ein besonderer Stellenwert zukommt. Damit veranschaulicht der Roman situativ einen wichtigen Aspekt des AnthropozänDiskurses, nämlich den Gedanken der Interkonnektivität zwischen Menschen und nicht-menschlichen Dingen. Aus dieser Verbundenheit mit der Umwelt wird auch eine ethische Selbstbindung abgeleitet, wonach der Mensch für den Erhalt seiner Umgebung verantwortlich ist. Grundlegend für den Anthropozän-Diskurs ist die ethische Dimension der Verantwortung mit der Forderung nach globalen Lösungsansätzen für den Erhalt von menschlichem und nicht-menschlichem Leben. Aktuelle Beiträge stellen den Bezug zu Hans Jonas’ epochalem Werk Prinzip Verantwortung (1979) her (Alberts 2011, S. 5; Töpfer 2013, S. 38; Wilke 2013, S. 73), in dem er für das technologische Zeitalter einen kategorischen Imperativ formuliert hat: »Handle so, dass die Wirkungen Deiner Handlungen verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden« (Jonas 1979, S. 28). Dies beinhaltet eine verbesserte Technikfolgenabschätzung und vernünftige Zurückhaltung bei Entscheidungen, die nicht einschätzbare Risiken für folgende Generationen bergen. Deshalb wird erneut der Ruf nach einem radikalen Umdenken, nach Handlungsalternativen (Töpfer 2013, S. 39) laut, die unter anderem der Equilibrismus und verwandte Vorschläge für eine »ökologische Zeitenwende« (z. B. Ferst 2008) zu bieten versuchen. 11 Dennoch wird im Tahiti-Projekt der kontrollierte Import von Pflanzen und Samen aus anderen Ländern nicht grundsätzlich abgelehnt. Dies gilt insbesondere für den Import von Reiskleie aus Japan, die für den Straßenbau eingesetzt wird (S. 91).

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Da hier nicht der Ort ist, die unterschiedlichen Implikationen von Jonas’ Prinzip Verantwortung und dem Equilibrismus zu erörtern, kann nur herausgestellt werden, dass Flecks Tahiti-Projekt langfristige Lösungen mit ökologisch nachhaltigen Technologien und eine Recycling-Kultur favorisiert. Obgleich eine small-is-beautiful-Perspektive im Roman zu finden ist, versucht er eine Zurückzur-Natur-Ideologie zu vermeiden. Stattdessen dominiert die Leitvorstellung von einem »Zusammenspiel von moderner Technik und Tradition« (S. 152). Es ist dabei nicht zufällig, dass die Utopie auf Tahiti angesiedelt ist. Für die ästhetische Vermittlung der Botschaft setzt Fleck das Bildarsenal des Tahiti-Mythos ein. Aus diesem Grund soll im Folgenden der Stellenwert des ExotismusNarrativs für das equilibristische Projekt untersucht werden.

Zur Funktion des Exotismus-Narrativs Flecks Utopie weist vielfältige Parallelen zum Tahiti-Mythos auf, der sich im zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts als Antwort auf die industrielle Revolution, Naturentfremdung und gesellschaftliche Zwänge etabliert hat. In seiner Voyage autor du monde (1771) bezeichnete Bougainville Tahiti als »La nouvelle CythÀre« und »Insel der Venus« und begründete damit den Tahiti-Mythos. Seine Merkmale sind eine populär-rousseauistisch geprägte Harmonie zwischen Mensch und Natur, Gütergemeinschaft ohne gesellschaftliche Zwänge, freier Sexualität und der Präsenz des ›edlen Wilden‹ (vgl. Dürbeck 2007, S. 45–50). Durch einen Artikel im Mercure de France (1769) des mitreisenden Arztes Philip Commerson fand diese Vorstellung schnelle Verbreitung und wurde in Literatur, Schauspiel und bildender Kunst um 1800 weitervermarket. Trotz zahlreicher zeitgenössischer Gegenstimmen, die auf eine hierarchisierte Gesellschaft und heidnische Riten wie Menschopfer oder Kannibalismus hinwiesen, konnte sich der Mythos vom ›edlen Wilden‹ und dem ›irdischen Paradies‹ in den Phantasien der Romantik, den Abenteuerromanen des 19. Jahrhunderts bis hin zur Trivialliteratur und Filmindustrie des 20. Jahrhundert behaupten (Kohl 1983, S. 202–222). Von dem eskapistischen Wunschtraum einer besseren Welt profitiert noch die heutige Tourismusindustrie. Flecks Tahiti-Projekt knüpft an die Kollektivsymbolik des Tahiti-Mythos an, um seine equilibristische Gesellschaftsutopie zu popularisieren, doch – so meine These – mit ambivalentem narrativem Effekt. Die Landschaft wird als renaturiertes Paradies mit wedelnden Palmen und rauschendem Meer (S. 75) geschildert. Schon nach der Ankunft lässt der Erzähler seinen ausgebrannten und durch den Ökozid an Depressionen leidenden Protagonisten Cording eine Massage zu Teil werden und auf Tahitis Nachbarinsel Moorea, dem »Paradebeispiel einer Südesseinsel« (S. 77), das ersehnte Paradies finden: »ungezwun-

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gene« Sexualität (S. 68), »wilde Schönheit« (S. 68 f.) und »Tahitianerinnen auf seinem Bauch« (S. 82) liefern eine wohlfeile Bestätigung des Mythos, ohne jedoch das asymmetrische Verhältnis von westlichem Mann und polynesischer Insulanerin zu reflektieren. Wenn der Erzähler die »ursprüngliche Schönheit der Polynesier« (S. 69), deren Gelassenheit und Sanftheit (S. 131) oder die »unvergleichliche Freiheit, Grazie und Lebendigkeit« (S. 114) der Bewegungen der Frauen herbeizitiert, werden der nämliche Exotismus und der männliche Blick affirmiert. Hierbei wird das kulturell Andere als »positives Gegenbild« konstruiert, wobei das positiv besetzte »Heterostereotyp als normatives Korrektiv von Fehlentwicklungen in der […] europ[äischen] Ausgangskultur (Honold 1998, S. 138) fungiert. Hier wird der Mythos zur Kritik am kapitalistischen System und neokolonialen Strukturen nicht nur westlicher Regime, sondern auch Chinas als global agierender Wirtschaftsmacht eingesetzt. Der Mythos stellt jedoch nur eine lockere Form dar, Kritik zu üben, denn ganz offensichtlich soll der polynesische Inselstaat vor allem positive Konnotationen erwecken. In dieser Hinsicht ist auch von »Gottes Öko-Garten« (S. 224) die Rede, eine romantische Metaphorik, die auch im Anthropozän-Diskurs wieder aufgegriffen wird (vgl. Leinfelder 2013a). Das »Ökoparadies« (S. 47) in Flecks Roman ist zwar in die Zukunft projektiert und auf Realisierung angelegt, aber in der Ausfüllung trägt es wie der TahitiMythos rückwärtsgewandte und nostalgische Züge. Ganz ungebrochen kommt der Tahiti-Mythos gewiss auch im Roman nicht daher, da er als »Mythos« (S. 85) kenntlich gemacht wird und auch einzelne Historisierungen vorgenommen werden. So ist etwa von der »unreflektierten Schwärmerei von schönen Wilden und freier Liebe« bei Bougainville (S. 134) die Rede. Doch haben solch distanzierende Bemerkungen nur kurzen Bestand, wenn etwa Gauguins Noa Noa als »wunderbare Geschichte des Malers« (S. 62) und seine »Maori-Erbinnen« als »unverfälschte« (S. 69) Wiedergabe der Realität bezeichnet werden. Auch für weitere Protagonisten wie Omai und seinen Leibwächter Rudolf werden gängige Klischees aufgerufen. Allein schon der Name des fiktiven Präsidenten Tahitis erinnert an ›den edlen Wilden‹ par excellence: Omai (Mai) aus Huahine, einer Nachbarinsel Tahitis, den Captain Cook auf seiner zweiten Weltumsegelung nach Europa brachte, um ihn der interessierten Öffentlichkeit in den Salons von Paris und London vorzuführen (vgl. Dürbeck 2007, S. 29). In Flecks Roman wird die direkte Abkunft des Präsidenten von dem historischen Mai betont (S. 85), offenbar um dem traditionellen Wissen, aus dem die avisierte Erneuerung geleistet werden soll, Dignität zu verleihen. Der ›edle Wilde‹ bei Fleck gilt als »Öko-Ghandi« (S. 242) des »gewaltlosen« Widerstands (S. 246) gegen neokoloniale Übergriffe und als moralische Stimme für den sozialökologischen Wandel. Ihm wird das »Zauberwort Dezentralisierung« (S. 318) in den Mund gelegt, und er steht für das »Wissen der Urein-

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wohner«, die als »wichtigste Ressource der Menschheit« gilt, um die mangelnde »spirituelle Verbundenheit« (ebd.) zu überwinden. Auch sein Leibwächter Rudolf, ein »Maori-Hüne« (S. 84), ist mit einer Reihe gängiger Klischees ausgestattet: In exotischem Habit mit Lendenschurz, Muschelkette und Stirnband aus Pandanusfasern, zwei Brust-Tattoos und tätowierten Oberschenkeln, deren muskulöse Rundung besonders im Kriegstanz eindrucksvoll zur Geltung komme (S. 122), muss er für Tapferkeit und Heldentum einstehen. Sein europäischer Name ist vermutlich eine Anspielung auf den Anthroposophen Rudolf Steiner, der eine biologisch-dynamische Landwirtschaft forderte und eine synkretistische Einheitsphilosophie vertrat. Die fiktive Figur Rudolf wird als »der eigentliche Motor des Tahiti-Projekts« (S. 84) eingeführt, wobei er seine Ideen interessanterweise aus einem Auslandsaufenthalt in Baden-Württemberg bezieht.12 Dass Rudolf seine grüne Gesinnung in einen schon seit 250 Jahren abgelegten dress code zu Tage trägt, ist eine der typischen Amalgamierungen aus Exotismus, Lebensreform und Grünenbewegung, die den Roman grundieren. Mit Setting und der Ausstattung der Figuren vereinigt der Roman typische Elemente von Exotismus in populären Formen (vgl. Foltin 1987): Exotisches dient als Kulisse für die Aktivitäten der Handlungsträger und das Milieu wird durchweg als schön und harmonisch dargestellt. Auch wenn einheimische Riten wie ein feierliches Poipoi-Essen (Schwein im Erdofen) (S. 186), die Darbietung von Tänzen barbusiger Frauen oder von Kriegstänzen mit dem »lauten gemeinsamen Schrei ›Atia!‹« (S. 125), tahitische Ausdrücke und Grußformeln mit einem gewissen ethnographischen Interesse beschrieben werden, dienen diese jedoch weniger dem Verständnis der lokalen Kultur als dem exotischen Kolorit. Indem Fleck seine pragmatischen umwelttechnologischen Lösungsansätze in einem exotischen Setting präsentiert, assoziiert er sie mit einem entfernten Ort, der aus der Perspektive des Lesers im globalen Zentrum allenfalls als Urlaubsort in Betracht kommt, auch wenn es »eine Art Labor für die gesamte Welt« (S. 270) darstellen soll. Die narrative Strategie des Exotismus reproduziert auf diese Weise implizit die soziale Konstruktion sozial-ökologischer Lösungsansätze als marginal im Vergleich zum prometheischen Mainstream. Die Assoziation mit Urlaubsphantasien suggeriert, dass die ökologische Utopie vor allem eine Erholungspause bietet, aber nicht die Hauptsache darstellen kann.

12 Dort haben die Grünen im Landtag 2006 erstmals ein zweistelliges Ergebnis eingefahren, so dass Baden-Württemberg zur Zeit der Abfassung des Romans das hoffnungsreichste Land für die Grünenbewegung erschien. Tatsächlich stellte es durch die Landtagswahl im März 2011 mit Winfried Kretschmann den ersten grünen Ministerpräsidenten.

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Fazit In Flecks Tahiti-Projekt wird die Auffassung des Equilibrismus als real umsetzbare sozialökologische Utopie in einer collagehaften, von Thrillerelementen und Exotismen durchsetzten Handlung veranschaulicht. Mit der Annahme des drohenden Ökozids geht der Roman von der gleichen Ausgangsposition wie der Anthropozän-Diskurs aus. Er betont die Gestaltungsmöglichkeiten und die ethische Verantwortung des Menschen, seine Umwelt zu schützen, mit natürlichen Ressourcen nachhaltig zu wirtschaften und die äußere ›Natur‹ als gleichberechtigten Partner zu behandeln. Dabei vertritt der Roman implizit die Position der Adaption, wonach von einer bottum-up-Perspektive einer Verminderung der Ursachen der Umweltzerstörung durch effizientere Technologien sowie einer Beschränkung des Konsums gemäß einer small-is-beautiful-Philosophie das Wort geredet wird. Pflanzenmigration und Geo-Engineering werden als mögliche Alternativen wegen ihrer negativen Auswirkungen abgelehnt. Insofern liefert der fiktionale Text keine Anknüpfung an die Managementperspektive der Anthropozän-Debatte, wohl aber an die Forderung eines radikalen Umdenkens. Im Roman gilt eine durch traditionelles Wissen gespeiste spirituelle Erneuerung als Voraussetzung für den Erfolg. Problematisch ist allerdings die explizite, fast ungebrochene Anknüpfung an den Tahiti-Mythos als narratives Bindemittel. Nicht nur dass Tahiti und seine Bewohner zum Objekt für die Befriedigung touristischer Phantasien werden und die Südseeinsel als exotische Kulisse fungiert. Sondern die Darstellung der Kleidungscodes und die Beschwörung »uralter Riten« (S. 147) betont erneut kulturelle Differenzen, so dass die Menschen fremder Ethnien naturalisiert und als Teil einer ästhetisch oder materiell anzueignenden Natur konstruiert werden. Die dominante Einbindung des Modells des Equilibrismus in einen populären Exotismus lässt das Tahiti-Projekt daher als eine deutsch-schweizerische Aussteigerphantasie erscheinen und das ökologische Thema wird marginalisiert.

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Katastrophen in der Literatur und das Potenzial für die Bildung

Woher kommt unser Bedürfnis, Orte von Katastrophen zu besuchen? Wer in den letzten Jahren in New York gewesen ist, kennt das Verlangen, an die Südspitze Manhattans zu fahren, um die sich schließende Wunde zu sehen, die die Terrorpiloten am 11. September 2001 in die Skyline und in unser Vertrauen zur friedlichen Regelung von Konflikten gerissen haben. Drei Antworten liegen nahe: Erstens ist da ist der Wunsch, dem Grauen und dem Leid vieler tausender Menschen näherzukommen. Im Andenken an die Opfer von Terror oder Naturkatastrophen wächst die Empathie für die Leidtragenden. Im Blick auf die Besucher in Auschwitz fragt Ruth Klüger kritisch, warum man glaube, die Toten (als »Gespenster«) dort zu fassen, wo sie als Lebende aufhörten zu sein: »Verleiten diese renovierten Überbleibsel alter Schrecken nicht zur Sentimentalität, das heißt, führen sie nicht weg von dem Gegenstand, auf den sie die Aufmerksamkeit nur scheinbar gelenkt haben, und hin zur Selbstbespiegelung der Gefühle?« (Klüger 1997, S. 76). Ich frage zurück: Wird nicht auch die Vorstellungskraft größer und damit das Maß des Mitleids? Zweitens befördert die Intensität des Wahrnehmens das Nachdenken über Gewalttaten, ihre Ursachen und vor allem ihre Folgen; z. B. ob die Wut über die gnadenlosen Terroristen von New York den Dialog der Kulturen unterbrechen darf. Das Unvorstellbare begreifend, sehend, wie Betroffene das Leid verarbeiten – in Bildern, Erzählungen, Kunstwerken – tragen wir dazu bei, die Aufklärung über das, was Menschen den Menschen antun, voranzutreiben und damit Prävention zu ermöglichen. Drittens dürfen die Erinnerungen nicht aufhören; sie müssen zu einem Modell werden, über die Zukunft eines zivilisierten Zusammenlebens der Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und Gesellschaften nachzudenken: die Konflikte zu benennen, partielle Lösungen zu probieren und Normen zu diskutieren. Ein wesentliches Element der Verständigung ist die Anerkennung des Anderen mit seinem Wissen und seinen Wertvorstellungen. Damit sind zugleich die Aufgaben literarischer Bildung benannt: Am Beispiel

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von künstlerischen Werken verschiedener Epochen und Räume Empathie, Wissen und Strategien für Konfliktlösungen zu gewinnen. Es klingt paradox und ist doch wahr : Jugendliche entwickeln aus Bildern der Vergangenheit nachhaltige Bildung für die Zukunft. Diese Dimensionen eines Umgangs mit Katastrophen im Leben und in der Literatur genauer zu beschreiben, mit Beispielen zu belegen und die bildende Wirkung zu bedenken, ist die Absicht des folgenden Beitrags. Im Mittelpunkt stehen Analysen und Bewertungen von literarischen Werken, die sich mit den Erfahrungen des Schocks aus Anlass von Katastrophen befassen: – Vor 260 Jahren der 1. November 1755 in Lissabon als Wendepunkt, der das Gottvertrauen ebenso erschüttert hat wie den Optimismus der Aufklärung, dass der Mensch den Menschen zu unendlichem Fortschritt verhelfen könne. – Der 11. September 2001 in New York als Wendepunkt unseres Bewusstseins, der uns an dem, was wir vom Menschen wissen und für ihn hoffen, radikal zweifeln lässt. – Der 26. Dezember 2004 mit dem Tsunami an den Küsten des Indischen Ozeans. – Der 11. März 2011 mit dem Erdbeben und Tsunami in Japan und den Explosionen der Atomkraftwerke in Fukushima. Das ist nur eine exemplarische Auswahl von möglichen anderen Themen, angefangen bei der Sintflut, dem Deichbruch in Storms Der Schimmelreiter, dem Erdbeben von San Francisco oder den Verbrechen in Auschwitz. Bis auf die Erzählung von Heinrich von Kleist stehen moderne Romane und damit aktuelle Probleme im Vordergrund der Analysen. Dabei vernachlässige ich den Unterschied zwischen Natur- und moralischen Katastrophen, weil die Folgen für die Betroffenen identisch sind.

Erschütterung der Aufklärung – das Erdbeben in Lissabon 1755 ›Niemals gab es einen herrlicheren Morgen […]‹, schrieb ein englischer Augenzeuge. ›Die Sonne schien mit all ihrer Kraft, der Himmel war, soweit das Auge reichte, vollkommen heiter und klar und nicht das mindeste Anzeichen oder auch nur die geringste Warnung vor dem Unheil, das sich nahte, war zu erkennen, dass diese blühende und dicht bevölkerte Stadt in eine Szenerie grauenhaftesten Schreckens und der Verzweiflung verwandelte, deren Zerstörung zu entrinnen nur Einigen binnen weniger Augenblicke glücklich gelang.‹ (Willms 2005, S.VI)

Nicht vom 11. September 2001 ist die Rede, sondern vom 01. November 1755, dem Tag, an dem das Erdbeben von Lissabon nicht nur eine der reichsten Städte

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jenes Jahrhunderts, sondern auch den Fortschrittsoptimismus der Aufklärung erschütterte. Johannes Willms erzählt den Ablauf: Das Erdbeben, das nach 9.30 Uhr begann, als viele Bürger Lissabons sich zur Messfeier in den rund 40 Kirchen versammelt hatten, verlief in drei Wellen, deren Stärke zwischen 8,5 und 8,8 auf der Richter-Skala geschätzt wird. Diesen Erdstößen […] folgten eine halbe Stunde später in kurzen Abständen drei große Flutwellen von jeweils etwa sieben Metern Höhe, die jenen zum Verhängnis wurden, die sich in ihrer Panik auf im Hafen liegende Schiffe geflüchtet hatten. Kaum waren die Wassermassen abgelaufen, brachen überall im Stadtgebiet Brände aus, die rasch um sich griffen und sich zu einer Feuersbrunst ausweiteten, die erst nach sechs Tagen gelöscht werden konnte. Es war dieses Feuer, das vermutlich den größten Schaden anrichtete. Fast vollständig zerstört wurden das Zentrum und die westlichen Teile jeder Stadt. Die dicht an dicht gelegenen prächtigen Paläste, Klöster und Kirchen mit reichen Sammlungen und Kunstschätzen sowie die großen Warenlager im Hafen waren ein einziges, bizarres Ruinenfeld. (ebd.)

Das Leben war kaum zur Ruhe gekommen, als die Menschen schon mit ihren Deutungen herauskamen: (1) Die Kirche mit ihren orthodoxen Amtsträgern sahen den Zorn Gottes walten, der die Verderbtheit der Menschen, ihre Ungläubigkeit und ihr Schachern um materiellen Gewinn bestrafen wollte. Die liberalen Theologen hingegen sahen in dem Erdbeben eine Strafe Gottes für die konservativen Priester, vor allem die Jesuiten, die die Menschen mit Gewalt und öffentlichen Verbrennungen ihrer Freiheit beraubten und in den Tod schickten. (2) Gegen die Funktionalisierung der Katastrophe wandten sich die Aufklärer, allen voran Voltaire, der diagnostizierte, dass die Welt eben nicht nur gut, sondern dass das Böse und das Grauen ein Teil von ihr sei. Man müsse damit leben lernen, ohne nach moralischen Werten zu fragen.1 Erst im Umgang mit den Katastrophen lasse der Mensch seine Selbstbehauptung und Autonomie erkennen: »Sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen« (Kant [1783] 1984, S. 9). Diese Antwort zielte nicht nur auf die Theologen, die sich die Deutungshoheit über Naturereignisse anmaßten, sondern auch auf die erste Generation der Aufklärer, die die Welt so gut eingerichtet fanden, dass alle Übel auszurotten seien, wenn die Menschen es nur wollten. Dieser Optimismus gründete auf dem Vertrauen, dass die Natur, nachdem man ihre Gesetze nach und nach entschlüsselt hatte, sich beherrschen lasse: Die kopernikanische Wende, Galileis Einsichten in die Fallgesetze, Newtons Gravitationsgesetze sind nur die wich1 Darin besteht die Hauptaussage von Voltaires 1759 anonym erschienenem philosophischen Roman Candide ou l’optimisme, mit dem er Leibnizens optimistische Lehre von der ›praestabilierten Harmonie‹ kritisiert.

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tigsten Entdeckungen, die nicht nur Gottes weisen Weltenplan, sondern auch die Berechenbarkeit der Natur deutlich offenbarten. Voltaire aber zeigte auf das Unberechenbare, Unbeherrschbare der Erdbeben, Sintfluten, Schiffbrüche, des Piratentums, der Machtgier der Herrschenden und der Grausamkeiten: Man wird ganz schön in Verlegenheit sein zu enträtseln, wie die Gesetze der Bewegung solche furchtbaren Verwüstungen in der besten aller möglichen Welten anrichten können […]. Welch trübes Spiel des Zufalls ist doch das menschliche Leben. Was werden die Kanzelredner sagen, zumal da der Palast der Inquisition stehengeblieben ist? Ich bin’s zufrieden, daß wenigstens die ehrwürdigen Patres Inquisitoren mit den übrigen dahingerafft sind. Das sollte doch die Menschen lehren, nicht ihresgleichen zu verfolgen, denn während einige heilige Schufte ein paar Fanatiker verbrennen, verschlingt die Erde alle beide (zit. n. Hildebrandt 1963, S. 13).

Damit hat Voltaire das Fundament seines aufgeklärten Humanismus, seines skeptischen Fortschrittsglaubens und seines Verzichts auf Letztbegründungen gelegt, auf dem wir noch heute bauen. Wir müssen akzeptieren, dass es die Katastrophen und das Böse gibt, zugleich aber Sorge dafür tragen, dass die Folgen so menschlich wie möglich gestaltet werden. Noch klarer als Voltaire fordert Rousseau in seinem Brief vom 18. 08. 1756 die Entwicklung moralischer Standards, »eine Art bürgerliches Glaubensbekenntnis« (ebd., S. 14), Menschenrechte also, die jeder anerkennt. Der aufgeklärte Mensch hört auf, Gott den Zustand der Welt anzulasten, er macht sie vielmehr mit allem Licht und Schatten zu seiner eigenen Angelegenheit. Indem er Verantwortung für das Geschehen in der Welt übernimmt, ermutigt er sich zum Selbstdenken, ganz im Sinne der Kantischen Abhandlung Was ist Aufklärung 1783). Zugleich hört der Mensch auf, den Katastrophen einen Sinn zuzuschreiben: »Naturkatastrophen sind Gegenstand von Prognose und Kontrolle, nicht aber von Deutungen« (Neiman 2004, S. 367). Für die Aufklärer der neuen Generation geht es darum, Gerechtigkeit durchzusetzen, nicht aber Gottes Ungerechtigkeiten zu beklagen. Prognose, Kontrolle und klaglose Arbeit an den Folgen von Katastrophen sind die Aufgaben. Der portugiesische Premierminister Pombal hat 1755 jene Formel verwendet, die auch noch New Yorks Bürgermeister Rudy Giuliani 2001 gebraucht hat: ›Begrabt die Toten und speist die Lebenden.‹ Pombals Devise wurde zum Modell: Die Menschen konzentrierten sich darauf, jene Übel auszumerzen, die sie selber in der Hand hatten. Noch einmal Susan Neiman: Sofern wir überhaupt Fortschritte erzielen, dann deshalb, weil wir uns an dieses Rezept halten. Die Denker der Aufklärung wandten sich der Praxis zu, denn der offenbare Mangel an Gerechtigkeit in den göttlichen Einrichtungen war keine Entschuldigung dafür, ihn in den menschlichen zu tolerieren. Wenn überhaupt, wurde damit die Aufgabe, Gerechtigkeit durchzusetzen noch dringlicher. (Neiman 2004, S. 367)

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Mit Blick auf den Unterricht lässt sich die These verschärfen: Am Beispiel von Kunst können die Jugendlichen lernen, dass Empathie für die Leidenden, Barmherzigkeit, aktive Hilfe und Umsicht im Handeln angemessene Reaktionen auf katastrophale Ereignisse sind. Vorschnelle Deutungen der Ereignisse, gar Schuldvermutungen sind Ausdruck von Ideologie und Unbarmherzigkeit.

Kleists Erdbeben in Chili All dies: das Erdbeben, die Versuche, es zu instrumentalisieren, die Widersprüche, die es aufwirft, die Antworten, die es verlangt und die Folgen, die es auslöst, wird in der berühmten Erzählung Das Erdbeben von Chili (1807) von Heinrich von Kleist behandelt. Vordergründung ist das Beben in Santiago de Chile vom 13. 05. 1647 gemeint, aber es thematisiert die Probleme der Aufklärung, wie sie im Anschluss an die Diskussion um das Erdbeben von Lissabon um 1800 verstanden wurden. Die Erzählung besteht aus drei Teilen, wobei Anfang und Ende vom Grauen des Erdbebens und vom moralischen Beben der Überlebenden erzählen. (1) Am Anfang sehen wir Jeronimo im Gefängnis, der dabei ist, sich aus Verzweiflung darüber, dass zur selben Stunde seine geliebte Josephe öffentlich enthauptet werden soll, zu erhängen. Im Augenblick des Erdstoßes wird der Pfeiler, um den er den Strick geschlungen hat, zum Dach seiner Rettung. Als Hauslehrer in der reichen Adelsfamilie Don Asteron hat er die einzige Tochter Josephe für sich zu gewinnen gewusst, und auch die Beziehung fortgesetzt, nachdem der Vater die Tochter ins Kloster gesteckt hatte. Als Josephe dann am Fronleichnamstag auf den Stufen der Kathedrale mit einem Sohn niederkommt, ist die Geduld der Familie und der Gesellschaft am Ende: Beide werden zum Tode verurteilt und Josephe ist auf dem Weg zum Schafott, als das Erdbeben ausbricht. Das Bild der Gesellschaft, das der Erzähler zeichnet, entspricht durchaus dem der reaktionären Verhältnisse im Portugal von 1755: – scharfe Standesgrenzen, – Missbrauch der Religion zur Verteidigung von Privilegien, – willfährige und gnadenlose Justiz, – mitleidlose Gesellschaft, die die Hinrichtung als Schauspiel genießt. Das Erdbeben verläuft in den Phasen, wie das von Lissabon: erst die Erdstöße, dann das Feuer, danach die hohen Flutwellen vom Meer. Der Erzähler versäumt nicht, sehr genau und unemotional zu berichten, welche Institutionen Opfer der Katastrophe geworden sind: der Erzbischof, der Vizekönig, das Gerichtsgebäude, das väterliche Haus der Asterons. Die alte Ordnung scheint restlos zer-

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stört – nicht nur die Gebäude und Anlagen, sondern auch die ganze Gesellschaft. Der Erzähler spricht vom »Umsturz aller Verhältnisse« (Kleist [1807] 1961, S. 153). Die zweite Episode gehört zu den schönsten Szenen der deutschen Literatur : Es ist die Idylle im Tal vor den Toren der Stadt, in dem eine neue Gesellschaftsordnung entsteht. Die Liebenden finden Seligkeit, »als ob es das Tal von Eden gewesen wäre« (ebd., S. 149). Es ist aber nicht nur eine idealische Landschaft, gegen das Bild der zerstörten Stadt, »voll wundermilden Duftes«, sondern auch der Ort neuer Formen des Zusammenlebens, die insgesamt den Zielen der französischen Revolution von 1789 folgen: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit: »Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen […], als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte« (ebd., S. 152). Geschichten unerschrockener Hilfe, von selbstlosen Rettungsversuchen, von Selbstverleugnung und Aufopferung werden erzählt und stärken den Willen, diese Gesellschaftsstruktur zu erhalten. Es ist das Bild des Gemeinwesens, wie die Aufklärer, wie auch Schiller im Wallenstein, Goethe im Egmont und Lessing im Nathan oder Wieland im Agathon, es entworfen haben: Die Utopie einer wahrhaft humanen Gesellschaft. An der zitierten Stelle heißt es zuvor: und in der Tat schien, mitten in diesen grässlichen Augenblicken, in welchen alle irdischen Güter der Menschen zu Grunde gingen, und die ganze Natur verschüttet zu werden drohte, der menschliche Geist selbst, wie eine schöne Blume aufzugehen. (ebd., S. 152)

(3) Dann aber folgt im letzten Teil der Rückfall in das alte Denken: das Erdbeben und seine grauenhaften wie schönen Folgen als Zeichen Gottes zu deuten. Als die Gemeinde zum Gottesdienst in die Dominikanerkirche gerufen wird, haben auch die Liebenden das Bedürfnis, dem Schöpfer für die ›Wohltat des Himmels‹ zu danken. Statt das Naturereignis als das zu verstehen, was es ist: ein unerklärlicher und unverständlicher Vorgang, deuten sie es in ihrem Sinne um. Da ist es dann nicht verwunderlich, dass auch der Priester in seiner Predigt schnell darauf zu sprechen kommt, dass das Erdbeben als Strafe Gottes für die allgemeine Sittenverderbnis zu sehen ist. Als Beispiel wählt er ausgerechnet die Schande, die Jeronimo und Josephe mit ihrem libertinären Treiben über die Gesellschaft gebracht haben. Die absurde Argumentation belegt die Absicht Kleists, wie zuvor Voltaires, Rousseaus und Kants, jede Auslegung von Naturkatastrophen als sinnlos zu begreifen. Der Sinn der Erzählung liegt allenfalls darin, die Sinnlosigkeit des Geschehens nachzuweisen. Bei der Mehrheit der Kirchenbesucher, bei denen der religiöse Fanatismus stärker ist als alle Vernunft, fällt die traditionelle Sinndeutung auf fruchtbaren

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Boden: Der wütende Haufen, die »Mordknechte«, die »blutrünstigen Tiger«, erschlagen erst Jeronimo, dann Josephe und schließlich auch das Kind Don Fernandos, das die erregten Handlanger der Kirchenmänner verwechselt haben. Das grauenhafte Bild lässt uns erkennen, dass blindwütige Gefolgschaft tiefer ins Verderben führt und allein die Vernunftkontrolle Menschlichkeit retten kann. So endet die Erzählung voller Geschichtspessimismus gegen alle Utopie, wenn da nicht der Schlusssatz im Konjunktiv wäre: »so war es ihm fast, als müsste er sich freuen« (ebd. S. 159). Vor dem Hintergrund der historischen Tatsache, dass Portugals Ministerpräsident Pombal den Inquisitor Malagrida sechs Jahre nach dem Erdbeben 1761 hinrichten ließ, den Jesuiten-Orden verbot, Portugal neu zu ordnen versuchte, könnte als Hinweis verstanden werden, dass auch die Chancen des aufgeklärten Don Fernando und seiner Freunde nicht aussichtslos sind.

Nach dem 11. September 2001 – Erschütterung des Menschenbildes In ihrer fundierten Untersuchung über Das böse Denken (2004) macht Susan Neiman Lissabon und Auschwitz zu den zentralen Polen ihrer Untersuchung, weil 1755 und 1945 für sie Beginn und Ende der Moderne markieren. Sie fragt: »Lässt sich der Wandel durch die These auf den Punkt bringen, daß die Menschheit in Lissabon den Glauben an die Welt und in Auschwitz den Glauben an sich selbst verloren hat?« (ebd., S. 367). Mit einigen Modifikationen stimmt sie der These zu. Während Lissabon und andere Naturkatastrophen den Menschen von jeder Verantwortung freisprechen, meinen wir mit »böse« im Blick auf Auschwitz »eine schrankenlose Untat, die keinen Raum für Rechenschaft oder Erklärung lässt« (ebd., S. 26). Auf ähnliche Weise wurde uns allen das Unvorstellbare menschlicher Verbrechen am 11. September 2001 bewusst: Uns wurde, wie beim Erdbeben, der Boden unseres Glaubens an die Vernunft des Menschen unter den Füßen weggezogen, und wir stehen, wie Jeronimo, vor den Abgründen dessen, was Menschen möglich ist. »Ist das Lissabon?«, fragt Neiman (ebd., S. 412) und antwortet: Die Parallelen sind unleugbar : Plötzlichkeit und Schnelligkeit des Angriffs glichen einer Naturkatastrophe. Es gab keine Warnung, es gab auch keine Botschaft. Dass beides fehlte, ließ jene Angst in uns aufkeimen, die vielen von uns erst klarmachte, dass wir die Bedeutung des Wortes Terror bislang noch nicht richtig verstanden hatten. Wie Erdbeben schlagen Terroristen von ungefähr zu: Wer lebt, wer stirbt, hängt von Zufällen ab, die weder verdient noch zu verhindern sind. (ebd., S. 412)

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Wir sind dem Terror ausgeliefert wie den Naturkatastrophen oder Unglücksfällen. Die Attentäter vom 11. September bieten keine neue Qualität des Bösen, sondern seine banale Form des gedankenlosen, gefühlsaufgeschwemmten Mordes, wie Kleist den Schuster Pedrillo beschrieben hat: »Heiliger Ruchlosigkeit voll« (Kleist [1807] 1961, S. 158). Neiman sieht hinter den Morden eine »atavistische Form des Bösen« (2004, S. 414), das uns gerade deshalb so schockiert, weil wir es für überwunden hielten. Das Atavistische liegt darin, dass auch die instrumentelle Rationalität, die für die logistische Vorbereitung genutzt wird, nur die Heimtücke der Tat erhöht hat. Auf Vernunft wurde völlig verzichtet, keine Warnung, keine Rechtfertigung, keine Skrupel. Uns alle der Ohnmacht auszuliefern, wäre den Terroristen gelungen, wäre da nicht der Flug 93, in dem Menschen sich nicht widerstandslos zu Opfern machen ließen, sondern gegen das Verbrechen an Menschen, wenn auch ohne sich selbst retten zu können, aufbegehrten. Es ist nur ein Augenblick, in dem Menschen ihre Freiheit nutzen, »Theodizee ist das nicht. Es ist nicht mal ein Trost – aber eine andere Hoffnung haben wir nicht« (Neiman 2004, S. 421). Nach wie vor gehört für mich der Roman Extrem laut und unglaublich nah (2005) von Jonathan Safran Foer zu den eindrucksvollsten Geschichten von der Katastrophe des 11. September. Erzählt wird der Roman aus der Perspektive des zehnjährigen Oskar Schell, der sich mit seiner Visitenkarte (ebd., S. 132) als vielseitig interessiert, aufgeweckt und selbstbewusst vorstellt. Oskar hat bei dem Anschlag des 11. September seinen Vater im WTC verloren. Immer wieder werden Episoden erzählt, in denen die Erinnerung an den Vater lebendig wird, z. B. in den Gute-Nacht-Geschichten, den Märchen vom 6. Bezirk in New York, vom Sandkorn in der Sahara. Seine Trauer fasst er in das Bild der »Bleifüße« (ebd., S. 13; S.408), die er jedes Mal bekommt, wenn er an den Vater denkt. Mit seiner lebhaften Phantasie stellt er sich vor, dass alle Tränen, die in New York in einer Nacht geweint würden, in einem Reservoir gesammelt werden könnten und der Pegelstand den Grad der Trauer in der Stadt zum Ausdruck bringt. Im Mittelpunkt des Romans steht die Suche nach dem Schloss eines Kästchens, das zu dem Schlüssel passt, den er in einer Vase im Zimmer des Vaters gefunden hat. Auf dem Umschlag steht nur »Black«. Also macht er sich auf die Suche nach Menschen mit diesem Namen in New York, kommt aber nicht sehr weit, da es insgesamt 472 Personen dieses Namens gibt. Dennoch bringen ihm die Wege wunderbare Begegnungen, banale bis aufregende Lebensgeschichten. Seinem Großvater gegenüber bekennt er gegen Ende: »Die Suche nach dem Schloss hat mir geholfen, meinem Dad noch ein bisschen länger nahe zu sein« (Foer 2005, S. 408). Diese selbstaktive Form der Traumabearbeitung ist effektiver als die verordnete Therapie durch einen Psychotherapeuten (ebd. S. 266). Das Attentat selbst kommt nur in Bildern vor: den immer wiederholten Aufzeichnungen, die im Fernsehen als Endlosschleifen laufen, und der Stimme

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des Vaters aus dem World Trade Center, die er auf den Anrufbeantworter spricht, z. B. die vierte Nachricht: Nachricht Vier. 9:46. Hier spricht Dad. Thomas Schell. Hier spricht Thomas Schell. Hallo? Hört ihr mich? Seid ihr da? Nehmt ab. Bitte! Nehmt ab. Ich hocke unter einem Tisch. Hallo? Tut mir Leid. Ich habe mir eine feuchte Serviette ums Gesicht gewickelt. Hallo? Nein. Probieren Sie das andere. Hallo? Tut mir Leid. Die Leute drehen langsam durch. Ein Hubschrauber umkreist das Gebäude, und. Ich glaube, wir gehen aufs Dach […] Könnte klappen, wenn. Die Hubschrauber dicht genug rankommen. Könnte klappen. Bitte nehmt ab. Weiß auch nicht. Ja, das da. Seid ihr da? Probieren Sie das hier. (Foer 2005, S. 274)

Eingebunden in den Roman ist die Geschichte der Großeltern, die den Angriff auf Dresden miterlebt haben und dann in die USA ausgewandert sind. Auf der Suche nach den Blacks begegnet Oskar seinem Großvater, der von der Familie getrennt lebt, um mit seinem Trauma allein fertig zu werden. Ihm erzählt Oskar die Geschichte seiner Begegnungen, von denen er meint, dass er die Leute ziemlich belästigt habe, und dennoch: »und ich vermisse meinen Dad viel mehr als am Anfang meiner Suche, obwohl der Sinn der Suche doch eigentlich darin bestehen sollte, ihn nicht mehr zu vermissen« (Foer 2005, S. 339). Die Qual zu wissen, wie sein Vater gestorben ist, wird am Schluss des Romans bearbeitet, indem er die Bilder vom Fall eines Körpers vom Dach des WTC umgekehrt ordnet, so dass der Mann allmählich zum obersten Stockwerk zurückfliegt: »und alles wäre gut gewesen« (ebd., S. 437). Die Rekonstruktion des Ablaufs der Ereignisse am 11. September hält einerseits zwar die Trauer wach, ja verstärkt sie teilweise noch, andererseits ist sie aber Ausdruck der Liebe und bewahrt sie für die Zukunft. In dieser Hinsicht ist die Geschichte von Oskar Schell ein Bildungsroman – auch für die jungen Leser. Nicht mehr von einer lange Zeit zurückliegenden Katastrophe, sondern von dem Tsunami am 16. 12. 2004 erzählt Josef Haslinger in Phi Phi Island. Ein Bericht (2007). Das Buch ist aufschlussreich, weil es nicht nur von der Katastrophe selbst erzählt, sondern sie auf einer zweiten Ebene reflexiv zu verarbeiten versucht. Im Verlauf des Buches stellt Haslinger immer wieder Fragen: – Soll ich schreiben? – An den Ort des Geschehens zurückkehren? – Mit anderen sprechen? – Die Bilder aufrufen oder verdrängen? – Warum bin ausgerechnet ich gerettet worden – mit der ganzen Familie? – Wie lange wird das Trauma uns besetzen?

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Die meisten der Fragen werden im Verlauf der Erzählung beantwortet: So fährt der Autor ein Jahr nach der Katastrophe noch einmal nach Thailand und schreibt die Erlebnisse auf, daher der Titelzusatz: Ein Bericht: der bericht in einem satz: wir sind zu viert auf der thailändischen insel koh phi phi in einem resort abgestiegen, von dem zwei tage später nur noch ein verwaltungsgebäude, der swimmingpool und das auf acht betonsäulen ruhende dach des speisepavillons übrig waren. die 110 bungalows, von denen wir zwei gemietet hatten, waren verschwunden. (Haslinger 2007, S. 7)

Erzählt wird in zwei Zeitebenen: Anfang Dezember 2005 sowie die Zeitebene der Ereignisse selbst vom 24.–26. 12. 2004. Das Anliegen des Erzählers ist, die Bilder im Kopf, die sehr vage geblieben sind, insbesondere was die Rettung der ganzen Familie betrifft, genauer zu machen, um sie bearbeiten zu können. Verglichen werden seine eigenen Erinnerungen mit denen seiner ebenfalls geretteten Frau und den beiden erwachsenen Kindern Sophie und Elias. Vor allem der Sohn sperrt sich gegen die Wiederholung: »ich will darüber ungern reden, weil ich danach immer schlecht träume, vor allem, wenn ich in die details gehe. wenn ich freunden davon erzählt habe, ist es mir immer wieder passiert, dass ich in der nacht von der welle geträumt habe oder über ein anderes unglück in der familie« (ebd., S. 85). Irgendwie haben alle vier irgendwann das Dach des Hotels erreicht, dann, trotz aller Wunden, macht Erleichterung sich breit und es entsteht fast eine Idylle, die an die Erzählung Kleists erinnert (ebd., S. 114). Die zweite Reise, im Dezember 2005, die Wiederbegegnung am Ort des Leidens, hat zwar vergessene Schrecken wachgerufen und neue Albträume provoziert, aber die Entscheidung hält der Erzähler dennoch für richtig: es war eine richtige entscheidung, zurückzukommen. phi phi island ist in unserer erinnerung jetzt mehr als nur die schreckensinsel. es war auch gut zu erfahren, wie sehr diese insel von denen, die hier leben, geliebt wird. […] es ist unser weg, mit der vergänglichkeit zurechtzukommen. (ebd., S. 189)

Die Arbeit am Schrecken aber hört nicht auf. Dennoch ist es wichtig, auch für die Bewältigung eigener, selbst scheinbar unbedeutender Schockerlebnisse zu erkennen, dass Erzählungen die irritierenden, belastenden Erfahrungen bewusst und damit gedanklicher Arbeit zugänglich machen. Die Besprechung von Erzählungen, eigener wie fremder, werden nicht nur Element literarischer Bildung, sondern Mittel einer Trauma-Therapie.

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Terror gegen die Zivilisation – Innenansichten der Attentäter Im Herbst 2006 sind zwei Romane erschienen, die die Perspektive umdrehen: Nicht mehr von überwältigten Opfern sowie deren überlebenden Angehörigen ist die Rede, sondern von den Tätern, die Katastrophen planen und herbeiführen. Nicht die Tektonik der Erde, aufeinanderstoßende Gesteinsplatten lösen die Katastrophe aus, sondern der Zusammenstoß von Denkplatten im Gehirn gewaltbereiter Extremisten. Am meisten beachtet wurde in diesem Zusammenhang der Roman Terrorist von John Updike. Im Mittelpunkt des Geschehens steht ein 18jähriger Jugendlicher, Ahmed Mulloy, der sich aber nach seinem ägyptischen Vater Ahmed Ashmawy nennt. Er stammt aus der Beziehung eines ägyptischen Studenten mit seiner irischen Mutter, die als Krankenschwester und Künstlerin tätig ist. Auf sich allein gestellt, ekelt ihn das oberflächliche Treiben in seiner Heimatgemeinde New Prospect/New Jersey an. Die Aversion kommt gleich im ersten Absatz zum Ausdruck: »Teufel, denkt Ahmed, diese Teufel wollen mir meinen Gott nehmen. Den ganzen Tag wiegen sich an der Central High School die Mädchen, verhöhnen einen, stellen ihr verlockendes Haar und ihren weichen Körper zur Schau« (Updike 2006, S. 7). Der ganze aufgeklärte Habitus kann nicht verheimlichen, dass die unsteten Augen und leblosen Stimmen den fehlenden Glauben verraten. Aus dieser Situation begehrt Ahmed auszubrechen. Die Ursachen für seine Verführbarkeit sind vielschichtig. Zum einen ist es der Ekel vor der Gesellschaft, die in Oberflächlichkeit, Glaubensarmut und Materialismus lebt. Die zweite Ursache ist, dass Ahmed nach einem Halt sucht, den er eher im Glauben des Vaters als im katholischen Atheismus der Mutter findet. Mit elf Jahren hat er den Entschluss gefasst, gegen alle Lästerungen, das Leben des rechten Weges und der Reinheit zu gehen. Ihn unterstützt der Lehrer islamischen Glaubens, der Jemenit Shaikh Rashid, eine zwielichtige, aber konsequent führende Figur. Der weist ihn nicht nur in die rechte Lektüre des Korans ein, sondern erzieht zu einer Haltung, die ihm Entschlossenheit, Nüchternheit und Selbstbeherrschung abverlangt. Er predigt keinen Gott der Freiheit, sondern einen der gehorsamen Unterwerfung. Damit wird Ahmed lenkbar für die Interessen der Gemeinde der AraboAmerikaner. Als Lastkraftfahrer in einem Möbelfachgeschäft wird er einsetzbar für Terrorfahrten, um die verhasste Gesellschaft empfindlich zu treffen. Der Imam wirbt ihn für das Attentat auf subtile Weise, indem er die Vermutung ausspricht, dass Ahmed wohl nicht der rechte Mann für diese schwierige Aufgabe sei. Der aber lernt die Position des Religionsführers zu seiner eigenen zu machen. Seinem ehemaligen Lehrer gegenüber rechtfertigt er sich mit dem Koran: »Euch ist vorgeschrieben, gegen die Ungläubigen zu kämpfen, obwohl es euch zuwider ist« (ebd., S. 377). Gegen die verderbte Alltagswelt leuchtet ihm das Paradies:

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Der Glanz des Paradieses flutet rückwärts, sickert in Ahmeds Alltagsleben ein. Groß wird sich dort alles anfühlen, wird kosmische Dimensionen haben; in seiner Kindheit, nur wenige Jahre nach dem Beginn dieses Lebens, hat Ahmed beim Einschlafen oft ein Gefühl von Größe erfahren, hat jede Zelle als eine Welt erlebt, und dies demonstrierte seinem kindlichen Verstand die Wahrheit der Religion. (Updike 2006, S. 322)

Seine auf diese Art erfahrene Auserwähltheit lebt er nicht ohne Eitelkeit. So wird es für die Kämpfer im Namen des Islam ein Leichtes, Ahmed als ihr Instrument für den Terror zu wählen. Er soll einen Lastwagen mit Sprengstoff durch den Lincoln-Tunnel unter dem Hudson River fahren und ihn kurz hinter der tiefsten Stelle zünden, so dass der Schaden besonders groß wird. Der Roman ist nicht immer so spannend wie es sich anhört; es gibt langatmige Episoden mit Gleichaltrigen, in der Schule, mit den Verhältnissen seiner Mutter etc. Trotz mancher Längen und Detailverliebtheiten bleibt der Roman in der großen Linie aber ein spannendes Buch. Einer der Höhepunkte ist die Kontroverse zwischen Ahmed und seinem Lehrer Jack Levy gegen Ende des Romans über die Kritik an Amerika, über die westliche Zivilisation, die unbegrenzten Freiheiten, aber auch über das Recht auf Attentate, die Sicherheit des Glaubens, die Unvermeidbarkeit von Opfern bei der Erfüllung großer Aufgaben. Es ist ein Wettstreit im Kampf um die Geltung von Werten in einer liberalen Kultur. Als Ahmed mit seinem mit Sprengstoff beladenen Lastwagen in den Lincoln-Tunnel einfährt, beginnt der Kampf in ihm selber. Nicht ohne Einfluss auf seine endgültige Entscheidung bleibt, dass vor ihm ein Wagen mit Kindern im Fond fährt, die ständig gestisch Kontakt zu ihm aufzunehmen versuchen. Die Spannung bleibt bis zum Schluss erhalten, so dass die Lektüre beides vermittelt: ein Empfinden für die Figuren, ein Mit–Leben auch mit potenziellen Tätern, und die Reflexion über den Kampf der Kulturen auf Leben und Tod. Auf noch radikalere Weise steht dieser Kampf im Mittelpunkt des Romans Die Attentäterin (2006) von Yasmina Khadra. Es ist die Geschichte eines erfolgreichen Chirurgen in Tel Aviv, arabischer Abstammung mit israelischem Pass. Zu Beginn sehen wir ihn beschäftigt, die Opfer eines Selbstmordattentats in einem Caf¦ mit 17 Toten und vielen Verletzten, vornehmlich von Schülern besucht, zu versorgen. Nachdem er zwei Tage und Nächte durchoperiert hat und übermüdet in den Schlaf sinkt, wird er, mitten in der Nacht, von der Polizei geweckt, die ihn festnimmt, weil die Attentäterin seine Frau war. Er ist entsetzt, denn von dem Doppelleben hat er absolut nichts gewusst. Nachdem sich das glaubhaft auch für die Polizei erweist, macht er sich auf die Suche nach der Vorgeschichte und den denkbaren Motiven. Da heißt es: Alles läuft bestens, alles gelingt… Dann, ohne Vorwarnung, stürzt der Himmel über uns ein. Und erst, wenn man wehrlos am Boden liegt, merkt man plötzlich, dass das Leben, das ganze Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, seinen Freuden, seinem Leid,

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seinen Verheißungen und seinen Enttäuschungen an einem einzigen seidenen Faden hängt. (Khadra 2006, S. 77)

Die Suche nach dem Moment, in dem es bei seiner Frau Sihem ›klick‹ gemacht hat, wird zu seiner fixen Idee. Die Suche führt ihn tief hinein in das Leben der Palästinenser. Zuerst landet er bei dem Imam, dessen Hass Amin Jaafari erschüttert: »Für mich sind Sie nur ein armer Unglücklicher, eine erbärmliche Waise ohne Glaube und Heil, die wie ein Schlafwandler am helllichten Tag durch die Gegend irrt« (Khadra 2006, S. 158). Wegen dieser Anpassung an die Ideen des Feindes verachten sie ihn, die aber doch für ihn gelebte Toleranz, Zusammenleben der Kulturen, Verzicht auf Selbstbehauptung bis zum Tod sind. Gegen den palästinensischen Kommandanten der Stadt wendet er ein: »Du hast Dich fürs Töten entschieden, ich dafür, Leben zu retten. Was Dir der Feind ist, ist mir der Patient. […] Ich glaube nicht an Verheißungen, die das Leid glorifizieren und den gesunden Menschenverstand missachten« (ebd., S. 170). Bei seinen Recherchen gerät Amin selber immer stärker in den Sog der Gewalt, wird verprügelt, gefangengesetzt, mit dem Tod bedroht. Er merkt selbst, dass sein Verstand ihn verlässt, wie in den palästinensischen Städten und Lagern die »Vernunft jede Verantwortung abgegeben« zu haben scheint (ebd., S. 210). Die Quelle des Bösen, des Hasses, nennt ein junger Kommandant der Palästinenser : dem Menschen die Würde und die Selbstachtung zu nehmen, ist die Quelle des Hasses, die auch die Attentate motiviert. Diese Begründung gilt offensichtlich auch für Amis Frau. Für sie und die anderen Attentäter »liegt das Paradies am Ende des Menschenlebens«, für Amin »am Ende der ausgestreckten Hand« (ebd., S. 236). Der Roman endet wie er beginnt: mit einem Racheangriff auf eine palästinensische Versammlung der Gläubigen, bei dem auch Amin getroffen wird, wohl tödlich, auch wenn der letzte Satz heißt: »doch es bleiben dir noch immer deine Träume, um die Welt, die man dir gestohlen hat, neu zu erfinden« (ebd., S. 270). Eine spannende Handlung wird in dem Roman verknüpft mit Argumenten im Streit um die Politik, die Religion, die Kultur im Nahen Osten. Die Botschaft steckt zwischen den Zeilen: Gib dem Menschen die Chance, in Würde zu leben und zu wirken, dann wird er auch die ausgestreckte Hand nicht zurückschlagen. Was der Erzähler aber auch nicht verschweigt, ist, dass die eigene Würde erst mit der Achtung des Anderen wachsen kann. Über das Mitleid mit den von den Unglücken Betroffenen hinaus regt die Lektüre das Nachdenken über Konflikte an, die im schlimmsten Fall zu Terroranschlägen führen. Die Stimmen der Entrechteten zu hören, ist ebenso wichtig, wie die Grenzen zum Einsatz von Gewalt entschieden zu markieren. Ungerechtigkeit zu erfahren, rechtfertigt keine Gewalt. Auch das können die Jugendlichen aus der Literatur für das Leben lernen.

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Leistungen der Literatur Im Verlauf der Kommentierungen der Werke, die Katastrophen zu ihrem zentralen Thema machen, sind Leistungen der Kunst für die Bildung und Erziehung angesprochen worden. Sie lassen sich als drei Wirkweisen zusammenfassen: (1) Neue Erfahrungen Literatur, wie alle Kunst, vermittelt Erfahrungen aus anderen Zeiten und Lebenswelten. Die Werke behandeln Probleme von allgemeiner Bedeutung für die Menschen, betreffen also anthropologische Grundtatsachen. Die Beschäftigung mit den Konstellationen unterschiedlicher Art erweitert den Horizont der Leser aller Altersstufen und bereitet die jungen Menschen auf zukünftige Erfahrungen und deren reflektierte Verarbeitung vor. Die Erzählungen aus der Vergangenheit werden zu Modellen für die Zukunft. Aus dem Verstehen der Literatur wächst Verständnis für das Leben – das eigene und das der Anderen. (2) Katharsis Lektüre von Literatur bewirkt durchaus Katharsis in Lessings Sinne. Indem die Leser sich vom Schicksal der Figuren aus Dramen und Romanen bewegen lassen, entwickeln sie Mitleidsfähigkeit, die Bereitschaft fremdes Schicksal zur eigenen Sache zu machen, den Sinn für Fairness und Gerechtigkeit wachzuhalten. Ob Mitleid und Moral heute noch so eng zusammenhängen, wie Lessing in seinem berühmten Brief an Nicolai vom 13. 11. 1756 vermutet hat (›der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch‹), darf eher bezweifelt werden, aber Sensibilität für Gerechtigkeit, Glück und Verantwortung werden im Umgang mit Kunst gefördert. (3) Medium für Gespräche Literatur bietet immer neuen Anlass für Gespräche. Wer dieselben Texte gelesen, dieselben Theaterstücke oder Filme gesehen hat, findet Stoff für Diskussionen. In der Antike hatte der Theaterbesuch kultische Funktionen, die Theater der Aufklärung waren Bildungsstätten und die Schulen sorgen bis heute, tendenziell jedenfalls, für ein gemeinsames Wissen, über das die Generationen miteinander ins Gespräch kommen. Das schließt eine Diskussion über die Werte einer offenen Gesellschaft ein, wie etwa Mitmenschlichkeit, Würde, Gerechtigkeit, Glück sowie die Bedeutung von Erzählungen für die Bewältigung des Lebens mit seinen Schicksalen. Kulturelle Identität ist immer auch die Gewissheit, aus einem gemeinsamen Fundus von Erfahrungen zu schöpfen, ihn für sich selbst zu nutzen und an andere weiterzugeben. In den Kunsterlebnissen, den autobiografischen Erzählungen der Anderen sowie den Gesprächen darüber erfahren die Menschen, dass sie mit ihrem Schicksal nicht alleine sind und dass es Fixpunkte jenseits der eigenen Horizonte gibt, die einen neuen Blick auf das allzu vertraute

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Erlebnis freilegen. Dieser andere Blick vermittelt nicht nur eine veränderte Weltsicht, sondern fordert ein neues Selbst-Bewusstsein und eine neue Einschätzung der Lage. Das ändert nichts an der Intensität von Leid und Zorn und der immer wiederkehrenden, wenn auch müßigen, Frage nach dem Sinn des Schicksals, aber es führt zu deren Bedenken. Das ist nicht viel, aber doch eine andere Reflexionsstufe, die eine entwickelte Kultur bietet und von der diese Kultur weiterlebt. Der Beitrag ist die überarbeitete Fassung des Manuskripts »Katastrophen in der Literatur« für den Band: Breitsameter, Christof (Hg.): Notfallseelsorge. Ein Handbuch. Münster 2012, S. 301–314 und 333.

Quellenverzeichnis Primärliteratur Kant, Immanuel (1984): »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Bahr, Erhard (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart, S. 9–17. Foer, Jonathan S. (2005): Extrem laut und unglaublich nah. Köln. Haslinger, Josef (2007): Phi Phi Island, ein Bericht. Frankfurt. Khadra, Yamina (2006): Die Attentäterin. München/Wien. Klüger, Ruth (1992): weiter leben. Eine Jugend. Göttingen. Kleist, Heinrich von (1961): Das Erdbeben in Chili, in: Sämtliche Werke und Briefe II, München, S. 140–159. Updike, John (2006): Terrorist. Reinbek.

Sekundärliteratur Alt, Peter Andr¦ (2010): Ästhetik des Bösen. München. Hildebrandt, Dieter (Hg.) (1963): Voltaire: Candide. Frankfurt. Neiman, Susan (2004): Das Böse denken. Eine andere Geschichte der Philosophie. Frankfurt. Müller-Michaels, Harro (1999): »Literarische Anthropologie in didaktischer Absicht. Begründung der Denkbilder aus Elementarerfahrungen«, in: Deutschunterricht/Berlin, Jg.52, S. 164–174. Safranski, Rüdiger (1997): Das Böse oder Das Drama der Freiheit. München. Willms, Johannes (2005): »Unheil aus heiterem Himmel. Das Erdbeben von Lissabon 1755 oder : die Dialektik der Aufklärung«, in: SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 2005/250 vom 29./ 30.10., S. VI/Wochenende.

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Internetquelle Müller-Michaels, Harro: »Der 11. September 2001«, verfügbar unter : http://www.d-un terricht.de/Downloads [19. 8. 2011]

Torsten Pflugmacher

Didaktik der Katastrophe am Beispiel der Atomkatastrophe im literarischen, filmischen und journalistischen Diskurs Ich habe eine Sehnsucht nach der nächsten Katastrophe. Denn wenn wir gemeinsam leiden, fällt dieses Unbehagen ab. Der Zufall ließ uns weiter leben, der Überdruss ging vor der Angst, ließ uns einander fest umklammern, und hoffen für den nächsten Tag. Gustav : Alles renkt sich wieder ein (Liedtext, erste Strophe).

Katastrophen haben immer wieder Konjunktur. Und das in mehrfacher Hinsicht: In der globalisierten Medienwelt vergeht derzeit kein Jahr, in welchem der Zuschauer nicht an mehreren zumindest prognostizierten Katastrophen teilhaben kann, mitunter in Formen der Echtzeitberichterstattung. Die mediale Vermittlungsintensität von Katastrophen wird wohl nur noch von jener über beginnende Kriegseinsätze übertroffen. Auch das Kino setzt seit mehr als einem Jahrzehnt wieder verstärkt auf das Katastrophengenre und ersetzt die Flugzeugund Schiffsunglücke des Kinos der 1970er Jahre1 immer mehr durch Naturkatastrophen mit regionalen bis globalen Auswirkungen. Konjunktur hat auch eine Katastrophenmetaphorik (Enzensberger 1982), da der Katastrophenbegriff immer weiter und immer entgrenzter im Alltagsleben verwendet wird. Das bemerkt man spätestens bei der Recherche nach Katastrophenliteratur, weil zahlreiche Titeltreffer den Begriff in einer eigenwillig individualisierten Verwendung enthalten, z. B. »Männer und andere Katastrophen« (Gier 2012). In der neueren deutschsprachigen Literatur hingegen stößt man bislang auf ein recht schmales Korpus von Werken, die sich mit Natur- und Technikkatastrophen im engeren Sinne auseinandersetzen.2 Das mag an der erfolgreicheren visuellen Ästhetik des Kinos liegen oder an unterschiedlichen Unterhaltungs- und Reflexionsfunktionen des kinematischen wie des literarischen Diskurses.

1 Vgl. exemplarisch die Airport-Filme (USA 1970 – 1979) sowie Die Höllenfahrt der Poseidon (USA 1972). 2 Dieser Befund gilt nicht für Dystopien, vor allem in der Adoleszenzliteratur (vgl. kjl& m 2012).

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Torsten Pflugmacher

Bedarf es einer Didaktik der Katastrophe?3 Die Bewältigung von Katastrophen lernt man in Katastrophenschutzübungen, wo sinnvolle und notwendige Reaktionsmuster von Experten und Freiwilligen einstudiert werden. Und kann es eine Didaktik der Katastrophe überhaupt geben, wenn doch viele Katastrophen gerade als ›unerhörtes Ereignis‹ die Versuche eines routinierten Umgangs konterkarieren? Erlebt man selber eine Katastrophe, bedarf es eher der Seelsorge oder Therapie anstelle von Vermittlung. Indirekt betroffen sind und fühlen sich Menschen jedoch seit jeher von Katastrophen, die ihnen erzählt und berichtet werden, und sie versuchen auf verschiedene Weise, dem Einbruch des für irrational Gehaltenen in die Lebenspraxis Sinn zuzuweisen. Daher kann es eine Didaktik der Katastrophenwahrnehmung geben. Sie nimmt die Muster und Motive in den Blick, mit denen Katastrophen literarisch, filmisch und journalistisch vermittelt und gedeutet werden: Muster der Beunruhigung und Beruhigung dienen der Darstellung von Katastrophen als Experimentierfeld für Neuordnungen und Bewährung, zur Beobachtung und kritischen Kommentierung von Krisenmanagement. Mit welchen Mitteln wird Nähe und Distanz inszeniert, wie wird Mitleid geweckt und verarbeitet, wie werden Helden und Führungsfiguren konstruiert? Wie wird Wissen und Nichtwissen thematisiert, wie werden Lernprozesse und (Nicht-)Erfahrung dargestellt? Dies sind nur einige der naheliegenden Fragen für die Rekonstruktion von Formen und Funktionen der Katastrophennarrationen. Für die ethische Betrachtung von Katastrophen und ihrer Bewältigung, für die Typologien von Katastrophenereignissen oder für die Rekonstruktion von Ursachen sind andere Schulfächer wie Religion, Geographie und Naturwissenschaften zuständig, die vom Literaturunterricht unterstützt werden können. Seelsorge ist ein fächerübergreifendes Desiderat, welches Schulpädagogik an die Grenzen ihrer Möglichkeiten führt. Der Gegenstand einer genuin deutschunterrichtlichen Didaktik der Katastrophen mit kulturökologischem Fokus ist daher notwendigerweise die Katastrophenvermittlung selbst. Denn der mediale Katastrophendiskurs ist nur vermeintlich ein neutraler Berichterstatter und bloßer Informationslieferant. Katastrophen werden vielmehr medial konstruiert: Der Rezipient stellt planmäßig Warum-Fragen, sucht Verantwortlichkeiten, beobachtet das Katastrophenmanagement im Live-Ticker und ist froh, wenn alles vorbei ist, als wäre die Ordnung wiederhergestellt, wie es der Katastrophenfilm vorführt mit seiner typischen Inszenierung von Anbahnung, Erleben und Bewältigung der Katastrophe. Chroniken mit Verweisen auf frühere Katastrophen gehören zur Standardberichterstattung, reihen es in historisch bekannte Zusammenhänge und normalisieren das unerhörte Ereignis, den Ein3 Dazu gibt es Ratgeberliteratur wie Restrisiko: Was tun im atomaren Ernstfall? So schützen Sie sich und Ihre Kinder (Pfitzenmaier/Leise 2011).

Didaktik der Katastrophe am Beispiel der Atomkatastrophe

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bruch des Chaos in die Wirklichkeit ein Stück weit. Verunsicherung wird einerseits medial inszeniert und hervorgerufen, gleich darauf arbeiten die Medien mit an der Wiederherstellung des Alltags. Der Beitrag gibt einen orientierenden Einblick in Katastrophentheorien, benennt Klassiker des Katastrophengenres und erschließt damit verbunden das Inventar der Katastrophendarstellung, bevor Katastrophenfilme und Katastrophenerzählungen vorgestellt und exemplarisch analysiert werden. Abschließend werden Herausforderungen und Möglichkeiten einer allgemeinen und besonderen Didaktik der Katastrophe erörtert. Im Vergleich der neueren Kurzgeschichten und Kurzfilme von Alexander Kluge mit der Berichterstattung zu den Atomkatastrophen von Tschernobyl und Fukushima erhalten die Schüler Einblicke in die mediale und ästhetische Re-Konstruktion von Katastrophen und in die Funktion von Darstellungsmustern. Nicht zuletzt die Frage nach der eigenen (verbotenen) Lust an der Katastrophe rückt den Schüler und sein Katastrophenerleben in den Blickpunkt (vgl. Sontag 1968).

Katastrophen begreifen und darstellen Katastrophe, Unglück, Unfall, Störfall, Desaster, Apokalypse: Die Semantik dieser Begriffe bietet Überschneidungen, aber in normativer Hinsicht sehr unterschiedliche Deutungen von Extremereignissen, die hier unter ›Katastrophe‹ zunächst subsumiert werden sollen. Doch Katastrophen ›gibt‹ es im objektiven Sinne nicht: Die Natur kennt keine Katastrophen. Das heißt, dass die Menschen durch die Bezeichnung eines Ereignisses als Katastrophe diesem Ereignis einen besonderen Sinn zuweisen. Diese Sinnzuweisungspraxis hat selbst eine Geschichte und ist Teil kultureller Zusammenhänge, weshalb man von einer Kulturgeschichte der Katastrophe sprechen kann (siehe etwa: Walter 2010; Schläder / Wohlfarth 2007). Was ist eine Katastrophe? Vermutlich hat jeder eine eigene Antwort darauf, und die Schnittmenge könnte vielleicht lauten: Ein größeres unerwartetes und nicht intendiertes Ereignis, welches zu einem Unglück führt, das entweder mit einer größeren Zahl von Opfern verbunden ist oder die bestehende Ordnung erschüttert und für viele aufgrund von Zerstörungen o. ä. zu einer Ausnahmesituation wird (oder beides). Dementsprechend wird ein Autounfall nicht als Katastrophe wahrgenommen, ein Zugunglück, Schiffsunglück oder Flugzeugunglück von größerem Ausmaß hingegen schon. Die Auswirkungen eines Krieges oder eines Terrorangriffs führen häufig zu Katastrophen ähnelnden Lebensverhältnissen der Betroffenen, weil öffentliche Ordnung, Informationsfluss, Hygiene, Nahrungsbeschaffung und Behausung zusammenbrechen. Jedoch bleibt es fraglich, ob man Ereignisse wie die Bombardierung Dresdens oder

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die Zerstörung des World Trade Center als Katastrophe bezeichnen sollte: Beide Angriffe waren intendiert, während Katastrophen entweder als entfesselte, unberechenbare Naturgewalt wahrgenommen werden (Naturkatastrophe) oder als versehentlich versagende Technik (Technikkatastrophe). Schnittmengen zwischen Naturkatastrophe und Technikkatastrophe gibt es bei epidemischen Erkrankungswellen, nuklearen Katastrophen sowie Effekten des schleichenden Klimawandels. Dass Katastrophen als schicksalhaft wahrgenommen werden, als unerbittlicher Preis des Wunsches ihrer Beherrschung im Zuge des zivilisatorischen Fortschritts, hat sich erst in jüngerer Zeit verbreitet. Lange Zeit galten Sintflut, Plage, Erdbeben als Strafe Gottes (Nemesis) für menschliche Selbstüberschätzung (Hybris), als Anzeichen oder Beginn des Weltuntergangs (Apokalypse) und somit als Teil des christlichen Heilversprechens (Erlösung) als Beginn einer neuen Ordnung. Auch bei technischen Katastrophen steht neben den Rettungsmaßnahmen und dem Mitleid für die Opfer die Warum-Frage im Vordergrund: Wie konnte es dazu kommen? Einerseits sollen künftige Katastrophen durch die Klärung dieser Frage vermieden werden, andererseits muss schon hinsichtlich der Verantwortungszuweisung festgestellt werden, ob es sich um ein technisches oder menschliches Versagen handelt. Erstaunen mag, dass der Begriff Naturkatastrophe erst seit den 1970ern ein eigenes Lemma hat (vgl. Groh 2007, S. 17). Im 19. Jahrhundert wurde der aus der klassischen Dramentheorie stammende Katastrophenbegriff (Wendung zum Niedergang des tragischen Helden) auf lebensweltliche Ereignisse übertragen. Diese Entpersonalisierung des Katastrophenbegriffs zu einer überindividuellen Katastrophe im Sinne eines Unfalls, Störfalls oder Naturereignisses wird heutzutage allerdings wieder mit metaphorischen und metonymischen Mitteln rückgängig gemacht, wenn der »Schreibtisch sich in einem katastrophalen Zustand befindet« (unordentlich, wie nach einem Erdbeben) oder jemand »katastrophal aussieht« (wie nach einer Katastrophe, derangiert). Der Einbruch des Chaos in die gesellschaftliche Ordnung durch Störung oder Vernichtung der Infrastruktur (Straßen, Kommunikation, Versorgung), durch die Notwendigkeit der Evakuierung oder die Ausrufung des Ausnahmezustands verbindet die Katastrophendarstellung mit der Dystopie und der Postapokalypse, aber auch mit Schilderungen von Kriegsfolgen (Entwurzelung). Eine Erzähltheorie der Katastrophe gibt es noch nicht, welche die typischen Darstellungsweisen von Katastrophen nebst Varianten systematisch erschließt.4 4 Eva Horns jüngst erschienene Studie Zukunft als Katastrophe (Horn 2014) konnte nicht mehr systematisch einbezogen werden. Horn liefert aber ausdrücklich keine Motivgeschichte oder Erzähltheorie der Katastrophe (vgl. S. 30).

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Sie kann hier nicht entfaltet werden. Greifbar erscheint aber eine Betrachtung von typischen Figuren und Figurenkonstellationen, von Themen und Motiven und Erzählformen der Katastrophendarstellung, wie sie dem Katastrophenzuschauer – weitgehend unabhängig vom Grad der Fiktionalität und vom Darstellungsmedium der Katastrophe – bekannt vorkommen muss. Skizzenhaft vorgestellt wird deshalb ein Inventar der narrativen Katastrophendarstellung. Welche Figuren kann man in der Katastrophendarstellung beobachten? Da gibt es im Vorfeld die Warner und Propheten (Kassandren), die mitunter auch Experten sind und als Wissenschaftler Politik und Medien beraten und die Ereignisse erklären. Oft haben sie Gegenspieler in Form von Personen, die aus meist wirtschaftlichem Interesse die Warnungen relativieren. Sodann werden die Ereignisse dargestellt, erklärt oder befragt: von Kommentatorfiguren oder anderweitig interessierten Fragestellern. Im Kernbereich der Katastrophe gibt es tote und verletzte Opfer (Nebenfiguren oder bereits eingeführte ›bekannte‹ Figuren, nicht selten Kinder), zuschauende oder berichtende Zeugen der Ereignisse, Flüchtende oder zu Evakuierende (als Massen oder als eine kleine Gruppe) sowie Rettungsteams. Katastrophenmanager, meist Politiker, treten als Entscheidungsträger hervor und werden medial begleitet. Betroffene und Mitleidende (letztere entweder als Distanzierte oder als vor Ort befindliche primäre, sichtbare Beobachter, Stellvertreter, Dokumentierer) werden gezeigt bzw. kommen zu Wort. Hinzu kommen Deutende, die der Katastrophe oder ihrer Bewältigung einen Sinn geben, sich bewährende Helden, Katastrophenbekämpfer (Feuerwehr, Ärzte, Militär) und schaulustige Katastrophentouristen. Neben dem typischen Figurenensemble lassen sich die in vielen Katastrophendarstellungen verbreiteten Verlaufsmuster sowie Themen und Motive herausarbeiten. Zunächst kann man die Zeitordnung der Katastrophe in drei Bereiche unterteilen: in ein Vorfeld, in dem sich die Katastrophe anbahnt, ein Hauptfeld, in welchem sich die Katastrophe ereignet und bekämpft wird, und ein Nachfeld, in dem die öffentliche Ordnung zusammengebrochen ist, wiederhergestellt wird oder eine neue Ordnung entsteht (Postapokalypse). Mal fehlt das Vorfeld oder gar die Katastrophe selbst, wie in den Filmen Wolfzeit (F/Ö/D 2003), Stalker (UDSSR 1979) oder Chernobyl Diaries (USA 2012), wenn eine Flucht oder das Eindringen in eine verbotene Zone dargestellt wird. Entweder ist dies Teil einer Verrätselungsstrategie (Stalker), oder man weiß als Rezipient, welche reale Katastrophe den Hintergrund der Handlung liefert (Chernobyl Diaries). In der medialen Berichterstattung über reale Katastrophen fehlt häufig das Vorfeld, weil die Berichterstattung retrospektiv erfolgt und frühestens mit der einbrechenden Katastrophe einsetzt. Deshalb ist die Katastrophenberichterstattung auch von Wechseln zwischen zwei Zeiten geprägt, der Berichtzeit und der berichteten Zeit. Die Rekonstruktion der Ereigniskette, die zur Katastrophe

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führte bzw. die von jener ausgelöst wurde, erfolgt dabei allmählich, mitunter gibt es hier konkurrierende oder zunächst zu prüfende Informationen. In Katastrophenfilmen hingegen gibt es meistens nur eine Zeitstruktur, die sich linear entfaltet, allerdings häufig multiperspektivisch auf verschiedene Orte und Personengruppen aufgeteilt ist (The Day after Tomorrow (USA 2004); 2012 (USA/ CA 2009), anders aber in Restrisiko (D 2011). Klimawandel und andere Umweltkatastrophen laufen aus dramaturgischen Gründen im Spielfilm wesentlich schneller ab als in der Wirklichkeit, mitunter sogar schneller, als die Experten dies in der Diegese selbst vorausgesagt hatten, womit ein wichtiges Motiv hervortritt: Zeitdruck als Kampf gegen die Zeit im Vorfeld und im Hauptfeld (The Sinking of Japan (J 2006), 2012). Hier treten auch Gegenspieler der vorausdeutenden Experten auf, oftmals Regierungsvertreter oder Vertreter der Risikoindustrie, welche die Gefahrenlage herunterspielen oder ignorieren und somit den Zeitdruck erhöhen, weil sie schon aus dramaturgischen Gründen ›natürlich‹ unrecht haben. Nicht selten erfahren diese Vertuscher poetische Gerechtigkeit und werden von der Katastrophe vernichtet (Dante’s Peak (USA 1997)). Eine Alternative dazu stellt bei Technikkatastrophen das Motiv der Läuterung oder gar Selbstopferung dar, bei der ein Verantwortlicher verspätet zum Warner wird (»Restrisiko«) oder sein Leben gibt, um andere zu retten (Das China-Syndrom (USA 1979). In der Medienberichterstattung zu Katastrophen treten Nebenfiguren eher punktuell auf: Wiederkehrende Gesichter und Hauptfiguren sind selten. Am ehesten gibt es hier Hintergrundberichte zu besonderen Opfern (›wundersame Rettung nach xy Tagen‹) oder zu während der Katastrophe neu hervortretenden Führungsfiguren wie dem japanischen Regierungssprecher Yukio Edano als Gesicht der Atomkatastrophe von Fukushima 2011. In Katastrophenfilmen werden dagegen die Figuren zu Hauptfiguren langsam aufgebaut und begleitet, wir erfahren viele psychosoziale Details über ihr Leben (wohl nicht zufällig häufig in Form der Scheidungsfamilie o. ä., welche die kommende gesellschaftliche Unordnung im Privaten vorwegnimmt). Die Katastrophendarstellung ist oftmals von der Suche nach Wissen geprägt: Informationen zu den Ereignissen müssen erst beschafft und ausgewertet, Opfer gesucht und gezählt werden, um das Ausmaß der Katastrophe bestimmen zu können (inklusive der ständig nach oben oder unten korrigierten Opferzahlen). Dabei kann die Informationsbeschaffung auch zu einem multiperspektivischen Kampf um Wissen werden, wenn die Betreiber einer havarierten Anlage oder die zuständige Regierung keine, wenige oder falsche Informationen verbreiten (›Wir haben alles unter Kontrolle‹) und das Misstrauen der Bevölkerung mittels Demonstrationen oder Betroffeneninterviews gespiegelt wird. Eine zumindest kommunikative Ordnung wird hergestellt, indem das Katastrophenereignis durch die chronikartige Aufzählung früherer Katastrophen gleicher Kategorie

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(Atom-Katastrophen, Erdbebenkatastrophen, Flugzeugunglücke etc.) spätestens am Tag Zwei nach der Katastrophe ›normalisiert‹ wird: Der Schock des unerhörten-sinnlosen Ereignisses wird gemildert durch das indizierte Wissen darüber, dass es so etwas immer schon gegeben hat, und dass ein solches Ereignis jederzeit wieder auftreten kann (Katastrophengedächtnis). Kontrastiv dazu simulieren Live-Ticker und News-Ticker ihrerseits das Chaos der Katastrophe durch chaotische, ungeordnete Information in Form von Kurzmeldungen, die ohne eine sie strukturierende Form, scheinbar oder tatsächlich ungefiltert, montageartig aneinander gereiht sind. Auch hinzugezogene Experten ersetzen in der Medienberichterstattung den fehlenden klaren Durchblick auf die Lage: Immer wieder aufgefordert, die Lage zu erklären, können auch sie oft nur spekulieren oder aber gesichertes Wissen allgemeiner Art formulieren: ›Wir wissen nicht, ob die Kernschmelze stattgefunden hat, aber ich erkläre mal, was eine Kernschmelze ist und mit welchen Maßnahmen sie normalerweise verhindert wird.‹ Umgekehrt fehlt den Zeugenfiguren vor Ort oft das nötige Überblickswissen zur umfassenden Einschätzung der Lage. Die gibt es fernab im Lagezentrum oder in der journalistischen Synopse. Aufgrund dieser Situation gibt es nicht nur eine geordnete bzw. ungeordnete Fluchtbewegung/Evakuierung von der Katastrophe weg, sondern auch eine Bewegung zum Ort der Katastrophe hin, um Informationen zu erhalten, die Katastrophe aufzuhalten oder um private oder organisierte Rettungsmaßnahmen auszuführen. Dabei blockieren Polizei und Militär oftmals den Zugang zum Ort der Katastrophe (Sperrgebiet) und verhindern die Informationsgewinnung. Gleichzeitig erhalten sie die öffentliche Ordnung aufrecht, schützen also vor Chaos, Plünderei etc. Sie können aber nicht verhindern, dass die Infrastruktur zusammenbricht und es etwa zu Hamsterkäufen kommt. Deshalb sind vor allem Katastrophenfilme oft ein Beitrag zum ›nation building‹, indem sie das Vertrauen auf die Wirksamkeit des Staates bei Krisenereignissen dar- bzw. herstellen. Dazu gehört auch die Darstellung von solidarischem Verhalten (Oderhochwasser 1997) und Mitleid. Neben der (Wieder-)Herstellung von Vertrauen in die staatliche Macht sind Katastrophendarstellungen auch Schauplatz sowohl von individuellen Lernprozessen (die Überlebensgeschichte des Robinson Crusoe) und gesamtgesellschaftlichen (Fukushima) im Umgang mit Gefährdungslagen und Risiken (vgl. Beck 1986; Walter 2010), Lernprozesse die sowohl gelingen als auch misslingen können.

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Filmische Katastrophendiskurse Der Film mit seinen Möglichkeiten, die Schaulust der Rezipienten visuell zu befriedigen, ist sicherlich das ästhetische Katastrophenmedium schlechthin.5 Ohne Anspruch auf eine noch ausstehende Filmgeschichte der Katastrophe sollen hier einige Entwicklungslinien des Genres aufgezeigt werden. In den 1970er Jahren gab es unzählige Hollywoodproduktionen dieses Genres, welche an kollektiven Ängsten rührten: Die Airport-Filme oder Erdbeben (USA 1974) können hier paradigmatisch genannt werden, sie gelten als stilbildend für das Genre. Ein verbindendes Merkmal dieser Katastrophenklassiker ist die Verwendung paralleler Handlungsstränge, die zunehmend miteinander vermischt werden. Auch die psychosozialen Hintergrundgeschichten der Figuren (zerrüttete Ehe, Liebhaberin, Alkoholismus o. ä.) sind typisch. Nicht selten ist das dargestellte Heldentum eine Möglichkeit der moralischen Bewährung und Aufopferung nach Misserfolgen bzw. individuellen Verfehlungen in der Lebensgestaltung. Parodien wie Die unglaubliche Reise in einem verrückten Flugzeug (USA 1980) sind ein erstes Zeichen dafür, dass sich das Katastrophengenre etabliert hat. Hier wird die Kenntnis von genretypischen Plots und Motiven vorausgesetzt und mit Vorerwartungen gespielt. In der Folge kommt es zu weiteren Ausdifferenzierungen, Genreschranken werden überwunden und verschiedene Handlungsmuster miteinander vermischt: The Day After (USA 1983) und Wenn der Wind weht (USA 1986) als für die 1980er typische postapokalyptische Antikriegsfilme, Das China-Syndrom als amerikanischer Thriller, Titanic (USA 1997) als Liebesmelodram, Chernobyl Diaries als Horrorfilm. Nach der Jahrtausendwende werden zunehmend Katastrophenblockbuster produziert, deren Verlauf als fortlaufender Wechsel von Spannungsaufbau und Spannungslösung mehr Kriegsfilmen (Krieg der Sterne (USA 1977)) und Computerspielen ähnelt. Tornados, Eisstürme (The Day after Tomorrow, Eiszeit (USA 2011), Ice Twister (USA 2009) und buchstäbliche Weltuntergänge (The Sinking of Japan, 2012, Armageddon (USA 1998) sind hier die Bedrohungsszenarien, die immer häufiger als narrative Ausgestaltung des befürchteten Klimawandelszenarios dargestellt werden. Ein jüngerer Gegentrend setzt hingegen auf Psychologisierung, wenn die äußere Bedrohung zum Spiegel des Inneren wird (Take Shelter (USA 2011), Melancholia (SV/F/D 2011)). Bemerkbar ist ebenfalls, dass Autorenfilmer sich eher auf postapokalyptische Darstellungen konzentrieren (Wolfszeit, Stalker) und zugunsten der Darstellung der Ausnahmesituation als soziologischem Experiment die eigentliche Katastrophe aussparen. 5 Vgl. aber zum Katastrophenhörspiel Rothe (2009). Auf die Ikonographie der Katastrophenbilder (Floß der Medusa, Titanic, Hindenburg etc.) kann hier nicht eingegangen werden.

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Zivile Atomkatastrophen sind nur selten Thema filmisch-fiktionaler Darstellungen geworden.6 Hierzu gehören Das China-Syndrom, Silkwood (USA 1983), Atomic Twister (USA 2002), Die Wolke (D 2006), Restrisiko, Der erste Tag (Ö/F 2008), An einem Samstag (D/RUS/UC) sowie Chernobyl Diaries.7 Zwei postapokalyptische Filme konzentrieren sich auf Schutzmaßnahmen im Zuge eines Atomkriegs: The Day After und Wenn der Wind weht. Da die kriegerischen Handlungen sich auf die atomare Sprengkopfexplosion beschränken, können sie hier ebenfalls herangezogen werden. Silkwood mit Meryl Streep handelt von einer – von ihren Kindern getrennt lebenden – Arbeiterin, die Plutoniumtabletten für den Betrieb von Atomreaktoren herstellt. Nach einem Verstrahlungsfall nimmt sie Kontakt zur Gewerkschaft auf. Als das bekannt wird, ist sie plötzlich selbst innerlich verstrahlt und darf nicht mehr zur Arbeit. Ob der Arbeitgeber die Verstrahlung gezielt verursacht hat, bleibt offen, die lebens- und streitlustige Arbeiterin stirbt schließlich. In Das China-Syndrom wird ein Störfall in einem US-Atomkraftwerk zufällig von einem anwesenden Fernsehteam aufgenommen. PR-Mitarbeiter des Kraftwerks spielen den Fall gegenüber den Journalisten herunter. Die lineare Erzählstruktur zeigt dann, wie die oberste Etage des Fernsehsenders die Berichterstattung zu verhindern versucht. Der leitende Ingenieur des Kraftwerks stellt bei seiner eigenen Fehleranalyse jedoch fest, dass Bauteile nicht ausreichend geprüft wurden. Seine Intervention scheitert sowohl beim Kraftwerksbetreiber als auch beim verantwortlichen Kraftwerksbauer. Er wechselt die Seite und wird vom Verteidiger zum Kritiker. Es kommt zu Verfolgungsjagden, als der Ingenieur seine Entdeckung öffentlich beweisen will. Schließlich verhindert er mit Waffengewalt das Wiederhochfahren des Reaktors, ein Einsatzkommando erschießt ihn. Beim Anfahren kommt es zu erheblichen Beschädigungen des Kühlsystems, ein GAU bleibt jedoch aus. Eine gewisse Ähnlichkeit mit der Eskalation der Katastrophe von Fukushima weist der Film Atomic Twister auf, in dem ein Atomkraftwerk durch einen Tornado beschädigt wird und die Pumpengeneratoren ausfallen. Dadurch droht die Kühlung der Brennstäbe im Abklingbecken auszufallen. In einem Wettlauf gegen die Zeit muss Dieseltreibstoff für die Notstromaggregate herangeschafft werden. Anders als in der Wirklichkeit gibt es eine Rettung in letzter Minute. Die Literaturverfilmung Die Wolke ist eine Flucht- und Rekonvaleszenzgeschichte nebst Liebesgeschichte und konzentriert sich auf die panische Reaktion der Bevölkerung. Angst, Unwissen, Solidarität, Egoismus, Entmutigung und Auf6 Dies wird auch andernorts problematisiert: http://www.kinofenster.de/film-des-monats/ar chiv-film-des-monats/kf1105/das-atom-im-film/ [15. 12. 2014]. 7 Weitere Filme, die nur schwer erhältlich sind: Großalarm (USA 1977), Nadjas Dorf (1997), Raspad (UDSSR 1990), Das letzte Testament (USA 1983).

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opferung werden durch zwei Geschwister sichtbar gemacht, von denen der Jüngere während der Flucht durch einen Verkehrsunfall umkommt und die ältere sich kurz darauf selbst verstrahlt und dann in eine Strahlenklinik für Kinder kommt. Restrisiko, eine jüngere deutsche Fernsehproduktion mit Ulrike Folkerts, übernimmt eine Reihe von Motiven von Das China-Syndrom. Hier wird aber nicht linear erzählt, sondern die Erzählung wechselt, die Aufmerksamkeit des Zuschauers erheblich herausfordernd, fortlaufend zwischen zwei Zeitebenen: vor der Katastrophe und nach dem Unfall. Eine Kraftwerksingenieurin, geschieden, mit zwei Kindern, die vorrangig bei ihrem Exmann leben – der ein kritischer Journalist ist und später über brisante Informationen verfügt –, ist von ihrer Arbeit völlig überzeugt, bis der mysteriöse Unfalltod eines befreundeten älteren Mitarbeiters sowie ein Störfall im Atomkraftwerk sie zu einer Gegnerin der Betreiber werden lässt. Als solche gelingt es ihr sogar, den von dem Kraftwerksunternehmen hinzugezogenen eiskalten PR-Experten auf ihre Seite zu ziehen. Gemeinsam recherchieren sie in der verbotenen verstrahlten Zone und finden schließlich – schneller als die Gegenseite – die vom verstorbenen Mitarbeiter versteckten Informationen über Schlamperei beim Kraftwerksbau durch den Einsatz von Fremdarbeitern. Damit können sie beim parlamentarischen Untersuchungsausschuss eine Abschaltung des AKW und einen Baustopp erreichen und eine Mitschuld der Ingenieurin am Störfall ausräumen. Trotz der raffinierten Erzählweise ist der Film letztlich eine klassische, vielleicht allzu direkt belehrende Läuterungsgeschichte: Am Beispiel der Ingenieurin wird vorgeführt, wie der Zuschauer seine Einstellung gegenüber der zivilen Nutzung von Kernenergie ändern soll. Dazu gibt es böse (= verharmlosende) Interessenvertreter, einen zunächst schwachen Staat, hilflose Menschen sowie Missbrauch allerorten, wenn beispielsweise verstrahlte Äpfel aus der Sperrzone nicht vernichtet werden und in den normalen Verkauf gelangen. Die österreichische Produktion »Der erste Tag« verlagert die Bedrohung ins benachbarte Tschechien, wo es frühmorgens einen Störfall gibt. Die Verlagerung des Unfalls in ein anderes Land ist erzähltechnisch geschickt, denn es macht das unsichtbare Phänomen aufgrund der Landesgrenzen und Zuständigkeiten dramaturgisch noch unsichtbarer und plausibler : man kann nicht nachsehen, wo es brennt – und wie. Der Film erzählt linear den im Tagesverlauf langsam anfahrenden Katastrophenschutz, der zunächst in Informationsgewinnung besteht, da die tschechischen Behörden kaum Informationen liefern: Gibt es erhöhte radioaktive Werte? Sind sie zu erwarten oder nicht? Soll man evakuieren oder nicht? Wie ist die Wetterlage, insbesondere die Windrichtung? In keinem anderen Film gibt es so viele Faxe, SMS und Anrufe, welche die ganz klassisch auf ein halbes Dutzend Erzählstränge verteilte Handlung vorantreiben. Es gibt Verstrahlungen, weil eine Wanderin, ein Bauer und ein Liebespaar von der

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Bedrohung durch die Gewitterwolke nichts wissen. Der heldenhafte Vater eines Jungen begibt sich illegal in die Sperrzone, um seinen Sohn zu retten, und wird ebenfalls verstrahlt. Bei der Dekontamination hilft die ABC-Schutztruppe des Militärs. Überhaupt wird das Katastrophenmanagement fast wie in einem staatlichen Lehrfilm als angemessen und erfolgreich dargestellt. Selbst die Evakuierung erfolgt weitgehend reibungslos und ohne Chaos, die hochschwangere Frau des Mitarbeiters im Lagezentrum kann sich privat in die Berge retten. Lediglich die Frühwarnerfigur, ein Bäcker mit Kontakten nach Tschechien, auf den der Bürgermeister zunächst nicht hören will, wird – selbstverschuldet – von einem Auto überfahren.8 An einem Samstag ist einer von bislang nur zwei Spielfilmen über die Katastrophe von Tschernobyl (Dokumentarfilme hierzu gibt es viel mehr). Das Katastrophengenre wird hier gegen den Strich gebürstet, indem bestimmte Elemente fehlen und die erwartete Entfaltung der Fluchtgeschichte nicht geliefert wird. Ein junger Funktionär erfährt zufällig frühzeitig von dem Unglück und will mit seiner Freundin flüchten. Die Flucht wird durch äußere Umstände verhindert: Ein Schuh ist kaputt, ein Pass fehlt, der Zug ist weg. Das Leben in der Stadt geht weiter, die ahnungslos gelassene Bevölkerung genießt den Frühlingsbeginn. Die ehemalige Band des Funktionärs spielt auf einer Hochzeit, er springt für den betrunkenen Schlagzeuger ein und spielt mit. Das Leben geht weiter, die Flucht wird vergessen. Der Film Chernobyl Diaries benutzt die Katastrophenerzählung als Rahmung für einen Horrorfilm im Nachfeld der Katastrophe: Zwei junge Touristenpaare werden angesprochen und lassen sich darauf ein, von einem Einheimischen in die Sperrzone von Tschernobyl gefahren zu werden, um dort Sightseeing zu machen und in Pripyat die menschenleere, gespenstische Atmosphäre zu erleben. Die Strahlendosis stellt kein Problem dar. Jedoch werden sie vor Ort von einer Hundemeute verfolgt, dann macht der Kleinbus schlapp. Es wird dunkel. Der Führer begibt sich zu Fuß auf die Suche nach Ersatzteilen, man hört Schüsse. Draußen scheint es doch Leben zu geben, unsichtbar bleibende Mutanten fallen die Touristen an. Dann verschwindet eine Figur nach der anderen, die verbleibenden machen sich auf die Suche nach dem Fahrer in den umliegenden Kellergebäuden. Eine Polizeistreife stellt die beiden letzten Überlebenden, erschießt den Mann und verhört die Frau, die dann in einer Zelle als letzte Überlebende ebenfalls von Mutanten angegriffen wird.9 Der Autor, Filmemacher und Fernsehproduzent Alexander Kluge hat einen ganz anderen Ansatz als die Spielfilmregisseure von Atomkatastrophenfilmen. 8 Es sei darauf verwiesen, dass die Schauspieler österreichischen Dialekt sprechen. 9 Die Filme The Day After, Wenn der Wind weht, Stalker und Opfer (SV/F 1986) seien hier nur noch erwähnt, da der Raum fehlt, sie vorzustellen.

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Er bewegt sich mit seinen Kurzfilmen zwischen faktualer und fiktionaler Narration. Einerseits hat er in der ersten Dekade nach dem Unglück von Tschernobyl mit Beteiligten der Katastrophenbekämpfung von Tschernobyl Interviews geführt.10 Zu Wort kommen der Fotograf der Katastrophe, ein leitender General, der die Soldaten für den Aufräumeinsatz auf dem verstrahlten Dach des Reaktorblocks instruiert, die Witwe eines verstorbenen Ersthelfers, Wissenschaftler, Ärzte etc. Die Interviews sind mit Archivmaterial kombiniert, teilweise auch mit thematisch einschlägigen Erzählungen von Alexander Kluge. Diese Erzählungen werden auf eine ungewöhnliche Weise präsentiert: Als Folge von Filmstills mit jeweils meist drei bis sieben bunten Worten auf schwarzem Grund, die für ein paar Sekunden eingeblendet werden, bevor das nächste »Wortbild« folgt. Nicht selten sind die Wörter in einer bestimmten Weise in der Sehfläche verteilt oder es wird eine semantisierbare Typographie verwendet, so dass die Form den Inhalt spiegelt bzw. unterstreicht. Diese Verlangsamung der Darstellung bzw. der Rezeption und die Verwendung von Geschriebenem sind neben den irritierenden Montage- und Collageverfahren typische Gestaltungselemente von Kluges modernistischem audiovisuellen Erzählen, welches in der Forschung zu Recht als Anti-Fernsehen bezeichnet wird (vgl. Uecker 2000), weil es den Sehgewohnheiten der meisten Fernsehzuschauer völlig widerspricht. Im Rahmen dieses Aufsatzes kann diese Ästhetik nur exemplarisch anhand eines Films dargestellt werden.

Literarische Katastrophendiskurse Katastrophen wollen erzählt werden. Das berichtet uns Alexander Kluge autobiografisch angesichts seiner Enttäuschung, als nach dem Luftangriff auf Halberstadt 1945 die Schule am nächsten Tag geschlossen bleibt und er seine Erlebnisse nicht mitteilen kann und für sich behalten muss (Kluge 2012b). Erzählen ist eine Verarbeitungsstrategie für Erlebtes und Unbegriffenes. Zugleich stiftet es bzw. versichert es Gemeinschaft: Man will sich mit-teilen. Das gilt nicht nur für das unmittelbare Katastrophenerleben, sondern bereits für ihre Erwartung in wiederkehrenden Szenarien (Lawinenunglücke und Erdrutsche, Überflutungen). Auch wenn man selbst gar nicht von einer Katastrophe betroffen ist, die gerade auf der anderen Seite der Welt stattfindet, greift man häufig zum Telefon und kontaktiert den Partner, die Eltern, seine Kinder, so sehr ist man schon als indirekt Betroffener aus der Bahn geworfen (innere Unordnung). 10 Diese Interviews sind sowohl auf seiner Plattform dctp.tv archiviert (teilweise auch in der DVD-Box Seen sind für Fische Inseln (D 2008) enthalten), als auch transkribiert im Buch Die Wächter des Sarkophags.

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Dennoch gibt es bislang keine umfassende Literaturgeschichte der Katastrophe. Das macht die Suche nach einschlägigen Texten schwierig. Man muss nach speziellen Motiven und Themen suchen, zum Beispiel der Robinsonade, der Apokalypse oder nach Schiffsuntergängen. Fündig wird man bei der Lektüre von Balladen (z. B. Fontane: Die Brück’ am Tay) und Novellen (Kleist: Das Erdbeben in Chili, Storm: Der Schimmelreiter, Th. Mann: Das Eisenbahnunglück), in der Unterhaltungsliteratur (Schätzing: Der Schwarm) und in Comic und Science-Fiction. In der Gegenwartsliteratur wird die Suche schwieriger, weshalb hier einige Titel genannt werden: Peter Weiss folgt in der Ästhetik des Widerstands einem weiten Katastrophenbegriff, der neben Schiffsunglücken auch Kriegsszenarien wie Luftangriffe enthält, die er meist nicht direkt beschreibt, sondern ihre Darstellung in den Künsten verfolgt (Gericault: Das Floß der Medusa; Picasso: Guernica etc.). Enzensberger lehnt sich in seiner anspruchsvollen Komödie Der Untergang der Titanic an Dantes Göttliche Komödie an, Günter Grass liefert eine Postapokalypse (Die Rättin) und einen kriegsbedingten Schiffsuntergang (Im Krebsgang). Gudrun Pausewang hat mit Die Wolke zeitnah zu Tschernobyl einen Schulklassiker für Jugendliche verfasst, die tragische Fluchtgeschichte eines Geschwisterpaares. Jüngst hat sich Kathrin Röggla auf die Katastrophenrezipienten, den medialen Katastrophendiskurs und die Katastrophenindustrie konzentriert und in der Sammlung die alarmbereiten eine Auftakterzählung über Katastrophentouristen vorgelegt, welche am Ort der Katastrophe in einer Art VHS-Exkursion ihr Wissen über typische Katastrophenverläufe erweitern bzw. unter Beweis stellen müssen (weitere Texte in Röggla 2013). Aufgrund der komplexen Erzählweise ist auch Dietmar Daths surreal anmutender Roman Deutschland macht dicht eine herausfordernde Lektüre der neuesten deutschen Katastrophenliteratur. Bei Alexander Kluge wird man immer wieder fündig: Seien es Lawinenunglücke, U-Boot-Untergänge, Feuerwehrgeschichten zum 11. September, insbesondere aber das Kapitel »Kann ein Gemeinwesen Ich sagen?/Tschernobyl« in der Erzählsammlung Die Lücke, die der Teufel läßt von 2003 über das Katastrophenmanagement beim Super-GAU von Tschernobyl 1986. Dort sind ein halbes Hundert Geschichten zum russischen Reaktorunglück sowie dessen Vorgeschichte und Nachgeschichte versammelt. In Die Lesbarkeit von Zeichen berichtet er von einem Akademiemitglied, welches die semiotische Frage verfolgt, wie man über einen unvorstellbaren Zeitraum hinweg die Menschen vor Annäherung an verstrahlte Gebiete warnen könne: Historische Zeichensysteme kennen wir erst seit vielleicht 10000 Jahren, die Halbwertszeiten der strahlenden Teilchen liegen teilweise im sechsstelligen Bereich. Die Halbwertszeit der politischen Führung lag nach der Katastrophe von Tschernobyl hingegen im unteren einstelligen Bereich. Deshalb beobachtet Alexander Kluge den Umgang der Regierung mit der Herausforderung: Es geht um das Katastrophenmanagement.

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Er berichtet von negativen Kompetenzstreits, weil keiner der hochrangigen Regierungsvertreter die Entscheidungsgewalt vor Ort übernehmen will, er erzählt von der gefährlichen Bergung von verstrahlten Datenträgern, mutigen Tauchern, versagenden Robotern, dem Konflikt mit dem Militär, welches den Ort als Spielplatz für ABC-Einsätze testen will, von dem Abfangen westlicher Spione, welche ihrerseits beobachten wollen, ob der Klassenfeind bei atomaren Herausforderungen handlungsfähig bleibt, dem Zwang zur Improvisation und dem Improvisationstalent der Beteiligten, dem Verlust von Wissen durch Tod der Beteiligten, von der generalstabsmäßigen Evakuierung der Bevölkerung und der bizarren Chuzpe eines US-amerikanischen Atomkraftwerkbauers, eine gigantische Stahlhalle über dem zubetonierten Reaktorblock (Sarkophag) als Schutzbauwerk und als Arbeitsplatz für die künftigen Konservierungsarbeiten bauen zu wollen. Das kaleidoskopisch angelegte Kapitel kann daher insgesamt als eine Art Anti-Bildungsroman gelesen werden: Nichterfahrung wird vorgeführt. Auch in seiner zwölf Jahre später erschienenen Erzählsammlung Das fünfte Buch geht Kluge, nunmehr rasch reagierend, mit einem ganzen Kapitel auf das Erdbeben in Japan, den Tsunami, vor allem aber auf die Katastrophe von Fukushima ein. Wusste man einst aufgrund der politischen Spaltung der Welt wenig über die Ereignisse in Tschernobyl, weiß der zeitgenössische Katastrophenrezipient zumindest zeitgleich genauso wenig über die Lage im Atomkraftwerk wie die Verantwortlichen, die Politiker und die Ingenieure vor Ort. Mangels Helden werden Ersatzhelden geschaffen: der japanische Regierungssprecher Yukio Edano, welcher ununterbrochen und unermüdlich den Medien Rede und Antwort steht, bekommt eine twitternde Fangemeinde, die sich um seine Gesundheit sorgt. Kleine Helden sind Roboter, die als neuronales Netzwerk wie eine Hundemeute sich neugierig dem Katastrophenort nähern, lernbegierig.11

Allgemeine Didaktik der Katastrophe Eine Didaktik der Katastrophe kann es für das Fach Deutsch im Sinne einer Vorbereitung auf den Ernstfall nicht geben: Diese entspräche entweder einer seelsorgerischen bzw. therapeutischen Praxis als Umgang mit traumatisierenden Erlebnissen oder einer Katastrophenschutzübung als Umgang mit betroffenen Bevölkerungsgruppen samt Rettungs-und Evakuierungsmanagement. Deutschunterricht kann und darf das nicht leisten: Therapie gehört nicht in den Bereich schulischer Aufgaben – zumindest im Normalfall. Gleichwohl erinnern sich angehende Deutschlehrende sehr gut daran, dass sie sich bei medial ver11 Vgl. ausführlicher dazu Pflugmacher 2012.

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mittelten Katastrophenereignissen von ihren Lehrern allein gelassen gefühlt hatten. Deshalb versprechen sie als künftige Lehrer mehr Gesprächsbereitschaft und wollen die emotionale Seite mit berücksichtigen.12 Dies ist ein Hinweis auf die psychischen Implikationen auch bei ›nur‹ medial erlebten Katastrophen. Man erlebt nicht nur, wie die Katastrophe die Ordnung des Alltags und die gesellschaftliche Ordnung im Katastrophengebiet überformt und zerstört, auch die eigene innere Ordnung ist gestört. Intuitiv will man helfen und kann nicht, man will die Sinnlosigkeit des betrachteten Leids verstehen und kann das nicht. Man ist entsetzt, aus der Spur geraten, moralisch entrüstet: Es kann doch nicht sein, was nicht sein darf! Viele der medial basierten Katastrophenerinnerungen von Studierenden enthalten dann auch das Element der Kontaktsuche. Die Mutter/Freundin wird angerufen oder ruft an, man will sich mit-teilen, Gemeinschaft herstellen, sich versichern, das alles doch in Ordnung ist, oder die Hilflosigkeit verarbeiten nicht eingreifen zu können bei dem, was man in den Medienbildern entfernter Ereignisse sieht. Daraus ergeben sich Ziele für die Thematisierung von Katastrophen im Deutschunterricht: Die Ebenen der von einer Katastrophe generierten Unordnung (psychische, gesellschaftliche, infrastrukturelle) sollten erkannt werden sowie die Möglichkeiten einer Wiederherstellung auf der psychischen Ebene: Durch Gespräche, Briefe und eigene Erzählungen, durch Erinnerung an vergangene Katastrophen(erlebnisse), durch Benennung der eigenen Unruhe (Mitleid, Hilflosigkeit, Angst etc.). Dabei wird erkannt, dass Katastrophen nach Deutungen verlangen: Die Sinnlosigkeit fordert geradezu, ersetzt zu werden. Dazu gehört die Suche nach Ursachenerklärungen und der Benennung von Verantwortlichen, die Kritik an der Hybris des Menschen im Umgang mit Risikotechnologien oder der Umwelt, die Empfindung der Katastrophe als Strafe, Neuordnung oder Erlösung. Gefragt werden sollte auch, welche Funktion über die Informationsfunktion hinaus die Verknüpfung der Katastrophe mit einer Chronik ähnlicher Katastrophenereignisse am Tag Zwei nach dem Ereignis in diesem Zusammenhang haben könnte (Normalisierung, Ein-Ordnung). Eigene Deutungsmuster sollen erkannt und befragt sowie mit zeitgenössischen oder mythisch-religiösen Deutungen verglichen werden (z. B. Sintflut). Die Schüler sollen ggfs. lernen, ihr eigenes Nichtverstehen anzuerkennen und auszuhalten und einen begründeten individuellen Umgang mit dem ethischen Aspekt der Katastrophenschaulust finden: Dies kann in Auseinandersetzung mit den Filmen Thrill Seekers (USA 1999) und Timescape (USA 2003) erfolgen, aber auch mit dem zynisch-grotesken Vor-Ort-Katastrophenbeobachtungsseminar in Kathrin Rögglas die alarmbereiten und dem grotesk-humorvollen Helge Schneider als zurückgekehrtem THW-Katastrophenhelfer im Interview mit 12 Ergebnis einer schriftlichen Befragung von Seminarteilnehmern an der Universität Mainz.

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Alexander Kluge. Darin berichtet Schneider, wie er vor Ort in Fukushima mit Akkordeon und Fön bei den Trockenlegungsarbeiten in Fukushima half und als Reisemitbringsel für seine Familie kleine Döschen mit Plutonium und Strontium mitgenommen hat. Darf man das Katastrophenthema zynisch oder humorvoll aufgreifen? Oftmals verschlägt eine Katastrophe selbst den Medien zunächst die Sprache.13 Nicht zuletzt die Diskrepanz zwischen der verbreiteten Kritik an Katastrophenschaulustigen, den »Gaffern«, und dem eigenen »sensation seeking« beim Besuch von Katastrophenfilmen im Kino ist eine Herausforderung für die individuelle (jedoch angeleitete) Reflexion: Warum kritisieren wir im Alltag das, was wir zur Unterhaltung sonst gerne erleben? Zur Versachlichung einer solchen Diskussion trägt auch bei, wenn man sich die Zeit nimmt zu klären, was die Schüler jeweils als Katastrophe verstehen und was nicht. Diese Klärung kann auch angebahnt werden durch die Diskussion der Entgrenzung der Katastrophenwahrnehmung als Katastrophenrhetorik im alltagssprachlichen Gebrauch: Männer und andere Katastrophen (ein Buchtitel), Deine Frisur ist katastrophal, Hier sieht es aus wie nach einer Katastrophe. Ziel wäre, dass die Schüler anerkennen, sehr Unterschiedliches mit ›Katastrophe‹ zu verbinden: Diese Unterschiede zu erarbeiten ist bereits ein (notwendiger) Erkenntnisgewinn, weil dadurch emotionalisierte Diskussionen aufgrund unterschiedlicher Prämissen durch Versachlichung entschärft werden. Die Didaktik der Katastrophe setzt neben dieser aufarbeitenden Integration der Schülerperspektiven vor allem auf eine Versachlichung der Katastrophenwahrnehmung im Medium des Faches. Schüler erhalten damit nicht nur exemplarische Einblicke in die typischen formalen und inhaltlichen Elemente eines Genres. Sie haben in gesteigerter Form an beiden Auseinandersetzungen, dem Betroffenheitsdiskurs und dem Versachlichungsdiskurs, teil und berücksichtigen dabei beide Seiten. Eine Didaktik der Katastrophe kommt weniger bei akuten realen Katastrophen zum Einsatz, sondern vor allem bei der Auseinandersetzung mit ästhetischen, fiktionalen Katastrophendarstellungen in Literatur und Film. Dies kann jedoch nicht an den Interessen der Lernenden vorbei erfolgen. Darin besteht die literaturpädagogische Herausforderung des Themas. Gerade die Auseinandersetzung mit Katastrophenformaten abseits von realer oder medienrealer Betroffenheit erlaubt jedoch, handlungsentlastet bzw. emotional entlastet die spezifischen Formatierungen zu beobachten und zu bestimmen, mit denen eine Gesellschaft mit Katastrophenereignissen umgeht. Darüber hinaus geht es auch darum, das Nichtverstehen im Umgang mit Katastrophen auszuhalten. Konkret bedeutet das, Sinnzuweisungspraktiken nach13 So stellten die Titelbilder der FAZ, welche sonst kunstvoll-anspielungsreich als Gefüge aus Bild und Legende bestehen, die Folgen des Tsunami vom 11. März 2011 tagelang unkommentiert dar : sprachlos.

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zuvollziehen und zu vergleichen, also die individuellen oder auch die diskursiven (politischer Diskurs, medialer Diskurs) Versuche, das kontingente Ereignis zu motivieren (z. B. nation building). Weiterhin ist die Didaktik der Katastrophe auch Teil einer Genredidaktik, insofern zu ihren Zielen gehört, ein Bewusstsein für genrespezifische Elemente zu entwickeln. Das sind die bereits aufgezählten Figuren, Dramaturgien, Themen und Motive, welche zum Inventar der ästhetischen Katastrophendarstellungen gehören: misslingende und gelingende Lernprozesse, mehrsträngiges Erzählen, Verflechtung von privaten Mikrokatastrophen und der großen Katastrophe, zentrifugale (Flucht) und zentripetale (Rettung) Bewegungen, Helden und Gegenspieler, Kampf um Zeit, Kampf um Wissen, Katastrophenmanagement, dramaturgische Mittel der Beruhigung und Beunruhigung. Die Schüler erkennen und betrachten vergleichend diese und andere Elemente als Gestaltungsmittel der Katastrophennarration (z. B. in ausdifferenzierten, individualisierten Beobachtungsaufträgen). Sehr sinnvoll ist die Einführung der Unterscheidung von Vorfeld, Hauptfeld und Nachfeld der Katastrophendarstellung. Sie ermöglicht nicht nur eine systematischere Beschreibung der Zeitstruktur von spezifischen Katastrophennarrationen, sondern erleichtert auch das Erkennen von Unterschieden der Katastrophennarration beim Vergleich verschiedener Katastrophenerzählungen: einerseits die Ausdifferenzierung des Katastrophengenres im Film, andererseits der Vergleich von Narrationsmustern realer Katastrophen in den berichterstattenden Medien mit fiktionalen Katastrophennarrationen hinsichtlich beobachtbarer Gemeinsamkeiten und Unterschiede (zwei Zeitebenen versus eine, Nachfeldschwerpunkt versus Vorfeldschwerpunkt, Helfer und Manager versus Helden, etc.). Insofern lernen die Schüler hierbei die Formate der Katastrophenwahrnehmung und Fragen der Katastrophendarstellung als Teil ihrer Kulturgeschichte zu begreifen, zu akzeptieren und doch zu befragen. Katastrophenereignisse fordern zwar zur Einfühlung in Personen v. a. Opfer und Flüchtlinge auf, jedoch scheint es darüber hinaus eine mimetische Einfühlung in Situationen und Konstellationen zu geben, welche von Katastrophendarstellungen in besonderer Weise herausgefordert wird. Die Erzählungen von Alexander Kluge bieten für diese antipsychologische Einfühlung zahlreiche Beispiele und Gelegenheiten, die nur indirekt den Gefühlsanteil bei großen Entscheidungen thematisieren: »Ein Gehäuse aus Stahl für Tschernobyl«, »Lesbarkeit von Zeichen«, »Evakuierung von Pripjet«, etc. Diese Einfühlung in herausfordernde Entscheidungssituationen, in den Kampf um Wissen durch Rekonstruktion, kann durch eine Collage von ausgewählten Erzählungen Kluges mit Ausschnitten aus einschlägigen Katastrophenfilmen (2012, The Day After Tomorrow, Airport) herausgearbeitet werden. Diese andere Art der vorgeführten und herausgeforderten Einfühlung bei Alexander Kluge, aber nicht zuletzt auch

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das Auftreten von unterschiedlich ausgeprägten (männlichen) Heldenfiguren, die sich in Krisensituationen bewähren müssen, ist im Sinne der Leseförderung für Jungen ein Argument für das Aufgreifen von Katastrophendarstellungen im Deutschunterricht. Katastrophennarrationen bieten Themen, nutzen Handlungsmuster und haben Identifikationspotentiale, die bei den vergleichsweise weniger und nicht lesenden Jungen Interesse wecken und Lesemotivation stiften können. Wie macht man eine Katastrophe? Mit dieser Frage sollten Schüler provokativ konfrontiert werden, um für die Formate der Katastrophennarration auch im nichtfiktionalen Bereich sensibilisiert zu werden. Das Spektrum der methodischen Möglichkeiten zur Beantwortung dieser Frage ist breit: Die Schüler können sowohl vorhandene Katastrophenfilme analysieren, oder aber sie konstruieren Drehbuchideen, ein Grundgerüst, die Erzählintention, die Übernahme von Mustern aus Film und Berichterstattung.

Spezielle Didaktik der Katastrophe: Atomkatastrophen Atomkatastrophen sind eine besondere Herausforderung für die Einbildungskraft: Wir können radioaktive Strahlung nicht sinnlich wahrnehmen, es braucht Messgeräte – oder aber Vorstellungskraft. Die Kraftwerke von Tschernobyl und Fukushima sind nicht homogen verstrahlt. Es gibt sichere Bereiche, Zonen mit geringer Strahlung, doch schon der Schritt um die nächste Ecke kann zu einer heftigen, tödlichen Verstrahlung führen. Mit dem Geigerzähler in der Hand nimmt man seine Umgebung ganz anders wahr, und auch Opfer sind plötzlich nicht nur Opfer, sondern gefährlich – sie strahlen – und werden damit zum Entsorgungsproblem.14 Auch die Folgen sind kaum begreifbar, sowohl was die Zeiträume der Verstrahlung betrifft, als auch die Spätfolgen bei Strahlenopfern: Krebs (sieht man einmal von der teratogenen Wirkung ab, die zu Missgeburten schon bald nach dem Ereignis führt, sowie derart hohen Strahlendosen, die innerhalb kürzester Zeit zum Tod des Verstrahlten führen) tritt mit erhöhter Wahrscheinlichkeit mitunter erst Jahrzehnte nach dem Verstrahlungsereignis auf. Wie kann man das Unsichtbare und nur schwer Vorstellbare dennoch darstellen? Typische Motive sind die Angst vor der atomaren Bedrohung und die Verhinderung der Atomkatastrophe, die Darstellung von Evakuierungsmaßnahmen und die Einrichtung von Sperrgebieten als geheimnisvolle Zonen, in denen die Zeit stillsteht und die Natur sich die urbanen Landschaften zurückerobert. Oder das Darstellungsproblem wird in der Darstellung selbst thematisch – wobei 14 Vgl. Erfahrungsschwund; Verbrannte Seelen, in Kluge (2003), S. 182 f.; S. 160 f.

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Selbstbezüglichkeit eher in der Literatur zu finden ist als im Spielfilm. Diese ästhetische Herausforderung ist der zentrale Fokus einer Literaturdidaktik der Atomkatastrophe. Weitere Erschließungsfragen betreffen Aspekte, die man auch in anderen Subgenres der Katastrophennarration finden kann: Wie erfolgt die Verteilung von ethisch gewünschtem und ethisch kritikwürdigem Verhalten auf die Figuren? Werden Lernprozesse vorgeführt? Welche Aufklärungsabsichten (Umgang mit Atomkraft) des Autors bzw. Regisseurs hat das Werk? Wie wird der für die Atomkatastrophennarration typische Kampf um Information inszeniert? Aufgrund der kurzen Rezeptionsdauer von Spielfilmen im Vergleich zu Romanen ist die ansonsten eher akademische Praxis des Vergleichens von Erzählmustern bei Atomkatastrophenfilmen bereits ab der späten Sekundarstufe I möglich. Im Rahmen der vergleichenden Erschließung der Filmerzählungen sollten auf jeden Fall Phasen des Entdeckens, des Zeigens und der Reflexion (Was macht man eigentlich, wenn man vergleicht?) miteinander abwechseln, um weder die Schüler durch eine zu starke Vorstrukturierung von der Erschließungsneugier zu entfremden (vorgefertigte Vergleichstabellen, wie man sie von der Literaturverfilmungsanalyse kennt), noch sie vergleichen zu lassen, ohne vorher gemeinsam Kriterien dafür entwickelt zu haben. Ähnlich wie bei Inszenierungsanalysen sollte der Lehrer Beobachtungsaufgaben mit seinen Schülern gemeinsam entwickeln oder ggfs. vorschlagen: Beschreibung der Helden, der Vertuscher, der Opfer, der Katastrophenmanager, der Handlungsmotive, der Entwicklungsprozesse, der Lernprozesse, der Rolle von Medienöffentlichkeit, der Zeitstruktur, des Informationsgewinns; Beschreibung der unsichtbaren Gefahr, der Angst. Parallel dazu sollten Schüler recherchieren und lernen, dabei gewonnene Kontexte zu Sachfragen (Welche Strahlungsarten gibt es, wie kann man sich schützen?) bzw. Diskussionszusammenhängen (Endlagerfrage etc.) aufzubereiten und sachgemäß bereitzustellen. Ein zweiter Zugang kann manche der generierten und verfolgten Fragen aus der Filmbetrachtung aufgreifen und diese bei der Lektüre der Geschichten von Alexander Kluge zu Tschernobyl und Fukushima wiederholen. Grundsätzlich wäre zu fragen, ob man im Unterrichtsverlauf alle Geschichten dazu liest – im Sinne der Erschließung eines kaleidoskopischen Anti-Bildungsromans –, oder ob man nur wenige oder gar nur eine einzelne Erzählung thematisieren möchte. Bei nur wenigen Geschichten sollte die didaktische Vorauswahl des Lehrers Erzählungen zum Informationsgewinn15, zum Beobachterstatus16, zur Frage der Endzeitlagerung17, zum Mut der Helfer18, zur Konstruktion von 15 Kein Meßgerät paßt zur Lage; Der Augenblick der Katastrophe, in Kluge 2003, S. 149; S. 151 f. 16 Ein Paradies für Agenten/Wir fingen sie beim Abflug, in Kluge 2003, S. 154 ff. 17 Verantwortung für dreihunderttausend Jahre; Lesbarkeit von Zeichen, in Kluge (2003), S. 130 f.; S. 174 f. 18 Vergessenes Wasserbecken unterhalb des Reaktors, in Kluge 2003, S. 181 f.

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Helden19, zur Rolle von Technik bei der Katastrophenbekämpfung20, zu Fragen der Evakuierung21 und zum Katastrophenmanagement22 beinhalten. Erzähltheoretisch interessant ist ein bei Kluge wiederholt anzutreffendes Muster, den klassischen auktorialen Erzähler in zwei Instanzen aufzuteilen, die während der Darstellung der Ereignisse um eine einheitliche Interpretation ringen: Ihre Informationen ergänzen sich, widersprechen sich, streiten um die korrekte Erinnerung, etc. Diese neugierige Fragehaltung können Schüler selbst entwickeln und Dialoge zu den kleinen Erzählungen und Prosafragmenten von Kluge oder zu Ausschnitten aus Pausewangs Die Wolke entwerfen. Nicht zuletzt die Frage nach der »Lesbarkeit von Zeichen« sollte ein kulturökologischer Deutschunterricht unbedingt aufgreifen, geht es doch um die Frage, wie man für zukünftige Generationen haltbare und eindeutige Warnzeichen entwickeln kann. Die Schüler sollen selbst Entwürfe anfertigen, diskutieren und überarbeiten: Ein Grundkurs in Sachen Semiotik und über die Kontrolle von Bedeutung durch den Autor. Diese Entwürfe können auch collageartig benutzt werden, um die Erzählung als Wort-Bild-Musik-Collage im Stile Kluges filmisch zu visualisieren. Anregungen dazu liefert Kluges Verfilmung Ein Gehäuse aus Stahl für Tschernobyl. Bilanzierend kann festgehalten werden: Die Darstellungen von Atomkatastrophen in Literatur und Film sind zumeist niedrigschwellige ästhetische Gegenstände für einen Literaturunterricht, der thematisch der (ästhetischen) Lebenswelt der adoleszenten Schüler nahe steht, seien es Allmachts-, Untergangsoder Ohnmachtsfantasien. Sowohl kulturwissenschaftliche als auch literaturwissenschaftliche Denkweisen, Kategorien und Methoden werden in der vergleichenden Auseinandersetzung mit Atomkatastrophendarstellungen eingeübt und fördern zentrale Kompetenzen im Umgang mit Texten und Medien sowie in den Lernbereichen Lesen und Schreiben.

19 Sie waren froh, in der Not beieinander zu sein/Lob der Kommunikation; Ein Rechner namens Skala, in Kluge 2012a, S. 54; Kluge 2003, S. 153 f. 20 Eine sich vergesellschaftende Rotte von Robotern, in Kluge 2012a, S. 59 f. 21 Evakuierung von Pripjet; Eine Metropole von 37 Millionen Menschen, in Kluge 2003, S. 170; Kluge 2012a, S. 46 f. 22 Unterschied von Feigheit und Besonnenheit; Menschen wie Gras, das nachwächst/Wie schön, kein Vorsitzender zu sein, in Kluge 2003, S. 162 ff.

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Musik Gustav : »Alles renkt sich wieder ein«, verfügbar unter : http://www.dctp.tv/#/filme/sehn sucht-nach-der-naechsten-katastrophe/ [21. 12. 2014]

Kapitel 2: Männer und Frauen – Künstliche Körper

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Tauschverhältnisse zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur in Literatur und Didaktik: E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann und Gottfried Kellers Pankraz, der Schmoller

Die Themen Natur und Umwelt gewinnen im Bildungs- und Erziehungsbereich zunehmend an Bedeutung: In einer 2007 unterzeichneten Vereinbarung empfehlen die Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland (KMK) und die Deutsche UNESCO-Kommission (DUK) »Erziehung zu nachhaltiger Entwicklung in Schulen«1; an der Universität Siegen wurde 2012 eine Forschungsstelle für Kulturökologie und Literaturdidaktik2 gegründet, die bereits mehrere Auszeichnungen der UNESCO erhalten hat; der Blick in die aktuellen Deutschbücher zeigt, dass die Schulbuchverlage das Thema ›entdeckt‹ haben.3 Ähnliches gilt für einschlägige Zeitschriften: Das Heft Deutschunterricht 2014/2 behandelt das Thema Mensch, Natur, Text – Ökologie im Deutschunterricht; auch an den Schulen ist das Bewusstsein, kommende Generationen auf ökologische Herausforderungen vorzubereiten4, überall gegenwärtig. Doch wenngleich die Fähigkeit, zu den gesellschaftlich hochaktuellen Themen Umwelt und Natur eine Meinung entwickeln und Stellung nehmen zu können, die in den Bildungsstandards geforderte Teilhabe der Schüler und Schülerinnen am kul1 Vgl. www.kmk.org/fileadmin/pdf/PresseUndAktuelles/KMK-DUK-Empfehlung.pdf [17. 02. 2013]. 2 Vgl. www.uni-siegen.de/phil/kulturoekologie/ [17. 02. 2013]. 3 Als Beispiel sei das aktuelle Deutschbuch 9 für den Abschluss der Sekundarstufe I aus dem Cornelsen-Verlag genannt: Unter dem Thema Mode, ein tierisches Vergnügen? – Argumentieren und Erörtern wird eine Debatte über Pelztierzucht vorgeschlagen (S. 29–52); im Kapitel Träume und Visionen – Kreatives Schreiben dienen surreale Bilder von Max Ernst, auf denen Menschen- und Tierkörper miteinander verschmelzen, als Schreibanlässe (S. 75–94); ein weiterer Vorschlag mit dem Titel Rausch der Geschwindigkeit – Textverständnis erarbeiten behandelt die Doping-Debatte im Radsport als Möglichkeit, durch künstliche Mittel den menschlichen Körper zu verändern (S. 155–176); eine im Kern vergleichbare Problematik liegt der Unterrichtsreihe zu Charlotte Kerners Klon-Roman ›Blueprint Blaupause‹ – Roman und Film im Vergleich zugrunde (S. 227–246). Diese Unterrichtsvorschläge erhalten durch eine kulturökologisch ausgerichtete Didaktik ein theoretisches Fundament. 4 Dies war das Argument meines Schulleiters am Konrad Adenauer-Gymnasium im Jahr 2009 in Bonn, als sich die siebten und achten Klassen im Rahmen des Biologie-Unterrichts mit einer kritischen Filmreportage über den amerikanischen Monsanto-Konzern beschäftigen sollten.

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turellen und sozialen Leben ganz zentral betrifft5, hinken sowohl die Lehrpläne als auch die Aufarbeitung des Themas in der literaturdidaktischen Forschung diesen Ansprüchen hinterher. Genannt werden Natur, Umwelt oder nachhaltiges Lernen allenfalls in einleitenden Präambeln.6 Noch in den Kinderschuhen steckt die Kulturökologie in der Fachwissenschaft, vor allem in der Germanistik. Während im anglo-amerikanischen und europäischen Kontext kulturökologische Zugänge das Paradigma der Dekonstruktion längst überholt haben und unter dem Label Ecocriticism zur neuen Leitdisziplin erhoben wurden, führen sie in den Geisteswissenschaften deutscher Universitäten mit wenigen Ausnahmen7 ein eher randständiges Dasein. Vermutlich liegt das an der unterschwelligen Bindung ökologischer und umweltbezogener Themen an politische Ideologien in Deutschland. Noch immer, so scheint es, rächen sich die Erfahrungen der Nazi-Diktatur, die in den Geisteswissenschaften nach 1945 dazu führten, jegliche Nähe zu politischen Themen als Indoktrination zu brandmarken und auf breiter Front zu umgehen. So schreibt Elisabeth K. Paefgen: Deutsche Literatur war in dem Jahrzehnt nach der nationalsozialistischen Diktatur nicht nur ein unumstrittener Unterrichtsgegenstand; Literatur erfuhr sogar besondere Anerkennung, weil sie als wertvoller und idealbildender, aber neutraler Stoff behandelt werden konnte. Jenseits der politischen Implikationen, mit denen die Literaturvermittlung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts belastet war, siedelten Germanisten und Deutschlehrer Literatur nun in einem historienfernen Raum an […]. (Paefgen 2006, S. 16)

In Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik die Aufmerksamkeit auf Belange von Natur und Umwelt zu lenken – wie es der im anglo-amerikanischen Bereich gebräuchliche Begriff green humanities andeutet –, erscheint hierzulande von vornherein in zweifelhaftem Licht8. Ausgehend vom Begriff Ökologie und ei5 Vgl. Der Beitrag des Faches Deutsch zur Bildung. In: Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Mittleren Schulabschluss. Beschluss vom 04. 12. 2003. Köln 2004, S. 6 f. 6 Im Lehrplan der Grundschule in NRW heißt es: »Sie [die Schule] fördert die Entfaltung der Person, die Selbständigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen und das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl, die Natur und die Umwelt.« (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen 2008, S. 11). Im neuen Kernlehrplan für die Sekundarstufe II in NRW findet sich unter Aufgaben und Ziele des Faches der Hinweis, dass die »Fächer des sprachlich-literarisch-künstlerischen Aufgabenfeldes […] zur Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen, auch für kommende Generationen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung« beitragen sollten (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW 2013, S. 9). 7 Dazu gehört der Deutsche Germanistentag 2007 in Marburg mit dem Thema ›Natur-Kultur‹. Einen Meilenstein bildet sicherlich das im März 2013 von Evi Zemanek an der Universität Freiburg gegründete DFG-Netzwerk Ethik und Ästhetik in literarischen Repräsentationen und ökologischen Transformationen. 8 Vgl. meinen Aufsatz »Ecodidactics – a German Perspective?« (Grimm 2013)

Tauschverhältnisse zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur

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nigen daraus abgeleiteten sachanalytischen Gesichtspunkten möchte ich im Folgenden zwei literarische Beispiele aus dem 18. und dem 19. Jahrhundert untersuchen, nämlich E.T.A. Hoffmanns Sandmann-Erzählung (1817) und Gottfried Kellers Novelle Pankraz, der Schmoller (1853 und 1873/4). In beiden Texten geht es um die Entwicklung und den Bildungsgang eines Protagonisten. Der kulturökologische Zugang verfolgt die Frage, in welcher Weise das Verhältnis von Mensch und Natur für diese Bildungsverläufe eine Rolle spielt und inwiefern darüber hinaus neue Einsichten für das Verständnis der Texte gewonnen werden können. Hierfür richtet sich der Blick auf Wechsel- oder Tauschprozesse des Menschen mit der nicht-menschlichen Natur, das heißt mit Technik, künstlichen Körpern oder auch mit Tieren. In der Modifikation geläufiger Phasenmodelle des Literaturunterrichts soll darüber hinaus der didaktische Mehrwert des kulturökologischen Ansatzes ersichtlich werden. Dreh- und Angelpunkt der folgenden Überlegungen ist Ernst Haeckels Definition von »Oecologie« als »die gesammte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Außenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle Existenz-Bedingungen rechnen können« (Haeckel 1866, S. 286). Diese Definition findet in spezifischen Fragestellungen einer kulturökologisch ausgerichteten Literaturbetrachtung ihren Niederschlag: 1) Im Fokus stehen die Darstellung von Umwelt und Natur – im Sinne einer ›umgebenden Außenwelt‹ – in literarischen Texten und deren Verhältnis zum Menschen. Lerninhalte orientieren sich an zwei Fragen: a) Inwiefern kommt eine anthropozentrische Haltung des Menschen zur Welt zum Ausdruck, wonach sich der Mensch zum Herrscher über die Natur aufschwingt? Und b) inwiefern bzw. in welchem Ausmaß wird umgekehrt menschliches Streben durch die Natur bedingt, ja sogar begrenzt? Das impliziert oft eine Auseinandersetzung mit sogenannten ›letzten Fragen‹ wie z. B. ›was ist der Sinn des Lebens?‹ oder ›was sind die Grenzen menschlicher Freiheit?‹. 2) Der Blick auf die den Menschen ›umgebende Außenwelt‹ bedingt weiter eine Berücksichtigung der Dimension des Raumes. Ein zweiter Aspekt der kulturökologischen Literaturbetrachtung betrifft demgemäß die literarische Modellierung der Beziehungen des Menschen zu natürlichen und künstlich geschaffenen Räumen und deren ökologische Strukturen. Beispiele dafür sind Dystopien oder Utopien im Sinne ›künstlicher‹ Veränderungen und Projektionen der Natur. Als Lerninhalte gelten: das Nachdenken über die Zukunft sowie die Fähigkeit zu Antizipation und Vorstellungsbildung. 3) Literarische Texte werden daraufhin untersucht, inwieweit der Mensch bestimmten Naturphänomenen oder auch Tieren begegnet und inwiefern sich dabei eine wechselseitige Verbindung von innerer und äußerer Natur aufzeigen lässt. Im amerikanischen Ecocriticism entspricht dies dem »First law

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of ecology«9, welches oft mit der Formel ›alles hängt mit allem zusammen‹ umschrieben wird; gemeint ist die Funktion von ›Ökologie‹ als Verbindung von menschlichem Geist und Natur, aber auch von Geistes- und Naturwissenschaften. Hier bieten sich fächerübergreifendes und partizipatorisches Lernen an. Diese Fragestellungen sind für die folgenden Analysen der genannten Texte Hoffmanns und Kellers leitend. Die beobachteten Tauschverhältnisse zwischen Mensch und Natur können durch Dominanz, Unterordnung oder Balance charakterisiert werden.

E.T.A. Hoffmann: Der Sandmann (1817) In Hoffmanns Sandmann-Erzählung erscheint die Titelfigur zunächst in Gestalt des dämonischen Advokaten Coppelius. Den Kindern wird er als Sandmann vorgestellt, der ihnen Sand in die Augen streut, wenn sie abends nicht einschlafen wollen. Der Protagonist Nathanael musste als Kind mitansehen, wie sein Vater bei alchemistischen Experimenten mit Coppelius ums Leben kam. Später, als Student, meint er, Coppelius im mysteriösen Wetterglashändler Coppola wiederzuerkennen. Als Nathanael Coppola ein Taschen-Fernrohr abkauft, verändert sich seine Wahrnehmung grundlegend: Olimpia, ein vom Physikprofessor Spalanzani gebautes Automat, erscheint Nathanael durch das Glas hindurch als eine attraktive, ja sogar ›göttliche‹ Schönheit – er spricht sie an als »himmlische Frau« (Hoffmann 1976 [1816], S. 355). Nathanael verliebt sich in die Puppe, obwohl sich alles, was sie sagen kann, im Wörtchen ›ach‹ erschöpft, und er vergisst darüber sogar seine Verlobte Clara. Doch Olimpias Augen spiegeln lediglich sein eigenes ›romantisches‹ Ich wider. Als sich Olimpia als lebloses Automat entpuppt, wird Nathanael vom Wahnsinn gepackt. Dank Claras Pflege erholt er sich aber schnell. Kurze Zeit später erkennt er von einem Turm aus in der Ferne durch das Taschen-Fernrohr hindurch Coppelius. Als er das Fernrohr auf Clara10 richtet, die neben ihm steht, überkommt ihn erneut ein Wahnsinnsanfall und er springt vom Turm herunter dem Tod in die Arme. Die Forschung hat soweit zwar verschiedene Gründe für Nathanaels Tod genannt11, 9 ›The four Laws of Ecology‹ gehen zurück auf den Physiker und Ökologen Barry Commoner. Das »First Law of Ecology« formuliert er wie folgt: »Everything is connected to everything else – humans and other species are connected/dependant on a number of other species.« Verfügbar unter http://emilymorash07.tripod.com/id12.html [17. 01. 2013]. 10 Drux argumentiert, dass Nathanael Clara hier mit Olimpia verwechselt (Drux 2012, S. 197). 11 Nach Drux führen die »Assoziation der Erlebnisse«, die durch die Begegnungen mit Coppola ausgelöst werden, und die Erinnerung an »die alchemistische Szene, in der Coppelius den

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eine Deutung, welche der inneren Logik der Erzählung folgt und diese mit Nathanaels verzweifelten Ausrufen ›Püppchen dreh dich‹ verbindet, blieb bislang jedoch außen vor. Eine kulturökologische Lesart kann hier eine stringentere Erklärung bieten. Methodisch sind dafür die Beziehungen zur Außenwelt (im Sinne Haeckels) zu beleuchten. Hier kann die zeitgenössische Naturphilosophie eine Hilfestellung bieten; aus dieser Sicht geht es in Hoffmanns Erzählung um die uralte menschliche Sehnsucht, Leben auf künstliche Weise herzustellen. Grundsätzlich war der zeitgenössische naturphilosophische Diskurs stark vom mechanistischen Weltbild der Leibniz’schen Philosophie geprägt. Stefani Engelstein fasst zusammen, was bereits Anfang des 18. Jahrhunderts als anerkanntes Wissen galt: Only in the context of an increasingly mechanized world could physicians, surgeons, and naturalists begin to recognize the regularity and reciprocal activity of the parts of the living body. Nature was thus, from at least the seventeenth century, irreversibly intertwined with mechanism, and organic function could not be conceived of without reference to machinery. (Engelstein 2003, S. 176)

Im Blick auf die künstliche, das heißt in diesem Fall mechanische Herstellung menschlichen Lebens betraf die entscheidende Frage das Ausmaß, in dem organisches (menschliches) Leben als durch mechanische Abläufe geregelt verstanden werden konnte, wodurch sich eine Möglichkeit der Vorhersagbarkeit und Kontrolle bot. Hoffmanns Briefe geben Zeugnis davon, dass er in dieser Diskussion aktiv Stellung bezogen hatte. Dabei stand er dem mechanistischen Weltbild höchst kritisch gegenüber, wie seine Klagen über »MaschinenMenschen«, die ihn »mit platten Gemeinplätzen [umlagerten]« (Hoffmann 1967 [1796], S. 82), oder über »ästhetische[n] Cretins mit automatischer Bewegung ohne inneres Leben« (Hoffmann 1981 [1819], S. 72) beweisen. Mit der Frage, ob es möglich wäre, menschliches Leben künstlich herzustellen, ist das zweite der eingangs genannten kulturökologischen Prinzipien angesprochen, nämlich das Verhältnis von Natur und Kunst. Ich möchte hier auf Schellings naturphilosophische Schrift Von der Weltseele12 eingehen, welche das Knaben entdeckte« und ihm drohte, rotglühende Körner in die Augen zu streuen, zu Nathanaels Wahnsinn und Tod (1986, S. 83). Liebrand konstatiert: »Der Autor Nathanael – und der von ihm vertretene poetische Absolutismus – exekutiert sich selbst« (1996, S. 104). Engelstein vermutet, Nathanael habe am Ende der Erzählung den Verdacht, »that he is himself an automaton« (Engelstein 2003, S. 187). Lachenmaier zufolge erkennt Nathanael, »dass er sein ›ganzes Sein‹ und eigenes ›Selbst‹ in ihre [Olimpias] Person inkarniert« habe. Hoffmann setze damit »die Zerstörung der Automatenpuppe in Analogie zur Zerstörung Nathanaels« (2007, S. 178 f.). 12 Schellings Abhandlung Von der Weltseele (1798) gilt als Kommentar zu Platons Kosmologie im Dialog Timaios.

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Zusammenwirken von organischen und mechanischen Abläufen und Funktionen behandelt, die in diese Diskussionen eingeflossen sind. Hoffmann Lektüre ist belegt durch den Brief an Carl Friedrich Kunz vom 26. Juli 1813 (Hoffmann 1967, S. 403). Schelling fragt, was überhaupt (menschliches) Leben ausmacht. In seinem kosmologischen Modell basiert ›Leben‹ auf dem Ineinandergreifen organischer und mechanischer Kräfte, die in der Natur walten. Diese Kräfte folgen den Prinzipien von Ursache und Wirkung. ›Organismus‹ – im Sinne des ›Organisiertseins‹ – gilt als ein in gerader Linie vorwärts fließender »Strom von Ursachen und Wirkungen«; diese nach vorne gerichtete Bewegung wird durch den Mechanismus, der einer Einwirkung von außen bedarf, gehemmt, worauf der Strom »in sich selbst zurück« kehrt. Für Schelling ist das organische Prinzip das Grundlegende; das bedeutet, »dass dieser [Mechanismus] aus jenem [Organismus] erst erklärbar« wird, aber nicht vice versa. Als »Organismus« bezeichnet Schelling somit eine »Sukzession, die innerhalb gewisser Grenzen eingeschlossen in sich selbst zurückfließt« (Schelling 1907 [1798], S. 445). Dabei »verschwinden die einzelnen Sukzessionen von Ursachen und Wirkungen […] als unendlich gerade Linien in der allgemeinen Kreislinie des Organismus, in welcher die Welt selbst fortläuft« (Schelling 1907 [1798], S. 446). Die Interaktion beider Prinzipien zeigt, dass ›Leben‹ gemäß der Naturphilosophie des 17. und 18. Jahrhundert auf einem »irrevocable bond […] forged between nature and machine« (Engelstein 2003, S. 176) beruht. Inwiefern helfen diese Ausführungen für das Verständnis des Sandmann? Engelsteins und Lachenmaiers Deutungen gehen zwar auf die zeitgenössische Naturphilosophie ein, der Zusammenhang mit Hoffmanns Erzählung, insbesondere mit Nathanaels verzweifelt und wiederholt an die Puppe gerichteten Appellen sich zu drehen, bleibt jedoch ungeklärt. Meine Deutung basiert zunächst auf der Beobachtung, dass Nathanaels Wahnsinn in dem Maße fortschreitet, in dem er durch das mechanische Prinzip gesteuert wird. Dies soll am Text gezeigt werden. Zum ersten Mal kommt Nathanael mit dem Mechanismus in Kontakt, als der Vater und Coppelius ihn in seinem Versteck entdecken. Pantomimisch schraubt Coppelius die Beine des Jungen ab und wieder an. Der zweite Kontakt erfolgt durch das Taschen-Fernrohr. Nathanael wird von dem technischen Gerät abhängig und dessen Hersteller kann ihn manipulieren. Als Konsequenz seiner Betrachtung der Puppe durch das Fernrohr verliebt er sich in sie. Seine Liebe zu Olimpia ist der dritte und engste Kontakt zum mechanischen Prinzip. Nathanaels Freunde können ihn nicht davon überzeugen, dass Olimpia nur aus einem Automaten besteht. Stattdessen meint er, das ›wahre‹ Gemüt Olimpias erkannt zu haben: »Wohl mag euch, ihr kalten prosaischen Menschen, Olimpia unheimlich sein. Nur dem poetischen Gemüt entfaltet sich das gleich organisierte!«

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(Hoffmann 1976 [1816], S. 356). Mit Nathanaels zunehmender Bindung an den Mechanismus geht ein anthropozentrischer Anspruch einher ; seine Liebe zur Puppe Olimpia ›entpuppt‹ sich – im wahrsten Sinn des Wortes – als eine Projektion der eigenen Wünsche. Dies lässt sich einem kurzen Dialog entnehmen, der mit einer Frage Nathanaels beginnt: ›Liebst du mich–Liebst du mich Olimpia? – Nur dies Wort! – Liebst du mich?‹ So flüsterte Nathanael, aber Olimpia seufzte, indem sie aufstand, nur: ›Ach – Ach!‹ ›Ja du mein holder, herrlicher Liebesstern‹, sprach Nathanael, ›bist mir aufgegangen und wirst leuchten, wirst verklären mein Inneres immerdar!‹ ›Ach, ach‹ replizierte Olimpia fortschreitend. Nathanael folgte ihr, sie standen vor dem Professor. (Hoffmann 1976 [1816], S. 355)

Anhand des oben erläuterten Ineinandergreifens von Mechanismus und Organismus ist zu sehen, dass die Hypostasierung des Mechanismus das organische Prinzip des Kreislaufs verdrängt. In den Wahnsinnsanfällen aber fordert das Verdrängte sein Recht: Als die Puppe zerbricht und Nathanael erkennt, dass es sich um einen Automaten handelt, packte ihn der Wahnsinn mit glühenden Krallen und fuhr in sein Inneres hinein Sinn und Gedanken zerreissend: ›Hui – hui – hui! – Feuerkreis – Feuerkreis! dreh dich Feuerkreis – lustig – lustig! – Holzpüppchen hui schön Holzpüppchen dreh dich –.‹ (Hoffmann 1976 [1816], S. 359)

Nathanaels Verzweiflung und letztlich auch sein Tod sind als Resultat überhandnehmender Einflüsse des mechanistischen Weltbildes zu deuten. Das entscheidende Argument besteht jedoch darin, dass dem mechanischen Prinzip, welches Olimpia und letzten Endes auch Nathanael bestimmt, das Vermögen fehlt, im Sinne des Organismus Bewegung aus sich selber hervorzubringen. Den Beweis dafür liefern Nathanaels verzweifelte Ausrufe ›Holzpüppchen hui – schön Holzpüppchen dreh dich‹, die immer wieder aus ihm hervorbrechen.13 Weder der Feuerkreis noch Olimpia können sich aus eigener Kraft drehen und Bewegung aus sich selber heraus generieren. Wäre die Puppe in der Lage, sich zu drehen, wäre dies ein Beweis für das organische Prinzip und damit für ihre Lebendigkeit. In dem Maße, in dem Nathanael sich mit dem Automat identifiziert und er die Balance von organischem und mechanischem Prinzip verliert, büßt er dieses Vermögen, das heißt letztlich sein eigenes Leben, ein. Dies ist der tatsächliche Grund für seinen Tod im Rahmen der inneren Logik der Erzählung. 13 Engelstein beobachtet, dass »Nathanael’s terror before Clara«, als er sie am Ende der Erzählung durch das Fernglas ansieht, »emanates from his suspicion that he is himself an automaton, provoking the cry, ›Holzpüppchen, dreh dich – Holzpüppchen dreh dich‹« (2003, S. 187). Sie gibt jedoch keine Erklärung im Hinblick auf das Verhältnis zwischen Nathanaels an die Puppe gerichteten Appellen sich zu drehen und dem Mechanismus des Automaten.

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Gottfried Keller: Pankraz, der Schmoller (1856 und 1873/4) Eine mit Nathanaels Anmaßung und Ichbezogenheit vergleichbare Haltung findet sich beim Protagonisten aus Kellers Pankraz, der Schmoller, worauf schon das Namenskompositum ›Pan‹ (= griech. alles) und ›Kratos‹ (= griech. Macht) verweist. Nach dem frühen Tod des Vaters verfällt der 14-jährige Pankraz in eine Art postromantischen Weltschmerz und führt mit Mutter und Schwester im provinziellen Seldwyla ein bescheidenes Dasein. Die Familie lebt von der Witwenrente der Mutter in wirtschaftlicher Not. Die Armut wird illustriert durch einen Vergleich des Buttertopfs mit der zyklischen Wiederkehr natürlicher Phänomene: Dieses Durchblicken des grünen Topfbodens war eine so regelmäßige Erscheinung wie irgend eine am Himmel, und verwandelte ebenso regelmäßig eine Zeitlang die kühle, kümmerlich-stille Zufriedenheit der Familie in eine wirkliche Unzufriedenheit. (Keller 1987 [1856], S. 14)

Innerhalb der Familie beruht Pankraz’ Macht zunächst auf einem »Sinn für militärische Regelmäßigkeit« (Keller 1987 [1856], S. 16), womit er den Alltag kontrolliert. Diese Macht wirkt sich etwa bei den kargen Mahlzeiten der Familie aus, die oftmals nur aus einer Schüssel mit Kartoffelbrei und Butter bestehen: Jedes Familienmitglied grub kleine Vertiefungen in das »Kartoffelgebirge« hinein, wobei Pankraz »streng darauf hielt, daß jeder nicht mehr noch weniger nahm als was ihm zukomme, […] dass die Milch oder die gelbe Butter, welche am Rande der Schüssel umherfloß, gleichmäßig in die abgeteilten Gruben laufe« (Keller 1987 [1856], S. 16). Mit der Überwachung solcher Regeln und Ordnungen verschafft Pankraz sich in der Familie Respekt. Gleichzeitig dienen ihm diese Regularitäten als Schutzschild, das es ihm erlaubt, soziale Verantwortung und Auseinandersetzungen zu umgehen. In Norbert Mecklenburgs Sammlung wichtiger Charaktermerkmale erscheint Pankraz als ein lebensfremder Außenseiter, ein moderner Verweigerer-Typ, ein Egozentriker ohne selbst- und sozialkritisches Bewusstsein, ein kommunikationsloser Gefühlskrüppel, ein aggressiver, defekter männlicher Charakter […] ein typisch moderner Mensch: selbstbezogen, ordnungssüchtig, ›funktionsgeil‹, problemflüchtig. (Mecklenburg 2008, S. 387)

Diese Eigenschaften charakterisieren den Protagonisten in der Phase des Schmollens. Der Prozess der Reifung, im Laufe dessen er das Schmollen überwindet, setzt ein, als er, unzufrieden mit seinem bisherigen Leben, Mutter und Schwester verlässt, in die Welt hinaus zieht und sich in die Dienste der britischen Armee in Indien begibt. Das soldatische Leben mit regelmäßigen Mahlzeiten und festem Einkommen gilt ihm zunächst als nahezu idealer Zustand. Schließlich erhält er eine Anstellung als Faktotum eines britischen Komman-

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deurs, bei dem er seinen Ordnungssinn als Gärtner ausleben kann. Der Erzähler veranschaulicht dies, indem er beschreibt, wie Pankraz ein Rosenwäldchen zieht; darin ragten […] die Bäumchen […] just in die Höhe des Gesichtes und waren so dicht, daß, wenn man darin herumging, die Rosen einem an der Nase streiften, was sehr artig und bequem war und wozu der Gouverneur sehr gelacht hatte, da er sich nun nicht mehr zu bücken brauchte, um an den Rosen zu riechen. (Keller 1987 [1856], S. 51)

Der Blick auf Pankraz’ Gartenarbeit zeigt, dass sein Anthropozentrismus eng mit der Kultivierung der Wildnis zusammenhängt; die gärtnerische Idylle repräsentiert die Domestizierung einer fremden Natur und darüber hinaus – im kolonialen Kontext – auch die einer fremden Kultur. Nach einer unglücklichen Liebe zur schönen Lydia, der Tochter des Kommandanten, die seine Zuneigung nicht erwidert, verdingt Pankraz sich als Offizier der französischen Armee in Afrika. Mehrere Jahre später kehrt er in Begleitung einer Reihe exotischer Tiere nach Seldwyla zurück. Über seine Abenteuer resümiert er Mutter und Schwester gegenüber rückblickend, »daß er in der Fremde durch ein Weib und ein wildes Tier von der Unart des Schmollens entwöhnt worden sei« (Keller 198 [1856], S. 70). Lydia missbrauchte seine Liebe als Bestätigung der eigenen Attraktivität. Nach wie vor im Schmollen befangen, ging er dem Gespräch mit ihr aus dem Weg. Rückblickend erkennt er seinen Fehler : ›Das hast du nun von deinem unglückseligen Schmollwesen!‹ sagte ich zu mir selbst, ›hättest du von Anbeginn zuweilen nur halb so lange mit ihr freundlich gesprochen, so hätte es dir nicht verborgen bleiben können, wes Geistes Kind sie ist, und du hättest dich nicht so gröblich getäuscht!‹ (Keller 1987 [1856], S. 59)

Ebenso wie Nathanaels Liebe zu Olimpia sich als Liebe des eigenen romantischen Ich erweist, basiert Pankraz’ Liebe zu Lydia auf der selbstgefälligen Beschäftigung mit den eigenen Vorstellungen. Mutter und Schwester schlafen darüber jedoch ein.14 Das zweite Ereignis, das dazu beiträgt, Pankraz vom Schmollen zu kurieren, betrifft seine Begegnung mit einem wilden Löwen auf einer Jagd. Pankraz baut den Löwen zunächst als Gegner auf, dem er ein »ähnlich schmollendes Spiel« (Keller 1987 [1856], S. 66) mit ihm selber unterstellt, wie er es mit dem Löwen plant. In Gedanken bei Lydia, legt er sein Gewehr beiseite, um aus einem Bach zu trinken. Plötzlich »hört er ganz nah den Löwen ein kurzes Gebrüll ausstoßen« (Keller 1987 [1856], S. 67) und bemerkt, dass sich das Tier auf dem Gewehr 14 Dies ist wohl kaum als Desinteresse gegenüber dem Kolonialismus (vgl. Dunker 2008, S. 116) zu werten, sondern eher als Schachzug des Erzählers, um Pankraz’ innere Distanz zu Lydia zum Ausdruck zu bringen.

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niedergelassen hat. Bevor Hilfe kommt und der Löwe überwältigt werden kann, steht er stundenlang unbeweglich Auge in Auge dem Löwen gegenüber : […] wenn ich mich nur gerührt hätte, so würde er gesprungen sein und mich unfehlbar zerrissen haben. Aber ich stand und stand so einige lange Stunden, ohne ein Auge von ihm zu verwenden und ohne dass er eines von mir verwandte. […] während die furchtbarste Hitze mich zu quälen anfing, verging die Zeit so langsam wie die Ewigkeit in der Hölle. […] Hundertmal war ich versucht, allem ein Ende zu machen und auf das wilde Tier loszuspringen mit bloßen Händen; allein die Liebe zum Leben behielt die Oberhand […].« (Keller 1987 [1856], S. 67 f.)

Der ›Blick des Tieres‹ gilt in der kulturökologischen Forschung und den HumanAnimal Studies als ein etablierter Topos. Um die besondere Relevanz der Löwenepisode zu verdeutlichen, ist auf Georges Bataille zu verweisen, der über die Beziehung von Mensch und Tier schreibt: »Durch das Tier öffnet sich vor mir eine Tiefe, die mich anzieht und die mir vertraut ist. In gewissem Sinne ist diese Tiefe mir bekannt: es ist die meine.« (Bataille 1997 [1974], S. 23) Pankraz wird sich – Auge in Auge dem Löwen gegenüberstehend – seiner eigenen Kreatürlichkeit bewusst. Das bestätigt seine Schilderung der Situation: »Der Schweiß lief an mir herunter, ich zitterte vor krampfhafter Anstrengung […] leise an allen Gliedern« (Keller 1987 [1856], S. 68). Nicht ein im Bewusstsein ablaufender Erkenntnisvorgang, sondern physiologische Reaktionen bewirken die Umkehr. Mit den Worten Jacques Derridas lässt sich diese Umkehr auf »the deranged theatrics of the wholly other that they call animal« (Derrida 2002, S. 380 f.) zurückführen. Pankraz’ beschreibt seine Wende: Indem ich aber so eine lange Minute um die andere abwickeln und erleben mußte, verschwand der Zorn und die Bitterkeit in mir, selbst gegen den Löwen, und je schwächer ich wurde, desto geschickter ward ich in einer mich angenehm dünkenden, lieblichen Geduld, daß ich alle Pein aushielt und tapfer ertrug. (Keller 1987 [1856], S. 68)

Axel Dunkers Resümee – »menschliche Völker und wilde Tiere werden unterschiedslos mit Wildheit konnotiert und zur Sanierung des eigenen [Pankraz’] psychischen Haushalts eingesetzt« – (Dunker 2008, S. 116) trifft die Figur des Pankraz in ihrem Kern; die Annahme aber, Pankraz werde durch »seine Unbeweglichkeit« gerettet, da diese zu »einer grundlegenden Bewusstseinsänderung« (Dunker 2008, S. 112) führe, kann die Überwindung des Schmollens, worin die Wende seines Bildungsweges besteht, nicht erklären; auch andere Deutungen greifen hier zu kurz.15 15 Plumpe deutet den Löwen als »Symbol der ›wilden Wünsche‹, als Symbol jener imaginären Realität, die die Realität des Imaginären für Pankraz ist.« Pankraz’ Heilung sei folglich in der »Destruktion seiner imaginären Obsessionen« bzw. in der erfolgreichen und nachhaltigen Verdrängung seiner »Phantasmen der Imagination« gegeben. Damit öffne sich für Pankraz

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Aus kulturökologischer Sicht ist es Pankraz’ Erfahrung der eigenen Kreatürlichkeit, wodurch er geheilt wird. Die anthropozentrische Haltung, die sich im Schmollen ausprägt, wird durch ein physisches Erleben abgebaut. Und entgegen Dunkers Deutung der Immobilität des Protagonisten basiert dessen Heilung insgesamt gerade auf der räumlichen Mobilität, die sein soldatischer Beruf mit sich bringt. Derrida bringt die Bedeutung, die dem Blick des Tieres zukommt, auf den Punkt: The gaze called ›animal‹ offers to my sight the abyssal limit of the human: the inhuman or the ahuman, the ends of man […]. And in these moments of nakedness, under the gaze of the animal, everything can happen to me, I am like a child ready for the apocalypse […]. (Derrida 2002, S. 380 f.)

Eine vergleichbare Erfahrung der Nacktheit im Sinne des Verlusts früherer Anmaßungen kann für Pankraz geltend gemacht werden, dessen anthropozentrische Haltung in der Konfrontation mit dem wilden Tier zerbröckelt. Damit ist er bereit, nach Seldwyla zurückzukehren und ein nützliches Mitglied der Gesellschaft zu werden. Im Vergleich von Kellers Pankraz mit Hoffmanns Nathanael zeigt sich somit eine ähnliche Ausgangsposition, nämlich eine anthropozentrische Haltung gegenüber der Natur. Während Olimpias (tote) Augen die Hybris Nathanaels widerspiegeln, ja diese erst zur Geltung bringen, eine sinnvolle Kommunikation aber verhindern, erfährt Pankraz, als er dem Löwen ins Auge blickt, einen Zerfall seiner Hybris. Er wird sich des Anderen seiner selbst bewusst, das heißt er entdeckt sich selbst als Geschöpf der Natur. Anders als in Nathanaels Begegnung mit der Puppe erfolgt hier ein Austausch mit einem nicht-menschlichen Wesen bzw. eine Teilhabe am Kreislauf der Natur, der Pankraz verändert und vom Schmollen heilt. Er erfährt eine Verbundenheit mit einer Welt, die anders ist als die menschliche, was als entscheidende Basis für kulturökologisches Denken gilt. Während der ›ideale‹ Tausch mit dem künstlichen Körper der Puppe bei Hoffmann ins Leere läuft, kommt es beim physischen Tausch mit der animalischen Natur, nämlich dem Körper des Tieres, zu einer Wechselwirkung und zu einer Umkehr. Eben diese wechselseitige Verbundenheit mit der Natur ist es, die der »Weg zu sozialer Kommunikation und praktischer Tüchtigkeit« (Plumpe 1985, S. 170 f.). Hoffmann erklärt das Schmollen als Abhärtung gegenüber dem Tod des Vaters, welche sich in Form narzisstischer Kränkung und Selbstkasernierung auspräge. Während Pankraz dem Löwen gegenüberstehe, vollziehe sich eine »komplementäre Strategie der geduldigen flexiblen Anpassung, eine Art Verweichlichung«, bei der er lerne, seine Schwäche zu akzeptieren, aus der Schwäche Stärke zu entwickeln und wieder kommunizieren zu können (1999, S. 219 f.). Pfotenhauer meint, es sei das Konzept Kellers, »den Helden […] in der Wüstensonne schmoren, sprachlos verharren, schmollen zu lassen, bis er durch die Übertreibung des Eigenen geheilt« werde. Letztlich habe so »die praktische Vernunft über die Einbildung gesiegt« (2000, S. 18).

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Nathanael fehlt. Die anthropozentrische Unterwerfung der Natur erweist sich als nicht haltbar. Und offenbar ist für Pankraz gerade der räumliche Wechsel über die Kontinente hinweg die Voraussetzung dafür, die Distanz zur Natur aufzugeben und den Tausch überhaupt einzugehen.

Tauschverhältnisse einer kulturökologisch orientierten Didaktik Welche Veränderungen bringt die Kulturökologie in der Didaktik? Um diese Frage zu beantworten, ist ein Perspektivwechsel erforderlich. In Abgrenzung zur literaturwissenschaftlichen Betrachtungsweise richtet sich die didaktische Perspektive auf die Vermittlung von literarischem Inhalt und lernendem Schülersubjekt, wobei auch hier von einem Tausch gesprochen werden kann. Dabei setzt eine auf kulturökologische Überlegungen bezogene Didaktik – ebenso wie interkulturelle oder genderbasierte Ausrichtungen – im Sinne der Themenorientierung entsprechende literarische Inhalte voraus. Der Mehrwert der kulturökologischen Perspektive soll im Vergleich mit bisherigen, aus der klassischen Hermeneutik abgeleiteten Phasenmodellen sichtbar gemacht werden. In der Hermeneutik des 18. Jahrhunderts umfassen diese Phasen Verstehen, Erklären und Anwendung. Dies bedarf einer kurzen Erläuterung. Intelligere (Verstehen) und explicare (Erklären) verlangen, dass ein Interpret seinen Text nicht nur verstehen, sondern auch erklären können muss. Die pietistische Verstehenslehre, für welche subjektive Seelenzustände eine wichtige Rolle spielten, berief sich auf die zeitgenössische Affektenlehre der Rhetorik und forderte darüber hinaus als »dritte Auszeichnung« die applicatio (Anwendung). Diese betraf die »Kompetenz, den Affekt der Hl. Schrift auf die Seele des Hörers zu übertragen« (Grondin 1996, Sp. 1363). Die erfolgreiche Interpretation des Redners zielte darauf, die Hörer durch eine Anwendung auf deren gegenwärtige Situation für sich zu gewinnen. In der Literaturdidaktik wurde diese Trias mit einer Aufspaltung der zweiten Phase zuerst von Jürgen Kreft als »Vier-Phasen-Schema« (2009, S. 217–231 [1982, S. 379–390]) etabliert und anschließend von Harro Müller-Michaels (1991, S. 584–595) und Joachim Fritzsche (2002, S. 213–228) mit unterschiedlichen Schwerpunkten weiter ausgearbeitet. Die folgenden Ausführungen nehmen auf Krefts ursprüngliches Schema Bezug, um vergleichend anhand von Gemeinsamkeiten und Unterschieden eine kulturökologisch orientierte Literaturdidaktik zu konturieren. Die erste Phase betrifft bei Kreft wie auch in der Kulturökologie die erste Textbegegnung. Kreft spricht von einer »Phase der bornierten Subjektivität – ›textimmanent‹«; gemeint ist eine Zeit der Inkubation, in der Schüler und Schülerinnen erst einmal assoziieren, eine Motivation entfalten und sich mit-

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unter im Text verlieren. Ziel ist die »Entwicklung eines (ersten) Interpretationsentwurfs« (Kreft 2009, S. 218 [1982, S. 379]). Bei einer kulturökologischen Ausrichtung steht hier die Wahrnehmung der Natur im Vordergrund. Gefragt wird, ob Natur (Landschaft, Tiere) im literarischen Text oder auch das dargestellte Verhältnis von Mensch und Natur eine besondere Aufmerksamkeit erhalten. In Pankraz, der Schmoller etwa umfasst dies die Kultivierung des kolonialen bzw. natürlichen Raums. Dafür eignen sich der militärische Komplex, die Gärtner-Episode oder auch Pankraz’ Begegnung mit dem Löwen. Die ›textimmanente‹ Beschränkung dieser Phase präzisiert Kreft dahingehend, dass »der Text hier nicht methodisch auf andere Texte, die Gesellschaft usw. hin überschritten wird«; wenngleich Kreft einräumt, dass im Vorverständnis solche Texte und »entsprechende Erfahrungen ›anwesend‹« seien (Kreft 1982, S. 385), werden vorab bestehende lebensweltliche Bedingungen eher vernachlässigt. Bereichernd für kulturökologische Ansätze in der ersten Phase sind demgegenüber Überlegungen der konstruktivistischen Pädagogik, wonach Lerner zunächst stets von eigenen Vorerfahrungen, dem eigenen ›Lebensroman‹ (vgl. Scheffer 1992) ausgehen – seien sie in der alltäglichen Lebenswelt oder in bisherigen Lektüreerfahrungen begründet. Vergleichbar enthält nach Müller-Michaels die erste »Phase der Wahrnehmung […] Bilder zum Text«, die mit der »Kraft der eigenen Imagination in der Dunkelkammer des Kopfs entwickelt« werden (Müller-Michaels 1991, S. 592). Diese Vorerfahrungen und Vorstellungsbilder sind bei einer kulturökologischen Orientierung als Brücke zwischen Lebenswelt und Text zu nutzen. Eine naheliegende Hinführung zur Wahrnehmung der Natur im Sandmann ergibt sich z. B. mit der Frage nach der Funktionsweise einer Brille. Dies lässt sich durch Rechercheaufgaben über die (historische) Entwicklung optischer Gläser oder auch des Fernrohrs vertiefen. Bei Kellers Pankraz, der Schmoller erfüllt diese Funktion ein Brainstorm über Afrika und Indien, etwa im Kontext der Kolonialisierung oder über Löwen als bedrohte Tierart, als Wappentier oder Attribut von Heiligen. In der zweiten Phase werden die ersten Interpretationsentwürfe am Text überprüft; Kreft spricht von einer »Phase der ›Objektivierung‹«, die er als »wahrheitsbezogen, textbezogen, texttranszendierend« qualifiziert (Kreft 2009, S. 218 [1982, S. 379]). Die Schüler und Schülerinnen entwerfen Deutungen und korrigieren diese (auch gegenseitig) am Text. Ziel dieses am ›hermeneutischen Zirkel‹ orientierten Vorgehens ist es, das vom Text »gemeinte Problem, die intendierte ›Wahrheit‹«, herauszufinden, die über den Text hinausgeht (Kreft 1982, 384 f.). Diese kognitive Rückbindung der Verstehensentwürfe an den Text in der zweiten Phase deckt sich im Kern mit einer kulturökologischen Ausrichtung, wobei Verknüpfungen, Motive, Tropen und Figuren vorrangig im Kontext der Interaktionen zwischen Mensch und Natur zu suchen sind. Im Sandmann werden die Veränderung der natürlichen Wahrnehmung durch Kunst sowie

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philosophische und (natur-)wissenschaftliche Konzepte mit Nathanaels gescheitertem Bildungsweg in einen Begründungszusammenhang gebracht. Ähnliches gilt für Pankraz, der Schmoller. Die Assoziationen der ersten Phase werden unter der Leitfrage auf den Text zurückbezogen, welche Bedeutung die Konfrontation mit der nicht-menschlichen Natur, etwa das Erlebnis mit dem Löwen, für Pankraz besitzt und inwiefern es eine Wende für seinen Bildungsweg darstellt. Bei Kreft finden sich für diese Phase kaum Hinweise, in Bezug worauf der Text transzendiert werden soll. In einer kulturökologisch ausgerichteten Didaktik ergibt sich diese Überschreitung aus dem Blick auf die Funktionalisierung der dem Text zugrunde liegenden zeitgenössischen Naturkonzepte. In Krefts Modell findet nach der Objektivierung in der zweiten Phase eine »Rückwendung« auf das lesende Subjekt bzw. die Lernenden selbst statt. Diese dritte Phase umschreibt er als »Phase der Aneignung und der reflektierten Subjektivität«. Hiervon unterscheidet sich ein kulturökologischer Zugang. Während die anvisierte ›Rückwendung‹ auf das Leser- bzw. Schülersubjekt nach Kreft in Form einer »bewußten, aber ›kontemplativen‹ Anwendung auf die eigene Situation und Existenz« (Kreft 2009, S. 218 [1982, S. 379]) geschieht, wird die Reflexion in einem kulturökologischen Ansatz methodisch nach außen gekehrt und das Verhältnis des Schülersubjekts zur ›äußeren Natur‹ in den Blick genommen. Die »Ich-Entwicklung« der Lernenden (Kreft 2009, S. 22) erfolgt somit nicht als kontemplative ›Rückwendung‹ auf sich selbst, sondern umgekehrt im Überschreiten des Ich bzw. der eigenen Existenz. Die Aktualisierung des literarischen Textes, welche das Ziel dieser Phase ausmacht, geschieht durch eine Verbindung mit bzw. einen Transfer auf die Herausforderungen, welche für das Verhältnis von Mensch und Natur/Umwelt in der aktuellen Lebenswelt prägend sind. (Müller-Michaels die vierte Phase betreffender Vorschlag einer »Anwendung auf den Horizont der eigenen Erfahrung der Leser« bzw. SchülerInnen wird hier vorgezogen bzw. erfährt eine Präzisierung (Müller-Michaels 1991, S. 589). Zu fragen ist also, ob bzw. welche im Text angesprochenen ökologischen Problemkonstellationen sich in der heutigen Lebenswelt fortsetzen. Im Kontext des Sandmann ist zu denken an die Entwicklung von Robotern oder generell an Veränderungen des menschlichen Körpers durch Medizin und Wissenschaft; hinsichtlich von Kellers Pankraz, der Schmoller muss gefragt werden nach Erfahrungen der eigenen Endlichkeit, das heißt nach Situationen, in denen der Mensch eine Abhängigkeit von Natur und Umwelt erfährt und sich nicht als deren Beherrscher versteht. Mit anderen Worten: Eine kulturökologisch ausgerichtete Didaktik ruft die Grenzen ins Bewusstsein, welche die Umwelt dem menschlichen Dasein bzw. der Ich-Entwicklung heute setzt. Diese Wahrnehmung von Natur und Umwelt als Grenze impliziert zugleich eine Bewertung der vermittels literarischer Figuren durchgespielten menschlichen Handlungen.

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Damit ergibt sich ein Übergang in die letzte Phase, welche eine Vertiefung durch Anwendung leisten soll. Kreft spricht von der »Phase der theoretischen Applikation (Gesellschaftsanalyse, Geschichtsverständnis, literaturwissenschaftliche Bedeutung)« (2009, S. 218 [1982, S. 379]). Demnach wird der literarische Text auf die »geschichtlich-gesellschaftlichen Zusammenhänge seiner Produktion und seiner Rezeption« hin überschritten (Kreft 1982, S. 386); nach Kreft betrifft dies Vergleiche mit Sachtexten, welche über Entstehung und Leserschaft des literarischen Textes informieren, oder mit anderen in Bezug auf epochale oder gattungsbedingte Merkmale hin vergleichbare literarischer Texte. Eine kulturökologische Didaktik verlangt hier Stellungnahmen und Bewertungen im Hinblick auf das Verhältnis des Menschen zur Natur, wobei auf Basis einer holistischen Naturauffassung auch auf die Zukunft bezogene Vorstellungen oder ethische Positionen gemeint sind.16 In diesem Sinne bedarf die Bewertung eines Standpunkts, der entsprechend der Vorstellung eines globalen Lernens17 außerhalb der (fiktionalen) Handlungen und auch außerhalb des Lernersubjekts selbst anzusetzen ist. Dies erfordert eine Erweiterung der rezeptionspragmatischen Didaktik, die auf Entsprechungen von Text und Lebenswelt der Schüler und Schülerinnen basiert.18 ›Anwendung‹ im Verständnis der Kulturökologie zielt darüber hinaus auf Partizipation und Antizipation. Das heißt nicht nur, dass Schülerinnen und Schüler lernen, an Entscheidungsprozessen teilzunehmen, sondern auch, dass sie der globalen Folgen und Auswirkungen menschlicher Handlungen auf die Natur gewärtig sind. Didaktisch umgesetzt wird das, indem Schüler und Schülerinnen selber eine Situation gestalten. Dazu werden einige Aufgabenvorschläge für verschiedene Altersstufen (Grundschule, Sekundarstufe I und II bzw. Qualifikationsphase) skizziert. Am Ende der Grundschule können die Kinder Hoffmanns Erzählung beispielsweise in einer Adaptation als stop-motion-Film oder Graphic Novel rezipieren, da der Originaltext für dieses Alter noch zu schwierig sein dürfte. Eine die Analyse anbahnende Aufgabe lässt sich dahingehend formulieren, dass die Kinder Vorund Nachteile von Nathanaels Taschen-Fernrohr sammeln und in eine Tabelle eintragen. Partizipation in der Phase der Anwendung zielt darauf, dass sie einen Dialog – eventuell mit einem Optiker in einem Geschäft – darüber schreiben und 16 Nach Hofer werden die »holistischen Naturvorstellungen in der Tradition der Naturphilosophie« neben dem Ideal der exakten Naturwissenschaften in der Ökologie fortgeführt (2007, S. 61). 17 Vgl. dazu die Ausführungen von Almut Hille in diesem Band. 18 »Rezeptionspragmatik beschreibt Situationen und Paradigmen in Alltag und Unterricht, die Rezeptionshandlungen von Nichtfachleuten herausfordern und in denen das literarische Werk eine Bedeutung für die Bewältigung der alltäglichen Lebenspraxis erhält« (MüllerMichaels 1978, S. 11).

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eventuell auch vorführen, ob sie das Fernrohr kaufen möchten oder nicht und in welcher Weise dieses technische Instrument ihre Vision des eigenen Lebens oder des Lebens anderer Menschen in der Zukunft verändern könnte. In den Sekundarstufen empfehlen sich konzeptuelle Vorgaben19, welche eine situative Basis für Schreibaufgaben liefern. Ansatzpunkt für eine Verbindung mit der aktuellen Lebenswelt wäre die heutige medizinische Forschung, die mit der Herstellung künstlicher Organe experimentiert, oder die Diskussionen um Gentechnik oder Stammzellen. Nach der Behandlung entsprechender Sachtexte im Unterricht können hier sowohl handlungs- und produktionsorientierte als auch analytische Aufgaben erfolgen, welche auf einen Vergleich mit der Herstellung künstlicher Menschen in Hoffmanns Sandmann zielen. Vorausgesetzt wird dazu die Erarbeitung von Hoffmanns Kritik am zeitgenössischen mechanistischen Weltbild, beispielsweise anhand geeigneter Briefzitate; so lässt sich sein Vorwurf gegenüber damaligen Kritikern und Dichtern als »ästhetische Cretins mit automatischer Bewegung ohne inneres Leben« (Hoffmann 1981 [1819], S. 72) gut mit der Diskussion um Stammzellen verbinden, nämlich im Hinblick darauf, ob Stammzellen bereits Leben enthalten oder nicht. Dabei wiederholt sich die für Hoffmanns Sandmann zentrale Problematik, was (menschliches) Leben bzw. Lebendigkeit überhaupt ausmacht, und es entsteht ein Tauschverhältnis zwischen Text und Lebenswelt. Als eingelöst gilt damit auch der für die Qualifikationsphase erhobene Anspruch der Werteerziehung.20 Folgende Übersicht fasst die Unterschiede der beiden Phasenmodelle zusammen: Phasen nach Kreft Bornierte Subjektivität

Phasen einer kulturökologischen Didaktik Wahrnehmung: Mensch und Natur

Objektivität ––– Aneignung (kontemplativ) Applikation Gesellschaft, Geschichte, Literatur

Analysieren, verknüpfen ––– Verbinden mit Natur und Umwelt (in aktueller Lebenswelt) Applikation Bewerten, Stellung nehmen, Partizipieren, Antizipieren (global, holistisch)

Mit solchen unterrichtlichen Modellen und Aufgaben verbinden Schüler und Schülerinnen Werke des literarischen Kanons mit kulturökologischen Heraus19 Konzeptuelle Vorgaben bieten den Schülern »Orientierungshilfen für die Texterschließung« (vgl. Leubner / Saupe 2008, S. 95–98). 20 Zu den Aufgaben des Deutschunterrichts gehört laut Kernlehrplan für die Sek. II in NRW auch »Werteerziehung« sowie eine »ethisch fundierte Haltung« (Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NRW (2013), S. 9).

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forderungen der heutigen Lebensrealität. Die Veränderung der Naturauffassung durch Kunst und Wissenschaft bietet eine Folie, um über den Text hinauszugehen. Als Kern einer kulturökologisch ausgerichteten Didaktik ist die Revision der dritten und vierten Phase herauszustellen. Wenn Schüler und Schülerinnen über Figuren wie Nathanael und Pankraz nachdenken und sie vergleichen, wenn sie deren Handlungen auf das Spannungsverhältnis von Mensch und Natur beziehen und eine Verbindung zu ihrer gegenwärtigen Lebenssituation und -umwelt herstellen können, lernen sie, über Folgen und Konsequenzen von Handlungen in globalen und ökologischen Kontexten zu reflektieren. Mit diesem Tausch zwischen Text und Lebenswelt findet antizipatorisches Lernen statt. Dass der Mensch durch Wissenschaft und Kunst die Natur und damit auch sich selber, genauer : den eigenen Körper verändert, das gab es früher und gibt es heute – zu denken ist an die Gentechnik, Schönheitsoperationen, Tattoos oder muskelaufbauende Präparate – und das wird auch für die Zukunft der Schüler und Schülerinnen relevant sein. Bei der Formulierung von Stellungnahmen lernen sie, an gesellschaftlichen Prozessen zu partizipieren; sie üben »kulturelle Teilhabe« und lösen damit Forderungen ein, welche die Lesesozialisationsforschung immer wieder erhoben hat (Hurrelmann 2004, S. 12). Dabei kommt es – in den genannten Beispielen – nicht darauf an, ob sie sich für oder gegen wissenschaftliche Forschung aussprechen, sondern darauf, dass sie gute Argumente finden und dass es ihnen gelingt, in der Reflexion auf das Verhältnis von Mensch und Natur die historische Distanz (der Texte) zu überwinden.

Resümee und Ausblick Zusammenfassend ist zu sagen, dass eine kulturökologische Literaturwissenschaft die Beziehungen zwischen Mensch und Natur in den Fokus rückt. Dies wurde am Beispiel zweier Bildungsverläufe in kanonischen Erzähltexten untersucht. Als Tertium Comparationis dienten zeitgenössische Naturkonzepte aus der Philosophie Schellings und Aspekte der Human-Animal Studies. Die Grundlage dieser Naturkonzepte führte zu neuen Deutungen: Erfolg bzw. Scheitern des Bildungsweges ergab sich aus einem gelungenem bzw. misslungenem Tauschverhältnis von Mensch und Natur. Die Konsequenzen für die Literaturdidaktik wurden erläutert in der Erweiterung des gängigen Phasenmodells nach Kreft. In einer kulturökologisch ausgerichteten Didaktik werden Texte in Bezug auf die Umwelt hin transzendiert. Ein Unterschied ergibt sich in einer Relativierung der kontemplativ-subjektiven Aneignung zugunsten der Kompetenz, eigene Grenzen abzustecken, um so eine Basis für selbständige Reflexionen und Bewertungen zu etablieren. Die Phase der

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Anwendung wird im Sinne des daraus hervorgehenden Partizipierens und Antizipierens umgesetzt. Diese Zielsetzungen, so ist ausblickend anzumerken, hat eine kulturökologische Didaktik gemein mit der gegenwärtigen Kompetenzorientierung, welche die Applikation auf textexterne Inhalte verlangt (Baumert et. al. 2001, S. 89). Der Blick in die hermeneutische Tradition und in die daraus abgeleiteten Phasenmodelle zeigt, dass hier emotional-affektive Komponenten des literarischen Verstehens angesiedelt sind. Kulturökologisch betrachtet, gehen diese Komponenten hervor aus einem existentiellen Angesprochensein, indem der Literaturunterricht diejenigen Inhalte, welche Grundfragen des menschlichen Daseins betreffen, ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückt. Es kommt dabei nicht darauf an, etwa in der 7. Klasse Schelling zu lesen. Aber grundlegende Einsichten wie der zyklische Kreislauf des Lebens – in den Worten von Goethes Auffassung von ›Natur‹ als »Gesetz des Werdens, Wachsens und Vergehens, des Lebens und des Todes« (Goethe 1989 [1813–16], Bd.12, S. 293 f.) – sollten im Literaturunterricht zur Sprache kommen. Der Gewinn für die Lernenden besteht im Bereitstellen von Orientierungswissen. Damit können sie brennende Herausforderungen der aktuellen Lebenswelt sicherlich nicht ein für allemal lösen, aber doch sich selber in der Reflexion auf Belange der Umwelt verorten. Antworten auf diese Fragen sind nicht in der Form von Ja oder Nein, von Wahr oder Falsch zu geben. Ziel aber muss es sein, literarische Kunstwerke als den Versuch einer Antwort auf eben diese Fragen verstehen zu lernen.

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Blaupause, Komposition, unbefleckte Empfängnis: Metaphern des reproduktiven Klonens als Herausforderung für den Literaturunterricht

Mensch und Umwelt in schulischer Reflexion am Beispiel Gentechnik Für die schulische Umweltbildung und -erziehung1 ist die Altersgruppe 14 bis 17 (das entspricht den Klassenstufen 9 und 10) aufgrund zweier wesentlicher Entwicklungsschritte, die Schülerinnen und Schüler in diesem Alter vollziehen, von besonderer Bedeutung. Zum einen positionieren sich die Schülerinnen und Schüler in diesem Alter zu wichtigen gesellschaftlichen Problemen. Sie verorten sich selbst in der Welt, reflektieren ihr Verhältnis zur Umwelt, entwickeln dezidierte Ideale und ethische Maßstäbe, die für ihre Lebensführung und Lebensplanung Relevanz haben sollen. Die schulische Umweltbildung und Umwelterziehung ist damit herausgefordert, die Schülerinnen und Schüler zu einer bewussten Reflexion ihres Verhältnisses zur Natur bzw. Umwelt anzuregen, einschließlich einer Reflexion des Selbstverständnisses vom Menschen als Teil der Natur. Schulischer Unterricht muss hierfür Modelle anbieten, muss die historische Dimension dieses Felds herausarbeiten und muss aktuelle Problemfälle und Tendenzen thematisieren. Zum anderen bildet sich bei den Schülerinnen und Schülern der Klassenstufe 9 und 10 die Fähigkeit heraus, das Zustandekommen eigener Präferenzen, Meinungen, Haltungen und Entscheidungen bewusst zu reflektieren. Sie sind prinzipiell in der Lage, eigene und fremde Argumente auf ihre Stimmigkeit und auf ihr Zustandekommen hin zu untersuchen und daraus Schlussfolgerungen für das eigene Argumentationsverhalten zu ziehen. Für die schulische Umweltbildung und -erziehung heißt das: Die eben geforderte Reflexion über das Verhältnis Mensch-Umwelt muss wiederum einer Reflexion unterworfen werden. Diese Metareflexion bezieht sich 1 Bildung und Erziehung werden im Anschluss an Hörner u. a. (2010, S. 12) wie folgt unterschieden: Der Begriff Bildung betont die Eigentätigkeit des sich bildenden Individuums (es heißt sich bilden, aber nicht gebildet werden), während der Begriff Erziehung normativ konnotiert ist; durch Erziehung werden gezielt Werte und Normen der Gesellschaft vermittelt.

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sowohl auf die individuellen kognitiven Modelle als auch auf die gesellschaftlichen Konventionen, die solchen Reflexionen (meist unbewusst) zugrunde liegen. Am Beispiel der Gentechnik wird die Notwendigkeit einer solchen Reflexion und Metareflexion deutlich: Die ethische Beurteilung so umstrittener wie zugleich die wissenschaftliche und gesellschaftliche Zukunft immens prägender Techniken wie der des reproduktiven Klonens hängt stark von kognitiven Modellen des Beurteilenden ab. Solche Modelle beruhen auf sprachlichen Metaphern und visuellen Bildern, die den Diskurs über die Gentechnik prägen. Differenzierte Umweltbildung und -erziehung erfordert, dass Schülerinnen und Schüler erkennen und kritisch beurteilen, wie sehr ihre Vorstellungen von Mensch und Natur auf kulturell determinierten Metaphern und Bildern beruhen. Dabei geht es nicht darum, solchen vorrationalen Wahrnehmungen die Legitimität abzusprechen. Dies würde auf einem verkürzten Verständnis von Metaphern als einer uneigentlichen Redeweise beruhen. Ein solches falsches Verständnis würde für die Umweltbildung nahelegen, diskursprägende Metaphern aufzulösen, um zu einem »wahren Kern«, zur »wahren Wissenschaft« vorzudringen (vgl. Weigel 2002, S. 229). Vielmehr geht es um eine rationale Erschließung vorrationaler Wahrnehmungen und darum, reflektiert mit ihnen umzugehen (vgl. Schwarke 2000, S. 23). Der fachspezifische Beitrag des Literaturunterrichts ergibt sich aus der poetischen Funktion literarischer Texte. In der Alltags- und in der Wissenschaftssprache ist die Metaphernbasiertheit des Wissens weniger offensichtlich als in der literarischen Sprache, die von Leserinnen und Lesern bewusst als artifiziell wahrgenommen wird. Literatur ist demnach ein geeignetes Medium, um für die Metaphernbasiertheit unseres Wissens und unserer Einstellungen zu sensibilisieren, da Leserinnen und Leser mit erhöhter Aufmerksamkeit sprachliche Wendungen als Metaphern wahrnehmen. Dieser Beitrag zeigt am Beispiel des Jugendbuchs Blueprint Blaupause von Charlotte Kerner, wie es im Literaturunterricht gelingen kann, Schülerinnen und Schülern die hermeneutische Kompetenz zur Reflexion ihres Verständnisses von Mensch und Natur zu vermitteln.

Wissen als Metapher und der Diskurs der Gentechnik Das menschliche Denken ist stark von Metaphern geprägt. In ihrem Buch »Metaphors we live by« zeigen die US-amerikanischen Linguisten George Lakoff und Mark Johnson, dass der größte Teil unseres Konzeptsystems metaphorisch strukturiert ist (vgl. zu den folgenden Ausführungen Lakoff / Johnson 2004, passim.). Der Mensch versteht Konzepte zu einem großen Teil von anderen

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Konzepten her. So wird beispielsweise das Konzept »Kommunikation« über das Konzept »Senden« verstanden. Der Sender übermittelt beim Sprechen eine Botschaft an den Empfänger. Gibt es ein Rauschen im Kanal, ist die Kommunikation gestört. Das Konzept »Zeit« wiederum kann über das Konzept »Geld« realisiert werden. Man kann Zeit vergeuden, Zeit verlieren, muss mit seiner Zeit sparsam umgehen, Zeit kann knapp sein und jemandes Tage können gezählt sein. Diese Einsicht sprengt die klassische Metapherntheorie, nach der die Metapher nichts weiter ist als eine Art von Vergleich. Metaphern beschränken sich nicht etwa darauf, Ähnlichkeiten zu beschreiben – sie stellen Ähnlichkeiten her. Durch das Verstehen eines Bereichs mit Hilfe eines anderen Bereichs sind Metaphern in der Lage, Realitäten zu erschaffen. Indem der Mensch Erfahrungen von einer Metapher her begreift und dementsprechend agiert, werden bestimmte Aspekte dieser Erfahrung fokussiert, andere ausgeblendet. Metaphern spielen also eine Schlüsselrolle bei der Konstruktion von Wirklichkeit. Demnach kommt Metaphern auch eine entscheidende Rolle in der wissenschaftlichen Theoriebildung zu. Während die klassische Metapherntheorie wörtliche und metaphorische Begriffe strikt voneinander trennt und die scheinbar wörtlichen Termini der Wissenschaftssprache zuordnet, welche gleichsam metaphernfrei zu bleiben habe, gilt es mittlerweile als Konsens, dass Metaphern als konstitutivem Teil des Wissenskonstruktionsprozesses eine heuristische Funktion zukommen. Dabei sind solche theoriekonstitutiven Metaphern von bloßen pädagogischen Metaphern zu unterscheiden, die der Veranschaulichung abstrakter Theorien dienen. Theoriekonstitutive Funktion übernimmt eine Metapher, wenn Wissensstrukturen aus einem Gegenstandsbereich auf einen anderen Gegenstandsbereich angewendet werden. Dabei werden zumeist abstrakte Begriffsdomänen durch konkretere Erfahrungsbereiche metaphorisch konzeptualisiert. Liebert (2005, S. 210 f.) nennt dieses Vorgehen »Als-ob-Modalität« und vergleicht es mit dem Spiel von Kindern, bei dem so getan wird, als seien bestimmte Gegenstände (beispielsweise Bausteine oder Baumzweige) Lebensmittel. Ein solches »Spielen« mit Konzepten in der Wissenschaft ermöglicht einen experimentellen Umgang mit Fragestellungen, der im Idealfall zu Fortschritten führt, die ohne das »Als-ob«-Gedankenspiel nicht möglich gewesen wären. Dass Wissenschaft also bei der Entwicklung und Beschreibung von Theorien auf Metaphern zurückgreift, ist nicht eine beunruhigende Tendenz, die es im Sinne einer »wahren«, »metaphernfreien« Wissenschaft zu bekämpfen gälte. Problematisch wird die theoriekonstitutive Funktion der Metapher erst dann, wenn die Metaphorizität des Modells mit dessen zunehmender Habitualisierung in den Hintergrund gerät, sich die Metapher also verselbstständigt. Aitchison (2003, S. 42) führt als Beispiel für einen solchen Prozess Modelle zur historischen Entwicklung von Sprache an, die auf Metaphern beruhen. So habe die

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Entwicklung von sprachgeschichtlichen Modellen auf der Grundlage von Metaphern wie »Sprache ist Baum«, »Sprache ist Welle«, »Sprache ist Spiel«, »Sprache ist Kette«, »Sprache ist Organismus«, »Sprache ist Gebäude« und »Sprache ist Strömung« zu Schlussfolgerungen geführt, die zwar auf der bildlichen Ebene stimmig sein mögen, die jedoch in Bezug auf den eigentlichen Betrachtungsgegenstand Sprache nicht adäquat sind. Wissenschaftliche Theorien und Modelle sind also kontinuierlich auf die ihnen zugrundeliegende Metaphorik hin zu überprüfen. Tragen die Metaphern wirklich durchgängig, oder gibt es Phänomene und Anwendungsbereiche, in denen das einer Theorie zugrundeliegende Metaphernfeld nicht funktioniert? Führen neue Erkenntnisse in einem Wissenschaftsfeld dazu, dass eine Metapher nicht mehr funktioniert und besser ganz fallen gelassen werden sollte? Gibt es metaphernbasierte Theorien und Modelle, die auf der Bildebene schlüssig sind, aber auch nur da? Kann das Einführen neuer Metaphern zu neuen Denkanstößen führen und einen wissenschaftlichen Gegenstand in völlig neuem Licht erscheinen lassen? Solche regelmäßigen Reflexionen sind vor allem dann geboten, wenn gerade die ethische Diskussion über ein Sachthema vor allem auf der Basis der zugrundeliegenden Metaphern geführt wird. Eine metaphernkritische Reflexion kann dann zur Versachlichung ethischer Debatten führen. Im ethischen Diskurs über die Gentechnik hat sich die Metaphernbasiertheit des Wissens als besonders wirkmächtig erwiesen, nicht zuletzt weil dieser Diskurs auch in der Öffentlichkeit so massiv wahrgenommen und von ihr als paradigmatisch für die ethische Beurteilung von Technologie überhaupt betrachtet wird. Dass die Diskussionen in diesem Diskurs so emotional aufgeladen sind, hängt zum Großteil auch mit seiner Metaphernlastigkeit zusammen – Sigrid Weigel spricht von einem »Metaphernsog […], der besonders von den neuen Bio- und Nanotechnologien auszugehen scheint« (Weigel 2002, S. 225). Der Gegenstand der Gentechnologie ist quasi unsichtbar, mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmbar, und muss deshalb sprachlich visualisiert werden. Dies geschieht, indem er mit Hilfe erfahrbarer Konzepte verbalisiert wird. Der evangelische Theologe Christian Schwarke hat in seiner »Hermeneutik der Gentechnik« (Hermeneutik verstanden als rationale Erschließung einer vorrationalen Wahrnehmung von Wirklichkeit) vier Metaphernfelder ausgemacht, die sich im Gentechnikdiskurs als besonders prägend erwiesen haben (zu den folgenden Ausführungen vgl. Schwarke 2000, S. 137–169): Code, Karte, Text bzw. Buch, sowie die Rede vom Genforscher als Ingenieur. Allen diesen Metaphernfeldern gemeinsam ist, dass ihre Implikationen in der öffentlichen Diskussion über die von den Inventoren dieser Metaphern intendierten Bedeutungen weit hinausgehen. »Metaphern vermitteln«, so Schwarke. »Aber indem sie als heuristische Instrumente genutzt werden, vermitteln sie manchmal mehr, als vermittelt werden soll. […] Metaphern vermitteln, aber sie machen sich selbstständig.«

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(Schwarke 2000, S. 147 f.) So ist etwa der Begriff Code als informationstheoretischer Begriff von der Molekularbiologie eingeführt worden, um die Durchsichtigkeit im Verhältnis von Genotyp und Phänotyp zu verdeutlichen. In der Alltagswahrnehmung wird dieser Begriff jedoch als Durchsichtigkeit des Individuums gegenüber Behörden, Versicherungen, dem Staat usw. verstanden: Der Code ist ein Geheimnis, das geknackt werden kann und somit intime Informationen preisgibt. Ähnlich verhält es sich mit den Metaphernfeldern Karte und Buch / Text, die so etwas wie Lesbarkeit und damit vollständige Offenlegung von Informationen implizieren. Die Entschlüsselung des menschlichen Genoms aber bedeutet keineswegs ein solches, von den Metaphern implizierte Durchsichtigwerden des Menschen.

Metaphern in Charlotte Kerners Roman Blueprint Blaupause In der fachdidaktischen Diskussion ist die Metapherntheorie von Lakoff und Johnson bislang nur »sehr zögerlich und vereinzelt« zur Kenntnis genommen worden, wie Gerd Katthage in seiner Metapherndidaktik feststellt (Katthage 2004, S. 129). Im Deutschunterricht wird die Metapher im Wesentlichen auf ihre Funktion als stilistisches Mittel in literarischen Texten beschränkt. Die Metapher darüber hinaus als universales sprachliches Phänomen zu betrachten, das unsere Weltwahrnehmung und Weltdeutung hochgradig prägt, ermöglicht einen integrativen Zugang. Die ethische Beurteilung eines Sachthemas auf die zugrundeliegenden Metaphern hin zu reflektieren kann mit Hilfe literarischer Texte geschehen. Aufgrund ihrer Artifizialität ist in literarischen Texten die Funktionalisierung von Metaphern für die Leserinnen und Leser sehr viel offensichtlicher als in Sachtexten. Am Beispiel des reproduktiven Klonens wird im Folgenden gezeigt, wie ein solcher integrativer Zugang im Deutschunterricht der Klassenstufe 9/10 einen literarischen Text dafür fruchtbar machen kann, ethische Positionierungen auf ihre Stimmigkeit hin zu untersuchen. Das Motiv des künstlichen Menschen ist bereits seit der Antike in der Literatur verbreitet. Georg Ruppelt (2002, S. 5) macht drei Traditionsstränge dieses Motivs aus: Eine magisch-mythische Traditionslinie zieht sich von antiken Mythen wie dem des Prometheus oder der Pandora hin zum Golem-Stoff. Eine mechanisch-technische Traditionslinie setzt im 18. Jahrhundert mit der Entwicklung von mechanischen Automaten ein, geht im 19. Jahrhundert mit der industriellen Revolution einher und wird im 20. Jahrhundert schließlich von der elektronischen Revolution bestimmt. Als dritten Strang benennt Ruppelt eine biochemisch determinierte Traditionslinie, für die die Entwicklung der Gentechnik virulent ist. Genmanipulation, Klonen und andere machbare oder für

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zukünftig machbar gehaltene Techniken werden vor allem in der Trivialliteratur thematisiert. Auch in der Jugendliteratur ist das Thema Klonen verbreitet.2 Ein ambitioniertes Jugendbuch ist Charlotte Kerners 1999 erschienener Roman Blueprint Blaupause. Für die in diesem Beitrag verhandelte Fragestellung ist Blueprint Blaupause auch wegen seiner festen Verankerung im Schulkanon3 ein geeignetes Fallbeispiel. Vor allem aber ist es die eigenwillige Art der Metaphorik, die den Roman für das Lernziel prädestiniert, Schülerinnen und Schülern eine Reflexion über ethische Meinungsbildung zu ermöglichen. Der Roman erzählt vom Schicksal der berühmten Komponistin und Pianistin Iris Sellin, die unheilbar an Multipler Sklerose erkrankt. Damit ihre Begabung mit ihrem Tod nicht unwiederbringlich verloren geht, lässt Iris Sellin sich vom Reproduktionsmediziner Professor Mortimer Gabriel Fischer klonen. Siri, Iris’ durch diesen Klonvorgang entstandene Tochter, entwickelt sich zu einem ebenso erstaunlichen Klaviertalent wie ihre Mutter. Obgleich Siri der erste menschliche Klon ist, wird das reproduktive Klonen schon bald zur Normalität – begleitet zwar von engagierten ethischen Debatten, die aber das Klonen nicht verhindern, sondern vielmehr zu seiner Normalisierung beitragen. Blueprint Blaupause ist dabei nicht nur ein Science-Fiction-Roman, in dem die Risiken und Probleme technischer Möglichkeiten verhandelt werden. Eine zweite Lesart (und es ist diese Lesart, die es den jugendlichen Leserinnen und Lesern ermöglicht, sich in diesem Buch wiederzufinden und sich mit der Protagonisten Siri auseinanderzusetzen) ist die eines Coming-of-Age-Romans, eines Romans über das Erwachsenwerden, über Identitätsbildung und Unabhängigkeit. Erzählerin im Roman ist Siri, die kurz nach dem Tod ihrer Mutter beginnt, die gemeinsame Geschichte von ihr und ihrer Mutter aufzuschreiben. Siri erzählt auf zweierlei Weise: Zum einen nimmt sie die Perspektive einer auktorialen Erzählerin ein, die – auch von sich selbst in der dritten Person sprechend – wichtige Handlungselemente berichtet und dabei auch Einblick in die Gefühlswelt ihrer Mutter gewährt. Verschränkt wird diese Erzählweise mit kommentierenden Abschnit2 Eine willkürliche Auswahl deutschsprachiger oder in deutscher Übersetzung vorliegender Jugendbücher zum Thema reproduktives Klonen: Michael Borlik Die Schlangenbrut (2009), Karin Bruder Die Erben der Pharaonin (2004), Andrew J. Butcher Frankensteins Erbe (dt. 2004), ders. Das Labor des Grauens (dt. 2009), Catherine Jinks Der Auserwählte (dt. 2005), Charlotte Kerner Geboren 1999 (1989), dies. Jane Reloaded (2011), Bettina Obrecht DesignerBaby (2003), Caragh O’Brien Die Stadt der verschwundenen Kinder (dt. 2011), Birgit Rabisch Duplik Jonas 7 (1992), Malcom Rose Lab 47 – Gefahr aus dem Labor (dt. 2002), Christian Waluszek All Games (2010), Nancy Werlin Chromosom 4 – Das Experiment (dt. 2008), KlausPeter Wolf Ostfriesenfalle (2011), Reinhold Ziegler Perfekt Geklont (2005). 3 Als Indiz für den Kanonisierungsgrad eines Jugendbuchs gilt im Allgemeinen das gehäufte Erscheinen von Unterrichtsmaterialien, Lehrerhandreichungen etc. Für Blueprint Blaupause seien exemplarisch genannt: Gerling (2000), Merkel (2002), Schede (2010), Wiese (2003).

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ten, in denen Siri (in der ersten Person sprechend) die zuvor auktorial erzählten Vorkommnisse aus ihrer Perspektive beleuchtet und wertet und damit ihre eigene Wahrheit aufdeckt – »Denn wahr ist auch das, was ich […] hinter den Fakten erfühle« (S. 11). Gerade diese Abschnitte sind stark überladen mit einer Vielzahl von Metaphern4 und Vergleichen. Dass einige Metaphernkomplexe überstrapaziert werden, dass viele Metaphern auf die Leserinnen und Leser artifiziell, weit hergeholt oder unangebracht wirken, dass mitunter unterschiedliche Metaphern seltsam vermischt und damit ihre Aussageintentionen unklar werden, ist ein Qualitätsmanko von Blueprint Blaupause. Das spricht aber nicht gegen eine Behandlung des Romans im Unterricht – im Gegenteil: Den Schülerinnen und Schülern wird es ermöglicht, kritisch zu reflektieren, wie sehr ein unachtsamer Metapherngebrauch den ethischen Diskurs nicht nur über die Gentechnik, sondern über technische Entwicklungen allgemein vernebelt. Im Folgenden werden vier Metaphern bzw. Metaphernfelder, die von der Erzählerin Siri in den personal erzählten Abschnitten des Romans Blueprint Blaupause verwendet werden, kritisch diskutiert. Es handelt sich um die Metaphern Blaupause und Schöpfung sowie um Metaphern aus den semantischen Feldern der Musik und der Kernspaltung. Titelgebend ist die Metapher der Blaupause. Sie wird auch im Romantext immer wieder aufgegriffen, zum Beispiel: »Deine DNS war der Masterplan, meine DNS nur ein Blueprint. Vom Vorbild zum Abbild, ich die Blaupause deiner Gene« (S. 28). Darin kommt der Vorwurf Siris zum Ausdruck, ihre Mutter habe sie durch die spezielle Form der Fortpflanzung zu einer bloßen Kopie degradiert und ihr die Möglichkeit genommen, ihre eigene Individualität zu entwickeln. »Ich hatte von Anfang an sicher nur ein Uns-Bewusstsein, ein Wir-Gefühl« (S. 49 f.), stellt Siri fest, und weiter : »Ich stehe oft vor dem Spiegel im Flur, seit Iris tot ist, finde aber niemanden. Ich bin ohne Selbst-Bewusstsein und war es immer.« Mit weiteren Metaphern wird dieser Vorwurf bestärkt: Das Klonen wird als Programmieren gedacht, der Geklonte als eine Form des japanischen Digitalspielzeugs Tamagotchi (S. 26). Der Geklonte erscheint als gläserner Mensch, »von Anfang an durchschaubar, erklärbar, rätselfrei« (S. 41), also ohne die Möglichkeit zur Entwicklung eines eigenen Selbst. Das Klonen wird zum Spiel, zum »Klonopoly« (S. 26), in dem der Geklonte vom Individuum zur Spielfigur degradiert wird. Nun ist ein Klon nur dann eine bloße Kopie, wenn man, wie der Medizinethiker Dan W. Brock klarstellt, »den rohesten genetischen Determi4 Dem Ansatz Lakoffs und Johnsons entsprechend, liegt diesem Beitrag ein erweiterter Metaphernbegriff zugrunde: Metapher wird mit Gert Katthage (2004, S. 307) verstanden als »Oberbegriff für alle Formen sprachlicher Bildlichkeit«. Katthage spricht sich dafür aus, erst in der Oberstufe, wenn die Schülerinnen und Schüler bereits ein Bewusstsein für bildlichen (im weiten Sinn metaphorischen) Sprachgebrauch entwickelt haben, differenzierende Begriffe wie Synekdoche, Metonymie, Allegorie usw. einzuführen.

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nismus« voraussetzt, »dem zufolge die Gene eines Individuums vollständig und wesentlich dessen Eigenschaften bestimmen würden« (Brock 2004, S. 9).5 Geht man hingegen davon aus, dass Identität auch oder vor allem durch soziale Faktoren bestimmt wird, so ist Siris Vorwurf gegen ihre Mutter, sie habe sie durch das Klonen zur bloßen Blaupause ihrer selbst degradiert, nicht haltbar. Ein Klon ist eben keine Kopie, er ist nicht weniger durchschaubar als jeder nichtgeklonte Mensch auch, er ist nicht »programmiert«. Iris’ ethisch fragwürdiges Verhalten, das Siris freie Identitätsentwicklung infrage stellt, ist nicht etwa das Klonen, sondern ihr Anspruchsdenken, sich in Siri verwirklichen zu wollen. Insofern ist der eigentliche Konflikt im Roman ein klassischer Mutter-TochterKonflikt. Eine Reihe von Metaphern wird aus der Musik entnommen. Der Beruf der Mutter wird zum Bildspender für metaphorische Aussagen Siris. »Eine ganz besondere Komposition sollte ich werden«, so Siri zur imaginierten, weil bereits verstorbenen Iris. »Doch unsere DNS, diese verdrehte Sprossenleiter, konnte von Anfang an nur verdrehte Harmonien hervorbringen. Hast du wirklich nie gehört, wie schrecklich schief alles klang?« (S. 25). Und kurz darauf noch einmal: »Du hast mich komponiert wie ein Musikstück. Doch nicht mit den üblichen Tönen c, d, e, f, g, a, h, sondern mit den Basen A, T, G, C« (S. 28). Der Begriff verdreht ist polysem – er ist einmal eine Formbeschreibung (synonym für spiralförmig), einmal eine qualitative Abwertung (synonym für verkehrt, nicht adäquat). Die symbolhafte Darstellung der DNS als Doppelhelix, als verdrehter Doppelstrang wird sprachbildlich zur Kritik am Klonen verwendet: Unsinnigerweise, denn auch alle herkömmlich gezeugten, also nicht durch reproduktives Klonen entstandenen Menschen haben eine DNS, die als Doppelhelix dargestellt wird. Ebenso diskussionswürdig ist die Gleichsetzung des Klonens mit einem anderen markanten Einschnitt in der Technikgeschichte: der Atombombe. »Schon lange vor meiner Zeit«, so reflektiert Siri, »wurde das Klonen mit der ersten Atomspaltung verglichen und das gefällt mir : Wir Klone sind wie kleine Atombomben. In den zwischenmenschlichen Beziehungen sprengen wir viel von dem in die Luft, was euch seit Menschengedenken lieb und teuer war und unveränderlich, ja ewig erschien. Nach uns bleibt ein genetisches Hiroshima zurück, ein seelisches Niemandsland, eine schwarze Liebeswüste« (S. 39). Die krasse Gleichsetzung von Siris ambivalentem Verhältnis zu ihrer Mutter mit

5 Brocks Aufsatz ist in mehreren didaktischen Handreichungen zum Roman abgedruckt, unter anderem im Lehrbuch »deutschbuch« für die Klassenstufe 9 (Cornelsen). Er kann also in die Behandlung des Romans einbezogen werden. Im Internet ist er unter http://www.zeit.de/ 2004/35/Essay_Brock zu finden [17. 12. 2014].

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einem realen Massenmord fordert Schülerinnen und Schüler heraus, sich mit der Angemessenheit bestimmter Metaphern auseinanderzusetzen. Das am häufigsten von Kerner bediente Metaphernfeld ist das des Klonens als Schöpfung, des Klonenden als Gott. Die Verwendung dieses Metaphernfelds im Roman Blueprint Blaupause zu entschlüsseln, stellt den Interpreten vor erhebliche Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten ergeben sich aus der schiefen, häufig widersprüchlichen Verwendung unterschiedlicher Motive aus dem christlich-theologischen Bereich. »Denn der Geist der modernen Wissenschaft hat biblische Dimensionen. Er macht die himmlische Dreieinigkeit – ist sie nicht überhaupt das Vorbild aller Klone? – zur irdischen Zweieinigkeit« (S. 27). Nicht nur Schülerinnen und Schüler dürften ihre Probleme bei der Deutung dieses unscharfen Bildes haben. Komplizierter wird die Auslegung noch, wenn diese Dreieinigkeits- / Zweieinigkeitsmetapher mit dem Motiv der neutestamentlichen Jungfrauenzeugung, der »unbefleckten Empfängnis« kombiniert wird. Aus Iris als Gottvater (der sie in Kerners Bild der Dreieinigkeit / Zweieinigkeit wohl darstellen soll) wird nunmehr Iris als Jungfrau Maria. Professor Fischer hingegen ist nicht etwa der Heilige Geist, der die jungfräuliche Iris schwängert, sondern der Verkündigungsengel – Mortimer Gabriel Fischer, nomen est omen. Mit seiner Verkündigung »Sie sind schwanger, Frau Sellin, herzlichen Glückwunsch!« wird er zum »Weißkittel-Engel des 21. Jahrhunderts« (S. 27). Diese Vermischung religiöser Bilder zieht sich durch den gesamten Roman: Iris ist wahlweise mal die Madonna (S. 47), mal Gott respektive die Göttin (S. 10), durchdrungen von göttlichen »Allmachtsphantasien« (S. 19). Iris und Siri zusammen sind die »Doppelgöttin« – eine Analogie zur göttlichen Zweieinigkeit (Vater / Sohn), das Bild wird hier jedoch aus der griechischen Mythologie entlehnt (S. 29). Wenn schließlich auch noch das religiöse Motiv der Auferstehung (S. 18) bedient wird, verirren sich Leserinnen und Leser endgültig im metaphorischen Labyrinth. Dabei ist aber nicht nur die wirre Anhäufung von Metaphern aus dem religiösen Bereich fragwürdig. Schon die Metapher des reproduktiven Klonens als Schöpfung an sich muss kritisch hinterfragt werden. Der Begriff Schöpfung – rekurrierend auf die beiden alttestamentlichen Schöpfungsmythen des Buches Genesis – bezieht sich auf einen Akt, bei dem aus dem Nichts Materie entsteht. Das ist beim reproduktiven Klonen nicht der Fall: Es ist ein technischer Umgang mit bereits Vorhandenem. Es handelt sich beim reproduktiven Klonen, streng genommen, nur um eine spezielle Form der künstlichen Fortpflanzung. Kritik an dieser Fortpflanzungsmethode sollte sich auf individuelle und gesellschaftliche Risiken beziehen. Kritisiert man das Klonen, wenn schon nicht als Schöpfungsakt, so doch als illegitimen Eingriff in die Schöpfung, so müsste man Technik insgesamt und als solche infrage stellen, handelt es sich bei Technik doch immer um ein Verändern des Vorgegebenen. Im Übrigen erscheint es generell merkwürdig, dass gerade im Bereich der Gen-

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technik häufig der Topos der Hybris, des Gott-Spielens, des Eingriffs in die Schöpfung rekurriert wird, während er in anderen Bereichen der Technik und der Medizin kaum (mehr) virulent ist.

Schluss Der Roman Blueprint Blaupause eignet sich als Ausgangspunkt, um das eingangs formulierte Ziel zu erreichen, Schülerinnen und Schüler für die Bedingungen zu sensibilisieren, unter denen sie in kulturökologischen Fragen ethische Positionen beziehen. Denkbar ist folgendes Vorgehen: (1.) Die Schülerinnen und Schüler erkennen zunächst, wie sehr Siris radikale Positionierung zur Klonfrage mit den Metaphern zusammenhängt, mit denen sie sich ausdrückt. Das kann über das Formulieren eines ersten Leseeindrucks geschehen: Zu vermuten ist, dass es den meisten Schülerinnen und Schülern schwer gefallen ist, die aus der Ich-Perspektive erzählten, rein reflexiven Abschnitte des Buchs, in denen sich die Metaphern häufen, zu durchdringen. (2.) Anschließend ermitteln die Schülerinnen und Schüler im Buch Metaphern, ordnen sie zu Metaphernkomplexen und untersuchen diese Metaphernkomplexe hinsichtlich ihrer Herkunft, ihren Quellbereich. (3.) Auf der Grundlage dieser textanalytischen Arbeit positionieren sich die Schülerinnen und Schüler, inwieweit sie einzelne Metaphern für angemessen, andere wiederum für unangemessen halten. Dieser Schritt ist von der Lehrperson ergebnisoffen zu gestalten: Es darf nicht darum gehen, Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, dass bestimmte Metaphern nicht funktionieren. Wenn sie Metaphern, die in dem vorliegenden Beitrag als unangemessen bewertet wurden, wohlbegründet als angemessen betrachten, ist das legitim. (4.) Anschließend stellen die Schülerinnen und Schüler Überlegungen dazu an, wie sich ihre sprachkritische Untersuchung auf ihre ethische Bewertung des Falls Iris/Siri im Besonderen und der Problematik des reproduktiven Klonens im Allgemeinen auswirkt. Die Schülerinnen und Schüler sind nun durch einen literarischen Text sensibilisiert worden, wie sehr Sprache ihre Wahrnehmung ethischer Problemfälle beeinflusst.6 Mit dieser Erkenntnis lässt sich im folgenden Unterrichtsverlauf die 6 Diese sprachkritische Einsicht kann auch eine bildkritische Perspektive erweitert werden. Der Gentechnik-Diskurs ist nicht nur von sprachlichen Metaphern, sondern auch von visuellen Bildern geprägt (vgl. Schwarke 2000, S. 79–135). Die Verfilmung des Romans (Blueprint, 2003, Regie: Rolf Schübel) bietet die Möglichkeit, sich im Unterricht auch mit dem Einfluss solcher Bilder auf die Vorstellungs- und Meinungsbildung auseinanderzusetzen. Es ist eine der Stärken des Films, dass er die sprachlichen Metaphern des Romans nicht einfach eins zu eins in das Medium Film übernimmt, sondern genuin visuelle Bilder und Bildkomplexe abruft, die mit dem Gentechnik-Diskurs verbunden sind. Ein Beispiel ist Michelangelos »Erschaffung

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Arbeit an Sachtexten fruchtbar machen. Zur Analyse von Texten aus der Gentechnik-Debatte wird es nunmehr gehören, zu untersuchen, inwieweit die Sprache, insbesondere die semantische Gestaltung eines Textes Leserinnen und Leser in ihrer Urteilsbildung beeinflussen kann. Letztlich kann diese Einsicht auch auf andere kulturökologisch relevante Themenfelder übertragen werden. Die ethischen Diskurse über Klimawandel, Umweltverschmutzung, Nachhaltigkeit oder Tierethik, die allesamt emotional stark aufgeladen sind, können durch einen metaphernkritischen Zugang reflektierter und sachlicher gestaltet werden.

Quellenverzeichnis Aitchison, Jean (2003): »Metaphors, models and language change.« In: Raymond Hickey (Hrsg.): Motives for Language Change. Cambridge. S. 39–53. Brock, Dan (2004): »Auch ein Klon ist frei geboren.« In: Die Zeit (19. 08. 2004). S. 9. Gerling, Martin (2000): »Ego-Klon-Trip: Ein Buch zum Streiten.« In: Praxis Deutsch, Jg. 27, Nr. 162. S. 62–65. Hörner, Wolfgang / Barbara Drinck / Solvejg Jobst (2010): Bildung, Erziehung, Sozialisation. Grundbegriffe der Erziehungswissenschaft. Stuttgart. Katthage, Gerd (2004): Didaktik der Metapher. Perspektiven für den Deutschunterricht. Baltmannsweiler. Kerner, Charlotte (1999): Blueprint Blaupause. Roman. Weinheim. Lakoff, George / Mark Johnson (2004): Leben in Metaphern. Konstruktionen und Gebrauch von Sprachbildern. Heidelberg. Liebert, Wolf-Andreas (2005): »Metaphern als Handlungsmuster der Welterzeugung. Das verborgene Metaphern-Spiel der Naturwissenschaften.« In: Hans-Rudi Fischer (Hrsg.): Eine Rose ist eine Rose… Zur Rolle und Funktion von Metaphern in Wissenschaft und Therapie. Weilerswist. S. 207–233. Merkel, Gerald (2012): »Blueprint« im Unterricht. Weinheim / Basel. Ruppelt, Georg (2002): »Keiner, den ein Weib geboren«. Von schönen neuen Menschen und Klonen in der Literatur. Hameln. Schede, Hans-Georg (2010): Charlotte Kerner, Blueprint. Blaupause. Freising. Schwarke, Christian (2000): Die Kultur der Gene. Eine theologische Hermeneutik der Gentechnik. Stuttgart / Berlin / Köln. Adams« aus dem Deckenfresko der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Das Bildmotiv verweist auf den Topos des Klonens als neuen Schöpfungsakt, des Klonenden als einen, der Gott spielt. Im Film betrachtet Iris in einer kurzen Sequenz einen Straßenmaler, der Michelangelos Motiv mit Kreide auf den Bürgersteig malt; diese Sequenz folgt unmittelbar dem Gespräch zwischen Iris und Professor Fischer, in dem die Klonierung beschlossen wird. Das Motiv wird bei der Darstellung des Klonvorgangs selbst wiederaufgenommen: die in die Eizelle eindringende Pipette ruft Assoziationen zur Berührung (und damit Beseelung) Adams durch Gott hervor. Michelangelos Motiv taucht später noch einmal auf dem Programmheft des Konzerts auf, das Iris für ihre Tochter komponiert hat.

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Weigel, Sigrid (2002): »Der Text der Genetik. Metaphorik als Symptom ungeklärter Probleme wissenschaftlicher Konzepte.« In: dies. (Hrsg.): Genealogie und Genetik. Schnittstellen zwischen Biologie und Kulturgeschichte. Berlin. S. 223–246. Wiesen, Brigitte u. Herbert (2003): Charlotte Kerner Blueprint/Blaupause. Lehrerheft. Rot an der Rot.

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Vom Idol zur Selbstgestaltung. Modellierungen des jugendlichen Ich durch Bilder und Texte

Einleitung Jede Gesellschaft definiert und praktiziert ein bestimmtes Verhältnis, das der Einzelne zu den in ihr produzierten Texten und Bildern einnehmen soll. Ein privilegierter Ort für die Einübung eines solchen Verhältnisses ist die Schule. Für sie werden in einem vielstimmigen Diskurs, der sich aus amtlichen Verlautbarungen, pädagogischen Forderungen und wissenschaftlichen Reflexionen zusammensetzt, die grundlegenden Prinzipien kodifiziert, auf denen der Umgang der nachwachsenden Generation mit Texten und Medien beruhen soll; hier werden zudem konkrete Formen des Umgangs mit Texten vermittelt und angeeignet; schließlich wird hier die Arbeit an Text und Bild mit Autorität bedacht, die dazu dient, diese Arbeit durchzusetzen und ihr Geltung zu verschaffen. Was den Deutschunterricht betrifft, so ließen sich drei Modelle zur Überbrückung der Text- oder Bilddistanz nennen: 1. Das Modell der einfachen Nachahmung oder Inszenierung, wie man es von der Gedichtrezitation her kennt und für das der Vortrag eines Textes schon seine ›Interpretation‹ darstellt.1 Zweifellos stammt dieses Modell aus dem Kontext der antiken oralen Kultur, als die Wiederholung des gesprochenen ›Textes‹ diesen speicherte und seinen Inhalt zur Nachahmung bereitstellte. (Havelock 1963, Part One) 2. Das zweite Modell wäre das der Interpretation. Hier geht es darum, die Ferne des Textes dadurch zu verringern, dass man den Text oder das Bild versteht, indem man (analytisch oder pragmatisch) seinen verborgenen Sinn zutage fördert. 3. Schließlich hat sich im vergangenen Jahrzehnt das Kompetenzmodell etabliert, das – zentral gesteuert – zeitlose, polyvalente, der elementaren Sinnerfassung verpflichtete Fertigkeiten vermittelt, die die Brücke zum Text herstellen. Gegenüber dieser didaktischen Tradition von Nachahmung und Interpretation soll es in dem hier zu skizzierenden kleinen Unterrichtsprojekt darum gehen, den literarischen Text für Schüler als eine kulturelle Umwelt zu insze1 Vgl. Matthias 1907, S. 410; Frank 1976, Bd. 1, S. 296; Kaulhausen 1959; Lösener 2007.

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nieren, zu der das Ich in eine aktive Beziehung treten kann. Damit ist zunächst einmal jene Aktivität des Lesers gemeint, die Barthes im Sinn hatte, als er das Schreibbare gegen den nur lesbaren Text aufbrachte, also die mögliche Textproduktion des aktiven Lesers gegenüber der reaktiven Lektüre immoblisierter Texte.2 Die Möglichkeit von Texten, geschrieben, statt nur verehrt oder konsumiert zu werden, überwindet die Objektivierung der Literatur durch die Interpretation. Die didaktischen Konsequenzen aus dieser Überwindung sind unter anderem vom handlungs- und produktionsorientierten Unterricht gezogen worden. Die diesen Ausbruchsversuchen aus der Philologie implizite Frage nach dem Status des Textes (und seines Lesers) wird bedeutsam, wenn man eine Dimension der Rezeption zur Kenntnis nimmt, die bei Barthes eher am Rand auftaucht: »von welchen Texten,« fragt Barthes, »würde ich akzeptieren, daß sie […] als Kraft in meine Welt Eingang finden?« (Barthes 1976, S. 8) Diese Frage zielt nicht mehr auf das Lesen und Schreiben, sondern auf die Existenz dessen, der einen Text liest. Und in diesem Zusammenhang stellt sich die moralische und pädagogische Frage nach dem Status des Textes. Funktioniert er als eine Vorschrift oder eröffnet er dem Rezipienten Spielräume seiner Existenz? Mit dieser Frage ist der Horizont der Literatur überschritten, denn es geht nicht mehr nur um eine literarische Rezeption, sondern um die Eröffnung der Möglichkeit einer ethischen Rezeption von Literatur. Gerade für die Zeit der Adoleszenz ist die Möglichkeit einer solchen Rezeption zu konstruieren, da das jugendliche Subjekt die Literatur (wenn überhaupt) vornehmlich zur Reflexion der eigenen existentiellen Bedürfnisse begehrt. Das literarische Interesse an der Literatur ist eine Erscheinung späterer Orientierungen. Dabei ist die Frage, wie das Verhältnis zwischen jugendlichem Rezipienten und Text sich gestaltet, selbst schon eine ethische Frage: Fordert ein Text eine bestimmte Rezeptionsweise ein oder eröffnet er ein komplexeres, existentielles Spiel? In diesem Zusammenhang ist unbedingt das Regime der Bilder einzubeziehen, an dem Jugendliche stärker wohl als an Texten Zwänge (und Möglichkeiten) erfahren, die von ihrer medialen und kulturellen Umwelt auf ihr Selbst ausgehen. Unter dieser Perspektive macht es wenig Sinn, Texte und Bilder als Zeichen mit repräsentierender Funktion zu betrachten, wie dies von den Modellen der Interpretation und der reading literacy vorgesehen ist. Die ethische Dimension der Kultur wahrzunehmen macht es vielmehr notwendig, die pragmatische Dimension des Zeichens in den Vordergrund zu rücken. Wulff hat dies am Beispiel des Bildes ausgeführt. Dessen Perzeption und Interpretation offenbaren, dass das Bild an »Handlungsentwürfe und -vollzüge angeschlossen werden kann.« (Wulff 1995, S. 338) Wulff macht dies am Beispiel der Orientierung deutlich: Die Karte repräsentiert nicht einfach den Raum, ihre Daten werden 2 Barthes 1976, S. 8; in didaktischer Perspektive vgl. Paefgen 1996, Kap. III, S. 3–5.

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vielmehr in den ›Funktionsrahmen‹ des sich orientierenden Subjekts eingefügt; erst im Prozess der Orientierung offenbart sich die Funktion der Zeichen, wenn Interpretation und Verhalten verkoppelt werden. Dieses an Alltagspraktiken gewonnene Modell lässt sich leicht in eine ethopoetische Konstellation übersetzen. Der Text nimmt dann die Position der Karte ein, seine Lektüre ist eingefügt in den praktischen Rahmen einer ethischen Orientierung, die im Jugendlichen kaum mehr darstellt als ein Orientierungsbedürfnis auf dem Weg von der Kindheit zum Erwachsenen. Dieses Bedürfnis wird in der Gesellschaft durch eine Reihe unterschiedlicher sozialer Praktiken bedient, zu denen auch bestimmte ästhetische Verhaltensweisen gehören. Auf der einen Seite geht es um die Nachahmung von Modellen. Für die Kultur der Moderne sind dabei hauptsächlich Modelle der ästhetischen Perfektion prägend geworden, deren Nachahmung zum Heroismus des modellierten Körpers und zu einer asketischen Lebensweise führt. So schreibt Winckelmann in seinen 1755 erschienenen Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke: So bildet uns Homer seine Helden, und seinen Achilles bezeichnet er vorzüglich durch die Geschwindigkeit seiner Füße. Die Körper erhielten durch diese Übungen den großen und männlichen Kontur, welchen die griechischen Meister ihren Bildsäulen gegeben, ohne Dunst und überflüssigen Ansatz. Die jungen Spartaner mußten sich alle zehen Tage vor den Ephoren nackend zeigen, die denjenigen, welche anfingen fett zu werden, eine strengere Diät auflegten. (Winckelmann 1969, S. 6)

Die Schule, die die Künstler aufsuchten, um ihre Modelle zu finden, »war in den Gymnasien, wo die jungen Leute […] ganz nackend ihre Leibesübungen trieben.« (Ebd., S. 8) Diese wiederum waren ebenfalls ›Nachbildner‹, die die athletischen Körper nachahmten oder die in den Epen besungenen Taten der Helden. (Havelock 1963, S. 159f.) Die Mimesis besitzt bis heute die Funktion, Orientierungsbedürfnisse auf eine bestimmte, einfache Weise zu erfüllen, auch wenn man in einer mehr durch Texte und die Sorge um das Leseverhalten gekennzeichneten Kultur hierfür eher die psychologischen Mechanismen der Identifizierung heranzieht3 und die Diätetik im Zusammenhang mit der Nachahmung des Vollendeten sich als weniger folgsam erweist als Winckelmann es sich vorstellte – abgesehen davon, dass der Jugend existentielle Erfahrungen offen stehen, die nicht weniger heroisches Charisma vermitteln, wie der Rausch, die elektronischen Medien oder die Mode. Im gleichen Atemzug aber muss man andererseits die Gegenmacht in Erinnerung rufen, die Textanalyse, und auch dieser Antagonismus hat eine lange Genealogie, denn das, was Platon gegen die ›Nachbildner‹ vorbringt, dass sie den Gegenstand der Nachahmung nicht 3 Vgl. z. B. Schön 1990; Garbe 2009.

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kennten und nur imitierten, was schön erscheint,4 ist das Programm der Textanalyse: gegen die Verführung, den Rausch und den Zauber, dem die Mimesis sich hingibt, eine rationale Haltung einzuüben, die die dargebotene Wahrheit analysiert, klassifiziert und prüft. Wenn Adoleszenz in der Schule bedeutet, diesem Gegensatz ausgeliefert zu sein, so ist der hier vorgelegte Unterrichtsversuch gedacht, eine Erfahrung im Medium von Text und Bild zu ermöglichen, die das mimetische Regime der Kritik unterzieht, ohne die Textanalyse als heilsamen Antagonisten zu mobilisieren und statt dessen eine am Selbst orientierte Erfahrung zu eröffnen. Welche grundlegenden Prinzipien könnte eine solche Erfahrung kennzeichnen? (Zum Folgenden Foucault 2004, S. 380) Die räumliche Grenzüberschreitung, die dazu führt, die lokalen und psychischen Festsetzungen und Prägungen zu verlassen; die Versuche, die Wahrheit und den Wert der Dinge selbst zu prüfen und auch hier die institutionellen Prägungen der Kindheit zu überwinden; sich selbst zu betrachten, wie man wirklich ist; das Begehren, jemand anderes zu werden, als man als Kind ist oder war. In der aufbrechenden Adoleszenz sind dies Regungen, Anstöße einer Aufmerksamkeit auf das Selbst, dessen Realisierung bedroht ist angesichts von Mächten, die das jugendliche Selbst schon im Keim zu besetzen sich anschicken. Es gehört zur Ambivalenz dieses Lebensabschnitts, dass Erfahrungen der Befreiung und der potentiellen Selbstverwirklichung – der Rausch, die Medien, die Mode – auch diejenigen existentiellen Linien sind, über die die Macht das jugendliche Selbst zu besetzen und es abhängig zu machen versucht. Daher die irisierende Ambivalenz von Befreiung und Abhängigkeit, von Kommunikation und Konsum, von Individualität und Normierung. Der hier zu explizierende Unterrichtsversuch ist gedacht, diese Ambivalenz erfahrbar und durchschaubar zu machen und jenseits des Antagonismus von irrationaler Mimesis und rationaler Textanalyse Lektüre und Blick auf eine Erfahrung des Selbst auszurichten.

Die Unterrichtseinheit Die Unterrichtseinheit thematisiert in progredierender Weise unterschiedliche Verhältnisse des Lesers oder Betrachters zu Text und Bild. Ausgehend von einer einleitenden Begriffsklärung verläuft die kleine Einheit in groben Zügen von der Erfahrung und Analyse des mimetischen Regimes, in dem Text bzw. Bild dem Leser oder Betrachter wenig Spielraum lassen, zu Texten und Bildern, die sich immer mehr öffnen und sich schließlich nur noch als Operatoren der Eröffnung eines ethischen Spielraumes – schol¦ – verstehen und inszenieren. 4 Platon 1991, 602a–b, S. 734/5–736/7; Havelock 1963, S. 25.

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Begriffe und Definitionen An ihrem Ausgangspunkt knüpft die Einheit an Vorstellungen an, die die Schüler mit anderen Welten oder einem besseren Leben verbinden. Dazu sollen sie die Begriffe Ideal, Utopie, Vorbild, Leitbild und Idol in eine räumliche Ordnung bringen und die Begriffe selbst sowie ihre Beziehungen untereinander definieren. In einem nächsten Schritt erhalten sie Definitionen zu diesen Begriffen (siehe folgende Anmerkungen) und den Auftrag, davon ausgehend die Begriffe nach vorgegebenen Merkmalen zu klassifizieren. Für die Definitionen werden zwei Serien von Texten ausgewählt, zum einen Lexikoneinträge, die die Begriffe denotativ klar bestimmen, zum anderen philosophische Texte, die etwas sperriger formuliert sind. Diese Mischung soll einerseits die Begriffe, ihre Verwendungsweise und ihre Bedeutungen sichern, andererseits durch philosophische Überlegungen in modernistischer Schreibweise zu vertiefender Reflexion anregen. Die Einordnung in eine Matrix wird am Ende zeigen, dass Ideal und Leitbild sowie Vorbild und Idol Paare ergeben. Blochs Definition des Ideals5 – aber das gilt für seinen Stil überhaupt, der das Denken gewissermaßen als Prozess anleitend entwickelt – setzt im Hier ein (»ein aufgeschlossener Blick«) und gleitet dann (der »sich zuwendet«) in den Horizont des Nicht-Zuhandenen (das »Ziel«, das »fordert oder leuchtet«) über (siehe Bloch 1982, I, S. 189). Die Schüler nehmen im close reading, dem alle Textfragmente Blochs und Foucaults unterzogen werden sollten, dieses Gleiten von einer sensiblen Alltagswahrnehmung zur Vorstellung eines Ideals wahr, um dann im Wesentlichen zwei weitere Punkte herauszuarbeiten: dass das Ideal, was seine Pragmatik betrifft, operativen Charakter hat, das heißt, dass es als »Aufgabe« (Bloch 1982, I, S. 189) wirkt und eine Praxis vorschreibt, dass es keine wirkliche Form annimmt, sondern »im Kopf« (ebd.) vorgestellt wird, und schließlich, dass das Ideal mehr als das Ziel durch Vollkommenheit gekennzeichnet ist. Der Schlusssatz des Fragments ist deutlich hervorzuheben: »Der Gegenstand der Idealvorstellung, der ideale Gegenstand, wirkt so als fordernder, scheinbar als hätte er ein eigenes Wollen, das als Sollen an den Menschen ergeht.« (Ebd.) Bloch beschreibt hier den Mechanismus der intensiven Wirkung 5 »Ein aufgeschlossener Blick bewährt sich darin, daß er sich zuwendet. Ihm schwebt ein Ziel vor, das seit der Jugend selten aus den Augen verloren wird. Indem es nicht zuhanden ist, aber fordert oder leuchtet, wirkt es als Aufgabe oder als Richtpunkt. Scheint das Ziel nicht nur Wünschens- oder Erstrebenswertes, sondern Vollkommenes schlechthin zu enthalten, so wird es Ideal genannt. Jedes Ziel […] muß erst im Kopf vorgestellt werden. Aber die Zielvorstellung Ideal unterscheidet sich von der gewöhnlichen eben durch den Akzent Vollkommenheit; von ihm kann nicht heruntergehandelt werden. […] Der Gegenstand der Idealvorstellung, der ideale Gegenstand, wirkt so als fordernder, scheinbar als hätte er ein eigenes Wollen, das als Sollen an den Menschen ergeht.« (Bloch 1982, I, S. 189)

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des Ideals, die (auch im Hinblick auf das Kommende) durch das Ziel der Perfektion gesteigert wird und in der sich schon eine gewisse Zwanghaftigkeit ankündigt. Welches Verhalten verlangt das Ideal? Auf Grund der Vollkommenheit, die es will und fordert, sicherlich die Nachahmung. Dennoch unterscheidet es sich signifikant vom Leitbild.6 Da dieses keinen Anspruch auf Vollkommenheit macht, dient es eher dazu, Orientierung zu steuern, es erlaubt eine gewisse Gestaltungsfreiheit und erzwingt damit eher eine Aktivität der Ausgestaltung als der Nachahmung. An Blochs Explikation des Begriffs wäre zu lernen, dass Leitbilder nicht nur wie Ideale allegorisch verkörpert werden, sondern historisch und gesellschaftlich ausgeformte »kanonische[…] Typen« darstellen,7 die aber hinsichtlich ihrer Semantik und Operativität nicht abgeschlossen sind, sondern, wie Bloch sagt, »fortverpflichtend[…]« und damit utopisch »lebendig«. Am Typus des »Gentleman« ließe sich das kurz veranschaulichen (Bloch 1982, III, S. 1094). Die Klassifikation der Begriffe sollte weiterhin zur Einsicht führen, dass Vorbild und Idol sich vornehmlich in wirklichen Personen manifestieren und dass beide wenig Spielraum für die pragmatische Einholung des Vorausgeworfenen haben. Dabei manifestiert sich die normative Macht beim Vorbild8 hauptsächlich im Vorgegebensein, in der Tatsache der nicht nur vorgestellten, sondern wirklichen Präsenz des Vorbildlichen. Die Nachahmung ist deshalb mehr ein Folgen von etwas, das vorgegeben da ist. Vorbild wäre die Vaterfigur. Auf andere, modernere Weise reduziert sich der Spielraum der Anschlusshandlung beim Idol.9 Dies erfordert nichts anderes als eine Kopie seiner äußeren 6 »Die bisherige Geschichte hat […] den Reichtum jener jeweils kanonischen Typen erzeugt, die als jeweils voranziehende Leitbilder ausgezeichnet werden können. Solche Gestalten sind etwa der Krieger, der Weise, der Gentleman und gar der Citoyen. Alle diese Leitbilder führten eine Art Spruchbänder, lockend-gebietende Devisen; ihnen gemäß mochte oder sollte ein vollkommener Mensch jeweils beschaffen sein. In den Leitbildern verdichtet sich dasjenige in menschlich sichtbarer, ausbildender Gestaltung, was jeweils Tugend genannt worden ist, als das der Kreatur nicht gegebene, sondern ihr aufgegebene Verhalten. Leitbilder […] zeigen Tugenden in gesellschaftlich ausgeformter, zugleich aber in fortverpflichtender, utopischer Weise lebendig.« (Bloch 1982, III, S. 1094) 7 Diese Typen stehen in Verbindung mit denen der politischen und philosophischen Biographik, der exemplarischen oder repräsentativen Leben, wie sie Plutarch in den Vitae oder Ralph Waldo Emerson in seinen Representative Men (1850) entworfen haben. In einer modernen Definition des repräsentativen Charakters, der nicht als abstraktes Ideal, sondern als öffentliches Bild angesehen wird, heißt es, er sei eine Art und Weise, »in which we can bring together in one concentrated image the way people in a given social environment organize and give meaning and direction to their lives.« (Bellah et al., 1985, S. 39) 8 »Person od. Sache, die als [idealisiertes] Muster, als Beispiel angesehen wird, nach dem man sich richtet: ein leuchtendes, bewundertes, schlechtes V.; dieser Künstler ist ihm ein V.; jmdm. ein V. geben; einem V. folgen, nacheifern.« (Duden 2001) 9 »[lat. idolum< griech. eidolon = Gestalt, (Götzen)bild, zu: idein, Idee]: 1. jmd., etw. als Gegenstand schwärmerischer Verehrung, meist als Wunschbild von Jugendlichen: ein I. der

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Erscheinungsweise (Kleidung, Gesten, Orientierungen) im modernen Sinne des Abzugs oder der Reproduktion. Deshalb spielt in diesem Zusammenhang auch das Bild eine zentrale Rolle. In einem Exkurs ließe sich das am Beispiel von Warhols Marilyn Diptych (1962) illustrieren: Die 25 farbigen Marilyn-Köpfe stellen kein Porträt dar, das Ähnlichkeiten zur realen Person herstellt, sondern vervielfältigen ein gleichartiges Modell (Baty 1995, S. 68–72); an den 25 Schwarz-Weiß-Kopien lässt sich erkennen, wie Individualitäten durch Abweichungen im Druck entstehen. Die Kopie des Idols ist also keine Nachahmung, vielmehr fügt sich der Verehrer dem Modell als gleichartiges Multiple hinzu und partizipiert an einer übergreifenden Homogenität des Stils der Fangruppe.10 Die Kopie des Idols weist nicht die Autoritätseffekte des Vorbildes auf, weil die Kopie anders als die Nachahmung keine Hierarchien kennt, ja sie zu zerstören sucht. Deshalb ist das von Jugendlichen gesuchte und gewählte Modell das des Idols – die Multiplizierung des Gleichartigen statt der aufblickenden Nachahmung. Der Begriff der Utopie sollte in die Klassifikation eingetragen werden. Die Utopie wäre als fiktiver, anderer Ort zu bestimmen.11 Mit Bloch könnte man auch von einer utopischen Funktion ausgehen, die alle anderen Formen nicht zuhandener, idealer Welten umfasst. Für den weiteren Verlauf dieser Einheit spielt die Utopie aber keine Rolle mehr, ihr müsste man ein eigenes Projekt widmen.

Das Idol – »Recycling Marilyn Monroe« Das Idol steht im Vordergrund der nächsten beiden Themen. Zunächst einmal geht es anhand eines Textes von Elisabeth Bronfen12 um eine Analyse des Stars; Leinwand; die Jugend sah, fand in ihm ihr I.; seinem I. nacheifern; zum I. [einer Generation, der Nachwelt] werden. 2. (bild. Kunst) Gottes-, Götzenbild [in Menschengestalt].« (Duden 2001) 10 Die Monroe-Imitatorin Kay Kent ging dabei so weit, auch den Tod ihres Idols zu kopieren und sich mit einer Überdosis Schlaftabletten umzubringen. 11 »Der Begriff Utopie stammt von den griechischen Wörtern ou (kein/nicht) und topos (Ort) ab und bedeutet zusammengesetzt also Nicht-Ort. Als Etwas, das an keinem Ort anzutreffen ist, ist die Utopie eine Art Wunschidee oder Wunschtraum von einem idealen Ort, an dem die Menschen gut zusammenleben.« (Rossipotti. Literaturlexikon für Kinder) »Die Utopien sind Platzierungen ohne wirklichen Ort: die Platzierungen, die mit dem wirklichen Raum der Gesellschaft ein Verhältnis unmittelbarer oder umgekehrter Analogie unterhalten. Perfektionierung der Gesellschaft oder Kehrseite der Gesellschaft: jedenfalls sind die Utopien wesentlich unwirkliche Räume.« (Foucault 1990, S. 10) 12 »Der Star ist ein künstliches, auf kommerziellen Erfolg ausgerichtetes Produkt. Starkörper sind nie natürliche Gebilde. Sie beziehen ihre affektive Wirkungskraft gerade daher, dass sie zwischen realer Person und künstlerischer Figur changieren. Als gelebter Mythos verschränken sie nämlich in sich ein Star–Image mit Bildern, die von der kommerziellen Erzeugung dieses Images am Körper einer realen Person erzählen. Als Projektionsbild für Massenbegehren ersetzen Starkörper die klassischen Heldinnen und Helden, die auf öf-

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von hier aus soll die Leitfrage nach dem Gestaltungsspielraum des Rezipienten aufgegriffen werden. Dies sind die Erkenntnisse, die aus Bronfens »Recycling Marilyn Monroe« gewonnen werden sollen: – Der Star ist ein künstliches Produkt, das auf kommerziellen Erfolg ausgerichtet ist. – Der reale Körper des Stars wird mit Fantasien von Glamour, Abenteuer, Erfolg, Luxus – dem Star-Image – besetzt.13 Ist die kommerzielle Ausrichtung des Star-Image schnell zu verstehen, so ist zugleich aber auch auf der Erkenntnis zu insistieren, dass die Fantasien, die sich mit dem Star verbinden, und der ›Zauber der Persönlichkeit‹ materiell den Körper des Stars besetzen.14 In einer Fotografie Marilyn Monroes,15 in der der ganze Vorgang dadurch potenziert wird, dass es sich um ein Wachsporträt bei Madame Tussauds handelt, hat man die konventionellere Version, die mit Gestik, Blick, Kleidung und Frisur arbeitet, vorliegen. Radikalere Versionen besonders aus dem Bereich der Popmusik, in denen der Körper nicht nur durch einen vestimentären und theatralischen Code eingehüllt, sondern durch Tatoos, Piercings oder Körpertraining direkt bearbeitet wird, könnten den Vorgang sinnfällig machen, besonders auch im Falle des durch Verausgabung herbeigeführten Todes (Amy Winehouse), wenn gewissermaßen der künstliche Körper des Stars, dem die »eternal youth of mechanical reproduction« (Baty 1995, S. 78) verheißen ist, den realen an sein Ende bringt und im Tod sich das Leben des wirklichen Körpers meldet. fentlichen Bühnen denkwürdige und meisterhafte Taten zu vollbringen wussten. Der Starkörper und die an ihm festgemachte Fantasie des Startums – Erfolg, Glamour, Abenteuer, Luxus – wird regelrecht zum Stern, an dem sich Fans, was die eigenen Wünsche und Selbstvorstellungen anbelangt, orientieren können. Die von unserer globalen Kulturindustrie in Umlauf gesetzten säkularen Ikonen rufen jedoch nicht nur das Bedürfnis danach hervor, im Sinne eines Kaufbildes konsumiert zu werden, sondern auch das nach ihrer Einverleibung. Deren Wirkungskraft besteht nämlich darin, dass Fans […] sich in die vom Star verkörperten Fantasiewelten einspielen und ihn somit in die innersten Räume der eigenen psychischen Realität einbeziehen. Sie machen sich das Bild des Stars auf ganz intime Weise zu eigen.« (Bronfen 2005, S. 41; S. 43; S. 41) 13 Im Falle Marilyn Monroes geht es – nach der bemerkenswerten Studie von Baty 1995 – darüber hinaus um Werte der politischen Kultur Amerikas. 14 Baty 1995, S. 10, S. 20 und S. 58, sieht den Körper Marilyn Monroes als frei schwebendes icon, das eine Fläche für die unterschiedlichsten kulturellen Einschreibungen bildet. Die von Baty entworfene Semiotik des politischen Körpers erscheint uns für unseren didaktischen Zweck als zu komplex. Foucaults entmedialisiertes Modell, wonach der Körper ein Objekt bildet, das durch die Macht besetzt wird (und sich gegen sie wenden kann) (vgl. Foucault 2004, S. 75), scheint sich dagegen für die hier versuchte didaktische Konzeption eher zu eignen. 15 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Marilyn_Monroe#/media/File:Marilyn_Monroe_Wax_Sta tue_in_Madame_Tussauds_London.jpg.

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Wichtig neben dem Mechanismus des doppelten Starkörpers ist nun aber auch, die Mechanismen der Reaktion ins Auge zu fassen. Wie verhalten sich Fans gegenüber ihren Idolen? Bronfens Text gibt darauf zwei Antworten: – Der Star wird buchstäblich zum Stern, an dem sich die Fans orientieren. – Das Idol wird einverleibt, der Fan zieht den Star »in die innersten Räume der eigenen psychischen Realität« (Bronfen 2005, S. 41). Bei der Veranschaulichung dieser Erkenntnisse ergeben sich vielfältige Gelegenheiten für produktives Arbeiten.

Anorektische Körper Wie sehr der lebendige Leib in die Fabrikation eines Star- oder Modelkörpers involviert sein kann und wie problembeladen und verzerrt die Kopie des Idols verlaufen kann, soll – auch aus pädagogischen Gründen – die Thematisierung von Anorexia nervosa zeigen. Die Schüler vergleichen zwei Fotos, eines von Isabel Huppert16 und ein Foto des magersüchtigen Models Isabel Caro,17 die an den Folgen ihrer Selbstaushungerung starb. Dazu wird die Information gegeben, dass Huppert Caros großes Vorbild war und diese sich, um ihr Idol besonders genau zu kopieren, Sommersprossen tätowieren ließ. Die Schüler erkennen, dass Nachahmung oder Kopie gar nicht zu einem ähnlichen oder gleichartigen Bild führen, sondern dass das Model das angestrebte Bild der Schauspielerin völlig verfehlt. An diesem Punkt ist von Seiten der Unterrichtsplanung zu fragen, wie diese Verzerrung plausibel gemacht werden kann. In ersten Überlegungen schien es mir, als ob anorektische Reaktionen auf das mimetische Regime der kommerziell fabrizierten Körperbilder von Stars und Models zurückzuführen sind, dessen Rigidität bei aller verdeckenden Modernität man Schülern vermitteln müsste. Nun gibt es zwar Bilder von abgemagerten Models auf Laufstegen, die zu einer anorektischen Kopie einladen, allerdings bleiben selbst diese Körperbilder bei einer gewissen Schwelle stehen, die von Frauen wie Isabel Caro überschritten wird bis zur Selbstzerstörung. Man könnte nun, wie Gugutzer, auf den Gedanken kommen, dass Bilder und durch sie verfügte mimetische Praktiken mit der Anorexia nervosa nichts zu tun haben und es hinter diesen Erscheinungen allein um die Bewältigung von Identitätsproblemen geht (Gugutzer 2011). Diese These allerdings klingt wenig plausibel, auch wenn sich hinter den Bildern etwas ab16 http://blog.sfgate.com/mlasalle/2010/11/10/isabelle-huppert/. 17 http://www.independent.co.uk/news/people/news/isabelle-caro-the-face-of-anorexia-diesat-28-2172590.html.

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zuspielen scheint, das den mimetischen Prozess weit übersteigt. Zwei Wege bieten sich an, das Problem zu vermitteln: zum einen die Erkenntnisse der inneren Körperbilder oder Leitschemata, zum anderen die hinter den Bildern tobenden Kämpfe um Identität, Anerkennung und Macht.18 Der erste Komplex ließe sich folgendermaßen vermitteln: – Die Schüler analysieren eine Abbildung, die einen Mann zeigt, der sich, obwohl selbst schlank, im Spiegel als dick wahrnimmt.19 Die Differenz von tatsächlicher Körperstatur und Körperbild wird thematisiert. – In Form eines Referats werden folgende Erkenntnisse vor allem aus der phänomenologischen Körperforschung20 vermittelt: 1. Menschliche Individuen produzieren ein inneres Körperbild. 2. Die Quellen des Körperbewusstseins sind (außer der Sicht im Spiegel): Berührung, Proprioception (Wahrnehmung des Körpers im Raum), Vestibularsystem (Gleichgewichtsorgan), Nociception (Schmerzwahrnehmung), Introception (Wahrnehmung innerer Körperreize). 3. Die Wahrnehmung des eigenen Körpers ist instabil und kann verzerrt sein. Als ein Beispiel hierfür ließe sich die mittlerweile berühmte Geschichte des Ingenieurs Philip S. berichten, der sich sehnlichst einen beinlosen Körper wünscht (Heinen 2011). – Am Beispiel Isabel Caros wird die Anorexia nervosa als verzerrte Wahrnehmung des eigenen Körpers erkannt, das heißt, die Kopie des Gleichartigen ist dadurch verzerrt, dass sich das schon schlanke Mädchen als immer zu dick wahrnimmt und – wie die Sirene – sich bis zum Verschwinden des Körpers herunterhungert.21 Wahrnehmungsverzerrung allein erfasst das Phänomen allerdings nicht, deshalb ist daran gedacht, die Kämpfe hinter den Wahrnehmungen wenigstens ansatzweise zu thematisieren. Dazu dienen die Dokumente zum Thema ›Hungern‹,22 die eine Vielzahl von Motiven für die Magersucht erkennen lassen. Es 18 Das entspricht den unterschiedlichen Annäherungen an den Körper bei Merleau-Ponty und Foucault; sie finden sich zusammengestellt bei Crossley, 1996. Für eine kulturwissenschaftliche Reflexion der Anorexie, deren Komplexität für dieses didaktische Projekt nicht eingeholt werden kann, vgl. die bemerkenswerte Studie von Meuret, 2007. 19 Diese Abbildung von Kat Menschik illustriert den Artikel ›Die Archive des Selbst‹ (in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 17. April 2011) von Nike Heinen über Body Identity Disorder, ein Thema, das sich ebenfalls im Kontext unserer Einheit behandeln ließe. 20 Grundlage des Folgenden ist de Vignemont 2011. 21 Zu dem bis zum Wahn unrealistischen Körperbild von Menschen mit Essstörungen und zur Bedeutung, die der Raumwahrnehmung dabei zukommt, vgl. Rhode 2006, S. 129. 22 »Alle Probleme, die ich hatte, schob ich auf meine Figur und sagte mir immer, wenn ich erst so dünn bin, dann bin ich glücklich, dann habe ich keine Probleme, viele Freunde und bin selbstbewusst.« (Zitiert nach: Gugutzer 2011, S. 95) – »Sie können mich zwingen, alles zu tun, was sie wollen, […] aber sie können mich nicht mehr zwingen, noch einen einzigen Bissen hinunterzuschlingen.« (Ebd., S. 98) – »Ich wollte mir meine Magersucht nicht neh-

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kommt hier nicht darauf an, die Texte analytisch zu lesen, sondern darauf, den Schülern Anlässe zu offerieren, sich über dieses Thema zu äußern. Auch wenn dieses Thema nicht ausufern sollte, um die Architektur der Unterrichtseinheit nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen, so bietet es doch Raum für produktives und pädagogisches Arbeiten.

Ergänzungen und Erfindungen – Yoko Onos Add Color Painting Die Selbstaushungerung entfaltet sich aus polymorphen Kämpfen des Selbst mit den eigenen Bedürfnissen nach Macht, Anerkennung und Entwicklung. Dass am Ende dieser Auseinandersetzung das Verschwinden des Körpers steht, stellt nicht in Frage, welche Rollen Nachahmung und Kopie zukommen – das Bild des Stars oder Models wird zur zwanghaften Vor-Schrift, es wird, auch wenn es selbst die Störung nicht erklärt, zum Einsatzelement, das im Kontext der Kämpfe auch nur in dieser strengen Form des Vorschreibens seine Wirkung tut. Zu erkennen ist der Zwangscharakter des Idols: es lässt keinen Gestaltungsraum, es unterstützt zwanghafte Strukturen im Ich. Sofort wird den Schülern einleuchten, in welch auffälligem Kontrast Yoko Onos Add Color Painting23 zu jenen Bildern des Zwangs steht. Die Bildunterschrift formuliert explizit eine Instruktion, aber die Erfüllung dieser Aufforderung besteht nicht darin, etwas Vorgegebenes nachzuahmen, zu kopieren oder auszuführen, sondern darin, etwas zu konstituieren. Die Vorgabe ist offen: ein Zeitungsausriss, der in seiner ironischen Fragmentarität zur Ergänzung einlädt. Das erste und wichtigste Ziel wäre erreicht, wenn die Schüler erkennen, dass dieses Bildarrangement völlig anders funktioniert als das Eidolon, indem es genau die Zwanghaftigkeit bewusst durchbricht und abschüttelt und dem Zwang zur Nachahmung die Einladung zur Teilhabe entgegensetzt. Die Instruktion zielt also nicht auf den engen Kreis ihrer Erfüllung, sondern ins Offene einer eigenen Erfindung (vgl. auch Eco 1973, S. 27–60), und sie bezeichnet nicht einen Bildinhalt, sondern stimuliert statt Betrachtung Aktivität. Man könnte nun die Schüler die Instruktion ausführen lassen (ohne künstlerischen Anspruch), um men lassen, eine Welt, in der ich sicher war, in der ich Bestätigung fand und wo mir keiner dreinreden konnte. Wenn ich mich auch manchmal in schlimmen Zeiten so schwach fühlte, dass ich glaubte, ohnmächtig zu werden, so empfand ich trotzdem das Gefühl der Überlegenheit. Ich hatte etwas Besonderes, etwas, das niemand nachempfinden konnte; ich konnte etwas, was die anderen nicht konnten: Ich konnte aufs Essen verzichten. Ich war stärker als alle anderen.« (Ebd., S. 100) – »Hungern war ein wichtiges Alibi für mich, viel krank zu sein, viel zu schwach, um die hohen Erwartungen, die meine Eltern an mich stellten, endlich selbständig zu sein und auf eigenen Füßen zu stehen, zu erfüllen.« (Ebd., S. 101) 23 http://www.zeit.de/kultur/kunst/2013-01/fs-yoko-ono-2.

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zu sehen, wie im Einzelnen die Aufforderung umgesetzt wird, die vielfältig zu verstehen ist: als Ergänzung des Bildes im Kopf des Betrachters oder auf dem ausgelassenen Teil der Leinwand, als Ergänzung irgendeines Farbbildes oder eines Farbporträts der Malerin. Es kommt in diesem Zusammenhang vor allem darauf an, dass die Schüler nach dem bedrückenden Thema des Idols und der Anorexia die Erfahrung des Ergänzens als Erfahrung der Freiheit und des heiteren Spiels erleben. Natürlich bietet Onos Bild Anlass zu vertiefenden Reflexionen über die ironische Selbstplatzierung einer Fremdwahrnehmung (Zeitung) im Bild, die Brechung der Autorschaft, die Ironisierung der ästhetischen Sakralität durch die Gloriole und die Diffusion der Instruktion und die etwas bedenkliche Zuschreibung, die sich ergibt, wenn das Bild hinzugefügt ist – Themen, die bei Bedarf angeschnitten, nicht aber unbedingt verfolgt werden sollten. Denkbar wäre ergänzend der Vergleich zu dem traditionellen Bildkonzept, welches das fotografische Porträt, das Bryan Adams von Amy Winehouse angefertigt hat, kennzeichnet.24 Dieses Porträt, das uns von unten zu dem majestätischen Kopf mit seinem beehive aufblicken lässt, ist ein Bild, das Verehrung und Erinnerung einfordert, das noch einmal an einem gegenwärtigen Beispiel den doppelten Körper des Stars erkennen lässt – hier über das Tatoo »Daddy’s Girl« sogar bis in die Tradition des Vorbildes zurückreichend, das aber bei aller Modernität des Inhaltes gravitätisch der heiteren, freundlichen Offenheit und Liberalität von Add Color Painting gegenübersteht.

Kritische Appelle – Brechts Gegen Verführung Brechts Gegen Verführung trägt schon im Titel den Gestus des Einspruchs und des Widerstandes. Es geht darum, gegen die Einflüsterungen durch Gesellschaft und Religion eine kritische Haltung einzunehmen (Kittstein 2012, S. 57). Die erste Strophe fordert dazu auf, sich nicht einreden zu lassen, dass es nach dem Tod eine Wiederkehr gebe, und statt dessen den Tag zu ergreifen. Im weiteren Durchgang durch die Strophen finden die Schüler heraus, dass man sich den Genuss des Lebens nicht ausreden lassen, sondern ihm frönen soll; des Weiteren soll man nicht auf eine Erlösung im Jenseits warten, denn die Lebensspanne, die bereit steht, ist alles, was es an bemessener Zeit gibt; nach den eher epikureischen Prinzipien schließt das Gedicht mit einem stoischen Gedanken von der Natürlichkeit des Sterbens. Man könnte für diesen letzten Gedanken einen Vergleich mit einem kleinen Text von Marc Aurel heranziehen, um kontrastiv Brechts Verfahren zu charakterisieren. An den Selbstbetrachtungen VII, 18 und 19, lässt sich zunächst der 24 Bryan Adams, Amy Winehouse, London 2010, in: Langner 2013.

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Grundgedanke studieren: Da alle Lebewesen und Stoffe der Natur sich verändern, in Umwandlung begriffen sind, leben und sterben, da also die Verwandlung etwas Natürliches ist, braucht man keine Angst vor dem Tod zu haben. Interessant ist nun die Form: Bei Marc Aurel spricht ein Schreibender mit sich selbst, er führt sich die Grundsätze dieser Lehre vor Augen und schärft sie sich ein, um sie in eine wirkliche Haltung umzusetzen. Es handelt sich um eine Übung, die bewirken soll, dass das Selbst die Angst vor dem Tod bewältigt (Hadot 1998, S. 171f.). Bei Brecht spricht nicht jemand mit sich selbst, sondern eine ideale Instanz zu anderen, die vor Verführung und Betrug (vor dem Opium der christlichen Religion) gewarnt werden sollen. Es geht darum, christliche Lehren vom Leben nach dem Tod als Ideologie zu entlarven und eine kritische Haltung zu vermitteln. Die stoischen und epikureischen Gedanken zur Gegenwärtigkeit des Lebensvollzugs fungieren als Leitbild, zu dessen Verwirklichung das Gedicht keine Hilfen anbietet, während die Texte Marc Aurels genau diese Verwirklichung durch Übung anstreben. Für die Schüler wesentlich zu erkennen ist vor allen Dingen der operative Modus von Brechts instruktivem Gedicht: Die Appellation ruft zur Nachahmung eines Leitbildes auf und verändert dadurch entscheidend den operativen Modus der ethischen Vorlagen, die nicht VorSchriften darstellen, sondern Anleitungen für Übungen des Selbst.

Lektüre und Verwandlung: Rilkes Archäischer Torso Apollos Rilkes Archascher Torso Apollos soll vor allem im Hinblick auf seine Ethopoetik gelesen werden. Gleichwohl ist es auch dafür nötig, die Struktur des Gedichtes zu erfassen.25 Dies sollte durch den Nachvollzug der Argumentation geschehen. Der erste Satz nimmt Bezug auf das fehlende Haupt und die Augen, das »Aber« läutet eine lange, über mehr als zehn Verse sich erstreckende Begründung für die Lebendigkeit des Torsos ein. Die Schüler rekonstruieren die These: Obwohl der steuernde Kopf und die leuchtenden Augen dieses Körpers fehlen, glüht der Torso noch, haben sich Leben, Glanz und Blick gewissermaßen erhalten. Diese im Indikativ vorgebrachte These wird durch ein zweifaches, im Konjunktiv gehaltenes »sonst« begründet, also: Der Torso glüht, andernfalls könnte der »Bug der Brust dich« nicht blenden, andernfalls, zweitens, würde der Stein nicht leuchten wie ein Stern, dessen Strahlen seine Ränder überschreiten. Die letzte rhetorische Markierung erfolgt durch das dem Doppelpunkt folgende »Denn«: 25 Dies soll im Sinne einer Freilegung von thematischen oder signifikanten Schichten geschehen. Zu dieser Art von semiotischer Decollage siehe Kügler 1971, S. 106. Vgl. auch Küglers hervorragenden didaktischen Kommentar zu Barthes’ Essay Die strukturalistische Tätigkeit (Kügler 1976).

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hier wird eine Konsequenz gezogen, die (wie später zu vertiefen ist) aus zwei Teilen besteht. Die rhetorische Analyse also ergibt eine klare argumentative (oder syntagmatische [Kügler 1971, S. 100–103]) Struktur, die die Schüler am übersichtlichsten in Form einer semantischen Karte in den Gedichttext einzeichnen oder als Diagramm deutlich machen: V. 1–2

fehlendes

Haupt

V. 2–13

These: dennoch lebendiger

Torso

V. 13–14

Konsequenz und Aufruf

Du/Ich

Beweis (1) Beweis (2)

Der zweite Lektüredurchgang sollte der Ästhetik der Beschreibung gelten. Folgendes sollte dabei am Ende erkannt werden: – Der Torso wird als etwas Erscheinendes, etwas, das glüht und scheint, inszeniert. Dabei wird eine sich steigernde Bewegung vom zurückgeschraubten Schauen (»Kandelaber«) zum ausbrechenden, strahlenden Glanz (»Stern«) erkannt. (ästhetische Ebene) – Die lyrische Rede des Gedichts wird begriffen als das Medium, welches den Torso zum Leben erweckt und sehen lässt. In diesem Zusammenhang soll die »Mitte, die die Zeugung trug«, als Selbstreflexion der lyrischen Rede verstanden werden, die den Torso als etwas Erscheinendes zeugt. (poetische Ebene) – Das Bild des Torso hat einen nicht nur ästhetischen, sondern auch philosophischen Aspekt; der Schein impliziert das, was zugleich das Seiende und die Wahrheit kennzeichnet. (philosophische Ebene) In welchen Schritten könnte man diese Erkenntnisse anbahnen? Was die ästhetische Ebene betrifft, so lässt diese sich intrinsisch analysieren, und zwar durch eine Kombination von genauer Lektüre und Wortfelduntersuchung: Erstere wird durch die Leitfrage, wie der Torso beschrieben und inszeniert wird, initiiert und begleitet, letztere durch eine analytische Untersuchung des Paradigmas ›sehen‹.26 Um die Steigerung des Erscheinens anschaulich zu machen, werden »Kandelaber« und »Stern« als Eckpunkte markiert. Die Erarbeitung der poetischen Ebene ließe sich anhand der Frage eröffnen, durch welches Medium das Glänzen des Torsos hervorgerufen wird. Daran könnte sich die Nennung poetischer Mittel anschließen, die die Schüler zunächst in den Konventionen der lyrischen Analyse stärkt. Von hier aus würde dann intensiv die Mitte des Gedichtes betrachtet werden: Was wird beschrieben (›Drehen der Lenden, fehlende 26 Zur Didaktik und Methodik solcher Untersuchungen vgl. Kügler 1971, S. 97–100.

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Zeugung‹)? Wie wird dies beschrieben (›Klangwiederholungen, helle Vokale ! Heiterkeit des Lächelns‹)? Welche Analogien zwischen dem beschriebenen Teil des Torsos und dem Gedicht lassen sich erkennen? Die letzte Frage soll nur zu der Einsicht führen, dass die physische Zeugung ihr Pendant im Begriff der Poetik hat und dass die Zeugungsmitte auch das Kraftzentrum des Gedichtes bildet (Torso=Kraft27), das nach diesem Drehen, dieser Wende das Glühen und den Glanz des Torso steigert. Nicht berücksichtigt werden in dieser didaktischen Modellierung Deutungen, welche die Selbstreflexion zum zentralen Thema des Gedichtes erheben und das Fehlende der Zeugung (wie des Kopfes) zum Gegenstand einer negativen Lektüre machen (Groddeck 1999, S. 89ff., S. 97). Die philosophische Ebene des Gedichtes soll eingebracht werden, um den Schülern zu verdeutlichen, dass nicht einfach irgendein Gegenstand beschrieben wird, sondern die Beschreibung von existentieller Bedeutung ist. Kurze Zitate, eines von Nietzsche, eines von Heidegger, werden an die Wand projiziert und gelesen: Apollo, der Gott der bildnerischen Kräfte, seiner Wurzel nach der »Scheinende«, die Lichtgottheit.28 Logos als Rede besagt vielmehr soviel wie offenbar machen. Der logos läßt etwas sehen. Das ›Wahrsein‹ des logos besagt: das Seiende, wovon die Rede ist, sehen lassen, entdecken.29

Die Schüler werden gebeten, die Aussagen auf das Gedicht zu beziehen. Sie werden von selbst die Beziehung zu Apollo als Gott der plastischen Kunst und damit den gestaltenden Charakter der lyrischen Rede erkennen, aber auch – in einem geführten Lehrgespräch mit entwickelndem Tafelbild – den Wahrheitsbezug dieser Rede, das heißt die von Heidegger (für die griechische Philosophie) hervorgehobene Tatsache, dass das Sehenlassen der lyrischen Rede auch bedeutet, die Wahrheit zu entdecken und zu konstituieren, so dass der Torso einmal für eine ästhetische Lebendigkeit steht, zugleich aber auch für die Erkenntnis des Wahren.

27 Szondi 1975, S. 415. Siehe auch: Grawe, 1976, S. 97–107, S. 105; Ryan 1972, S. 32ff. 28 Nietzsche 1988, S. 27. Aus didaktischen Gründen wurden die Auslassungszeichen weggelassen, das Zitat heißt im Original: »Apollo, […] der Gott aller bildnerischen Kräfte, […] seiner Wurzel nach der ,Scheinende‹, die Lichtgottheit […].« 29 Heidegger 1986, S. 32. Aus didaktischen Gründen wurden die Auslassungszeichen weggelassen, das Zitat heißt im Original: »Logos als Rede besagt vielmehr soviel wie […] offenbar machen […]. Der logos läßt etwas sehen […]. Das ›Wahrsein‹ des logos […] besagt: das Seiende, wovon die Rede ist, […] sehen lassen, entdecken.« Zur philosophischen Bedeutung des Schauens bei Rilke vgl. Hamburger 1971, S. 85–109.

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Rede des Gedichts ›Torso‹ Apollo/Kunst Gestaltung Plastik – Sehenlassen, Licht – Form Anschauen (Schönheit)

Philosophie Wahres sagen Logos – Sehenlassen, Licht – Wahrheit Erkenntnis (Wahrheit)

Mit dieser Analyse ist gewissermaßen erst die eine Hälfte der Arbeit des Gedichtes getan. Das »denn« nämlich leitet sowohl eine Wende als auch eine Zäsur ein, die beide dem Gedicht eine existentielle Orientierung geben. Zunächst einmal – das kann im Unterricht festgehalten werden – wird die übliche Blickrichtung insofern umgedreht, als es jetzt das Objekt ist, welches das Subjekt anblickt. Damit wird die Konstellation der lyrischen Subjektivität aufgehoben. Dann aber kommt es vor allem mit dem letzten Satz zu einer Zäsur. Die Aufgabe besteht nun zunächst darin, diese Zäsur annähernd plausibel zu machen. Was heißt das? Das Ziel des Studiums dieses Gedichtes wird es sein, das Verhältnis von Vorlage und Leseaktivität zu bestimmen. Auf dem Weg dahin soll darüber gesprochen werden, wie die Aufforderung, sein Leben zu ändern, zu verstehen sei. Plädiert wird dafür, nicht der Deutung Adornos und Groddecks zu folgen, wonach der Schlusssatz des Sonetts eine unheilvolle, autoritäre Aufforderung darstellt,30 sondern Wales’ luzidem Kommentar zur responsiven Rolle des Lesers bei Rilke und damit zu der Frage, »how we who come across the poems think about how we should live« (Wales 2004, S. 712). In Archäischer Torso Apollos »the ethical content is left blank for each recipient to fill in with her own life circumstances.« (Ebd., S. 17) Für die Schüler wird diese Erkenntnis mit den Leitfragen angesteuert: An wen richtet sich die Ermahnung? Was ist ihr Inhalt? Wales’ Aussage kann dann zur Diskussion gestellt werden. Sie lautet: To receive a poem is to be changed […].(Wales, S. 728)

Zu insistieren wäre auf der Zäsur zwischen dem Gedicht, das den Torso erscheinen lässt, und der Arbeit an sich selbst, zu der ermahnt wird und die nicht einfach einen Effekt der Lektüre darstellt.

30 Das Wort ›Auftrag‹, schreibt Adorno, »drückt das vage Gefühl aus, daß ein Unsagbares an Erfahrung von dem Subjekt etwas will wie schon die des archaischen Torsos Apollos«, und dies Unsagbare ist nichts anderes als die verfügende Macht der Administration (1964, S. 71ff.). Groddeck spricht vom »Appell zu blinder Selbsterkenntnis« (1999, S. 101), Duhamel erkennt in dem Appell des Gedichts einen Aufruf zur »Selbstaufgabe« (1990, S. 22).

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Vergleichende Schlussbetrachtung Die wesentliche Erkenntnis, dass die kommerziellen Idole ihre Konsumenten zwingen, die Literatur ihre Leser aber einlädt, sich zu ändern, kann auf zwei Wegen erfolgen. Man lässt die behandelten Modelle Revue passieren unter der Fragestellung, wie das Verhältnis zwischen Vorlage und Leseaktivität jeweils aussieht, oder man vergleicht die Funktionsweise des Idols und des Gedichts von Rilke genauer, um von ihr aus alle anderen Modelle in den Blick zu nehmen. Leitfragen, die einen Vergleich zwischen dem Star-Image und Rilkes Belichtung des apollinischen Torso initiieren, können sich auf drei Aspekte beziehen: auf die äußere Erscheinungsweise, auf Eros und Geschlecht und auf die antwortende Aktivität des Lesers/Beobachters. Auf der ersten Ebene wird als Gemeinsamkeit der Glanz festgehalten, der von beiden Bildern (auch Rilkes Gedicht ist eine Art fotografischer Aufnahme oder ein Fotogramm) ausstrahlen soll. Es müsste aber auch festgehalten werden, dass der Schein, der von beiden Bildern ausgeht, das eine Mal einen Zauber erzeugen, das andere Mal einen Bezug zur Wahrheit herstellen soll – das Star-Image will uns verzaubern, das Bild des Torso will ein Stück Wahrheit zeigen. Diese Erkenntnis führt auf die nächste Ebene: das Star-Image erreicht durch erotische Ausstrahlung Begehren, bei Rilke ist das Geschlecht auf Zeugung, metaphorisch also auf Schaffen und Gestalten bezogen, und zwar auch in dem Sinne, dass das Gedicht die ethische Selbstproduktion seiner Leser initiiert. Vom Leser/Betrachter wird schließlich verlangt, dass er das Idol kopiert, während Rilke eine Distanz zwischen Leser/ Betrachter und Text/Bild eröffnet, die nicht sofort überbrückt werden kann, sondern erst, wenn das Ich sich an die Arbeit seiner Veränderung macht. Vor allen Dingen aber ist auf die Erkenntnis hin zu arbeiten, dass das leicht verfertigte Idol im Grunde eine strenge Vorschrift codiert, während Rilkes streng konstruierter Torso einen offenen Raum absteckt, in dem der Einzelne individuell und frei entscheidet, in welcher Weise er sich modifizieren möchte. Worauf allerdings der Imperativ Rilkes insistiert, ist, dass es zu einer Umwendung des Ich31 kommt. Von diesen beiden extremen Punkten aus könnten nun die beiden anderen Modelle in die vergleichende Betrachtung einbezogen werden, die für Brechts Gegen Verführung immer noch ein recht starkes Maß an Vorschrift erkennen lässt und das Ich zum mimetischen Vollzug eines kritischen Leitbildes anhält. Yoko Onos Add Color Painting gibt zwar einen Impuls für eine wählbare Reaktion, diese aber ist nicht unbedingt bezogen auf die Existenz des Ich, sondern ersetzt in spielerischer Weise das Prinzip der Nachahmung durch diffuse Partizipation. 31 Zur philosophischen Tradition dieser Praktik Nock 1933, S. 179–186; Foucault 2004, S. 308ff.

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Erweiterung Eine mögliche Erweiterung bestünde darin, anhand eines Textes von Nietzsche die Möglichkeit einer Kunst der Selbstgestaltung zu vermitteln.32 Hilfreich wäre die vorhergehende Lektüre eines Foucault–Textes33 mit dem Ziel, den Unterschied zwischen antiker, an persönlicher Ethik und christlicher, an einem Kodex von Regeln orientierter Moral herauszuarbeiten sowie die historische Einschätzung deutlich zu machen, dass das Verschwinden der christlichen Moral eine Leere hinterlässt, die Foucault mit einer Suche nach einer Ästhetik der Existenz füllen möchte. An Nietzsches Text ließe sich dann exemplifizieren, was Kunst der Existenz heißen könnte. In einem Blick auf Rilke und das Star-Image wäre zu erörtern, inwiefern beide Reaktionen auf das Verschwinden der christlichen Moral darstellen.

Postskriptum Die Unterrichtseinheit lässt erkennen, dass sie keinen besonderen Wert auf die Analyse der Rhetorik der Texte und Bilder legt, dass sie für die Schüler nicht den Erwerb abprüfbarer Kompetenzen vorsieht, dass sie statt der Ausrichtung auf fest umrissene literarische Gegenstandsfelder wie Gattungen oder Motive aus heterogenen Diskursen konstruiert ist. Es ging deshalb auch nicht darum, im Sinne didaktischer Modelle das Produziertsein literarischer Texte oder Medien transparent zu machen, und ebenso wenig darum, im Sinne empirischer Forschung Lesespuren und Leseaktivitäten zu vergegenständlichen und zu klassifizieren. Ziel war es vielmehr, eine Erfahrung zu induzieren, bei der etwas von der Arbeit an den Texten und Bildern, die die Schüler leisten, zu ihnen zurückkehrt. Dieser Entwurf ist als Alternative und Opposition zu herrschenden litera32 Vgl. hierzu den berühmten Text »Eins ist Noth« aus Die fröhliche Wissenschaft [1882/87] IV, Nr. 290; KSA 3, S. 530. 33 »Diese Ausarbeitung seines eigenen Lebens als ein persönliches Kunstwerk, selbst wenn es kollektiven Kanons gehorchte, stand, wie mir scheint, im Zentrum der moralischen Erfahrung, des Willens zur Moral in der Antike, während im Christentum mit der Religion des Textes, der Idee eines göttlichen Willens und dem Prinzip eines Gehorsams die Moral weitaus stärker die Form eines Kodex von Regeln annahm […]. Von der Antike zum Christentum geht man von einer Moral, die im Wesentlichen Suche nach einer persönlichen Ethik war, zu einer Moral als Gehorsam gegenüber einem Kodex von Regeln über. Und für die Antike interessierte ich mich, weil aus einer ganzen Reihe von Gründen die Idee einer Moral als Gehorsam gegenüber einem Kodex von Regeln jetzt dabei ist zu verschwinden, bereits verschwunden ist. Und diesem Fehlen einer Moral entspricht eine Suche, muss eine Suche entsprechen, nämlich die nach einer Ästhetik der Existenz.« (Foucault 2007, S. 282)

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turdidaktischen und literaturwissenschaftlichen Praktiken gedacht. Im Rahmen der Philologie wird die Literatur zum Objekt methodischer Analyse, deren Beobachtungen und Ergebnisse auf eine Weise artikuliert werden, die den Normen der Logik und der Wissenschaftlichkeit folgen; mit den Worten Titzmanns »by arguing logically, and by justifying its assertions« (2012, S. 279). Diese Ziele werden, mit gewissen Abstrichen, von der Literaturdidaktik geteilt. Dabei müsste man diesen Rationalismus des Lesens, der die Lektüre der Schüler rahmt und prägt, noch etwas weiter auffächern, um den Antagonismus des Literaturunterrichts zu bezeichnen, in den die Jugendlichen eingespannt sind. Indem sie nämlich verpflichtet werden, in das Feld der hermeneutischen Technologie einzutreten, werden sie auf eine bestimmte Rolle fixiert. Während der Unterricht gehalten ist, die Literatur als Gegenstand der Interpretation zu konstituieren, dem jungen Leser einen festen Platz als interpretierendes Subjekt zuzuweisen, das für die Formulierung seiner Betrachtungen bestimmte Äußerungsregeln einzuhalten hat, geht das Bedürfnis der jungen Leute darauf, Erfahrungen zu machen, Erfahrungen der Überschreitung, der Neugier, der Veränderung, die sie von ihrer Rolle in der Familie und damit von ihrem gegenwärtigen Selbst losreißen und auf die Reise schicken. Während also der hermeneutische Apparat der Schule die jungen Leute in reglementierten Prozeduren des Umgangs mit Texten zu fixieren versucht, bemühen sie sich, gerade allen Festsetzungen zu entgehen und die unterschiedlichsten Formen der Selbstkonstituierung zu explorieren. In diesem Zusammenhang ist die hier entwickelte Unterrichtsserie ein Vorschlag, kulturelle Erfahrung von der Maschinerie der Kompetenzen und Standards fernzuhalten und als Erfahrung zu aktivieren, das heißt, einen Umgang mit Texten und Bildern zu initiieren, bei dem die deutende und analysierende Tätigkeit als Wissen und Kraft zum Subjekt, das diese Tätigkeit ausführt, zurückkehrt – Zirkulation der Erfahrungen statt Objektivierung des Textverständnisses. In einer radikalen Form, wie man sie bei Rilke findet, impliziert dies den Bruch zwischen Text und Leseaktivität. Was heißt das? Die Annahme einer Kontinuität zwischen Text und Leseaktivität führt zur Messung und Klassifizierung von Lektürespuren; nicht nur der Text, auch der Lesevorgang und das lesende Subjekt werden durch die Literaturdidaktik zu Objekten einer Erkenntnis, die in neuerer Zeit die Kontinuität von Textstruktur, Struktur des Leseaktes und Struktur des lesenden Subjekts in empirischen Forschungen sichtbar und in Kompetenzmodellen handhabbar und kontrollierbar macht. Geht man aber davon aus, dass es einen Bruch zwischen dem Text und dem Leser gibt, davon also, dass der Leser sich modifizieren muss, um die Wahrheit eines Textes zu erfahren, dann begründet dies eine Ethik der Literatur, in welcher der Text nicht Gegenstand einer Analyse ist, sondern Operator einer Aktivität des Selbst. (Barthes 2008, S. 378) Zirkulation von Beobachtungen und Erfahrungen also statt Fixierung von Deutungen und Verhalten, um der kulturellen Aktivität,

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die jede Lektüre darstellt, die Möglichkeit der Rückkehr zu ihrem Subjekt einzuräumen und dem jugendlichen Hunger nach Verwandlung die Möglichkeit einer reflektierten ethischen Form zu geben.

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»Als alles anders wurde.« Feministische Science Fiction als Medium zur Auseinandersetzung mit Reproduktionstechnologien

Einleitung und Problemaufriss Als alles anders wurde ist der Titel einer Kurzgeschichte von Joanna Russ aus dem Jahr 1972, der programmatisch für Veränderungen einer Gesellschaftsordnung durch feministische Bestrebungen in Wissenschaft, Politik und Kunst verstanden werden kann. Denn dieses Erscheinungsjahr fällt mitten in die Hochphase der US-amerikanischen Science Fiction in den 1960–1980er Jahren (vgl. Higgins 2009).1 Vor dieser Zeit waren Frauen in diesem Genre nur sehr begrenzt akzeptiert, wie Joanna Russ (1987) pointiert formuliert: »Es gibt viele verschiedene Frauenbilder in der Science Fiction. Aber es gibt dort kaum Frauen« (ebd., S. 25). Dies liegt vor allem im Ursprung der US-amerikanischen Science Fiction begründet, mit dem in den 1920er Jahren im Magazin Amazing Stories die technische Euphorie ihren Anfang nahm und dabei jedoch mögliche gesellschaftlichen Auswirkungen von Technologien außen vor ließ (vgl. Kiausch 2002). Die von Russ erwähnte Exklusion weiblicher Verfasserinnen der Science Fiction schlug sich auch auf die Ausgestaltung in Form einer überstereotypisierten Darstellung der Protagonistinnen nieder : »Wenn Frauen in den Romanen vorkommen, dann als sanfte Zierde, treue Hüterinnen von Kindern, Küche und Kirche, platinblonde Opfer und rabenschwarze Vamps, manchmal auch grässlich humorlose Wissenschaftlerinnen« (ebd., S. 25). Dass Russ’ Geschichte noch im Jahr ihres Erscheinens mit dem Nebula-Award ausgezeichnet und ein Jahr später für den Hugo-Award nominiert war,2 macht deutlich, dass zu Beginn der 1970er Jahre nicht nur in der fiktionalen Welt vieles ›anders wurde‹: Die zweite Frauenbewegung und gesellschaftspolitische Bestrebungen der 1960er Jahre ermöglichten es Schriftstellerinnen, im Bereich der 1 Die englischsprachige Originalversion der Geschichte ist online zu finden unter : http://web. archive.org/web/20080514042130/http://www.scifi.com/scifiction/classics/classics_archive/ russ/russ1.html [17. 12. 2014]. 2 Diese beiden in den USAvergebenen Preise sind die höchsten Auszeichnungen für literarische Science Fiction.

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Science Fiction zu publizieren, was als eine Konsequenz die weniger stereotype Darstellung weiblicher Figuren zur Folge hatte (vgl. Kiausch 2002). Mit dieser Differenzierung der Charaktere ging jedoch, ebenfalls bedingt durch gesellschaftspolitische Strömungen der 1960er Jahre, noch ein weiterer Paradigmenwechsel einher : An die Stelle technologischer Didaktik und Technik-Faszination treten die Fragen: Wohin führt uns diese Technologie? Welchen sozialen Wandel wird sie bewirken? Welche Art von Sexualität, familiärer und sozialer Organisation wird das mit sich bringen? Und nicht zuletzt: Wie werden wir mit dem Unterschied zwischen Arm und Reich umgehen? Wie werden wir mit der Erde und den natürlichen Ressourcen umgehen? (ebd., S. 26 f.)

Kritik an gesellschaftlichen Normvorstellungen einerseits fällt also in den 1970er Jahren mit prognostischen Fragen nach dem Einfluss und der Zukunft von Technologien andererseits zusammen. Interessanterweise finden zeitgleich zu diesem Durchdringen eines vorher technikaffinen Genres mit gesellschaftsbezogenen Fragen zugleich auch zentrale Neuerungen im Bereich der Biomedizin statt: Durch die Möglichkeit der In–Vitro-Fertilisation (IVF) wurden Sexualität und Reproduktion entkoppelt, was mit der Geburt des ersten IVF-Kindes Louise Brown im Jahr 1978 auch für die mediale Öffentlichkeit ein Thema wurde (vgl. Diekämper 2010). War nach der Einführung der Antibabypille in den 1960er Jahren Sexualität ohne Reproduktion möglich, konnte nun auch das Gegenteil Praxis werden: Durch Zusammenführung weiblicher und männlicher Keimzellen ›in vitro‹ (lateinisch für ›im Glas‹) wurde die Zeugung aus dem weiblichen Körper in den Bereich der medizinischen Forschung und Praxis überführt und machte so Fortpflanzung ohne Sexualität möglich. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Aushandlung reproduktiver Prozesse ›in vivo‹, d. h. im Körper der Frau anhand der Debatte zum Schwangerschaftsabbruch den Zenit ihrer Aushandlung bereits überschritten: In Deutschland wurde die Reform des §218 maßgeblich durch die zweite Frauenbewegung vorangetrieben3 und führte im Jahr 1974 zur ersten Reform des §218 zu einer Fristenlösung in der Bundesrepublik, der den Abbruch einer Schwangerschaft in den ersten zwölf Wochen straffrei lässt (vgl. Hörner 2005). Für andere Bereiche ist das Spannungsfeld zwischen individueller und kollektiver Entscheidung noch immer virulent: Denn aus ethischer wie gesellschaftspolitischer Sicht stellt sich nicht nur im deskriptiven (be-schreibenden), sondern auch im präskriptiven (vor-schreibenden) Sinne die Frage nach der Möglichkeit und Machbarkeit von Reproduktionstechnologien. Diese Frage ist zwar für alle Biotechnologien aus ethischer und rechtlicher Sicht relevant, be3 Bedeutend ist hier das von Alice Schwarzer initiierte Statement »Wir haben abgetrieben!« von 374 prominenten und nicht prominenten Frauen in der Zeitschrift Stern am 6. Juni 1971.

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sitzt jedoch bezüglich Fragen der Reproduktion eine besondere Relevanz. Denn für jede Gemeinschaft, die auf eine mehrgenerationelle Beständigkeit ausgelegt ist, ist die Frage der Fortpflanzung von großer Bedeutung – erst dadurch, dass sich Individuen reproduzieren, entsteht und besteht das Kollektiv, in das diese sozial eingebettet sind (vgl. Mense 2004). Fragen der Reproduktion und Sexualität sind deshalb in einem ganz besonderen Maße auch ein gesellschaftspolitisches Aushandlungsfeld und konstituieren dementsprechend eines der ersten Interessensgebiete feministischer Bioethik (vgl. Firestone 1971). Dabei rückten im letzten Jahr vermehrt auch veränderte Familien- und Verwandtschaftsverhältnisse in den Blick (vgl. Beck et al. 2007; Mense 2004). Ein besonderes Augenmerk wird hier z. B. auf die heterologe Keimzellspende – die Verwendung fremder Samen- oder Eizellen – gelegt, welche eine sog. ›gespaltene Elternschaft‹ herbeiführt, d. h. der biologisch-genetische und der soziale Vater, bzw. die genetische, biologische und soziale Mutter sind in diesem Fall nicht dasselbe Individuum: Im Extremfall wäre es möglich, dass ein Kind durch die Keimzellen von Person A und B gezeugt, im Leib von Person C ausgetragen und von Person D und E aufgezogen wird. Durch Samenspende oder Leihmutterschaft können sich so auch gleichgeschlechtlich lebende Paare fortpflanzen. Einen Abriss über alle ethischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Fragestellungen, die in diesem Zusammenhang aufgeworfen werden, können wir in diesem Artikel nicht leisten.4 Wir möchten jedoch kritisch ein Auge auf ein bestimmtes Argument legen, das sich im Diskurs über Reproduktionstechnologien finden lässt: Das Argument der Natürlichkeit.5 Nach einem kurzen Exkurs diesbezüglich werden wir anschließend auf die Struktur ethischer Urteile eingehen und erörtern, warum aus unserer Sicht insbesondere feministische Science Fiction für den Unterricht der gymnasialen Oberstufe sowie Bachelorstudiengänge geeignet ist. Hierbei kann die didaktische Umsetzung erstens im Literaturunterricht bzw. literaturwissenschaftlichen Fächern erfolgen, wenn gesellschaftliche Fragen des Feminismus verhandelt werden sollen. Zweitens kann sie als Impuls für Fächer dienen, die auf Verbesserung der Argumentati-

4 Einen Überblick über Ethik als Reflexion über Handlungen bieten Grätzel / Größchen (2009), darin insbesondere S. 234–259 zur Medizin- und Bioethik. Als Überblick zur Etablierung und Definition von Bioethik als angewandter Ethik vgl. Rehmann-Sutter (2006). Einen pointierten Einblick in die Debatte zu einzelnen bioethischen Themen, samt ihrer rechtlichen Dimension findet sich unter : http://www.drze.de/im-blickpunkt [17. 12. 2014]. Diese Adresse kann sowohl von Lehrenden, als auch von Schüler/innen und Studierenden als Einstieg in ein Thema genutzt werden. 5 Dass wir die Schlagkraft dieses Arguments ein Stück weit dekonstruieren werden, heißt nicht, dass damit alle ethischen Vorbehalte gegenüber Reproduktionstechnologien geklärt wären. Es heißt lediglich, dass wir den Blick für die kritische Betrachtung dessen schärfen möchten, was in dem Diskurs über Natürlichkeit unseres Erachtens transportiert wird.

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onskompetenz abzielen und dabei explizit Biotechnologien als Thema haben (Philosophie, Ethik, Politik).

Natürlichkeit und/als Norm Die genannten Reproduktionstechnologien, auf der IVF basierend, konfrontieren uns mit der Erweiterung der ›natürlichen‹ (d. h. durch einen sexuellen Akt herbeigeführten) Reproduktion durch die ›künstliche‹, d. h. durch Technik unterstütze Fortpflanzung. Wie Düwell (2008, S. 115 f.) hervorhebt, hat der Verweis auf die Natürlichkeit in der bioethischen Debatte stets eine große Rolle gespielt.6 In Fachkreisen ist dabei längst ein Bewusstsein dafür eingetreten, dass »ein normativer Naturbegriff […] vor-aufklärerisch und in hohem Maße ideologieanfällig« (ebd., 116) ist. Eine Auffassung von Natürlichkeit als hinreichende Bedingung für ›gute‹ Handlungen müsste jedoch als logische Konsequenz auch Handlungen als nicht ablehnen, die die meisten Menschen intuitiv als ›gut‹ bewerten würde – wie beispielsweise die Fürsorge gegenüber schwachen oder nicht einwilligungsfähigen Mitgliedern der Gesellschaft: Das Handeln des Menschen, die Entwicklung von Kultur und Technik sind stets in einem gewissen Sinne ›un-natürlich‹. Während in der nicht-menschlichen Natur Kranke und Behinderte gnadenlos dem Selektionskampf anheim fallen, werden in menschlichen Gemeinschaften Anstrengungen unternommen, um ihr Leben zu erleichtern. Technik ist grundsätzlich durch das Bemühen gekennzeichnet, die Lebensumstände des Menschen durch nicht-natürliche Mittel zu verbessern. (ebd.)

Deswegen kann das Natürliche im Sinne aller nicht-menschlichen Handlungen nur schwerlich ohne Einschränkung als wünschenswert angesehen werden.7 Hiermit hängt auch die schlagkräftigste Kritik am Natürlichkeitsargument zusammen: Es käme einem Sein-Sollens-Fehlschluss gleich, vom deskriptiven Urteil ›eine Handlung ist unnatürlich‹ auf ein präskriptives Urteil ›und deswegen ist diese Handlung moralisch falsch‹ zu schließen (Krones 2011). Natürlichkeit wird vielmehr zu einem normativ aufgeladenen Begriff, der sich zwar vordergründig aus biologischem Wissen ableitet, dabei jedoch starke politische und soziale Implikationen trägt. Woher kommt es trotz der Widersprüchlichkeit des Natürlichkeitsarguments, dass sich dieses sowohl im fachethischen als auch im öffentlichen Diskurs hartnäckig hält? Düwell beantwortet die Frage, indem er den Begriff der ›Natürlichkeit‹ in den der »Stabilität der vertrauten Lebenswelt« (Düwell 2008, S. 117) übersetzt: 6 Vgl. ausführlicher auch Birnbacher (2006). 7 Ein Beispiel hierfür wären Natur- und Umweltkatastrophen.

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Der Mensch ist darauf angewiesen, dass die Welt um ihn herum eine gewisse Vertrautheit möglich macht. […] In der Regel sind wir in der Lage, mit den vertrauten Gegenständen der Lebenswelt so umzugehen, dass wir uns ohne viel Nachdenkens in dieser Welt bewegen können. Eine gewisse Vertrautheit mit der Lebenswelt ist auch schlicht lebensnotwendig und zudem eine Grundvoraussetzung dafür, dass der Mensch sich wohlfühlen und glücklich sein kann. […] Gleichwohl ist ein Bedürfnis nach Vertrautheit in der Lebenswelt noch kein durchschlagendes moralisches Argument, bestimmte Handlungen nicht zu tun. […] Zudem kann das Pochen auf lebensweltliche Vertrautheit ja auch deutlich repressive Züge annehmen. Menschen mit auffälliger äußerer Erscheinung wurden als Freaks und Monster gedemütigt und zur Schau gestellt. Die Kritik an der Unnatürlichkeit der Homosexualität war auch eine Reaktion darauf, dass hier die bürgerliche Gesellschaft mit einem Lebensentwurf konfrontiert wurde, der das Vertraute in Frage stellt. (ebd., S. 117 f.)

Insbesondere das von Düwell angesprochene Beispiel der Homosexualität eignet sich als Folie, um die Übersetzung des Natürlichkeitsbegriffs in rechtliche Kategorien einerseits, sowie ihre Durchdringung mit sozio-kulturell geprägten Normvorstellungen andererseits am Beispiel von Reproduktionstechnologien zu verdeutlichen. Relevant ist dabei, dass nicht das Embryonenschutzgesetz (EschG)8, sondern das ärztliche Standesrecht reguliert, wer zur assistierten Reproduktion zugelassen ist (Dethloff 2010).9 Dieses Recht wiederum rekurriert auf andere, einschlägige deutsche Gesetze, in seiner ersten Formulierung von 1998 beispielsweise auf das Grundgesetz: Die grundsätzliche Bindung der Anwendung der Methoden der assistierten Reproduktion an eine bestehende Ehe findet ihre Rechtfertigung in dem verfassungsrechtlich verankerten besonderen Schutz von Ehe und Familie. Die Verfassung stellt Ehe und Familie unter den besonderen Schutz des Staates (Art. 6 Abs.1 GG). Sie geht dabei davon aus, daß eine Familie auf der Basis einer Ehe gegründet wird und dadurch ihren rechtlichen und sittlichen Zusammenhalt findet. An diese Wertentscheidung der Verfassung ist auch der Arzt gebunden, der durch die Methoden der assistierten Reproduktion zur Bildung einer über die Partnerschaft zweier Menschen hinausgehenden Familie beitragen soll. (BÄK 1998, 82)

Argumentativ begründet wird der Ausschluss homosexueller Partnerschaften sowie allein stehender Frauen hier einerseits mit der besonderen Rolle der (bürgerlichen) Ehe und Familie, die nach dem deutschen Grundgesetz verfas8 Online einzusehen unter http://www.gesetze-im-internet.de/bundesrecht/eschg/gesamt.pdf [17. 12. 2014]. Das Embryonenschutzgesetz wurde 1991 erlassen und hat bisher nur wenige Novellierungen erhalten, eine Erweiterung oder Ergänzung durch ein Fortpflanzungsmedizingesetz ist bisher trotz anhaltender Kritik ausgeblieben. Vgl. als ausführlichen Kommentar zum EschG auch Günther et al. (2008). 9 Die hier benannten Richtlinien zur assistierten Reproduktion sind Regeln des Handelns und Unterlassens, die bundesweit für Ärzt/innen gelten; eine Nichtbeachtung oder ein Verstoß kann berufsrechtliche Sanktionen bis zum Entzug der Approbation nach sich ziehen.

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sungsrechtlich verankert und somit auch von der Reproduktionsmedizin zu fördern ist und andererseits mit dem ›Kindeswohl‹.10 Hier wird davon ausgegangen, dass bei der heterologen Samenspende (d. h. die Befruchtung einer Frau mit Samen eines Mannes, mit dem sie nicht verheiratet ist) das Wohl des Kindes entscheidend gefährdet wäre, da es in instabile Verhältnisse hineingeboren würde: Im Hinblick auf das Kindeswohl verbietet es sich, einer alleinstehenden Frau oder gleichgeschlechtlichen Paaren einen Kinderwunsch zu erfüllen. Im Übrigen besteht in den genannten Fällen gegenüber dem Arzt kein Anspruch auf Anwendung der Methoden der assistierten Reproduktion, da es nach wie vor kein positives Recht auf ›nichteheliche Fortpflanzung‹ gibt. (ebd.)

In ihrer Novellierung der Richtlinie aus dem Jahr 2006 verweist die BÄK zwar nicht mehr auf den Art. 6 des Grundgesetzes, konstatiert jedoch immer noch: »Methoden der assistierten Reproduktion sollen unter Beachtung des Kindeswohls grundsätzlich nur bei Ehepaaren angewandt werden.« (BÄK 2006, 1395). Und weiter : Eine heterologe Insemination [Behandlung mit fremdem Spendersamen, Anm. d. Verf.] wird […] an zusätzlich enge Voraussetzungen geknüpft. Bei nicht miteinander verheirateten Paaren wird dabei einer heterologen Insemination mit besonderer Zurückhaltung zu begegnen sein; sie erklärt sich aus dem Ziel, dem so gezeugten Kind eine stabile Beziehung zu beiden Elternteilen zu sichern. Aus diesem Grund ist eine heterologe Insemination zurzeit bei Frauen ausgeschlossen, die in keiner Partnerschaft oder in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft leben. (ebd., 140)

Diese rechtliche Übersetzung eines Natürlichkeits- bzw. Vertrautheitsbegriffs in den Begriff des ›Kindeswohls‹ hat seine Gründe darin, dass es sich hierbei um ein »intersubjektiv von allen geteiltes und nachvollziehbares Argument« (Krones 2011, 2) handle. Dieses Argument ist nötig, da sowohl deskriptive Urteile der Natürlichkeit als auch weltanschauliche Begründungszusammenhänge im demokratischen, säkularisierten Rechtsstaat keine Rechtfertigung für die Freiheitsbeschränkungen der Bürger/innen sein können (ebd.). Anders formuliert: Erst dadurch, dass ein schützenswertes Rechtsgut wie das ›Kindeswohl‹ existiert, kann die Exklusion von Personen im Bereich der assistierten Reproduktion legitimiert werden.11 Dabei lässt sich jedoch bis in den aktuellen öffentlichen 10 Die reproduktionsmedizinische Behandlung alleinstehender oder homosexueller Männer ist bereits nach dem EschG nicht gestattet, da dies die Ersatzmutterschaft verbietet. Auch die heterologe Eizellspende ist nach dem EschG verboten. Mit Bezug auf das Thema unseres Artikels, werden wir uns diesen beiden Phänomenen an dieser Stelle jedoch nicht weiter widmen. Vgl. dazu Heyder (2013). 11 Dies erklärt auch, warum die sich aus ethischer Perspektive und auch von moralischer Intuition her plausible Frage der Gerechtigkeit im Zusammenhang mit dem Zugang zur assistierten Reproduktion keine Rolle in den Richtlinien zur assistierten Reproduktion

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Diskurs eine Verknüpfung des ›Kindeswohls‹ mit eben jenen weltanschaulichen Begründungszusammenhängen nachweisen. So verkündete Volker Kauder (CDU) beispielsweise 2010 in der Berliner Zeitung: [Z]uerst muss die Frage nach dem Kindeswohl gestellt werden. Es kommt nicht so sehr darauf an, ob die Erwachsenen als glückliche Familie leben wollen. Ich glaube nicht, dass sich Kinder wünschen, in einer homosexuellen Partnerschaft aufzuwachsen.« (Tichomirowa/Vates 2010, 8)

Dass die Prämissen der Kindeswohl-Argumentation in neueren empirischen Forschungen entkräftet wurde (vgl. Funcke / Thorn 2010; Rupp 2009), soll dabei hier nicht unser Hauptaugenmerk sein.12 Vielmehr möchten wir an dieser Stelle von dem Inhalt der Argumentation zu seiner Struktur übergehen und erläutern, wie die kritische Auseinandersetzung mit Regelungen der assistierten Reproduktion einen analytischen Zugang ermöglicht, der veranschaulicht, welche Disziplinen und welche Art von Urteilsfindung an bioethischen Problemen beteiligt sind. Dabei gehen wir in Anlehnung an Marcus Düwell (2008, S. 26 f.) davon aus, dass bioethische Urteile stets gemischte Urteile sind, da sie sich aus deskriptiven Urteilen (Was ist Fakt? Was ist möglich?), prognostischen Urteilen (Welche Folgen könnte eine Handlung nach sich ziehen?) und präskriptiven Urteilen (Ist die Handlung moralisch vertretbar? Gibt es Bedingungen, die diese Vertretbarkeit beschränken?) zusammensetzen. Ein grundlegendes didaktisches Ziel besteht erst einmal darin, Schüler/innen wie Studierenden diese drei Dimensionen des Urteils zu vermitteln und ihre Argumentationskompetenz dahingehend zu schärfen, dass sie fremde wie eigene Argumente kritisch prüfen. Anhand unseres Beispiels würde dies bedeuten, zu reflektieren, auf welche Weise ein bestimmtes Argument verwendet wird: Als rein deskriptive Aussage zur Unterscheidung der natürlichen von der medizinisch assistierten Fortpflanzung oder bereits pejorativ oder gar präskriptiv zur Beschreibung des Unnormalen, Abweichenden und Anderen, was – wie oben erläutert – nicht zwangsläufig unmoralisch oder schlecht sein muss. Dabei schlagen wir orientiert an Wimmer et al. (2000) drei Leitlinien vor : Erstens die Förderung eines nicht-reduzierten Wissenschaftsbegriffs, d. h. ein Ansatz, der Wissenschaft als einen historischen gewachsenen Komplex aus individuellem und institutionellen Handeln versteht und auch Ergebnisse der spielt: Das Wohl eines – gleichwohl fiktiven – Kindes wird hier höher gewertet als die Interessen der potentiellen Eltern. Berücksichtigung finden neben dem Kindeswohl lediglich ethische Fragen nach dem Status des Embryos und dem psychischen und physischen Wohlbefinden der Patient/innen. 12 Neben diesen beiden epistemologischen Argumenten lässt sich die Setzung eines bestimmten, d. h. bürgerlichen, im 19. Jahrhundert in westlichen Kontexten entstandenen Familienmodells sowohl durch einen historischen (Weber-Kellermann 1996) als auch einen kulturellen Vergleich (Ludvig 2005) rekonstruieren.

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Medizin auf normative Implikationen und sozio-kulturelle Einbettung hinterfragt (vgl. Labisch 2005). Zweitens die Förderung bewusster ethischer Reflexion, die verschiedene moralphilosophische Schulen, ihre Prämissen und Konklusionen gleichermaßen zulässt. Zu dem von Wimmer et al. (2000, S. 3) geforderten Ausgleich zwischen sollens- und strebensethischen Ansätzen sowie einer gleichermaßen technik- als auch probleminduzierten Reflexionsanleitung möchten wir die Auseinandersetzung mit feministischer Ethik hinzufügen.13 Denn diese verdeutlicht, dass es Positionen gibt, die aus traditionellen, v. a. deontologischen und gerechtigkeitsethischen Ansätzen ausgeschlossen sind – dass also auch die Disziplin der Ethik selbst einer historischen und kulturellen Kontingenz unterliegt, die sie bis zum Aufkommen feministischer Stimmen zu einem weitestgehend männlich dominierten Raum macht (vgl. Gilligan 1982). Drittens die Förderung von Interdisziplinarität: Die reflexive Auseinandersetzung mit Biotechnologien kann, so unsere Prämisse in Anlehnung an das Modell von Wimmer et al. weder eine rein naturwissenschaftlich-deskriptive, noch eine rein abstrakt moralphilosophische oder theologische sein, da Bioethik als angewandte Ethik sich genau zwischen diesen beiden Polen bewegt. Ebenso spielen, wie oben deutlich wird, Fragen des Rechts (institutionalisiert im Fach Politik/Sozialkunde bzw. den Rechtswissenschaften) und die Thematisierung der historischen Entstehungsdimension sowohl von Technologien als auch von Gesetzen eine Rolle.

Die Rolle feministischer Science Fiction Düwell (2008) konstatiert im Anschluss an das oben bereits genannte Zitat: »[A]uch die […] Herausforderung von Vertrautem muss möglich sein, nicht nur im Sinne der basalen Rechte von Homosexuellen, sondern auch um moralische Lernprozesse zu ermöglichen« (ebd., S. 118). Feministische Science Fiction fordert dieses Vertraute immer wieder heraus, ohne die Relevanz für das Wirkliche völlig zu verlieren (vgl. Christ 2011). Mehr noch: Die Auseinandersetzung mit ihr ist eine Möglichkeit, diesen Effekt konstruktiv zu nutzen: Denn dass uns das Erzählte ›unwahrscheinlich‹ bzw. ›fremd‹ vorkommt, heißt nicht, 13 »Gegenstand der Strebensethik sind Ratschläge für ein gutes und glückliches Leben, während der Gegenstand der Sollensethik moralische Normen mit unbedingtem Anspruch sind, auf denen z. B. der Ausgleich von Rechten und Pflichten verschiedener Personen beruht. Eine technikinduzierte Bewertung setzt bei einer vorhandenen Technik an und wägt deren Chancen und Risiken ab, während eine probleminduzierte Bewertung eine Technik im Kontext der Lösung eines bestimmten Problems und im Vergleich zu alternativen Lösungen bemißt« (Wimmer et al. 2000, S. 3). Einen ersten Überblick sowie vertiefende Literaturhinweise zur feministischen Ethik finden sich bei Wendel (2003).

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dass es keine Relevanz für reale Entscheidungen hätte. Im Gegenteil ist vielmehr der Raum, der zwischen dem real Machbaren und dem fiktional Erzählten liegt, gerade jener, der uns mit unserer Auffassung von Körper und Geschlecht sowie der Vorstellung, wie weit wir diese mit Technologien verändern dürfen, konfrontiert. Diese heuristische Funktion der Science Fiction hat die in den USA sehr bekannte Autorin Ursula K. Le Guin in Bezug auf ihren Roman The Left Hand of Darkness (1969)14 einige Jahre nach Erscheinen des Buches in einem Essay folgendermaßen kommentiert: I was not recommending the Gethenian sexual setup: I was using it. It was a heuristic device, a thought-experiment. […] One of the essential functions of science fiction, I think, is precisely this kind of question-asking: reversals of a habitual way of thinking, metaphors for what our language has no words yet, experiments in imagination. (Le Guin 1976, S. 137 f.)

Der Mehrwert von Literatur als Gedankenexperiment, auf den Le Guin hier anspielt, ist mittlerweile in didaktischer Forschungsliteratur angekommen: So hat insbesondere Engels (2004) hervorgehoben, dass die Bandbreite von Gedankenexperimenten Literatur mit einschließen sollte (ebd., S. 187 sowie insbesondere S. 43–56).15 Das interessante und gleichzeitig didaktisch Wertvolle des Gedankenexperiments liegt darin begründet, dass es die Aufhebung eines Realitätsprinzips mit Rationalität verbindet (ebd., S. 221). Wenn literarische Szenarien zur Durchführung von Gedankenexperimenten genutzt werden, sind sie also nicht nur aufgrund der Attraktivität ihrer literar-ästhetische Merkmale geeignet, eine fantasievolle Reflexion mit Reproduktionstechnologien und Geschlechterverhältnissen anzuregen. Wir gehen noch einen Schritt weiter, indem wir annehmen, dass feministische Science Fiction die Auseinandersetzung mit deskriptiven Urteilen herausfordert, d. h. erstens die Frage aufwirft, was tatsächlich bereits machbar ist, zweitens durch Darstellung des Zukünftigen Szenarien des Möglichen entwirft und damit prognostische Urteile provoziert und schließlich überleitet zum präskriptiven Urteil des Wünschenswerten oder Verantwortbaren. Gleichzeitig wird durch die feministische Ausrichtung des Genres ein Fokus auf mögliche Exklusionskategorien und -prozesse in allen drei Teilen des ethischen Urteils gelegt, d. h. auf die Frage, wer in einer Gesellschaft diese Urteile fällt, für wen sie gültig sind und wer von ihnen ausgeschlossen ist. 14 Le Guin imaginiert hier den Planeten Gethen, auf dem jegliche Kategorien des sex oder gender überflüssig sind, weil seine Bewohner keine konstante Geschlechtsidentität haben – sie nehmen in der fruchtbaren Phase ihres Zyklus’ entweder ein männliches oder weibliches Geschlecht an und leben die größte Zeit ihres Lebens geschlechtslos. Zum Potential dieses Romans für die Reflexion von Geschlechterverhältnissen im Fremdsprachenunterrich vgl. Shipley (2007). 15 Zur Funktion fiktionaler Werke für Gedankenexperimente vgl. außerdem Klauk (2011).

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Wie die Personen und Handlungen des fiktionalen Raums wahrgenommen werden, ob als wünschenswert oder abschreckend, ob bestimmte Vorstellungen von Geschlecht, von der Trennung von Sexualität und Reproduktion positiv oder negativ bewertet werden, ist immer auch relational zu den Prämissen der Leser/ innen zu bestimmen, z. B. dazu, was sie als vertraut oder fremd empfinden und kann so zur einer Reflexion gesellschaftlicher Verhältnisse beitragen, ohne die rationale und logische Komponente von Argumentationen aus dem Blick zu verlieren.

Textbeispiele Die Kurzgeschichten, die hier für den Unterricht vorgeschlagen werden sollen, entwerfen Szenarien, die uns ›vertraute‹ Dinge systematisch entfremden. Insbesondere die autodiegetische Erzählinstanz in beiden Geschichten16 führt dabei zur aktiven Identifikation mit den Figuren und damit dem ›Fremden‹. In beiden Erzählungen ist die Reproduktion durch Technologien von biologischer Zweigeschlechtlichkeit entkoppelt. Diese Loslösung hat gleichzeitig zu einem gesellschaftlichen Organisationsprinzip nach strikt gleichgeschlechtlichem Muster geführt, sodass die gleichgeschlechtliche Fortpflanzung auch die einzige gesellschaftlich akzeptierte Methode darstellt.

When It Changed Auf dem Planeten Whileaway in Joanna Russ’ Kurzgeschichte Als alles anders wurde (1972) leben nur Frauen, da die männliche Bevölkerung dreißig Generationen zuvor durch eine Seuche ausgestorben ist. Die Frauen haben ihr Überleben durch die Technologie der Eizellverschmelzung sichergestellt mit der Konsequenz, dass nur weibliche Nachkommen erzeugt.17 Abgesehen von dieser für Menschen ungewöhnlichen Fortpflanzungsmethode ist das Leben der Frauen auf Whileaway landwirtschaftlich geprägt und befindet sich (wieder) in einem Anfangsstadium industrieller und technologischer Entwicklung. Die Probleme durch menschliche Überbevölkerung und technologischen Fortschritt gehören auf dem Planeten dementsprechend sowohl der Vergangenheit 16 Autodiegese bezeichnet in der Narratologie eine Erzählinstanz, die selbst Teil der erzählten Welt ist und in der ersten Person erzählt (Ich-Erzählerin) (vgl. Genette 1998, 176). 17 Diese Form der ungeschlechtlichen Fortpflanzung, Parthenogenese, scheint auf den ersten Blick unwahrscheinlich, sie ist jedoch nicht unnatürlich, da es verschiedene Tierarten (wenngleich keine höheren Säugetiere) gibt, die sich durch Formen der ungeschlechtlichen Zeugung fortpflanzen (vgl. Ebeling 2002).

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als auch der Zukunft an, da die Bewohnerinnen die Geschichte der Vorfahren kennen und damit rechnen, dass beide mit dem Fortschreiten der Industrialisierung erneut an Relevanz gewinnen könnten (vgl. Russ 1972, S. 11). Die Erzählung wird aus der Ich-Perspektive einer Bewohnerin von Whileaway geschildert. Sie berichtet von dem Tag – als alles anders wurde – und meint damit den Beginn der irreversiblen (Zer-)Störung der funktionierenden homosozialen Ordnung durch die Ankunft männlicher Astronauten von der Erde. Die gesamte weibliche Bevölkerung hat noch nie einen Mann gesehen, dessen Erscheinungsbild sogleich befremdlich wirkt: »Sie [die Männer] gehören offensichtlich zu unserer Spezies, aber entfernt, unbeschreiblich entfernt […]«, »was für Stimmen sie haben!« (ebd., S. 9, Kursivierung im Original). Eine Handlung wie »Hände schütteln« (ebd., S. 9) stellt für die Frauen ein Relikt dar, das an diesem Tag aus »gutem Beispiel« (ebd.) abgehandelt wird; archaische männliche Pronomen müssen mit dem Eintreffen der »Erdenmänner« (ebd., 8) wieder in die Sprache eingeführt werden: »Er wandte seinen Kopf« (ebd. S. 9, Kursivierung im Original). In der Kommunikation werden die Bewohnerinnen mit stereotypen Vorstellungen der Astronauten hinsichtlich überlegener Männlichkeit und unterlegener Weiblichkeit konfrontiert. Auch die Prämisse, menschliche Fortpflanzung habe ›natürlich‹ durch heterosexuellen Geschlechtsverkehr zu geschehen, wird von den Besuchern aufgestellt (ebd., S. 14 f.). Der Protagonistin gelingt es hierbei nur durch Reflexion, die präskriptiven Implikationen in den Aussagen der männlichen Besucher zu verstehen. Diesem Prozess werden die Leser/innen durch die Autodiegese direkt ausgesetzt: Die Tatsache, dass ›Natürlichkeit‹ unterschiedlich aufgefasst werden kann und dazu in unterschiedlichem Maße moralisch aufgeladen sein kann, zeigt, wie die Logik jedes Natürlichkeitsargumentes unterlaufen werden könnte. So muss die Protagonistin erst verstehen, dass die Besucher mit der Frage »Wo sind Ihre Leute?« (ebd., S. 10 f.) ausschließlich nach den Männern in der Gesellschaft fragen. Den Frauen auf Whileaway wird also kategorisch abgesprochen, von Relevanz für soziopolitische Gespräche bzw. Entscheidungen zu sein.18 Ebenso muss die Protagonistin erst verstehen, dass der Ausruf »[e]ine große Tragödie!« (ebd., S. 12) und dem Nachsatz »[n]un, jetzt sind wir ja da« (ebd.), mit dem die Besucher die Information über das Aussterben der männlichen Bevölkerung kommentieren, von diesen als Hoffnung für das weibliche Kollektiv gemeint ist (ebd., S. 12 f.). Die Tragweite der gesellschaftlichen Konsequenzen, die mit der Ankunft der Männer losgetreten werden, manifestiert sich für die Ich-Erzählerin im Laufe der 18 Die Originalsprache der Kurzgeschichte ist Englisch, wo dieser Satz »Where are all the people?« die gleiche Implikation hat. Aufgrund der relativ unproblematischen Übersetzbarkeit des Satzes ins Deutsche kann in beiden Fällen das literarische Werk als Kritik an männlichen Ausschlussverfahren und männlich konnotierter Sprache verstanden werden.

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weiteren Handlung. So gehen die Besucher davon aus, dass in der Gesellschaft »etwas fehle«, dass es »etwas Besseres gebe«, was die Frauen »intellektuell« wissen müssten: »Es gibt nur eine halbe Spezies hier. Männer müssen wieder nach Whileaway kommen« (ebd., S. 15). Mit der gleichen Selbstverständlichkeit verwerfen die Besucher die bewährte Fortpflanzungsmethode der Bewohnerinnen zu Gunsten der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung: »die parthenogenetische Kultur [hat] alle nur erdenklichen inhärenten Mängel […]. Aber bestimmt können Sie einsehen, daß diese Art von Gesellschaft unnatürlich ist« (ebd., S. 14). Die Frauen werden erneut mit normativen Implikationen von Natürlichkeit konfrontiert: Ihre Art der Gesellschaftsorganisation ist aus dieser Sicht ›falsch‹, weil sie ›unnatürlich‹ ist. Anders formuliert, aufgrund ihrer scheinbaren Unnatürlichkeit weist die Gesellschaft im Vergleich zu der der Besucher Mängel auf. Analog zu Düwells Feststellung, dass Technologien immer zu einem gewissen Grad ›un-natürlich‹ sind, verteidigt sich die Frau der Protagonistin: »[d]ie Menschheit ist unnatürlich« (ebd., S. 14), was aber nicht der Tatsache widerspricht, dass Whileaway gesellschaftlich funktioniert und glückliche Subjekte hervorbringt »›[i]ch vermisse nichts‹, erklärte [sie]. ›Außer, daß das Leben nicht endlos ist‹« (ebd., S. 15). Der Konflikt auf textueller Ebene besteht also aus der Konfrontation der Geschlechter, der Konflikt auf interpretatorischer Ebene basiert auf einer uns diametral entgegengesetzten Darstellung des ›Vertrauten‹ mit dem ›Fremden‹ und der Erkenntnis, dass erstes von Beobachtern positiv (›natürlich‹) und zweites negativ (›unnatürlich‹) bewertet wird. Nach der Einsicht der Protagonistin, dass gravierende Umbrüche durch eine weitere Kolonisationswelle anstehen – »[w]enn eine Zivilisation die großen Kanonen hat und die andere keine, so läßt sich die weitere Entwicklung einigermaßen absehen« (ebd., S. 16) – stellt sie halb nostalgisch, halb zynisch fest »auf eine grausame Art und Weise finde ich es amüsant, alles derart komplett umgedreht zu sehen. Auch dies wird vergehen« (ebd., S. 18) und impliziert damit, dass nicht nur die Zukunft aus Wiederholungen der Vergangenheit besteht, sondern auch, dass ›Fremdes‹ und ›Vertrautes‹ relational und dynamisch zu begreifen sind.

Love Alters In Tanith Lees Kurzgeschichte Love Alters (1985) haben sich gleichgeschlechtliche Partnerschaften innerhalb kurzer Zeit ebenfalls als Konsequenz der Entkoppelung von menschlicher Fortpflanzung und biologischer Zweigeschlechtlichkeit durch Reproduktionstechnologien etabliert. Im Gegensatz zu Russ’

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Gynotopie19 entwickelte sich eine gleichgeschlechtlich strukturierte Gesellschaft aber trotz der Anwesenheit beider Geschlechter. In Love Alters wird das Natürlichkeitsargument in nahezu gespiegelter Form als unhinterfragte Tatsache akzeptiert: Die ›wahre‹ menschliche Lebens- und Gesellschaftsform ist die gleichgeschlechtliche, die bis zur Etablierung von Reproduktionstechnologien durch notwendige zweigeschlechtliche Fortpflanzung verhindert wurde: »It was simply biological function that held the process up so long. The natural bodily urge was male-female, but the natural intellectual, spiritual truthful urge ran always in opposition« (ebd., S. 67, Kursivierung im Original). In Love Alters wird den Leser/innen nach einer halben Seite klar, dass es sich bei der autodiegetischen Erzählinstanz um eine weibliche Figur handelt, die mit einer Frau verheiratet ist (ebd., S. 61). Durch die Reflexion des ersten Satzes der Geschichte »I had been married to Jenny for two whole years, when I fell in love with a man« (ebd., S. 60) wird der Konflikt der Handlung festgelegt: abweichende sexuelle Orientierung. In Form von Analepsen20 erfahren die Leser/innen zunächst vom Kennenlernen, Verlieben, Heiraten und der anstehenden Familienplanung der weiblichen Hauptfiguren (ebd., S. 61 ff.) und gleichzeitig von der Normativität dieser monogamen, gleichgeschlechtlichen Lebensweise, indem diese explizit vom fiktional ›Fremden‹ – d. h. Heterosexualität – abgegrenzt wird. So imaginiert (und fürchtet) die Erzählerin, nachdem sie sich über ihre nicht-konforme Art der Zuneigung zu ihrem Arbeitskollegen Druse21 bewusst geworden ist, die abweisende Reaktion der Gesellschaft: Our society has no place for the kind of people we’d be. […] No, of course, it isn’t illegal. Heterosexuality is merely – offensive. Or risible. There are even dirty jokes about it. […] Funny. And now, if he and I were to be subject of that kind of humour, what? Leave our jobs. Go away somewhere. Pretend to be good friends, oh such good friends. And date girls, and date men, to sustain appearances. (ebd., S. 70)

19 Der Terminus ›Gynotopie‹ (gynotopia) bezieht sich auf die fiktionale Darstellung von Welten, in denen ausschließlich weibliche Individuen leben. Die Silbe ›–topie‹ lässt zwar offen, ob es sich um utopische oder dystopische Darstellungen handelt, es ist aber anzumerken, dass es sich, so wie bei Russ, zumeist um Utopien, d. h. um Imaginationen idealer Gesellschaften, handelt. 20 »Mit Prolepse bezeichnen wir jedes narrative Manöver, das darin besteht, ein späteres Ereignis im Voraus zu erzählen oder zu evozieren, und mit Analepse jede nachträgliche Erwähnung eines Ereignisses, das innerhalb der Geschichte zu einem früheren Zeitpunkt stattgefunden hat als dem, den die Erzählung bereits erreicht hat […]« (Genette 1998, S. 25, Kursivierung im Original). 21 ›Druse‹ kann als ›sprechender Name‹ interpretiert werden, denn im Englischen verweist das Wort auf Fremdkörper, die sich als Ablagerungen auf etwas ›Purem‹ wie bspw. auf der Netzhaut, auf Steinen oder Mineralien bilden und damit ein ›natürliches‹ System ›stören‹ oder nur ›verändern‹. Im Deutschen kann die Interpretation des Wortes ganz ähnlich durchgeführt werden.

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Dass die Erzählstimme selbst mit gesellschaftskonformen heterophoben Vorurteilen beladen ist, wird an einigen Stellen im Text durch die Wortwahl verdeutlicht: »I was quite normal, I was like everybody else« (ebd., S. 60, Kursivierung durch Verfasserinnen), »[b]ut there are ethnic primitives still, who practise the old formula [heterosexual sex] who even carry their offspring to term [nine months pregnancy]. And there are perverts who want it. Men who want to sleep with women […]« (ebd., S. 67, Kursivierung im Original; vgl. auch ebd., S. 68; S. 70). Die Heterophobie der Erzählinstanz wird deutlich, wenn sie mithilfe der Konstruktion von ›normal‹ die Implikation des Wortes als negative Abgrenzungskategorie funktionalisiert: Sie stellt mit ihrer Ehefrau die gesellschaftliche Norm dar, die sich vom ›Fremden‹ – hier explizit als ›primitiv‹ und ›pervers‹ bezeichnet – abgrenzt. Doch die Intensität der eigenen Gefühle veranlasst die Ich-Erzählerin, aller gesellschaftlichen Konventionen zum Trotz, dazu, Druse ihre Zuneigung gestehen zu wollen (ebd., S. 70). Dazu kommt es allerdings nicht, denn die Handlung erfährt ihren Höhepunkt kurz zuvor in der Auflösung, dass Druse sich in ihre Frau, Jenny, verliebt und diese mit ihr betrogen hat (ebd., S. 71). Er verlässt daraufhin die Stadt, und die Frauen bleiben in der homosozialen Ordnung verhaftet: Jenny schlechten Gewissens der Erzählfigur gegenüber (ebd., S. 73), welche sich wiederum durch die eigene Erkenntnis, nicht-konform zu lieben, nach gesellschaftlicher Veränderung sehnt: »Everything is always changing. Seasons, weather, time. So why not the climate of love? Why not?« (ebd., S. 73). Ein Aspekt, der in Love Alters auffallend viel Erzählzeit in Anspruch nimmt, ist die Vorstellung, eine gleichgeschlechtliche Partnerschaft bestünde, analog zur zweigeschlechtlichen, aus einer männlichen und einer weiblichen Frau. Dass diese Konzeption innerhalb der von Lee imaginierten Gesellschaft die Norm darstellt, ist unseres Erachtens die Repräsentation der tiefen Verwurzelung binärer Genderstrukturen unabhängig vom biologischen Geschlecht. Dies entspricht der Definition des Begriffs ›Homonormativität‹:«Homonormativity is the assimilation of heteronormative ideals and constructs into homosexual culture and individual identity. It refers to politics that do not contest dominant heteronormative assumptions and institutions such as monogamy, procreation and binary gender roles« (Duggan 2002, S. 179). Dieses Muster, sich als ›weibliche‹ Frau in eine ›männliche‹ Frau verlieben zu müssen, wird jedoch von der Hauptfigur in Love Alters kritisch betrachtet: »There has been universally so much of this opposite attract rubbish. Friends now even said to me that Jenny and I looked wrong together, because we were physically alike […]. To my mind […] this cult for a ›masculine‹ and a ›feminine‹ divide in partners is the depths

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[sic] of idiocy« (ebd., S. 62). Auch hier wird also die Form dessen, was gesellschaftlich als ›natürlich‹ bzw. ›normal‹ gilt, hinterfragt.22 Das Subversionsmoment, im Gegensatz zu Russ, ist nicht durch die Entfremdung von Männlichkeit, sondern durch die Umkehrung von Heteronormativität in Homonormativität gekennzeichnet. Diese ›umgedrehte‹ Sicht auf die Gesellschaft fordert auf, eine kritische Reflexion über normative Implikationen und gesellschaftliche Zwang- und Regulierungsmechanismen als solche vorzunehmen. Der Konflikt auf textueller Ebene besteht, wie im Titel angelegt, in der Darstellung der Auswirkungen, die sich für die Erzählinstanz dadurch ergeben, dass sie einen durch ›Liebe veränderten‹ Blick auf gesellschaftliche Normen entwickelt, der Konflikt auf interpretatorischer Ebene entsteht, analog zu Als alles anders wurde, durch Umkehrung von ›vertraut‹ und ›fremd‹: Was im gesellschaftlichen Leben der 1970er und 1980er Jahre vertraut, ja, ›natürlich‹ erschien, ist in diesen beiden Texten das Fremde/Abweichende, während gerade das ›Unnatürliche‹ akzeptiert ist bzw. eine neue gesellschaftliche Norm darstellt.

Fazit und Ausblick Beide Geschichten zeigen, dass eine bloße Umkehrung – das Ersetzen einer scheinbar ›natürlichen‹ Ordnung durch eine andere – keineswegs die Lösung der aufgeworfenen Probleme darstellt: Entweder kehren ausgeschlossene Subjekte zurück und fordern einen machtvollen Tribut (wie bei Russ). Oder, wenn wie bei Lee Heterophobie an die Stelle von Homophobie tritt und gleichgeschlechtliche Lebensentwürfe anstelle von zweigeschlechtlichen eine Norm darstellen, wird gesellschaftliche Regulierung lediglich auf ›umgedrehte Weise‹ aufrecht erhalten. Dass die Verkehrung von ›vertrauten‹ Gesellschaftsstrukturen in ›fremde‹ narrative Settings in den Geschichten neue Probleme hervorbringt, kann aus unserer Sicht zu einer kritischen Betrachtung von Normen als solchen führen. Für eine ethisch-kritische Auseinandersetzung provozieren diese beiden Szenarien geradezu die Einsicht, Lösungen in Alternativen zu suchen, wie z. B. Fragen des zwischenmenschlichen Miteinanders und Konzepten von Toleranz und Vertrauen. Dafür ist jedoch eine Auseinandersetzung auch mit der argumentativen Ebene von Natürlichkeit und Normalität unerlässlich. Denn eben diese Argumente sind, wie oben gezeigt, im öffentlichen und rechtlichen Diskurs noch immer virulent und bilden gesellschaftliche Ausschlusskriterien, was sich beispielsweise in der Zulassung zur assistierten Reproduktion ausdrückt. 22 In Als alles anders wurde wird dies nur kurz thematisiert, indem einer der Besucher die prägnante Frage stellt »Welche von euch spielt denn die Rolle des Mannes?« (ebd., S. 17).

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Literatur wie die von Lee und Russ führt uns vor Augen, dass unsere als ›normal‹ und ›natürlich‹ konzeptualisierte Welt durchaus andere Formen annehmen könnte, was impliziert, dass ›Unnatürliches‹ nicht zwangsläufig ›falsch‹ und ›Natürliches‹ nicht zwangsläufig ›richtig‹ sein muss. Die Leser/innen identifizieren sich durch die Erzählperspektive mit der Protagonistin, verstehen aber gleichzeitig die Ansichten der Besucher, da diese den Leser/innen ›vertraut‹ sind. Durch ihre prognostische Extrapolation entwirft die Science Fiction eine Welt, die demonstriert, wohin Reproduktionstechnologien führen könnten. Durch diese Szenarien wird eine Auseinandersetzung angeregt und gleichzeitig auch das deskriptive Urteil herausgefordert: Zum einen sind die überspitzten Darstellungen der Reproduktionsformen nicht realisiert und werden es vermutlich auch nicht in absehbarer Zeit. Die Frage: ›Gibt es das denn wirklich?‹ drängt sich geradezu auf und kann Schüler/innen und Studierende dazu anregen, sich gezielt und tiefgehend über die Möglichkeiten von Reproduktionstechnologien zu informieren. Zum anderen regen die Geschichten dazu an, sich mit der Entstehung der zweiten Frauenbewegung und ihrer Kritik an der Instrumentalisierung des weiblichen Körpers und den rational dominierten Diskursen ohne die Einbeziehung einer Betroffenenperspektive auseinanderzusetzen. Politische Prozesse der Emanzipation haben dort ihren Ursprung und können so, ähnlich wie der technologische Ursprung der Reproduktionstechnologien, historisch rekonstruiert werden. Wichtig erscheint uns in diesem Zusammenhang, dass die Forderung von Akzeptanz und das kritische Hinterfragen von Argumentationen in ethischer Hinsicht bis heute nicht an Relevanz verloren haben. Präskriptive Urteile, und dies ist Schüler/innen und Studierenden unbedingt zu vermitteln, dürfen nicht aus Sein-Sollens-Fehlschlüssen wie einem verkürzten Natürlichkeitsargument bestehen, sondern bedürfen gleichermaßen prognostischer, deskriptiver und präskriptiver Urteile. Wir hoffen, mit diesem Artikel gezeigt zu haben, wie Literatur mittels eines nicht-reduzierten Wissensbegriffes, Interdisziplinarität und feministischer dazu Kritik beitragen kann.

Danksagung Für ihre Anmerkungen danken wir Lotta Marie König (Göttingen).

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Kapitel 3: Räume – Landschaften – Reisen

Werner Graf

Der Wald als Metapher. Reflexionen zum literarischen Waldbild als Thema des Literaturunterrichts

Einleitung: Zur Aktualität des ›Waldes‹ als mentalitätsgeschichtliches Thema »Ich habe monatelang an dieser Idee gearbeitet. Erst musste ich die Leitung des Hauses überzeugen. Ich habe Wochen in Bibliotheken verbracht, tausende fotokopierter Seiten habe ich Blatt für Blatt zusammengetragen: alles über Wälder und Bäume und Mythen und Baumsymbole und den Wald als Metapher.« (Roth 1983, S. 38)

Auf die Aktualität des ›Waldes‹ als mentalitätsgeschichtliches Thema verweisen Ausstellungen und neuere Publikationen, angeregt auch durch die Aufmerksamkeit für das von der UNO propagierte ›Internationale[s] Jahr der Wälder 2011‹. Während sich der aufwändig illustrierte Prachtband Der deutsche Wald (Arens 2010) überwiegend der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des realen Waldes widmet, also insbesondere forstwissenschaftliche, botanische, geographische und selbstverständlich ökologische Perspektiven ausarbeitet, aber auch die kulturelle Bedeutung berücksichtigt, rücken die Ausstellung Unter Bäumen. Die Deutschen und der Wald im Deutschen Historischen Museum in Berlin und der dazu erschienene Katalog (Bremeyer / Ulrich 2011) die kulturwissenschaftliche Betrachtung in den Mittelpunkt. Für die Analyse und Kritik des Phänomens ›der Wald im Kopf‹, das vor ungefähr drei Jahrzehnten im Schatten des skandalisierten ›Waldsterbens‹ zum publizistisch und wissenschaftlich behandelten Thema avancierte – als Beispiel seien der Essay von Hans Magnus Enzensberger1 Der Wald im Kopf der Deutschen (1983) und die Ausstellung Waldungen in der Akademie der Künste Berlin (Weyergraf 1987) genannt –, bieten sich neben Bildern (vgl. dazu die aktuelle Ausstellung ›Waldeslust‹ (Weber 2011)) vor allem Werke der Literatur an. Der Wald als interdisziplinäres Thema (Harrison 1992), das zu fächerübergreifendem Unterricht einlädt, soll 1 Dabei handelt es sich um einen Teilabdruck (Stern, 7. 7. 1983) des Essays Der Wald im Kopf. (Enzensberger 1988, S. 187–194).

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hier eingegrenzt werden auf den ›literarischen Wald‹ und seine literaturwissenschaftliche und -didaktische Behandlung.2

Der Wald und die abendländische Kultur: Ideologie (Enzensberger) oder Ursprungsmythos (Harrison)? ›Lebe wohl, du schöner Wald!‹ heißt es in dem nicht unbekannten Gedicht Der Jäger Abschied des Freiherrn Joseph von Eichendorff ([1837] 1997, S. 107).3 Und diese Abschiedszeile lädt vielleicht manchen zu der Frage ein, ob der Wald als Thema nicht längst als romantische Nostalgie verabschiedet worden ist: Sind das Waldesrauschen, das Verirren im Wald, das Haus im Wald, die Räuber in den böhmischen Wäldern, Hexen und Waldmännchen, das Finden des rechten Wegs durch den Wald usw. Motive für eine fleißige Motivforschung, aber ohne Aktualität? Der Wald ist keineswegs ein Randthema der deutschen Literatur. Vom ›heiligen Wald‹ der Semnonen (Brüder Grimm [1816–18] 1982, S. 342) aus den germanischen Sagen bis zum Wald als Müllkippe, zu der er im Roman Der junge Mann von Botho Strauß geworden ist, spannt sich das Motivspektrum. Besonders die Lyrik variiert von dem ›Wunder-würdig schön(en)‹, ›schattigten Wald‹ des Barthold Heinrich Brockes bis zu Brechts ›schwarzen Wäldern‹ dieses Naturbild. Zuerst wird sicher das Waldesrauschen in der romantischen Lyrik assoziiert oder die Tiecksche ›Waldeinsamkeit‹ und der Märchenwald der Brüder Grimm; aber eine epochentypische Rolle spielt der Wald als Ort der Sünde beispielsweise auch im Agathon von Christoph Martin Wieland; zu lesen ist vom sanften Gesetz des Waldes bei Stifter oder vom Einfachen Leben bei Ernst Wiechert. Waldgedichte sind zu finden vom Barock bis zu Celans Waldig, besonders zahlreich sind sie auch im Expressionismus vertreten. Die differenzierte Funktion des wilden Walds der ritterlichen Abenteuerfahrt im mittelalterlichen Epos wäre untersuchenswert. Und in der Prosa des 20. Jahrhunderts kann an die Figur des ›Fauns‹ von Arno Schmidt oder an die des ›Waldgängers‹ bei Ernst Jünger erinnert werden. 1936 legte Wolfgang Baumgart unter dem Titel Der Wald in der deutschen Dichtung eine Gesamtdeutung vor, die sich auf die Romantik konzentriert – aber 2 Das Wald-Thema diskutiere ich seit langem mit Volker Graf, aus dieser Zusammenarbeit sind zwei Publikationen hervorgegangen: (Graf, V. / Graf, W. 1984 und Graf, V. / Graf, W. 1987). 3 Joseph von Eichendorff: Gedichte. Stuttgart: Reclam 1997, S. 107 f.. [Einige Gedichte, die in dieser Ausgabe nicht mehr enthalten sind, werden nach der alten Reclam-Auflage von 1972 zitiert].

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ihr Erscheinungsjahr deutet auf eine berüchtigte Phase der ideologischen Waldrezeption hin: Besonders beliebt waren Waldgedichte im Deutschen Lesebuch des ›Dritten Reichs‹. Nun soll hier weder die Rezeption noch die Produktion literarischer Waldbilder in einem Durchlauf durch die Literatur- bzw. Kulturgeschichte abgehandelt werden. Der Versuch (zumal in einem Aufsatz) einer annähernd vollständigen Darstellung bzw. Übersicht wäre vergeblich, im Deutschen Dichterwald – so Justus Kerners Zeitschriftentitel – könnte man sich verirren oder doch verzetteln. Es soll vielmehr die Aktualität, die das literarische Waldthema ausgelöst durch die ökologische Aufmerksamkeit in der Gegenwart wieder gewann, als Fokus gewählt werden. So ist z. B. von Uwe Dick 2008 der immer wieder erweiterte Text Sauwaldprosa erschienen, Friederike Roth gab 1983 ihrem eingangs zitierten Buch des Lebens den Untertitel Liebe und Wald, und von Sascha Anderson u. anderen liegt seit 1984 der bebilderte Sammelband Waldmaschine vor. Enzensberger greift in dem erwähnten Essay Der Wald im Kopf höchst sarkastisch die romantische Waldmentalität der Deutschen an, indem er die Romantik denunziert als »hemmungslose Propaganda der Grünen« (1988, S. 187). Sein ironischer Ton – eine Probe: »Sogar die Kleinkinder wurden indoktriniert« (1988, S. 187) –, seine ironische Kritik überspielt fast ihre Voraussetzung, nämlich die erstaunliche Annahme zur aktuellen Wirkung der Waldliteratur : das literarisches Bild des Waldes beeinflusse bis heute die Identität der Deutschen, ihre Phantasie, ihre Träume, ihre Sehnsucht und ihre Erinnerung. Der moderne Mensch, besonders der deutsche, lebe psychisch noch in den Wäldern, lautet Enzensbergers Diagnose, die ihm so plausibel erscheint, dass er nicht nach Belegen suchen muss, sondern sofort zur Ideologiekritik übergehen kann: Den ›Wald im Kopf‹ entlarvt er als »kollektive Lebenslüge« (1988, S. 194) – und tatsächlich bietet der Gegensatz zwischen der wirklichen Geschichte des Waldes und der Tradition literarischer Waldbilder genügend Anlass für ideologiekritischen Scharfsinn, hat doch gerade in der Zeit der Romantik die rationale Forstwirtschaft und -verwaltung deutliche Fortschritte gemacht. Trotzdem erscheint diese Ideologiekritik insgesamt vorschnell und z. T. wohlfeil; denn die Vergegenwärtigung und Analyse einer solchermaßen unterstellten aktuellen Wirkung der literarischen Tradition sollen sich als produktiver und spannender erweisen als die ideologiekritische Waldrodung; schließlich wird doch üblicherweise – auch von Enzensberger – über die Wirkungslosigkeit der Literatur im Medienzeitalter geklagt. Eine andere Form der Annäherung an die literarische Waldwirkung wählt Robert P. Harrison in seiner ambitionierten Studie Wälder. Ursprung und Spiegel der Kultur, deren Ziel es ist, die »Geschichte der Rolle, die Wälder in der kulturellen Phantasie des Abendlandes gespielt haben« (1992, S. 9), umfassend

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darzustellen. Dieses Forschungsprogramm setzt er ins Werk, indem er die Bedeutung der Wälder in der Weltliteratur nachweist und indem er den Wald als ein hervorragendes Symbol der abendländischen Kultur seit der Antike deutet. Der amerikanische Romanist wählt keinen aktuellen Bezug für die Waldwanderung durch die Geistesgeschichte, sein Fixpunkt ist die essentielle Rolle des Waldes in dem Ursprungsmythos, den Giambattista Vico in seiner Neuen Wissenschaft überliefert. Indem Harrison die Vorstellung hemmungslosen Trieblebens im Wald lokalisiert, wo Vicos Giganten verborgen im Halbdunkel ihr Leben ohne Sittengesetz führten, indem er in diesem Sinn die Vorgeschichte der Menschheit in den Wald verlegt, erscheint diese auch als Phantasie, die von unbewussten, verdrängten Triebwünschen gespeist wird. Die Lichtung im Wald, die den Blick zum Himmel freigibt, ist dann für Vico und Harrison der Geburtsort des zivilisierten Menschen. Den Ursprung der Religion, der Ethik, der Kultur finden sie im Wald, aber diese Menschwerdung deuten sie als Abkehr vom ursprünglichen Waldleben (vgl. Harrison 1992, S. 17–29). Der Wald steht für Harrison also am Anfang der Kulturentwicklung. Den Zusammenhang und den Gegensatz von Wald und Zivilisation – also das Spannungsverhältnis, das die Waldmetapher bis heute mit Ambivalenz auflädt – sieht er bereits im sumerischen Epos vorgebildet, weil Gilgamesch Berühmtheit erlangt, indem er auf den heiligen Berg der Zedern reist, Huwawa, den Wächter des Waldes, erschlägt und den Zedernwald abholzt. Er stilisiert den Kahlschlag zur Kulturtat, aber unbemerkt zeichnet sich gepriesenes Menschenwerk negativ in den Wald ein; denn Naturbeherrschung war von Anfang an auch Naturzerstörung: so bewahrt das Motiv des gerodeten Waldes die ambivalente Frühgeschichte menschlicher Zivilisation. Harrison ist der kritische Gedanke fremd, der Wald im Kopf könnte ein zweifelhaftes Massenphänomen sein, er versucht im Gegenteil seinen Lesern Zugang zum Wald der Geistesgeschichte zu verschaffen, indem er eine bisher »noch nicht thematisierte Dimension der Kultur- und Literaturgeschichte« (1992, S. 11) erforscht. Das Waldverständnis der Kultur bietet er als eine Einsicht für eine kleine Kunstelite an, als eine erlesene Form ästhetischer Erfahrung. Zugespitzt könnte man sagen, dass Harrison den Wald der Literatur in die Köpfe pflanzen möchte, weil er für ihn literarische Erkenntnis und Selbsterkenntnis ermöglicht, während er für Enzensberger Ideologie verbreitet.

Zum historischen Wandel der literarischen Waldvorstellungen Die reflektierende Beschäftigung mit dem literarischen Wald sollte – im Bild – einerseits die Rodung des Unterholzes und andererseits die Flucht ins Dickicht vermeiden, begrifflich gesprochen: es sollen mit der ideologiekritischen Auf-

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klärung keine transzendenten Dimensionen wegrationalisiert, aber es soll auch kein Waldmythos verkündet werden, der sich rationaler Überprüfung entzieht. Der literaturdidaktische Gang in den literarischen Wald stellt sich also dar als Gratwanderung zwischen Ideologie und Wahrheit – wir dürfen auch an die berühmten ›Holzwege‹ (Heidegger 1950) denken: zunächst ist es unklar, ob ein Holzweg in eine geistige Sackgasse führt oder zu einer philosophischen Einsicht. Das Verirren, die Undurchsichtigkeit, das Zwielicht, der Orientierungsverlust oder die Irritation, das sind Phänomene, für die oft der Wald als Bild eingesetzt wird. Um sich in dieser Bedeutungsvielfalt der literarischen Wälder zu orientieren, sind methodisch Zugriffsweisen der Motiv- und der Rezeptionsforschung zu verknüpfen. Bevor einige Texte analysiert werden, um Dimensionen der Waldmetapher aufzuzeigen, ist die aktualisierende Ausgangsfrage nach dem ›Wald im Kopf‹ zu präzisieren. Als Mitte der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts Enzensberger seinen skeptischen Essay veröffentlichte, da schien diese plötzliche Aktualität der geistigen Waldtradition als Reaktion auf ein medienwirksames Thema der politischen Öffentlichkeit verständlich, nämlich auf das Schlagwort vom ›Waldsterben‹, auf das sich für einige Zeit das öffentliche Interesse an der gesamten Umweltdebatte konzentrierte. Diese kollektive Betroffenheit vom ›Waldsterben‹ besonders in Deutschland wirft allerdings auch die Frage auf, ob sie primär durch den Zustand der wirklichen Bäume ausgelöst wurde oder ob sie als Ausdruck einer kulturell geprägten Waldmentalität zu verstehen sei. Hatte also – das ist zu klären – der Wald der Literatur einen solchen identitätsrelevanten Einfluss auf das Bewusstsein der Menschen, dass sie sich selbst bedroht fühlten, nach der Parole: ›Erst stirbt der Wald, dann stirbt der Mensch!?‹ Dieser Diskurs war geprägt von einer apokalyptischen Globalthese zum Zusammenhang von Mensch, Wald und Kultur. Um deren mystifizierende Tendenz kritisch aufzuklären, werden im Folgenden mögliche Funktionen einer aktuellen Breitenwirkung von literarischen Waldbildern untersucht. Damit eine solche Wirkungsannahme plausibel wird, muss zunächst überlegt werden, ob eine massenhafte Verbreitung von Waldliteratur auch heute im Medienzeitalter angenommen werden kann. Zwar darf man sicher bezweifeln, dass es vielen unserer Zeitgenossen mit Viktor aus Jean Pauls Hesperus im Walde so ist, als gingen sie ›durch die Pforte eines neuen Lebens‹; zwar sehe ich keine Hinweise dafür, dass die Menschen im Bewusstsein der Eichbäume von Friedrich Hölderlin »jeder ein Gott, in freiem Bunde« ([1797] 2005, S. 182) zusammenleben, auch glaube ich nicht, dass die Waldspaziergänge des Herrn Tiburius in Der Waldsteig von Adalbert Stifter ([1844] 1986) zahlreiche eingebildete Kranke heilen, und eher unwahrscheinlich ist es schließlich, dass unter Schülern ständig Lenaus Waldlieder kursieren, aber andererseits lernt auch heute noch fast jedes Kind Waldmärchen kennen, und romantische Waldgedichte – zumal wenn sie

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vertont wurden – begegnen ebenfalls fast jedem deutschsprachigen Menschen. In der Romantik kann also nicht unbegründet ein Zentrum der weiterwirkenden Waldliteratur vermutet werden, und zwar gerade in ihren populären Werken. Außerdem wäre noch auf die Verbreitung der romantisierenden trivialen Waldliteratur wie z. B. Ludwig Ganghofers Das Schweigen im Walde (1899) zu verweisen, wie auch auf die der waldseligen Volkslieder. Die Frage nach der Aktualität und Wirkung, wie literarische Walddarstellungen in einer relevanten Weise die ›Seele im technischen Zeitalter‹ beeinflussen können: sei es mit ideologischer oder mit bewusstmachender Tendenz, soll die Analyse des Märchenwaldes und des romantischen Waldes beantworten. Die Spezifik der romantisch geprägten Waldvorstellungen kann verdeutlicht werden durch die Gegenüberstellung mit den Funktionen, die in der epischen Literatur des Mittelalters dem Wald zugewiesen werden: Parzival z. B. wächst getrennt von der ritterlichen Welt heran, und das heißt: im Wald! Dieser fungiert also als der Bereich, der dem Höfischen gegenübergestellt ist (vgl. W. v. Eschenbach [1200/1210] 2011). Der bedrohliche, gefährliche Charakter des ›wilden‹ Waldes der höfischen Literatur der Stauferzeit wird besonders deutlich im Handlungsschema der ›aventuire‹-Fahrt, die den Ritter – wie z. B. Iwein und Erek (vgl. H. v. Aue [1200] 2011 und [1180/85] 2008) – zur Bewährung in den Wald führt, wo Räuber, feindliche Ritter, Riesen oder Drachen im Kampf zu besiegen sind. Wer sich im Wald bewährt hat, der darf an den Hof zurückkehren. Peter Wunderli, der die ästhetische Bedeutung des Waldes am Beispiel der altfranzösischen Epik analysiert, und zwar unter dem Titel, der seine These enthält: Der Wald als Ort der Asozialität (1991), unterscheidet fünf Funktionen des Waldes, die auch an Texten der deutschen Literatur des Mittelalters belegt werden können: Der Jahreszeitenwald, der Jagdwald, der Märchenwald, sowie der wilde und der menschenferne Wald. Als bestimmenden Bedeutungsaspekt des mittelalterlichen Waldbildes hebt er die Isolierung des Individuums von der Gemeinschaft und die eindeutig negative Bewertung dieser Trennung vom Hof hervor. Den Wald der älteren Literatur deutet Wunderli deshalb nicht nur als eine »andere Welt« wie Marianne Stauffer (1958), sondern zugespitzt als »NichtWelt«, als Ort der »Nicht-Gesellschaft«, der »Asozialität« (Wunderli 1991, S. 112). Als Muster ist der Gegensatz von Zivilisation bzw. Kultur und Wald festzuhalten, wobei der Blick auf die Literatur des Mittelalters besonders deutlich zeigt, dass sich die höfische Welt auf den Gegenpol Wald bezieht, seiner also bedarf. Man kann den Wald als Projektion deuten; denn alles, was in der tugendhaften Idealwelt des Hofes keinen Platz hat, wird in den Wald verlegt. Diese Ausgrenzung lebt weiter im Motiv der Räuber und auch in dem der Einsiedler im Wald. In dem Grundmuster der Gegenüberstellung von Kultur und Natur, das sich als wirkungsmächtig erweist, deutet sich freilich bereits im christlichen Mittelalter

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eine Ambivalenz an; denn einerseits war der Wald als Versteck heidnischer Traditionen, als sündiger Ort verdächtig, andererseits wurde er als Zufluchtsort frommer Einsiedler geweiht.

Der Wald in den Volksmärchen der Brüder Grimm Für die Volksmärchen ist eine Zweiteilung grundlegend: Neben der alltäglichen Wirklichkeit, in der die Menschen ›recht und schlecht‹ leben, gibt es bekanntlich ein fantastisches Reich des Unwirklichen, des Zaubers, des Wunderbaren – und diesem, dem eigentlich Märchenhaften, begegnet der Leser (oder Zuhörer) oft im Wald. »Vor einem großen Walde […]« (Grimm [1812] 1955, S. 90), so beginnt eines der bekanntesten Märchen der Brüder Grimm bereits in der sogenannten Urfassung von 1812 und auch in den später weitverbreiteten Ausgaben: Die Formulierung ist typisch. Der Märchenwald bleibt unbestimmt, er ist weder realistisch beschrieben oder konkret ausgemalt, noch ist er geographisch lokalisiert. Ohne nähere Bestimmung spricht das Volksmärchen vom Wald, seine Charakterisierung kommt mit einigen stereotypen Attributen aus, wie dunkel, dicht, dick, tief, finster, einsam oder eben groß. Gerade in seinen vertrauten Formeln bleibt der Märchenwald unbestimmt, fremd, allgemein, der Wald schlechthin, ein Abstraktum, eine ›Leerstelle‹, die mit phantastischem Sinn aufgeladen werden kann. »Vor einem großen Walde wohnte ein armer Holzhacker […]« (ebd.). Genretypisch ist dieser Auftakt auch für die Lokalisierung der Handlung im Waldmärchen: sie beginnt außerhalb des Waldes und führt in ihn hinein. Der Waldrand hat eine besondere Qualität, er markiert die Grenze zwischen der vertrauten Welt und der fremden. Die Menschen leben außerhalb des Waldes, der Wald ist das Andere, das nichtkultivierte, unwirtliche Gebiet, im Märchen werden also Vorstellungen vom wilden Wald des Mittelalters tradiert. Fast immer wirkt der Märchenwald auf diejenigen, die in ihn gelangen, unheimlich, bedrohlich oder gar gefährlich. Deshalb sucht niemand den dichten Wald freiwillig auf. In unserem exemplarischen Waldmärchen heißt es: Weißt du was, Mann, sagte die Frau, wir wollen morgen in aller Frühe die Kinder hinaus in den Wald führen, wo er am dichtesten ist; […] Sie finden den Weg nicht wieder nach Hause, und wir sind sie los. (ebd.)

Der Märchenwald mobilisiert die Urangst des Kindes, verlassen zu werden, und er evoziert sogar Lebensgefahr, wenn Verirren oder Hungertod drohen. Trotzdem hält die zunächst plausible These vom feindlichen Charakter des Märchenwaldes, die Dore Rebholz in ihrer Dissertation Der Wald im deutschen

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Märchen von 1944 vertritt, der strukturalen Textanalyse nicht stand; denn oft erweist sich auf wunderbare Weise im Wald das zunächst Bedrohliche am Ende als das Rettende. Freilich ist Heimtücke im Märchen nicht selten. Die Stiefmutter – meistens die ›böse‹ genannt – schickt im Winter ihre Tochter zum Holzholen, lediglich mit einem Papierkleid angetan, doch Waldmännchen retten das Mädchen (Grimm 1955, Nr. 13: Die drei Männlein im Walde). Tief im Wald, wo der verirrte Protagonist endlich Hoffnung schöpft, weil er z. B. ein Haus findet, begegnet er der Waldmacht, dort wird die Welt märchenhaft, dort ist der Zauber wirksam, der die Figuren und ihre Handlungen in eine anders konstituierte Wirklichkeit versetzt. In den Waldmärchen – Baumgart (1936, S. 36 f.) zählt 28 bei den Brüdern Grimm (dazu noch 17, in denen der Wald nicht im Mittelpunkt steht) – ist der Wald nicht nur Schauplatz, sondern durch seine raumstrukturelle Funktion wesentlich für ihren Gehalt. »In dieser Gegenwelt (der Zauberwelt des Märchens, W. G.) wiederum begreift der Wald das Eigentliche des Märchens, das Märchenhafte, das Wunderbare, in sich« (Baumgart, 1936, S. 47). Bekanntlich schimmert durchs Bärenfell das Prinzengewand, oder das ›Haus im Wald‹ verwandelt sich in einen Palast, wo verwunschene Prinzessinnen auf Erlösung harren. Und im Märchen Der Teufel und seine Großmutter findet der Held im Wald den Zugang zur Welt der Unterirdischen. Die Lösung für Rätselfragen findet sich ›tief im Wald‹, wie im Rumpelstilzchen, dessen Namen der Bote im dunklen Wald erlauscht. Oft sind im Märchen Leistungen zu erbringen, so soll z. B., um die Prinzessin zur Frau zu gewinnen, ein Wald umgehauen und die Scheite in Klafter gelegt werden. In diesem Märchenmotiv scheint also die historische Phase der Waldrodung durch, und das Abholzen gilt wie im Gilgamesch Epos als belohnenswerte Kulturtat. Auch für Hänsel und Gretel wendet sich im Wald das Schicksal zum Besseren: Die Kinder besiegen die Waldmächte mit List und Tücke, sie kehren beladen mit Perlen und Edelsteinen aus dem Wald zurück, und mit der Hexe ist auch die böse Stiefmutter gestorben. Der Märchenschluss liegt dann wieder außerhalb des Waldes, dort kann das Leben – besser als zuvor – weitergehen. Diese Dynamik der Handlungsstruktur scheint sich in die Rezeptionsstruktur einzuzeichnen: Ungeachtet der Drohkulisse und der schrecklichen Einzelheiten die Märchen bieten können, wirkt der Phantasieausflug in den Märchenwald auf Kinder in einer frühen Phase der literarischen Sozialisation nicht Angst, sondern Lust erregend. Durch die Waldmärchen vermittelt sind von früher Kindheit an starke Emotionen wie Ängste und Wünsche, Hass und Glück oder Bedrohung und Hoffnung in die phantastische Topographie des Märchenwaldes eingetragen. Typische Entwicklungskonflikte zwischen Lust und Pflicht werden – wie beim Rotkäppchen, das nicht vom Weg abweichen soll – in den Märchenwald

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projiziert (vgl. Bettelheim 1980), der in diesem Märchen allerdings untypisch ausgestaltet ist, weil z. B. die Großmutter, die keine Waldmacht verkörpert, dort wohnt. Weil im Märchen das Wünschen noch hilft, spenden sie Lust und Vertrauen. Insofern sind sie dem Träumen verwandt und öffnen wie diese die Tür zum Unbewussten. In der literarischen Kommunikation zwischen latenten Textbotschaften und unbewussten Bedürfnissen fungiert der Märchenwald als Symbol phantastisch illusionärer Wunscherfüllung, die in der literarischen Grundausstattung des Kindes einen zentralen Platz besetzt. Die Waldassoziationen sind mit der zentralen Botschaft des Märchens eng verwoben: etwas Bedrohliches wendet sich zum Guten. Der Märchenwald symbolisiert also jene ins Vorbewusste abgesunkenen literarischen Kindheitserinnerungen, die Zuversicht spenden, weil sie das Urvertrauen in den guten Ausgang sichern. Durch die Märchenrezeption übernehmen Kinder diese Waldbedeutung als Teil der psychischen Bilderwelt, wobei die entwicklungsfördernde Nähe zu den Kräften und Mechanismen des Unbewussten besonders hervorzuheben ist, wenn sie auch partiell quer zu den klassischen psychischen Instanzen liegt, also außer Es- auch Ich-Anteile enthält; so kommen z. B. in Hänsel und Gretel die orale Triebstruktur, aber auch die eigene Initiative gegen die Hexe zur Geltung. Dies ist ganz im Sinne Bruno Bettelheims, der sagt: »Seit uralten Zeiten symbolisiert der fast undurchdringliche Wald, in dem wir uns verirren, die dunkle, verborgene, fast undurchdringliche Welt unseres Unbewussten« (1980, S. 109). Bezogen auf die Märchenrezeption erscheint also eine Langzeitwirkung literarischer Waldbildung nicht unwahrscheinlich, weil jener Märchenwald als traumanaloges Bilderbuch des Unbewussten zu einem Teil der kindlichen Identität werden kann. Und wer das Wort ›Wald‹ bereits früh als affektiv aufgeladenes Symbol speichert, kann die Bedrohung der Waldnatur als Bedrohung des eigenen Lebens verstehen (oder : missverstehen). Ein solcher Mechanismus kann bewusst, aber auch unbewusst wirksam sein, also selbst dann, wenn die Märchen vergessen oder verdrängt wurden.

Zum romantischen Wald: Tieck, Eichendorff, Brentano In der Walderzählung Der blonde Eckbert (1796), in der Ludwig Tieck den romantischen Zentralbegriff ›Waldeinsamkeit‹ prägt, hebt er die märchentypische Scheidung, den Waldrand, zwischen Tatsachenwelt und Phantasiereich auf; dadurch können die Märchenwesen den Wald nun verlassen, auch die menschliche Realität durchzieht Zauberhaftes. Während sich im Volksmärchen letztlich die Außenwelt durchsetzt, siegen bei Tieck die Waldmächte: »Das

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Wunderbarste vermischte sich mit dem Gewöhnlichsten, die Welt um ihn her war verzaubert« ([1796] 2002, S. 24). Die Zauberkräfte des Waldes können überall wirksam werden, das Dominanzverhältnis zwischen Welt und Wald kehrt sich hier in der Figur der Alten für die romantische Fantasie um. Der Facettenreichtum der literarischen Waldmetapher kann eindrucksvoll an den Gedichten Eichendorffs, der oft als Dichter des deutschen Waldes apostrophiert wurde, studiert werden. Nicht wenige seiner waldreichen Verse sind fast Allgemeingut geworden: O schöner, grüner Wald, Du meiner Lust und Wehen Andächtger Aufenthalt! ([1810] 1997, S. 14)

So begeistert feiert das lyrische Ich den grünen Wald im Gedicht Abschied. Romantiker verleihen dem Wald eine religiöse Dimension: Tieck vergleicht ihn mit einem »Tempel« ([1789] 1964, S. 26), Wilhelm Müller sagt in Jägers Lust direkt: »Der Wald ist Gottes Haus« (1836, S. 367) und Eichendorff nennt das berühmte Rauschen des Waldes im Gedicht Der Wächter »fromm« ([1834], 1997, S. 81). Oft findet sich der Vergleich zwischen den Säulen einer Kirche und den Baumstämmen des Waldes, auch die Ruhe und die Lichtverhältnisse werden als Gemeinsamkeit ›besungen‹ (Max v. Schenkendorf o. J., S. 138). Und einmal – in einem eher misslungenen späten Gedicht von Eichendorff, Sonntag – gerät der Wald zum Aufenthaltsort Gottes: Der liebe Gott nun bald Geht durch den stillen Wald. ([1788/1857] 1972, S. 132)

Ruhe, Stille, Schweigen und das unvermeidliche Rauschen, in das sich Glockenklang mischen kann, geben die akustische Umrahmung der religiösen Weihe des Waldes, deren Bedeutungsfeld Schlüsselwörter wie ›feierlich‹, ›Andacht‹ oder ›Gebet‹ abstecken. Der Wald ist heiliger – also unverletzlicher – Bezirk, fast wie im ›heiligen Wald‹ der Semnonen der deutschen Sagen. Geläufig ist – zumal bei Eichendorff – der grüne Wald als Chiffre für die Erinnerung an die Heimat und an die Jugend, für die Klage über den Verlust der ›alten schönen Zeit‹. In der intensiven romantischen Kritik am Alltag gehört der emphatisch besungene Wald auf die Seite der Kunst. Wenn es, im oben zitierten Gedicht, weiter heißt: Da draußen, stets betrogen, Saust die geschäft’ge Welt. ([1810] 1997, S. 14)

dann ist dieses ›Draußen‹ vom Wald aus gesehen. Besonders deutlich hat Ludwig Tieck in die Polarität von Realität und Poesie den Wald, die Waldeinsamkeit als

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Raum des poetischen Ideals eingesetzt; die Literaturwissenschaft stellt den Wald heraus als Landschaft des Poetischen, mithin als eine zentrale Metapher der Romantik. Es ist die bürgerliche Welt, die die poetische Waldsehnsucht weckt; im Gedicht Der Wegelagerer über das Land der Philister formuliert Eichendorff: Es ist ein Wald, der rauscht mit grünen Kronen, worauf sich dann reimt: dort will ich wohnen! ([1841] 1972, S. 52)

»Wo frei die Adler horsten« (ebd.) – der poetische Wald als romantischer Aufenthaltsort konnotiert mit Freiheit. Beim Wald, den Eichendorff – wie im Märchen – nur mit allgemeinsten Bestimmungen versieht, handelt es sich wie bei Tälern und Höhen um »magische Namen« (1967, S.236), wie Eberhard Lämmert feststellt. In Eichendorffs Dichtung fungiert er als ideales Gegenbild zur bürgerlichen Geschäftswelt, als zentrales Symbol für eine oppositionelle, mit Natur verbundene geistige Heimat und utopische Freiheit, als »Paradiesort der Phantasie« (Lämmert 1967, S. 240). Nicht nur die legendären Wanderburschen feiern den Wald immer wieder als Rast- und Einkehrstätte, manchmal bekommt er als Zufluchtsort für die Seele fast psychotherapeutische Trösterqualität gutgeschrieben, Der irre Spielmann: Ich möcht in den tiefsten Wald wohl hinein, Recht aus der Brust den Jammer zu schrein, ([1817/1837]1997, S. 62 f.)

Es ist der innere Mensch, der sich im Wald findet, vom bürgerlichen Subjekt als Sozialcharakter kann dagegen eher gesagt werden, dass es sich dort, wenn es sich auf den Wald einlässt, verirrt und verliert. Im Waldmedium, Die Nacht, können sich die Grenzen des wachen Tagesbewusstseins des Ichs lockern: Wie schön, hier zu verträumen Die Nacht im stillen Wald, Wenn in den dunklen Bäumen Das alte Märchen hallt. ([1834] 1997, S. 75)

Zwischen der Darstellung der Nacht und dem »Aufsteigen des Unbewussten« bemerkte bereits Richard Alewyn eine Analogie von Natur- und Seelenvorgang (1966, S.14). Nicht von ungefähr vergegenwärtigt das ›alte Märchen‹ die vergangene Zeit der Kindheit als tagträumende Abkehr vom Realitätsprinzip des Erwachsenen, der romantische Wald suggeriert – im Gegensatz zu dem des Mittelalters – keine Gefährlichkeit mehr. Diese stille Harmonie, die weltabgewandte Utopie macht jedoch nur eine Seite aus, wie das Gedicht Im Walde eindrucksvoll zeigt:

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Und eh ich’s gedacht, war alles verhallt Die Nacht bedecket die Runde Nur von den Bergen noch rauscht der Wald Und mich schauert im Herzensgrunde. ([1836] 1997, S. 32)

Die Waldmetapher fängt ambivalente Gefühlswerte ein, das Bedrohliche gehört wie die Sehnsucht zur romantischen Gefühlsausstattung. Die Verbindung dieser stillen Empfindung des Unheimlichen mit dem Rauschen des Waldes evoziert eine akustische Vorstellung, die der psychosomatischen Reaktion des Schauderns besonders genau entspricht – hier übrigens die Reaktion des lyrischen Ichs auf eine vorbeiziehende Hochzeitsgesellschaft. Feine und abgründige Irritationen werden durch Waldbilder ummalt: Am Abgrund grast ein Reh, Es rauscht der Wald verwirrend aus der Tiefe

lautet es im berühmten Gedicht Die Heimat, das endet: Ach, dieses Bannes wunderbaren Ringen Entfliehn wir nimmer, ich und du! ([1859] 1997, S. 142)

Diese Momente des ›Verwirrenden‹ und ›Bedrohlichen‹, Eberhard Lämmert spricht von der »Dialektik von Verführung und Mahnung« (1967, S. 243), unterscheiden Eichendorffs Waldsehnsucht von trivialem Naturschwärmen. Oft ist es gerade wieder im dunklen oder halbdunklen Wald, wo das Heimliche ins Unheimliche umschlägt. Auf Leis’ Schauern in den dunklen Bäumen

reimt sich: Ist wie ein Rufen nur aus Träumen. ([1826] 1997, S. 73)

Und im Gedicht Zwielicht signalisieren die Schlüsselwörter »schaurig«, »schwere Träume« und »Graun« diese Bedeutungsdifferenzierung ([1815/1837] 1997, S. 52). Im romantischen Wald herrscht das Zwielicht des Übergangs zwischen Hell und Dunkel, zwischen Wachsein und Träumen: klare Unterscheidungen werden verwischt. Bäume und Träume, Wald und Seele werden parallelisiert, Traumhaftes mischt sich in die Naturempfindung, die zum Schaurigen hin verschoben ist: Vorbewusstes und Unbewusstes können sich geltend machen. Die Romantik stellt ihren undurchsichtigen Wald gegen das helle Licht der Aufklärung, das vieles ausblendet. Wenn die Aufklärung den Wald durchstrukturiert, dann entsteht der planmäßig angelegte Forst, durchzogen von einem Gitter rechtwinkliger, schnurgerader Wege – oder es droht der Kahlschlag. Gegen Rationalisierungstendenzen bietet der romantische Wald ein

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Refugium für Dysfunktionales, für ›schwere Träume‹, ›leise Schauer‹, für Ambivalentes. Im dunklen, labyrinthischen Wald kann sich mit dem Wanderburschen das Ich verirren, die konfuse Bewegtheit, »Im Walde her und hin«, steht für geistige Irritation: Im Walde in dem Rauschen Ich weiß nicht, wo ich bin. ([1837] 1997, S. 58)

Clemens Brentano nimmt den Wald ganz in die Psyche hinein: Im Herzen tief, Da rauscht der Wald, In dem mein Liebchen geht, (1852, S. 123)

Das lyrische Ich scheint sich im Waldesrauschen aufzulösen, es genießt es, sich zu verlieren, wie in dem Ausruf Und ich mag mich nicht bewahren!, ([1815/1837] 1997, S. 13)

der die Entgrenzung paart mit der Bereitschaft, sich vom Winde treiben zu lassen. Mentalitätsgeschichtlich ist gerade diese Seite der romantischen Waldbedeutung hervorzuheben. Gegen den Forstwissenschaftler und den Holzhändler, gegen deren instrumentellen Zugriff auf den Wald, gegen diese Objektivierung der Vernunft verteidigt sie eine subjektive Erfahrungsqualität. Indem das lyrische Ich soziale und pragmatische Hüllen einer fixierten Rollenidentität des bürgerlichen Subjekts abstreift, nimmt es symbolisch Selbstverunsicherung vorweg. In der Erfahrung des modernen Elements sieht Theodor W. Adorno das Zentrum des dichterischen Gehalts der Waldromantik: aktuell ist für ihn die Absage an die »Herrschaft […] des eigenen Ichs über die Seele« ([1958] 2002, S. 119). Es wäre eine unzulässige Vereinfachung, die Waldmetapher als Bild innerer oder äußerer Heimat zu gebrauchen; denn sie steht für die Dialektik von Heimat und Fremde, so wie Eichendorffs lyrisches Ich sich oft in der Fremde daheim fühlt und fremd in der Heimat. Für das heimatlose Subjekt verändert der Wald der Romantik als Innenwelt die Außenwelt der gerodeten Nutzfläche und derer Bewohner, er poetisiert und öffnet so Transzendenz. Die sprachliche Spannung, für die der Konjunktiv ein Indikator ist, verleiht der Waldpoesie das Schwebende, die Distanz zu der Wirklichkeit, in der nicht realisierbar ist, was wünschenswert erscheint. O könnt ich mich niederlegen Weit in den tiefsten Wald, ([1788/1857] 1972, S. 60 f.)

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Die Waldorientierung ist irreal formuliert, so hält sie den Wunsch als Wunsch offen, die Spannung unbefriedigter Sehnsucht bleibt erhalten. Solche Verse propagieren keine Weltflucht, vielmehr errichten sie eine innere, poetische Distanz gegen den geschäftigen, rationalen Alltag. Man sollte deshalb den romantischen Waldmythos nicht auf ein plakatives Symbol der Gegenaufklärung verkürzen, sondern den Hinweis erkennen auf die sehr viel später auf den Begriff gebrachte ›Dialektik der Aufklärung‹. Der optative Modus verleiht dem Wald utopischen Charakter. Die innere Widersprüchlichkeit der Waldutopie, aber auch das Spannungsverhältnis zum äußeren, wirklichen Wald, drängen zur Ironie als Stilmerkmal. Im Jahre 1841, also 45 Jahre nach der Niederschrift des Blonden Eckbert, veröffentlichte Tieck die Erzählung Waldeinsamkeit ([1836–1852] 1985), in der er diesen Titelbegriff ironisch preisgibt. So reflektiert er die Widersprüchlichkeit der Waldmetapher als poetische Utopie zwischen Wunsch und Wirklichkeit, zwischen Lust- und Realitätsprinzip. Der textnahen Interpretation erschließt sich der Wahrheitsgehalt des romantischen Waldes als komplexe Metapher des widersprüchlichen, des ›unglücklichen‹ Bewusstseins. In dieser Hinsicht bezeugen Eichendorffs Waldgedichte für Adorno die »Selbstentfremdung des Ichs« ([1958] 2002, S. 122). Dieser Zustand des Subjekts kann durch die Waldlektüre bewusst werden, wie Tieck über ein Walderlebnis von Franz Sternbald schreibt: »[…] und alle Gefühle, die fernsten und dunkelsten Erinnerungen wurden mit herübergeweht, und wie Vorhänge fiel es immer mehr von seiner Seele zurück, […]« ([1798] 1964, S. 27). Die Formulierung klingt so, als aktiviere der Wald Verdrängtes, als ob Widerstände gelöst würden: Tieck hat mit dem Tagträumer im Wald ein Bild gefunden für die Kommunikation mit dem Unbewussten, dessen Wirkung er ahnte – ohne psychoanalytische Begriffe. Die ironische Raffinesse der Form, die Einsicht in Selbstentfremdung und die Transzendenz von Wirklichkeit und Bewusstsein haben freilich nicht jene Breitenwirkung waldseliger Kompensation gewonnen, die Wandervereine und Männerchöre feiern, aber jene Aspekte der Waldmetapher stellen ein wenig genutztes Erkenntnispotential dar, das geeignet ist, dem modernen, rationalen Bewusstsein, insofern es mit Naturverdrängung einhergeht, bewusst machende Erinnerungen zu ermöglichen. Eine produktive literaturdidaktische Konzeptualisierung des literarischen Waldes muss die Kritik der populären Rezeptionstradition einschließen; denn diese Waldromantik reduzierte den komplexen Waldbegriff – insbesondere in epigonalen und trivialisierten Produkten – auf das beliebte Bild einer unspezifischen Sehnsucht nach einem anderen Leben, im Sinne einer gesteigerten, tieferen, reineren, freieren, eigentlichen oder wesentlichen Seinsweise. Doch selbst dann erinnert das Bestehen auf dem Moment der Freiheit daran, dass an

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den Einklang mit jenen Idealen und Werten gedacht ist, die die bürgerliche Gesellschaft versprach, aber nicht einlöste. Im romantischen Wald ›steht geschrieben‹, dass das Leben unvollständig sei. Aber die andauernde Unerreichbarkeit aller dieser hohen Ziele begünstigt die Vereinfachung, den Wald als zunehmend inhaltsleere Sehnsuchts-Chiffre zu fixieren, als Fluchtraum zum Ersatz für das Vermisste zu verkehren. Die populäre Wirkungsgeschichte der Romantik setzt den Wald ein als Beleg für höhere Werte wie Religion, Poesie oder Seele. Wenn man die beliebtesten Gedichte von Eichendorff nimmt – also die bekanntesten der Romantik – ›rauscht der grüne Wald ohn’ Unterlass‹: Die mächtige Wunschphantasie nach Dauer, Ewigkeit und Unsterblichkeit meint im romantischen Wald einen trivialen Mythos gefunden zu haben.

Der Wald in der politischen Mentalitätsgeschichte Unübersehbar wirksam wurde in der Rezeptionsgeschichte noch eine andere, eine höchst bedenkliche politische Dimension der Waldmetapher, für deren rückwärtsgewandte Ausrichtung Eichendorffs konservatives Gesellschaftsideal zitiert werden kann, das er umschreibt als »schöne(n) deutsche(n) Wald«, »wo Stamm für Stamm in lebendiger mannigfaltiger Eigentümlichkeit die starken Arme ineinanderwob zur grünen Burg der Freiheit«, wogegen er Preußens Modernität vergleicht mit der »Schlachtmaschine der stehenden Heere« ([1819/ 1845] 1958, S. 1148), für die Bäume als Holz verzimmert werden. Als konservatives, politisches Symbol wurde der Wald gegen die moderne bürgerliche Gesellschaft gestellt, für die freilich auch Waldbilder gesucht wurden: Im ›fünften Satz‹ der Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht‹ beschreibt Immanuel Kant die ›bürgerliche Vereinigung‹: […] so wie Bäume in einem Walde, eben dadurch daß ein jeder dem andern Luft und Sonne zu benehmen sucht, einander nötigen, beides über sich zu suchen, und dadurch einen schönen geraden Wuchs bekommen; statt daß die, welche in Freiheit und von einander abgesondert ihre Äste nach Wohlgefallen treiben, krüppelig, schief, und krumm wachsen. ([1784] 1964, S. 40)

Das Ideal der Aufklärung könnte man als Holzplantage umschreiben, ihr Interesse richtet sich auf ›geraden Wuchs‹, man denkt an verwertbares Holz: im Gesellschaftsbild ist der Konkurrenzoptimismus trefflich ausgedrückt, dass es dem Fortschritt für alle diene, wenn sich die Einzelnen gegenseitig ›Luft und Sonne‹ nehmen. Im aufgeklärten Waldbild verbirgt sich die alte Angst vor dem Wald in dem Misstrauen gegen die Natur, die nicht vom Menschen kultiviert ist. Aus dem Wald muss der Forst werden. Die Pädagogik zitiert seit der Aufklärung,

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wie Katharina Rutschky in Schwarze Pädagogik. Quellen zur Naturgeschichte der bürgerlichen Erziehung (1977) belegt, immer wieder das ›Bäumchen‹, das ›beschnitten‹ werden muss. Und bis hin in den Nationalsozialismus wird immer wieder das Motiv von der Ausmerzung des wertlosen Unterholzes zugunsten der wertvollen Stämme als gesellschaftliches Auslesemodell missbraucht. Eichendorff träumt im modernen, aufgeklärten Staat vom ›alten Recht‹ des Waldes, er wendet sich auf politischer Ebene gegen Frankreich und gegen Preußen, auf philosophischer gegen die Aufklärung. Da Immanuel Kant die Bäume im Wald, die gerade in die Höhe wachsen, als Wachstumsmodell der bürgerlichen Gesellschaft verwendet, steht scheinbar Wald gegen Wald. Kant meint jedoch den Forst, der sich auch in der historischen Wirklichkeit durchsetzte gegen den Wald, den Eichendorff in den romantischen Vorstellungen bewahrt, weil er in ihnen durchaus eine (nationale) Zukunft sieht. Und ein neu Geschlecht wird stärken Dieser Wald zu deutschen Werken. ([1837] 1997, S. 106 f.)

Andeutungsweise ist hier Jüngers ›Waldgänger‹ vorgebildet (vgl. Jünger 1986); offensichtlich wird der Wald deutsch. Im Gedicht An der Grenze kündigen die Wälder »nach Landesart« die Heimat an ([1826] 1972, S. 32), und in Rückkehr heißt es: Mir aber gefällt doch nichts so sehr Als das deutsche Waldesrauschen! ([1834] 1997, S. 31)

Die Grenze trennt nicht mehr Wald und gerodetes Land, sondern die – angestrebte – deutsche Waldnation vom Ausland. Der Wald fungiert nicht mehr als die Außenwelt wie im Märchen, sondern romantisiert und dann nationalisiert als Innenwelt, während das Außen nun waldlos bleibt. Es ist zu merken, wie die oben gezeigte Polarität von innen und außen als Poesie und Alltag in unheilvoller Weise vergröbert wird zu einer von deutsch und fremd, woraus später die Opposition von deutscher Kultur und französischer Zivilisation werden konnte. Für die Lützower Jäger (Der Jäger Abschied) verbürgt der Wald den militärischen Treueschwur : Deutsch Panier, das rauschend wallt, ([1837] 1997, S. 107 f.)

Mit der Nationalisierung der Waldmetapher beginnt ihre prekäre politische Ideologisierung. Zur Einschränkung des Freiheitsgedankens durch die nationale und militärische Funktionalisierung des Waldbildes in der Zeit der sogenannten Befreiungskriege – zu denken ist an Autoren wie Theodor Körner, Ernst Moritz Arndt, Friedrich Rückert und Max von Schenkendorf – finden sich zahlreiche Belege (vgl. Lindemann 1985). Ein typischer Satz von Arndt, ein ›schlagender‹ Satz zum Thema, soll zitiert werden: »Denn jetzt wird in vielen Ländern Euro-

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pa’s die Axt, die an den Baum gelegt wird, häufig zu einer Axt, die an das ganze Volk gelegt wird« (Arndt 1820, S. 50). Diese Texttradition wäre auch als fächerübergreifender Unterrichtsgegenstand denkbar, Waldtexte können als Quellen der politischen Mentalitätsgeschichte genutzt werden.

Waldmetaphorik vom Realismus bis zum Nationalsozialismus: Stifter, Wiechert und Jünger Um die Konturen der Aktualität der Waldmetapher als Thema des Literaturunterrichts schärfer zu bestimmen, ist auf solche Werke kurz einzugehen, die seit der Mitte des 19. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts die Semantik der Waldbilder modifizierten, ohne sie ganz aus der romantischen Tradition zu lösen. Für diese Entwicklung des Waldbezugs der deutschen Literatur sind insbesondere drei Walddichter von hoher Aussagekraft, nämlich Adalbert Stifter, Ernst Wiechert und Ernst Jünger. Adalbert Stifter beschreibt den Wald, z. B. in dem Roman Witiko oder in den Erzählungen Der Waldsteig, Granit, Der beschriebene Tännling und Hochwald, nun realistischer als Teil der Natur – d. h. der Wald besteht nun erstmals aus Bäumen oder allgemeiner ausgedrückt aus einzelnen Elementen, außerdem werden historische und geographische Bestimmungen mitgeteilt –, aber er bleibt Resonanzraum der Seele. Wie ein schöner Gedanke Gottes senkte sich gemach die Weite des Waldes in ihre Seele. ([1843] 1980, S. 237)

Das Wort ›gemach‹ setzt den Stifterschen Akzent der Waldmentalität: die Leidenschaft für das Stetige, Allmähliche, Evolutionäre. Der Wald, wie er wächst, beglaubigt das ›Maß der Natur‹, die Metapher einer Langsamkeit, die wie Stillstand erscheint und die doch Veränderung zeitigt. Als ironische Pointe kann angemerkt werden, dass das Gesetz der Stetigkeit kein Naturprodukt ist, sondern ein Postulat der Forstwissenschaft, das in Deutschland zum Gesetz erhoben wurde: es darf jährlich nur soviel Holz eingeschlagen werden wie nachwächst. Stifters vermeintlich unberührte Restnatur gleicht dem Forst der Forstverwaltung. Gleichwohl schildert er mit zahlreichen Anklängen an Märchenmotive Walderlebnisse als Entwicklungsmodell und Entwicklungsmedium für Einzelne und für das Ganze. Für Stifter ist der Wald Bildungsmacht, quasi eine Sozialisationsinstanz. Indem Stifter das empirische Erkenntnismodell als Gegenprogramm zur Romantik für seine Poetik adaptiert, versucht er wie im Bild vom Buch der Natur den Wald zu lesen, um sein (Natur)Gesetz erzählerisch auszusprechen. So wendet er

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sich zwar beobachtend und beschreibend dem geographisch vorhandenen Böhmerwald zu, aber nicht ohne die symbolisierende Absicht, den Wald als Teil der Natur zum Garanten eines quasi natürlichen allgemeinen Entwicklungsgesetzes zu erheben. Die scheinbar sachlichen Walderzählungen von einem objektiv vorhandenen Naturgegenstand meinen Psychisches, aber nicht nur im Sinne des ›sanften Gesetzes‹, eines stetigen Wachsens, denn plötzlich können sie Dämonisches evozieren (Ehlbeck 1998). Diese ambivalente Walddeutung bereitet ein im Alltagsbewusstsein und in der Trivialliteratur nachwirkendes Ideologem vor. So gehört die mit dem Wald verknüpfte Vorstellung von Stetigkeit und Dauer, zusammen mit dem verdeckten Dämonischen zu dem Bewusstseinshintergrund, der das Erschrecken verständlich macht, das Anzeichen vom baldigen ›Sterben‹ des Waldes auslösten. Ernst Wiechert zählte bis in die 60er Jahre zu den kanonischen Autoren der Privatlektüre und darf wohl als wichtigster Walddichter des 20. Jahrhunderts vorgestellt werden. Er erneuerte den alten Waldmythos vom Gegensatz zur Zivilisation, indem er in dem Roman Das einfache Leben die Flucht aus der Großstadt in den Wald als Besinnung aufs Wesentliche, auch als Abkehr von der Politik inszenierte. Wiechert schließt einen Prozess ab, den man als Umwertung der dominierenden ästhetischen Waldfunktion seit der mittelalterlichen Literatur bezeichnen muss: die freiwillige Isolierung von der zivilisierten Welt, den Rückzug in den Wald, bewertet er jetzt eindeutig positiv : Nicht der Aufenthalt bei den Menschen, am ›Hof‹, also in der Stadt, sondern einzig der im Wald ist erstrebenswert für ein richtiges, wesentliches, ein bedeutendes Leben. Zum Vorbild avanciert hier der Einsiedler im Wald, der als Randmotiv bekannt ist, z. B. aus Nietzsches ›Zarathustra‹. Die Vielschichtigkeit, auch die Problematik von Wiecherts Waldbild muss kurz angedeutet werden, denn er gebrauchte den Wald nicht nur als Rückzugsraum des enttäuschten Kulturkritikers, vielmehr treten zwei gegensätzliche Aspekte hervor. Einerseits verleiht er dem Wort ›Buchenwald‹ in seinem autobiographischen Text Der Totenwald die kritische antifaschistische Bedeutung eines Mahnmals. Andererseits ist Wiecherts Werk leider nicht frei von jener reaktionären Waldtradition, an die diejenigen anknüpfen konnten, die im Schatten von Buchen ein KZ errichteten. In einem furchtbaren Text, mit dem Titel Der große Wald, wird die Vergewaltigung einer Frau, die sich in einen Privatwald hineintraut, durch den bewaffneten Waldbesitzer aus dessen Perspektive ohne moralische Distanzierung erzählt. Die ungehemmte sexuelle Aggression kann als Rückfall in das vorzivilisierte Waldleben der Vicoschen Giganten gelesen werden – als Hinweis auf die Gefahr archaischer Gewaltausbrüche auch in einer kultivierten Gesellschaftsordnung. Ambivalent ist die Waldfunktion auch im Werk von Ernst Jünger zu deuten, also bei einem Autor, der an seinem Alterssitz täglich einen Waldspaziergang

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unternahm. Für die Figur des ›Waldgängers‹ (vgl. Jünger ([1951] 1980) ist der Wald die Deckung des konservativen Anarchen, aber auch der ›Oberförster‹ der ›Marmorklippen‹, also der Gewaltherrscher, bei dem an Hitler gedacht werden darf, hat sein Reich in den Wäldern. Vor allem aber verknüpft Jünger, der sich selbst gern einen ›Krieger‹ nennt, den Wald – ein einschlägiger Titel heißt Wäldchen 125 – mit dem Krieg, seinem wichtigsten Thema. Wiechert und Jünger mögen als Beleg für die Spannweite und die Brisanz des Waldthemas im 20. Jahrhundert genügen: einerseits ein Bollwerk des Gewaltherrschers, andererseits Ort eines Konzentrationslagers; einerseits ein Refugium der Besinnung auf das Wesentliche, andererseits ein Schlachtfeld.

Der deutsche Wald Einige der diskutierten disparaten Elemente der Waldmetaphorik der deutschen Literatur verdichtet Elias Canetti zu einem deutschen ›Massensymbol‹, indem er die Verbindung von Nation, Militär und Wald in einer genialen Weise als typisch deutsches Psychosyndrom formuliert: Das Massensymbol der Deutschen war das Heer. Aber das Heer war mehr als das Heer : es war der marschierende Wald. In keinem modernen Land der Welt ist das Waldgefühl so lebendig geblieben wie in Deutschland. Das Rigide und Parallele der aufrechtstehenden Bäume, ihre Dichte und ihre Zahl erfüllt das Herz des Deutschen mit tiefer und geheimnisvoller Freude […]. (Canetti 1960, S. 195)

Das ›Rigide und Parallele‹ entspricht zwar wieder dem Kulturwald, doch beim ›Waldgefühl‹ denkt auch Canetti an die deutsche Romantik, die durchaus Beispiele für die metaphorische Verknüpfung von Wald und Heer liefert, so im Gedicht Der Tiroler Nachtwache: Gleichwie die Stämme in dem Wald Woll’n wir zusammenhalten, ([1815] 1978, S. 133 f.)

Der Nationalsozialismus missbraucht das Motiv, wenn z. B. in einem einschlägigen Lied die »verwegene Schar« der Ostmark mit den »Tannen des Grenzwalds« verglichen wird, die »im Felsen verkrallt«, »mutig der Feinde Gewalt« trotzen (Böhm 1939, S. 49 f.). Das nationalsozialistische Gedankengut – es gibt einen passenden, genuin nationalsozialistischen Film mit dem Titel Der ewige Wald (Graf v. Pestalozza 1936)– verklärt den Wald zum Gleichnis der Unsterblichkeit des Volkes: Dem Grund vermählt und nah der Wolke wächst du verjüngt und ewig alt

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im Heimatland gleich unserem Volke du Vater Wald. (Linke 1942, S. 70)

Die literarische Waldtradition wurde von der nationalsozialistischen Kulturpolitik benutzt und missbraucht, wenn z. B. Baldur von Schirach tönt »Der Wälder… sind viele im Deutschen Reich, aber es gibt nur einen deutschen Wald, den des Josef Freiherr von Eichendorff« (zit. n. Lämmert 1976, S. 241). Unverzichtbar ist also die Kritik des nationalen und militärischen Inhalts dieses ›Massensymbols‹, anderseits ist festzuhalten, dass die Waldmetapher in der deutschtümelnden Ausrichtung nicht aufgeht. Diskussionsanregend soll Canettis generalisierende These aufgegriffen werden, um ihren Formcharakter zu bestimmen: »Wald und Heer«, schreibt Canetti, waren dem »Deutschen, ohne dass er sich darüber im klaren war, auf jede Weise zusammengeflossen« (1960, S. 196): Diese Diagnose verleiht dem Wald den Status einer Metapher des kollektiven Unbewussten. Hervorzuheben sind zwei Aspekte der postulierten engen Beziehung zwischen Dichterwald und Unbewusstem: Wenn der literarische Wald als Metapher des Unbewussten fungiert, dann kann die Analyse der Waldliteratur einerseits ein Stück verdeckter Wirkungsgeschichte der Romantik sichtbar machen, und andererseits am Text Einblicke in das Unbewusste bzw. Verdrängte öffnen.

Ausblick als Rückblick: der ›Wald im Kopf‹ Angesichts der angedeuteten völkischen Verwendung der Waldmetapher ist die ideologiekritische Betrachtung Enzensbergers zwingend. Möglicherweise verkennt der amerikanische Romanist Harrison die ideologische Dimension der literarischen Waldtradition, weil er die deutsche Literatur, die Enzensberger ausschließlich im Blick hat, zu wenig beachtet; denn sie hat in dieser Hinsicht besonders prägnante Texte zu bieten. Allerdings hat die nationale und militärische Bedeutungsebene der Waldmetapher nach der Mitte des 20. Jahrhunderts an Wirksamkeit drastisch verloren. Spannender als die Entlarvung einer Waldideologie erscheint deshalb heute die Frage, ob der Wald als Metapher nicht doch »erkennend vor Freunden und Feinden (zu) retten« ist, wie Adorno in Bezug auf Eichendorff anmerkt ([1958] 2002, S. 122). Dabei ist nicht so sehr daran zu denken, dass die deutsche Waldmentalität der Ökologiebewegung geistig poetischen Beistand leistet, weil eine Tradition, die den Wald mit höchsten kulturellen Werten wie Religion oder mit Dichtung, ja mit dem eigentlichen Lebenssinn verknüpft, eine Gesinnung fördert, die das Waldsterben als Verhängnis sieht und das Fällen von Bäumen als Frevel verurteilt. Vielmehr soll Harrison wieder gegen Enzensberger ins Spiel

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gebracht werden; denn für jenen symbolisiert der Wald in der Literatur auch heute eine wesentliche existentielle Erfahrung. Die aktuelle Sensibilität für einen Zusammenhang von Wald und Leben spricht dafür, dass gerade die enge Verbindung von Wald und Poesie sowie von Poesie und Subjektivität als modernisierungskritisches Bedeutungspotential der romantischen Waldmetapher eine – wenn auch teilweise unbewusste – Langzeitwirkung entfaltet hat. »Weil wir zuerst und vor allem«, schreibt Harrison, »außerhalb unserer selbst existieren, werden Wälder so etwas wie ein altes und bleibendes Korrelat unserer Transzendenz« (1992, S. 239). Er knüpft existentialistisch an die komplizierte Seite des romantischen Waldbewusstseins an, nämlich die Ahnung von einer unaufgelösten Widersprüchlichkeit im menschlichen Verhältnis zu Kultur und Natur. Die Subjekte müssen nicht nur die äußere Natur bearbeiten, sondern auch die innere. »Wir sind Natur, aber wir können nicht anders als sie überschreiten«, schreibt Rüdiger Safranski über Harrison: »Die Wälder spiegeln uns die Fremdheit zurück, die auch in unserem Selbstverhältnis steckt« (Die ZEIT, 08. 01. 1993). Die Formulierung macht den wahren Gehalt jener These vom Wald im Kopf sichtbar, durch die ideologischen Hüllen hindurch: Der Wald als Metapher des menschlichen Naturverhältnisses erinnert das Subjekt, das sich im Rahmen der zivilisatorischen Überformung selbst konstruiert, an die körperliche Naturgebundenheit. Wegen dieser nicht immer bewussten unauflösbaren Spannung zwischen Natur und Kultur bleibt das Thema in der Kunst aktuell. Friederike Roth erzählt in ihrem eingangs zitierten Buch von der Idee, den ›Wald aus dem Wald‹ zu holen, um ihn aufs Theater zu bringen. »Ich lasse den Mann und die Frau in den Wald gehen und dort sich verlieren« (1983, S. 37). Die Ich-Erzählerin, die sich so gründlich mit dem Wald in der Literatur beschäftigt hat, betont, dass ein »schlichter, einfacher Wald«, indem er sich auf der Bühne befindet, »natürlich sofort zum Zeichen wird und die Bühne selbst zum Signal. Das Ganze ist eine Metapher, ist überhaupt DIE METAPHER für das Verhältnis von Leben und Kunst hier und heute und immer und jetzt« (ebd., S. 43). Auch wenn darauf verzichtet werden muss, den wirklichen Wald in den Klassenraum zu bringen, ist zu hoffen, dass der dunkle, dichte Wald als Metapher etwas durchsichtiger werden kann. Denn der Wald als Gegenstand der Literatur, als Handlungsort, als Motiv, als Symbol oder als Metapher, der im Deutschunterricht auf vielfältige altersspezifische Weise thematisiert werden kann, bietet immer die Gelegenheit, an das vorhandene Vorwissen mit bewusstmachender Zielsetzung anzuknüpfen.

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Sebastian Susteck

Landnahme. Naturprogramme und Bildlichkeit in Friedrich Schillers Drama Die Räuber. Mit einem Blick auf Peter Jacksons Verfilmung von J. R. R. Tolkiens Der Herr der Ringe

Grundlagen Zu den zahlreichen im 20. Jahrhundert unternommenen Versuchen, das ›Eigentliche‹ der Literatur zu fassen und konzeptionell verfügbar zu machen (vgl. Löck / Urbich 2010), tragen auch systemtheoretische Ansätze bei, die zumal in den 1990er Jahren Konjunktur haben. Niklas Luhmanns umfangreiche Monographie Die Kunst der Gesellschaft aus dem Jahr 1995 imaginiert Kunst wesentlich als Formkunst und hat dabei einen ebenso ästhetizistischen wie elitistischen Zug. Mit anderem Akzent und größerer Nähe zur Massenkultur sucht zeitgleich eine ›Bochumer Schule‹ der Systemtheorie die gesellschaftliche Existenz von Kunst und Literatur dadurch zu erklären, dass durch sie die Funktion der Unterhaltung in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen bedient werde. Kunst – betonen besonders Gerhard Plumpe und Niels Werber – sei ein Kommunikationssystem, das durch den binären Code langweilig/unterhaltsam strukturiert werde und sich von weiteren Kommunikationssystemen mit Codes wie legal/illegal (Recht), verkäuflich/unverkäuflich (Wirtschaft) oder erbaulich/blasphemisch (Religion) unterscheiden lasse (vgl. Werber 1992, Plumpe / Werber 1993, Plumpe 1995, Plumpe / Werber 1995). Soll einerseits geklärt werden, wie Literatur wahrgenommen wird, wenn sie als Literatur wahrgenommen wird, ermöglicht die Beschreibung andererseits eine Einordnung jeder Beschäftigung mit literarischen Texten, die nicht am eigentlich Literarischen orientiert ist. Resultat ist das Bild einer nach System-Umwelt-Unterscheidungen geteilten Welt. Literaturdidaktische Schriften bereits der 1990er Jahre zeigen eine bemerkenswerte Konvergenz zu den systemtheoretischen Einlassungen, ohne dass die Didaktik sich diesem Ansatz verschreiben würde. Die systemtheoretische Orientierung an der Unterhaltung und dem Interessanten bildet eine Verbindung zu Bemühungen, die sich um das »facettenreiche Schlagwort« der »Lese(r)förderung« (Eicher 1997, S. 325) zentrieren und noch heute von großer Wichtigkeit sind. Es geht – in oft zitierten Worten Bettina Hurrelmanns – »um den Aufbau

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und die Sicherung der Lesemotivation, die Vermittlung von Lesefreude und Vertrautheit mit Büchern, die Entwicklung und Stabilisierung von Lesegewohnheiten« (1994, S. 17). So heißt es auf der Basis einer zwischen 1983 und 1987 durchgeführten empirischen Untersuchung zum »Literaturinteresse von Schülern« (Schiefele / Stocker 1990, S. 9): Literarische Bildung möchte Literatur als Lebenswert im Individuum verankern, und zwar als einen Wert, der keineswegs als lästige Pflicht aufgeladen wird, sondern begleitet ist von Stimmungen und Gefühlen der Freude, Spannung […]. Ein solches Verhältnis einer Person zu ihrem Gegenstand bezeichnet die Alltagssprache als Interesse. […] [L]iterarische Bildung [kann] verschiedene Ziele haben, auch fakultative und mehr oder weniger wichtige, eines aber erscheint uns unverzichtbar : Interesse. (vgl. ebd., S. 13)

Zwar lassen sich das systemtheoretisch-literaturwissenschaftliche und das literaturdidaktische Interessenskonzept nicht einfach in eins setzen.1 Auch zielt der Ansatz der Lese(r)förderung keineswegs nur darauf, interessante Werke zu ermitteln, sondern darauf, institutionelle Strukturen zu schaffen, die dabei helfen sollen, dass Literatur allererst als interessant rezipiert werden kann.2 Dennoch konvergiert die systemtheoretische Aufwertung des Interessanten mit einer Didaktik, die um eine Reform des Lektürekanons bemüht ist und die zumal eine stärkere Anbindung schulischen Lesens an außerschulische Präferenzen und Interessen propagiert.3 Zugleich verstellt solche Aufwertung nicht die Tatsache, dass Literatur ein Reservoir von Wissensbeständen ist, die nicht allein um der Literarizität der Literatur, sondern auch um ihrer selbst willen beachtet und verhandelt werden können. Es dürfte wenige Orte geben, an denen die doppelte Wahrnehmbarkeit der Literatur so deutlich zutage tritt wie im Literaturunterricht. Einerseits geht es gerade hier darum, Literatur in ihrem literarischen Wert zu erfahren, was wesentlich meint, dass Texte als ansprechend und interessant erfasst werden und in 1 Geht es im Fall Schiefeles und Stockers um ein psychologisches Konzept, das die Wirkung literarischer Werke auf Individuen fasst, so ist es der Systemtheorie um ein soziologisches Konzept zu tun, das nach kommunikativen Strukturen fragt. Dass ein bestimmtes literarisches Werk heute interessant, morgen aber langweilig wirken kann, stellt für die Systemtheorie kein Problem dar, für die lediglich ein kommunikativer Modus wichtig ist, der an der Unterscheidung langweilig/interessant orientiert ist. Ein solcher Wechsel kann für einen literaturdidaktischen Ansatz, der das Lesen fördern will, jedoch durchaus problematisch sein. 2 Ziel ist es entsprechend primär nicht, »Leselisten oder Wertungsmaßstäbe« für Texte zu fixieren, schreibt Eicher 1997, S. 325. Vgl. zu den Anforderungen an Texte gleichwohl – knapp – Hurrelmann 1994, S. 127. Vgl. zu den zu schaffenden Strukturen ebd. oder die knappen, auch empirisch erhärteten Ausführungen von Hurrelmann / Hammer / Nieß 1993, S. 48–50. Vgl. für eine Übersicht in einer aktuellen Publikation die Listen in Rosebrock / Nix 2010, S. 102–113 (bei Letzteren handelt es sich um Möglichkeiten der Leseanimation im DU). 3 Vgl. für einige aktuelle (Literatur-)Hinweise zu Entwicklung und Stand der Interessensforschung Beinke / Charlton / Viehoff 2006.

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ihrer literarischen Gemachtheit genossen werden können. Dabei spielen inhaltliche Aspekte durchaus eine wichtige Rolle, sie werden aber gerade dann literarisch wahrgenommen, wenn sie als faszinierend – oder im ungünstigen Fall als langweilig – rezipiert werden. Andererseits geht es traditionell darum, das in literarischen Texten Dargestellte historisch, ethisch, religiös oder philosophisch aufzunehmen und zu diskutieren. Zugespitzt formuliert, werden dabei entweder Bestandteile literarischer Werke wie Bestandteile diskursiver Texte verhandelt oder über Inhalte literarischer Werke wird so gesprochen, als handele es sich um Geschehen in realem Leben. So wird häufig versucht, Texten Informationen abzugewinnen, die Lebenswirklichkeiten in der Epoche der Werkentstehung betreffen. Zugleich werden Inhalte herausgearbeitet, die in reflexive, dialogische oder monologische Passagen eingeschlossen sind, die auch ohne literarische Vorlage behandelt werden könnten und deren unterrichtliche Thematisierung traditionell durch Fragen eingeleitet wird, die sich nach dem ›Bild von‹ etwas erkundigen. Zur Debatte steht das Bild der Zeit, des Menschen oder der Technik, das ein Werk entwirft. Friedrich Schillers erstes Drama Die Räuber ist einerseits ein Text, der hinreichend vielen Schülern als Schullektüre packend erscheint. So stellen Schiefele und Stocker für den Literaturunterricht der 1980er Jahre fest, dass in ihm »›klassische‹ Dramen mit bewegter Handlung« (1990, S. 101, Anm. 1) in der Schülergunst weit vorne liegen. Hier erscheinen Die Räuber in einer Liste der zehn beliebtesten Werke an erster Stelle (vgl. ebd., S. 101, Anm. 1). Auch wenn man dies für das frühe 21. Jahrhundert deutlich relativieren muss, weil sich das Lektüreangebot im Deutschunterricht verändert und erweitert hat, bleibt der Befund insofern aussagekräftig, als er dem Drama Die Räuber mit Blick auf kanonische Literatur eine besondere Rolle zuweist, die auch heute nicht völlig obsolet sein dürfte. Die Räuber sind ein überaus dichter Text, der sich vielfacher nicht-literarisch orientierter Diskussion von Inhalten anbietet. So lässt sich an ihm ein kritisches Bild des feudalen Herrschaftssystems gewinnen oder eine Diskussion des (Räuber-)Bandenwesens im ausgehenden 18. Jahrhundert anschließen. Dass Schiller in einer Zeit der Autonomisierung des ästhetischen Urteils schrieb, führt auch dazu, dass das Drama klare Distanz zu moralischen Deutungsangeboten sucht und gerade deshalb zu ethischer Reflexion einlädt.4 Zudem ist festzustellen, dass der Text durch philosophische Übernahmen geprägt wird, wenn er »philosophische Theorien unterschiedlichster Herkunft zu einer bisweilen abenteuerlichen Mischung verbindet« (Alt 2000, S. 290). 4 Entsprechend notiert etwa Jöns über Die Räuber, Schiller wolle »in seinem Drama das Böse weniger psychologisch erklären, als vielmehr vorführen«. Dabei erkennt Jöns in solcher Vorführung jedoch bemerkenswerterweise kein ästhetisches Geschehen, sondern er meint, dass Schiller dadurch »das Problem letztlich zu einem moralischen macht« (1977, S. 76).

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Zu den Schlüsseln, die helfen, inhaltliche Aspekte des Textes zu erfassen, ohne zunächst literarisch interessiert zu sein, gehört freilich nicht nur ein sozialhistorischer Blick, der aus dem Text geschichtliche Informationen zu gewinnen sucht, sondern auch ein ethischer, der Denk- und Handlungsweisen von Figuren bewerten möchte, oder ein philosophiegeschichtlich geschulter, der jene gedanklichen Entwürfe zu identifizieren sucht, denen Franz und Karl Moor verhaftet sind. Doch erst ein kulturökologischer Blick, der auf das Zusammenspiel von Kultur und natürlicher Umwelt zielt, vermag den Text in spezifischer Weise zu öffnen und sein Verständnis zu vertiefen.5 Dabei übergreift dieser Blick freilich in besonderer Weise die Differenz von Inhalt und Form. Anders als die Imaginationen einer feudalen Gesellschaft, die die gesamte Dramenhandlung tragen und plausibel machen, und anders als die philosophischen Reflexionen, die im Drama in langen Redepassagen hervortreten, ist die kulturökologische Dimension des Textes eher unterschwellig gegeben. Zwar erscheint auch sie wesentlich in Figurenreden. Sie wirkt hier jedoch vielfach als Sekundäreffekt, nämlich als eine durch die sprachliche Bildlichkeit ins Gespräch gelangende Größe, die ein ›eigentlich‹ Ausgesagtes nur begleitet, um in ihrer begleitenden Rolle ebenso unauffällig wie insistent in das Bewusstsein des Rezipienten zu dringen. Sicherlich gibt es wenige knappe Stellen, an denen Protagonisten des Dramas wirklich über Fragen sprechen, die in das kulturökologische Spektrum fallen. Zumeist aber schwingen solche Fragen nur in Reden mit, die etwas anderes thematisieren. Damit ist die kulturökologische Seite des Schiller’schen Dramas in besonderer Weise an einem systematischen Schnittpunkt situiert, in dem sich die Darstellungstechnik bildlicher Sprache einerseits und die Inhaltsseite des Textes andererseits verbinden. Literaturwissenschaftlich und – mehr noch – literaturdidaktisch bedeutet das, dass hier in besonders dringlicher Weise ein inhaltliches Gespräch nur stattfinden kann, wenn diese Darstellungsweisen mit Bedacht angesprochen werden. Dies zu zeigen, und damit einige kurze Bemerkungen zu den Sprachbildern der Räuber zu machen, ist erstes Anliegen des vorliegenden Beitrags. Zweitens möchte er die Perspektive in einer didaktisch anregenden Weise öffnen, wenn er neben den Räubern J. R. R. Tolkiens Romanepos Der Herr der Ringe bzw. dessen Verfilmung durch Peter Jackson knapp in den Blick nimmt. Abschließend sind, drittens, einige weiterreichende Fragen zu skizzieren, die von kulturökologischer Relevanz sein können.

5 Der folgende Beitrag wird Begriffe wie ›Natur‹ oder ›natürliche Umwelt‹ weder näher problematisieren noch definieren. Beides soll zurückgestellt bleiben, um auf engem Raum die hier interessierenden spezifischeren Fragen diskutieren zu können.

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Friedrich Schillers Drama Die Räuber aus kulturökologischer Sicht In der Literaturwissenschaft herrscht Einigkeit darüber, dass Die Räuber nur schwer aus einer Perspektive gefasst werden können, die die Einheit des Textes betont. So wendet sich Gert Mattenklott gegen die Auffassung, »dass das ästhetische Gebilde wie ein Bedeutungssystem aufgebaut ist, an dessen Spitze monarchisch eine bestimmte Aussage oder Formidee thront« (1985, S. 177). Schwierigkeiten bereitet speziell die Beobachtung, dass die feindlichen Brüder Franz und Karl von Moor komplexe Figuren sind, die offenbar zwar einen Gegensatz personifizieren sollen, trotzdem aber erstaunliche Übereinstimmungen aufweisen. Auch wenn es um kulturökologische Fragen geht, lohnt es, sich besonders auf die zwei Brüder zu fokussieren und sie in ihren Gemeinsamkeiten und Differenzen zu diskutieren. Zumal in den ersten Akten der Räuber redet Franz von Moor gerne in Bildern der Landnahme und der Land- und Forstwirtschaft. »Wenn der Ochse den Kornwagen in die Scheune gezogen hat«, sagt er etwa über seinen Gehilfen Hermann, »so mus er mit Heu vorlieb nehmen« (Die Räuber 1953, S. 43). Den Vater warnt er mit Begriffen einer Überschwemmung davor, Karl zum Herrn über die »Güter« zu machen, insofern mit dem Tod des Vaters der »Damm« väterlicher Kontrolle bräche »und der Strom seiner Lüste […] freyer dahinbrausen könne« (ebd., S. 16). Über die Verstoßung Karls erklärt er in Termini einer Rodung, »[w]eg ist das Schooskind – Der Wald ist heller.« (ebd., S. 18) Und über gesellschaftliche Vereinbarungen und Normen raisonniert er, sie seien »ein tüchtiger Lumpenmann, Sperlinge von Kirschbäumen wegzuschröken!« (ebd., S. 19). Franz zentrale Vision der eigenen Herrschaft ist nur folgerichtig eine Vision, die in Bildern agrikultureller Ausbeutung Form gewinnt. »Er streichelte und küßte den Naken, der gegen ihn störrig zurükschlug«, sagt Franz über das Verhältnis seines Vaters zu den Untertanen, und er fährt fort: Ich will euch die zakichte Sporen ins Fleisch hauen, und die scharfe Geisel versuchen. – In meinem Gebiet solls so weit kommen, daß Kartoffeln und dünn Bier ein Traktament für Festtage werden, und wehe dem, der mir mit vollen feurigen Backen unter die Augen trit! (ebd., S. 53)

Dabei wird nicht allein ein Vergleich der untertänigen Bevölkerung mit Nutztieren entworfen. Es geht auch darum, die Untertanen und wohl speziell die untertänigen Bauern zu unablässiger Tätigkeit und Erweiterung ihrer Produktion anzutreiben, die freilich nicht ihnen, sondern dem Feudalherrn zugute kommen soll. Dem entspricht Franz’ Ziel, alles »aus[zu]rotten, was mich einschränkt daß ich nicht Herr bin« (ebd., S. 20). Eine agrikulturelle Realität zeigt sich besonders klar, als Franz darüber nachdenkt, wozu Vereinbarungen zwischen Menschen und menschliche Regeln

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dienen. Sie kommen ihm vor »wie die Hecken die meine Bauren gar schlau um ihre Felder herumführen – daß ja kein Haase drüber sezt, ja beileibe kein Haase! – Aber der gnädige Herr gibt seinem Rappen den Sporn, und galoppirt weich über der Weyland Aerndte« (ebd., S. 19). Man kann an dieser Passage illustrieren, was die Besonderheit von Franz’ Worten ausmacht. Zum einen benutzt Franz hier ein sprachliches Bild. Die von ihm wahrgenommene Kontrolle des »Pöbel[s]« (ebd., S. 19) durch die Obrigkeit wird veranschaulicht, indem die Hecken die Laufwege der Hasen kontrollieren sollen, während zugleich mit Franz’ Verbildlichung des über die Hecken springenden Reiters das Verhalten der Mächtigen visualisiert wird. Zum anderen jedoch spricht Franz auch über die Realität der Grafschaft und ›seiner‹ Bauern, die ihre Felder mit Hecken umgeben und deren Ernte dennoch durch Reiter bedroht ist. Die Bildlichkeit von Franz’ Sprache leistet daher in dieser Passage ein mindestens Dreifaches. Sie dient erstens der Veranschaulichung und Versinnlichung von Gedankengängen, die prinzipiell auch anders, nämlich in ent-sinnlichter Form ausgedrückt werden könnten. Franz’ Rede gibt seinen Intentionen, Wünschen und Vorstellungen einen drastischen Ausdruck. Die Bildlichkeit von Franz’ Sprache informiert zweitens auch über Franz’ Lebenswelt, also über Aspekte der grafschaftlichen Realität. Sie öffnet den Blick auf Bedingungen, unter denen Franz agiert, aus denen seine Vorstellungen heraus entstehen und in die sie zurückwirken. Drittens schließlich gleichen sich Franz’ Vorstellungen und die ihn umgebende Welt so aneinander an. Franz benutzt zumal die agrikulturelle Wirklichkeit als Reservoir für Bilder der Ordnung wie der Zerstörung, die sich nicht direkt auf eine solche Wirklichkeit beziehen (müssen). Dennoch ist diese Wirklichkeit ein Ort, in den Franz Ordnungs- und Zerstörungsvorstellungen handgreiflich einträgt. Etwa ist die Rede vom herrschaftlichen Reiter, der durch die Landschaft sprengt, ein Bild für die tyrannische Sorglosigkeit gegenüber Vereinbarungen und Regeln, das auch realem Handeln entsprechen kann. Die Worte von Hermann als Ochse, der mit Stroh vorliebnehmen muss, meinen offensichtlich nicht, dass Hermann von Franz wirklich als Huftier angesehen wird, das ausgedroschenes und getrocknetes Getreide zu fressen hat, und sie beziehen sich auch nicht auf eine landwirtschaftliche Arbeit Hermanns, sondern auf seine Hilfe im Rahmen einer höfischen Intrige. Dennoch ist eine Wirklichkeit, die Franz intendiert – nämlich die rücksichtslose Ausbeutung seiner Untertanen (auch) in der Landwirtschaft –, dem Bild nahe. Ähnlich wird Franz Menschen kaum echte Sporen in den Leib treiben, aber die Nutzung von Gewalt zur Maximierung landwirtschaftlichen Profits scheint eines seiner Ziele. Schließlich ist das Bild des sich lichtenden Waldes, das Franz im Kontext der Verstoßung Karls nutzt, mit Blick auf Karl tatsächlich nur ein Bild, mit Blick auf den Grafen Franz von Moor aber mehr, denn in ihm drückt sich nicht nur der Wille aus, Karl als

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Nebenbuhler zu eliminieren, sondern auch – so jedenfalls muss man annehmen – der Wille einer spezifischen und konkreten Gestaltung des eigenen Herrschaftsbereichs. Die skizzierte Mehrdimensionalität der Dramensprache ist für Die Räuber charakteristisch und stellt gerade kulturökologisch ein interessantes Phänomen dar. Kulturökologische Forschung, betont Hubert Zapf, muss mehr leisten als »eine inhaltlich ausgerichtete Betrachtungsweise […], die literarische Texte als bloßes Illustrationsmaterial für ökologische Erkenntnisse« (2008a, S. 9) nutzt. Sie müsse Literatur »als eine distinktive Form des Diskurses betrachten, die gerade aufgrund ihrer ästhetisch-fiktionalen Transformation des Wirklichen ein besonderes Potential und eine besondere Funktion in der symbolischen Repräsentation der Kultur-Natur-Beziehung gewinnt« (ebd., S. 9). Franz von Moor integriert Erfahrungen aus seinem Herrschaftsbereich scheinbar nur deshalb in seine Rede, um über etwas anderes zu reden, und doch tragen seine Worte eine Wirklichkeit aus diesem Herrschaftsbereich mit, die als Hintergrund der Rede wirkt und gleichzeitig drängend in den Vordergrund rückt. Damit aber verschmilzt in Franz’ tyrannischem Herrschaftsanspruch, der sich in Neid und Hass zunächst auf die Menschen richtet, ein Versuch, diese Menschen zu unterwerfen, in untrennbarer Weise mit einem Herrschaftsprojekt, das die Zurichtung und Ausbeutung der Natur anstrebt. Schillers Drama wird – erneut in Worten Zapfs – nicht nur zum Teil eines literarischen »Interdiskurses« (2008b, S. 35), sondern darüber hinaus in spezifischer Weise zu einem Text, der eine »gestaltbildend-strukturierende, konnektiv-musterbildende« (ebd., S. 36) Funktionsweise sehen lässt, wenn in ihm die agrikulturelle Erfahrung zugleich als Bilderschatz für anderes und als Erfahrung selbst hervortritt und wenn das auf Menschen gerichtete Wirken untrennbar mit Akten der Landnahme und Land- und Forstwirtschaft verflochten wird. Die Kopplung, die man in Franz’ Worten erkennen kann, gilt indes nicht nur für Franz, sondern in ähnlicher, wenn auch inhaltlich verschobener Weise für seinen Bruder Karl. Wenn Karl die »abgeschmakten Konvenzionen« (Die Räuber 1953, S. 21) seiner Gegenwart verhöhnt und in einer berühmten Formulierung klagt, das »Gesez hat zum Schneckengang verdorben, was Adlerflug geworden wäre« (ebd., S. 21), so spricht jemand, der schon in seiner Jugend die »Wipfel hundertjähriger Eichen« (ebd., S. 14) erklommen hatte und damit dem Adlerflug so nahegekommen war, wie dies menschenmöglich scheint. Aus dem Sprachbild leuchtet die eigene Erfahrung hervor, aber auch die Haltung zur Welt und der Umgang mit ihr. Als Karl längst Räuberhauptmann geworden ist und sich zahlreicher Verbrechen schuldig gemacht hat, spricht er nicht nur in Naturbildern, sondern er nutzt eine agrikulturell geformte Landschaft, um sie in den Rang eines Sinnbilds zu erheben. Im Vergleich mit den Zitaten aus der Rede Franz’ liegt dabei eine semiotische Verkehrung vor. Nicht ein Gedankengang

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wird bildlich ausgedrückt, sondern ein vor Augen stehendes Bild wird in einen abstrakten Gedankengang übersetzt. In beiden Fällen freilich verbinden sich Überlegungen, die von einer erfahrenen Umgebung logisch – wenn auch nicht psychologisch – unabhängig sind, mit dieser Umgebung und durchdringen sich Reflexionen, die mit Landschaft und Landwirtschaft nicht unmittelbar zusammenhängen, mit von Landschaft und Landwirtschaft gegebenen Bildern. Moor. Seht doch, wie schön das Getraide steht! – Die Bäume brechen fast unter ihrem Seegen. – Der Weinstock voll Hoffnung. Grimm. Es giebt ein fruchtbares Jahr. Moor. Meinst du? – Und so würde doch Ein Schweiß in der Welt bezahlt.– Einer! – – Aber es kann ja über Nacht ein Hagel fallen und alles zu Grund schlagen. […] Warum soll dem Menschen das gelingen was er von der Ameise hat, wenn ihm das fehlschlägt, was ihn den Göttern gleich macht! (ebd., S. 78)

Karl geht mit seinem Bruder Franz in wesentlichen Ansichten konform. Beide wehren sich gegen Regeln, Gesetze und Vereinbarungen, von denen sie sich eingeengt fühlen und beide pochen darauf, dass es ein Recht des Stärkeren gebe, sich durchzusetzen und zu herrschen. Dabei haben beide jedoch sehr unterschiedliche Vorstellungen vom Leben, von Stärke wie von Gesetz und Einengung. Auf diese Weise verbinden sich – und dies ist hier vordringlich relevant – auch sehr unterschiedliche Erfahrungen wie Vorstellungen von Herrschaft und Natur. Franz klagt, der alte Moor habe ihn schon früh verächtlich angesehen, weil er vorausgesehen habe, dass Franz’ in der Grafschaft »zwischen seinen Gränzsteinen sterben« (ebd., S. 15) und Karls Ruhm hingegen die Welt umlaufen werde. Tatsächlich ist Karls Leben von Anfang an – und schon vor Gründung der Räuberbande – von Mobilität und Beweglichkeit geprägt. Wenn Karl im ersten Akt jedoch darüber nachdenkt, in die Heimat zurückzukehren, tut er dies in einer bezeichnenden Terminologie. »Im Schatten meiner väterlichen Hayne, in den Armen meiner Amalia lockt mich ein edler Vergnügen« (ebd., S. 24). Auch später – in Akt drei – denkt er in einem sentimentalen Moment an die »grünen schwärmerischen Thäler« um das Schloss seines Vaters und an die »Elisiums Scenen meiner Kindheit« zurück und sehnt sich danach, dass sie »mit köstlichen [!] Säuseln meinen brennenden Busen kühlen« (ebd., S. 80). Die Landschaften der Grafschaft wirken bei Karl wie eine Staffage, in der er sich nur bewegen will, ohne sie zu gestalten. Dabei muss Karls Bewegung in dieser Landschaft nicht immer nur in einer Weise genießend sein, die die letzten Zitate andeuten. Sie kann weit aggressivere Züge tragen, wenn es darum geht, »über Gräben und Pallisaden und reissende Flüsse« (ebd., S. 14) zu eilen. Gerade für den erwachsenen Karl ist der Blick auf seine Heimat jedoch ein eher genießend-kontemplativer als ein gestaltend-landnehmender Blick. Hierzu passt, dass Karl seinen Räubern bei der heimlichen Rückkehr in die Moor’sche Grafschaft jeg-

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lichen Eingriff in das umliegende Land verbietet und ihnen ankündigt: »[w]er nur eine Rube vom Acker stiehlt, daß ichs erfahre, läßt seinen Kopf hier« (ebd., S. 105). Nicht zu Unrecht grenzt Franz sich wiederholt von Karl ab, wenn er etwa höhnt, er werde nicht um Amalia »gleich dem schmachtenden Schäfer Arkadiens« werben, sondern ihr »befehlen« (ebd., S. 75). Während Franz für sich reklamiert »Felsen hinweggeräumt, und Abgründe eben gemacht« (ebd., S. 90) zu haben, und Stolz auf »alle seine Schlösser und Wälder« (ebd., S. 75) zeigt, erscheint ihm Karl als »unstete[r] Landstreicher« (ebd., S. 90), der nicht nur beweglich ist, sondern der tatsächlich durch das Land ›streicht‹, ohne diesem Land Formen aufzuzwingen. Das Verhältnis zu den Naturbildern kann somit die Differenz der Brüder verdeutlichen. Der unterschiedlichen Handlungsweise der Brüder entspricht ihre unterschiedliche Vorstellung von natürlicher Kraft und eigener Position in der Welt. Die Stellung Karls ist zunächst eigentümlich widersprüchlich. Er scheint in seinen Fantasien der Kontemplation und seinen Träumen, in der eigenen Grafschaft als »ein groser, stattlicher, gepriesener Mann« lediglich zu »wandeln« (ebd., S. 87), Distanz zur Natur zu halten und sie auf eigentümliche Weise nicht zu berühren, während er sich zugleich mit der Vorstellung trägt, Teil der Natur zu sein und in ihr aufzugehen. Beide Aspekte kommen freilich insofern überein, als sie stets vom Grundimpuls gespeist sind, die Natur nicht benutzen und sie selbst in Momenten eigener Aggression nicht systematisch verfügbar machen zu wollen. Franz dagegen distanziert sich von der Natur und seiner natürlichen Umgebung in radikaler Weise, um so Herrschaft über sie zu erlangen und gibt freilich dieses Verfahren selbst als natürlich aus. Wenn er fordert, »Anspruch wird an Anspruch, Trieb an Trieb und Kraft an Kraft zernichtet« und erklärt, »die Schranken unserer Kraft sind unsere Gesetze«, sieht er seine eigene Stärke im »Erfindungs-Geist« (ebd., S. 18 f.) und damit in einer primär menschlichen Eigenschaft gegründet. Er muss Umwege gehen und mit »hochfliegende[m] Geist« (ebd., S. 38) Entwürfe entwickeln, um die Mängel, die ihm natürlich gegeben sind, ›natürlich‹ – nämlich: durch eine ihm ebenfalls natürlich geschenkte Fähigkeit – auszugleichen.

Peter Jacksons Verfilmung von J.R.R. Tolkiens Der Herr der Ringe als ergänzendes Werk Es ist kein Zufall, dass die Erfahrung der Natur, die zumal in die sprachliche Bildlichkeit der Räuber eingelassen ist, in Bildern bis in die Gegenwart weiterwirkt. Konsultiert man Überblicksdarstellungen zum Bild (vgl. etwa Scholz 2009, S. 5–13), sieht man sich mit einer Reihe grundlegend verschiedener

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Bildbegriffe konfrontiert, von denen zunächst zwei im Kontext der hier geführten Diskussion relevant sind. Erstens geht es dabei um beim Lesen erzeugte Vorstellungsbilder, deren Produktion durch Texte angeregt wird und deren Diskussion literaturdidaktisch hohe Relevanz hat. Zu nennen ist nicht allein der Versuch, dem Literaturunterricht eine primäre Rolle für die Vorstellungsbildung zuzuschreiben (vgl. Abraham 1999), sondern es ist grundlegender davon zu sprechen, dass verstehendes Lesen die Bildung von Vorstellungen benötigt. Um Texte zu verstehen – so ist wiederholt betont worden – müssen mentale Modelle von Textinhalten entworfen werden, was auch die Genese innerer Bilder einschließt (vgl. etwa Winkler 2011, insbes. S. 79–83; Rosebrock / Nix 2010, insbes. S. 20). Zweitens geht es darüber hinaus – und doch partiell damit verwoben – um eine literaturwissenschaftlich wie literaturdidaktisch wichtige sprachliche Bildlichkeit, die in einigen ihrer Eigenschaften in Schillers Räubern schon besprochen wurde. Selbstverständlich soll auch sie die Erzeugung mentaler Bilder anregen, doch haben diese Bilder zunächst nicht den Anspruch, Bilder einer imaginären Welt zu sein, sondern bestimmte Beobachtungen oder Gedankengänge anschaulich zu machen, die zunächst unanschaulich sind oder denen eine Spezifik der Anschauung fehlt. Dass Schiller in seinem Drama die sprachliche Bildlichkeit doppelt funktionalisiert, indem sie Unanschauliches veranschaulicht und Aspekte einer dargestellten Welt mit sichtbar macht, gehört zu den besonderen Leistungen seines Textes. Nun soll im Folgenden der Blick auf eine dritte Form von Bildlichkeit verlagert werden, nämlich auf das, was man als materiell gegebene Bilder bezeichnen kann und was hier in Form von Filmbildern erscheint. Selbstverständlich werden auch diese Bilder von Betrachtern mental in aktiver Weise (re-)konstruiert. Dennoch wird man behaupten können, dass sie sich deutlich von Vorstellungsund Sprachbildern unterscheiden. Zentrale Bedeutung dafür erhält J. R. R. Tolkiens Fantasy-Epos Der Herr der Ringe, und zwar nicht als Buch, sondern als Film-Trilogie aus den Jahren 2001, 2002 und 2003, bei der Peter Jackson Regie geführt hat. Die Verschiebung der Aufmerksamkeit von einer Text-Text-Konstellation zu einer Text-Film-Konstellation mag widersinnig wirken, zumal auch der Romantext von Schülern und Schülerinnen rezipiert wird (vgl. Schiefele / Stocker 1990, S. 29; Bonfadelli / Fritz / Köcher 1993, S. 180 f.). Dennoch sprechen gerade didaktische Gründe dafür, bei der unterrichtlichen Behandlung von Schillers Räubern die Verfilmung des Herrn der Ringe zu thematisieren.6 Ziel ist eine Verbindung anspruchsvoller 6 Besonders hervorzuheben ist hier der Grund einer im Literaturunterricht notwendigen Erzeugung von Asymmetrien, wo es um intertextuelles Arbeiten oder Arbeiten mit literarischen Motiven geht. Da der Literaturunterricht – wie sämtlicher Unterricht – mit begrenzten Res-

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Literatur, die wenige Schüler und Schülerinnen in ihrer Freizeit rezipieren dürften, mit solchen kulturellen Produkten, die bei Jugendlichen populär sind. Ins Auge gefasst wird aber auch eine Verknüpfung von Schillers Sprachbildern mit Filmbildern. Eine skizzenhafte Verbindung von beiden hat etwa die folgende Form: ! erweisen sich als frühe Beispiele einer Bildtradition, die noch in der Gegenwart existiert.

!

Sprachbilder (bei Schiller) illustrieren und verdeutlichen nicht nur ein eigentlich Gemeintes, sondern erlauben in sekundärer Weise einen Rückschluss auf (faktische oder imaginierte) ›kulturökologische‹ Gestaltungen des eigenen Herrschaftsbereichs durch Franz und Karl von Moor,

können helfen, das sprachlich Transportierte klarer zu fassen und zu diskutieren.

Materiell gegebene (Film-) Bilder (Peter Jacksons) zeigen unmittelbar, wie in einem Herrschaftsbereich die Natur ergriffen und vernichtender Umgestaltung unterzogen wird,

Fragen nach der zivilisatorischen Geformtheit von Natur und ihrer Signifikanz sind bereits in J. R. R. Tolkiens Roman ein zentrales Thema (vgl. etwa Shippey 2001; Kehr 2011). Er verknüpft die Reflexion über Gut und Böse mit einer Darstellung von Zivilisationsformen und -folgen. Dies gilt in verdichteter Weise für die Figur des sich dem Bösen zuwendenden Zauberers Saruman, der von Tolkien als Mensch porträtiert wird7 und dessen Name ›listiger‹ oder auch ›durchtriebener Mann‹ meint (Shippey 2001, S. 169 f.). Saruman ist ein Technokrat (vgl. ebd., S. 169), der nicht nur davon ausgeht, dass der Zweck die Mittel heiligt (vgl. ebd., S. 76); vielmehr ist zu sehen, dass sein Weg »starts as intellectual curiosity, develops as engineering skill, turns into greed and the desire to dominate, corrupts further into a hatred and contempt of the natural world […]« (ebd., S. 171). Mit Franz von Moor teilt er den Willen zur Erfindung und das Ziel, die Welt durch die eigene Kunstfertigkeit zu unterwerfen. Sarumans Wirken wird in zahlreichen Szenen vor allem im ersten von Jacksons drei Filmen – Die Gefährten (2007a) – und im zweiten Film – Die zwei Türme (2007b) – zur Anschauung gebracht. Nach einer guten halben Stunde des ersten Films etwa sucht der Zauberer Gandalf Saruman bei dessen Turm Orthanc sourcen zumal zeitlicher Art auskommen muss, verbietet sich zumeist der Vergleich mehrerer Werke in tatsächlicher Textform. Stattdessen lohnt es, um ein im Zentrum stehendes, in Gänze rezipiertes Werk kürzere Impulse zu setzen. 7 Saruman ist im Rahmen der von Tolkien entworfenen Mythologie streng genommen kein Mensch. Gleichwohl tritt er in menschlicher Gestalt auf und erscheint so auch in der Verfilmung. Die komplexe Mythologie, die Tolkien seinem Epos unterlegt, kann hier nicht durchdrungen werden. Dies ist für die hier skizzierte didaktische Nutzung des Epos jedoch auch nicht erforderlich.

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auf (2007a, 36:55–41:20). Es ist zunächst zu sehen, wie Gandalf auf einem Pferd auf Sarumans Festung zu galoppiert. Später sieht man Gandalf und Saruman auf gepflegtem Rasen im Gespräch zwischen Bäumen dahinschreiten. Kurz darauf wechselt die Szene ins Innere von Orthanc (ebd. 38:00), wo Saruman bald seine wahren Absichten enthüllt. Eine spätere Szene (ebd., 56:10–57:48) zeigt, wie Saruman nach Anweisungen aus Mordor, dem Land des Bösen, von den ihm dienenden ›Orks‹, missgestalteten und bösen Kreaturen, die Bäume seines Parks mit ihren Wurzeln aus der Erde reißen lässt. Es ist Nacht und das Geschehen mit Fackeln beleuchtet. Der Park ist von oben zu erblicken, wobei Feuer und hektische Aktivität zwischen den Bäumen zu erahnen ist. In einer weiteren Szene (ebd., 62:16–62:46) nähert sich die Kamera der Mauer von Sarumans Festung von außen, überfliegt sie dann und blickt von schräg oben auf den jetzt weitgehend baumlosen, in eine Schlammwüste verwandelten Park. Die Erde ist in einem gewaltigen Loch aufgerissen, aus dem Feuerschein dringt. Aus Holzplanken zusammengezimmerte Maschinen und Türme säumen das Loch und ragen in es hinunter, es ertönt dumpfes Schlagen und das Knirschen von Seilwinden. Wenig später (ebd., 63:24–64:41) gleitet die Kamera die Außenseite Orthancs hinunter und in ein weiteres aufgerissenes Loch hinein, in das Orks von oben Bäume hinabwerfen, die zerhackt und verbrannt werden. Metall wird geschmolzen, um Waffen und Helme zu schmieden, die einem kommenden Kriegszug dienen. Die Luft ist von animalischen Schreien der Orks und dem Dröhnen der Hämmer erfüllt. Im Schlamm der Grube werden alptraumartige Kreaturen erzeugt, die direkt der Erde entstammen. Im zweiten Film der Trilogie (2007b, 153:48–156:07) wird gezeigt, wie Sarumans Macht von ›Ents‹, baumähnlichen ›Baumhütern‹, gebrochen wird, wie die Orks vernichtet und Sarumans unterirdische Anlagen zerstört werden. Diese Szene ist zumal deshalb interessant, weil sie noch stärker als die vorangehenden Szenen demonstriert, wie sehr Sarumans Macht auf technisch unterstützter Landnahme beruht, wie sehr also eine Zurichtung der Landschaft hier eine Rolle spielt und wie sehr Sarumans Macht auf Türmen, Maschinen und Staudämmen basiert. Ein Eins-zu-eins-Vergleich der Räuber mit Tolkiens Werk bzw. dessen Verfilmung wird mehr Differenzen als Übereinstimmungen hervorbringen. Als Fantasy-Epos ist Tolkiens Text von phantastischen Kreaturen bevölkert, während Schillers Drama durchaus einen Realismus aufweist, der die Literaturwissenschaft zu sozialhistorischen Analysen veranlasst hat. Auch ist das Ziel, für das Saruman kämpft, – passend zur Textsorte des Epos – nichts Geringeres als die Weltherrschaft, während Franz von Moor weit bescheidener, aber nicht weniger bedrückend nur über sein kleines Territorium gebietet und gebieten will. Es muss jedoch keineswegs vollkommene Übereinstimmung zwischen den Werken herrschen, damit sie für eine kulturökologische Didaktik nutzbar werden. In-

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teressant für eine solche Didaktik ist die Bildlichkeit, die in beiden Werken aufscheint und im Unterricht adressiert werden kann. Diese Bildlichkeit verbindet nicht nur Franz von Moor mit Saruman, sondern aus ihr ergeben sich zugleich zahlreiche Fragen, die unterrichtlich signifikant sind, wie sie allgemeiner für eine kulturökologisch informierte Literaturdidaktik wichtig sein können.

Kulturökologisch relevante Fragen Festzuhalten ist zunächst, dass die eingangs skizzierte doppelte Wahrnehmbarkeit literarischer Texte, die als Literatur ebenso ins Zentrum gestellt wie als quasi-dokumentarische Quellen für vielfache Anverwandlungen genutzt werden können, auch für die kulturökologische Perspektive relevant ist. Kulturökologische Überlegungen mögen einerseits oft von Erwägungen philosophischer, historischer oder soziologischer Art ausgehen und sind, so gesehen, auf die Literatur als Literatur nicht angewiesen. Andererseits zeigt ein Blick auf Die Räuber ebenso wie auf Peter Jacksons Verfilmung, dass kulturökologische Fragen zum Kern dessen gehören, was Literatur und Kunst interessant macht und sie als Literatur und Kunst auszeichnet. Aus einer Betrachtung des Schiller’schen Dramas wie aus der Verfilmung von J. R. R. Tolkiens Epos lassen sich dabei mehrere Beobachtungen gewinnen. So ist, erstens, diskussionswürdig, weshalb es in den Werken überhaupt zu einer Deformierung der Landschaft kommt und weshalb überhaupt ihre systematische Nutzung und Neuordnung angestrebt wird. Pointierter lässt sich fragen, inwieweit und weshalb es zur literarischen Ausstattung des Tyrannen gehört, nicht nur Menschen, sondern auch Landschaft und Natur radikal dem eigenen Nutzen unterstellen zu wollen. Dabei lässt sich hinsichtlich Schillers Räuber wie auch Jacksons Herr der Ringe zunächst antworten, Eingriffe in die Natur dienten dazu, Menschen – bzw. in der Welt der Fantasy : menschenähnliche Wesen – zu unterwerfen und ihnen zu schaden. Franz von Moor kennt die Natur in Form von Schauplätzen, auf denen Untertanen ihre Untertänigkeit grausam bewusst gemacht wird, wie er offenbar auch den Nutzen, den seine Untertanen aus der Natur ziehen können, limitieren will, um sie zu quälen. Saruman greift in die Natur ein, um eigene Kriegspläne zu ermöglichen und zu verwirklichen. Allerdings geht es nicht nur darum, dass die Natur in rational nachvollziehbarer Weise zum Mittel eines Zweckes gemacht wird, in dessen Fokus eigentlich Menschen stehen. Wie man besonders dem verbalen Wüten Franz von Moors entnehmen kann, geht es weit grundlegender um die Befriedigung eines Machtanspruchs, der so groß ist, dass er nicht allein im Bereich des offensichtlich Menschlichen verharrt, sondern sich darüber hinaus ausdehnt und

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gerade dort erkennbar wird, wo er sich von seinem eigentlichen Zentrum entfernt. Zugleich drückt sich solcherart eine Lebensfeindschaft oder wenigstens -verachtung aus, die Franz von Moor wie Saruman auszeichnet. Sie gewinnt im Zugriff auf Landschaft und Natur Kraft und Anschaulichkeit. Mit dem ersten Punkt zusammenhängend ist zweitens zu ergänzen, dass sich sowohl bei Schiller als auch bei Tolkien und in der Tolkien-Verfilmung eine Ästhetik zeigt, die das Böse mit dem Hässlichen korreliert, wobei Letzteres spätestens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert auch die als ästhetisch deformiert wahrgenommene Landschaft ist. Im Falle Franz von Moors ist die eigene Missbildung Anlass eines Projekts, das die Welt dieser Missbildung anpassen will. Indes geht es – anders als bei Punkt eins – nun weniger um Handlungsabläufe und im Drama dargestellte Motive als um ästhetische Grundkonstellationen, die durch Handlungsabläufe und Motive zwar plausibel werden, aber ihnen gegenüber eine gewisse Unabhängigkeit haben. So ist auffällig, dass bei Schiller wie bei Tolkien und in der Tolkien-Verfilmung ein Hässliches nicht schlicht anzuschauen ist. Ästhetisch entscheidend ist vielmehr, dass ein Umschlag des Schönen in das Hässliche gezeigt oder wenigstens verbal beschworen wird. Erreicht werden soll daher ein ästhetisch reizvoll wirkender Bruch im Sein. Die Veränderung scheint an jenen Stellen besonders faszinierend, an denen sie von einem positiv besetzten Zustand in einen negativ besetzten Zustand führt. Dies hängt womöglich damit zusammen, dass es menschlicher Erfahrung entspricht, dass gerade in dieser Richtung rasche, erschütternde Veränderungen möglich sind, während Entwicklungen in Gegenrichtung oft langsamer, weniger schlagartig erfolgen. Kulturökologisch steht dahinter die Erkenntnis, dass zivilisatorisch bedingte Deformierungen der Natur – bzw. Veränderungen, die als solche Deformierungen bilanziert werden – mit geringerem Zeitaufwand herzustellen sind als faktische oder vermeintliche Verbesserungen. Ästhetische Bedürfnisse werden auf eine Weise befriedigt, die kulturökologisch aufschlussreich ist, wie umgekehrt kulturökologisch relevante Probleme in Kontexten wichtig werden, die über die Kulturökologie hinausgehen. Drittens stellt sich die Frage nach den Darstellungstechniken, durch die Probleme manifest werden, die man als solche der Kulturökologie bezeichnen kann. Dabei zeigt sich in Jacksons Verfilmung unter anderem ein insistentes Spiel mit Blickrichtungen und Positionen. Der Blick, der die landschaftlichen Verheerungen sichtbar macht wie der angemessene Blick des machtbesessenen Herrschers selbst ist der Über-Blick, nämlich ein Blick, der von oben nach unten dringt und seinen eigentlichen Ort in den Höhen eines aus der Landschaft ragenden Festungsturms hat. Hier hält Saruman sich überwiegend auf. Zugleich existiert in Jacksons Verfilmung eine in die Landschaft gegrabene Unterwelt, die der genuine Ort der Zerstörung ist. Ähnlich ist auch Franz von Moor oft in der

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Höhe seines Schlosses aktiv, während er den eigenen Vater in unterirdische Gewölbe verbringt und dort einschließt. Karl von Moor demonstriert zwar die Kraft seines jungen Körpers, indem er in die Höhe strebt, wenn er auf den Wipfeln der Eichen ›reitet‹. Der Räuber Karl freilich bewegt sich überwiegend in der Ebene, zersprengt nicht umsonst in einer wichtigen Szene den Pulverturm einer Stadt, lässt die Säle des Moorschen Schlosses in Brand setzen und befreit seinen Vater aus dem unterirdischen Verlies. In Schillers Drama ist die Politik der Landnahme und -ausnutzung zudem – wie gezeigt – Teil einer die Dramensprache mitbestimmenden Bildlichkeit. Gerade durch Franz von Moors sprachliche Bilder enthüllt sich die Art und Realität seiner Herrschaft, die über das hinausweist, was vordergründig im Zentrum des Dramas steht. Kulturökologisch signifikant wird das Drama, weil Franz’ Verworfenheit sich als mehrschichtig erweist, wenn sein Wüten gegen die Menschen einen Herrschaftsanspruch gegenüber der Natur einschließt und er diese Natur kulturell in einer Weise formen will, die vor allem auf Lebenstilgung und -unterdrückung setzt. Dies herauszuarbeiten und für eine Gesamtanalyse des Textes nutzbar zu machen – und dafür etwa auch Jacksons Filme heranzuziehen –, wäre eine Aufgabe einer kulturökologisch informierten Literaturdidaktik.

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Kulturökologische Literaturdidaktik: Texte als Orte der Begegnung

Aus kulturökologischer Perspektive bieten literarische Texte eine komplexe, affektive und multidimensionale Thematik, indem sie Orte der Begegnung schaffen und Raum für Reflexion öffnen. Sie bieten Möglichkeiten für den zwischenmenschlichen Austausch, sie regen zur Auseinandersetzung mit der menschlichen und außer-menschlichen Umgebung und ihren Vorzügen und Problemen an, bieten Einsichten in eine Kultur und zeigen subjektive und imaginäre Perspektiven. Die kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft ist keineswegs ein Ansatz, der sich durch eine besondere Methode oder ein spezifisches Theorem auszeichnet, sondern ist durch eine Vielzahl verschiedener theoretischer Ansätze und Methoden beeinflusst, die sich unter anderem in ihrer Ausrichtung auf Text, Kultur und Leser unterscheiden.1 Ein signifikanter Unterschied besteht darin, wie Texte kontextualisiert werden und welches Verständnis von Kultur und von der Beziehung zwischen Kultur und Literatur einer Analyse zugrunde liegt. Die kulturelle Wende in der Literaturwissenschaft der Germanistik und anderer Philologien bringt einen transdisziplinären, prozessorientierten und diskursiven Charakter in die literarische Analyse ein (vgl. Nünning/Sommer 2004, S. 10).2 Hubert Zapfs Ansatz, der Literatur als kulturelle Ökologie versteht, richtet seinen Fokus auf das »Spannungsverhältnis zwischen dem Text und seinem kulturellen Kontext« (Zapf 2002, S. 5). Dabei stehen jedoch weder der Text noch der kulturelle Kontext im Vordergrund, vielmehr geht es um ein tiefergreifendes Verständnis der Wechselwirkungen zwischen Imagination

1 Nünning und Sommer skalieren verschiedene Ansätze in Bezug auf ihre Orientierung am Text und/oder an der Kulturwissenschaft. Trotz der Skalierung anhand eines Kontinuums stellen die Autoren heraus, dass die Ansätze grundlegende Unterschiede aufweisen sowohl in Bezug auf ihren Forschungsgegenstand als auch in Bezug auf theoretisches und methodisches Vorgehen (Nünning/Sommer 2004, S. 13ff). 2 Für die kulturelle Wende sind vor allem Ansätze aus dem Bereich der Gender Studies, Cultural Studies und der Postcolonial Studies, sowie des New Historicism von besonderer Bedeutung (Nünning/Sommer 2004, S. 11 und Zapf 2002, S. 5).

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und Realität. Die Analogie zu ökologischen Prinzipen hilft dabei, die Funktion und kulturelle Relevanz von Literatur hervorzuheben. Aus naturwissenschaftlicher Perspektive untersucht die Kulturökologie die Bedeutung der Kultur im Verhältnis zur außermenschlichen Umgebung, und Kultur wird als ein adaptiver Mechanismus verstanden, der es den Menschen ermöglicht, in einer bestimmten Umgebung zu leben (vgl. Anderson/Sutton 2010, S. 3 f.). Aus der Perspektive der Literaturtheorie sieht Hubert Zapf (2002) Literatur als Teil der kulturellen Ökologie und beschreibt Analogien zwischen ökologischen Konzepten und der kulturellen Funktion von Literatur, um so Literatur als ein Ökosystem zu begreifen, das Teil eines größeren Kulturökosystems ist. Literatur wird hier nicht als adaptiver sondern als innovativer Mechanismus verstanden, durch den die Kultur mit ihrer Umgebung interagiert. In diesem Funktionsmodell übernimmt Literatur eine Ausgleichsfunktion (vgl. Zapf 2002, S. 3), indem sie auf äußere (Natur) und innere (psychologische, unbewusste) Krisen und Konflikte in ihrem Kulturkontext reagiert. Zudem hat sie eine imaginäre Funktion, die sich vor allem mit Alternativen zur Krise der Gegenwart beschäftigt, und sie übernimmt die Funktion der kreativen Erneuerung (vgl. ebd., S. 3). Die ökologische Komponente dieses literaturtheoretischen Ansatzes bezieht sich zum einen auf die Gebundenheit der Kultur an ihre natürliche Umwelt und zum anderen auf die dynamischen Entwicklungen innerhalb einer Kultur und die Möglichkeit zur kontinuierlichen Erneuerung der kulturellen Imagination, Sprache und Wahrnehmung (vgl. ebd., S. 3). Um einen Text aus kulturökologischer Perspektive zu analysieren, muss das Thema des Textes nicht zwingend eine Krise in Bezug auf die Natur aufgreifen. Die Auseinandersetzung mit kulturellen Problemen oder dem kulturell Marginalisiertem, wie Zapf anhand seiner Analyse von Hawthorne’s The Scarlet Letter zeigt (2002), führt letztendlich zu einer Erneuerung der Kultur (vgl. Müller 2011, S. 78),3 da die Literatur unterschiedliche und scheinbar getrennte kulturelle Bereiche miteinander in Verbindung bringt. Die Relevanz des kulturökologischen Ansatzes liegt in der Infragestellung des Gegensatzes von Natur und Kultur durch eine ökologische Denkweise, die den untrennbaren Zusammenhang und die unumgehbaren Wechselwirkungen und Abhängigkeiten der beiden postuliert. Dieses Verständnis von kultureller Ökologie greift also auf Grundsätze der Ökologie zurück, nach denen unsere Handlungen niemals nur einen Effekt haben (Prinzip der ökologischen Nachwirkung) und alles mit allem verbunden 3 Müllers »From Literary Anthropology to Cultural Ecology : German Ecocritical Theory since Wolfgang Iser« bietet einen geschichtlichen Rückblick auf Isers anthropologische Ansätze in der Literaturtheorie und eine aufschlussreiche Gegenüberstellung von Hartmut Böhmes ästhetischen Ansätzen und Zapfs kulturökologischen Überlegungen.

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ist (Prinzip der Verbundenheit/Vernetzung) (vgl. Miller 1990). Literatur kann somit auf komplexe kulturelle Verbindungen sowie auf Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen Kultur und Natur hinweisen und die Relevanz aller Handlungen nachdrücklich verdeutlichen. Andere Analogien zur Ökologie bestehen in der von Zapf beschriebenen Ausgleichsfunktion von Literatur. In der Ökologie ist das Gleichgewichtsprinzip ein äußerst dynamisches, d. h. das Gleichgewicht befindet sich in einem ständigen Prozess der Veränderung. Literatur trägt zu diesem Prozess in ihrem kulturellen Kontext bei, indem sie stets imaginäre Gegenwelten entwirft, um Probleme aufzuzeigen und kulturelle Erneuerung voranzutreiben. Das von Zapf entwickelte Funktionsmodell von Literatur als einem Ökosystem impliziert so auch einen offenen kulturellen Kreislauf, der sich selbst erneuert und sich durch ein dynamisches Gleichgewicht aufrecht erhält. Nicht zuletzt weist Zapf darauf hin, dass kulturelle und ökologische Denkweisen Begriffe wie »Vielfalt, Mehrdimensionalität, Prozesshaftigkeit, Konkretheit, Komplexität, oder holistisches Denken« (Zapf 2002, S. 6) in sich aufnehmen und artikulieren. Literatur, wie die Ökologie, stellt die Komplexität unseres (kulturellen und) natürlichen Umfeldes heraus und verweist auf menschliche und außermenschliche Wechselwirkungen und Interdependenzen. Einen Bezug zum Leser und damit einen möglichen Zugang zu didaktischen Modellen eröffnet Zapf, wenn er die Funktion von Literatur aus kulturökologischer Perspektive als Erkenntnis und Erfahrung beschreibt, als eine Erkenntnis der Blindstellen und deformierenden Einseitigkeiten hegemonialer Macht – und Diskurssysteme; und einer explorativen und regenerativen Erfahrung für ihre Leser, die durch die sprachliche Aktivierung des kulturell Verdrängten, durch die Wiederherstellung von Komplexität und durch deren imaginativen Nachvollzug im Akt des Lesens selbst am Prozess der Erneuerung kultureller Aktivität Anteil nehmen […]. (vgl. Zapf 2002, S. 7).

Durch die Auseinandersetzung mit einem Text kann der Leser zum aktiven Teilnehmer und Produzenten kultureller Erneuerung werden. Aus literaturdidaktischer Perspektive4 richtet sich unser Interesse vor allem auf Methoden zur Texterschließung, Interpretation und Evaluation, durch die Lerner sich einem Text annähern, seine Inhalte auf verschiedene Weisen verhandeln und den Text und sich selbst in einem kulturellen Kontext, einem Kulturraum, wahrnehmen. Die evaluative Komponente muss dabei ebenso in den Unterricht integriert sein, besonders wenn von einer ökologischen Denkweise ausgegangen wird und auch das Prinzip eines Kreislaufs in ein didaktisches Modell einbezogen wird. Kul4 Nilgün Yüce (2003) setzt sich mit der Frage nach der Beziehung zwischen Kulturökologie und der Fremdsprachendidaktik für Deutsch als Fremdsprache auseinander. Sie beschäftigt sich damit, die Ziele der Agenda 21 in den Fremdsprachenunterricht zu Integrieren.

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turökologische didaktische Methoden zur Texterschließung und Interpretation sollen also Erkenntnis und Erfahrung vermitteln und ermöglichen, um Leser/ Lerner aktiv in einen kulturökologischen Prozess zu involvieren. Hier bietet der handlungs- und produktionsorientierte methodische Ansatz Anschlussmöglichkeiten, da nach einer lerngerechten Vermittlung von Literatur gestrebt wird (vgl. Paefgen 1999, S. 135), d. h. Lerner gehen aktiv mit Texten um und eröffnen sich Texte als Orte auf verschiedenen Ebenen, nicht nur auf rein kognitive Weise (vgl. Spinner 2001; Lange 2000). Einen Text-Ort verstehe ich dabei als eine metaphorische Örtlichkeit, an der Lerner und Lehrer das zusammenbringen, was sie mit einem Text verbinden. Sie bringen sowohl Assoziationen als auch Erfahrungen, Gefühle, Imaginationen, Beziehungen und Verbindungen zu anderen Texten und Themen an diesem Ort zusammen. Literatur eröffnet so einen Ort der Begegnung und damit auch einen Kulturraum, den die Lerner erkennen und erfahren und durch ihre Begegnungen mit dem Text-Ort verhandeln und verändern. Die Metapher eines Textes als Räumlichkeit oder Örtlichkeit wird weitläufig verwendet und erlaubt hier, die ökologische Perspektive auf tiefergehende Weise zu betrachten. Der handlungs- und produktionsorientierte Unterricht stellt Lerner in den Mittelpunkt und regt zu einer ganzheitlichen Auseinandersetzung mit einem Text an. Lerner sind aktiv involviert, indem sie sich mit Texten auf kreative Weise auseinandersetzen oder um die Metapher weiterzuführen, sich einen Text-und Kulturraum zu öffnen und zu erweitern.5 Als »kulturelle Praxis« bietet der handlungs- und produktionsorientierte Ansatz relevante Verbindungen zur kulturellen Bildungskomponente des Literaturunterrichts. Versteht man die Literaturwissenschaft als Teil der Kulturwissenschaften (vgl. Abraham und Kepser 2009; Nünning und Sommer 2004; Fauser 2003), so werden den Möglichkeiten und Anforderungen an die Literaturdidaktik6 als Teilgebiet dieses transdisziplinären und auch transnationalen Bereichs wenig Aufmerksamkeit geschenkt.7 Eine kulturökologische Didaktik, die sich an den von Zapf postulierten Analogien zur Ökologie orientiert, öffnet 5 Dieser methodische Ansatz findet seinen Anfang in der Rezeptionsästhetik der 1970er, die in der deutschen Literaturtheorie vor allem von Wolfgang Iser begründet wurde (Iser 1972). Nach Iser ist der Leser nicht nur aktiv involviert, sondern nimmt auch eine kreative Rolle im Umgang mit einem Text an – ein Ansatz, der von Zapf aufgenommen wurde. Müller (2011) weist auf die Verbindung von Isers und Zapfs Ansätzen hin und sieht Zapfs kulturökologisches Konzept als eine Weiterentwicklung von Isers Ideen in Bezug auf die Rolle des Lesers und seiner Auseinandersetzung mit Texten. 6 Susanne Hochreiter und Ursula Klingenböcks »Literatur Lehren Lernen. Hochschuldidaktik und germanistische Literaturwissenschaft« (2006) bietet Beiträge, die sich mit der schwierigen Position der Literaturdidaktik, in Bezug auf strukturelle Gegebenheiten der universitären LehrerInnenausbildung und dem sich verändernden Bildungsauftrag, im Wissenschaftsbereich der Literaturwissenschaft auseinandersetzten. 7 Lutz-Helmut Schön argumentiert, dass die Fachdidaktik in der Erwachsenenbildung interdisziplinärer denken muss, um verschiedene Lebensbereiche zu verbinden (2011, S. 22 f.).

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neue Möglichkeiten für transdisziplinäres Denken im Literaturunterricht. Um Anfänge einer kulturökologischen Literaturdidaktik zu entwickeln, möchte ich interdependente Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Text, Kultur und Natur, zwischen Lernern und Lehrern, zwischen Unterrichtsraum und Lebensraum, die Nachhaltigkeit von Handlungen und Erlerntem sowie nicht zuletzt die Kreislaufanalogie und das dynamische Gleichgewicht in Betracht ziehen. Dieser Beitrag betrachtet vier Gedichte, um an ihnen kulturökologische Überlegungen für die Literaturdidaktik zu entwickeln. Der Hauptgedanke ist dabei nicht, eine kulturökologische Perspektive für die Textinterpretation zu erarbeiten, sondern kulturökologische Sichtweisen im Unterrichten der Texte zu reflektieren, um so holistisch Literatur und Kultur und auch Lernen und Leben zu verbinden. Die von Zapf entwickelten Analogien zwischen ökologischen und ästhetischen Prinzipien werden hier durch Analogien erweitert, die sich auf Prinzipien des Lehrens und Lernens beziehen und durch die Literaturdidaktik als Teil einer kulturellen Ökologie funktionieren kann.

Thematischer Abriss der Gedichte Die Gedichte beschäftigen sich mit dem Verhältnis zwischen Mensch und Natur und zeigen unterschiedliche Perspektiven auf. Zum einen lassen die Gedichte eine geschichtliche Perspektive ersichtlich werden, die verdeutlicht, dass die Koexistenz von Kultur und Natur auf einem fragilen Gleichgewicht beruht. Gleichzeitig beschäftigen sich die Gedichte mit der Seele, d. h. mit dem Innenleben von Mensch und Natur. Es geht also nicht nur um ein rein ökologisches Gleichgewicht, sondern um ein Verhältnis, das auch Emotionen und innere Krisen und Konflikte in Betracht zieht. Durch die intime Verbindung von Außenwelt und Innenwelt werden Zugänge auf mehreren Ebenen möglich. Sowohl das sich verändernde Kultur-Natur Verhältnis aus sozio-kultureller, ökonomischer und naturwissenschaftlicher Perspektive als auch persönliche Erfahrungen und Handlungen aus ethisch-philosophischer Sichtweise sind bei einem inhalts- und anwendungsbezogenen Umgang mit diesen Gedichten relevant und tragen zu einer kulturellen Bildung durch Literatur bei. Die zwei kanonischen Gedichte von Goethe und Eichendorff werden hier nur in aller Kürze vorgestellt, um die weniger bekannten Gedichte von Roth und Scharpenberg etwas genauer zu betrachten. Johann Wolfgang von Goethes Gedicht »An den Mond« (1776) (Goethe 1948, S. 71 f.), wird in der Forschung nicht nur als Naturgedicht, sondern auch als Liebes- oder Freundschaftsgedicht interpretiert (vgl. Eastman 1940; Elema

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1962; Spinner 1969).8 Das Gedicht beschreibt den Einfluss der Natur auf ein einsames lyrisches Ich, das sich zwischen Erinnerungen an die Vergangenheit und dem Leben in der Gegenwart befindet. Die Erfahrungen des lyrischen Ich beziehen sich auf innere Vorgänge, die durch die Erfahrung in der Natur evoziert wurden und deren befreiende Wirkung die Seele erreicht. In dem Gedicht ist die Natur Freund und Vertrauter und zeichnet sich durch eine Epistemologie aus, die im Gegensatz zu einem objektiv-wissenschaftlichen Verständnis steht, das zu der Zeit allmählich an Zuspruch gewinnt.9 Ursula Heukenkamp beschreibt die Naturlyrik dieser Zeit der Aufklärung als einen moralisch-ethischen Ort, der ein Gegenstück zur bürgerlichen Gesellschaft darstellt (vgl. 1984, S. 15 ff.).10 Die Natur wird ein Ort des Rückzugs von der Realität der sich verändernden Gesellschaft, sie verkörpert das Schöne und die Idylle und sie ist dem Menschen auf innige Weise vertraut. Natürlich spricht der Ort der Natur als Zufluchtsort gleichzeitig über den Ort der Gesellschaft, auch – oder besonders – wenn diese nicht erwähnt wird.11 Schon in der ersten und zweiten Strophe erfahren wir, dass der Mond die Seele des Ichs löst (V3 f.) und eine ruhestiftende Wirkung hat. Die Erinnerungen und Gefühle des Ichs nehmen die folgenden Strophen ein und vermischen sich dann mit einer Beschreibung des Flusses. Die innere Unruhe entlädt sich im Rauschen des Flusses und in Analogien zu zyklischen Veränderungen im Laufe der Jahreszeiten. Am Ende liefert das Ich eine introspektive Reflexion über die Relevanz von Zuneigung oder Freundschaft und der Weisheit der Natur, die dem Unwissen und der Ignoranz der Menschen entgegengesetzt wird. Joseph von Eichendorffs spätromantisches Gedicht »Mondnacht« (um 1835) (HKA 1993, S. 327 f.), das er selbst seinen »Geistlichen Gedichten« zugeordnet hat (Buck 2010, S.127), beschreibt eine innige Verbindung von Mensch und Natur. Mit dem Titel des Gedichts reiht sich Eichendorff in eine lange Tradition deutscher Naturlyrik und Mondgedichte ein (vgl. Spinner 1969). Die Zeit der Entstehung des Gedichts steht im Zeichen von Umbrüchen, bewirkt durch die Auswirkungen der Französischen Revolution, die zunehmende Säkularisation zugunsten eines Glaubens an Rationalismus und Wissenschaften und nicht 8 Die unterschiedlichen Interpretationen basieren zudem auf den Variationen der zwei überlieferten Fassungen aus den Jahren 1776 und 1789. 9 Goethes Beschäftigung mit dem Thema Natur ist sowohl literarischer als auch naturwissenschaftlicher Art, was seine Arbeiten in eine interdisziplinäre Position rückt und seine Naturlyrik besonders interessant macht. Kittstein (2009) liefert eine tiefgehende Analyse seiner Elegie »Pflanzenmetamorphose«, die die Überschneidungen von Lyrik und Naturwissenschaft verdeutlicht. 10 Siehe auch Kittstein 2009, S. 18. 11 Ulricht Kittstein fügt zu diesem Gedanken hinzu, dass: »die von den Gedichten entworfenen Naturbeziehungen […] immer von gesellschaftlichen Zusammenhängen und kulturellen Kontexten geprägt« sind. (2009, S. 19).

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zuletzt durch strukturelle Veränderungen in der Gesellschaft in Bezug auf Bürgertum und Adel (vgl. Kittstein 2009, S. 133). In dem Gedicht blickt das lyrische Ich in die Vergangenheit und erinnert sich an ein Erlebnis in der Natur, das seine Seele bewegte. Eichendorff verarbeitet eine äußere Naturerfahrung mit der inneren Reaktion auf das Erlebte. Die Annäherung von Himmel und Erde in der ersten Strophe, deutet auf eine Annäherung zwischen Natur und der Seele des lyrischen Ichs am Ende des Gedichts, dabei leistet die Naturbeschreibung der zweiten Strophe einen Übergang. Die Metapher der fliegenden Seele am Ende ist nicht allein bei Eichendorff zu finden, sondern erscheint auch bei anderen Autoren der Romantik wie Wackenroder und Mörike (vgl. Buck 2010, S. 131). Der Flug der Seele richtet sich nach Haus, d. h. in die Heimat oder in das Jenseits und bestärkt damit die Verbindung zwischen außen und innen. Das Haus als Objekt und realer Raum sowie als christlicher Ort steht für eine innerliche Geborgenheit und Ruhe. Das Gedicht beschreibt zudem eine Welt zwischen Traum und Realität, angedeutet durch den Wechsel zwischen Konjunktiv und Indikativ. Das Erlebnis in der Mondnacht ist also nicht nur eine Beschreibung der nächtlichen Natur, sondern vor allem eine Reflexion über die Verbindung von Natur, Seele und Innenleben. Nicht zuletzt zeigt das Gedicht eine thematisch-metaphorische Kreislaufbewegung von Himmel, Erde, Seele und einem Flug nach Hause. Der Kreislauf wird zudem durch einen jahreszeitlichen Zyklus angedeutet, der vom Blütenschimmer (V3) des Frühlings zu den Ähren (V6) des Sommers und zuletzt zum Flug der Seele nach Haus (V10–12) reicht, ähnlich der Zugvogelwanderung des Herbstes. Buck (2010) weist darauf hin, dass besonders die »Langzeitwirkung« (S. 131), also die Nachhaltigkeit der Erfahrung in dieser Mondnacht von besonderer Bedeutung ist. Das lyrische Ich hat in dieser Nacht etwas erlebt, was nicht nur eine innerliche Veränderung bewirkt hat, sondern ihm für lange Zeit bewahrt bleiben wird. Buck spricht hier von der »produktiven Bewahrung« (S. 131), die diesen Text auch heute noch relevant macht. Eugen Roths Gedicht »Mahnung« (1966) (Roth 2003, S. 82) beschäftigt sich ebenfalls mit der Seele des Menschen, jedoch aus einer veränderten Perspektive. Das lyrische Ich findet sich nicht geborgen in einer nächtlichen Umgebung, die Harmonie oder Ruhe insinuiert, sondern vielmehr in einer von kapitalistischer Kurzsichtigkeit in Mitleidenschaft gezogenen Umwelt. Die Naturlyrik der 1960er zeichnet sich durch eine zunehmend politische Naturdichtung aus, in der die menschliche Einwirkung auf die Natur in den Vordergrund rückt (vgl. Rothschild 1977, S. 200 ff.). Natur als Rohstoff nimmt eine neue Rolle in der Nachkriegsgesellschaft des Wirtschaftswunders an. Heukenkamp beschreibt die Wechselwirkung zwischen Natur und Gesellschaft in Folge dieser neuen Sichtweise: »Die Verwandlung dessen, was Natur für die Menschen ist, begründet dadurch, dass sie sie praktisch aneignen und damit jene, wie auch sich selbst

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verändern, speist das Thema [Natur] gleichfalls mit neuer Bedeutung.« (1984, S. 116). Roths Gedicht definiert die Verbindung zwischen Mensch und Natur durch ein stetiges Fortschrittsdenken, das sich auf Zahlen und Statistiken konzentriert und dabei die Natur außer Acht lässt. Der Fortschritt basiert auf der Ausnutzung natürlicher Ressourcen, auf Entwässerung und Rodung. Der Wendepunkt des Gedichts ist erreicht, wenn das lyrische Ich seine Mahnung vor der Versteppung der Seele darlegt, die einhergeht mit der Versteppung der Umwelt. Roths Neologismus »Seelen-Schutzgebiet« (V10) verdeutlicht den engen Zusammenhang von Mensch und Natur. Wo wir eigentlich ein Naturschutzgebiet erwarten, um ein bestimmtes Ökosystem oder eine Nische zu schützen, beklagt das Gedicht den Verlust von Seelen-Schutzgebieten an Orten, an denen die menschliche Seele unter Bedrohung steht. Während der erste Teil des Gedichts eine ökologische Mahnung kommuniziert, zeigt der zweite Teil eine tiefgreifende Verbindung zwischen Mensch und Natur, die verdeutlicht, dass das emotionale und psychologische Wohlbefinden des Menschen von seiner Beziehung zur Natur abhängt. Gängige Bilder der Suche nach Geborgenheit und Zuflucht in der Natur werden mit öder Landschaft und ausbeuterischen Menschen kontrastiert. Der Aufruf am Ende des Gedichts mahnt dazu, die untrennbare Verbindung zwischen Mensch und Natur nicht zu übersehen. Margot Scharpenbergs Gedicht »Flußgott« (1957) (Bode 2012, S. 152) erzählt von sich verändernden Lebensbedingungen in einem Fluss, bedingt durch äußere Einwirkungen. Das lyrische Ich erfährt von dem Flussgott, dass er sich um die Zukunft seines Flusses sorgt. Er befürchtet eine Zeit, in der Fischsterben und menschliche Eingriffe sein Ökosystem aus dem Gleichgewicht bringen und er die Herrschaft über seinen Lebensraum verliert. Der erste Teil des Gedichts beschäftigt sich mit den Befürchtungen und der Zukunftsangst des Flussgottes, der zweite Teil zeigt die zunehmende Machtlosigkeit dieses Naturgottes, der mehr und mehr an Einfluss verliert. Das Gedicht endet mit einer auf die Zukunft gerichteten Frage nach der Seele des Wassers: »was aber wird aus den Flüssen / wenn die Seele des Wassers / selber im Wasser ertrinkt« (V19–21). Das lyrische Ich spricht über die Ängste des Flussgottes und stellt Fragen, deren Antworten auf eine bedrohliche Zukunft weisen. Die Verwendung des Präsens und des Futur I lassen den Leser die Unmittelbarkeit spüren und beschreiben eine Situation, die sich in der Gegenwart zu entfalten beginnt und in der Zukunft signifikante Auswirkungen mit sich bringen wird. Scharpenberg benutzt verschiedene Formen von Zeitangaben, um den Kreislauf des Lebens und damit auch den Tod zu thematisieren (vgl. Camfield 1993, S. 6 f.). Zeit und Kreislaufgedanke verbinden sich in diesem Gedicht durch den Fluss. Auf der einen Seite symbolisiert der Fluss sowohl eine unbestimmbar lange Zeit der Existenz des Flusses, gleichzeitig aber auch ein bevorstehendes Ende. Auf der

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anderen Seite wird durch das Bild des Wassers auch der Kreislaufgedanke und die enge Verbindung von Natur und Kultur verdeutlicht. Das Verhältnis von Natur und Mensch leidet an den Kämpfen und Mächten der Menschen (V7), durch die die natürliche Ordnung bedroht und zuletzt zerstört werden kann. Der Fokus der Menschheit ist auf sie selbst, nicht aber auf ihre natürliche Umgebung gerichtet. Auch die Opfergaben der Vergangenheit und auch die ehemalige Achtung vor der Bedeutung des Wassers haben an Relevanz verloren (V8–9). Die Stimme und die Schreie des ertrinkenden Flussgottes finden keine Beachtung bei den Menschen und die Frage nach der Konsequenz des Ertrinkens der Seele des Wassers im Wasser selbst bleibt am Ende des Gedichts offen. Da in diesem Gedicht von der Seele der Natur, d. h. des Wassers und nicht der des Menschen die Rede ist, bietet der Text eine neue Perspektive und regt den Leser dazu an, auf andere Weise über die Natur zu denken.

Überlegungen zu einer kulturökologischen Literaturdidaktik Die folgenden Überlegungen zu einer kulturökologischen Literaturdidaktik umfassen drei ineinandergreifende und überlappende Komponenten, die sich an Zapfs Prinzipien einer kulturellen Ökologie orientieren. Erstens, eine Text – und Kulturraumöffnung, die einen reflektiven, kritischen und kreativen Blick auf die eigene Position und das persönliche Handeln ermöglicht. Zweitens, eine Auseinandersetzung mit dem Text in Bezug auf seine Verhandlungen der Verhältnisse zwischen Mensch, Natur und Kultur und dadurch eine Sensibilisierung für den eigenen Standort und Kulturraum. Drittens, Überlegungen zu Prinzipien des Lernens und Lehrens, die ökologische Analogien aufgreifen und in den Unterricht integrieren.

Verbindungen und Netzwerke: Alles ist mit allem verbunden Eine der wichtigsten und deutlichsten Analogien zwischen der naturwissenschaftlichen und der kulturellen Ökologie besteht in dem Konzept der Verbindung und Vernetzung, das davon ausgeht, dass alles mit allem verbunden ist und Ökosysteme sich durch komplexe und vielfältige Verbindungen erhalten. Die Erfahrung von Natur in der Natur wurde Teil der ökokritischen Pädagogik in den USA und Großbritannien (vgl. Garrard 2007, S. 364 ff.). Problematisch an diesem Ansatz ist vor allem die Kontrastierung von Natur und Kultur, da die Exkursion in die Natur im Kontrast zur Umgebung des Klassenzimmers steht. Natur wird dabei mit Inspiration und Trennung von Zivilisation assoziiert und reflektiert ein romantisches Weltbild. Im Gegensatz dazu integriert John Tall-

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madge (2003) den Unterrichtsraum, die Umgebung und die Natur der Stadt, indem Lerner sich mit ihrer natürlichen und alltäglichen Umgebung auseinandersetzen und deren Verbindungen erkennen. Aus der Perspektive einer kulturökologischen Literaturdidaktik, die das Prinzip der Vernetzung berücksichtigt, werden auf der einen Seite die Verbindungen zwischen Mensch, Kultur und Natur in Texten beachtet. Auf der anderen Seite geht es jedoch auch darum, über die interpersonalen Beziehungen und Vernetzungen und deren Bedeutungen und Konsequenzen im eigenen Kulturraum nachzudenken. Für den Unterrichtsort kann das Konzept des »Sozialklimas«12 ein hilfreiches Konstrukt sein, um tiefergreifende Überlegungen zu der Signifikanz von interpersonalen Beziehungen für das Lernen und den Lernerfolg in Betracht zu ziehen. Weitere Untersuchungen zu Lern-Beziehungen aus Disziplinen wie der Neurowissenschaft und der Psychologischen Pädagogik betonen die Bedeutung von Vertrauen und Emotionen in zwischenmenschlichen Interaktionen (vgl. Hinton u. a. 2008; Op’t Eynde und Turner 2006; Curzon-Hobson 2002) für erfolgreiches Lernen und Lehren. Versteht man das Prinzip der Vernetzung in der Literaturdidaktik in seiner kulturellen Funktion, so nehmen interpersonale Beziehungen und Beziehungen zur Umgebung eine relevante Rolle ein. Goethes romantisches Gedicht beschäftigt sich mit der Natur und ihrem Einfluss auf die Seele des Menschen. Es präsentiert dem Leser jedoch auch einen Menschen, der sich allein in der Natur befindet. Ähnliches gilt für Eichendorffs Gedicht, es setzt sich mit dem Mensch-Natur Verhältnis aus der Perspektive eines (einsamen) lyrischen Ichs auseinander. Im Gegensatz dazu steht sowohl bei Roth als auch bei Scharpenberg der Bezug zur Gesellschaft und ihrem zerstörerischen Einfluss auf die Natur. Während die Frage nach dem Verhältnis von Mensch und Natur traditionell die Auseinandersetzung mit diesen Gedichten bestimmt hat, ist die Fragestellung nach anderen Beziehungen und Abhängigkeiten eine Perspektive, die uns die kulturelle Ökologie eröffnet. In einer kulturökologischen Didaktik fragen wir also sowohl nach den Beziehungen im Text, reflektieren an diesem Text-Ort aber auch über Beziehungen und Abhängigkeiten in unserem Lern- und Kulturraum. Zudem kann ein vernetztes Denken den Unterrichtsraum »Deutsch« durch Projekte oder Programme erweitern und öffnen, um das Konzept der Vernetzung in den Lebensraum der Lerner zu integrieren. Leitfragen in Bezug auf dieses Prinzip umfassen beispielsweise: Wie sieht sich der Lerner im Verhältnis zu seiner menschlichen und außermensch12 Thomas Götz, Anne C. Frenzel und Reinhard Pekrun (2008) verweisen in ihrer Untersuchung des Konzepts auf die vielschichtige Zusammensetzung des sozialen Klimas in der Schule. Interessant ist hier nicht nur die Betrachtung der interpersonalen horizontalen und vertikalen Beziehungen und die verschiedenen Ebenen des Klimas von der Mikroebene des Unterrichtsraum bis zur Makroebene des Bildungsklimas, sondern auch die möglichen Analogien zu einer kulturellen Klima-Ökologie.

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lichen Umgebung? Welche Einflüsse aus diesen Umgebungen kann der Lerner erkennen, wenn über das eigene Handeln und die eigene Position reflektiert wird? Wie verhalten sich Lerner in ihrer schulischen Umgebung und in ihren Interaktionen mit Peers? Sind wir individualistisch oder gesellschaftlich orientiert in unserem Handeln? Wie ist das Verhältnis zwischen Mensch und Natur, sowie zwischen Mensch und Kultur in den Gedichten zu verstehen? Was leistet die Kultur und was der Mensch, und was leistet die Natur in diesen Gedichten? Aus didaktischer Perspektive kann neben einer Sensibilisierung für interpersonale Netzwerke und Verbindungen die Wahl der Methoden zur Texterschließung und Analyse diesen Fragen Nachdruck verleihen. Individuelle Reflexion und Gruppenarbeit mit Aufgaben, die Arbeitsteilung und ein Nachdenken über Vernetzung innerhalb eines Kulturraumes verlangen, entsprechen diesem Prinzip. Zudem kann der Unterrichtsraum geöffnet werden, vor allem in Bezug auf die Gedichte von Roth und Scharpenberg, um beispielsweise über kommunale Aufgaben im Umweltschutz und globale Zusammenhänge zu lernen.13 Das Prinzip der Vernetzung wird also sowohl auf thematischer, wie auf didaktischer Ebene in den Unterricht integriert. Wenn Lerner erfahren und erkennen, dass in ihrer Umgebung alles mit allem verbunden ist, kann Literatur als signifikanter Teil des Ökosystems Kultur funktionieren und gleichzeitig wird die transdisziplinäre Bedeutung von Literatur, wie auch die Relevanz der Auseinandersetzung mit den Texten verdeutlicht.

Nachhaltigkeit: Alle Handlungen haben Effekte Die Brundtland Kommission definiert Nachhaltigkeit durch Handlungen, die weder das Leben gegenwärtiger noch zukünftiger Generationen beeinträchtigen. Die drei Säulen der nachhaltigen Entwicklung beziehen sich auf die ökologische, die ökonomische und die soziale Ebene (vgl. Sterling 2001). Bemerkenswert an der Definition ist nicht nur der Blick auf die Zukunft, sondern vor allem der zugrundeliegende Gedanke, dass Handlungen in der Gegenwart Konsequenzen für andere Menschen oder andere Bereiche (Netzwerke) nach sich ziehen. Garrard weist auf Angst und Schuldgefühle hin, wenn Lerner sich mit Texten auseinandersetzen, die den zerstörerischen Einfluss des Menschen und die weitreichenden Folgen für die Umwelt thematisieren (vgl. Garrard 2007, S. 375). Garrard sieht aktives Lernen, das individuelle Verantwortlichkeit und auch 13 Roths Gedicht wird von einer Vielzahl von Naturschutzorganisationen in ihren Programmen und Informationsmaterialien benutzt, um die Rolle der menschlichen Einflüsse auf die Natur und gleichzeitig die Abhängigkeit zu thematisieren. Hier öffnen sich transdisziplinäre Möglichkeiten für den Literaturunterricht.

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deren Limitationen, thematisiert im Kontext der Kultur, als möglichen Ausweg (vgl. Garrard 2007, S. 375 f). Zusätzlich muss also aus kulturökologischer Perspektive eine nähere Betrachtung der gesellschaftlichen Verhältnisse zur Natur die individuelle Sichtweise begleiten. Das Prinzip der ökologischen Nachhaltigkeit geht davon aus, dass menschliche Handlungen einen (positiven und/oder negativen) Effekt haben und dass auch das Verhältnis von Kultur und Natur unsere Handlungen auf gewisse Weisen beeinflusst. Ein Blick auf die Gedichte verdeutlicht eine unterschiedliche Nähe und Distanz zur Natur. In den Gedichten von Goethe und Eichendorff zeigt das lyrische Ich eine individuelle Nähe zur Natur und die Handlungen des Ichs zeugen von Respekt, sogar Demut, und Anerkennung dessen, was die Natur den Menschen aus emotionaler und psychologischer Sicht bieten kann. Anders gestaltet es sich bei Roth und Scharpenberg, in deren Gedichten die Handlungen der Menschen eine Distanz zur Natur andeuten, die sich unter anderem in dem Selbstbezug der Menschen zeigt. Die Auswirkungen und Nachwirkungen menschlicher Handlungen stehen im Mittelpunkt dieser Texte. Besonders relevant ist dabei, dass nicht nur die Natur in diesen Gedichten unter den zerstörerischen Eingriffen leidet, sondern auch der Mensch Veränderungen in seinem Leben erfährt. Die Effekte der Handlungen, die direkt in die Natur eingreifen, verlagern sich damit indirekt auf die Menschen. Leitfragen in Bezug auf das Prinzip der Nachhaltigkeit umfassen beispielsweise: Wie können Lerner eigene Handlungen und deren Effekte auf ihre menschliche und außermenschliche Umwelt beschreiben? Welche Motivation könnte hinter Handlungen stehen, die in den Gedichten beschrieben werden? Insinuieren die Gedichte das Prinzip der Nachhaltigkeit? Welche Rolle kann Literatur in ihrem kulturellen Kontext in Bezug auf das Prinzip der Nachhaltigkeit einnehmen? Basieren die Handlungen und Attitüden unseres Kulturraumes auf nachhaltigen Denkweisen? Lerner können den Textraum durch eine kreative und kritische Auseinandersetzung mit Fragen wie diesen öffnen und den Text in Bezug auf ihren Kulturraum analysieren. Handlungs- und produktionsorientierte Methoden nehmen hier eine besonders relevante Rolle ein, wenn sich Lerner nicht nur Texte erschließen und sie analysieren, sondern Wege finden, diese Texte auch für andere zugänglich zu machen (individuelle Verantwortlichkeit und Arbeit als Gruppe), beispielsweise durch Ausstellungen oder Kollaborationen mit anderen Institutionen. Die Nachhaltigkeit des Erlernten wird deutlich, wenn Lerner es anwenden, es verändern, darüber kritisch reflektieren oder wenn es eine Bedeutung außerhalb des Unterrichtsraumes annimmt. Durch dieses Konzept und durch das Prinzip der Vernetzung entwickeln Lerner, angeregt durch Literatur, eine Sensibilität und ein besseres Verständnis für ihren Kulturraum und ihre eigene Position. Das Prinzip der Nachhaltigkeit verlangt vernetztes Denken und auch ein Denken, das über die

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Gegenwart hinaus gerichtet ist. Gleiches gilt für eine Didaktik, die das Prinzip der Nachhaltigkeit berücksichtigt: sie denkt langfristig, evaluiert die Effekte ihrer Handlungen und erkennt transdisziplinäre und außerschulische Verbindungen. Sie schafft durch den Text-Ort nachhaltige Verbindungen zwischen dem Unterrichtsraum und dem Lebens- und Kulturraum.

Kreisläufe: Ein dynamisches Gleichgewicht Das Kreislaufprinzip in der Ökologie geht davon aus, dass Energie stets erneuert wird und jede Komponente in einen Kreislauf integriert ist und eine bestimmte Funktion einnimmt. Kreisläufe sind dabei nicht als statisch, d. h. sich in immer gleicher Form wiederholend, sondern als dynamisch zu verstehen und erhalten durch diese Dynamik ein ökologisches Gleichgewicht. Zapf betont die Ausgleichsfunktion von Literatur im kulturellen Ökosystem und impliziert damit auch die sich ständig ändernden Beziehungen in einem Kulturraum. Der m. E. bedeutendste Aspekt für die Didaktik in Bezug auf den Kreislaufgedanken ist Feedback, ein Konzept, das in der Ökologie besonders in Form von Feedback-Loops relevant ist. Feedback-Loops tragen zur dynamischen Erhaltung des Gleichgewichts in einem Ökosystem bei, Feedback hat also mit Austausch und Interaktion zu tun. Im Unterricht gibt es diesen Austausch vor allem in Diskussionen oder auch durch das Schreiben und die Überarbeitung von Aufsätzen in mehreren Entwürfen. Es ist also auch hier ein dynamischer Prozess, in dem Feedback neue Anregungen geben kann und Ideen revidiert werden können. Formatives Feedback durch Kurzevaluationen wie Classroom Assessment Techniques (CATS) (vgl. Angelo 1993), durch langfristig angelegte Portfolios (vgl. Zubizaretta 2009), oder durch Peer-Feedback tragen zur Lern- und Leistungssicherung bei. Grundlegend ist, dass Lerner ebenfalls Rückmeldung zur Leistungsbewertung und zum Lernprozess selbst geben können und dass dieses Feedback in bedeutsamer Weise verarbeitet und wieder in den Unterricht eingebracht wird. Als dynamischer Prozess treibt Feedback den Lernprozess voran, entscheidend dabei ist, dass das Lehren flexibel ist und sich an dem Feedback orientieren kann. Ähnlich wie in Zapfs Analogie zur Ausgleichsfunktion von Literatur können Feedback und dynamische Veränderungen eine didaktische Korrekturfunktion haben. Die Gedichte thematisieren Kreisläufe in Form von Jahres – und Tageszeiten, von Wachstum und Sterben und auch den globalen Kreislauf des Wassers.14 In 14 Eine transdisziplinäre Möglichkeit besteht hier in Übergriffe auf andere Fachbereiche, in denen der Kreislaufgedanke besprochen wird, beispielsweise in Zusammenhang von Biologie, Religion und Literatur.

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Bezug auf Kultur erlauben Begegnungen mit literarischen Texten verschiedene Konflikte und Möglichkeiten historischer und geographischer Kulturkreise zu erarbeiten. Das Prinzip des Kreislaufs veranlasst zum einen dazu Literatur als dynamischen Faktor im Ökosystem Kultur zu verstehen und zum anderen erlaubt dieses Konzept kritische Evaluationen eines Kulturraumes, indem die Positionen verschiedener Gruppen und deren Willen und Möglichkeiten Feedback-Loops zu nutzen, hinterfragt werden können. Gleichzeitig verleiten diese Gedichte zu Fragen in Bezug auf die gesellschaftliche Annahme von Feedback. Welche Formen von Rückmeldung erkennen und erfahren wir durch Literatur (Scharpenbergs Flussgott)? Wenn der Text-Ort einen Raum für literarische und persönliche Rückmeldung bietet, wie kann diese auf den Kulturraum bezogen werden? Wie steht der Kulturraum zum Gedanken eines dynamischen Gleichgewichts — fühlen wir uns wohler mit einer Idee von Stabilität, die nicht auf Veränderungen beruht? Welche Ängste und Befürchtungen in Bezug auf ein Ungleichgewicht oder auf Veränderungen erzeugen und präsentieren die Texte? Feedback kann also sowohl den Unterrichtsraum als auch den Text-Ort und damit den Kulturraum beeinflussen, es trägt zu einem dynamischen Prozess bei, indem es Probleme signalisiert und dadurch Lehr – und Lernprozesse und verschiedene kulturelle Prozesse aufeinander abstimmt.

Fazit Durch Analogien zwischen den Prinzipien der Ökologie, der kulturökologischen Literaturwissenschaft und Überlegungen zu einer kulturökologischen Didaktik können Text-Orte Begegnungen ermöglichen, die dazu beitragen, einen Kulturraum aktiv zu erleben und zu erfahren und diesen auch kritisch zu hinterfragen. Eine kulturökologische Literaturdidaktik betrachtet Texte aus Perspektiven, die Ansatzpunkte für partizipatives und lebenslanges Lernen und Handeln schaffen. Eine solche Literaturdidaktik, die sich mit Texten auseinandersetzt anhand derer Verhältnisse zwischen Mensch, Kultur und Natur verhandelt werden können, eröffnet Text – und Kulturräume, durch die kulturökologische Strukturen im eigenen Leben und Handeln erkannt und evaluiert werden können. Ausgehend von literarischen Texten können Lerner über den kulturellen Standort auf vielschichtige Weise reflektieren und komplexe Vorgänge in ihrem eigenen Kulturraum erfassen.

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›Räume erfahren durch Literatur – Literatur erfahren durch Räume‹ am Beispiel des Konzeptes der Outdoordidaktik

Der Raum als Zusammenspiel von Orten, Ortserwähnungen und damit verbundenen Bedeutungen stellt in der Literatur ein Erzählelement dar, das neben der Figuren-, der Handlungs- und der Zeitanalyse lange Zeit vernachlässigt wurde, aber in der letzten Zeit einen Forschungs-Boom erfährt. Fast monatlich erscheinende literaturwissenschaftliche Sammelbände spiegeln das neu aufkeimende Interesse sowie die Komplexität der Kategorie Raum wider. Die Forschungsthemen reichen mittlerweile von Studien zu speziellen Schauplätzen in unterschiedlichen Textgattungen über die Bedeutung von Raumsymbolik für die Figureninterpretation bis hin zu narratologischen Untersuchungen.1 Dabei wird in der Literaturwissenschaft unter dem Begriff Raum sehr viel Unterschiedliches verstanden, eine innerdisziplinär anerkannte und umfassende Raumtheorie fehlt jedoch (noch). Im Bereich der schulischen Vermittlung von literarischen Räumen im Deutschunterricht zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Dort werden zwar vereinzelt Raumanalysen durchgeführt, allerdings beschränken sich diese oft auf einige wenige Texte wie Fontanes Effi Briest, in denen die Handlungsorte samt ihrer Bedeutung im Unterricht besprochen werden, während es an einem begrifflichen Analyseinterumentarium, einer konkreten, für den Deutschunterricht relevanten Begriffsdefinition und auch methodischen Überlegungen zur Raumvermittlung mangelt. In diesem Bereich besteht folglich ein wichtiges Forschungsdesiderat. Deshalb soll hier versucht werden, einige Aspekte der literaturwissenschaftlichen Raumforschung so für die Schule zusammenzustellen und zu modellieren, dass ein für den Deutschunterricht handhabbares Konzept des literarischen Raumes entsteht. Von diesem aus soll der Bogen zur schulischen Vermittlung geschlagen werden, indem die daraus resultierenden Schlussfolgerungen für den Deutschunterricht in konkrete methodische Überlegungen der Vermittlung münden. Dabei wird die Methode der Outdoordidaktik in den Mittelpunkt gerückt, deren Potenzial darin besteht, Literatur anschaulich, ganzheitlich und außerhalb des 1 Eine kurze Übersicht bietet beispielsweise Dennerlein 2009. S. 1 ff.

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Schulgebäudes zu vermitteln, sodass sowohl die Literatur als auch die Räume erfahrbar werden. Es geht folglich um die Schnittstelle zwischen der Literatur mit ihren fiktionalen Räumen und der gegebenen Lebenswelt mit ihren real auffindbaren Räumen, die miteinander in Beziehung gesetzt werden und aufeinander wirken sollen, sodass bei den Schülern2 ein besseres Textverständnis, aber auch Verständnis der Kategorie Raum entwickelt wird.

Literarische Räume Welch große Bedeutung die Kategorie Raum für den Menschen hat, zeigt sich in der Tatsache, dass sie ein grundlegendes Element zur Wirklichkeitserschließung3 darstellt: Neben und zusammen mit der zeitlichen ist die räumliche Orientierung für die strukturierende Wahrnehmung der Umwelt und die eigene Positionierung in ihr fundamental. Zu unterscheiden, ob akustische oder optische Objekte der Wahrnehmung in Relation zum eigenen Standort innen oder außen, fern oder nah, oben, unten oder seitwärts, rechts oder links, vorne oder hinten situiert sind, zu wissen, ›wie weit man gehen darf‹, um sich oder anderen nicht zu schaden, welche begrenzten Bereiche welche Gefährdung oder Vorteile erwarten lassen, ob sie offen oder geschlossen sind, gehört zu den grundlegenden adaptiven Fähigkeiten, die das Überleben sichern oder das Leben erleichtern. Dem Orientierungsbedarf in ›realen‹ Welten entspricht der in Textwelten. Texte vergeben Informationen dazu und Leser suchen sie. (Anz 2007, S. 118).

Hier klingen bereits die vielfältigen Facetten des Begriffs Raum an. Räume sorgen für Orientierung und Positionierung für Individuum und Gesellschaft, sie sorgen für Struktur. Damit entspricht die Kategorie einem Grundbedürfnis des Menschen. In der Literatur spielen Raumkonzepte eine wichtige Rolle, da Texte auf reale oder fiktive Räume verweisen und auch Handlung und Figuren sich in einem bestimmten Raum bewegen. Dabei reichen die Implikationen des Begriffes Raum in Hinblick auf Literatur weit über das klassische geographische Raumverständnis als einem Ausschnitt der Erdoberfläche (vgl. Tietze 1982, S. 967) hinaus. Einerseits gilt der Raum zwar als »Oberbegriff für die Konzeption, Struktur und Präsentation der Gesamtheit von Objekten wie Schauplätzen, Landschaft, Naturerscheinungen und Gegenständen« (Nünning 2001, S. 536), andererseits ist dieses Begriffsverständnis zu materiell (und damit einseitig) gedacht, sind es doch ebenfalls kulturelle Normen, Kollektivvorstellungen sowie 2 Dieser Ausdruck wird hier stellvertretend für Schülerinnen und Schüler verwendet. 3 Hallet / Neumann 2009, S. 11.

›Räume erfahren durch Literatur – Literatur erfahren durch Räume‹

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individuelle Erfahrungen (vgl. Hallet / Neumann 2009, S. 11), die literarische Räume ausmachen. Diese Referenzen auf die zugrunde liegenden kulturellen Werte und Vorstellungen können direkt bei der Raumdarstellung benannt werden oder sie zeigen sich implizit in semantisch aufgeladenen Orten und Handlungen. Zu den räumlichen Gegebenheiten und ihren kulturellen Bedeutungszuschreibungen tritt des Weiteren das menschliche Erleben dessen, ein so genanntes Raumempfinden. Dieses wird »durch konkrete Vorstellungen einer räumlichen Ausdehnung und Dreidimensionalität hervorgerufen, die wir gemeinhin mit Räumen im Sinne von Zimmern oder Behältnissen, in denen sich etwas befindet, verbinden« (Thiem 2008, S. 25). Voraussetzung für die Konstruktion und das Funktionieren literarischer Räume sind also die subjektiven Vorstellungen des Autors wie des Lesers und deren Kenntnisse und Erfahrungen der realen Welt, welche an die Räume in Literatur herangetragen werden und diese prägen. Folgt man diesem Begriffsverständnis von Raum, wird dieser maßgeblich von drei Aspekten bestimmt, welche hier zu einem Modell des literarischen Raumes zusammengefügt werden sollen. Dieses enthält eine topographisch-physische, eine kulturell-metaphorische und eine kognitiv-emotionale Komponente, die alle drei ineinandergreifen, einander beeinflussen, jedoch immer in unterschiedlicher Beziehung zueinander stehen können. Entsprechend der Raumvorstellung in drei Dimensionen, die (auf der Physik basierend) unsere Wahrnehmung prägt, kann also von einem (mindestens) dreidimensionalen literarischen Raum ausgegangen werden, welcher auch im Folgenden als Ausgangspunkt für die Überlegungen der Vermittlungsmöglichkeiten im Deutschunterricht dienen soll.

Dimensionen literarischer Raumdarstellung Die Darstellungsmöglichkeiten von Räumen in der Literatur sind auf sprachliche Mittel beschränkt, sodass vor allem auf lexikalische Mittel für die Raumdarstellung zurückgegriffen wird. In den Blick der linguistischen sowie der literaturwissenschaftlichen Forschung sind raumreferentielle Ausdrücke zur Bezeichnung des konkreten Raumes in der erzählten Welt gerückt, die nach Dennerlein u. a. Toponymika, Eigennamen, Gattungsbezeichnungen, Deiktika und weitere Konkreta umfassen, während die Ortsangaben deiktisch oder absolut (und dem untergeordnet intrinsisch, topologisch, georeferentiell oder metrisch) sind (vgl. Dennerlein 2009, S. 76 ff.). Darüber hinaus gibt es die Möglichkeit der indirekten Raumerzeugung in Texten, indem beispielsweise durch das Nennen von Handlungen und Gegenständen Inferenzen auf Räume ausgelöst werden, sodass durch Schlussfolgerungen des Lesers der zugehörige

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Raum auch ohne explizite Nennung gedanklich ergänzt werden kann (vgl. Dennerlein 2009, S. 83). Dazu benötigt dieser lediglich Alltagsvorstellungen, die er in den Leseprozess mit einbringt. Auch für die Raumdarstellung lassen sich demnach drei Dimensionen unterscheiden: erstens direkte raumreferentielle Verweise auf fiktive oder reale Räume, zweitens die Verwendung von Ortsangaben zur Positionierung und Etablierung von räumlichen Beziehungen, die auch kulturell aufgeladen sein können, sowie drittens indirekt erzeugte Räume. Dabei ist stets darauf zu achten, »wie der konkrete Raum in der erzählten Welt in Wechselwirkungen aus subjektiven Raumkonzepten, internen und externen Referenzen, Wissen und literarischen Darstellungstechniken entsteht« (Huber / Lubkoll / Martus / Wübben 2012, S. 10).

Schlussfolgerungen für den Deutschunterricht Aus dem oben skizzierten Raumverständnis sowie den Möglichkeiten der Raumdarstellung lassen sich Konsequenzen für den Deutschunterricht ableiten. Zum einen sollte der Bedeutung von literarischen Räumen Rechnung getragen werden, indem dem Raum generell im Deutschunterricht mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Zum anderen darf die Textarbeit nicht von einem zu stark beschränkten Raumbegriff ausgehen und sich nur auf die topographischen Angaben beschränken, sondern sollte den angesprochenen unterschiedlichen Dimensionen von literarischen Räumen und Raumdarstellungen gerecht werden. Dies dürfte allerdings im herkömmlichen Literaturunterricht nicht leicht fallen, da semantische Implikationen sowie das Raumempfinden bei sprachlich hergestellten Räumen zum Teil nur schwer nachvollziehbar sind. So muss der Leser aus den raumreferentiellen Ausdrücken, die im Text zu finden sind, den Raum erst rekonstruieren, indem er vor dem inneren Auge die verschiedenen Puzzleteile zusammensetzt. Der literarische Raum ist besonders bei Natur- und Stadtraumdarstellungen mit spezifischen Milieuschilderungen aufgeladen, denn neben den Handlungselementen vermittelt er die Stimmung sowie Konnotationen von Räumen und Orten, die von nicht bewanderten Lesern nur schwer eingeordnet werden können, aber oft entscheidend die Handlung beeinflussen. Daher ist eine Vorstellung von den narrativ konstruierten Räumen sehr wichtig für die Texterschließung. Aus diesem Grund ist es wünschenswert, bei der Behandlung von Texten im Deutschunterricht die Raumerfahrung aufzuwerten und Literaturund Raumerfahrung ineinander greifen zu lassen. Denn je stärker die Schüler den Raum wahrnehmen, desto mehr können sie sich auf die Literatur und die dort vermittelte Stimmung einlassen und ihr Textverständnis darauf aufbauen.

›Räume erfahren durch Literatur – Literatur erfahren durch Räume‹

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Eine Methode, die genau diesen Ansatzpunkt wählt, ist die Outdoordidaktik. Sie versucht, neben sprachlichen Mitteln auf der Textebene und den damit einhergehenden räumlichen Gegebenheiten die Stimmung und das subjektive Erleben der Leser zu fokussieren, damit alle drei Dimensionen des Raumes berücksichtigt werden können.

Outdoordidaktik als Methode der Raumvermittlung Der Terminus Outdoordidaktik, der vielen Deutschlehrern4 gegenwärtig noch unbekannt sein dürfte, ist 2001 von Jutta Wermke geprägt worden. Er bezeichnet einen Ansatz, der eine anregende neue Form der Literaturvermittlung darstellt und mit dem sich Deutschlehrer und Lehramtsanwärter5 in dem Fach auseinandersetzen sollten (vgl. hierzu und im Folgenden Betz 2012). Der Begriff an sich setzt sich aus den beiden Bestandteilen outdoor und Didaktik zusammen. Das englische Wort outdoor steht für außen bzw. im Freien, während Didaktik die Wissenschaft vom Lehren und Lernen (vgl. Rupp 2001), d. h. der Vermittlung, ist. Erschließt man sich das Konzept Outdoordidaktik rein über die Wortbedeutung, ist darunter folglich die Wissensvermittlung im Freien zu verstehen. Diese Bedeutung lässt auf ein allgemeinpädagogisches Konzept schließen, das dem außerschulischen Lernen ähnlich ist und nicht einem spezifischen Fachbereich zugeordnet werden kann. Konzeptionell handelt es sich bei der Outdoordidaktik jedoch um ein für die Germanistik bzw. Deutschdidaktik entwickeltes Konzept, das methodisch zwar Ähnlichkeiten zum außerschulischen Lernen und zu anderen Disziplinen aufweist, diese Methodik aber mit deutschdidaktischen Fragestellungen und Themen verknüpft.6 Outdoordidaktik meint also, dass die germanistischen Themen außerhalb des Schulgebäudes im Freien vermittelt werden. Bisher wird diese schon von den Reformpädagogen geforderte Vermittlung im Freien im Unterrichtsalltag fast ausschließlich in der Geographie und den Naturwissenschaften angewendet, wohingegen sie in der Deutschdidaktik bis heute kaum aufgegriffen wurde. Dazu zeigt Wermke Möglichkeiten auf, wie diese Vermittlungsform im Freien für die Germanistik fruchtbar gemacht werden kann. Sie selbst hat seit dem Jahr 2001 an der Universität Osnabrück mehrere Projektseminare durchgeführt und 4 Diese Form steht im Folgenden stellvertretend für Lehrerinnen und Lehrer. 5 Diese Form wird für Lehramtsanwärterinnen und Lehramtsanwärter verwendet. 6 Allerdings muss hier die Frage gestellt werden, ob die Wahl des Begriffs Outdoordidaktik sinnvoll ist, da erstens nicht deutlich wird, dass es sich um ein Konzept der Germanistik handelt, und zweitens fraglich ist, ob ausgerechnet für das Fach Deutsch ein englischer Begriff herhalten muss. Denkbar wäre stattdessen eine andere Bezeichnung wie zum Beispiel ›Literaturexkursion‹, die – wenn auch vielleicht weniger attraktiv –unmissverständlich ist.

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damit auf eine kulturelle Vermittlung in der Deutschlehrerausbildung abgezielt (vgl. Wermke 2004, S. 44). Ihr unter dem Begriff Outdoordidaktik zusammengefasstes Konzept sieht vor, außerschulisches Lernen mit ästhetischer Erziehung sowie germanistischen Zielsetzungen zu verbinden, um Primärerfahrungen auch im Bereich der Germanistik zu ermöglichen (ebd.). Sie formuliert die Zielsetzung dieser Seminare folgendermaßen: »Literatur soll in Kontexten des öffentlichen Lebens wahrgenommen bzw. platziert werden« (ebd.). Wermke betont, dass dies an öffentlichen Orten und in Kontexten stattfinden soll, die bewusst »außerhalb des literarischen Zirkels von Buchwesen, Feuilleton, Theater« (ebd., S. 40) und sich oft auch außerhalb geschlossener Räume im Freien befinden. Dabei ist vorgesehen, »von regulären fachdidaktischen Themen der Textproduktion bzw. Textlektüre und -interpretation ausgehend Verbindungen zum regionalen Umfeld zu entdecken oder herzustellen bzw. bereits bestehende Verbindungen einzubeziehen« (ebd., S. 44). Die Studierenden sollen sich im öffentlichen Raum bewegen, eigene Texte verfassen und Spuren hinterlassen, die von gesellschaftlichem Interesse sind. Der besondere Reiz der Konzeption liegt im Schreiben, der Auswahl und der Vermittlung von literarischen Texten in einer Situation, die real anzutreffen ist, ohne dass sie für die Vermittlung präpariert wurde (ebd.). Den Schwerpunkt von Wermkes Outdoordidaktikkonzept bildet demnach das Schreiben vor Ort, welches im Zusammenhang mit dem kreativen Schreiben zu sehen ist und stark von der Situation und dem Raum abhängig und geprägt ist. Mit der Outdoordidaktik wurde von Jutta Wermke somit erstmals ein Konzept entwickelt, das germanistische Inhalte mit öffentlichen Orten verknüpfte und diese für die Textproduktion bzw. Zusammenstellung von Literatur als Literaturpfad nutzte. Allerdings hat Wermke das Konzept der kulturellen Vermittlung durch Literatur schwerpunktmäßig auf die Arbeit mit Studierenden fokussiert. Für Gerhard Rupp hingegen, der sich ebenfalls im Rahmen universitärer Forschung mit Outdoordidaktik beschäftigt, ist die Tragweite dieses Konzeptes größer : Er modifizierte es für die schulische Vermittlung. In Abgrenzung zu Wermkes Verständnis der Outdoordidaktik steht bei seiner Auslegung nicht die literarische Produktion im Mittelpunkt, sondern der Rezeptions- und Verstehensprozess von literarischen Texten, der durch die aufgesuchten Stadt- bzw. Landschaftsräume um eine neue Dimension erweitert wird (vgl. Rupp / Abstiens / Reinsch 2011, S. 336 f.). Grundgedanke bei dieser Konzeption ist, dass »die Rezeption von literarischen Texten in ihren Landschaften und Regionen, […] über die physische Nähe zum Textinhalt zu einem tieferen bzw. anderen literarischen Verstehen an[regt], als es die Lektüre im Klassenraum ermöglicht« (Rupp / Abstiens / Reinsch 2011, S. 336). Denn die Schüler lesen dabei die Texte nicht nur, sie erleben sie auch. Die von Rupp für die schulische Vermittlung modellierte Outdoordidaktik zielt

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somit auf einen individuellen und intensiven Zugang zur Literatur, der wiederum eine Steigerung der Lesemotivation generell bewirken soll und »so einen Beitrag zum Aufbau einer Lesekultur von Schülern leisten« (Rupp / Abstiens / Reinsch 2011, S. 341) kann. Eine Schwierigkeit beim Umgang mit Texten ist, dass diese oft nicht durch oberflächliches Lesen erschlossen werden können, denn »jeder Text ist ein dichtes Gefüge, das im Prozess des Verstehens quasi entwirrt und neu geordnet werden muss« (von der Kammer 2009, S. 6). Die Schüler müssen ihn verstehen, d. h. das gedankliche Konstrukt nachvollziehen, das der Autor zu dem im Text dargestellten »Ausschnitt der Welt« (ebd.) entwickelt hat. Dazu sind gewisse kognitive Anstrengungen notwendig, die sich nach von der Kammer aus der Bedeutung des Wortes verstehen selbst ergeben: Das entsprechende Grundverb ist stehen; wenn jemand steht, befindet er sich an einem festen Platz. Durch das Präfix ver- tritt eine Bedeutungsverschiebung ein, im Sinne von: vorbei, weg, heraus. Wer verstehen will, muss also – dem Wortsinn nach – seine feste Position aufgeben und sich in Richtung auf das, was er gedanklich verarbeiten will, bewegen. (ebd., S. 5)

Das Zitat spielt auf das gedankliche Sich-Einlassen auf den Text und das Suchen eines persönlichen Zugangs an, gleichzeitig kann ein direkter Bezug zu dem Konzept Outdoordidaktik hergestellt werden, das dieses Ver-stehen beim Wort nimmt. Die Bewegungsrichtung und das beschriebene Erspüren von Literatur werden somit als physisches Erlebnis und Aufsuchen von literarischen Orten ausgelegt. Literatur zu vermitteln und damit verbunden Lesekompetenz zu fördern bedeutet deshalb, die Lesesituation der Literatur entsprechend zu wählen, indem zum Beispiel für eine authentische Umgebung gesorgt wird. Dadurch wird sowohl die Leseumgebung verändert als auch der Zugang zur Literatur erleichtert. Um zu gewährleisten, dass die Schüler das Ziel des »eigenständigen Lesen[s] und Verarbeiten[s] von Literatur« (Gössmann 2003, S. 73) erreichen und ihr Textverstehen schulen und verbessern, kann also der Weg des Aufsuchens von Handlungsorten etc. eingeschlagen werden. Erleben die Schüler den Ort, können einige der Leerstellen durch individuelle Assoziationen und Erfahrungen vor Ort mit Leben gefüllt und damit die literarischen Figuren, ihre Handlungen und ihr räumliches Umfeld erschlossen werden. Damit erfahren die Schüler Räume mehrdimensional und verstehen nicht nur die Handlung, sondern können in der Literatur auch »Grundmuster menschlicher Erfahrungen« (Ministerium für Schule und Weiterbildung, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen 2008) kennenlernen und historische sowie aktuelle gesellschaftliche Bedingungen nachvollziehen. Diese neue Form der Literaturerfahrung ermöglicht es, Literatur an Orten zu rezipieren, die mit den Texten in einem Zusammenhang stehen, so dass sich

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Lesen und Erleben des Ortes miteinander verknüpfen. Die Beziehung zwischen Text und Handlungsort kann zum Beispiel darin bestehen, dass an dem besuchten Ort auch die Handlung des Textes spielt und/oder es sich um den Inspirationsort für den Autor handelt. (vgl. Rupp / Abstiens / Reinsch 2011, S. 340) Der Ort wird hier als Mittler zum Raum verstanden, da er stellvertretend für eine Form der Ausprägung von räumlichen Gegebenheiten und kulturellen Implikationen steht, die, mit dem subjektiven Erleben zusammen, den Raum formen. Auf diese Weise bekommen die Schüler außerdem einen emotionalen Zugang zu dem Text und eignen ihn sich ganzheitlich an, denn so gesellt sich »zu der Lektüreerfahrung […] die Naturerfahrung, in deren Zusammenspiel sämtliche Sinne aktiviert werden. Natur ist über Geräusche, Gefühle, Aussichten, Geschmäcker und Gerüche wahrnehmbar« (ebd.). Indem die Schüler also während der Literaturrezeption Geräusche hören sowie sehen, riechen und fühlen, prägt sich der Text stärker ein und das Lesen an sich wird zum Erlebnis. Dies wird erreicht, wenn Klassenzimmer und Schule verlassen und Natur- und Stadträume aufgesucht werden oder, wie von Abstiens formuliert, »der Weg zum Text [und] der Text […] zum Weg« (Abstiens 2008, S. 30) wird. Die Outdoordidaktik ist folglich besonders für den Deutschunterricht und den Kompetenzbereich Lesen – Umgang mit Texten, aber zum Teil auch für den Bereich Schreiben geeignet. Sie kann neben Lesekompetenz und Lesemotivation auch die Wahrnehmung und Vorstellungskraft fördern. Auf diese Weise wird ein Verständnis für die Bedeutung von speziellen Räumen und Orten sowie ihrer kulturellen Aufgeladenheit vermittelt, welche die Atmosphäre beeinflussen und bestimmte Konnotationen auslösen können. Dadurch eröffnen sich den Schülern weitergehende Interpretationsansätze sowie Schreibanlässe, die von der ganzheitlichen Auseinandersetzung mit dem in der Literatur dargestellten Raum profitieren.

Methodische Umsetzung Die Outdoordidaktik bietet vielseitige methodische Zugänge, die Lektüre durch die Raumerfahrung zu ergänzen, sich der Atmosphäre des Raumes bewusst zu werden und diese Erfahrung in die Auseinandersetzung mit dem Text zu integrieren. Dazu sind Methoden notwendig, welche die Schüler aktivieren und dazu beitragen sollen, dass eine sinnvolle Verknüpfung von Literatur und Raum an den besuchten Orten stattfindet. Das methodische Feld, das für die Outdoordidaktik in Frage kommt, ist weit, da verschiedene didaktische Ansätze eingesetzt und nutzbar gemacht werden können. Rupp greift zum Beispiel auf klassische deutschdidaktische Methoden zurück, die er auf einen außerschulischen Natur- oder Stadtraum überträgt. Er möchte die Literaturrezeption und dadurch

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das Nachempfinden von den in der Literatur beschriebenen Handlungen, Räumen und Figuren in den Mittelpunkt gerückt wissen, indem beispielsweise an den Stationen eines Werks die jeweils passende Textstelle vorgelesen wird, eine Textstelle an verschiedenen Orten gelesen wird, um die unterschiedliche Wirkung zu erfahren und zu ermitteln, oder Orte literarisiert werden und in Form eines literarischen Spaziergangs von verschiedenen Texten begleitet und im Anschluss diskutiert werden. Denkbar wäre darüber hinaus, dass ein literarischer Text zu einem Ort ausgewählt wird, der zwar nicht Entstehungs- oder Handlungsort ist, aber dennoch einen Bezug zu diesem hat und deshalb helfen kann, ihn besser zu verstehen. Im Gegensatz dazu sieht Wermke die besuchten Räume vorrangig als Inspirationsquellen für kreatives eigenes Schreiben und das produktive Anfertigen von etwas, das Spuren hinterlässt und bestenfalls eine gesellschaftliche Relevanz besitzt. Sie beruft sich bei ihren methodischen Überlegungen auf das handlungsorientierte Lernen, welches sich als besonders geeignet für die beschriebenen Zielsetzungen erweist, da es sich gut für die Literatur-, aber auch für die Raumvermittlung adaptieren lässt und den experimentell-spielerischen Charakter in der Auseinandersetzung mit der Literatur und dem Raum sowie deren eigener Auslegung unterstreicht. Konstruktivistisch orientierte Methoden, derer sich die aktuelle (geographische) Exkursionsdidaktik bedient, können ebenfalls einen Beitrag zur weiteren methodischen Ausgestaltung der Outdoordidaktik für den schulischen Einsatz leisten, da sie neue Wahrnehmungsmethoden des Raumes eröffnen, die auf den literarischen Raum übertragbar sind. In der Neuen Kulturgeographie wird von einem veränderten Raumverständnis ausgegangen, »Raum und Räumlichkeiten werden nicht mehr länger als objektiv gegeben, sondern immer als hergestellt konzeptionalisiert« (Dickel / Glasze 2009, S. 4) aufgefasst. Aus dieser Weiterentwicklung des Raumbegriffes entstanden für die schulische Vermittlung Methoden, die dem erweiterten Raumkonzept gerecht werden, indem sie durch ihr kommunikatives und reflexives Potenzial eine stärkere Perspektivübernahme, d. h. ein notwendiges affektives Einfühlen in andere Subjekte (vgl. Thierer 2006, S. 234), und eine Diskussionskultur (vgl. Dickel / Glasze 2009, S. 7) von den Schülern verlangen. Als methodische Beispiele für diese subjektzentrierte Exkursionsdidaktik werden unter anderem mental maps, Graphen von Aktionsräumen, das Erstellen von Wahrnehmungskartenskizzen, fiktive Raumwahrnehmungsübungen sowie als dessen Erweiterung Rollenexkursionen genannt. Unter einer mental map versteht Thierer eine »kognitive Karte« (Thierer 2006, S. 237), die aus der Perspektive einer Person einen begrenzten Raumausschnitt wiedergibt. Bei einem Vergleich der jeweiligen mental maps wird der subjektive und unterschiedliche Blickwinkel auf den Raum und damit dessen

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Konstruiertheit offensichtlich (vgl. Thierer 2006, S. 238). Eine ähnliche Intention verfolgen Böing / Sachs mit Graphen von Aktionsräumen. Dabei ist vorgesehen, dass sich die Schüler mit einem Stadtplan in einem bestimmten Bereich der Stadt zunächst frei bewegen. Danach bekommen sie die Aufgabe, ihre persönliche Route zu skizzieren, diese mit drei Adjektiven, die ihrer Meinung nach den Ort beschreiben, zu versehen und im Anschluss die unterschiedlichen Skizzen untereinander zu vergleichen sowie die verschiedenen subjektiven Raumwahrnehmungen zu reflektieren (vgl. Böing / Sachs 2007, S. 39 f.). Die dritte hier ausgewählte Methode zielt auf die Förderung der Multisensorik, indem in eine stumme Karte Gehörtes, Gesehenes oder Gerochenes eingetragen wird, wobei die Schüler sich jeweils nur auf einen Sinn konzentrieren sollen und anschließend ein Vergleich sowie eine Reflexion der Profile erfolgt (vgl. Böing / Sachs 2007, S. 40). Fiktive Raumwahrnehmungsübungen hingegen zielen stärker auf eine Raumwahrnehmung, die nicht der eigenen entspricht und aus der ein bestimmter Raumausschnitt in Hinblick auf eine Fragestellung betrachtet wird (ebd.). Dabei kann beispielsweise untersucht werden, an welchem Ort sich eine bestimmte Personengruppe wohlfühlt oder unwohl fühlt, welche Wirkung der Raum für sie besitzt etc. Die Erweiterung dieser Übung stellt eine Rollenexkursion dar, bei der die Exkursion durchgängig aus einer festgelegten Perspektive heraus erlebt wird und die darüber hinaus die Chance bietet, durch eine szenische Vorstellung »den zu erkundenden Raum als geographische Bühne zu nutzen« (Böing / Sachs 2009, S. 15), Handlungsoptionen zu entwerfen und mehrperspektivisch zu handeln (ebd.). Damit bedient dieses Konzept in besonderem Maße die konstruktivistischen Tendenzen der neueren Exkursionsdidaktik und entspricht dem von Dickel formulierten Leitbild der Mehrperspektivität und Mehrdimensionalität, indem es eine Betrachtung des (geographischen) Raumes aus unterschiedlichen Perspektiven anregt und in Reflexionen darüber dessen Mehrdimensionalität bewusst werden lässt (vgl. Böing / Sachs 2009, S. 17). Dabei verknüpfen die Schüler »Fantasie und tatsächliche Handlungen miteinander. Vorstellungen werden im Raum lokalisiert und reale Räume treiben die Imagination ihrerseits an« (ebd.). Gemeinsam ist der konstruktivistisch orientierten Exkursionsdidaktik und der Outdoordidaktik die Ausrichtung auf die Raumerfahrung. In beiden Disziplinen geht es nicht mehr um eine enge topographische Begriffsdefinition von Räumen, sondern um ein subjektives Raumerlebnis, auch wenn im Bereich der Exkursionsdidaktik geographische Raumkonzepte untersucht werden und bei outdoordidaktischen Projekten literarische Räume im Mittelpunkt stehen. Die Vorstellung von Räumen wurde in der Geographie sowie in der Forschung zu literarischen Räumen um das Wissen ihrer semantischen Aufgeladenheit, Konstruiertheit und Subjektivität erweitert, was auch in den Vermittlungsmethoden zu berücksichtigen ist. Eine Übertragbarkeit der Methoden sollte auf-

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grund der genannten Gemeinsamkeiten – wenn auch teilweise leicht abgewandelt – ohne Probleme möglich sein. Es geht folglich darum, die vielfältigen exkursionsdidaktischen Ansätze so zu verändern und umzusetzen, dass sie eine optimale Raumerfassung gewährleisten, aber darüber hinaus vor allem auch auf die Themen der Texte abgestimmt sind und das Textverstehen unterstützen. Dies kann zum Beispiel durch Rollenexkursionen, in denen der besuchte Raum aus der Sicht einer der Romanfiguren betrachtet werden soll, oder durch von den Schülern gezeichnete Wahrnehmungsskizzen, die den rezipierten literarischen Raum mit dem realen Raum verknüpfen, geschehen. Geht man von diesen Überlegungen bezüglich der outdoordidaktischen Methoden aus, erscheint für die Outdoordidaktik eine Kombination aus klassischem (Vor-)Lesen, d. h. der Rezeption unter freiem Himmel, sowie aus auf Raum und Text abgestimmten handlungsorientierten Analyseverfahren und konstruktivistisch orientierten Methoden sinnvoll. Auf diese Weise kann dessen didaktisches Potenzial für Literatur und Raum am effektivsten genutzt werden. Durch seine methodische Vielfältigkeit kann das Konzept gewährleisten, dass unterschiedliche Lerntypen angesprochen, die Schüler aktiviert und die gesteckten Lernziele erreicht werden. Wie diese methodische Umsetzung der Outdoordidaktik konkret im Deutschunterricht aussehen kann, soll abschließend exemplarisch an dem Roman Neue Vahr Süd von Sven Regener (2004) gezeigt werden.

Praktische Umsetzung Der Roman Neue Vahr Süd eignet sich aufgrund der Thematik vor allem für die Oberstufe, da dort in der Sprache der Jugend Erwachsenwerden und Selbstfindung problematisiert werden. Eine der Textstellen, für die sich eine outdoordidaktische Vermittlung anbietet, sind die ersten Romanseiten (S. 7–12), in denen Frank, der Hauptprotagonist, zunächst durch Bremen fährt und dann im Zentrum der Neuen Vahr, wo er aufgewachsen ist, Gedanken über seine Vergangenheit und Zukunft nachhängt. Um ein Bild von dem Viertel und damit Franks sozialem Hintergrund als Gründe für sein Denken und Handeln zu bekommen, ist der Besuch des Einkaufszentrums Berliner Freiheit als Mittelpunkt des Viertels und Handlungsort besonders interessant. Dazu ist ein Vorgehen entsprechend dem Dreischritt der pre-, while- und post-reading-activities, die häufig im Leseunterricht angewendet werden, geeignet. Als pre-reading-activity sollen die Schüler nach einem Rundgang durch das Einkaufszentrum drei Adjektive aufschreiben, die ihren ersten Eindruck von der Berliner Freiheit und der Neuen Vahr beschreiben. Dadurch müssen sie für ihre Wahrnehmungen angemessene Begriffe finden und eine Auswahl der für sie

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markantesten Merkmale treffen. Im Anschluss daran könnten sich die Schüler untereinander über ihre Begriffswahl austauschen. Für die Lektüre setzt sich die Gruppe auf die Mauer vor dem Bürgerzentrum bei der Berliner Freiheit, auf der sich auch Frank niederlässt, und die Lehrkraft liest die Textstelle vor. Beim zweiten Lesen haben die Schüler die Aufgabe, auf Geräusche, Gerüche und das, was sie sehen zu achten und sich Notizen zu machen. Im Anschluss daran sollen sie in Gruppenarbeit die vor allem im Bewusstseinsstrom verfassten ersten Seiten (S. 7–9) des Romans, die größtenteils nur implizit auf den Raum eingehen, durch die eigenen ganzheitlichen Beobachtungen während der Lektüre ergänzen. Die eigenen Notizen sollen dabei an verschiedenen Stellen in die Gedankengänge Franks einbaut werden oder durch einen Erzähler in den Text einfließen. Diese erweiterte Textstelle setzt voraus, dass sich die Schüler in die Situation hineindenken, eine Auswahl ihrer Eindrücke vor Ort einbringen und dies wiederum stilistisch an den restlichen Text anpassen. Dadurch wird die Textrezeption mit den eigenen Erlebnissen verbunden, der Raum in die Literaturrezeption integriert, und es entsteht im wahrsten Sinne des Wortes eine Symbiose, die das individuelle Verständnis des Textes widerspiegelt. Diese in Gruppenarbeit erstellte Textversion kann danach vor Ort vorgetragen und mit der Gruppe diskutiert werden. Eine solche Aufgabenstellung als Beispiel für eine praktische Umsetzung der Outdoordidaktik veranschaulicht, wie es ermöglicht werden kann, dass sich Schüler mit allen drei Raumebenen auseinandersetzen. Durch die verschiedenen Aufgaben werden sie einerseits zu einer Auseinandersetzung mit den physischen Ort sowie dessen Stimmung angeregt, andererseits entwickeln und reflektieren sie das eigene Raumempfinden. Die Dimensionen literarischer Raumdarstellung werden durch das skizzierte Vorgehen ebenso in die Vermittlung einbezogen, denn die Schüler müssen sich beim Schreiben mit der bereits bestehenden direkten und indirekten Raumdarstellung auseinandersetzen und ihre Eindrücke bezüglich des Raumes auch selbst in Worte fassen.

Fazit Die hier ausgeführten Überlegungen zu der Vermittlung literarischer Räume haben dargelegt, dass der großen Bedeutung der Kategorie Raum für die Literatur nur nachgekommen werden kann, wenn sich das Verständnis von Raum nicht auf räumliche Gegebenheiten und materielle Dinge beschränkt und literarische Räume im Deutschunterricht über eine linguistische Analyse der semantischen Ebene hinaus behandelt werden. Auch die anderen Raumebenen wie die kulturelle Bedeutungszuschreibung und das Raumempfinden als Bestand-

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teile des hier skizzierten dreidimensionalen literarischen Raumkonzepts verdienen Beachtung, da sie für das Grundbedürfnis des Menschen nach Orientierung, nach Positionierung und nach Raumerfahrung unabdingbar sind. Für die Vermittlung dieses Raummodells eignet sich die Outdoordidaktik als Konzept, das sowohl einen analytischen Zugang, als auch emotional-affektives Lernen und die Reflexion des eigenen Raumempfindens vorsieht. Der Kontext literarischer Räume gewinnt so eine wichtige Bedeutung und die Schüler selbst treten in Beziehung zu ihm. Durch eine subjektive, von Perspektivwechseln geprägte Herangehensweise, die auch das Raumempfinden schult, kann ein Raum besser Gestalt annehmen und mit Leben gefüllt werden, da sich verschiedene Sinneseindrücke verbinden und implizite Stimmungen etc. aufgenommen werden können. Dabei wird der Text mit einem konkreten Ort sowie der Stimmung und dem persönlichen Erleben kombiniert und diese fließen in die Auseinandersetzung mit dem Text ein. Für eine weitere methodische Ausgestaltung haben sich – wie der Beitrag gezeigt hat – sowohl analytische und handlungs- und produktionsorientierte Verfahren als auch konstruktivistisch orientierte Methoden als geeignet erwiesen, da sie im Zusammenspiel auf einen subjektiven, ganzheitlichen Zugang abzielen und somit die verschiedenen Facetten von Räumen bewusst machen. Dieser interdisziplinäre Ansatz, welcher klassische literaturdidaktische Methoden mit naturwissenschaftlichen Raumanalyseaufgaben kombiniert, erweitert das Konzept Outdoordidaktik um die subjektive Raumerfahrung und das Wissen um die Konstruiertheit literarischer Räume. Vor allem Methoden der geographischen Exkursionsdidaktik lassen sich (u. a. aufgrund eines ebenfalls in den letzten Jahren erweiterten Raumbegriffs) auf den Literaturunterricht übertragen und können den Literaturunterricht gewinnbringend ergänzen. Die Outdoordidaktik stellt demnach eine Vermittlungsmethode für den Literaturunterricht dar, die Räume und Literatur in ihrer Verschränkung erfahrbar macht und wenigstens in Ansätzen der Komplexität von (literarischen) Räumen gerecht wird. Durch die Präsentation einiger praktischer Umsetzungsmöglichkeiten konnte ihr Potenzial für die Vermittlung literarischer Räume im Deutschunterricht herausgearbeitet werden. Einerseits wurde so exemplarisch gezeigt, wie literaturwissenschaftliche Forschung zu der Kategorie Raum für die schulische Vermittlung modelliert werden kann und dass Outdoordidaktik eine interessante ganzheitliche Methode der Raumvermittlung darstellt, andererseits wurde ebenfalls deutlich, dass sie nicht im Rahmen des schulischen Unterrichts und überall umsetzbar ist. Aus diesem Grund ist es notwendig, weiterhin nach Möglichkeiten zu suchen, wie die breit gefächerte aktuelle Forschung auf die Schule übertragen und in den Deutschunterricht integriert, d. h. eine Didaktik des literarischen Raumes erarbeitet und etabliert werden kann.

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von der Kammer, Marion (2009): Wege zum Text. Sechzehn Unterrichtsmethoden für die Entwicklung der Lesekompetenz. Baltmannsweiler. Wermke, Jutta (2004): »Outdoordidaktik. Kulturelle Vermittlung in der Deutschlehrerausbildung«, in: Deutschunterricht 1, S. 44–50.

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Almut Hille

Westöstliche Konfusionen in einer vernetzten Welt. Reisereportagen von Ilija Trojanow und Matthias Politycki

Einführung »Alles ist mit allem vernetzt.« – Dieses erste Gesetz der Ökologie1 kann, inzwischen kontrovers diskutiert, über den vitalen Debatten eines kultur- und literaturwissenschaftlichen Ecocriticism, der in den 1990er Jahren in den angloamerikanischen Humanities entstanden ist und in jüngerer Zeit als ökologisch orientierte Literaturwissenschaft auch im deutschsprachigen Raum rezipiert wird2, stehen. Kultur und Natur ebenso wie Nähe und Ferne, Lokales und Globales sind – einmal mehr in der entstehenden Weltgesellschaft einer zweiten Moderne3 – nur in engen Wechselwirkungen zueinander zu betrachten. Besonders die Wechselwirkungen zwischen Kultur bzw. Gesellschaft, Mensch und Natur sind jedoch im Zuge der verschiedenen Cultural Turns der letzten Jahrzehnte als Bezugspunkte der Kulturwissenschaften zunehmend aus dem Blickfeld geraten. Infolge des Linguistic Turn dominiert in den Kulturwissenschaften die Untersuchung sprachlicher Zeichen, an deren Stelle (wieder) ein verstärkter »Weltbezug« treten müsse – so das Plädoyer von Doris Bachmann-Medick in der jüngsten Auflage ihrer Studie Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften (2009, S. 384). Als eine gegenwärtige Funktion der Kulturwissenschaften bezeichnet Bachmann-Medick auch ein Suchen nach (Übersetzungs-)Begriffen und Konzepten, mit denen die Kulturwissenschaften das (auch von ihnen selbst) Verdrängte wieder einholen können und mit denen sie sich in Aushandlungsbeziehungen mit den Sozial- und Naturwissenschaften ebenso hineinbegeben wie in Auseinandersetzung mit den Wirklichkeitsverhältnissen selbst. (Bachmann-Medick 2009, S. 384) Es sind die soziale und die natürliche Umwelt des Menschen, die sein Leben 1 »The first law of Ecology : Everything is connected to everything else« (Barry Commoner zit. nach Rueckert 1996, S. 108). 2 Vgl. gewissermaßen als Auftakt der Debatte Hofer (2007). 3 Ich beziehe mich hier auf die von Niklas Luhmann bzw. Ulrich Beck geprägten Begriffe.

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bzw. seine ›Wirklichkeitsverhältnisse‹ bestimmen und gleichzeitig von ihm geprägt werden. Das Verhältnis von Mensch und Natur bzw. von Kultur und Natur ist nur als stete Wechselwirkung, und auf der Metaebene betrachtet, als Vernetzung ›von allem mit allem‹ zu denken. Insofern wäre die Ökologie – verstanden in ihrer frühen Definition als Wissenschaft von der Gesamtheit und dem Zusammenhang aller Dinge und Systeme (vgl. Hofer 2007, S. 56), nicht in ihrer seit den 1970er Jahren zunehmend populären, engeren Definition als Umweltschutz oder Ressourcenschonung – als übergeordnetes Bezugssystem der Kultur- und Literaturwissenschaften aufzufassen. Eine ökologisch orientierte Literatur bzw. Literaturwissenschaft ist diesem Paradigma verpflichtet. Sie stellt Zusammenhänge (wieder) her, die aus dem Blick geraten (waren), und positioniert sich damit einerseits gegen die naturwissenschaftliche Vorstellung einer Welt der Objekte außerhalb, die dem Wissen und Handeln des Subjekts Mensch zur freien und unproblematischen Verfügung steht; andererseits gegen die poststrukturalistische Vorstellung einer Natur, die nur sozial oder linguistisch konstruiert ist und den Menschen derart auch zu wenig verpflichtet. (Hofer 2007, S. 53) In der aktuellen deutschsprachigen Literatur erfolgt das (Wieder-) Herstellen von Zusammenhängen vielfach im Genre der Reiseliteratur : des Reiseromans, der Reisereportagen und -berichte. Während Peter J. Brenner dem Reisebericht vor einigen Jahren noch attestierte, »als eigene Gattung in der Gegenwart weitgehend abgedankt und seine Funktion an andere Darstellungsmedien abgetreten« zu haben (Brenner 1989, S. 11 f.), belegt eine Vielzahl von Publikationen in den letzten Jahren die Vitalität des Genres. Reisereportagen wie die von Ilija Trojanow in seinem Band Der entfesselte Globus sind dabei explizit einem ökologischen bzw. holistischen Paradigma verpflichtet. In der Reportage Die Abschaffung der Armut. Bombay. 1998–2003 etwa notiert Trojanow mit Blick auf die Einfahrt zum Royal Palms Golf and Country Club: Hohe Mauern sollen menschliche Not und ökologische Zerstörung draußen halten, aber keine soziale Ordnung kann langfristig im Konflikt mit den Interessen der großen Mehrheit bestehen bleiben. Und es kann kein Umweltschutz betrieben werden ohne eine holistische Vision, die das Leben aller berücksichtigt und die in Gemeinschaft investiert anstatt in Sicherheit. (Trojanow 2010, S. 73)

Diese Zeilen sind ein Plädoyer für eine globale und soziale Gerechtigkeit, die nur in der Balance zwischen gemeinschaftlicher sozialer Orientierung und gerechter, nachhaltiger Nutzung natürlicher Ressourcen entstehen kann. Ausgewählte Reportagen Trojanows sowie ebenfalls als Reportagen gelesene Auszüge aus dem Buch In 180 Tagen um die Welt. Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl von Matthias Politycki werden nachfolgend im Kontext jüngerer Forschungen zu einer global und ökologisch orientierten Literatur betrachtet. Ihre Lektüren im Unterricht sollten einem ökologischen Paradigma verpflichtet

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sein. Deren Zielsetzungen können wiederum im Rahmen eines Konzepts globalen Lernens verankert werden.

Eine global und ökologisch orientierte Literatur Die Merkmale einer global und ökologisch orientierten Literatur, wie sie im Folgenden genannt wird, sind zusammenfassend aus den bisherigen Überlegungen zu einer ökologisch orientierten Literatur(wissenschaft) und einer Literatur der Globalisierung oder des Globalen4 bzw. aus kultur- und literaturwissenschaftlichen Überlegungen zum Verhältnis von Literatur und Globalisierung zu gewinnen.5 In seinem Studienbuch Literaturen und Kulturen des Globalen postuliert Ulfried Reichardt, dass »die Basis jeder Überlegung zur Globalität der Rekurs auf die Erdkugel und die mit ihr verbundenen natürlichen organischen wie anorganischen Prozesse« ist und dass das, was »heute unter dem Begriff der Ökologie verhandelt wird, also die grundlegende Abhängigkeit auch des Menschen von natürlichen Prozessen, in die er handelnd wie erleidend verwickelt ist, […] insofern den wichtigsten Bereich des Globalen« bildet (Reichardt 2010, S. 221). Dass er selbst ›das Globale‹ bzw. ›die Globalität‹ nicht mit Fragen der Ökologie verbindet, sondern sie erst auf einer der letzten Seiten seines Buches erwähnt, begründet er damit, dass die Ökologie eine eigene Darstellung erfordern würde (vgl. Reichardt 2010, S. 221). Es ist allerdings notwendig, die Vernetzungen zwischen Menschen und ihren natürlichen und sozialen Umgebungen, in die sie als deren Teile eingebettet sind, unter einem ökologischen Paradigma zu betrachten. Insofern möchte ich den Begriff einer global und ökologisch orientierten Literatur vorschlagen. Ihre Merkmale umfassen: (1) eine Vernetzung von Nähe und Ferne, Lokalem und Globalem, von Natur und Kultur, von Ungleichzeitigem und Gleichzeitigem; (2) ein Erwägen der Umkehrbarkeit vermeintlicher Entwicklungsprozesse beispielsweise anhand des Denkmodells des Anthropozäns; (3) eine prozessuale Offenheit als Diskursivierung, poetische Simulierung und 4 Vgl. etwa Reichardt (2010), für den eine Literatur des Globalen »im weitesten Sinne Texte [umfasst], die wie Humboldts Kosmos die gesamte Welt zu beschreiben suchen, ebenso Texte, die konkrete Erscheinungsformen des Globalisierungsprozesses der letzten 500 Jahre darstellen, und schließlich – als sicher häufigste Variante – Texte, die Schnittpunkte des Aufeinandertreffens von Menschen, Kulturen und Vorstellungsformen aus den verschiedensten Teilen der Erde darstellen« (ebd., S. 162). Reichardts Konzeption wird allerdings widersprüchlich, wenn er unmittelbar auf diese Definition folgend eine Literatur des Globalen bzw. eine neue Weltliteratur abgrenzt von einer Literatur der Globalisierung und einer ›weltenschaffenden und weltenbeschreibenden Literatur‹ (vgl. ebd., S. 163). 5 Vgl. v. a. Schmeling / Schmitz-Emans / Walstra ( 2000) und Amann / Mein / Parr (2010).

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Beobachtung sich kontinuierlich verändernder Zugänge zu einer sich stets verändernden Welt (vgl. Pontzen 2010, S. 226); (4) ein gesellschaftliches Engagement bzw. eine Verteidigung ästhetischer, ethischer und individueller Werte gegenüber ökonomischem Zweckdenken.6 Eine global und ökologisch orientierte Literatur ist mit ihrer Poetik, ihren Formen und Thematiken Teil eines Diskurses um Phänomene wie Vernetzung und Entgrenzung, Nichtlinearität und Prozessualität von Entwicklungen. Das Genre des engagierten Gesellschaftsromans wird mit ihr wieder belebt, wie Wilhelm Amann mit Blick auf den Roman Die Habenichtse von Katharina Hacker feststellt (vgl. Amann in Amann et al. 2010, S. 212). Eine global und ökologisch orientierte Literatur ›beobachtet‹ – vorzugsweise anhand verschieden motivierter und gestalteter Reisen – den Menschen in seinen natürlichen und sozialen Umgebungen7 auf vielschichtige und multiperspektivische Weise. Die Natur wird in ihrem Eigenwert und in ihrer Bedeutung für den Menschen, der gleichzeitig Bestandteil des Ökosystems ist, wahrgenommen.8

Der entfesselte Globus – Reportagen von Ilija Trojanow Reportagen (frz. = Berichte, Berichterstattungen) sind kurze, berichtende Texte über aktuelle Ereignisse oder Erlebnisse auf der Grundlage von eigenen Beobachtungen, Eindrücken, Erlebnissen, Recherchen oder Gesprächen ihrer Verfasser, deren subjektiven Perspektiven sie verpflichtet sind.9 Nach Gregor Streim ist »die Reportage – die die Mobilität des Berichterstatters voraussetzt und traditionell der Übermittlung des Neuen und Fremden dient – […] ein genuines 6 Vgl. insgesamt Schmeling / Schmitz-Emans / Walstra (2000) und Hofer (2007). Zur Herleitung des Begriffs einer global und ökologisch orientierten Literatur vgl. auch Hille (2013). 7 Das Sich-selbst-beim-Beobachten-zu-Beobachten wird unter Rückgriff auf die ›Beobachtungsfunktion‹ von Literatur als ein Paradigma des ökologischen Schreibens entwickelt (vgl. Hofer 2007, S. 265). 8 Zu Paradigmen der Wahrnehmung von Natur vgl. in naturphilosophischer Perspektive Kather (2012). Zur Definition des Ökosystems: »Der Begriff des Ökosystems wurde 1935 von dem britischen Biologen und Geobotaniker Arthur G. Tansley in die Ökologie eingeführt. Es umfasst die Gesamtheit der Lebewesen und ihre unbelebte Umwelt, den Lebensraum, das Biotop, in seinen Wechselbeziehungen. […] Das umfassendste Ökosystem auf diesem Planeten ist die Biosphäre, die die Erde umspannt« (vgl. ebd., S. 155). 9 Zur weiteren Definition vgl.: Reportagen sind Augenzeugenberichte aus der unmittelbaren Situation und Atmosphäre vor Ort heraus, gekennzeichnet einerseits durch ihre große Nähe zur vermeintlich objektiven und dokumentarisch nachprüfbaren Wirklichkeit (von Wilpert 2001, S. 681) und andererseits durch narrative Verfahren, rhetorische Elemente und persönliche Stilmerkmale des Reporters (Metzler Lexikon Literatur (2007), S. 647).

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Medium im Globalisierungskontext.« Als Skizzen und Studien des Globalisierungsprozesses (Streim 2010, S. 74) sind Trojanows Reportagen einem ökologischen bzw. holistischen Paradigma verpflichtet. Die Vernetzung von Nähe und Ferne, von Lokalem und Globalem, von Natur und Kultur wie von Ungleichzeitigem und Gleichzeitigem wird in den beiden im Folgenden näher betrachteten Reportagen Szenen aus der Savanne der Jugend. Nairobi 1981–1984 und Der Mensch und sein Wild. Der schwierige Umgang mit den letzten wilden Tieren. Simbabwe. Herbst 1994 evident. In Szenen aus der Savanne der Jugend wird die Natur während ungezählter Fahrten zur deutschen Schule in Nairobi aus dem Busfenster und insofern nur mittelbar beobachtet; anfangs wird sie nur schlaglichtartig wahrgenommen: Lavington Green. Passion Fruit. Riverside Drive. Pineapple. Westlands. Mango. Der Morgen kalt auf hoher Ebene. Spring Valley […] Nairobi riecht nach Jacarandablüten. Der Baum, der in der Trockenheit erblüht. […] Bougainvillabüsche wuchern farbenprächtig. […] Akazien, breit gefächert. (Trojanow 2010, S. 11 f.).

Die Schlagworte kennzeichnen die ›Exotik‹, wohl auch das Idyllische der ›anderen‹ Landschaft Kenias, durch die die Schüler10 der deutschen Schule jeden Tag hindurch fahren, mit der sie aber kaum in Berührung kommen. Sie erscheinen, wie Streim es mit Blick auf den Protagonisten von Trojanows Roman Der Weltensammler, Richard Burton, formuliert, als »Vertreter einer neuen privilegierten Schicht kosmopolitischer Bewohner der globalisierten Welt« (Streim 2010, S. 87), die ›überall und nirgends‹ zu Hause sind. Das Aufwachsen an verschiedenen Orten, die damit einhergehende Verunsicherung eigener Identitäten und Auflösung eindeutiger Identitätszuschreibungen werden von ihnen – spätestens im Rückblick der inzwischen Erwachsenen – als Gewinn interpretiert. Sie feiern die Uneindeutigkeit der eigenen Herkunft und das Gemisch der Sprachen, in dem sie sich in einer für andere unverständlich bleibenden Weise verständigen, worin einmal mehr die Exklusivität ihres Spiels mit Identitäten zum Ausdruck kommt (vgl. Trojanow 2010, S. 16 f.; vgl. Streim 2010, S. 80–82; S. 88). Im Rückblick sind sie sicher : Was ihnen geblieben ist von der Schulzeit, ist gelebte Vielfalt. Das Aufwachsen in mehreren Sprachen. Die selbstverständliche Existenz des Anderen. Der umgekehrte Blick auf vermeintliche Wahrheiten. Die Erfahrung, dass man mehrere Heimate (›Plural selten‹, sagt Brockhaus Wahrig) und eine dynamische Identität besitzen kann. (Trojanow 2010, S. 16) Auf diese Weise sehen sie sich gewappnet für das Leben in der globalen Moderne: »Ein weiter Horizont und eine kulturelle Kompetenz sind halt nützlicher als das Beherrschen der Differentialrechnung« (Trojanow 2010, 10 Es werden im Folgenden Bezeichnungen wie ›Schüler‹ verwendet; Schülerinnen und Schüler sind gemeint.

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S. 16). Man kann anhand dieser Zeilen mögliche Zielsetzungen heutiger Bildung reflektieren. Der Text bietet eine Grundlage, im Unterricht gemeinsam mit den Lernenden die Ziele und den erwarteten späteren Nutzen des in der Schule vermittelten Wissens und vermittelter Kompetenzen produktiv zu hinterfragen. Den Schülern der deutschen Schule in Nairobi zeigt erst der Tag eines versuchten Staatsstreichs, dass der Firnis der ›kosmopolitischen Idylle‹, in der sie sich bewegen und in der sie der ›exotischen‹ Natur wie auch der ›anderen‹ Kultur hauptsächlich den Status einer Dekoration zumessen, »jederzeit aufreißen konnte« (Trojanow 2010, S. 12). Es war der Tag, an dem »im Radio Marschmusik lief, als geschossen wurde in der Innenstadt und am Flughafen, als in Vierteln, die wir nie besuchten, Grauenhaftes geschah, als die Menschen, die wir Banyanis nannten, ausgeplündert und […] vergewaltigt wurden« (Trojanow, S. 12). Die Gewalt dringt jäh in den Alltag ein. Gesellschaftliche bzw. geschichtliche Prozesse erweisen sich als nicht-linear, Umstürze und mit ihnen gewaltsame Umbrüche in den Lebensentwürfen der Menschen, die Ermordung einer Vielzahl von Menschen erscheinen jederzeit möglich. Das Leben der Schüler, mit dem Leben der Einheimischen nur in engen Funktionszuweisungen vernetzt, scheint davon ausgenommen. Mr. Shah, der Fahrer des Schulbusses, zum Beispiel wird von ihnen nur in dieser Funktion wahrgenommen (vgl. Trojanow 2010, S. 12). Nach dem Tag des Staatsstreiches könnte sich dies ändern, doch Mr. Shah, der wohl selbst einen Teil seiner Familie verloren hat, »verstummte hinter seinem Lenkrad« (Trojanow 2010, S. 12). Er nimmt sich nicht das Wort, und da die Schüler nicht wagen, ihn anzusprechen (vgl. Trojanow 2010, S. 12), geht seine Stimme und mit ihr die Vielstimmigkeit des Alltags in Nairobi verloren. Auch der ›Reporter‹ – zu jener Zeit wohlbehütet in einer »heckenbewehrten Jugend« im »Ghetto« – begreift erst Jahrzehnte später, wie ein Kenianer, der Busfahrer oder der Sänger der Schulband, sich »gefürchtet haben muß vor […] den vielen gaffenden weißen Gesichtern, die in seinem Land leben, ohne wirklich anwesend zu sein.« (Trojanow 2010, S. 13). Eine Begegnung zwischen denen, die zur gleichen Zeit in Nairobi ›ungleichzeitige‹ Leben führen, findet kaum statt, selbst wenn die Schüler ihre ›Abwesenheit‹ von ihrer Umgebung mitunter als Defizit reflektieren und zu korrigieren suchen. So weigern sie sich, die deutsche Nationalhymne in der Schule als ›ihre‹ Hymne zu singen – leben sie doch in Kenia und sind außerdem Engländerin, Österreicherin, Ghanaerin, Kenya Cowboy oder Deutscher (vgl. Trojanow 2010, S. 11 f.). Die kenianische Hymne auf Kisuaheli kann allerdings auch nur die Hälfte der Klasse singen (vgl. Trojanow 2010, S. 12): »Inversionen allenthalben. Und Unsicherheiten« (Trojanow, S. 14). Der Schulstoff – die Weimarer Republik oder »Homo Faber« – scheint aus der Zeit gefallen (vgl. Trojanow 2010, S. 11) und auch »der Faschismus aus den Schulbüchern [ist] schon ein halbes Jahrhundert alt«, während »Tote über Tote, draußen vor der Hecke« liegen (Trojanow 2010, S. 14). Erst die Lektüre des

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Werkes eines kenianischen Autors – Going Down River Road von Meja Mwangi – wird zur »Offenbarung. Es gibt ein Leben, das weit über Runda Estate, Parklands Club, Wilson Airport und Diani Beach hinausreicht« (Trojanow 2010, S. 14). Die Natur wird anschließend zu einer Möglichkeit, dieses andere Leben über seine Beobachtung in der Literatur hinaus ›real‹ zu entdecken: Ausflüge in Nationalparks, ein Aufstieg zum Mount Kenia, aber auch das Hineinfahren in eine Dürre werden zu Schlüsselerfahrungen der Schüler. Sie spüren die »unvergeßliche Trauer von ausgetrockneten Flüssen«, angesichts der hungernden Menschen aber auch ihr »Entsetzen über die ausgemergelten Gestalten« (Trojanow 2010, S. 15). Einer Natur, die sie nicht mehr ernähren kann, sind die Bewohner hilflos ausgeliefert. Verändert wurde die Natur von Menschen wie dem Namensgeber der deutschen Schule in Nairobi, Michael Grzimek: »Frankfurter Zoologische Gesellschaft, Tiere Tiere Tiere, Zählungen, und Einheimische, die deswegen das Paradies verlassen mußten. Safari, ursprünglich eine Reise des Menschen, in Ostafrika: seine Reise zu den Tieren« (Trojanow 2010, S. 15). Die Reise des europäischen Menschen zu den Tieren, den wilden Tieren Afrikas, wird in der Reportage Der Mensch und sein Wild in der historischen Dimension von Schuld und möglicher Wiedergutmachung erzählt.11 Die Entfremdung des (europäischen) Menschen von der (wilden) Natur, die er auch in Afrika zu zähmen sucht(e), wird bereits mit dem ersten Satz der Reportage festgeschrieben: »Im Alltag hat der gemeine Europäer kaum etwas mit wilden (Säuge-)Tieren zu tun« (Trojanow 2010, S. 33). Es seien eher Katzen und Hunde, mit denen er sich umgebe; im Winter füttere er zusätzlich die Vögel oder überfahre mitunter ein Wildtier auf einer Landstraße (vgl. Trojanow 2010, S. 33). Mit der Notwendigkeit zum Jagen sei dem Europäer eine der »natürlichsten Lebensbeschäftigungen« abhanden gekommen, deren Verlust er nun abends vor dem Fernseher, »nach getaner zivilisatorischer Arbeit«, mit dem Betrachten von Naturdokumentationen zu kompensieren suche (vgl. Trojanow 2010, S. 33). Die Rezeptionsweisen und -voraussetzungen von Naturdokumentationen, die seit einigen Jahren sehr erfolgreich zu besten Sendezeiten im Fernsehen oder auch im Kino gezeigt werden, kann man ebenfalls im Unterricht reflektieren. Besonders Afrika erscheine in diesen Dokumentationen, so Trojanow, als eines der letzten (Natur-)Paradiese. Auf Reisen und Safaris könne man ihm noch auf unmittelbare Weise nahekommen. Wie die vermeintlich natürlichen Paradiese entstehen und gepflegt werden, zeigt die Reportage anhand der Save River Conservancy. Es ist der Enkel eines früheren britischen Kolonisators – welcher 11 Über das Bild der Savanne, mit dem zumeist wohl in einer Staubwolke über das Land jagende große Tierherden assoziiert werden, wären beide der hier betrachteten Reportagen im Unterricht zu verbinden, wobei ein Titel wie Szenen aus der Savanne der Jugend sicher einer ausführlicheren Reflexion bedarf.

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zugunsten der Viehzucht alle wilden Tiere ausrottete und die Einheimischen, nach zwei gewonnenen Kolonialkriegen, »kurzerhand […] versklavt[e]« (Trojanow 2010, S. 33) –, der das Land wieder in den Zustand zurück versetzen möchte, »in dem sein Großvater es vorgefunden hat« (Trojanow 2010, S. 34). Als Vorbild für die neu zu gewinnende »respektbestimmte Beziehung zur Umwelt« dient (ihm) das Volk der Shangani, das am Rande eines nahen Nationalparks12 seit Generationen »in komplementärer Einheit« mit einer Natur lebt, die als Lebensgrundlage des Menschen verstanden wird (vgl. Trojanow 2010, S. 34). Fungiert eine von außen betrachtete ›afrikanische‹ Natur in Szenen aus der Savanne der Jugend noch vorrangig als Metapher der ›anderen‹ Kultur, so besitzt sie hier für eine immer größere Zahl der gleichzeitig in ihr Lebenden einen Eigenwert als Grundlage menschlicher Kultur. Der Text wird in verschiedenen Stimmen und Perspektiven erzählt, sie können in den Unterrichtslektüren erarbeitet werden. So erklärt Baba Mhlanga, dass sein Volk ohne die wilden Tiere keine Lebensgrundlage hätte, dass es sie deshalb schont und ihr Leben respektiert (vgl. Trojanow 2010, S. 34 f.).13 Ebenso wie Baba Mhlanga definiert Ann Whitall, die Frau jenes Enkels Roger Whitall, der die durch Menschen wie seinen Großvater zerstörte Balance der Natur wieder herstellen möchte, das Verhältnis des Menschen zu Tieren. Gemeinsam mit ihrem Mann widmet sie sich der Aufzucht und dem Aussetzen von Wildtieren und unternimmt auch so spektakuläre Aktionen wie den Transport ganzer Elefantenherden aus anderen Schutzgebieten in die Save River Conservancy (vgl. Trojanow 2010, S. 38). Ohne solche Bemühungen des Menschen wäre eine Erhaltung bzw. Wiederherstellung der ›Natur‹ nicht möglich: »Wenn man einmal in die Natur eingegriffen hat, gibt es kein Zurück« (Trojanow 2010, S. 36). Zur Errichtung von Wildparks bzw. Nationalparks, die natürliche Gegebenheiten heute schonen können, setzen Menschen wie die Whitalls auf die Zusammenarbeit mit den Bewohnern der umliegenden Dörfer. Deren Lebensweise im Einklang mit den Tieren wird zum Vorbild neuer Nutzungsmöglichkeiten der Natur. Gemeinsame Einnahmen für alle speisen sich aus einem ›sanften‹ Tourismus und der Jagd, die über Abschussquoten allerdings strenger reglementiert ist als etwa zu Zeiten Theodore Roosevelts, von dem es heißt, dass er – zu Hause 12 Die Idee eines Nationalparks als »großräumiges Gebiet, in dem die Natur möglichst vollständig vor Eingriffen, kommerziellen Interessen und technischen Veränderungen geschützt ist«, entstand in den USA zum Schutz landschaftlicher Gebiete vor ökonomischer Nutzung: 1872 wurde der Yellowstone Nationalpark als erster der Welt gegründet, 1890 folgten der Sequoia- und der Yosemite Nationalpark. 1909 entstand in Schweden der erste europäische Nationalpark, 1970 im Bayerischen Wald der erste deutsche Nationalpark (vgl. auch Kather 2012, S. 232 f.). 13 Vgl. hier auch Johann Gottfried Herders Auffassung von der Verwandtschaft zwischen Menschen und Tieren in seiner Schrift Über den Ursprung der Sprache (1772).

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als Schirmherr von Nationalparks gefeiert (vgl. Kather 2012, S. 233) – in Afrika »aus einem dahintuckernden Zug wahllos in die Herden der Savanne [schoß]« (Trojanow 2010, S. 40). Die seit dem 19. Jahrhundert entwickelte Idee von Wildbzw. Nationalparks, nach der die Menschen in dem betreffenden Gebiet im Einklang mit der Natur leben14, wird hier umgesetzt. Sie steht im Gegensatz etwa zu den Überzeugungen Bernhard Grzimeks15, der einen Nationalpark als »ursprüngliche Wildnis« definierte, in der »kein Mensch, auch kein Eingeborener« leben darf, in der aber eine touristische Infrastruktur entstand, die die Natur schädigte, ohne die nun an ihrem ›Rand‹ lebenden Menschen ernähren zu können (vgl. Trojanow 2010, S. 41). Baba Mhlanga sieht in den Bemühungen der Whitalls und den neuen (Schutz-)Maßnahmen der Regierung nur Festlegungen, an die sein Volk sich schon immer gehalten hat. Durch neue Vernetzungen und gemeinsames Handeln bieten sich aber auch ihm und seinem Volk neue Möglichkeiten: Töteten sie vorher nur ein Tier zum Eigenverzehr, können sie nun ein zusätzliches Tier, von einem professionellen Jäger und dessen Kunden erlegt, verkaufen und von dem Geld zum Beispiel eine Schule bauen (vgl. Trojanow 2010, S. 42). ›Zurück zur Natur‹ heißt also, wie der stellvertretende Rektor der Schule, Mr. Masongo, berichtet, keineswegs zurück zu einem Unterricht mit Sitzplätzen im Gras vor dem Stamm eines Fomotsibaumes (vgl. Trojanow 2010, S. 39), sondern zurück zu einem Leben im Einklang mit der Natur, die man – zum wechselseitigen Nutzen – schützt und pflegt. Der Zustand, in dem die Natur einst war, wird nicht wieder entstehen. Ein solches statisches Naturverständnis wäre aber auch, nicht zuletzt in der Naturphilosophie, kaum noch aktuell (vgl. auch Kather 2012, S. 234). Alles ist in steter Veränderung begriffen, selbstverständlich auch die Natur, die sich in ihrer Eigendynamik und im Einklang mit dem Menschen als Teil des Ökosystems weiter entwickelt. Die Reportage Der Mensch und sein Wild ist geprägt von einem engagierten Blick auf den Widerstand gegen die (immer weiter) fortschreitende Zerstörung der Natur als Lebensraum des Menschen. Die Natur ist Bedingung jeglicher Möglichkeit von Kultur – diese Einsicht, die eine Umkehr gewohnter Perspektiven darstellt (vgl. auch Kather 2012, 236 f.), spricht aus Trojanows polyphonem Text und sollte in dessen Lektüren erarbeitet werden. Die Reportage ist ein Plädoyer für ein glokales16 Miteinander von Natur und Menschen verschiedener ›Kulturen‹, während in Szenen aus der Savanne der Jugend eine affirmativ auf14 Zum Konzept eines Wild- bzw. Nationalparks vgl. auch Kather (2012, S. 233 f.). 15 Es ist nicht erkennbar, ob hier nicht evtl. dieselbe Person gemeint ist, die als Michael Grzimek in Die Savanne der Jugend als Namensgeber der deutschen Schule in Nairobi genannt wurde (vgl. Trojanow 2010, S. 15). 16 Die Wortschöpfung ›glokal‹ geht auf R. Robertson (1992) zurück und kennzeichnet das permanente und systematische Zusammenspiel globaler und lokaler Faktoren in der sich herausbildenden Weltgesellschaft.

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gefasste Mobilität (einzelner Privilegierter) und die globale Vernetzung von Kulturen eine hervorragende Rolle spielen. In beiden Reportagen gerät eine ferne, mitunter ›exotische‹ Welt in europäischer Perspektive in den Blick, die im Unterricht zu Reflexionen über ›unsere Welt‹, zu Reflexionen unserer Wahrnehmung der Welt in pluralen Perspektiven anregen kann. Ähnlich wie Trojanow ist auch Matthias Politycki in seinen Reportagen westöstlichen Konfusionen (2003, S. 9) und ihren Auswirkungen oder möglichen Umkehrungen in einer ›globalen Welt‹ auf der Spur.

Matthias Politycki: In 180 Tagen um die Welt. Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl In 180 Tagen um die Welt. Das Logbuch des Herrn Johann Gottlieb Fichtl ist eine tägliche Dokumentation der Eindrücke und Erlebnisse einer Weltreise an Bord des Luxuskreuzfahrtschiffes MS Europa in Wort und Bild. Johann Gottlieb Fichtl, mittlerer Finanzbeamter aus dem bayerischen Oberviechtach, an Bord bald Dr. Fichtl genannt, liefert sie den daheim gebliebenen Mitgliedern seiner Lotto- und Toto-Tippgemeinschaft, deren Gewinn ihm die Reise ermöglichte.17 Die einzelnen Logbucheinträge wären als Reportagen zu lesen. Sie sind kurz, umfassen jeweils die ihrem Verfasser für einen Logbucheintrag angemessen scheinende Zahl von exakt anderthalb Seiten; ihnen ist jeweils ein Foto vom ersten morgendlichen Blick aus dem Kabinenfenster beigegeben. Bild und Text ergänzen sich mitunter, scheinen meist aber in gar keinem Verhältnis zueinander zu stehen, da die ›reale‹ Welt außerhalb des Schiffes für Fichtl wie für die anderen Passagiere immer unwichtiger und unwirklicher wird. Durch die Abbildung von unspezifischen Naturmotiven wie Himmel und Meer oder ›NichtOrten‹ (vgl. Aug¦ 1994) wie Hafenanlagen werden das Genre der Fotoreportage18 17 Mit dem Namen der Figur wird Johann Gottlieb Fichte aufgerufen, einer der bedeutendsten Vertreter der deutschen idealistischen Philosophie und bekannt für seine Subjektphilosophie. Er entwickelte eine Theorie der Wechselwirkung zwischen Ich und ›Nicht-Ich‹, d. h. zwischen Mensch und Umwelt, wonach das ›Ich‹ nicht nur sich selbst, sondern eben auch das ›Nicht-Ich‹ im Bewusstsein ›setzt‹ (vgl. seine Wissenschaftslehre von 1794). Man kann die Philosophie des Idealismus als Legitimation des Anthropozentrismus sehen. Auf diesen Zusammenhang verweist z. B. Georg Braungart. Er argumentiert allerdings von der Geologie aus: »Das 18. Jahrhundert ist bekanntermaßen aber auch jene Epoche, in der die Anthropologie zu einer neuen Leitwissenschaft wird. Und im Schatten dieses Aufstiegs findet sich als dunkle Schwester der Anthropologie auch die Geologie, welche eine Zeitbombe für den Anthropozentrismus der Spätaufklärung und die Subjektphilosophie des deutschen Idealismus enthält« (Braungart 2009, S. 57). 18 Zu unterscheiden wären Fotoreportagen nach Eigenart der einzelnen Medien: In Fernsehund Illustriertenreportagen ergänzen sich Bild und Text, wobei der Text oft nur die Bilder

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sowie Ansprüche und Versprechen des Authentischen und des Überprüfbaren karikiert. Fichtls Logbucheinträge gelten immer weniger dem, worüber die Daheimgebliebenen wahrscheinlich informiert werden möchten, selbst wenn die Freunde Fonsä, Veit, Wolfi und Zenz und mit ihnen die Lesenden mitunter direkt angesprochen werden. Die Abbildungen zeigen nur selten lokalisierbare, touristische hotspots wie die goldenen Kirchenkuppeln von Jalta, den Mount Otemanu auf Bora Bora, die skyline von Auckland oder das Opernhaus von Sydney. Anders als in Reportagen üblich, bemüht Fichtl in der Funktion des Reporters sich auch nicht, den Anschein ›objektiver Berichterstattung‹ über seine Reise zu wahren. Vom ersten Logbucheintrag an ist er hauptsächlich mit dem Leben an Bord beschäftigt, bzw. mit dem Bemühen, sich zu integrieren. Er möchte unter all den begüterten und weitgereisten Kreuzfahrern nicht als Anfänger dastehen und verpasst darüber glatt das Ablegen (vgl. Politycki 2008, S. 16). Die Fahrt des Schiffes – ein frühes ›globales‹ Verkehrsmittel (vgl. Pinheiro / Ueckmann 2005, S. 13), das sich in der heutigen Kreuzfahrtausstattung jedoch schnell als Hotel erweist und als solches auch fixiert an einem beliebigen Ort stehen könnte – ist in den folgenden sechs Monaten tatsächlich von geringer Bedeutung. Die Kreuzfahrtreisenden nehmen die Welt, die sie umrunden, kaum wahr : »Jenseits der Reling rauscht die Welt vorbei« (Politycki 2008, S. 348). Es ist »als ob die wechselnden Weltkulissen nur das Amuse bouche der Reise abgäben« (Politycki 2008, S. 124). An den Landgängen in Orte, die eigentlich »zu laut, zu arm, zu dreckig!« (Politycki 2008, S. 116) sind, nehmen sie immer seltener teil. Auch Fichtl fühlt sich bald »landkrank« (Politycki 2008, S. 24). Die Welt, die sich die Reisenden einverleiben, ist in Dinnerkarten katalogisiert, mitunter durch ein Pixi-Heftchen als »touristische Mindestinfo« über ein neues Land ergänzt (vgl. Politycki 2008, S. 162). Nähe und Ferne, Lokales und Globales nähern sich auf diese Weise an, kommen aber nicht in Berührung miteinander. Wie Bernd Blaschke in seinen Überlegungen zu Politycki als einem »Autor der Globalisierung«19 feststellt, »[…] verharrt die Welt der Luxuskreuzfahrer im leerlaufenden Narzissmus des Jetsets. Die Begegnung mit den anderen findet nicht mehr statt. Der umrundete Globus bietet nichts Neues, nichts Fremdes, nichts Anderes mehr. Man ist sich selbst genug – oder gar zu viel« (Blaschke 2010, S. 102). Der Tourismus wird kaum zu einer Erfahrung des Vernetztseins ›aller mit allen‹, sondern führt zu immer stärkerer Abgrenzung. Der deutsche Jetset sieht die von ihm bean-

kommentiert, in Rundfunk- und Buchreportagen steht der Text im Vordergrund (LiteraturLexikon: Autoren und Begriffe in sechs Bänden. Bd. 6. 2008, S. 231). 19 Zu einem solchen werde er »durch eigene Reiseaktivitäten, durch die Handlungsräume und Welthaltigkeit seiner Erzählungen und Romane und durch das diskursive Problembewußtsein seiner kulturkritischen und literaturpolitischen Essays« (Blaschke 2010, S. 93).

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spruchte globale Exotik ausgezehrt20 und zieht sich auf die eigene Position im Zentrum, metaphorisiert im Dampfer Europa, zurück, während die Peripherien und ihre Bewohner vorbeigleiten. In beißender (Selbst-)Ironie und sozialer Groteske21 beobachtet der ›Reporter‹ Johann Gottlieb Fichtl ›westöstliche Konfusionen‹ bzw. verfängt sich selbst in deren Netz. Die Figur des unfreiwillig Reisenden, von seinem unerwarteten sozialen Aufstieg verwirrt, wird zur Instanz der (Selbst-)Beobachtung. Die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen«, explizit als solche benannt, wird zum Charakteristikum des gewöhnlichen Kreuzfahrttages (vgl. Politycki 2008, S. 142). Auch die Natur erscheint den Reisenden, wie die Menschen, die sich in ihr bewegen, nur als Kulisse, »professionell mit den gängigen […] Motiven versehen« (Politycki 2008, 190). So wird der Milford Sound in Neuseeland überzeugend als ›Mittelerde‹ inszeniert (vgl. Politycki 2008, S. 234 f.). Bei weniger bekannten Motiven wenden sich die Reisenden nach flüchtigen Blicken, die die Nutzbarkeit natürlicher Ressourcen abschätzen, wieder dem Bordleben und seinen allgegenwärtigen Gerüchten zu, beispielsweise bei der Durchquerung des Panamakanals: Oh, wie schön ist Panama! Kaum waren wir aus den Gatffln-Schleusen draußen, soll dort eine wilde Schießerei angefangen haben. Wir hingegen sind in der Stille des Regenwaldes abgetaucht, der beim Hindurchgleiten wie eine gepflegte Parklandschaft anmutet; Herr Pauw hätte am liebsten sofort einen Golfplatz darin angelegt, für einige Abschläge quer übern Kanal. Entgegenkommende Kreuzfahrer, mit dem Signalhorn grüßend; aber auch Kajaks mit Survival-Urlaubern (möglicherweise aus Oberviechtach!), Herr Laufkötter hält sie für Manager bei einer Schulung. Am Ufer jede Menge Schlammbagger. Dahinter : stufenpyramidal gekerbte Hügel. Darüber : wolkenloser Tropenhimmel. Prominentestes Sonnenstichopfer : die Meise der Kipp-Oeljeklaus. (Politycki 2008, S. 154)

Die Natur erschöpft sich als Kulissen-Landschaft schnell (vgl. Politycki 2008, S. 123). Eine ›wilde Natur‹ ist nirgends zu finden, einzige Ausnahme ist der Wildlife Park Wave Rock in Australien, in dem sogar Koalas zu beobachten sind (vgl. Politycki 2008, S. 268), während die wilden Delphine vor der Küste von Perth sich nicht einmal zeigen (vgl. Politycki 2008, S. 276 f.). Die Verschmutzung der Natur, wodurch sie an ›Wildheit‹ sicher einbüßt, lässt die Reisenden kalt. Eine Attitüde der Schuld, wie sie Trojanow den Betreibern der Save River Conservancy in Simbabwe zuschreibt, und wie sie beispielsweise bereits Claude L¦vi-Strauss in seiner Studie Traurige Tropen [Tristes Tropiques, 1955] formuliert,22 liegt ihnen fern: 20 Vgl. auch Honold (2000, S. 72). 21 Vgl. auch Blaschke (2010, S. 94). 22 Als Kritik an der ›westlichen Kultur‹ heißt es dort: »Was uns die Reisen in erster Linie zeigen

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Was die meisten […] versäumen: Wir passieren heute die Stelle, wo sich verschiedne Strömungen aus Pazifik und Indischem Ozean treffen und einen permanenten Wirbel bilden; dessen weithin sichtbares Kennzeichen: Plastikmüll! Unweigerlich ist er im Lauf der Zeit hierher getrieben und zu einer Fläche von vielleicht zwei, drei Kilometer Durchmesser ineinandergedreht worden, ›auf ewig‹, wie’s Moritz Kienast in seiner Durchsage etwas pathetisch formuliert: Entgegen der weit verbreiteten Ansicht, die Sache sei lediglich eine Installation von Greenpeace, könne man an diesem Wirbel sehr deutlich ablesen […]. Längst winken die meisten ab, schon gut, schon gut, und bleiben in ihren Liegestühlen. (Politycki 2008, S. 189)

Die ›Installation‹ einer zerstörten Natur komplettiert nur den bislang gewonnenen Eindruck der Simulation; in ihr »bestehe das tiefere Wesen der Kreuzfahrt – die gesamte Welt außerhalb des Schiffes sei eine Simulation, einschließlich der angefahrenen Hafenstädte« (Politycki 2008, S. 222). Johann Gottlieb Fichtl erliegt der Simulation. Wie schon Peter Schlemihl mit den geschenkten Siebenmeilenstiefeln in Adalbert von Chamissos ›wundersamer Geschichte‹ (1814) wird auch er zum »globalen Wanderer«, der sich seinem Ausgangsort immer mehr entfremdet (vgl. Schmitz-Emans, S. 136). Fichtl ist eine ›globale‹ Interpretation des romantischen Außenseiters, der in der Gesellschaft ohne festen Ort ist23 und dessen von außen provozierter Selbstverlust nur durch ewige Wanderschaft in der Simulation der Weltumrundung wettgemacht werden kann. Eine Rückkehr nach Oberviechtach am Ende der Reise, überhaupt ein Leben außerhalb des Kreuzfahrtschiffes ist für ihn nicht mehr vorstellbar, und so wird er auf der MS Europa bleiben, wenn auch nicht mehr als Passagier in einer exklusiven Suite, sondern als Mitglied der Mannschaft, untergebracht mit ›einigen Filipinos‹ in einem umgebauten Frischwassertank (vgl. Politycki 2008, S. 377). Ob er wie Peter Schlemihl dazu übergehen wird, die Natur genauer als die Menschen zu beobachten und seine entsprechenden Beobachtungen zu dokumentieren, bleibt dahingestellt. Eine Flucht in die noch nicht kartierte, ›wilde‹ Natur wird ihm jedoch – anders als Peter Schlemihl – verwehrt sein, ist sie doch nicht mehr vorhanden. Die ausgewählten, zitierten Passagen bzw. die entsprechenden Logbucheinträge zum 70., 77., 87. und 110. Reisetag, die aufgrund ihrer Kürze auch für das Lesen im Unterricht geeignet sind, können – wie Ilija Trojanows Reportagen – zum Gegenstand ökologisch orientierter Textlektüren werden. Sie können zu Reflexionen ›westlicher‹ Wahrnehmungsweisen der Welt anregen, die ›andere‹ Kulturen und soziale Gruppen wie auch die Natur als ›das Andere‹ konstruieren.

ist der Schmutz, mit dem wir das Antlitz der Menschheit besudelt haben« (L¦vi-Strauss 1978, S. 31). 23 Zum Motiv des romantischen Außenseiters vgl. Schmitz-Emans (2005, S. 135).

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Ökologisch orientierte Textlektüren im Kontext eines Konzepts globalen Lernens Ökologisch orientierte Textlektüren, die den Aspekt des Vernetztseins ›von allem mit allem‹ in den Vordergrund rücken, können Lernende unter anderem zur Überprüfung des von ihnen wahrgenommenen Verhältnisses zwischen Kultur und Natur, der von ihnen wahrgenommenen Bedingungen von globaler und sozialer Gerechtigkeit und Gemeinschaftlichkeit wie auch ihres eigenen Verhältnisses zur Natur motivieren. Entsprechende Zielsetzungen formuliert auch Axel Goodbody in seiner Studie Nature, technology and Cultural Change in Twentieth-Century German Literature. The Challenge of Ecocriticism, in der er ausgewählte Textlektüren unter dem Aspekt der Vernetztheit von Kultur und Natur präsentiert. Für den Unterricht erachtet er nicht nur die Lektüre aktueller Texte, sondern auch das Er-Lesen von ökologischen Subtexten und die (Re-) Interpretation ökologischer Konfigurationen in kanonischen Texten – Peter Schlemihls wundersame Geschichte von Adalbert von Chamisso wäre ein Beispiel – als zentral (vgl. Goodbody 2007, S. 6). Auf diese Weise in den Fokus gerückte Texte und ihre ökologisch orientierten Lektüren bieten die Möglichkeit, eine vernetzte Weltsicht ebenso wie die Anerkennung von Offenheit und Unabgeschlossenheit, von Pluralität und Kontingenz zu fördern. Sie können (kritische) Textkompetenzen und gleichzeitig ein Perspektiven- und Prozessbewusstsein sowie ein Bewusstsein für die systemische Beschaffenheit der Welt einschließlich des eigenen Involviertseins bei den Lernenden weiter entwickeln. Diese Zielsetzungen, zugehörig einem (fächer-) übergreifend formulierten Ziel der Persönlichkeitsbildung, sind auch für das Konzept eines globalen Lernens konstitutiv.24 Dieses Konzept eines globalen Lernens wird im angloamerikanischen Raum als global education bereits seit Ende der 1970er Jahre diskutiert und immer weiter entwickelt. In seiner Studie Schooling and Citizenship in a Global Age: An Exploration of the Meaning and Significance of Global Education analysiert Lee Anderson bereits 1979 die Entstehung einer global society und umreißt elementare Kompetenzen, die zu Voraussetzungen einer global citizenship würden. Zu ihnen zählt er Kompetenzen im (kritischen) Umgang mit Texten, die in der Gegenwart – vielleicht noch stärker als dies Ende der 1970er Jahre vorauszu24 Unter dem Paradigma der Vernetzung (und Entgrenzung) der Welt wäre es auch möglich, von einem ökologischen anstelle eines globalen Lernens zu sprechen. Dies könnte aufgrund des in öffentlichen Diskursen meist in engerer Bedeutung verwendeten Begriffs der Ökologie aber missverständlich sein, ist vorrangig doch gerade kein Lernen über Umweltkatastrophen, Klimawandel und Klimaschutz gemeint, sondern ein Lernen im Bewusstsein des ›Vernetztseins aller Dinge‹. Daher soll an dieser Stelle, auch in der Perspektive seiner langen Tradition, der Begriff des globalen Lernens beibehalten werden.

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sehen war – von elektronischen Medien und unterschiedlichen Formaten geprägt sind, und daher große Bedeutung erlangen. David Selby und Graham Pike entwickeln in ihrer Studie Global Teacher – Global Learner (1988) auf der Grundlage eines holistischen Paradigmas weitere Leitziele globalen Lernens; als solche betrachten sie folgende Aspekte: – Systembewusstsein Lernende sollen ein Verständnis der systemischen Beschaffenheit der Welt und die Fähigkeit zu systemischem Denken entwickeln und sich selbst in einer holistischen Konzeption von Welt verorten; – Perspektivenbewusstsein Lernende sollen erkennen, dass ihre eigene Weltsicht keine universelle Gültigkeit besitzt und sie sollen die Fähigkeit entwickeln, andere Perspektiven aufzunehmen; – Bewusstsein für den Zustand des Planeten Erde Lernende sollen ein Verständnis für globale Lebensbedingungen, Entwicklungen und Trends ausprägen; sie sollen ein vertieftes Verständnis von Konzepten wie Gerechtigkeit, Menschenrechte und Verantwortung erwerben und dieses zu globalen Entwicklungen in Beziehung setzen können; sie sollen den Zustand des Planeten zukunftsorientiert reflektieren können; – Bewusstsein für das eigene Involviertsein im System ›Welt‹ und die Vorbereitung auf das bewusste eigene Handeln darin; Lernende sollen erkennen, dass ihre individuellen und kollektiven Verhaltensweisen Konsequenzen für die globale Gegenwart und Zukunft haben; – Prozessbewusstsein Lernende sollen erkennen, dass Lernen und Persönlichkeitsbildung kontinuierliche ›Reisen‹ ohne fixiertes oder finales Ziel sind und dass neue Wege, die Welt zu sehen, anregend aber auch riskant bzw. herausfordernd sein können.25 Im deutschsprachigen Raum legte das Schweizer Forum Schule für eine Welt in Anlehnung an Lee Anderson 1985 erstmals einen Katalog von Lernzielen für eine Welt vor. Gegenwärtig werden unter dem (Sammel-)Begriff des globalen Lernens verschiedene pädagogische und didaktische Entwürfe diskutiert, die in der entwicklungspolitischen Bildung, der Friedenspädagogik, der interkulturellen Pädagogik, der Umweltbildung, dem ökumenischen Lernen, der Menschenrechtserziehung oder dem von der Agenda 21 ausgehenden weltweiten Bildungsprogramm einer Education for Sustainable development fußen (vgl. Seitz 2002, S. 9). Der Begriff vereint also recht verschiedene Ansätze, die sich kaum auf ein gemeinsames, methodisches, sachliches oder normatives Konzept zurück25 Vgl. Pike / Selby (1988, S. 34 f.; Übers. A.H.); vgl. auch Seitz (2002, S. 400).

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führen lassen; er intendiert aber als kleinsten gemeinsamen Nenner im deutschsprachigen Kontext: – im Gegenstandsbereich die Vermittlung weltweiter Zusammenhänge sowie – in methodischer Hinsicht interdisziplinäre, ganzheitliche und multiperspektivische Lernverfahren (vgl. Seitz 2002, S. 10; S. 378 f.). Klaus Seitz hat mit der Studie Bildung in der Weltgesellschaft. Gesellschaftstheoretische Grundlagen globalen Lernens eine der ersten größeren erziehungswissenschaftlichen Arbeiten im Kontext globalen Lernens vorgelegt. Als wesentliche Ziele des globalen Lernens bezeichnet er die Kompetenz, die komplexen Wirkungen des eigenen Handelns mit globalen Erfordernissen in Einklang zu bringen, und das Vermögen, den eigenen Standpunkt und die eigenen Interessen relativieren und damit den eigenen Beurteilungskontext fallweise erweitern zu können. (Seitz 2002, S. 449 f.) Globales Lernen sollte dabei als Persönlichkeitsbildung im globalen Kontext begriffen und konzipiert werden (vgl. Seitz 2002, S. 440); das bedeutet die Anerkennung einerseits des Miteinander-Vernetztseins und andererseits der Pluralität und Kontingenz als eine ihrer Grundlagen. Die Arbeit mit literarischen Texten, mit Filmen, Musik, Fotografie und Bildender Kunst, ästhetische Erfahrungen überhaupt können Entscheidendes zur Persönlichkeitsbildung beitragen. Kunst kann, so führt auch Stefan Hofer in seiner Studie Die Ökologie der Literatur aus, zum »kategorischen Anstoß zur Selbstreflexion« werden, und sie kann eine ganz eigene Wahrnehmungssteigerung bewirken (vgl. Hofer 2007, S. 210). Eine global und ökologisch orientierte Literatur als Lehr- und Lerngegenstand kann den formulierten Zielsetzungen globalen Lernens entscheidende Impulse verleihen. Sie kann darüber hinaus Möglichkeiten eröffnen, ethische Fragen, Fragen von sozialer und gemeinschaftlicher Verantwortung, aber auch von Macht, von Normen sowie deren Verbindlichkeit zu reflektieren (vgl. auch Küster 2003, S. 309). Prozesse globaler ›Entgrenzungen‹26 sind in der Reiseliteratur, in Reiseberichten und -reportagen besonders gut zu beobachten. Verschreiben sie sich nicht der ›Effekthascherei‹, so können sie als Gegenstand ganzheitlicher, multiperspektivischer Lektüren den ›kritischen Geist‹ der Lesenden wecken. Sie würden damit auch Claude L¦vi-Strauss’ düstere Prognose umkehren, der Konsum von Reiseliteratur sei nur ein massenhaftes Verschlingen des ›Exotischen‹.27 26 Vgl. hier auch Claus Leggewies Definition der Globalisierung als »vielschichtige und zugleich asymmetrische Entgrenzung der Welt«, die sich in Prozessen der Transnationalisierung, der Glokalisierung und der Hybridisierung von Kulturen manifestiert (Leggewie 2003, S. 15). 27 »Amazonien, Tibet und Afrika überschwemmen die Buchläden in Form von Reisebüchern,

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Kaspar H. Spinner

Atmosphäre: ökologisch, ästhetisch und didaktisch

Atmosphäre als ästhetischer Begriff ist in der Literaturwissenschaft erst in Ansätzen (vgl. Meyer-Sickendiek 2011; Spinner 2011), in der Literaturdidaktik noch gar nicht eingeführt. Er steht allerdings einem anderen, im Zusammenhang mit Literatur seit Langem viel diskutierten Begriff nahe: dem Begriff der Stimmung. In manchen Verwendungssituationen sind die beiden Termini austauschbar ; aber um durchgängige Synonyme handelt es sich nicht. Das lässt sich an alltäglichen Formulierungen zeigen: Man kann sagen »meine Stimmung ist super«, aber nicht »meine Atmosphäre ist super«; in einem Satz wie »es herrschte eine fröhliche Stimmung in entspannter Atmosphäre« würde man die beiden Termini kaum vertauschen wollen. Solche Beispiele zeigen, dass der Begriff der Stimmung stärker subjektbezogen, der der Atmosphäre stärker raumbezogen ist. Diese unterschiedliche Akzentuierung entspricht auch der Begriffsbildung in der ästhetischen Theorie. Gernot Böhme, der sich am intensivsten mit der Atmosphäre als ästhetischem Begriff befasst hat, charakterisiert Atmosphäre als etwas, das »zwischen Subjekt und Objekt ist, nämlich ihre gemeinsame Wirklichkeit« (Böhme 1998, S. 8), oder an anderer Stelle als »Beziehung von Umgebungsqualitäten und menschlichem Befinden« (Böhme 1995, S. 22 f.). Ein solches Begriffsverständnis erklärt, warum Atmosphäre zum Leitbegriff der von ihm entwickelten ökologischen Naturästhetik hat werden können (Böhme 1989). Im naturwissenschaftlichen Begriffsgebrauch ist die Atmosphäre die Gas- oder Lufthülle, die die Erde umgibt und ohne die Leben nicht möglich wäre. Erleben von Atmosphäre als ästhetische Wahrnehmung bezieht sich nicht (nur) auf das physikalische Phänomen Atmosphäre, sondern auf all das, womit eine räumliche Umgebung erfüllt ist, man könnte auch sagen: auf all das, was die Umgebung ausströmt und was vom Menschen, der sich in ihr befindet, gespürt wird. Dass für eine solche Charakterisierung metaphorische Formulierungen (erfüllt, ausströmt) verwendet werden, zeigt die Schwierigkeit, das Atmosphärische genau zu erfassen. Es handelt sich um ein diffuses Phänomen und entsprechend um einen unscharfen Begriff – was nicht heißt, das Atmosphären nicht ausgesprochen intensiv empfunden werden können. In den

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Künsten werden Atmosphären inszeniert; vor allem bildende Kunst, Filme und Literatur können das Spüren von atmosphärischen Umgebungsqualitäten unterstützen. Im Kunst- und Literaturunterricht kann entsprechend die atmosphärische Sensibilität und Bewusstheit der Schülerinnen und Schüler gefördert und damit ein Beitrag zur ökologischen Bildung geleistet werden. Zur genaueren Erfassung des ästhetischen Atmosphäre-Begriffs erläutere ich diesen im Folgenden durch sieben Charakteristika, exemplarisch gezeigt an je einem literarischen Beispiel.

Sieben Merkmale des Atmosphärischen in der Literatur In seinem Kurzprosatext Der Greifensee beschreibt Robert Walser im folgenden Ausschnitt die »Schönheit« des Sees in »althergebrachte[r] Überschwenglichkeit«, wie er leicht ironisierend kommentiert: […] Es ist eine weiße, weite Stille, die wieder von grüner luftiger Stille umgrenzt wird; es ist See und umschließender Wald; es ist Himmel, und zwar so lichtblauer, halbbetrübter Himmel; es ist Wasser, und zwar so dem Himmel ähnliches Wasser, daß es nur der Himmel und jener nur blaues Wasser sein kann; es ist süße blaue warme Stille und Morgen; ein schöner, schöner Morgen. Ich komme zu keinen Worten, obgleich mir ist, als mache ich schon zu viel Worte. Ich weiß nicht, wovon ich reden soll; denn es ist alles so schön, so alles der bloßen Schönheit wegen da. Die Sonne brennt herab vom Himmel in den See, der ganz wie Sonne wird, in welcher die schläfrigen Schatten des umrahmenden Lebens leise sich wiegen. Es ist keine Störung da, alles lieblich in der schärfsten Nähe, in der unbestimmtesten Ferne; alle Farben dieser Welt spielen zusammen und sind eine entzückte, entzückende Morgenwelt. Ganz bescheiden ragen die hohen Appenzellerberge in der Weite, sind kein kalter Mißton, nein, scheinen nur ein hohes, fernes, verschwommenes Grün zu sein, welches zu dem Grün gehört, das in aller Umgebung so herrlich, so sanft ist. O wie sanft, wie still, wie unberührt ist diese Umgebung, wird durch sie dieser kleine, fast ungenannte See, ist selber also so still, so sanft, so unberührt. […]. (Walser 1985, S. 33 f.)

Synästhesie In Walsers Beschreibung sind mehrere Sinneswahrnehmungen angesprochen. Schon im ersten zitierten Satz sind in der Formulierung »eine weiße, weite Stille« mit dem Adjektiv »weiß« eine visuelle und mit dem Substantiv »Stille« eine akustische Wahrnehmung genannt, ebenso wenn unmittelbar darauf folgend von »grüner […] Stille« die Rede ist. Etwas weiter findet sich die Formulierung »süße blaue warme Stille« mit Adjektiven, die sich auf Geschmacksempfindung, visuelle Wahrnehmung und körperliches Spüren beziehen und so das Sub-

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stantiv, das dem akustischen Bereich zugehört, synästhetisch erweitern. Die verschiedenen Sinneswahrnehmungen verbinden sich in solcher Zusammenstellung zu einem multisensorischen Gesamteindruck, der für das Atmosphärische charakteristisch ist. Vielleicht möchte man gegenüber einem solchen Verständnis einwenden, es handle sich bei den genannten Adjektiven um metaphorischen Gebrauch, also nicht um die Bezeichnung einer sinnlichen Wahrnehmung. Dagegen ist zu sagen, dass es bei einer atmosphärischen Lesart von Beschreibungen gerade darauf ankommt, nicht vorschnell übertragene Bedeutungen zu realisieren, sondern in der Imagination die sinnliche Qualität von Synästhesie lebendig werden zu lassen.

Raum Atmosphäre ist an die Kategorie des Raumes gebunden: Sie ist etwas, was den Raum füllt. So schafft auch Walser in auffallender Weise eine Raumvorstellung. Mit »weite Stille«, »umgrenzt« und »umschließend« wird diese zunächst mehr in der Horizontalen entfaltet. Dann wird mit Himmel und Wasser, die beide so blau sind, dass sie austauschbar erscheinen, und mit Sonne und See die vertikale Dimension angesprochen. In diesem in der Horizontalen und der Vertikalen erschlossenen Raum ist alles miteinander verbunden durch ein Zusammenspiel, das mit »so still, so sanft, so unberührt« charakterisiert wird und das damit einen atmosphärischen räumlichen Gesamteindruck vermittelt.

Leibliche Präsenz Atmosphärisches Erleben ist ein Erleben im Raum, der von einer Atmosphäre erfüllt ist. Insofern ist es an leibliche Präsenz gebunden; der Erzähler in Walsers Text ist von der evozierten Atmosphäre umfangen. Der Text ist deshalb nicht eine distanzierte Beschreibung der Landschaft, sondern in einer Weise gestaltet, dass der Leser die beschriebene Landschaft so imaginieren kann, als sei er selbst in ihr anwesend. In diesem Sinne hat Gernot Böhme vorgeschlagen, Atmosphären als »die Sphären gespürter leiblicher Anwesenheit zu bezeichnen« (Böhme 2007, S. 37 f.). In diesem Sinne verbindet man auch im alltäglichen Sprachgebrauch das Wort ›Atmosphäre‹ mit dem leiborientierten Verb ›spüren‹ und nicht mit Verben wie ›sehen‹ oder ›hören‹ (›Ich spüre die besondere Atmosphäre‹). Auf das Präsenzerleben verweist in Walsers Text auch der Satz »es ist alles so schön, so alles der bloßen Schönheit wegen da«. Es geht um ästhetische Erfahrung, die sich selber genügt. Das erlebende Subjekt lässt die Schönheit auf sich wirken als gelebte Gegenwart.

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Wechselseitige Resonanz von Subjekt und Umgebung Atmosphärisches Erleben verbindet das Subjekt mit seiner Umgebung in wechselseitiger Resonanz. In Walsers Text kommt dies in der Formulierung »alle Farben dieser Welt spielen zusammen und sind eine entzückte, entzückende Morgenwelt« zum Ausdruck: Das Partizip Perfekt »entzückte« ist objektbezogen, das Partizip Präsens nennt die Wirkung auf das Subjekt. Das entspricht Gernot Böhmes oben schon zitierter Definition der Atmosphäre als etwas, das »zwischen Subjekt und Objekt ist, nämlich ihre gemeinsame Wirklichkeit« (Böhme 1998, S. 8.), oder auch Martin Seels Begriff der »Natur als korrespondierender Ort« (Seel 1996, S. 89). Auch eine Formulierung wie »so sanft, so still, so unberührt« schafft eine Verbindung von Subjekt und Objekt, weil sich im »so« eine subjektive Emphase kundtut, die über eine objektive Beschreibung hinausgeht.

Existenzielle Bedeutsamkeit Atmosphärisches wird vor allem dann intensiv wahrgenommen, wenn es von »existentielle[r] Bedeutsamkeit« (Seel 2000, S. 152) ist. Indem Walsers Text im Atmosphärischen eine elementare menschliche Erfahrung evoziert, wird er für den Leser bedeutsam. Dies wird bei Walser besonders dadurch deutlich, dass er im Anschluss an die zitierte Passage von der Beschreibung als einer »Beschreibung meines Herzens« (Walser 1985, S. 34) spricht. Die Verbindung von Nähe und Ferne, von unten (See; Wald) und oben (Himmel) und die alles erfüllende Stille sprechen die Urerfahrung eines Aufgehobenseins an, das an keine Grenze stößt, das also Umfangensein und befreiende Weite miteinander verbindet; und wenn es im Text heißt, dass »die schläfrigen Schatten des umrahmenden Lebens leise sich wiegen« im »See, der ganz wie Sonne wird«, dann mag darin etwas von frühkindlicher Erfahrung aufscheinen, so als wenn das erlebende Ich, das sich in der Atmosphäre der Landschaft umfangen fühlt, selbst von der lebensspendenden, mütterlichen Sonne gewiegt würde.

Grenzen der begrifflichen Sprache Bei der Beschreibung des Atmosphärischen kommt die Sprache an ihre Grenze, weil es sich der begrifflichen Festlegung entzieht. Auch dies kommt in Walsers Text explizit zum Ausdruck, nämlich mit dem Satz »Ich komme zu keinen Worten, obgleich mir ist, als mache ich schon zu viel Worte.« Diese Aussage folgt auf die Formulierung »ein schöner, schöner Morgen«, die zu wenig sagt und in

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der Wortwiederholung zugleich redundant ist und sozusagen ein Beleg für das Versagen der Sprache ist. In nachfolgenden Formulierungen wie »alles so schön«, »alles lieblich« und »alle Farben« zeigt sich ebenfalls, dass das genaue Beschreiben an seine Grenzen kommt. Das Zahladjektiv »alles« signalisiert, dass es nicht um die wahrgenommen Einzelheiten geht; zugleich läuft die Verwendung von »alles« Gefahr, nichtssagend zu werden, oder anders interpretiert: Das wiederholte »alles« verweist auf Ungesagtes.

Prosodie Atmosphärische Wirkung wird in literarischen Texten nicht nur durch den Inhalt hervorgerufen, sondern auch durch die sprachlich-formale Gestaltung, z. B. durch rhythmisch strukturierte Syntax, durch Assonanzen, durch Wortwiederholungen. Ich spreche zusammenfassend von der Prosodie eines Textes, weil es hier vor allem um die klangliche Wirkung der Sprache geht.1 In Walsers Beschreibung ist die prosodische Gestaltung deutlich ausgeprägt. Gleich im ersten zitierten Satz findet man Alliteration und Assonanz in »weite, weiße«; in diesem Hauptsatz kommen nur die Laute e, i und ei vor. Die Formulierung »es ist« wird im Folgenden mehrfach anaphorisch wiederholt, verbunden mit Parallelismus in den Satzkonstruktionen. Immer wieder gibt es Wiederholungen verschiedenster Art im Text, so dass er einen musikalischen Charakter gewinnt. Dies verstärkt den atmosphärischen Eindruck entsprechend der These von Gernot Böhme, »dass Atmosphären zu erzeugen ein Grundzug von Musik« (Böhme 1998, S. 73) sei.

Atmosphäre im Literaturunterricht Atmosphäre im Literaturunterricht zum Thema zu machen ist schwierig, weil es darum geht, einen Aspekt herauszustellen, der schwer zu fassen ist. Er wird übersehen, wenn man allzu schnell einen Text deuten will. Genau das ist im Literaturunterricht oft der Fall, weil man vor allem darauf aus ist, den tieferen Sinn eines Textes herauszuarbeiten. Dem Erspüren und Erkennen des Atmosphärischen ist dies nicht förderlich. Dabei ist Kindern und Jugendlichen die atmosphärische Wirkung von Literatur meist durchaus vertraut. Wenn Kinder Märchen hören oder Jugendliche beim Lesen fantastische Welten imaginieren, dann ist das oft mit einem intensiven atmosphärischen Erleben verbunden. Hier 1 Hans Ulrich Gumbrecht spricht in seinem Buch »Stimmungen lesen« in dieser Weise von der Prosodie der Texte (vgl. Gumbrecht 2011).

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sei eine (Vor-)Leseerinnerung aus meiner Sammlung von mehreren hundert Leseerinnerungen von Studierenden zitiert: Der kleine Wassermann von Otfried Preußler war das einzige Buch, von dem ich noch weiß, wie es im Kindergarten vorgelesen wurde. Wir saßen auf dem Boden im Kreis. Ich erinnere mich noch daran, wie sich der Wassermannvater so sehr über die Geburt des kleinen Wassermanns gefreut hat: Ein richtiger Sohn, die kleinen Finger mit den Schwimmhäuten etc…. Der Rest der Erinnerung ist sehr bildhaft. Wasseratmosphäre – das Buch war grün wie Algen… Die Handlung war gar nicht so wichtig – eher das Bild/ die Atmosphäre.

Bei solchen Erinnerungen wird deutlich, dass atmosphärisches Erleben von Literatur offenbar nicht nur auf den jeweiligen Text, sondern auch auf die Rezeptionssituation bezogen ist; die Atmosphäre im Sitzkreis verbindet sich mit der im vorgelesenen Text entfalteten Atmosphäre. Auch in der Schule ist es sinnvoll, Vorlesesituationen mit Bedacht zu gestalten; wenn die Stimme der oder des Vorlesenden den Raum füllt und ans Ohr dringt, ist dies einem Spüren von Atmosphäre als raumfüllendem Phänomen besonders förderlich. Interessant ist übrigens auch, wie bei der zitierten Notiz (in der Vorlesung aufgeschrieben und gleich eingesammelt) da, wo das Atmosphärische genannt wird, die Sprache nicht mehr der normalen Satzstruktur folgt – so kommt die Sprache an ihre Grenze, wenn über das Atmosphärische gesprochen wird. Positiv können sich für atmosphärisch intensive Vorlesesituationen in der Schule sog. Leseinseln auswirken; es handelt sich dabei um Schulbüchereien, die gemütlich und ansprechend eingerichtet sind und die Platz bieten für Lesungen. Für den Unterricht seien im Folgenden fünf weitere, über das Vorlesen hinausgehende Möglichkeiten vorgestellt, mit denen die Aufmerksamkeit für das Atmosphärische in Texten gefördert werden kann. Es handelt sich dabei nicht um Vorschläge zu vollständigen Unterrichtseinheiten – die Beschäftigung mit dem Atmosphärischen kann z. B. in eine umfassendere Interpretation eingebaut werden. Da der Terminus ›Atmosphäre‹ im Zusammenhang mit ästhetischer Wahrnehmung den Schülerinnen und Schülern u. U. etwas zu ungewohnt erscheint, kann im Unterricht ggf. auch von Stimmung gesprochen werden. Diesem Wortgebrauch folge ich im Folgenden z. T. auch in Aufgabenvorschlägen für die Schülerinnen und Schüler.

Texte vergleichen Die in literarischen Texten evozierte Atmosphäre kann durch den Vergleich von Gedichten (und auch Ausschnitten aus Prosatexten) bewusster wahrgenommen werden. Dabei soll es sich um inhaltlich ähnliche, aber atmosphärisch unter-

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schiedliche Texte handeln. Hier seien dazu zwei Winter-Gedichte vorgeschlagen, bei denen sich das lyrische Ich auf einem zugefrorenen See bzw. Teich befindet: Gottfried Keller Winternacht (1851 erschienen) Nicht ein Flügelschlag ging durch die Welt, Still und blendend lag der weiße Schnee. Nicht ein Wölklein hing am Sternenzelt, Keine Welle schlug im starren See. Aus der Tiefe stieg der Seebaum auf, Bis sein Wipfel in dem Eis gefror ; An den Aesten klomm die Nix herauf, Schaute durch das grüne Eis empor. Auf dem dünnen Glase stand ich da, Das die schwarze Tiefe von mir schied; Dicht ich unter meinen Füßen sah Ihre weiße Schönheit Glied um Glied. Mit ersticktem Jammer tastet’ sie An der harten Decke her und hin – Ich vergeß’ das dunkle Antlitz nie, Immer, immer liegt es mir im Sinn! (Keller 2009, S. 74.) Gerhart Hauptmann Eislauf (1888 entstanden) Auf spiegelndem Teiche zieh’ ich spiegelnde Gleise. Der Kauz ruft leise. Der Mond, der bleiche, liegt über dem Teiche. Im raschelnden Schilfe, da weben die Mären, da lachet der Sylphe in silbernen Zähren, tief innen im Schilfe. Hei, fröhliches Kreisen, dem Winde befohlen! Glückseliges Reisen, die Welt an den Sohlen, in eigenen Kreisen! Vergessen, vergeben, im Mondlicht baden;

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hingaukeln und schweben auf nächtigen Pfaden! Sich selber nur leben! (Hauptmann 1964, S. 35 f.)

Die beiden Gedichte vermitteln einen völlig unterschiedlichen atmosphärischen Eindruck, der sich u. a. im inhaltlichen Gegensatz Starre/beschwingte Bewegung, in Metrum und Rhythmus (Trochäus mit stumpfer Kadenz bzw. Daktylus mit Auftakt und klingender Kadenz), der Länge der Verse und der Häufung von Reimen und Assonanzen bei Hauptmann festmachen lässt. Im Unterricht kann als Einstieg die Aufgabe gestellt werden, dass die Schülerinnen und Schüler aus den beiden Gedichten je drei Adjektive heraussuchen und einander gegenüberstellen sollen, die ihrem Empfinden nach die unterschiedliche Stimmung (oder Atmosphäre) der beiden Gedichte zum Ausdruck bringen. Lohnend kann ferner sein sich zu überlegen, welches Lebensgefühl des lyrischen Ichs man den beiden Gedichten entnehmen kann und wie sich dieses Lebensgefühl in seinem Verhalten und in der geschilderten Umgebung ausdrückt.

Zu Texten malen Das Zeichnen und Malen zu literarischen Texten ist ein oft realisiertes Verfahren des produktionsorientierten Literaturunterrichts; es kann besonders auch der Aufmerksamkeit für das Atmosphärische dienen. Dazu sei noch einmal ein Wintergedicht zitiert, diesmal als Vorschlag für die Grundschule: Josef Guggenmos Ich male mir den Winter Ich male ein Bild, ein schönes Bild, ich male mir den Winter. Weiß ist das Land, schwarz ist der Baum, grau ist der Himmel dahinter. Sonst ist da nichts, da ist nirgends was, da ist weit und breit nichts zu sehen. Nur auf dem Baum, auf dem schwarzen Baum hocken zwei schwarze Krähen. Aber die Krähen, was tun die zwei, was tun die zwei auf den Zweigen?

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Sie sitzen dort und fliegen nicht fort. Sie frieren nur und schweigen. Wer mein Bild besieht, wie’s da Winter ist, wird den Winter durch und durch spüren. Der zieht einen dicken Pullover an vor lauter Zittern und Frieren. (Guggenmos 2006, S. 138.)

Dieses Gedicht wird in Grundschulen sehr häufig mit dem Malen verbunden. Es spricht von einer visuellen Wahrnehmung, die sich abbildhaft umsetzen lässt. In der letzten Strophe ist jedoch vom Spüren des Winters die Rede. Die Kinder sollen das Bild also so malen, dass man den Winter zu spüren meint; dadurch kann eine Aufmerksamkeit für das Atmosphärische im Gedicht und in der bildnerischen Gestaltung unterstützt werden. In höheren Klassen könnte man mit den Gedichten »Abseits« (Storm 1987, S. 12.) und »Meeresstrand« (ebd., S. 14 f.) von Theodor Storm arbeiten, die mit der mittäglich warmen Heidelandschaft einerseits und der Dämmerung am Watt andererseits zwei unterschiedliche Atmosphären vermitteln. Skizzen und Bilder, die die Schüler erstellen, können daraufhin befragt werden, mit welchen zeichnerischen und malerischen Mitteln sie versucht haben, das Atmosphärische des entsprechenden Gedichtes einzufangen.

Texte szenisch vorlesen Das Atmosphärische von Gedichten kann durch szenisches Vorlesen erlebbar gemacht werden. Der Text wird von mehreren Schülerinnen und Schülern so vorgetragen, dass sie die Raumwirkung ausnutzen, zum Beispiel durch Aufstellung an verschiedenen Stellen des Klassenzimmers. Für den Vortrag sprechen die Schülerinnen und Schüler ferner ab, welche Textteile von wem, ggf. auch von mehreren gleichzeitig, gesprochen werden. Dabei dürfen sich die Stimmen auch überlagern, es können zusätzliche Wiederholungen eingebaut werden. Ziel soll sein, einen atmosphärischen Eindruck im Klassenraum zu erzeugen. Man kann das gleiche Gedicht von mehreren Gruppen bearbeiten lassen – es ist immer wieder spannend zu sehen, wie unterschiedlich die Realisierungen ausfallen – oder mehrere Gedichte auf Gruppen verteilen. Geeignet für dieses Vorgehen sind zum Beispiel die Gedichte Der Uhu und die Unken von James Krüss (Krüss 1965, S. 146, vgl. dazu das Unterrichtsmodell Spinner 2004) und Der Rabe Ralf von Christian Morgenstern (Morgenstern 1933, S. 24.), mit denen eine unheimliche Naturstimmung gestaltet werden kann.

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Zu Texten schreiben Ein bewusstes Wahrnehmen des Atmosphärischen in einem literarischen Text kann durch die Aufgabe gefördert werden, einen Text so umzuschreiben, dass er eine veränderte Atmosphäre zum Ausdruck bringt. Ein anspruchsvolles Beispiel für höhere Klassenstufen ist der folgende kurze Text von Christoph Wilhelm Aigner : Seit drei windstillen Tagen fließt ein Regen wie aus einem feinporigen Sieb. Ich steige in den Wäldern herum und irre über die ehemaligen Roggenfelder, lege meine schnellvergänglichen Spuren in die Sandwege, spreche mit den kleineren Bäumen und steh, das Kinn hochgereckt, vor den alten Eichen und Linden. Die Kuckucke haben ausgerufen, die Lerchen sind abgereist, nur Bussarde kreisen und seltener sieht man zwei Rehe. Wie ist es möglich, so verloren zu sein und zurückgelassen bei dieser Überbevölkerung auf der Erde. Mehrmals gehe ich um den kleinen Teich, in dem der Frosch wohnt und der Schilfrohrsänger. Rundum die grüngoldenen Kiefern dunkel vor Nässe. Der Teich ist vom Nieseln so berührt, dass er eine Gänsehaut bekommt. (Aigner 1999, 94.)

Der Arbeitsauftrag zu diesem Text kann lauten: »Verändern Sie den Text so, dass die ausgedrückte Stimmung als befreiende Flucht oder als niederdrückende Melancholie wirkt.« Eine solche Aufgabe hält dazu an, den Text genau im Hinblick auf die ausgedrückte schwebende Stimmung bzw. Atmosphäre zu lesen. Das Umschreiben kann so erfolgen, dass nur einzelne Wörter ausgetauscht werden oder dass in freierer Form der Text umgeschrieben wird. Der Text kann auch als Anregung dafür dienen, dass die Schülerinnen und Schüler über einen eigenen Spaziergang schreiben, bei dem sie besonders auf atmosphärische Eindrücke achten.

Nach einem Gedicht zu Bildern schreiben Das folgende Gedicht von Max Kruse evoziert durch Inhalt und Anordnung einen intensiven atmosphärischen Eindruck. Es kann als Modell dienen, in ähnlicher Form ein Gedicht zu einem Gemälde, das eine atmosphärische Wirkung hat, zu verfassen. Eine solche Verbindung von Bildbetrachtung, Gedichtlektüre und Schreiben sensibilisiert für atmosphärische Ausdrucksmöglichkeiten in Kunst und Literatur. Mond Baum Abendruh Mond Traum

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Augen zu Mond Wolke Silberlicht Mond Mond Rede nicht (Bartsch / Kruse 1968, S. 18.)

Arbeitsauftrag: – Schreibe mit Filzstift auf Zettel Wörter, die dir zum Bild einfallen. Auf jedem Zettel sollen nur ein Wort oder zwei Wörter stehen. Es sind alle Wortarten erlaubt. Schreibe in Druckschrift. – Ordne einige der aufgeschriebenen Wörter so, dass ein Gedicht entsteht, das ähnlich aussieht wie das von Max Kruse. Bildvorlage kann ein mit Beamer oder mit Tageslichtprojektor projiziertes Bild sein. Es können auch mehrere Reproduktionen den Schülerinnen und Schülern zum Auswählen zur Verfügung gestellt werden. Einzelne Ergebnisse können in der Gruppe oder mit der ganzen Klasse im Hinblick darauf besprochen werden, ob die geschriebenen Texte auch für die anderen Schülerinnen und Schüler die Atmosphäre wiedergeben, die sie beim Bild spüren. Besonders reizvoll ist es, wenn dieses Schreibarrangement in einem Museum durchgeführt wird. In diesem Fall empfiehlt sich die Arbeit in Gruppen (drei bis vier Teilnehmende); alle Gruppenteilnehmer schreiben gut lesbar Wörter auf Zettel. Die Zettel werden auf den Boden vor dem Bild gelegt; gemeinsam werden dann Wörter ausgewählt und zu einem Gedicht geordnet.

Atmosphäre und erweiterter Ökologiebegriff Atmosphäre ist nicht nur eine Erfahrung in Landschaft und Natur, sondern auch in Städten und Innenräumen. Man kann von der Atmosphäre in einer Kirche, in einer Straße, auf einem Platz sprechen. So kann man das Atmosphärische mit einer »erweiterten Ökologie« (Böhme 1989, S. 12) in Verbindung gebracht werden. Damit bezieht man Kulturökologie auf alle Beziehungen des menschlichen Organismus zur umgebenden Außenwelt, also auch zur zivilisatorisch gestalteten. In diesem Sinne ist der Begriff der Atmosphäre bei der Beleuchtungsgestaltung in Innenräumen geläufig; so beschäftigen sich Lichtdesigner mit der Frage, wie man für Räume eine passende Atmosphäre mit dem Licht herstellen kann. Bei einer solchen Sichtweise wird für eine kulturökologische Literaturdidaktik insbesondere auch der Atmosphärenbegriff, wie er in der Theater- und Filmwissenschaft verwendet wird, bedeutsam.

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Atmosphäre in der Theatertheorie und -didaktik In der Theaterwissenschaft spielt der ästhetische Begriff der Atmosphäre schon seit Längerem eine Rolle. Am ausführlichsten hat sich Sabine Schouten mit der Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater beschäftigt (Schouten 22011). Für die Erzeugung von Atmosphäre bei Theateraufführungen spielt das Bühnenbild eine Hauptrolle; man kann die Aufgabe des Bühnenbildners als Erzeugen von Atmosphäre bezeichnen. Die Kulissen und die Requisiten sollen einen atmosphärischen Raum schaffen, in dem sich die Handlung abspielt. Ein weiterer zentraler Aspekt für die Atmosphäre ist die Lichtregie. Dazu kommen die Kostüme und dann auch die Geräusche, die Bewegungen und das Sprechen der Figuren, ggf. auch Musik. Es ist also auch hier ein Zusammenspiel von vielen Aspekten, das die atmosphärische Wirkung einer Theateraufführung ausmacht. Schouten hat für ihre theaterwissenschaftliche Analyse fünf Aspekte herausgestellt (ebd., S. 129 ff.), die auch im Literaturunterricht den Schülerinnen und Schülern als Anhaltspunkte gegeben werden können, wenn sie eine Inszenierung besuchen und Überlegungen zur atmosphärischen Wirkung anstellen sollen. Es handelt sich um die folgenden Aspekte: – Bühnenraum (evtl. auch Zuschauerraum) – Licht und Farbe – Akustik – Körper und Kostüme – (evtl.) Publikum Man kann die Beobachtungen auf die Inszenierung beschränken, d. h. Zuschauerraum und Publikum weglassen; ein atmosphärisches Theatererlebnis ist allerdings nicht nur bestimmt von der Atmosphäre auf der Bühne, sondern schließt auch den Zuschauerraum ein mit seiner architektonischen Gestaltung und dem Verhalten des Publikums. Die Beobachtungen zur atmosphärischen Wirkung können verbunden werden mit Überlegungen zur Interpretation des Theaterstücks, etwa hinsichtlich des Verhältnisses der erzeugten Atmosphäre zu Charakter, Gefühlen und Lebenssituation der Figuren und zur Handlung. Dabei kann es wichtig sein, auch auf den Wandel der Atmosphäre im Verlauf eines Stückes zu achten. In reduzierter Form lassen sich auch anhand von Bühnenanweisungen, die der Autor zu einem Stück gibt, Überlegungen zum Atmosphärischen anstellen. Zur Veranschaulichung sei eine solche Anweisung aus dem dritten Akt von Dürrenmatts »Besuch der alten Dame« zitiert; die Bühnenanweisung gilt dem Schlussbild, nachdem Ill ermordet worden ist und Claire Zachanassian den Scheck überreicht hat:

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Drückten die immer besseren Kleider den anwachsenden Wohlstand aus, diskret, unaufdringlich, doch immer weniger zu übersehen, wurde der Bühnenraum stets appetitlicher, veränderte er sich, stieg er in seiner sozialen Stufenleiter, als siedelte man von einem Armeleutequartier unmerklich in eine moderne wohlsituierte Stadt über, reicherte er sich an, so findet diese Steigerung nun im Schlußbild ihre Apotheose. Die einst graue Welt hat sich in etwas technisch Blitzblankes, in Reichtum verwandelt, mündet in ein Welt-Happy-End ein. Fahnen, Girlanden, Plakate, Neonlichter umgeben den renovierten Bahnhof, dazu die Güllener, Frauen und Männer in Abendkleidern und Fräcken, zwei Chöre bildend, denen der griechischen Tragödien angenähert, nicht zufällig, sondern als Standortsbestimmung, als gäbe ein havariertes Schiff, weit abgetrieben, die letzten Signale. (Dürrenmatt 1998, S. 131 f.)

Dieses Bühnenbild kontrastiert mit demjenigen am Anfang des Stückes und zeigt zeichenhaft und atmosphärisch den Wandel, der in Güllen stattgefunden hat. Es ist ein Beispiel dafür, dass die Atmosphäre auf der Bühne auch so gestaltet sein kann, dass die Zuschauer mit Distanzierung reagieren, die Atmosphäre zwar spüren, aber sich eher nicht von ihr einnehmen lassen. Eine Verfremdung der Atmosphäre entsteht auch dadurch, dass im Verlauf der Szene Dienstmänner kommen und den Sarg mit Ill hinaustragen. Die genannten fünf Untersuchungsaspekte können auch als Leitlinie dienen, wenn Schülerinnen und Schüler selbst eine Aufführung erarbeiten und sich dabei Gedanken zur atmosphärischen Gestaltung machen.

Atmosphäre in der Filmdidaktik Auch in der Filmtheorie spielt die Kategorie des Atmosphärischen schon seit längerer Zeit eine Rolle. Das zeigt sich u. a. am Fachbegriff ›Atmo‹, mit dem die Tongestaltung für den akustischen Hintergrund bezeichnet wird. In jüngster Zeit hat das Atmosphärische im Film auch in der Forschung verstärkte Beachtung gefunden, wie ein Sammelband von 2012 zeigt, der ganz den »Filmischen Atmosphären« gewidmet ist (Brunner / Schweinitz / Tröhler 2012). Für die Herstellung von Atmosphäre im Film sind Geräusche, Musik und Beleuchtung die wichtigsten Mittel. Bei einem Film wie Chocolat von Lasse Hallström ist das für Schülerinnen und Schüler leicht zu analysieren. Allein schon der Gegensatz zwischen dem abweisend und kalt wirkendem Städtchen am Anfang und der fröhlichen Stimmung im hellen Licht auf dem früher so leer wirkenden Platz zeigt den atmosphärischen Wandel, der den Film durchzieht. Viele einzelne Einstellungen – z. B. der atmosphärische Wandel in der Kneipe von Serge Muscat – laden zu zusätzlichen Beobachtungen ein. Im Kino ist die atmosphärische Wirkung von Filmen größer als beim Fernsehen, weil man als Zuschauer stärker die Illusion entwickelt, selber körperlich

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in der gefilmten Atmosphäre anwesend zu sein. Bei 3D-Film wird diese Illusion noch verstärkt. Bei großen Bildschirmen kann sich das häusliche Fernsehen allerdings dem Kinoerlebnis annähern, aber die vertraute alltägliche Umgebung, in der der Fernsehapparat steht, bleibt ein gewisses Hindernis für die Illusionsbildung.

Schluss Aufmerksamkeit für das Atmosphärische ist ein Ziel allgemeiner ästhetischer Bildung, das eine ökologische Einstellung unterstützt. Das Gespür für die Resonanz zwischen Subjekt und räumlicher Umgebung ist eine Grundlage nicht nur für eine Haltung, die sorgsam mit der natürlichen Umwelt umgeht, sondern auch für ein bewusstes Gestalten von gebauten und eingerichteten Räumen, vom eigenen Zimmer bis zu Architektur und Stadtplanung. In Literatur, Theateraufführungen und Film werden Atmosphären in vielfacher Weise inszeniert; der Deutschunterricht kann, wenn er den Schülerinnen und Schülern den Sinn dafür erschließt, einen Beitrag für eine »kulturökologisch fundierte Didaktik« (Wanning 2008, S. 124) leisten.

Quellenverzeichnis Primärliteratur Aigner, Christoph Wilhelm (1999): Mensch: Verwandlungen. Stuttgart. Bartsch, Jochen / Kruse, Max (1968): Windkinder. Reutlingen. Dürrenmatt, Friedrich (1998) [1980]: Der Besuch der alten Dame. Tragische Komödie. Zürich. Guggenmos, Josef (2006): Groß ist die Welt. Die schönsten Gedichte. Weinheim. Hauptmann, Gerhart (1964): Sämtliche Werke, Band 4, hrsg. von Hans-Egon Hass. Frankfurt, Berlin. Keller, Gottfried (2009): Sämtliche Werke, Band 9, hrsg. von Walter Morgenthaler. Zürich. Krüss, James (1965): James’ Tierleben. München. Morgenstern, Christian (1933) [1932]: Alle Galgenlieder. Berlin. Storm, Theodor (1987): Sämtliche Werke, Band 1, hrsg. von Dieter Lohmeier. Frankfurt a. M. Walser, Robert (1985) [1914]: Geschichten, hrsg. von Jochen Greven. Zürich.

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Sekundärliteratur Böhme, Gernot (1989): Für eine ökologische Naturästhetik. Frankfurt a. M. Böhme, Gernot (1995): Atmosphäre. Frankfurt a. M. Böhme, Gernot (1998): Anmutungen. Über das Atmosphärische. Osterfildern vor Stuttgart. Böhme, Gernot (2007): »Atmosphären wahrnehmen, Atmosphären gestalten, mit Atmosphären leben: Ein neues Konzept ästhetischer Bildung«, in: Goetz, Rainer / Graupner, Stefan (Hg.): Atmosphäre(n). Interdisziplinäre Annäherungen an einen unscharfen Begriff. München, S. 31–43. Brunner, Philipp / Schweinitz, Jörg / Tröhler, Margrit (Hg.) (2012): Filmische Atmosphären. Marburg. Gumbrecht, Hans Ulrich (2011): Stimmungen lesen. Über eine verdeckte Wirklichkeit der Literatur. München. Meyer-Sickendiek, Burkhard (2011): »›Spürest du kaum einen Hauch‹. Über Leiblichkeit in der Lyrik«, in: Andermann, Kerstin / Eberlein, Undine (Hg.): Gefühle als Atmosphären. Neue Phänomenologie und philosophische Emotionstheorie. Berlin, S. 213–232. Schouten, Sabine (22011): Sinnliches Spüren. Wahrnehmung und Erzeugung von Atmosphären im Theater. Berlin. Seel, Martin (1996): Eine Ästhetik der Natur. Frankfurt a. M. Seel, Martin (2000): Ästhetik des Erscheinens. München. Spinner, Kaspar H. (2004): »Unken munkeln – Stimmung durch Gedichtvortrag zum Ausdruck bringen«, in: Sache – Wort – Zahl. Lehren und Lernen in der Grundschule 60, S. 9–11. Spinner, Kaspar H. (2011): »Atmosphäre als ästhetischer Begriff«, in: Butzer, Günter / Zapf, Hubert (Hg.): Theorien der Literatur. Grundlagen und Perspektiven. Band V. Tübingen, S. 201–216. Wanning, Berbeli (2008): »Kulturökologie in didaktischer Perspektive: Neue Tendenzen für den Literaturunterricht«, in: Paul, Ingwer / Thielmann, Winfried / Tangermann, Fritz (Hg.): Standard: Bildung. Blinde Flecken der deutschen Bildungsdiskussion. Göttingen, S. 115–127.

Kapitel 4: Von der Natur lernen – Den Menschen verstehen

Ulrike Kruse

Natur als Gottes Werk dem Menschen zum Nutzen. Johann Peter Hebels Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds

In der Literatur ist Natur vielfältig präsent und erfüllt verschiedene Funktionen: Sie ist Hintergrund und Kulisse und dient der geographisch-räumlichen Einordnung der Handlung in eine (fiktionale) Welt. Sie symbolisiert die Innenwelt der Figuren und veranschaulicht die Grundstimmung der Geschichte. Sie dient als Metapher der Vermittlung gesellschaftlicher Werte, wird in ihrer Nutzbarkeit für den Menschen dargestellt und ist gleichzeitig als Wildnis oder arkadischer Ort Gegenentwurf zur menschengemachten Kultur. Sie kann pars pro toto Agens in einer Geschichte sein oder – vor allem in der Sachliteratur – Gegenstand der (naturkundlichen) Betrachtung. Eine ergiebige Fundstelle für Natur in der Literatur ist das Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds von Johann Peter Hebel. Dieses erschien 1811 als Anthologie von Kalendergeschichten, die Hebel zuvor im Kalender des Karlsruher Gymnasiums veröffentlicht hatte. In jenen Aufsätzen ist die Natur gerade nicht Kulisse, stattdessen werden Phänomene in der Natur mit literarischen Mitteln als Metaphern zur Verdeutlichung moralischer und religiöser Regeln und Werte verwendet. Gleichzeitig werden sie naturkundlich korrekt anschaulich gemacht und die Natur wird als dem Menschen zum Nutzen geschaffen dargestellt. Wie Hebel dabei vorgeht, wird an drei Kalendergeschichten erläutert. Es wird herausgearbeitet, wie Natur in literarischen Texten und in Sachtexten dargestellt wird sowie ob und welche Unterschiede es dabei gibt. Vor dem Hintergrund, dass Hebel die Natur in ihrer Nutzbarkeit für den Menschen literarisch thematisiert, wird sich der Beitrag mit diesem historisch und religiös verortbaren, anthropozentrisch ausgerichteten Narrativ über Natur auseinandersetzen, um daran moderne Interpretationsmuster die Natur betreffend zu hinterfragen.

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Natur und Mensch In der europäischen Vormoderne gilt die Natur als natura naturata von einem Schöpfergott für den Menschen geschaffen. Der Mensch wiederum hat von Gott die Herrschaft über die Natur bzw. die Erde erhalten (dominium terrae): »Seid fruchtbar und mehret euch und füllet die Erde und machet sie euch untertan und herrschet über die Fische im Meer und über die Vögel unter dem Himmel und über das Vieh und über alles Getier, das auf Erden kriecht.« (Genesis 1, 28) Unabhängig vom Menschen schöpft die Natur aus sich selbst heraus als natura naturans und ist dabei unerschöpflich, d. h. unendlich fruchtbar – eine gottgegebene Eigenschaft, in der sich die Fürsorge Gottes (conservatio dei) für seine Geschöpfe ausdrückt (vgl. Genesis 1, 29 f.). Darüber hinaus wird Natur als Gegenteil von Kultur gedacht (vgl. Morgenthaler 2000, S. 67; Köchy 2010, S. 63). Nicht-Natürliches ist das, was »die Kunst der Werkleute in einen viel höheren Preis machet steigen / alß die Materi davon Sie gemachet / an sich selber ist« (Rist 1650, S. 181), wie der Humanist Johann Rist im 17. Jahrhundert formulierte. Wenn also etwas vom Menschen verändert oder hergestellt worden ist, dann ist es kein Teil der Natur mehr. Der Mensch ist in diesem Denkbild von der Natur getrennt. Er, der eigentlich als Teil der Natur deren Gesetzen unterworfen ist, wird als unabhängiges Subjekt gedacht. Um ihn dreht sich die Welt und ihm dient die Natur. Ihr wird in diesem anthropozentrischen Weltbild im Gegenzug die Rolle eines zu betrachtenden Objekts zugesprochen. Die objektivierte Natur gilt als wieg-, mess- und durchschaubar in ihren Gesetzmäßigkeiten (vgl. Kruse 2013, S. 19 ff; Morgenthaler 2000 und Sieglerschmidt / Biehler 2008 insgesamt; Fischer 2010, S. 50 f). Was der Mensch durchschauen kann, kann er verändern und verbessern zu seinem Nutzen – so die Meinung in den sich seit dem 17. Jahrhundert durch neue technische Möglichkeiten entwickelnden Naturwissenschaften. 1809 definierte Karl Christian Gmelin den »letzten Zweck der Naturwissenschaft [als] die Anwendung und Benutzung der natürlichen Körper […] zur Verbesserung des allgemeinen Wohlstandes« (Gmelin 1809, S. 21). Dieses Diktum gilt bis heute, wenn z. B. Flüsse als Wasserstraßen ausgebaut, Blitzableiter auf Hausdächern montiert oder Pflanzen mit besonderen Eigenschaften gezüchtet werden. Zur praktischen Seite natürlicher Dinge gesellt sich die Betrachtung der Natur als »Projektionsfläche für Sinn« (Piechocki 2010, S. 98). Gegenstände aus der Natur dienen der Darstellung moralischer Vorstellungen und religiöser Überzeugungen. So wird etwa in Hebels Baumzucht die Wiederauferstehung des Leibes nach dem Tod mit dem jährlichen Erblühen der Obstbäume gleichgesetzt. Bevor jedoch auf die einzelnen Stücke eingegangen wird, werden Johann Peter Hebel und die Kalendergeschichte als literarische Ausdrucksform in den Blick genommen.

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Johann Peter Hebel und das Schatzkästlein des Rheinischen Hausfreunds Johann Peter Hebel wurde 1760 in Basel geboren und starb 1826 in Schwetzingen. In seiner Jugend erhielt er eine fundierte Ausbildung am Karlsruher Gymnasium und studierte in Erlangen Theologie. Nach Anstellungen in Hertingen und Lörrach wurde er 1791 Subdiakon am Karlsruher Gymnasium, dessen Leitung er 1808 als Direktor übernahm. Über seine Aufgaben als Geistlicher und Pädagoge hinaus war er ein vielseitig interessierter Naturforscher, der mit seinem Karlsruher Kollegen Karl Christian Gmelin in engem Austausch stand (vgl. Helwig 2010, S. 123–159). 1803 trat er mit den bereits von Zeitgenossen gelobten Alemannischen Gedichten als Schriftsteller an die Öffentlichkeit und knüpfte ab 1806 mit Kalendergeschichten an den Erfolg der Gedichte an. Im Badischen Landkalender (ab 1808 Rheinischer Hausfreund), der als »Kalender für jedermann« (Rohner 1978, S. 40) konzipiert war, versammelte Hebel naturkundliche Berichte, moralische Geschichten, theologische Unterweisungen, unterhaltsame Schwänke sowie Berichte über ökonomisch sinnvolles Wirtschaften. Er wandte sich an unterschiedliche Leser sowohl in der Stadt als auch auf dem Land, gebildet oder ungebildet (vgl. ebd., S. 50), die belehrt und unterhalten werden sollten. Und sie wollten belehrt und unterhalten werden, wie der Anstieg der Auflage von »17.000 auf 36.000« (Voit 1994, S. 23) Stück zwischen 1806 und 1812 nahelegt. Zum Erfolg trug bei, dass er – wie Hebel es formulierte – die »Absicht zu belehren u. zu nützen […] hinter dem studio placende masquirt« (Hebel [1806], S. 151), um sie dadurch umso sicherer zu erreichen. Hebel war als Kalendermann ein Volksaufklärer, der »als gelehrter Geistlicher […] die Naturerscheinungen und ihre moral-theologischen Bedeutungen für den Leser« (Theiß 1989, S. 236) erklären wollte. Er war der Physikotheologie verpflichtet, die Naturkunde als gelebten Gottesdienst (vgl. van Dülmen 2004, S. 131) betrachtete. Mittels Naturkunde sollte die Welt als Schöpfung Gottes in ihrer Ordnung und ihren Gesetzen durch menschliche Vernunft erkannt und erklärt werden. So betrachtet waren die Naturgesetze »Manifestationen des göttlichen Schöpfungsplans« (Biehler 2009, Sp. 1179), genauso wie Bedrohungen durch die Natur als Schlechtes zum Guten beitrugen. Die Leser sollten die Natur als Wunder Gottes bestaunen, während sie naturkundlich gebildet wurden. Hebel bediente sich zu diesem Zweck des in der Frühen Neuzeit beliebten Kalenders. Kalender boten »die allen Bevölkerungsschichten nötige Orientierung im Jahreslauf und wichtige, im Lebensalltag notwendige Informationen«, was sie zu einer »weltlich orientierten Hilfe zur Bewältigung des Daseins«

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machte (Böning 2005, S. 139). Als Sachliteratur stellten sie in einer sich stets verändernden Welt Handlungssicherheit her durch Wissensvermittlung über Regeln, die aus Weltwissen abgeleitet und mit Orientierungswissen verknüpft wurden. Die literarische Form der Kalendergeschichte, der Hebel zu einer ersten Blüte verhalf, entwickelte sich in dieser Art am Ende des 18. Jahrhunderts (vgl. Knopf 1999, S. 134), auch wenn schon zuvor in Kalendern strukturell ähnliche Texte enthalten waren. Sie tritt in vielen Formen auf: als Anekdote, Kurznovelle, Schwank, Satire und Witz, Parabel, Exempel, Sage oder Legende. Besonders gekennzeichnet ist sie durch Wortwitz und Einfachheit, durch den Hausfreund als Erzähler, der mit dem Leser in Dialog tritt, und durch die Moral der Geschichte, die entweder direkt ausgesprochen wird oder vom Leser entschlüsselt werden muss (vgl. Meid 1999, S. 265). Hebels Kalendergeschichten sind realitätsbezogen, didaktisch orientiert, volkstümlich und unterhaltend. Zwischen fiktional-literarischen Texten wie Spuk- und Gaunergeschichten sind Sachtexte über ferne Orte und Zeiten, Planeten, Kriege, Reisen, Tierphysiologie oder das Wetter eingeflochten.

Menschen – Tiere – Religion: Textanalysen Im Folgenden wurden drei Stücke ausgewählt, die ökonomisches Regelwissen, naturkundliches Weltwissen und gesellschaftlich relevantes Orientierungswissen anhand von Beispielen aus der Natur vermitteln: Der Mensch in Kälte und Hitze illustriert an der Oberfläche die Anpassungsfähigkeit des Menschen an extreme Umgebungen und geht auf Naturphänomene ein. Darüber hinaus sind gesellschaftlich relevante Aussagen interpretierbar. Der Maulwurf beschreibt neue Erkenntnisse über das im Titel genannte Tier und seine Eigenschaften. Das Stück Baumzucht vereint Aussagen über die ökonomische Bedeutung von Obstbäumen mit der Darstellung religiöser Überzeugungen und moralischer Werte.

Der Mensch in Kälte und Hitze (Hebel 1961 [1811/1834], S. 58–61) Auf den ersten Blick ist dies ein Sachtext über die unterschiedlichen klimatischen Bedingungen auf der Erde, über ihr Zustandekommen und ihre Auswirkungen auf Pflanzen, Tiere und Menschen: Es gibt Gegenden, wo der Winter den größten Teil des ganzen Jahrs Herr und Meister ist, und entsetzlich streng regiert, wo das Wasser in den Seen 10 Schuh tief gefriert, und

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die Erde selbst im Sommer nicht ganz, sondern nur einige Schuh tief auftaut, weil dort die Sonne etliche Monate lang gar nicht mehr scheint, und ihre Strahlen auch im Sommer nur schief über den Boden hingleiten. Und wiederum gibt es andere Gegenden, wo man gar nichts von Schnee und Eis und Winter weiß, wo aber auch das Gefühl der höchsten Sommerhitze fast unerträglich sein muß, zumal wo es tief im Land an Gebirgen und großen Flüssen fehlt, weil dort die Sonne den Einwohnern gerade über den Köpfen steht, und ihre glühenden Strahlen senkrecht auf die Erde hinabwirft. (Ebd., S. 58)

Die Tiere und Pflanzen, die dort leben und wachsen, seien an ihren jeweiligen Standort angepasst und könnten kaum an anderen Orten überleben: Nur sehr wenige, die der Mensch mitgenommen hat, sind imstande, die größte Hitze in der einen Weltgegend und die grimmigste Kälte in der andern auszuhalten. Auch diese leiden sehr dabei, und die andern verschmachten oder erfrieren, oder sie verhungern, weil sie ihre Nahrung nicht finden. Auch die Pflanzen und die stärksten Bäume kommen nicht auf der ganzen Erde fort, sondern sie bleiben in der Gegend, für welche sie geschaffen sind. (Ebd., S. 58 f.)

Sie seien wegen ihrer Spezialisierung wenig anpassungsfähig an veränderte Lebensbedingungen, »selbst die Tanne und die Eiche verwandeln sich in den kältesten Ländern in ein niedriges unscheinbares Gesträuch und Gestruppe auf dem ebenen Boden, wie wir’s auf unsern hohen kahlen und kalten Bergen auch bisweilen wahrnehmen« (ebd., S. 58 f.). Menschen jedoch seien so flexibel, dass sie nahezu überall leben könnten, egal wie extrem die Bedingungen sein mögen. »Keine einzige Art von Tieren hat sich von selber so weit über die Erde ausgebreitet, als der Mensch.« (Ebd., S. 58), heißt es bei Hebel. Der Mensch halte größte Hitze und Kälte und härteste Strapazen aus, ob heiße Sandstürme oder sibirische Winterkälte. Hebel streut Sensationsberichte über Extremwetter sowie über Experimente mit Hitze ein, um die menschliche Anpassungsfähigkeit zu illustrieren. Dieses Vermögen wird damit begründet, dass sich die menschliche »Natur […] allmählich und immer mehr nach der Gegend« richte, »in welcher er lebt, und er weiß wieder durch seine Vernunft seinen Aufenthalt einzurichten, und so bequem und angenehm zu machen, als es möglich ist« (ebd., S. 59.). Genauer betrachtet geht es um den Gegensatz zwischen dem überlegenen Menschen als anpassungsfähiges Wesen und den an bestimmte Lebensbedingungen angepassten Pflanzen und Tieren. Mit dem Hinweis, »der Mensch [könne] nichts Nützlicheres und Besseres kennenlernen, als sich selbst und seine Natur« (ebd., S. 58), macht Hebel deutlich, dass der Mensch sowohl von seiner Natur her als auch durch seine Verstandeskräfte in veränderten Lebenslagen besonders anpassungsfähig sei. Seine Vernunft ermögliche ihm, extreme Bedingungen in der Natur lebenswert zu verändern oder von ihm selbst erzeugte Bedingungen, wie die Hitze in »Glashütten, Eisenschmelzen, Hammerschmidten« (ebd., S. 60), zum

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eigenen Nutzen zu ertragen. Seine Vernunft, sein Verstand, hebe den Menschen als Krone der Schöpfung von den anderen Geschöpfen Gottes ab. Durch seine natürliche und verstandesmäßige Überlegenheit gilt er als Maß der Dinge. Hebel formuliert den menschlichen Herrschaftsanspruch mit einem Rekurs auf die Bibel: »Das muß der Schöpfer gemeint haben, als er über das menschliche Geschlecht seinen Segen aussprach: ›Seid fruchtbar und mehret euch, und erfüllet (oder bevölkert) die Erde, und machet sie euch untertan.‹« (Ebd. S. 59) Ausgehend von naturkundlichem Weltwissen über Klimazonen und deren Unterschiede bezüglich Flora und Fauna wird dem Leser Orientierungswissen über seine eigene Stellung in der Schöpfung vermittelt. Er erfährt, dass ihm als geistig und körperlich überlegener Spezies resp. Krone der Schöpfung von Gott die Herrschaft über die Natur mit ihren Pflanzen und Tieren verliehen wurde. Dass diese Herrscherrolle mit Verantwortung gegenüber der Natur verbunden ist, die die Kenntnis der Naturgesetze erfordert, darauf macht Hebel in Der Maulwurf aufmerksam.

Der Maulwurf (Ebd. S. 64–66) Statt mit der ›Krone der Schöpfung‹ beschäftigt sich Der Maulwurf mit jenem Tier, das vor allem in der Manifestation der Maulwurfshügel bekannt ist. Doch nicht das Fabeltier – der ›blinde Maulwurf‹ oder der ›Baumeister‹ – ist das Thema, sondern es geht um den Maulwurf als einheimischer Wiesen- und Gartenbewohner. Der Maulwurf wurde in frühneuzeitlichen Gartenratgebern stets als Schädling bezeichnet. Es gab genaue Vorstellungen darüber, was er anrichte (Abfressen von Wurzeln, Zerwühlen des Erdreichs) und wie dem zu begegnen sei – nämlich mit Ausrottung. Hebel dagegen beschreibt den Maulwurf als Nützling: Das Zerwühlen wird als Bodenlockerung gedeutet. Außerdem fresse der Maulwurf nicht die Wurzeln der Pflanzen, sondern Wurzelschädlinge wie Engerlinge. Beweise für die Nützlichkeit des Tieres werden anhand von anatomischen Untersuchungen am Maulwurf geliefert. So habe er beispielsweise nicht das Gebiss eines Pflanzenfressers, sondern das eines Raubtiers: »Er hat in der oberen Kinnlade sechs und in der unteren acht spitzige Vorderzähne, und hinter denselben Eckzähne auf allen vier Seiten, und daraus folgt: Er ist kein Thier, das an Pflanzen nagt, sondern ein kleines Raubtier, das andere Thiere frißt.« Außerdem wird auf den Mageninhalt verwiesen: »Nun werdet ihr, wenn ihr die Probe machen wollt, nie Wurzelfasern oder so etwas in dem Magen des Maulwurfs finden, aber immer die Häute von Engerlingen, Regenwürmern und anderm Ungeziefer, das unter der Erde lebt.« (Ebd., S. 66) Der Maulwurf vertilgt also wurzelfressende Schädlinge. Daraus leitet Hebel

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ab, dass die Verfolgung und Vernichtung des Maulwurfs zu großem Schaden führe, weil er dann keine Schädlinge fressen könne: Da können sie [die Schädlinge] alsdann ohne Gefahr eure Wiesen und Felder verwüsten, wachsen und gedeihen, und im Frühjahr kommt alsdann der Maykäfer, frißt auch die Bäume kahl wie Besenreis, und bringt euch zur Vergeltung auch des Gukuks Dank und Lohn. So siehts aus! (Ebd., S. 66)

Hebel erläutert hier mit einem Satz einen Zusammenhang, den zu kennen für den Landwirt Bedeutung hat: Der Maulwurf ist ein nützlicher Fressfeind von Gartenschädlingen. Daraus wird eine Handlungsregel abgeleitet: Der Landwirt solle den Maulwurf nicht mehr verfolgen. So scheint der Maulwurf rehabilitiert, doch weit gefehlt: Nach wie vor wird er als schädlich angesehen. Die Maulwurfshügel gelten als hässliche Marken seiner unerwünschten Anwesenheit. Sie werden plattgewalzt und es werden Geräte zum Vertreiben des vermeintlichen Wurzelfressers oder gar Gift in den Gängen postiert (vgl. Witte 1997, Kap. 4.17, S. 162 ff. und Kap.6, S. 190ff). Warum sich Hebels Erkenntnisse nicht durchsetzten, lässt sich dadurch erklären, dass neues Wissen nur mühsam in den Interdiskurs (Link 2005, S. 87) eindringt, wenn es auch noch so verständlich dargestellt wird. Dieses neue Spezialwissen, das schwer zu überprüfen ist – wer seziert schon einen Maulwurf –, müsste sich gegen jahrhundertealtes Allgemeinwissen und gegen ebenso alte Vorstellungen von Wohlgeordnetheit und Schönheit durchsetzen, die mit ›hässlichen‹ Maulwurfshügeln schwer vereinbar sind. Das sachliterarische Stück spricht naturkundlich korrekt über den Maulwurf, allerdings nicht in der Sprache des Naturwissenschaftlers, sondern als ›Hausfreund‹, der die Erkenntnisse der Gelehrten in einfachen Worten mit Witz an den Leser bringt. Auf diese Weise verbreitet Hebel neues naturkundliches Weltwissen, das er generiert mittels eines experimentellen Nachweises der Nützlichkeit des Maulwurfs als Schädlingsvertilger. Er führt den Lesern die auf ihrer Stellung im Schöpfungsplan beruhende Verantwortung gegenüber einem verkannten Geschöpf Gottes vor Augen – auch wenn sein Anliegen auf taube Ohren stößt.

Baumzucht (Ebd. S. 249–252) Hier trifft der Leser den Adjunkten (der Gehilfe eines Beamten) »mit schwarzen Lippen, ohne daß er’s weiß, mit blauen Zähnen und herabhängenden Schnüren an den Beinkleidern« (ebd., S. 249) im fröhlichen Gespräch mit dem Hausfreund. Der Adjunkt verdeutlicht dem Hausfreund die Fürsorge Gottes für seine Geschöpfe (conservatio dei) mit einem Beispiel:

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›Die Kirschen‹, sagt er, ›schmecken mir doch nie besser, als wenn ich selber frei und keck wie ein Vöglein auf dem luftigen Baum kann sitzen, und essen frisch weg von den Zweigen die schönsten, – so auf einem Ast ich, auf einem andern ein Spatz. Wir nähren uns doch alle‹, sagt er, ›an dem nämlichen großen Hausvaterstisch und aus der nämlichen milden Hand die Biene, die Grundel im Bach, der Vogel im Busch, das Rößlein und der Herr Vogt, der darauf reitet.‹ (Ebd., S. 249)

Hebel bezieht sich auf Matthäus 6, 26: »Seht die Vögel unter dem Himmel an: sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.« Das heißt, für alle Geschöpfe auf der Erde, im Himmel oder im Wasser, ob Insekt, Vogel, Fisch oder Säugetier, sorgt Gott gleichermaßen. Unterstützt wird diese Vorstellung durch ein elfstrophiges alemannisches Lied, das den Jahreslauf beschreibt und die Freuden thematisiert, die ein Kirschbaum den Tieren spendet. Im Frühling wird dem Würmchen der Kirschbaumtisch mit Blättern gedeckt: Der lieb Gott het zum Frühlig gseit: ›Gang, deck im Würmli au si Tisch!‹ Druf het der Chriesbaum Blätter treit viel tausig Blätter grün und frisch. (Hebel 1961 [1811/1834], S. 249)

Für die Biene öffnen sich die Blüten: Und wieder het der lieb Gott gseit: ›Deck jez im Imli au si Tisch.‹ Druf het der Chriesbaum Blüethe treit, viel tausig Blüethe wiiß und frisch. (Ebd., S. 249 f.)

Im Sommer wird der Spatz mit Kirschen ernährt: Der lieb Gott het zum Summer gseit: ›Gang, deck im Spätzli au si Tisch!‹ Druf het der Chriesbaum Früchte treit. Viel tausig Chriesi roth und frisch. (Ebd., S. 250)

Über die göttliche Fürsorge hinaus ist der Obstbaum Sinnbild für die Auferstehung des Leibes, weil er jedes Jahr wieder aus totem Holz Blüten treibt und Früchte trägt. Diese Vorstellung geht auf Hiob 14, 1–2 zurück: »Der Mensch, vom Weibe geboren, lebt kurze Zeit und ist voll Unruhe, geht auf wie eine Blume und fällt ab, flieht wie ein Schatten und bleibt nicht.« Diese Idee wird aufgegriffen: »wenn alsdann der Frühling wiederkehrt, und alle Bäume stehen wie Auferstandene von den Todten in ihrer Verklärung da, voll Blüthen und Sommervögel und Hoffnung« (Hebel 1961 [1811/1834], S. 252). Hebel wählt nicht irgendeinen Obstbaum, sondern den Kirschbaum, seit Martin Luther Symbol der Auferstehung:

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Darumb thu die Augen auff, sihe den Kirschbaum an, Der selb wird dir predigen von der todten Auferstehung […]: Lieber, sihe doch mich an zu Winter zeit, wie dürr, wie kal, wie unfruchtbar, wie gar tod ich bin […]. Aber komm wider nach Ostern, so hab ich Safft und Leben, bin weis von Blüht, grün von Blettern. (Luther 1662, S. 394)

Die Gnade Gottes lässt sich an einem immer wieder grünenden Obstbaum ermessen, an dem man zum höheren Nutzen Frömmigkeit üben kann. Deshalb soll auch jeder auf dem Lande Obstbäume pflanzen, um Gottseligkeit daraus zu schöpfen: »Die Gottseligkeit aber hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens.« (Hebel 1961 [1811/1834], S. 252) Hebel nimmt einen Vers aus dem 1. Brief an Timotheus (4, 8) auf: »Denn die leibliche Übung ist wenig nütze; aber die Frömmigkeit ist zu allen Dingen nütze und hat die Verheißung dieses und des zukünftigen Lebens.« Sich mit dem Obstbaum als Teil der Natur zu befassen, ist Beschäftigung mit der göttlichen Schöpfung, im physikotheologischen Sinn gelebter Glaube und Andacht: »Wie schön sie [die Obstbäume] sind im Frühling und in ihrem Christkindleinsstaat im Sommer, und alles stehenbleibt und sie betrachtet und Gott dankt.« (Hebel 1961 [1811/1834], S. 251) Der höhere Nutzen geht mit Profanem einher : Zum einen auf ökonomischer Ebene, »denn ein Baum, wenn er gesetzt oder gezweigt wird, kostet nichts oder wenig, wenn er aber groß ist, so ist er ein Kapital für die Kinder, und trägt dankbare Zinsen« (Ebd., S. 252). Aus geringem Aufwand entsteht also großer Nutzen – sowohl bezogen auf die einzusetzende Arbeitskraft, als auch in finanzieller Hinsicht. Zum anderen sind Obstbäume an Wegen und Feldrainen Schattenspender und Wegmarken im Gelände, wenn der Wanderer ausruht in ihrem Schatten, und ein Pfeiflein Tabak genießt, oder ein Stücklein Käs, und wie sie gleich dem Kaiser Wohltaten austeilen können, und jung und alt froh machen umsonst, und im Winter allein nicht heimgehen. Nein sie bleiben draußen und weisen den Wandersmann zurecht, wenn Fahrwege und Fußpfade verschneit sind. (Ebd., S. 251)

Als solche spenden sie Trost und Hoffnung, was sie wiederum zu Sinnbildern der Fürsorge Gottes macht. Und Trost und Hoffnung spenden sie noch auf andere Weise: ›Wenn ich mir einmal so viel bei Euch erworben habe‹, sagt der Adjunkt zum Hausfreund, ›daß ich mir ein eigenes Gütlein kaufen, und meiner Frau Schwiegermutter ihre Tochter heiraten kann, und der liebe Gott beschert mir Nachwuchs, so setze ich jedem meiner Kinder ein eigenes Bäumlein, und das Bäumlein muß heißen wie das Kind, Ludwig, Johannes, Henriette, und ist sein erstes eigenes Kapital und Vermögen, und ich sehe zu, wie sie miteinander wachsen und gedeihen, und immer schöner werden, und wie nach wenig Jahren das Büblein selber auf sein Kapital klettert und die Zinsen einzieht. Wenn mir aber der liebe Gott eines von meinen Kindern nimmt, so bitte ich den Herrn Pfarrer oder den Dekan, und begrabe es unter sein Bäumlein, und wenn alsdann der Frühling wiederkehrt, und alle Bäume stehen wie Auferstandene von den

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Toten in ihrer Verklärung da, voll Blüten und Sommervögel und Hoffnung, so lege ich mich an das Grab, und rufe leise hinab: ›Stilles Kind, dein Bäumlein blüht. Schlafe du indessen ruhig fort! Dein Maitag bleibt dir auch nicht aus.‹‹ (Ebd., S. 252)

Hebel schließt an die tröstliche Auferstehungsmetapher an, was den wehmütigen Ton am Ende ins Hoffnungsvolle wendet. Im Sinne der klassischen Funktionsbestimmung der Literatur – ›prodesse et delectare‹, ›nützen und erfreuen‹ – verbindet Hebel schöne Dichtkunst und nützliche Information. Der Leser wird über die ökologische Funktion des Obstbaums als Nahrungsspender für Tier und Mensch informiert (Weltwissen). Ihm wird der ökonomische Nutzen des Obstanbaus nahegebracht und daraus die Regel abgeleitet, dass Obstbäume anzupflanzen sinnvoll sei (Regelwissen). Gleichzeitig werden ihm religiöse Vorstellungen am Beispiel erklärt (Orientierungswissen). Das Ganze erfolgt zur Freude des Lesers literarisch aufbereitet, ohne zu seinem Nutzen die Wissensvermittlung zu vernachlässigen.

Ergebnisse Das Sinnvolle und Wohltätige der Natur zeigt sich bei Hebel im Nutzen der Erzeugnisse aus der Natur für den Menschen. Der Mensch ist der Natur nicht ausgeliefert, sondern er kann sie aufgrund seiner überragenden Anpassungsfähigkeit und Geisteskräfte beherrschen. Die Natur ist im Verständnis Hebels von Gott für den Menschen zu dessen Nutzen geschaffen und zum Gebrauch anvertraut. Der Mensch steht bei ihm im Mittelpunkt dieses Denkbildes. Die Natur ist in Form konkreter Dinge das, was den Menschen etwas angeht, was ihm nutzt oder schadet. Hebel ist der Ansicht, der Mensch könne, wenn er die Gesetze hinter den natürlichen Phänomenen kennt, die Natur beherrschen, weil er erkennen könne, was für ihn nützlich oder schädlich ist, um dann das Schädliche zu entfernen und das Nützliche zu fördern. Doch soll sich der Mensch nicht über die Schöpfung erheben, sondern die Gaben der Natur und damit die Gaben Gottes dankbar annehmen, ohne die Natur zu sehr auszubeuten. Darum klärt Hebel seine Leser auf einfache und unterhaltsame Weise über die Natur in ihrer Mannigfaltigkeit auf, indem er darüber »in zugleich belehrender und unterhaltender Form übersichtlich, leichtverständlich und geschickt aufgemacht« (von Wilpert 2001, S. 712) spricht. Das erfolgt sowohl dichterisch fiktional als auch sachliterarisch faktual. Das Vorgehen ist zwar ähnlich, aber nicht gleich. Der Unterschied liegt im Fokus: In der sachliterarischen Darstellung ist der Sachverhalt selbst interessant, der in einem zweiten Schritt orientierend in herrschende Vorstellungen eingeordnet wird. So wird z. B. erst erklärt, dass Pflanzen und Tiere an ihren Standort an-

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gepasst und wenig ortsflexibel sind, der Mensch sich aber sehr leicht an seinen Lebensraum (oder jenen an den Menschen) anpassen kann. Daraus wird abgeleitet, dass der Mensch durch diese Überlegenheit die Krone der Schöpfung ist. Bei der Rehabilitierung des Maulwurfs als Nützling werden auf der Grundlage von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen neue Regeln aufgestellt und überkommene Vorstellungen ad absurdum geführt. Bei der dichterischen Darstellung von Natur steht zunächst die metaphorische Kraft von Dingen aus der Natur als pars pro toto im Vordergrund. Der Spatz auf dem Kirschbaum ist das Symbol für Freiheit, der Kirschbaum selbst illustriert die Wiederauferstehung des Leibes, die Würmer und Bienen stehen für Gottes Fürsorge für seine Geschöpfe. Erst im zweiten Schritt wird am Kirschbaum der Jahreslauf erklärt sowie dessen Nutzen als Obstlieferant für den Menschen. Betont werden muss nochmals das – im heutigen kulturökologischen Denken problematisierte – anthropozentrische Weltbild, das Hebel transportiert: Die Natur existiert in diesem Weltbild nur für den Menschen. Sie hat keine Funktion ohne ihn, also keinen Selbstzweck. Doch ihre Funktionen für ihn sind vielfältig: Sie ist Metapher, Arbeitsmittel und Grundlage des (bäuerlichen) Wirtschaftens sowie Gegenstand der naturkundlichen Neugier. Das bedeutet, dass sie nur im Bezug zum Menschen beschrieben werden kann als nützlich oder schädlich. Dinge in der Natur, die den Menschen nicht betreffen, werden deshalb von Hebel nicht thematisiert. Gerade der Umstand, dass Beschäftigung mit der Natur nur auf ihrem Verhältnis zum Menschen beruht, hat noch immer in weiten Teilen unserer Gesellschaft Gültigkeit. So wird z. B. der Maulwurf in der modernen Biologie, in der Agrar- und der Forstwissenschaft als Nützling, Lästling (nicht direkt schädlich, aber auch nicht erwünscht) oder als Schädling betrachtet (Vgl. Witte 1997, bes. Kap. 4.17 bzw. S. 162 ff.). Das hängt davon ab, welche Auswirkungen sein Verhalten auf der jeweils von ihm besiedelten Fläche hat, und zwar in Bezug darauf, was sich der Mensch auf dieser Fläche wünscht. Besonders von Gartenbesitzern wird er nach wie vor als Schädling betrachtet. Ein sachliterarischer, naturkundlich korrekter Text wie Der Maulwurf ist also immer noch aktuell, weil das zu seiner Zeit neue Wissen über den Maulwurf bis heute nicht in den Interdiskurs eingedrungen ist, denn dieses Wissen tritt – wie schon gesagt – gegen sehr alte und mächtige Vorstellungen über Nutzen und Schönheit an. Zwar wird die Beherrschbarkeit der Natur durch den Menschen bis heute kaum infrage gestellt: So gelten Schutzsysteme wie Deiche als verhältnismäßig sicher oder die (Wieder-)Herstellung von Landschaften mit ihren hydrologischen Systemen sowie Flora und Fauna auf Tagebauresten ist gang und gäbe (vgl. Schwarzer 2009, S. 303 f.). Es kommt sogar zum Einsatz von Technik zur Wetterbeeinflussung (vgl. Belge / Gestwa). Genau dies lässt sich mit Der Mensch in

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Hitze und Kälte aber auch bezweifeln. An diesem Stück können Fragen gestellt werden wie: Warum sollten Pflanzen und Tiere an anderen Orten eingeführt werden – man denke an Neobiota (Neozoen und Neophyten) als mögliche Bedrohung der jeweils angestammten Flora und Fauna. Ist es sinnvoll, jeden noch so unzugänglichen Ort auf der Erde zu besiedeln? Was spricht dagegen – besonders mit Blick auf Probleme wie die Regenwaldabholzung oder das Verschwinden ökologischer Nischen durch anthropogene Einflüsse? Was spricht wiederum dafür – man denke an die Erschließung von Bodenschätzen oder von fruchtbarem Land zur Nahrungsmittelproduktion? Anders gefragt: Sollen die Menschen alles tun dürfen, was sie tun können? In Säkulardiskursen wird die Welt nicht mehr als von einem Gott für den Menschen erschaffen gedacht. Dort wird Natur als Da-Seiendes angesehen, das hauptsächlich in den Eigenschaften und Funktionen betrachtet wird, die den Menschen betreffen. Wie kann nun in einer säkularisierten Gesellschaft ein christlich-religiös interpretierbares Stück wie die Baumzucht in Bezug auf kulturökologische Fragen im Unterricht behandelt werden? Die Auferstehungsmetapher hat für das Erblühen der Bäume in diesem Zusammenhang wenig Erklärungsmacht. Sehr gut gelingt es jedoch, das sich entfaltende Leben im Frühjahr mit dem Jahreslauf in Verbindung zu bringen, wie es im alemannischen Lied geschieht. Die Fürsorge Gottes kann als säkulare Naturfülle gedeutet werden, in der für alle Geschöpfe gesorgt ist. Daraus wiederum ergibt sich, dass alle, aber auch wirklich alle Geschöpfe auf der Erde daseinsberechtigt sind – unabhängig davon, welche Auswirkungen ihr Sein und Handeln auf den Menschen haben. Diese Interpretation ergibt sich sowohl aus der Annahme eines planenden Schöpfergottes als auch aus der Vorstellung einer ungerichtet wirkenden, gesetzmäßig ablaufenden Natur.

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Elisabeth Jütten

Das Leben als »zänkische, nichtsnutzige, katzbalgerische Lumpenburg«. Zum Paradigmenwechsel des Lebensbegriffs in Pfisters Mühle

1.

Das Mühlenidyll als Manifestation der Natur-Kultur-Dichotomie

Pfisters Mühle gilt gemeinhin als der erste ›ökologische Roman‹, als »Schlüsselroman zu einem Abwasserprozeß« (Popp 1959, S. 22–25), der sich z. T. wörtlich an das Gutachten der Naturwissenschaftler Cohn und Beckurt aus dem Prozess um die Aktienzuckerfabrik Rautheim anlehnt und »der die Folgen des industriellen Wandels für Natur und Umwelt zu seinem zentralen Anliegen macht« (Wanning 2005, S. 196, vgl. Detering 1992, S. 10–11, vgl. Wanning 2005, S. 347–419, insbes. S. 356–357, vgl. Goodbody 1999). In der positivistischen Forschung geht es entsprechend darum, die historische Umweltproblematik mit der literarischen Schilderung zu vergleichen und eventuell mahnend auf die Gegenwart zu verweisen. Raabe erscheint als »Apologet des Umwelt- und Naturschutzes und als Philosoph der Nachhaltigkeit« (Neguie 2003–2004). In motivgeschichtlichen Analysen wird dargelegt, inwiefern Raabe die Mühle als idyllischen Ort konzipiert, der der ökonomisch-technischen Moderne zum Opfer fällt und der nun im Modus einer melancholischen Abschiedsgeste narrativ in Erinnerung überführt wird (vgl. Tausch 2008, S. 185–188). Problematisch sind solche Deutungen, weil sie die »ästhetische Funktion im poetischen Fiktionszusammenhang« vernachlässigen und den Roman dadurch unzulässig verkürzen (vgl. Denker 1988, S. 85–86, vgl. Sammons, S. 269–282). Dass der Text eine selbstreflexive Inszenierung komplexer Lebensprozesse leistet und dass er seine ökologische Relevanz in der Kultur nicht nur auf inhaltlich-referenzieller Ebene, sondern in seinen ästhetischen Prozessen entfaltet, gerät dabei aus dem Blick. Raabe wird damit zum nostalgischen Bildersammler, der die Natur-Kultur-Dichotomie letztlich fortschreibt (vgl. Tausch 2008, S. 188). Übersehen wird dabei, dass der Ich-Erzähler mit seiner »unmotivierte[n] Stilübung« (Raabe 1961, S. 9) die Lesererwartung nur vorgeblich erfüllt, indem er die wehmütig-elegische, idyllische Gegenphantasie einer heilen Naturwelt ent-

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wirft. Wie Adam Asche sich »das Griechische ein bißchen wieder aufgefärbt« hat, weil das »Hausidyll […] gegen den Überdruß« nicht immer ausreicht (Raabe 1961, S. 178), so bietet der Ich-Erzähler dem damaligen und insbesondere auch dem heutigen Leser mit seinem aus Wehmut und Empörung gemischten Empfinden scheinbar ein »Remedium gegen die Trauer« (Wanning 2005, S. 201) über den Verlust des Selbst und der Umwelt. Wehmütig verabschiedet wird das Paradigma von der Ganzheit des Lebens und der damit verbundenen Ästhetik des Lebens, das sich nun auf dem Abfallhaufen, der »Lumpenburg« (Raabe 1961, S. 164) »unter Paucken und Posaunen« (Raabe 1961, S. 169) als »neue Welt und Mode« (Raabe 1961, S. 177) feiert. Doch Literatur wird hier nur vorgeblich zum Medium der Kompensation einer vormaligen Ganzheitserfahrung degradiert. Denn in seiner Selbstreflexivität entlarvt der Text dieses Verfahren der wehmütig-elegischen Narration als marktkonforme Strategie eben dieser neuen Zeit. Zu beachten ist daher zweierlei. Erstens handelt es sich bei dem vermeintlich um Objektivität bemühten Ich-Erzähler, der immer wieder selbstreflektierend und metapoetisch kommentierend in Erscheinung tritt, um einen äußert unzuverlässigen und von sehr persönlichen Partikularinteressen geleiteten Erzähler, der mehr verbirgt als er enthüllt (vgl. Tausch 2008, S. 190). Was so leicht als »Ein Sommerferienheft« tituliert wird, ist das Resultat eines vormals scheinbar anspruchsvollen literarischen Vorhabens, das zur persönlichen sentimentalen Verarbeitung der kindlichen Wunderwelt des Philologen Pfister wird, der damit seine Jugend abschließt und in Berlin mit seiner Frau Emmy endgültig den Schritt in die Erwachsenenwelt vollzieht. Wie schon Vater Pfister die Vorwelt der Mühle verabschiedet hat, weil der Lauf der Dinge weitergeht und er sich zuletzt den sentimentalen Kampf um die Mühle als Abschluss gönnt, weil man kampflos nicht aus den »unendlichen Katzbalgereien« (Raabe 1961, S. 72) verschwinden will, so gönnt sich der Sohn vier sentimentale Wochen, um dann in Berlin sein Erwachsenenleben mit Emmy aufzunehmen, nachdem er sich mit dem Abriss der Mühle auch von den sentimentalen Schwärmereien seiner Jugendliebe Albertine befreit hat. Entsprechend sind die Bilder sehr private Bilder, auch wenn sie implizit auf Allgemeines verweisen mögen. Zweitens ist dem Roman ein Motto vorangestellt, dass wie so oft bei Raabe in die Irre führt, indem es die Lesererwartungen scheinbar zu erfüllen vorgibt, um sie dann umso nachdrücklicher zu konterkarieren. Wie u. a. im 1888 abgeschlossenen Roman Der Lar, in dem das Motto »wieder mal ein Buch [zu schreiben], in welchem sie sich kriegen« von Anfang in ein ironisches Licht gerückt wird (vgl. Fauth 2008, S. 22), führt der Hinweis auf das in Pfisters Mühle vermeintlich dargestellte Ganze in die Irre. Der an den Anfang gesetzte »BLICK AUF DAS GANZE« (Raabe 1961, S. 6), den das Sommerferienheft vorgeblich liefert, kann und will die lose Blattsammlung bereits formal nicht erfüllen. Die

Das Leben als »zänkische, nichtsnutzige, katzbalgerische Lumpenburg«

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Ganzheit des Lebens, das Leben und seine Gesetzmäßigkeit liegen jenseits der Mühlengeschichte. Was der Text liefert ist daher »eben nicht das Ganze des Daseins« (Raabe 1961, S. 178), zumindest nicht, was die vermeintlich objektiv erzählte Geschichte anbelangt. Die literarische Herstellung der Ganzheit wird vielmehr als vom Lesepublikum und den Marktinteressen gefordert entlarvt. Mit der Weigerung, ein kohärentes »druck- und kritikgerechtes Schreibekunststück« (Raabe 1961, S. 164) zu hinterlassen, entzieht sich der Text jedoch der zivilisatorischen Kontrolle, der Uniformität und Konventionalität und unterläuft damit hierarchische Deutungssysteme wie Eigenes vs. Anderes, Geist vs. Körper, Kultur vs. Natur und stellt ihn in die vielgestaltige Komplexität und »biophile« Offenheit menschlicher Lebensbezüge. Damit übernimmt der Text die Funktion eines kulturkritischen Metadiskurses (vgl. Zapf 2008, S. 33). Wie so oft bei Raabe liegt das Wesentliche und Eigentliche jenseits des Gesagten. Daher geht es auch nicht um das einzelne Bild, das Eberhart schönfärberisch produziert. Nicht der partikulare Bildgegenstand (Umriss, Farbe) ist relevant, sondern das, was nicht ausgesprochen wird, letztlich aber die unwandelbare Basis bildet (vgl. Moser 2010). Das immer gleichbleibende und dennoch einen ständigen Wandel bewirkende Lebensgesetz ist der Bildträger (Rahmen, Leinwand) allen menschlichen Lebens, aller Dinge und Narrative. Das Leben wird in zahlreichen Texten Raabes als ein ständiger Prozess des Verdauens, Verarbeitens, Untergrabens, Ausgrabens, Abreißens, Aufbauens, des Entstehens und Vergehens, Herauskehrens, des zum Abfall und dann wieder zum Kunstgegenstand Werdens beschrieben. Die Welt und das Leben erscheinen als großer kriegerischer Verdauungs- und Wiederverwertungsprozess, in dem Menschen, Ideen, Dinge, Gefühle, Geschichte verspeist, verdaut, ausgeschieden, vergraben und wieder recycelt werden. Wenn Ebert fortwährend fragt, »wo bleiben all die Bilder«, dann trifft das in Hinsicht auf die Gemälde formulierte Recyclingprinzip auch auf das »Sommerferienheft« als Ganzes zu. Auch wenn sich der Inhalt bei einem Text nicht wie bei einem Gemälde vollständig aus der Form lösen lässt, recycelt der Text auf andere Weise, nämlich indem er Zitate, Anspielungen, Erinnerungen und kulturell vermittelte Welt-, Natur- und Lebensvorstellungen aufnimmt und in einen neuen Kontext integriert. »Raabes Werk ist hochgradig ›transtextuell‹.« Doch während Genettes Definition von »Intertextualität« als »Kopräsenz zweier oder mehrerer Texte« (Genette 1993, S. 10, vgl. Fauth 2007, S. 36), die Vorstellung einer Textverdichtung evoziert, spielt Raabe die Verweise gegeneinander aus, so dass Bedeutung nicht verdichtet, sondern erst im Verschobenen, Uneigentlichen, im Verlorenen der eigentlichen Zitatbedeutung als Verlust sichtbar wird. Wie Harald Tausch anhand zahlreicher Zitate nachweist, steht das Eigentliche des Zitates im Ausgesparten, weil der fiktive Zitator ungenau, lediglich aus der Assoziation heraus zitiert. Klassisch-romantische Originalität, die Schöpfung eines Neuen aus der frischen

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Quelle der Inspiration ist nicht mehr möglich. Was narrativ geleistet werden kann, ist lediglich noch ein Recyceln aus Versatzstücken und Zitaten, auf deren »Richtigkeit« es nicht mehr ankommt, weil es längst »abgetragene« (Raabe 1961, S. 178) Zitate sind. Sie mittels einer korrekten Zitierweise gleichsam wieder ›aufzupolieren‹, würde bedeuten, sich der Vermarktung zu unterwerfen. Auch die Mühle selbst ist nur noch ein solchermaßen recyceltes Zitat. Daher bildet sie auch nur scheinbar den Anfangspunkt des Idyllennarrativs, ist sie doch selbst bereits das Abbild eines Abbilds, selbst schon recyceltes Idyllebild. Die bürgerliche Sehnsucht danach ist jene Lesererwartung, die im wehmütig elegischen Narrativ wachgerufen und scheinbar erfüllt wird, um sie dann als »Lüge in unserer Litteratur« (Raabe an Adolf Glaser [Februar 1866], 1975, S. 112) zu entlarven und den Leser dadurch wieder »auf den festen Boden« der »zänkische[n], nichtsnutzige[n], katzbalgerische[n] […] Wirklichkeit zurückzurufen« (Raabe 1973, S. 446 f.). Denn dieses Idyllenkonstrukt, das die Sehnsucht des Lesepublikums am Beginn des Industriezeitalters und mehr noch des heutigen Lesers im Ich-Erzähler gespiegelt zeigt, basiert selbst auf jener »essentialistischhierarchischen Entgegensetzung« von Natur und Kultur, »in der die Arroganz zivilisatorischer Macht, aber auch idyllische Gegenphantasien einer heilen Naturwelt wurzeln« (Zapf 2002, S. 4). Entgegen dieser Natur-Kultur-Dichotomie, so die These, stellt der Text die Amalgamierung von Natur-Kultur unter dem Vorzeichen des Lebens dar, dessen Definition einem Paradigmenwechsel unterliegt, den der Text sichtbar macht. Trotz der leitmotivischen Verwendung und trotz der »ökologischen Konkretheit« mit der die »ökologische Bedrohung« (Detering 1992, S. 12) geschildert wird, geht es in Pfisters Mühle also nicht eigentlich um das Schicksal der Mühle. Es geht nicht um den Einzelfall, sondern tatsächlich um »DAS GANZE« (Raabe 1961, S. 6), wie es in dem als Motto vorangestellten Seneca Zitat »Von der Gemütsruhe« heißt: UND IN DEM BLICK AUF DAS GANZE IST DER DOCH EIN STAERKERER GEIST, WELCHER DAS LACHEN, ALS DER, WELCHER DAS WEINEN NICHT HALTEN KANN

Dieses Ganze, das dem Leben zugrunde liegende Gesetz, das auch das Schicksal der Mühle und der mit ihr assoziierten Menschen bestimmt, entwickelt der Text aus einer literarischen Transformierung verschiedener zeitgenössischer Wissensbestände zu einem genuin literarischen Wissen. Indem der Text die Spezialdiskurse zusammenführt, übernimmt er die kulturökologische Teilfunktion einer vernetzenden Reintegrierung verschiedener Wissensbestände unter dem Vorzeichen des Lebens (vgl. Zapf 2008, S. 35–39). Er wird damit zu einer ei-

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genständigen Form der Erkenntnis und eines komplexen ›Lebenswissens‹ (vgl. ebd., S. 17). Seine Komplexität erreicht der Text durch die Verknüpfung von Senecas und Schopenhauers Philosophie mit Darwins Evolutionstheorie und der daraus resultierenden Anthropologie, die im Kontext einer geologischen Tiefendimension gelesen wird. Vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Evolutionstheorie und Paläanthropologie wird nicht nur eine »Wissens- und Kulturpoetik des Abfalls, des Restes und der lebendigen Dinge« (Thums 2007, S. 71) entwickelt, diese wird auch untrennbar verknüpft mit der Willenstheorie Schopenhauers sowie mit Senecas Empfehlungen einer rechten Lebensführung und einer rechten Haltung zum Leben, die dezidiert vom Tod her gedacht werden (vgl. zur intensiven Rezeption der Schriften Senecas und Schopenhauers Fauth 2008, S. 24 sowie Fauth 2007). Natur und Kultur, Tier und Mensch, Dinge und Menschen, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschmelzen im Kontext dieser Lebens- bzw. Todesdimensionen, die die linear-progressive mit einem zyklischregenerativen Zeit- und Erfahrungsmodell überblendet (vgl. Zapf 2008, S. 37). Wobei die Regeneration in den Texten Raabes immer wieder in den Kreislauf von Krieg und Zerstörung einmündet. Im Folgenden soll zunächst auf die Bedeutung sowie auf den Wandel und die Dimensionen des Lebensbegriffs eingegangen werden, der nicht nur von Bedeutung dafür ist, wie Natur und Kultur konstruiert, erlebt und erzählt werden, sondern auch für die Vorstellung von einem lebenswerten menschlichen Leben. Danach soll gezeigt werden, wie in Pfisters Mühle der Paradigmenwechsel im Hinblick auf den Lebensbegriff thematisiert wird.

2.

Der Lebensbegriff und die Wissenschaften vom Leben

Der Lebensbegriff wird aufgrund seiner positiven Aura von vielen Disziplinen und Institutionen umkämpft und umworben, ohne jedoch von einer Seite umfassend bestimmt werden zu können (vgl. Toepfer 2005, S. 157). Auch die Biologie als naturwissenschaftliche »Lebenswissenschaft« vermag nicht, ihren Gegenstand erschöpfend darzustellen, da seit der Antike ›Leben‹ so konzipiert ist, dass es nicht allein naturwissenschaftlich verstanden werden kann. Vor jeder naturwissenschaftlichen Analyse liegt das Lebendige immer schon in sehr unterschiedlichen Beschreibungskontexten vor. Aufgrund der ausgeprägten außerwissenschaftlichen Bezüge des Lebenskonzepts ist die Biologie daher eine Wissenschaft, die ihren Gegenstand nicht ganz für sich hat. Zudem beschränkt sie sich zur Etablierung und Bewahrung ihrer Wissenschaftlichkeit zumeist auf experimentell zu bearbeitende Teilfragen des Lebens. Problematisch ist daher ein biowissenschaftlich formulierter Lebensbegriff, der den Anspruch erhebt,

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für die Gesamtheit einer wissenschaftlichen Erforschung des Lebens einstehen zu können« (vgl. Ette 2010, S. 15 u. S. 36, vgl. Bachmann-Medick 2006, S. 44). Aufgrund der die Biologie überschreitenden Semantik von ›Leben‹ kann der Biologie letztlich nur ein »reduzierter Lebensbegriff« (Markschies 2005, S. 8.) zugeschrieben werden. Sie leistet zwar eine Vermehrung der »Kenntnisse vom Lebensgeschehen«, die »geistige Bearbeitung dieser Erkenntnisse«, die Bertalanffy 1930 der »Lebenswissenschaft« (von Bertalanffy 1930, S. 8) zur Aufgabe macht, vermag sie alleine nicht zu erfüllen. Der von der Biologie freigesetzte, aber nur in Teilen bearbeitbare Lebensbegriff bedarf daher der Integrationsleistung der Kulturwissenschaften, um die von der Biologie naturwissenschaftlich nicht zu bearbeitenden Aspekte in einen interdisziplinären Dialog über wissenschaftliche und gesellschaftliche Modelle von Leben zu integrieren (vgl. Ansgar Nünning 2010, S. 60). Im Gegensatz zur Biologie vermögen die Kulturwissenschaften »den Horizont des menschlichen Lebens in seiner unreduzierten Weite offen, selbstreflexiv und entscheidbar zu halten« (Böhme 2000, vgl. Böhme/Scherpe 1996, S. 12). Dies können sie allerdings nur in einer gleichberechtigten, transdisziplinären Kooperation leisten (vgl. Böhme 2000). Da der Begriff ›Leben‹ relativ zu den verschiedenen Disziplinen eine Leerstelle markiert, die von ihnen nur umrandet, nicht aber ausgefüllt werden kann, vermag es Aufklärung über das Leben nur im Verbund verschiedener Wissenschaften zu geben. Auf die Komplexität des Lebensbegriffs und seiner Position zwischen Human- und Naturwissenschaften verweist bereits die zuletzt bei Giorgio Agamben, einschlägig bereits bei Hannah Arendt thematisierte Doppelwertigkeit, mit der in der griechischen Philosophie ›Leben‹ bezeichnet wird. Während zoe die Tatsache des Lebens selbst bezeichnet, das einfache Lebendigsein, das Göttern, Menschen und Tieren gleichermaßen zukommt, ist b†os mit der eigentlich menschlichen Welt verknüpft; es bezeichnet eine bestimmte Lebensart, ein qualifiziertes Leben, eine Lebensform (vgl. Toepfer 2011, S. 420, vgl. Hadot 1980, S. 51, vgl. Arendt 2010 u. 1958, vgl. Agamben 1995, S. 11). Über die Naturbasis hinaus integriert der griechische Begriff von »Leben« die kulturellen und geschichtlichen Dimensionen des menschlichen Daseins. Dazu gehören Aspekte wie die Zeitlichkeit, normative Orientierung und die Sorge um den Lebensunterhalt im weitesten Sinne, aber auch »Wissenskulturen« von der Agrikultur bis zur Ökonomie, von der Politik bis zum individuellen und gesellschaftlichen Lebenswandel. Er umfasst neben den Aspekten der Subsistenzsicherung also auch Aspekte des Kreativen und Generativen, der Kultur (der Pflege) des Hervorbringens, Wachsens, Schenkens, Erweckens. In Verbindung mit dem Schreiben, zielt er zuletzt auf die zur Lebensfristung erforderliche (Selbst-)Reflexion von Einzelnen und der Gesellschaft im Ganzen (vgl. Böhme 2000). Vergleichbar den Begriffen Verwandtschaft, Erbe oder Ethnie stellt der Lebensbe-

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griff somit gleichsam ein Grenzrelais dar, welches zeigt, dass der »Grenzverlauf der Natur/Kultur-Dichotomie quer durch elementare gesellschaftliche Organisationsformen geht« (Koschorke 2009, S. 20). Der Begriff Leben bildet dabei weniger eine Grenzlinie, als einen »Ort des Austausches zwischen den epistemischen Regimes ›Natur‹ und ›Kultur‹«, einen Ort, »wo die kulturelle Semiose auf etwas von ihr Unabhängiges und Unverfügbares trifft – oder, anders betrachtet, wo das kulturelle Zeichensystem Dinge als unverfügbar externalisiert und damit dem Zugriff der menschlichen Willkür entzieht« (ebd., S. 22). Eine Philologie des Lebens (vgl. Tholen 2009, S. 51–64, vgl. Tholen 2010, S. 100, vgl. zur Bedeutung formaler Aspekte Vera Nünning 2010, S. 167) kann demnach zwar das Leben nicht definieren, sie kann jedoch festhalten, wie es diskursiv in den Texten immer wieder neu im Hinblick auf die Doppelwertigkeit von zoe und bios bestimmt wird, d. h. sie kann die heterogenen Diskursivierungen des Lebens selbst in den Blick nehmen (vgl. Bröckling/Schöning 2004, S. 18). Diese sind im Sinne der Formel von der »Literatur als Weltbild-Maschine« (Fliedl 2005, S. 134, vgl. Ansgar Nünning 2010, S. 50) nicht nur Speicher- und Repräsentationsmedium von Lebens- und Weltwissen, sondern sie generieren ein ganz eigenes Wissen über das Leben, wobei der Art und Weise der Repräsentation, dem »In-Form-Setzen von Leben in der Literatur« (Tholen 2010, S. 100) eine besondere Bedeutung zukommt.

3.

Von der Rhetorik des Lebendigen über die Ästhetik des Lebens zur Ästhetik des Todes

Es geht in der Literatur jedoch nicht allein um eine spezifisch ästhetische Generierung von Lebenswissen, sondern auch um die jeweilige Ausdifferenzierung der letztlich immer ambivalenten bis aporetischen Beziehung von Kunst und Leben. Denn Kunstwerke sind auf zweifache Weise dem Leben entzogen, und zwar durch das Medium der Schrift, deren Buchstaben trotz des beweglichen Letterndrucks statisch sind, sowie aufgrund der Tatsache, dass sie im Blick auf den Augenblick des Sagens der Vergangenheit angehören. »Im Unterschied zur Kommunikation von Subjekten ›im Leben‹ könnte man die Literatur mit Foucault eine Nicht-Sprache nennen, bzw. eine Sprache, die nur in dieser einmaligen, vergangenen Gestalt existiert.« (Bogdal 2010, S. 88). Die Welt der Zeichen ist, mit Derridas Zuspitzung gesprochen, eine testamentarische und nekrophile, errichtet über der Abwesenheit und letztlich dem Tod ihrer Objekte (vgl. Avanessian/Menninghaus/Völker 2009, S. 7). Dennoch gehören die Attribute »lebhaft« und »lebendig« seit jeher zu den elusiven Kategorien von Rhetorik, Poetik und Kunstkritik, auch wenn die rhetorischen Lebendigkeitsdevisen zwischen

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Selbstverleugnung und Selbsterhöhung changieren. Sie versuchen, genau das nicht zu sein, was sie ›eigentlich‹ sind. Sie täuschen Lebendigkeit vor, indem sie an den von ihnen evozierten lebendigen Objekten oder Ereignissen partizipieren oder indem die Darstellung als vollwertige eigene Form mit einer inneren, nicht erborgten Lebendigkeit sui generis erscheint. Der Aspekt des Vortäuschens von Lebendigkeit gehört dabei zu einer Grundfigur der Rhetorik. Aufgrund der parallelen, vielfach verschränkten Entwicklung der Disziplinen Biologie und Ästhetik wird dieser klassisch-rhetorische Lebendigkeitstopos um 1800 aufgegeben. An seine Stelle rückt ein neu verstandener ästhetischer Lebensbegriff. Während für Baumgarten noch die ›alte‹ rhetorische Topik der lebendigen Erkenntnis und der lebhaften Darstellung virulent ist, wird bei Herder und Kant die rhetorisch-poetische Metaphorik der »Lebendigkeit« unter eindeutigen Verweisen auf die zeitgenössische protobiologische Theorie durch einen verstärkt liberalen, wenn auch ebenfalls unscharfen Begriff des ›Lebens‹ überlagert und teilweise ersetzt. Damit ist ein Paradigmenwechsel der Ästhetik selbst markiert. Mit dem Begriff des Lebens rückt in der Ästhetik die Eigenständigkeit eines sich selbst erhaltenden Modus von Wahrnehmung, Urteil und vor allem »Lust« in den Vordergrund (vgl. Völker 2011, S. 261.). Kants Ästhetik markiert dabei in vielerlei Hinsicht eine Schwelle, an der einerseits der alte rhetorische Lebendigkeitstopos verabschiedet und andererseits die Kunst in ein neues Verhältnis zum Leben gesetzt wird. Unter »Leben« versteht Kant eine autopoietische Form, und dieses Verständnis einer sich selbst formierenden, selbst erhaltenden Kraft gibt erstmalig den grundlegenden Boden der Ästhetik ab, auch wenn diese Semantik von Mendelssohn, Moritz u. a. vorbereitet wurde (Kant 1913, S. 373, vgl. Avanessian/Menninghaus/Völker 2011, S. 8., Menninghaus 2011, S. 77–94.). Sie steht im Kontext der um 1750 einsetzenden, umfassenden Aufwertung des Bewegungsbegriffs und seiner Verschränkung mit dem Lebendigen und mit der Freiheit sowie der damit einhergehenden »Rehabilitierung der Sinnlichkeit« (Kondylis 1986, S. 19, vgl. Oschmann 2007, vgl. Welsh 2003, S. 238). Aus dieser Verbindung von »Versinnlichung« und »Bewegung« geht in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Zielvorstellung einer beweglichen und damit lebendigen und selbstorganisierten Dichtung hervor, mehr noch: das allgemeingültige Ideal des »in sich selbst beweglichen Kunstwerks«, (Schlegel 1884, S. 8) dem August Wilhelm Schlegel zufolge alle Künste gerecht zu werden haben (vgl. Oschmann 2007, S. 10–11). In der Ästhetik der Lebendigkeit geht es nicht mehr darum, diese nur vorzutäuschen, sondern es geht darum, die postulierte Lebendigkeit von Sprache und Schrift sichtbar zu machen, im Rezipienten eine »belebende« Vorstellung zu erzeugen und belebend auf Individuum und Gesellschaft einzuwirken. Dies gelingt im wechselseitigen Verbund mit der sich formierenden Biologie und den sich vom mechanistischen Paradigma abgrenzenden diversen Lebenskraftlehren. Im Zuge dieser Abgrenzung

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führt J. F. Blumenbach die Bezeichnung Bildungstrieb, »nivus formativus«, zur Bestimmung eines lebenerzeugenden, formbildenen Vermögens ein, das er in kritischer Auseinandersetzung mit der herrschenden Präformationstheorie zur Begründung seiner Theorie der Epigenesis annimmt (vgl. Engels 1980, S. 124). Der Bildungsgedanke gelangt zu enormer Popularität, insbesondere da er von der Naturforschung auf den Menschen übertragen wird (vgl. Greiner 2007, S. 226 f.). Im Bereich der Naturforschung fungiert der Begriff Lebenskraft bzw. Lebenstrieb insgesamt als »Lückenparadigma«, d. h. der Terminus ist weniger Ausdruck einer Lösung des Problems als vielmehr seiner Artikulation. Er markiert die Grenzen des bestehenden Paradigmas und besetzt die Erklärungslücke, bis im späten 19. und 20. Jahrhundert andere Erklärungen des Lebendigen bereitstehen. Lebenskraft, so schreibt J. F. Ackermann, ist das »x für die einmal zu entdeckende unbekannte Größe« (Ackermann 1800, S. 2, vgl. Engels 1980, S. 125). Mit dem Lebensbegriff eröffnet sich in Biologie und Ästhetik der Möglichkeitsraum eines wahrscheinlichen Wissens und eines ästhetischen Kalküls des Konkreten und Dunklen, das sich gegen die aufklärerische Diskursfixierung auf eine eindeutige und wahre Lesart, die sich am Paradigma der Physik orientiert, löst (vgl. Metzger 2002, S. 14–17). In romantischer Poesie und vitalistischer Naturforschung wird das Lückenparadigma mittels eines konjektiven Denkens gefüllt, das methodisch interdiskursiv verfährt und Theorien als Orientierungshandlung auffasst. Sprachlich inszeniert werden diese Theorien in einer Weise, die sie für Neues offen und im Modus der Vorläufigkeit halten (vgl. Metzger 2002, S. 17 u. S. 427, vgl. Zimmerli 1997, S. 9.). Zentral für das frühromantische Lebenskonzept ist die Inszenierung des Lebens als das, was das menschliche Erkenntnisvermögen übersteigt und sich damit der Verfügbarkeit entzieht. Als Zentralbegriff einer »Semantik des Unbestimmten« erscheint Leben weniger als ein Gegenstand der Natur, sondern als eine erkenntnistheoretische Kategorie. Leben markiert insofern eine Stelle in der Sprache, die definitionsgemäß für das gedanklich nicht voll zu Durchdringende einsteht und sich daher der sprachlichen Verfügbarmachung verweigert (vgl. Toepfer 2011, S. 465). Nach ihrem Höhepunkt um 1800–1815 stößt nicht nur die romantische Naturforschung bei Naturwissenschaftlern und Medizinern auf entschiedene Ablehnung, der empirisch-positivistische Weg wird nun auch in Bezug auf die Sprachauffassung vertreten. Er ersetzt die romantische Sprachmystik. Gefragt wird nicht mehr, was die Sprache überhaupt ist, sondern ihr jeweiliges Formspektrum soll im Sinne der Naturforschung beschrieben werden. Damit verbunden ist auch ein anderes Konzept von Leben. Aufgrund seiner evaluativen Ambivalenz kann das Leben sowohl als Wert wie als Unwert begriffen werden. Denn Leben ist nicht allein schöpferisch, sondern in gleichem Maße auch destruktiv. Der uneingeschränkte Wertbegriff des romantischen Lebensbegriffs

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weicht zunehmend der Vorstellung einer lebensverneinenden Grundlage des Lebens, die es mittels Technik zu unterdrücken und zu beherrschen gilt. Das, was das Leben zu einem Gut macht, erscheint nun gerade als das ›Andere des Lebens‹. Kulturgüter scheinen nun dadurch definiert zu sein, dass sie zu einer bloßen Lebendigkeit in einer Art von Gegensatz stehen. Folglich muss das Leben bis zu einem gewissen Grade getötet werden, um zu Gütern mit Eigenwert zu gelangen. Damit ist das ästhetische Programm der nachromantischen Ära bestimmt. Angesichts der atemberaubend sich beschleunigenden industriellen Revolution, des Siegeszugs von Technik und Naturwissenschaft, die den schönen Künsten das Tempo vorzuschreiben scheinen, erfolgt eine Abwertung des vermeintlich allein destruktiv Lebendigen und eine Aufwertung des Artifiziellen, das aufgrund seiner Opposition zur bloßen Lebendigkeit zur Ästhetik des Todes wird.

4.

Zur Markierung des Paradigmenwechsels in Pfisters Mühle

Diesen Paradigmenwechsel von einer Ästhetik des Lebens zu einer Ästhetik des Todes wird in Pfisters Mühle selbstreflexiv nachgezeichnet, indem die romantische Ästhetik des Lebens aufgerufen wird, um sie dann jedoch als nur noch inszenierbar, nicht mehr aber als erlebbar auszuweisen (vgl. Wanning 2005, S. 365). Die romantischen Alleinheitsvorstellungen werden nun von dem aus der Darwinismus-Debatte stammenden »Überlebensprinzip animalischer Selbstbehauptung und Konkurrenz« (Rohse 1988, S. 173) überlagert. Es ist eine Welt der destruktiven Kräfte, die unter der Oberfläche tätig sind. Gebäude, Menschen, Landschaften, Narrative und Ideen verschwinden. Als Ursache der destruktiven Kräfte des Lebens lässt sich der Schopenhauer’sche Wille ausmachen, der diese destruktiven Lebenskräfte freisetzt, indem er Natur und Mensch gleichermaßen seinem Willen zu unterwerfen sucht. Entgegen dem blinden Willen, der den »Schleier der Maya« einer Natur-Kultur-Dichotomie aufrichtet, die den Menschen zum Beherrscher der Natur erklärt, wird in Pfisters Mühle jedoch zugleich die Verstricktheit aller Aktanden vorgeführt (vgl. Voss/Peuker 2006, S. 9–33). Gezeigt wird, wie Mensch und Natur gleichermaßen im Kampf ums Dasein zu Leidenden und im Leiden Vereinten werden. Nicht nur die Natur, sondern auch das Subjekt werden als der gesellschaftlichen und technischen Entwicklung Ausgelieferte gezeigt. »Unfähig zum freien Handeln [treiben sie] im Strom der Zeit dahin, mit der einzigen Alternative, mitzuschwimmen oder unterzugehen.« (Wanning 2005, S. 374). Da wird Eberhard »willenlos« zum Teil der Maschine, die ihn »erfasst und fortgewirbelt« (Raabe 1961, S. 126), während die Mühle dem alten Pfister etwas »Lebendiges« ist, zu dem er »den Doktor [hat] rufen müssen, um ihm den Puls zu fühlen« (Raabe 1961, S. 88). Im Bild des Mühlwassers

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verschmelzen Natur und Kultur, Materie und Geist, Körper und Seele. So erscheint das Mühlwasser als das Lebenselixier, das durch die Adern des alten Pfisters fließt. »Wenn das was helfen könnte! Ja, wenn sie es ihm vor Jahren in seinen Bach bei Krickerode hätten schütten und sein Leben und Gemüte dadurch reinlich hätten halten können!« (Raabe 1961, S. 168), resümiert sein Freund Samse. In einer Welt des Abfalls und der Reste, in der es keine lebendige Originalität mehr gibt, erfährt auch das Remedium eine Umwertung. Da die Krankheit das Resultat einer kulturellen Entwicklungsgeschichte des Menschen ist, die sich als eine Geschichte der Bildung von Abfällen und Resten entpuppt (vgl. Thums 2007, S. 71), kann die Heilung selbst scheinbar auch nur durch eine »giftig aussehende Arzneiflasche« (Raabe 1961, S. 168) erfolgen, auch wenn sich Samse als Überbringer der Medizin sicher ist, dass »das« nicht helfen wird. Es ist eine »Komödie« (Raabe 1961, S. 168 f). Wie die zahllosen anderen Arztfiguren bei Raabe, so begreifen auch die Arztsurrogate, Samse und Asche, dass ihre vermeintlich ärztliche eine allgemein »menschliche Hilflosigkeit inmitten der Gebrechlichkeit der Welt« (Arndt 1996, S. 67) ist. Es ist eine Welt des Abfalls, nicht des entstehenden originalen Lebens, eine »Welt des Lärms, der pädagogischen Experimente, des Lumpenreinigens und des Gelderwerbens« (Raabe 1961, S. 169), eine Welt, in der Asche sein »Mordgeschäft von Allerweltswäsche« (ebd.) betreibt und es ist eine Welt, die untergehen wird wie die »versunkenen Kriegesschanzen« (ebd., S. 109) an die lediglich noch eine »kuriose Bodenerhöhung und Vertiefung« erinnert (ebd., S. 110). Vom sentimentalen Rückblick nur notdürftig verdeckt, erscheint hier jene Radikalität des Erkenntniswillens, die bereit ist, die Schattenseiten des Lebens mit jener »Schonungslosigkeit« offen zu legen, die Wilhelm Jensen in seiner Rezension der Erzählung Zum wilden Mann so sehr empört hat (vgl. Fauth 2007, S. 53 f.). Doch es ist eben dieser schonungslose Blick »AUF DAS GANZE«, der den »STÄRKEREN GEIST« erfordert (Raabe 1961, S. 6). Auch wenn der alte Pfister an dieser Erkenntnis zugrunde geht, hat er dennoch begriffen, dass die Mühle zu retten, nichts ändern wird. Wie im Odfeld unterliegt somit der final erzählten Geschichte von Pfisters Mühle eine zyklische Zeitstruktur, die von der Willensmetaphysik Schopenhauers bestimmt ist und die auf den endlosen Kampf aller gegen alle verweist (vgl. Fauth 2007, S. 374 f). Durchbrechen kann diesen, so mag man resümieren, nur eine umfassende Neudefinition des Lebensbegriffs und eine dezidiert andere Haltung zum Leben, die im Sinne Schopenhauers den Willen verneint und die Einheit in der Vielheit zu erkennen vermag.

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Susanne Scharnowski

Die Wiederkehr des Ästhetischen in der Rede über Natur und Umwelt. Vom Nutzen einer reflektierten Kulturgeschichte der Natur

Die öffentliche Rede über Natur und Umwelt wird von der politischen Ökologie dominiert; diese wiederum steht ganz im Zeichen eines naturwissenschaftlichtechnischen Zugangs zur Natur. Ästhetische und kulturelle Argumentationsmuster und Denkfiguren dagegen erzeugen kaum Resonanz. Gleichwohl herrscht Übereinkunft darüber, dass Umweltbildung an Schulen und Hochschulen sich nicht in der Vermittlung naturwissenschaftlicher Kenntnisse über ökologische Zusammenhänge erschöpfen darf, sondern die sozialen, ökonomischen und eben auch kulturellen, ästhetischen und emotionalen Dimensionen zu berücksichtigen hat, die den Umgang des Menschen mit seiner natürlichen Umwelt bestimmen und die Wertvorstellungen formen, die allen Eingriffen in die Natur zugrunde liegen (z. B. Locke et al. 2013). Eine »ökologisch-ästhetische Erziehung« (Lotter 1994) muss daher Bestandteil einer Bildung sein, die darauf abzielt, Urteilsvermögen und »Gestaltungskompetenz« (de Haan 2008, S. 23) im Hinblick auf das Verhältnis des Menschen zu seiner Umwelt zu vermitteln. Auch die Literaturdidaktik kann auf verschiedene Weisen zu solch ökologisch-ästhetischer Erziehung beitragen: indem sie aisthetische Wahrnehmungs- und Differenzierungsfähigkeit fördert, indem sie Texte betrachtet, die der traditionellen Naturästhetik eine »Ästhetik der berührten Natur« (Scharnowski 2012, S. 378) gegenüberstellen. Darüber hinaus kann bzw. sollte sie, insofern sie sich als »Medienkulturwissenschaft« (Wende 2004) versteht, auch populäre Literatur und auch nichtfiktionale Texte aus verschiedenen Diskurszusammenhängen in den Blick nehmen. Dadurch könnten Studierende sowie Schüler und Schülerinnen dazu befähigt werden, verschiedene »kulturelle[n] Denkmuster, Wirklichkeitsentwürfe und Selbstinterpretationen« (Wende 2004, S. 27) im Verhältnis des Menschen zu Natur und Umwelt zu analysieren, in historischer Perspektive kritisch zu betrachten und die Argumentationsmuster unterschiedlicher Umweltdiskurse zu identifizieren und einzuschätzen. Die folgenden Ausführungen geben einen kurzen Überblick über die wechselhafte Rolle des Ästhetischen im Verhältnis zur Natur in der deutschen Kulturgeschichte seit ca. 1800 und zeigen an Beispielen aus Umweltdiskursen am

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Susanne Scharnowski

Beginn des 20. Jahrhunderts sowie an aktuellen Debatten die mögliche Relevanz des Ästhetischen in der Kulturökologie.

Zur Dominanz des technisch-naturwissenschaftlichen Diskurses Den kulturell dominanten Rahmen der öffentlichen und medialen Rede über Fragen des Naturschutzes, der Nachhaltigkeit, des Klimawandels, der Ernährung, des Körpers usw. bildet ein naturwissenschaftlich-technischer Zugriff auf die Umwelt des Menschen: »Der instrumentell-technische/naturwissenschaftlich-rationale Diskurs ist der zentrale Diskurs der Symbolisierung von Natur im Prozess der Modernisierung« (Bogner 2004, S. 109). Das Naturkonzept der Naturwissenschaften oszilliert zwischen analysierendem und technisch-handelndem Zugang zu einzelnen Phänomenen der empirischen Natur, trennt aber jedenfalls strikt Subjekt und Objekt der wissenschaftlichen Untersuchung. Der Grund dafür, dass dieser Zugang zu Natur und Umwelt der dominante ist, liegt auf der Hand: Die Verseuchung oder Verschmutzung von Luft, Wasser und Böden, die Folgen radioaktiver Strahlung, die Inhaltsstoffe von Nahrungsmitteln etc. werden primär mit Hilfe naturwissenschaftlich-technischer Verfahren nachgewiesen. Abweichungen und Störungen sind in der Regel selbst die Folge technischer, wissenschaftsgeleiteter Aktivitäten des Menschen. Zur Lösung dieser Probleme, so die Logik, bedarf es mithin desselben Methodenrepertoirs. Die Probleme liegen demnach vom Menschen aus betrachtet ›außen‹, in der Umwelt, und können/müssen durch weitere Eingriffe in dieses ›Außen‹ behoben werden. Zudem – und dies ist angesichts der globalen Dimensionen der Umweltkrise ein wichtiger Gesichtspunkt – sind Fragestellungen, Methoden und Ergebnisse der Naturwissenschaften in einer internationalen scientific community ohne dramatische Transfer- oder Übersetzungsprobleme kommunizierbar und vergleichbar. Und schließlich birgt die wesentlich naturwissenschaftlich-technokratische Perspektive der ökologischen Modernisierung (vgl. Hajer 1997) die Möglichkeit, am Fortschrittsoptimismus der Moderne festzuhalten. Die Vorherrschaft des naturwissenschaftlich-technischen Zugriffs auf Fragen, die im weiteren Sinne dem ökologischen Themenkomplex zuzuordnen sind, bringt allerdings für die Entwicklung einer ökologischen Bildung bzw. Umwelt-Bildung, aber auch für demokratische Prozesse Probleme mit sich, die hier nur stichpunktartig umrissen werden können. Für Laien ist es kaum möglich, die Validität naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und deren Konsequenzen zu beurteilen oder fundierte Standpunkte zu naturwissenschaftlichen Debatten auszuarbeiten. Bei der Klärung von Sachfragen und letzten Endes auch in politischen Entscheidungsprozessen haben somit vorrangig Experten »das

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Sagen« (Böhme 1989, S. 49; vgl Hajer 1997, S. 10). Es stellt sich darüber hinaus die Frage, welche Konsequenzen aus (zuweilen nur vorläufigen und ungesicherten) naturwissenschaftlichen Erkenntnissen sowohl für den Einzelnen als auch auf politischer und gesellschaftlicher Ebene zu ziehen sind. Wie sich aktuell besonders anschaulich am Beispiel der wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen um den Klimawandel zeigen lässt, ist das System der Naturwissenschaft letzten Endes überfordert, wenn es darum geht, eindeutige Handlungs- und Entscheidungsgrundlagen für die Politik, die Wirtschaft oder die Gesellschaft als Ganzes zu liefern, wie auch Niklas Luhmann gezeigt hat (vgl. Luhmann 1986). Zunehmend wird in diesem Kontext auch der Umgang mit Risiken und vor allem mit dem immer größeren Bereich des »Nichtwissens« bei wissenschaftsbasierten Entscheidungen diskutiert (vgl. Wehling 2011). Bei genauerer Betrachtung zeigt sich somit, dass es durchaus gute Argumente dafür gibt, die Dominanz technisch-naturwissenschaftlicher Denkfiguren und Argumentationsmuster in Frage zu stellen, und dass eine Ergänzung und Erweiterung des naturwissenschaftlich-technischen Blicks durch andere Perspektiven sehr wohl sinnvoll sein kann.

Ästhetische und geisteswissenschaftliche Perspektiven Neben den dominanten politischen und naturwissenschaftlichen ÖkologieDiskursen existieren entsprechend auch andere Zugänge zu Natur und Umwelt, die vor allem ethische, ästhetische und kulturelle Aspekte des Verhältnisses zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Natur, zwischen dem Menschen und seiner Umwelt untersuchen und subjektiv erfahrbare und wertebasierte Komponenten im Verhältnis des Menschen zu Umwelt und Natur mit in den Blick nehmen. Das wahrnehmende und handelnde Subjekt, der Mensch, ist hier immer mit ›im Bild‹ und wird in Theorien wie in avancierter künstlerischer / ästhetischer Praxis ebenso reflektiert wie die Medien, die das Verhältnis zu Umwelt und Natur realisieren oder problematisieren. Geisteswissenschaftliche Diskurse mit Blick auf ökologische Fragen in Kulturökologie und Ecocriticism gehen entsprechend davon aus, dass »die ökologische Krise im Kern eine Krise des Bewußtseins im Umgang mit der Natur ist« (Wanning 2005, S. 7), dass die »Umwelt«-Probleme eben nicht allein ›außen‹, in der Umwelt liegen und auch nicht allein dort zu lösen sein werden, sondern (auch) im Inneren des Menschen selbst: »Als was man die Natur dachte, wahrnahm oder empfand, begleitete nicht nur, sondern bestimmte auch, wie man mit ihr umging« (H. Böhme 2000, S. 7). In der medialen Öffentlichkeit allerdings erzeugen diese Diskurse relativ wenig Resonanz. Sie machen ganz gewiss nicht den main stream aus, treten auch innerhalb des Systems der Wissenschaften vergleichsweise wenig in Erschei-

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Susanne Scharnowski

nung und stellen sich nur bedingt der Auseinandersetzung mit dem naturwissenschaftlich-technischen Diskurs. Kurz: »In der Ausdifferenzierung der wissenschaftlichen ökologischen Kommunikation treten die berüchtigten ›zwei Kulturen‹ (C. P. Snow) deutlich zu Tage« (Gießmann et. al. 2009, S. 8). Es gibt vielfältige Gründe für die relativ geringen Effekte ästhetischer und geisteswissenschaftlicher Interventionen zu Umweltfragen. Einer der Gründe liegt darin, dass die Geisteswissenschaften in der Regel eine historische Perspektive einnehmen. Daher besteht Skepsis hinsichtlich ihrer Fähigkeit, qualifizierte Beiträge zu Fragen der Gegenwart oder gar der Zukunft leisten zu können; und das umso mehr, als seit geraumer Zeit das Erinnerungs- bzw. Gedächtnis-Paradigma geisteswissenschaftliche Forschung überhaupt in beträchtlichem Maße bestimmt. »Haben die Geisteswissenschaften die Zukunft vergessen«, fragte denn auch vor einiger Zeit Michael Hagner kritisch-provokant in einem Aufsatz gleichen Titels, in welchem er die These vertrat, dass die Geisteswissenschaften überhaupt, indem sie sich »in den letzten 25 Jahren unter dem Stichwort Gedächtnis« massiv der Vergangenheit zuwandten, die Zukunft »vollständig an die Naturwissenschaften delegiert« hätten (Hagner 2010, S. 25 f.). Hinzu kommt, dass eine Vergangenheitsorientierung in den Geisteswissenschaften zuweilen auch einhergeht mit Tendenzen zu Kulturpessimismus und Skepsis gegenüber der technisch-naturwissenschaftlichen Moderne und der Idee des Fortschritts sowie mit einer gewissen Affinität zu apokalyptischen Szenarien. Ein weiterer Grund mag darin bestehen, dass den Geisteswissenschaften, zumal den Literaturwissenschaften, der Ruf anhaftet, sie hätten »sich vermittels einer geradezu manischen Suche nach Rhetorizität, Intertextualität und derivativem Charakter eines jeden Sprechakts als Leitdisziplin etablieren […] wollen« (Malkmus 2005, S. 73), mehr noch: sie hätten sich von materiellen und biologischen Gegebenheiten abgewandt und seien aufgrund dieser konstruktivistischen bzw. kulturalistischen Positionen nicht in der Lage, zu konkreten ökologischen Problemen Stellung zu beziehen, geschweige denn diese in ihrer Existenz anzuerkennen.1 Drittens eignen sich die spezifischen Beiträge der Geisteswissenschaften zur ökologischen Kommunikation, die vor allem in »Historisierung, Kritik, Dekonstruktion« (Gießmann et al. 2009, S. 8) bestehen, kaum dazu, die im Kontext der politischen Rede über Ökologie notwendige Komplexitätsreduktion zu leisten. Schließlich: Da viele der neueren globalen Umweltprobleme wie Klimawandel, Nachlassen der Fruchtbarkeit von Böden, Gentechnik usw. anders als Luft- und Wasserverschmutzung oder Lärmbeläs1 Auch dies ist freilich eine Zuspitzung und Verkürzung; innerhalb der »ökokritischen« Literatur- und Kulturwissenschaft finden durchaus Debatten zwischen Anhängern des Konstruktivismus einerseits und den ›Materialisten‹ und ›Realisten‹ andererseits statt. Hierzu erhellend und vermittelnd: Grewe-Volpp 2006.

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tigung für die Sinnesorgane gar nicht wahrnehmbar sind, da zudem »nicht alles, was unsere Umwelt schädigt« (Zimmermann 2012, S. 48), auch hässlich ist und somit die »Warnfunktion des Ästhetischen« (ebd.) nur begrenzt sein kann, wird einer ästhetischen Perspektive allenfalls die Fähigkeit zugeschrieben, in ökologischen Diskussionen als »Hilfsargument« (ebd.) dienen zu können. Es gibt aber weitere, tiefer liegende Gründe für die vergleichsweise schwache Resonanz ästhetisch-kulturell argumentierender Diskurse über Umwelt und Natur, die auch in der Kulturgeschichte zu suchen sind. Eine internationale Verständigung über Natur- und Umweltthemen jenseits naturwissenschaftlicher Erkenntnisse scheint zwar, oberflächlich betrachtet, angesichts der seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts globalen Ausrichtung der Diskurse und Debatten der Umweltbewegung selbstverständlich zu sein; doch nicht nur bei der Formulierung und Umsetzung von umwelt- und naturschutzbezogener Kritik und Forderungen, sondern auch bei der Aushandlung internationaler umweltpolitischer Abkommen und Regeln spielt die (durchaus nicht immer bewusste oder reflektierte) kulturelle Prägung der Akteure eine relevante Rolle; regionale oder nationale Identitäten werden bewusst als Elemente des Widerstands gegenüber nivellierenden Tendenzen der Globalisierung ins Feld geführt (vgl. Heise 2008, S. 6). Auch mit Blick auf interkulturelle Verständigungsprozesse ist daher eine Erkenntnis und Reflexion der jeweils eigenen ›Kulturgeschichte der Natur‹ und, in weiteren Schritten, ein Vergleich mit kulturell anders geprägten Naturauffassungen notwendig. Im Kontext einer ökologisch-ästhetischen Erziehung bzw. kulturökologischen Bildung ist mithin schwer vorstellbar, dass diese auskommen könnte, ohne die kulturelle Konstruktion des eigenen Lebensraums mit in den Blick zu nehmen und eine Art ökologisch-kulturgeschichtliche Heimatkunde zu betreiben. Gerade für die deutsche Kultur ist diese Kulturgeschichte umso interessanter, als Deutschland sich selbst als ökologisches Musterland begreift und international eine Vorreiter- und Modellrolle einzunehmen anstrebt.

Zur Kulturgeschichte der Natur in Deutschland: Die Abwendung der Hochkultur von der Natur Gerade eine kulturökologisch ausgerichtete Didaktik der deutschsprachigen Literatur sollte sich bei einer kritischen Beleuchtung sozialer und kultureller Konstruktionen der Natur nicht allein auf den Kanon der Hochliteratur beziehen, sondern sollte ein breites Textspektrum in den Blick nehmen, vor allem, um ein Bewusstsein von verschiedenen Perspektiven auf die Natur in unterschiedlichen gesellschaftlichen Subsystemen zu vermitteln. Die folgenden Abschnitte

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sollen einige der Gründe für eine solche Erweiterung des Textkorpus umreißen und demonstrieren, inwiefern kulturgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Analysen verschiedener Diskurse zum Verhältnis von Mensch und natürlicher Umwelt auch zu einem vertieften Verständnis aktueller umweltpolitischer Debatten beitragen können. Während Natur, Kunst, Literatur und Naturwissenschaft in der Literatur des 18. Jahrhunderts noch einen einheitlichen Diskurs bildeten (vgl. Adler 2006), wandten sich Literatur und Kunst im Zeitalter von Idealismus und Romantik im Zuge des Aufschwungs der Naturwissenschaften und in Abgrenzung zu deren Zugriff auf die empirische Natur von eben dieser ab: die ›zwei Kulturen‹ entstehen. Die Natur wurde von den Nicht-Naturwissenschaftlern zunehmend als Projektions- und »Resonanzraum der Seele« (Wagner 2001) gesehen, als unbestimmter, ästhetisch konstruierter und symbolisch aufgeladener psychischer Raum, in dem sich Ideen gleichsam materialisieren. Manifest wird dies etwa an der gezielten Unbestimmtheit zahlreicher Naturschilderungen in Prosa und Lyrik der Romantik von Novalis bis Eichendorff, die spezifischen Naturphänomenen – etwa Pflanzenarten, genauer Beschaffenheit und Zusammensetzung von Wäldern, geologischen Formationen etc. – so gut wie keine Aufmerksamkeit schenken. Alexander von Humboldt war wohl der letzte gelehrte Autor, der sich darum bemühte (und, wie hinzuzufügen ist, dazu in der Lage war), die »äußeren Erscheinungen der Natur« und die »innere Welt« des Menschen, »die dem Reflex des durch die äußeren Sinne empfangenen Bildes auf das Gefühl und die dichterisch gestimmte Einbildungskraft« (Humboldt 1847, S. 3) entspringt, zusammenzudenken und in der Naturbeschreibung Wissenschaft und Poesie zu verbinden. Die ›schöne‹ Literatur verfolgte dieses Ziel von nun an nicht mehr. Die deutliche Abwendung von der empirischen Natur und Umwelt in vielen Texten der ›Höhenkammliteratur‹ ist wohl auch einer der Gründe dafür, dass die ersten großen sichtbaren, ja unübersehbaren Zerstörungen der Natur und der vertrauten Kulturlandschaft durch die Industrialisierung in der zweiten Hälfte und insbesondere am Ausgang des 19. Jahrhunderts die Hochliteratur nur selten interessieren; hier zeigt sich nicht zuletzt ein blinder Fleck der idealistischen Ästhetik. Zunehmend verliert die avancierte, ›moderne‹ Literatur aber überhaupt das Interesse an Natur als Thema und Gegenstand, sogar als Projektionsfläche für mentale und emotionale Besetzung. Für die »dominante Linie der Modernität […] ist eine Abkehr von oder eine Verdrängung der Natur zu konstatieren« (Böhme 1989, S. 20).2 Das Feld der Natur als eines Objekts ästhetischer 2 Aus Sicht einer materialistischen Ästhetik ist eine Ursache für die »moderne Spaltung von Natur in die Bereiche einer technisch zu erobernden Ressource und einer Quelle ästhetischer Lust und transzendentaler Empfindungen« auch »in der radikalen ›Abspaltung der für die Gattung Mensch unumgänglichen, konkreten Arbeit an Natur‹ zu suchen« (Bogner 2004, S. 121; Fischer 1996, S. 20).

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Betrachtung und emotionaler Besetzung, aber auch das Thema der drohenden Zerstörung von Natur und Kulturlandschaft durch industrielle und ökonomische Ausbeutung werden damit am Ende des 19. Jahrhunderts dem konservativ geprägten, ästhetisch, ethisch, historisch, emotional und schließlich völkisch argumentierenden Diskurs des Natur- und Heimatschutzes überlassen und von der populären Heimatliteratur besetzt.3

Modelle der ästhetisch-kulturellen Rede über Natur und Umwelt um 1900 An Schlüsseltexten zweier Publizisten aus dem konservativen Spektrum lassen sich wichtige Denk- und Argumentationsmuster der ästhetisch und kulturell argumentierenden Heimatschützer gut illustrieren: an Ernst Rudorffs Aufsätzen Über das Verhältniß des modernen Lebens zur Natur (1880 / 1990) und Heimatschutz (1897) sowie an Ludwig Klages’ Text Mensch und Erde (1920), den er zur Festschrift der Freideutschen Jugend anlässlich der Jahrhundertfeier am Hohen Meissner 1913 beisteuerte.4 Betrachtet man die Argumentationen dieser Texte, so finden sich erstaunlich weitsichtig wirkende und beinahe vertraut anmutende Beobachtungen, die ästhetische, kulturelle und ökologische Erwägungen verbinden und zugleich Kritik am kapitalistischen System formulieren. Eingekleidet in das aus heutiger Perspektive ungewohnte und ungewöhnliche Muster der ästhetischen Perspektive und vorgetragen mit einem Sprachgestus, der sich eben nicht am Ideal der Sachlichkeit orientiert, sondern von elegischem Pathos getragen ist, wirken die Texte allerdings auch ideologisch aufgeladen und allein dadurch anachronistisch. Eine genauere Betrachtung zentraler Passagen dieser Texte soll diese Verbindung des Ästhetischen und Ökologischen veranschaulichen. In Rudorffs scharfer Kritik an den Landwirtschaftsreformen, den »Verkoppelungen« (1880/1990, S. 119) und dem »Begradigen der Bäche« (ebd., S. 123) spielen (neo-romantische) ästhetische Werte ebenso eine Rolle wie ökologische Erwägungen; so wird einerseits auf »das Malerische und Poetische der Landschaft« (ebd., S. 119) verwiesen, andererseits auf Vögel, denen durch die Entfernung der Hecken und Büsche ihre »Brutstätten« (ebd., S. 123) genommen werden. Beides steht letzten Endes gleichberechtigt nebeneinander. In Heimatschutz kritisiert er die Sicht auf die Natur als bloße Ressource von Industrie und Tourismus: 3 Vgl. hierzu und zum Folgenden: Hermand (1993). 4 Anlässlich des 100. Jubiläums dieser Jahrhundertfeier hat der Verlag Matthes & Seitz Klages‹ Schrift gerade wiederaufgelegt (Klages 2013).

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Was haben die letzten Jahrzehnte aus der Welt und insbesondere aus Deutschland gemacht? […] Auf der einen Seite Ausbeutung aller Schätze und Kräfte der Natur durch industrielle Anlagen aller Art, Vergewaltigung der Landschaft durch Stromregulierungen, Abholzungen und andere, lediglich auf Erzielung materieller Vorteile gerichteter Maßregeln, mag dabei an Schönheit und Poesie zugrunde gehen, was da will; auf der anderen Seite Spekulation auf Fremdenbesuch, widerwärtige Anpreisung landschaftlicher Reize und zugleich Zerstörung jeder Ursprünglichkeit, also gerade dessen, was die Natur zur Natur macht. (Rudorff 1897, S. 401 f.)

Konservative Kapitalismuskritik, aber auch Kritik am aufkommenden Massentourismus und ästhetisch begründete Kritik am Nützlichkeitsdenken und am Materialismus durchdringen einander in dieser Position. Während Rudorffs Texte für die Wissenschaft heute vorrangig aus historischer Perspektive von Interesse sind, stellt Klages’ Mensch und Erde einen Bezugstext auch für Umweltschützer des 21. Jahrhunderts dar (aus gutem Grund freilich nicht auf dem Feld der politischen Ökologie) und ist keineswegs nur auf esoterisch und spirituell ausgerichteten Internetseiten präsent (siehe z. B. Reschika 2006). In Klages’ Schrift finden sich Denkfiguren, die denen in Rudorffs Texten durchaus ähneln – auch Klages argumentiert zuweilen ökologisch, wenn er etwa auf den Zusammenhang zwischen dem Verschwinden der Singvögel und der »maßlos [en]« Vermehrung »blutsaugende[r] Insekten« hinweist (1920, S. 20). Freilich ist der Sprachduktus hier noch pathetischer und der Text insgesamt noch stärker durch die Beschwörung apokalyptischer Szenarien und umfassender Kulturkritik charakterisiert, als es bei Rudorff der Fall war : Zerrissen ist der Zusammenhang zwischen Menschenschöpfung und Erde, vernichtet für Jahrhunderte, wenn nicht für immer, das Urlied der Landschaft. Dieselben Schienenstränge, Telegraphendrähte, Starkstromleitungen durchschneiden mit roher Geradlinigkeit Wald und Bergprofile […]; die gleichen grauen vielstöckigen Mietskasernen reihen sich einförmig aneinander, wo immer der Bildungsmensch seine »segenbringende« Tätigkeit entfaltet; bei uns wie anderswo werden die Gefilde »verkoppelt«, d. h. in rechteckige und quadratische Stücke zerschnitten, Gräben zugeschüttet, blühende Hecken rasiert, schilfumstandene Weiher ausgetrocknet; […] aus den Flußläufen, welche einst in labyrinthischen Krümmungen zwischen üppigen Hängen glitten, macht man schnurgerade Kanäle; die Stromschnellen und Wasserfälle, und wäre es selbst der Niagara, haben elektrische Sammelstellen zu speisen; Wälder von Schloten steigen an ihren Ufern empor, und die giftigen Abwässer der Fabriken verjauchen das lautere Naß der Erde, kurz, das Antlitz der Festländer verwandelt sich allgemach in ein mit Landwirtschaft durchsetztes Chicago! (Klages 1920, S. 26 f.)

Einer der Gründe dafür, dass ein solcher ästhetischer Blick auf Natur und Landschaft, der die Effekte der industriellen Nutzung der Natur als kulturelle Verfallsgeschichte deutet, historisch überholt und untauglich wirkt, ist der Elitismus der Position, wie sie Klages und Rudorff vertreten, die beide nicht nur die

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sich formierende Industrie- und Konsumgesellschaft, sondern die Großstadt, die Massenkultur und insbesondere Phänomene des Massentourismus ins Visier nehmen. Damit ist ihr Standpunkt als Position einer kleinen Elite markiert, die auf der »Verliererseite« der Industrialisierung situiert werden kann, da sie durch diese »wenig zu gewinnen hatte« (Sieferle 1984, S. 162). Die Versuche, gewachsene Kulturlandschaften, Naturdenkmäler und traditionelle Sozialordnungen vor den Folgen der Industrialisierung zu schützen, werden rückblickend entsprechend gewertet als Hindernisse für »sachgerechte[n]« Lösungen spezifisch moderner Probleme (Neumeyer 1992, S. 31) oder als schiere Weigerung, die Realitäten der ökonomischen Entwicklung anzuerkennen (Linse 1986, S. 1864, zit. nach Neumeyer 1993, S. 32). In der Rückschau erscheint die Hässlichkeit und damit auch die Zerstörung von Natur als »der unvermeidliche Preis des Wohlstands« (Sieferle 1984, S. 165); allein das Festhalten an ästhetisch-kulturellen Positionen scheint damit dem großen Projekt der Moderne, der »Demokratie, der gesellschaftlichen Gleichheit und Emanzipation« (ebd.) entgegenzustehen.

Probleme mit der kulturell-ästhetischen Perspektive auf Natur und Umwelt So nimmt es nicht wunder, dass ästhetische bzw. in weiterem Sinne geisteswissenschaftliche Argumentationsfiguren mit Blick auf Fragen zum Verhältnis von Mensch, Natur und Umwelt rasch in den Sog der »Kompensationsthese« geraten, der zufolge den Geisteswissenschaften lediglich die Aufgabe zufällt, jene negativen Erfahrungen auszugleichen, die »durch beschleunigten Fortschritt im wissenschaftlich-technisch-industriellen Sektor hervorgerufen werden, indem sie Geschichten von gestern erzählen: Sensibilisierungs-, Bewahrungs- und Orientierungsgeschichten, die unaushaltbare lebensweltliche Verluste ausgleichen« (Groh / Groh 1991, S. 151 f.). Aus kulturgeschichtlicher Sicht fiele den Geisteswissenschaften ironischerweise eine ähnliche Funktion zu wie bestimmten Projektionen, die traditionell mit Blick auf die ›Natur‹ vorgenommen werden: Die »Natur als Gegenwelt« (Großklaus / Oldemeyer 1983) und »Projektionsfläche« (Fischer 2004), überhaupt Natur als Objekt ästhetischer Betrachtung gerät, kulturgeschichtlich gesehen, vor allem dann in den menschlichen Blick, wenn die kulturellen, technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen derart an Beschleunigung aufnehmen, dass das Individuum sich überfordert fühlt (vgl. Großklaus 1983). Die Natur dient dann, wie Martin Seel es formuliert, als »Medium und Paradigma der Kontemplation« (Seel 1991, S. 66), sie wird als Raum imaginiert, in dem ein Absehen »von allem, was kulturelle Intention an ihren Gegenständen und Umgebungen ist«, möglich werden soll

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(ebd., S. 69). Ein ästhetischer Blick auf die Natur wird aus dieser Perspektive zum Medium einer bloß regressiven Kompensation eines ›Unbehagens in der Kultur‹ der Moderne: »Natur tritt in dieser ästhetischen Idealisierung in einen Gegensatz zur modernen Zerrissenheit, entfernt und befreit vom Alltag, kann die Funktion einer sinngebenden Instanz in einer profanen und nivellierenden Gesellschaft übernehmen« (Bogner 2004, S.124). Eine an der traditionellen idealistischen Ästhetik orientierte Naturästhetik sieht zudem in der Vollendung der »Herrschaft über die zum Objekt gemachte und unterworfene Natur« die Bedingung für jene »Freiheit«, die einen ästhetischen Blick auf die Natur allererst ermöglicht: »Der Naturgenuß und die ästhetische Zuwendung zur Natur setzen […] die Freiheit und die gesellschaftliche Herrschaft über die Natur voraus« (Ritter 1984, S. 162). Gerade angesichts der Dominanz ökonomischer, naturwissenschaftlicher und technokratischer Denk- und Argumentationsfiguren kann jedoch der Blick auf die »Schönheit der Natur«, wie in der Heimatbewegung um 1900 praktiziert, durchaus auch als »sozialrevolutionäres Konzept« verstanden werden, das eine Rolle zu spielen vermag »im Kampf gegen kommerzielle Verhunzung, Verramschung und Verseuchung unserer Umwelt« (Hermand 1993, S. 133). Einem ästhetischen, d. h. nicht-instrumentellen Zugang zur Natur kann so im Prinzip durchaus das Potential zugeschrieben werden, das »Unbehagen an einer technokratischen Kultur« auszudrücken; auch die ästhetische Haltung als eine der »nicht-instrumentellen Einstellungen zur Natur, die eben nicht unmittelbar ›rationalisierbar‹ und dem ökonomischen Gesamtinteresse dienlich sind« (Großklaus 1983, S. 170), birgt entsprechend ein Sensibilisierungs- und Protestpotential. Die Heimatbewegung aber, die möglicher Anknüpfungspunkt für eine Tradition des ›nature writing‹ in deutscher Sprache wäre, ist ideologisch schwer belastet. Hauptgrund dafür ist die Instrumentalisierung der emotionalen Verbundenheit mit Natur und Heimat im Nationalsozialismus bzw. die Annahme, dass es gerade die Rückwärtsgewandtheit und die Vorstellung einer Verbindung von ›Land und Leuten‹ waren, die mehr oder weniger direkt zu der ›Blut und Boden‹- Ideologie des Nationalsozialismus führten5 (vgl. Neumeyer 1992, S. 32–39): Wenn es überhaupt eine künstlerische Strömung zwischen 1890 und 1933 gegeben hat, die dem deutschen Faschismus die Wege ebnete, dann sicher jene stammesbetonte, regionalistische oder völkische Heimatkunst um 1900, aus der viele der wichtigsten nationalsozialistischen Kunsttheoretiker – wie Adolf Bartels oder Paul SchultzeNaumburg – hervorgegangen sind. (Hermand 1993, S. 123) 5 Auch wenn nachgewiesen wurde, dass die nationalsozialistische Ideologie der technischen Modernisierung keineswegs skeptisch gegenüberstand (vgl. Trepl 2012, S. 189–213).

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Bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts schien damit (angereichert noch durch die zusätzliche Politisierung des Heimatbegriffs im Zusammenhang mit den Debatten um die deutschen Vertriebenen) die emotionale Verbundenheit mit regionaler Kultur-Natur, wie sie im Heimatbegriff gefasst wurde, ganz und gar ungeeignet als Bezugspunkt für zeitgemäße Debatten. In den 70er Jahren, während der Zeit der »ökologischen Revolution« (Radkau 2011, S. 124) wurde allerdings für kurze Zeit ein vom ästhetischen Empfinden des Subjekts geprägter Zugang zu Natur und Umwelt auch in öffentlichen Diskursen in gewissem Maße gleichsam rehabilitiert, so sehr, dass auch Schriftsteller, die sich politisch links verorteten, versuchten, angesichts der Umweltgefährdungen den Begriff der Heimat für sich zu reklamieren, wie z. B. Peter Rühmkorf: Was wir gerade eben noch Heimat nennen können, ist nämlich nicht allein in seinem Namen, es ist bereits in der Substanz bedroht – ganz egal, ob uns der Mutterboden unter dem Hintern wegspekuliert wird oder die liebe Atemluft vor der Nase enteignet, und ohne dass man uns aus dem Land jagte, sind wir doch alle in gewisser Weise Heimatvertriebene auf Abruf. Ein kleines Weilchen noch an industriellem Vormarsch, und die Heimat hat sich wie von selbst verflüchtigt. (Rühmkorf 1998, S. 87)

Auch die Grüne Partei ist das Ergebnis der Synthese aus (sozialistischer) Utopie und Fortschrittsdenken einerseits und konservativer Naturliebe andererseits, oder, in den Worten Joschka Fischers, eine »seltsame Verbindung des studentischen Missionars und der proletarischen Weltrevolution mit dem kniebundbehosten, heimatliebenden Naturfreund« (zit. nach Bause 1999, S. 129). Die ökologische Bewegung war in den 70er/80er Jahren damit aber zugleich auch die Synthese verschiedener Systeme und Diskurse und verband naturwissenschaftliche Ökologie, Kapitalismuskritik sowie ästhetisch und kulturell argumentierenden, konservativen Natur- und Heimatschutz (vgl. Trepl 2012, S. 215–238) miteinander.

Die Wiederkehr des Ästhetischen: Fortschritt vs. Schönheit in der Debatte um die Energiewende Seitdem allerdings bestimmte ›grüne‹ Positionen im gesellschaftlichen, kulturellen und politischen main stream angekommen sind, seitdem überdies in der Umweltbewegung der Diskurs der ökologischen Modernisierung tonangebend ist, scheint sich eine weitere Trennung der ›zwei Kulturen‹ abzuzeichnen, nun innerhalb der ›grünen‹ Bewegung (Trepl 2013). Besonders deutlich wird dies in jüngster Zeit in der Debatte um die Umsetzung der ›Energiewende‹.6 Insbe6 Auch die Debatte um die Frage, ob dank einer ›grünen Revolution‹ (Fuecks 2013) im Öko-

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sondere die für eine erfolgreiche Umsetzung dieser Wende notwendige Errichtung technischer Anlagen hat heftige Auseinandersetzungen zwischen den (nicht immer bewusst, worauf Trepl 2013 hinweist) ästhetisch und kulturell argumentierenden Vertretern des konservativen Natur-, Landschafts- und Heimatschutzes einerseits und den Vertretern der ökologischen Modernisierung andererseits ausgelöst, die einander an der Front »Umwelt- gegen Naturschutz« (Rosenkranz / Spielmann 2013) gegenüberstehen.7 Der Begriff ›Umwelt‹ wird dabei in der politischen Ökologie eindeutig präferiert, da er einen hohen Abstraktionsgrad voraussetzt, während in dem hier zu verhandelnden Diskurs die Begriffe ›Natur‹ oder ›Landschaft‹ in der Regel auf bestimmte Naturphänomene und konkrete Landschaften Bezug nehmen.8 Die Einwände der Naturschützer gegen Windkraftanlagen, Pumpspeicherwerke und Stromtrassen gleichen strukturell und rhetorisch den Argumenten der konservativen Heimatschutzbewegung um 1900. Es geht ihnen um »Vielfalt und Schönheit«, um den (ästhetischen) Genuss der »herrliche[n] Naturparklandschaft mit dem von Schwarzerlen umsäumten Bachlauf, blühenden Auenwiesen, Hecken und Gebüschen« und deren Gefährdung durch die »irrwitzige und brutale Planung [eines Pumpspeicherwerks]« (BUND Kreisgruppe Wunsiedel 2009); um Widerstand gegen eine Planung und Politik, die regionale Besonderheiten und emotionale und ästhetische Bedürfnisse der Bevölkerung außer Acht lässt, indem sie rein nach funktionalen Kriterien entscheidet. So formuliert ein offener Brief der »Bürgerinitiative zum Schutz des Hochschwarzwaldes e.V.« vom 5. Dezember 2012, in dem ebenfalls ein Echo der bei Rudorff und Klages formulierten Positionen nachhallt: Die enorme Bedeutung einer überaus reizvollen und abwechslungsreichen Landschaft kann kaum genug unterstrichen werden. […] In den Alpenländern werden Zukunftsstrategien entwickelt, die […] regionale Identität stärken und anbieten wollen – in Abkehr vom »überall alles«. Darin spielt eine naturnahe und intakte Kulturlandschaft die zentrale Rolle. Es sollte bewusst gemacht werden, dass nicht überall alles möglich sein darf und Landschaft in kalter, seelenloser Technokratie nach eindimensionalen Funktionalitätsdaten durchgerastert wird. (ebd.)

Die Argumente der ›Gegenseite‹ stehen im Zeichen der Fortschrittserzählung und weisen die ästhetischen und kulturellen Bedenken zurück; es schwingt der implizite Vorwurf der Irrationalität mit, wenn das Argument vorgebracht wird, Kapitalismus an der vom Fortschrittsgedanken getragenen Idee des Wirtschaftswachstums festgehalten werden kann, wie sie gegenwärtig u. a. zwischen Ralf Fuecks (2013) und Harald Welzer (2013) geführt wird, ließe sich in diesem Kontext analysieren. 7 Vielleicht wäre es sogar noch deutlicher, von der Kluft zwischen »Umweltschutz« einerseits und »Landschaftsschutz« andererseits zu sprechen, da der Blick auf die Natur als Landschaft per se ein ästhetischer Blick ist (vgl. Trepl 2012, S. 56–63). 8 Zur Vieldeutigkeit des Begriffs ›Umwelt‹ vgl. Radkau (2011), S. 25.

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das, was hier erhalten werden solle, die vertraute Kulturlandschaft nämlich, sei ja keine ›Natur‹: Es geht um eine beschleunigte Umkrempelung unserer Kulturlandschaft. Es gibt immer Widerstand, wenn die gewohnte Umgebung, die Heimat, ein anderes Gesicht erhält, weil der ländliche Horizont plötzlich geprägt wird von Windriesen und Solarfeldern. Aber das werden wir verkraften, wie Generationen vor uns den Wandel ihrer Kulturlandschaften verkraftet haben. Nichts von dem, was wir heute als ländliche Idylle wahrnehmen, ist natürlich […]. (Rosenkranz / Spielmann 2013)

Einen Kompromiss streben freilich auch die Modernisierer an, die sich für die Umsetzung der Energiewende engagieren; Ziel ist allerdings nicht ein Kompromiss zwischen ›Energiewende‹ und ›Landschaftsschutz‹ oder gar ›Heimatschutz‹, sondern zwischen Energiewende und »Naturschutz«, in diesem Fall: »Artenschutz« (ebd.). Dem Argument der »Artenvielfalt«, das aus dem naturwissenschaftlich-ökologischen Diskurs stammt, wird großes Gewicht zugebilligt; ja, in der Rede vom Erhalt der Artenvielfalt ist sogar rhetorisches Pathos gestattet, wie deutlich wird, wenn plötzlich überraschend das Wort »Versündigung« fällt und damit ein kulturell-religiöses Register gezogen wird. Man ist versucht, dies als zunächst rhetorisches Zugeständnis an die emotionalen und ästhetischen Bedürfnisse der Landschafts- und Heimatschützer zu interpretieren: Viel wichtiger ist, wie wir in einem dicht besiedelten Industrieland die Energiewende und die wenigen verbliebenen intakten Biotope zusammenbringen oder besser : auseinanderhalten. Jedes Pumpspeicherwerk mit seinen Seen auf Bergkuppen, wo sie nicht hingehören, ist eine Versündigung gegen die Artenvielfalt. […] Wenn wir den Kompromiss zwischen Energiewende und Artenschutz nicht ernsthaft suchen, werden am Ende alle verlieren, die die Energiewende wollen. (ebd.)

Die Artenvielfalt9 eignet sich als Argument und als rhetorische Figur glänzend dazu, eine Brücke zu schlagen zwischen der naturwissenschaftlich-technischen Perspektive und den ästhetisch-kulturellen Bedürfnissen konservativer Naturschützer : Schon im Begriff der Vielfalt schwingt eine ästhetische Perspektive mit (Vielfalt und Abwechslungsreichtum gegenüber Gleichförmigkeit und Monotonie), es wird anerkannt, dass diese Vielfalt erhalten werden muss, und dass in diesem Kontext das Konservieren selbst einen Wert darstellt. Der erwünschte politische Kompromiss wird also zunächst rhetorisch und argumentativ vollzogen, gleichsam sprachlich vorgezeichnet.

9 Zum kulturellen, ästhetischen und emotionalen Stellenwert des Diskurses über das Aussterben von Arten vgl. auch Heise (2010).

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Schluss Auch wenn die politische Ökologie »einen rationalen und im Grunde kühlen Zugang« zur Natur, zur Umwelt und zu Fragen des nachhaltigen Lebens hat (Trittin 2009, S. 18), kommt ökologische Politik zumindest rhetorisch nicht ohne den Rückgriff auf »emotionale« (und ästhetische) »Naturerfahrung« aus, und sei es auch nur als »wichtiges Motiv für den Eintritt der Natur in die politische Sphäre durch menschliche Fürsprache« (ebd.). Da ein ästhetischer und emotionaler Zugang zur Natur ohne kulturelle Prägung nicht denkbar ist und durch Traditionen geformt wird, kommt einer kulturökologisch ausgerichteten Literaturdidaktik die wichtige Aufgabe zu, die Genese und Entwicklung solcher kultureller Prägungen in ästhetischen Perspektiven auf Natur und Umwelt zu reflektieren und ein Instrumentarium zu entwickeln, das es einerseits ermöglicht, diese kulturellen Prägungen in der Rhetorik der politischen Ökologie aufzuspüren, das aber andererseits daran mitwirkt, emotional und ästhetisch begründeten Positionen in Debatten um Fragen der Ökologie und Nachhaltigkeit eine Stimme zu geben: nicht zuletzt im Sinne einer Ermächtigung derjenigen Individuen, die nicht zu den wissenschaftlich oder technisch geschulten Experten oder Sachverständigen gehören, die ihren Positionen aber dennoch in den Entscheidungsprozessen Gehör verschaffen wollen. Reflektierte Positionen, die den ästhetischen und kulturellen Bedürfnissen von Individuen und Gruppen einen rhetorischen und theoretischen Rahmen geben, können auch dazu beitragen, dem Vorwurf des Irrationalismus zu begegnen, der oftmals mitschwingt, wenn aus der Perspektive der ökologischen Modernisierung argumentiert wird.

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Nick Büscher

Kulturökologie im Kinderzimmer. Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde – ein anthropofugales1 ›Kinderbuch‹

Wäre ich ein Baum unter Bäumen, Katze inmitten der Tiere, dann hätte dieses Leben einen Sinn oder dieses Problem hätte vielmehr keinen, denn ich wäre Teil dieser Welt. (Camus 2010 [1942], S. 70)

Bambi – Kinderbuchklassiker oder anthropofugale Literatur? Jedes Kind kennt Bambi. Jedes Kind kennt die Geschichte um das Erwachsenwerden des kleinen Rehkitzes in Walt Disneys Zeichentrickfilm (vgl. Hand 1942). Die textuelle Grundlage der aus dem Jahr 1942 stammenden Verfilmung Disneys hingegen ist weitaus weniger bekannt, ist doch der Roman Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde (1923) des österreichisch-ungarischen Schriftstellers Felix Salten im Verlauf der weltweiten Rezeption im Schatten der Disney-Verfilmung zu einem verkürzten, ›kindgerecht‹ dargestellten und vorlesbaren ›Buch zum Film‹ degeneriert (vgl. Ehneß 2002, S. 300 f.; Grieser 1991, S. 28 ff.).2 Die massenmediale Omnipräsenz Bambis, laut Heidi Lexe die »Chiffre für das Niedliche, das Sanftmütige, das Unbeholfene« (2006, S. 102), verweist nicht auf den Roman, sondern auf das durch Disney geprägte (Zeichentrick-) Bild. Dies hat die Rezeption der Romanvorlage nachhaltig geprägt, wobei Bambi 1 Der Begriff der Anthropofugalität geht auf Ulrich Horstmanns Untier (1983) zurück (vgl. Horstmann 1983). Dieser griechisch-lateinische Neologismus aus anthropos (Mensch) und fuga (Flucht) bezeichnet das Verschwinden des Menschen und steht im Zentrum der menschenflüchtigen Philosophie. 2 Vgl. die zahlreichen Filmbücher : Disney / Mennen 2000; vgl. Disney 2005; vgl. Salten 2007; vgl. Salten / Dusikova 2011. Die der Untersuchung zugrundeliegende ungekürzte Ausgabe ist nach mehr als 40 Jahren die Neuauflage der letzten vollständigen Ausgabe des erstmals 1923 erschienenen Romans (vgl. Salten 1960 [1923]; vgl. Salten 2003 [Nachfolgend im Text mit B zitiert]). Dass die empfindlichen Abweichungen in der filmischen Umsetzung des Romans nicht dem entschiedenen Jagdgegner Walt Disney, sondern der US-amerikanischen (Selbst-) Zensur anzulasten sind, hat Matt Cartmill unter Einbeziehung des historischen Kontextes hinlänglich nachgewiesen (vgl. Cartmill 1995, S. 208).

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einen Beitrag zur kulturellen Bildung leisten kann: Eine diesbezügliche eingehende literaturwissenschaftliche Diskussion ist bislang fast vollständig ausgeblieben (vgl. Seibert 1994, S. 39), was symptomatisch für die mit dem zweifelhaften Prädikat ›Kinderbuch‹ versehene Literatur ist (vgl. Doderer 1984, S. 478 f.; Wrobel 2010, S. 79). Allenfalls wird von einer ›Tiergeschichte‹ gesprochen (vgl. Kümmerling-Meibauer 1999, S. 961). Die zeitliche Einordnung der Entstehung des Romans in die 1920er Jahre und damit in die Zwischenkriegszeit verweist auf die Möglichkeit einer alternativen Deutung und kritischen Revision bisheriger Interpretationsansätze, die bislang ausschließlich die literarische Rezeption der Freud’schen Psychoanalyse in der Wiener Moderne in den Blick genommen haben.3 Vielmehr kann Bambi als Beitrag eines kulturökologisch motivierten Bildungskonzepts4 in jene Reihe der von Berbeli Wanning ausgemachten »schon früh mahnende[n] Stimmen« gestellt werden, die als »Seismograph der gefährdeten, kulturell-natürlichen Umwelt« fungieren (Wanning 2008, S. 119). Vor dem Hintergrund der menschengemachten Naturgefährdung öffnet sich im Jagddiskurs ein ästhetischer Zugang zur verletzlich gewordenen Natur. Die vorliegende Untersuchung geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass Bambi sich in einen literarischen Diskurs von Misanthropie und Jagdkritik einreiht, der insbesondere durch die vom Ersten Weltkrieg geprägte Kulturkritik gespeist wird.5 Dabei dient die Hervorhebung des Tiermotivs der Darstellung einer Daseinssphäre, »die sich den aggressiven Tendenzen der Menschen widersetzt« (Daemmrich / Daemmrich 1995, S. 345). Bambi kann innerhalb einer kulturökologischen Lesart als Beitrag zur kulturellen Bildung verstanden werden, die dem Literaturunterricht die Möglichkeit eröffnet, die Ziele der Bildung für nachhaltige Entwicklung der UN-Dekade (2005–2014) umzusetzen, indem der ästhetische Zugang zur Natur »Werte, Wissen und Kompetenzen [vermittelt], die der Einzelne benötigt, um sein Umfeld aktiv und verantwortungsvoll zu gestalten.« (Deutsche UNESCOKommission [2007] 2012; vgl. Wanning 2008, S. 124) ›Kulturelle Bildung‹ um3 Lieselotte Pouh konkretisiert die intertextuellen Bezüge der ›Jung-Wiener‹-Szene zur Freud’schen Psychoanalyse mit Saltens (Tier-)Erzählung Der Hund von Florenz (1926) und der laut Pouh zugrundeliegenden ödipalen Struktur (vgl. Pouh 1997, S. 203 ff.). 4 Dieser Ansatz fußt auf dem amerikanischen Ecocriticism. Cheryll Glotfelty zufolge versteht man darunter »the study of the relationship between literature and the physical environment« (Glotfelty 1996, S. xix). 5 Der Erste Weltkrieg und seine kulturkritische Reflexion verdeutlichen eine ambivalente Haltung zur Kultur, die eng mit dem Nachdenken über die menschliche Natur zusammenhängt. Dies wird zur misanthropisch-kulturkritischen Grundlage für Saltens Roman und macht die kulturkritische Gemengelage (vgl. Cartmill 1995, S. 196) der Entstehungszeit Bambis deutlich, welche eine literarische Reflexion im Sinne des Ecocriticism als »connecting details of human culture to the non-human world of nature« (Galleymore 2012, S. 55) ermöglicht.

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fasst Max Fuchs zufolge »Begriffe, die sich sowohl auf bestimmte Wissensbereiche beziehen, in denen jedoch eine allgemeine Haltung und Einstellung [. . .] erfaßt werden« (Fuchs 1986, S. 43). Die ferne Nähe kultureller Bildung ist laut Rainer Treptow bedingt durch das »Erleben der Verunsicherung« (Treptow 2008, S. 448), dem, wie Fuchs bekräftigt, in der Vermittlung »von Natur- und Kulturseite des Menschen« ein integratives Konzept »wechselseitige[r] Verschränkung von Mensch und Welt« (Fuchs 2000, S. 75 ff.) zugrunde liegt. Eingedenk der Kontextbedingungen insbesondere ökologischer Bedrohungslagen kommt der kulturellen Bildung eine »Schlüsselrolle bei der Bewältigung gesellschaftlicher Herausforderungen« (Fuchs 2000, S. 71 ff.) zu und lässt vor dem Hintergrund der allgemeinen Forderung zur »Entwicklung kultureller Handlungsfähigkeit« (Fuchs 1986, S. 45) die »Kompetenz zur Reflexion und Deutung der zivilisatorischen Prozesse« (Fuchs 2000, S. 80) Bedeutung gewinnen. Die aus der kulturellen Bildung resultierende Handlungskompetenz ist zugleich die zentrale »›Daseinskompetenz‹« (Fuchs 2000, S. 95), die dazu befähigen soll, die aus den zivilisatorischen Prozessen resultierende Lebensraum- und Naturzerstörung einzudämmen, um das Dasein der Menschheit weiterhin zu gewährleisten. Werden Naturräume mit Wanning als kulturelle Erfahrungsräume begriffen, ist Literatur in einer kulturökologischen Betrachtungsweise dazu in der Lage, »einen anderen Zugang zur Natur« zu ermöglichen, um schließlich zu einem »bewusste[n] Handeln in Umgang mit Natur und Umwelt« (Wanning 2008, S. 117 ff.) zu gelangen. Die Beschäftigung mit Bambi unter kulturökologischer Perspektive öffnet einen ästhetischen Erfahrungsraum, der einerseits lebensweltliche Anknüpfungen ermöglicht und andererseits darüber hinausweist: Der kontrastiv-konstruktive Verweisungszusammenhang zwischen Natur und Kultur und die literarische ›Unvermitteltheit‹ ästhetischer Naturerfahrungen legen die Notwendigkeit der Implementierung in den (vorwiegend durch Literaturvermittlung geprägten) Deutschunterricht nahe. Die bis dato vorgenommene, tendenziell eher implizite als explizite kanonisierende Gattungszuordnung Bambis zur ›Kinderliteratur‹ ist zu revidieren, betrachtet man Bambi als »Medium kultureller Ökologie« (Wanning 2008, S. 116). Auch in Hinblick auf Publikationen Saltens wie – aller Wahrscheinlichkeit nach – Josefine Mutzenbacher6 muss die Zuordnung Bambis zur Kin6 Einen Bezug zwischen den beiden Lebensgeschichten von Josefine Mutzenbacher. Die Lebensgeschichte einer wienerischen Dirne, von ihr selbst erzählt (1906) und Bambi. Eine Lebensgeschichte aus dem Walde (1923) stellen Dietmar Schmidt und Claudia Öhlschläger her, indem die scheinbar unvereinbaren Gattungen von Pornographie und Tiergeschichte im ›Weiblichen‹ des Rehs zusammenfallen (vgl. Schmidt / Öhlschläger 1994, S. 237–286). Für Ernst Seibert liegt in der Verquickung von Bambi und Josephine Mutzenbacher der Grund für die stiefmütterliche literaturwissenschaftliche Behandlung beider, da sich »das Lehrhafte und das Laszive« (Seibert 1994, S. 41) nicht ohne weiteres harmonisieren lassen.

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derliteratur korrigiert werden; vielmehr erscheint Bambi als Ausdruck eines spezifischen ›Geisteszustandes‹, der als ›Tiergeschichte‹ über seine Epoche hinausreicht.7 Bambi stellt einen kulturökologischen Prolog dar, wofür dem ›Jung-Wiener‹ Salten noch der Begriff fehlte: Gemeint ist die im Roman vorhandene Anthropofugalität (›Menschenflucht‹), die ihrerseits als radikaler Ausdruck des Ecocriticism betrachtet werden kann.8 Die Hauptthese ist, dass Bambi als menschenflüchtiger Roman fungiert, der die entscheidenden Elemente des misanthropisch-kulturkritischen Diskurses der 1920er Jahre mit aufgreift, den Menschen in einer vermeintlich ›harmlosen‹ Kinderkultur zum Verschwinden bringt und in diesem Zusammenhang eine kulturökologische Perspektive eröffnet. Im Roman lässt sich eine anthropofugale Textbewegung aufzeigen, die sich darin ausdrückt, dass der Mensch an die Peripherie der Erzählhandlung gedrängt wird. Schließlich deutet dies darauf hin, dass sich die menschenflüchtige, konsequent anti-anthropozentrische Literatur bereits im Vorfeld zu Ulrich Horstmanns Untier (1983) nachweisen lässt, das seinerseits die philosophische Grundlage der Menschenflucht darstellt. Damit wird ein kulturökologisches Programm verfolgt, das laut Wanning von der ökologischen Kraft (vgl. Zapf 2002) von Literatur ausgeht, indem das, »was kulturell getrennt oder pragmatisch instrumentalisiert wurde«, reintegriert wird, »sie [die Literatur, N.B.] holt das Ausgegrenzte oder Marginalisierte ein und führt es von den Rändern her wieder in den Mittelpunkt« (Wanning 2008, S. 117).9 Im Folgenden wird gezeigt, wie sich Bambi einerseits der These Cartmills zur »Animalisierung der Kinderkultur« zuordnen lässt und wie sich andererseits mögliche Ursachen für das scheinbar »unklar[e]« und bislang »unkommentiert [e]« Phänomen aufzeigen lassen, die im zeitgenössischen misanthropisch-kulturkritischen Diskurs begründet liegen (Cartmill 1995, S. 226). Die Analyse des 7 Der Eindruck, dass Bambi nicht als Kinderbuch konzipiert wurde, verstärkt sich durch den Umstand, dass der Roman bereits 1922 als Fortsetzungsroman in der Neuen Freien Presse erschienen ist und der angesprochene Kreis von Rezipienten eindeutig erwachsene Leser waren (vgl. Lexe 2006, S. 99). 8 Die Anthropofugalität verabschiedet sich vom Anthropozentrismus und konstatiert die kulturelle Irreduzibilität der Natur, wie Peter Barry für den Ecocriticism feststellt, dass »[n]ature then isn’t reducible to a concept which we conceive as part of our cultural practice« (Barry 2002, S. 252). Die von Alexander Starre ausgemachten »Grundpfeiler« des Ecocriticism zeigen auffällige Parallelen zur Anthropofugalität, so dass die nicht-menschliche Umwelt nicht nur (topische) Rahmung ist, sondern die Abhängigkeit der Menschheitsgeschichte von der Umweltgeschichte betont und das menschliche Interesse nicht als das einzige legitime Interesse ausgemacht wird (Starre 2010, S. 23). Die apokalyptische Drohung stellt eine Schnittmenge zwischen Anthropofugalität und Ecocriticism dar, wie Schatz für den Ecocriticism betont, »it takes images of planetary annihilation« (Schatz 2012, S. 21). 9 Zapf zufolge weist Literatur »ein besonderes Potenzial auf [… ], die kulturell getrennten Disziplinen und Wissensbereiche zusammenzuführen und in ihren komplexen Wechselbeziehungen zu erkunden« (Zapf 2008, S. 19).

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Romans betrachtet einzelne für diesen Diskurs relevante Aspekte (Mensch-TierDichotomie, Misanthropie, Kulturkritik und Jagd). In der literarisch inszenierten Wechselwirkung zwischen Mensch und Natur sowie in der Auseinandersetzung mit anthropozentrisch ausgerichteten Narrativen sowie der offensichtlichen Zurschaustellung von Anthropomorphisierungen eröffnet sich eine literarische Naturbetrachtung, die eine ästhetische, kulturökologisch motivierte Naturvermittlung »in Auseinandersetzung zwischen Selbst und der das Individuum umgebenden (Um-) Welt« (Reinwand 2012) ermöglicht.

Misanthropische Jagdkritik: Das Tier im Mittelpunkt, der Mensch an der Peripherie Saltens Bambi exemplifiziert nach dem Ersten Weltkrieg eine anthropofugale Textbewegung, in welcher der Mensch in einem Klima der zivilisatorischen Auflösung an die Peripherie des Textes gedrängt wird und umgekehrt das zuvor an den Rand Gedrängte, die nichtmenschliche Kreatur, ins Zentrum der kulturökologischen Betrachtung rückt.10 Tiergeschichten als mehrheitlich vom Menschen ›befreite‹ Erzählungen stellen einen eigenen Korpus in Saltens Oeuvre dar (vgl. Ehneß 2002, S. 235 f.)11, vor dessen Hintergrund »[d]ie Gesellschaft und die moderne Zivilisation [. . .] nur noch als destruktive Kräfte [erscheinen]« (Gottstein 2007, S. 292 f.). Auch die späten, im Exil entstandenen Tiergeschichten Saltens können mit Ursula Seeber als Eskapismus gedeutet werden, die nicht nur eine territoriale Flucht darstellen, sondern ebenfalls anthropofugal geprägt sind (vgl. Seeber 1998, S. 59). Die ›fabelhafte‹ (vgl. Ehneß 2002, S. 294)12 Verdrängung des Menschen aus dem ›Bild‹ der Erzählung (und später tatsächlich als »Verbannung des Menschen aus dem Bild« (Cartmill 1995, S. 222) des Zei10 Salten schrieb Bambi in einem Klima von Kulturkritik und Kulturpessimismus im Wien der 1920er Jahre und in der Spätphase der Wiener Moderne (1890–1918). Als der Text eines Jägers (er besaß selbst eine Jagd bei Stockerau im Wienerwald) und Jagdfeindes – zu letzterem wurde Salten aufgrund eigener Jagderfahrungen mit Habsburger Erzherzögen – entstand Bambi, wie Cartmill zusammenfasst, »in der niedergehenden Hauptstadt einer geschlagenen und zerstückelten Monarchie, in einer intellektuellen Atmosphäre, die von Freudscher Düsternis und den immer hysterischer werdenden Stimmen künstlerischer und politischer Extremisten war« (Cartmill 1995, S. 197). 11 Ganz zu Unrecht bewertet Michael Gottstein die Tiergeschichten Saltens als »Unterhaltungsliteratur ohne sonderlich hohen literarischen Anspruch« unter routiniertem Einsatz erprobter stilistischer Mittel und der »Wiederverwertung eigener Motive« (Gottstein 2007, S. 263 f.). 12 Dahinter steckt eine dialektische Umkehrung der Fabelfunktion, wie Baßler betont: »Statt menschliche Eigenschaften zur besseren Kenntlichmachung auf Tiere zu übertragen, werden Eigenschaften der Tiere zur besseren Kenntlichmachung mit den sprachlichen Mitteln des Menschen dargestellt« (Baßler 2006, S. 132).

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chentrickfilms) geschieht grundsätzlich durch die exponierte Bindung der Handlung an Tierfiguren. Tiere fungieren in Bambi als Protagonisten, so dass die Erzählung getreu der von Ehneß vorgenommenen Einordnung zu den »Geschichten von Tieren in freier Natur (Waldtieren)« (Ehneß 2002, S. 237) gehört und menschliche Figuren fiktionsimmanent eine Nebenrolle spielen. Die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung, ihr Lebenszyklus und, in einer anthropomorphen Kategorie, ihr Lernprozess rücken in den Fokus der Betrachtung. Somit stellen die Rehe als Waldtiere die Reflexionsebene für die Geschehnisse im Wald dar, die geeignet ist, um den kulturökologischen Bildungsprozess beim Leser zu initiieren. Das Moment der Reflexion gehört zu den didaktischen Grundimpulsen einer ästhetischen Erfahrung der Natur, um eine kritische Würdigung des Verhältnisses von Mensch und Natur vorzunehmen (vgl. Wanning 2008, S. 122). Mit dem Reh reiht sich Bambi in eine weitreichende Motivgeschichte ein. Saltens Roman kommt laut Baßler der Status eines »realistischen Neuansatz[es]« (Baßler 2006, S. 131) in der modernen Verwendung des Rehmotivs zu, jenseits von bisherigen Topoi, Kitsch und Parodie: »Rehartigere Rehe hatte die deutsche Literatur jedenfalls noch nicht gesehen« (Baßler 2006, S. 132), wobei der Mensch als Betrachter zugunsten dieser »realistisch-tierpsychologische[n] Neubegründung« (Baßler 2006, S. 136) kategorisch ausgeklammert wird. Dies entspricht dem kulturökologischen Ansatz in Form der ›gesamtsystemischen‹ Betrachtung (vgl. Zapf 2008) als umfangreiche literarische Naturdarstellung, die ihre kulturelle (Un-)Vermitteltheit so nah wie möglich an die Realität heranführt und die kulturelle Bedingtheit von ästhetischer Naturwahrnehmung augenfällig macht. Es sind bezeichnenderweise die Rehe, die eingedenk ihrer kulturökologischen Symbolik als unschuldige Tiere par excellence einerseits und als mythologisch aufgeladene Symbolträger – nicht zuletzt gelten Rehe als Todbringer für den Menschen (vgl. Daemmrich / Daemmrich 1995, S. 344) – andererseits, im Mittelpunkt der Handlung stehen. Dabei ist auffällig, dass die Rehe mit den ›positiven‹ Eigenschaften des Menschen (Fähigkeit der Artikulation und Verstandesfähigkeit) attribuiert sind, während die anthropomorphe Darstellung der Rehe alle weiteren menschlichen Eigenschaften ausspart. Laut Ehneß erreicht der Anthropomorphismus in Bambi die höchste Kategorie: »Das Tier besitzt die geistigen Eigenschaften des Menschen, kann denken, fühlen, sprechen, hat gewisse menschliche Moralvorstellungen« (Ehneß 2002, S. 249). Und, so muss ergänzt werden, die Rehe besitzen über das Menschliche weit hinausreichende Moralvorstellungen: Die Ricke betont gegenüber Bambi zu Beginn, dass Rehe »niemanden töten« (S. 19).13 Die Mutter entgegnet der Frage Bambis nach der 13 Dies folgt der bereits bekannten antithetischen Konstruktion von unschuldigem Tier und schuldigem Menschen. Das Reh stellt in ähnlicher Weise die Gewaltfreiheit und Verstan-

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Gerechtigkeit der Rehe mit einfachen Worten: »›Werden wir auch einmal böse zueinander sein?‹ ›Nein, mein Kind‹, sagte die Mutter, ›bei uns gibt es das nicht.‹« (S. 21) Folglich wird das friedliche und sprechende Reh zum nichtmenschlichen Antagonisten, zur kulturökologischen Kontrastfolie der gewalttätigen und bezeichnenderweise stummen Menschen.

Die Darstellung des Menschen: Der fremde Blick des Tieres Die Existenz des Menschen wird in Bambi zunächst nur näherungsweise angedeutet. Diese bewusste Aussparung des Menschlichen wird zur kulturökologischen Reflexionsebene, welche die Anthropozentrik kritisch reflektiert und dem gegenüber das anti-anthropozentrische Narrativ funktionalisiert. Die Präsenz des Menschen beschränkt sich zunächst nur auf Ahnungen und die Witterung der Rehe und schließlich auf anthropogenen Lärm: »Dabei hob sie [Bambis Mutter, NB] jeden Augenblick das Haupt, ließ die Lauscher spielen und sog den Wind ein« (S. 13). Die »Gefahr« (S. 37; vgl. S. 48; 53) als »eine schwere und gefährliche Sache« (S. 22) dient als Platzhalter für den Menschen, dessen tatsächliches Erscheinen im Wald als katastrophaler Einbruch wahrgenommen wird. Bis dahin ist vom Menschen als »etwas Unheimliches« (S. 36) die Rede (vgl. Weippert 1997 [1977], S. 35).14 Die Darstellung des Menschen ist von Bambis misanthropischer Warte aus durchweg negativ, wenn auch mit Baßler eine »Ambiguität« (2006, S. 133) des Menschlichen festgestellt werden kann. Kulturelle Bildung, hier verstanden als Auseinandersetzung mit »de[m] Nicht-Anerkannten, de[m] Unkonventionellen« (Landeshauptstadt Hannover, Kulturamt 1997, S. 18) erfolgt im nichtmenschlichen Selbst- und Fremdbild der Tiere aufgrund eines kulturökologisch induzierten Perspektivenwechsels, der mit dem fremden Blick auf den Menschen einen veränderten Blick auf die Natur ermöglicht. Mit dem fremden Blick des Tieres auf die Menschen erreicht Bambi einen misanthropischen Standpunkt, der es dem Leser ermöglicht, sein eigenes Menschsein mit Abstand zu betrachten. Im distanzierten Blick des Rehs und der übrigen Tiere des Waldes deskraft wie das Volk der vernünftigen Pferde in Jonathan Swifts Gullivers Reisen dar. Die Houyhnhms, die »so ordentlich und vernünftig, so scharfsinnig und klug« (Swift 2010 [1726], S. 324) sind, haben »keine Vorstellungen oder Begriffe davon [. . .], was das Böse bei einem vernünftigen Wesen bedeutet« (Swift 2010 [1726], S. 387). Die Rehe in Bambi wissen ebenso wenig wie die Houyhnhms, »was [. . .] eine Gemeinheit [ist]« (S. 20). 14 Der Mensch bleibt für die Tiere des Waldes zunächst und langhin etwas Unaussprechliches, vergleichbar mit der Unaussprechlichkeit des Gottes YHWH (Jahwe) in der jüdischen Tradition, die ihre Entsprechung in der Furcht der Waldtiere vor dem ›göttlichen‹ Zorn des Menschen findet.

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zeigt sich die Nacktheit und Gewalttätigkeit bereits im menschlichen ›Gewaltgesicht‹: Sie [die Gestalt des Menschen, N.B.] ist merkwürdig aufrecht, seltsam schmal, und sie hat ein blasses Gesicht, das an der Nase und um die Augen herum ganz nackt ist. Entsetzlich nackt. Furchtbares Grauen geht von diesem Gesicht aus. Kalter Schrecken. Dieses Gesicht hat eine ungeheure Gewalt, von der man gelähmt wird. (S. 68)15

Die erste Begegnung Bambis mit einem Menschen verweist auf die menschliche Kulturation qua Gewalt schlechthin. Der Mensch ist eine »Gestalt« mit einer »Witterung [. . .] schwer, scharf und aufregend, zum Tollwerden.« (S. 67) Das Gewehr wird als drittes, »fürchterliche[s] Bein« (S. 68) oder als »dritte Hand« (S. 108) bezeichnet, was den Charakter des Menschen als Freud’schen Prothesengott (vgl. Freud 1972 [1930], S. 451) augenfällig macht. Mit der Kultur, versinnbildlicht durch diese dritte Hand, »trat das Grauen in ihre Mitte. Denn was es auch immer sein mochte, eine dritte Hand oder etwas anderes, es war furchtbar, und sie begriffen es nicht« (S. 109). Bambis Begegnungen mit Menschen beschränken sich zudem auf Jäger, so dass pars pro toto der Schluss auf die allgemeine gewalttätige Menschennatur nahe liegt. Leichen pflastern den Weg des Menschen und deuten auf seine Gegenwart im Naturraum ›Wald‹ hin. Der erschossene Hirsch, »die Schulter in breiter Wunde aufgerissen, blutig und rot« (S. 84), der »sterbende […] Fasan« (S. 127) oder der »Fuchs im Wundfieber« (S. 130) stellen die Natur bedrohende Kulturobjekte (vgl. Wanning 2008, S. 122) im radikalen Sinn dar. Die Sprache der Tiere besitzt eine stilistische Auffälligkeit, die in dem Fehlen kulturell bedingter Begriffe begründet liegt und dementsprechend nicht im Erfahrungshorizont der Tiere gefunden werden können (vgl. Ehneß 2002, S. 251 f.). Die scheinbar ›naive‹ Sprache verweist dabei nicht nur auf die »rührend-naive Art der Tiere« (Pouh 1997, S. 180), sondern gewinnt im fremden Blick des Tieres eine entlarvende Funktion, welche die menschliche Kultur als ›prothesenhaft‹ und gewalttätig offenlegt – wenn das Gewehr zu einem aus seiner Hand stammenden, inwendigen »Feuer« (S. 111) und die Baumsäge zum »riesengroßen, blinkenden Zahn« (S. 229) wird. Diese oberflächliche, aber »bestechend konsequent durchgeführte Trivialität« (Schmidt / Öhlschläger 1994, S. 238) ist in Bambi das Instrument der Kulturkritik, indem die simplifizierende Sprache die aggressive Kulturation versinnbildlicht und ›entschleiert‹. Innerhalb der kulturökologischen Perspektive erfolgt auf diese Art und Weise eine kritische Auseinandersetzung mit dem Selbst- und Fremdbild des Kultur15 Das menschliche Antlitz wird wiederholt als »schrecklich« (S. 106) beschrieben, wobei den körperlichen Vorzügen des Menschen wie dem aufrechten Gang und dem Greifen mit den Händen aus der Sicht der Waldtiere eine klare Absage erteilt wird: »›Ich finde da nichts zu bewundern. Das Eichhörnchen macht alles das, was ihr da schildert, genau so, und jede kleine Maus kann dasselbe Kunststück‹« (S. 107).

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wesens ›Mensch‹ in der bewusst kontrastiven Darstellung von Natur und Kultur, wobei sich eine bedrohte Natur und eine bedrohende Kultur einander gegenüberstehen. Die »entsetzliche Nähe« (S. 168) zum Menschen wird für die Tiere zum Sündenfall, wie sich im weiteren Handlungsverlauf zeigt und in Bambi seine »besondere misanthropische Wirkung« (Cartmill 1995, S. 199) entfaltet, indem die Menschenflucht zu Motiv und Movens der Handlung wird. Die Aufzucht des Rehkitzes Gobo durch ›Wildschützer‹, die in der jagdimmanenten Logik auch Jäger sind, bedingt sein Todesurteil. Gobo ist als Hybrid zwischen Wildtier und Haustier eine Entartung, da er »die ganze Zeit bei Ihm« (S. 174) gewesen ist. An Gobo zeigt sich Seibert zufolge »das Widernatürliche« (Seibert 1994, S. 41) in der Beziehung zwischen Mensch und Tier. In diesem Sinne verliert Gobo die Scheu und legt eine »Gewohnheit« an den Tag, »die seltsam und bedenklich war. Er schlief bei Nacht, wenn die anderen wachten und umhergingen. Des Tages aber, während die anderen ihre Verstecke suchten, um zu schlafen, war er munter und ging spazieren« (S. 194). In der Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden, mit Natur und Kultur, ist kulturelle Bildung möglich, was als »Problematischwerden des Vertrauten« und als »Erleben der Verunsicherung« bezeichnet werden kann (Treptow 2008, S. 448). Gobo – als Beispiel einer missglückten kulturellen Bildung verstanden – hat den menschlichen Rhythmus angenommen und passt nicht mehr in die Ordnung des Waldes, die ausschließlich darauf ausgerichtet ist, den Kontakt mit Menschen zu verhindern: Die »Gefahr« (S. 194) gibt es für Gobo nicht mehr – er unterliegt dem Trugschluss, der Menschen sei sein »Freund« (S. 195). Seine Absicht, »[w]enn Er da ist, will ich Ihn begrüßen« (S. 200), bedeutet seinen sicheren Tod, den er antizipativ wie folgt entschuldigt: »Er hat mich nicht erkannt . . .« (S. 201) In der dichotomen Konstruktion von Natur und Kultur führt die Gefangenschaft des Waldtieres zum Verlust des instinktiven Erkennens einer Gefahr, was im Tod Gobos laut Ehneß die »Schattenseiten dieses Daseins« (Ehneß 2002, S. 277) offenbart.

Kulturkritische Implikationen: Mord und Gewalt – der Mensch als ›Mörderaffe‹ und Fremdkörper im Wald Movens des Schreibens ist für Salten die Tierliebe, die im kulturökologisch radikalen Plädoyer für den Tierschutz mündet. Saltens Kritik an dem (un-) menschlichen Verhalten gegenüber den Tieren stellt die natürliche Grausamkeit der Natur in einen Gegensatz zu der willkürlichen Grausamkeit des Menschen und bezeichnet keinesfalls »eine unproblematische Naturidylle« (Schmidt /

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Öhlschläger 1994, S. 240). Die ›realistische‹ Darstellung der Natur in der Literatur erfolgt zugunsten einer kulturellen Bildung, die Bambi wie den Leser gleichermaßen umfasst und durch die Anknüpfung an die Lebenswelt (›Tierliebe‹) zur Bewahrung eines natürlichen Zusammenhanges des Naturkreislaufes anhält, ohne diesen zu idyllisieren oder zu verklären.16 Nichtsdestotrotz ist der Wald von Beginn der Handlung an ein anthropofugaler Schutzraum der Tiere und wird als dem Menschen nicht verfügbarer Lebensraum konstruiert. In der antithetischen Logik von Kultur und Natur wird der Wald zum alleinigen Lebensraum der Wildtiere, womit sich der Inszenierungscharakter (vgl. Wanning 2008, S. 122) der literarischen Naturerfahrung offenbart. Die Literatur als Medium kultureller Ökologie macht ein »intensive[s] Nachdenken über die kulturellen Aspekte der Natur« (Wanning 2008, S. 116) möglich und erfolgt in Bambi aus der Perspektive der Tiere. Für den Menschen öffnen sich »die grünen Türen des Waldes« (S. 51) nicht. Auch Bambis Geburtsort ist eine »jener kleinen, verborgenen Stuben des Waldes, die scheinbar nach allen Seiten offen stehen, die aber doch von allen Seiten umschirmt sind.« (S. 9) Der Mensch wird als Fremdkörper im Wald wahrgenommen, als »jemand« (S. 38) und als nicht der kreatürlichen Ordnung des menschenfreien Mikrokosmos ›Wald‹ zugehörig empfunden. Zudem wird der Mensch bewusst aus der Kommunikation ausgeschlossen: So weist Lieselotte Pouh darauf hin, dass sich die Tiere »wohl miteinander unterhalten, aber [. . .] keinen Dialog mit dem Menschen führen« (Pouh 1997, S. 180; vgl. Ehneß 2002, S. 250). Die Tiere fliehen den Menschen, es ist »ihre Flucht, wenn Er zu spüren war, denn kein Geschöpf des Waldes ertrug Seine Nähe.« (S. 120, Hervorhebung N.B.) Hass und Ekel empfinden sie für den Menschen, »denn keiner fand, dass Er liebenswert sei« (S. 107). Die Klage der Rehe besitzt allgemeingültigen Charakter : »Seit wir denken können, mordet Er uns, uns alle, unsere Schwestern, unsere Mütter, unsere Brüder! Seit wir auf der Welt sind, lässt Er uns keinen Frieden, tötet Er uns, wo wir uns zeigen . . .« (S. 112). Allein die Lautstärke, mit der der Mensch in Bambi in den Wald eindringt, verdeutlicht onomatopoetisch 16 Bambi sieht mit an, wie ein Iltis eine Maus tötet: »Ein fadendünnes Stimmchen pfiff erbärmlich auf, dann war es still. Nur die Blätter und Grashalme bebten an der Stelle noch ruckweise nach. Ein Iltis hatte eine Maus gejagt« (S. 18). Im Winter zeigt sich die Grausamkeit der Natur im Überlebenskampf, in dem der Hase von der Krähe, das Eichhörnchen vom Marder und der Fasan vom Fuchs getötet werden: »Die große Not, die kein Ende nehmen wollte, verbreitete Erbitterung und Rohheit. Sie machte alle Erfahrungen zunichte, untergrub das Gewissen, vernichtete jede gute Sitte und zerstörte das Vertrauen. Es gab kein Erbarmen mehr, keine Ruhe, kein Zurückhalten« (S. 115). Die Handlung ist auch vor dem Einbruch des Menschlichen von Tod und Leid geprägt: »Die Welt des Waldes, die Salten in teilweise hochpoetischer Prosa beschreibt, bildet mit ihrer intensiven Farbe und Schönheit nur den Hintergrund, vor dem seine Tiercharaktere leiden und bluten und humpeln und fassungslos grausam zugrunde gehen« (Cartmill 1995, S. 197 f.).

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die Gewalttätigkeit einerseits und die Deplatziertheit des Menschen andererseits. Dies bestätigt, »dass Er immer gefährlich ist, immer« (S. 109) Die gewalttätige Kulturation des ›Mörderaffen‹ wird in diesem Zusammenhang auf die Primitivität des Stockes reduziert und auf akustischer Ebene durch Lärmgewalt sinnlich erfahrbar gemacht. Aufgrund der anthropomorphen Darstellung der Tiere zeigt sich in der Jagd der Menschen auf die Tiere der Krieg der Menschen gegen sich selbst und eine Funktionalisierung des nicht-menschlichen Narrativs. Die Gewalttätigkeit und Grausamkeit verdoppelt sich dadurch, dass die ansonsten ›stummen‹ Kreaturen ihrem Leiden sprachlich Ausdruck verschaffen können. Diese literarische Entfernung des Menschen führt zu einem veränderten Bild seiner selbst, das innerhalb einer kulturökologischen Perspektive systemisch reintegriert wird. Resultat ist eine veränderte Naturbetrachtung.17 Die isolierte Darstellung des Menschen in Bambi verdeutlicht die Abtrennung des Menschen von der übrigen kreatürlichen Natur. Dem großen »Wir« (S. 18) der Waldgemeinschaft steht »Er« (S. 68; vgl. S. 105; 119) in Fremdheit und Distanz gegenüber. Dementsprechend kontrastiv gestaltet sich die Wahrnehmung des Schutzraumes Wald. »Dickicht« (S. 9) und »Nacht« (S. 56) stellen für das Wildtier einen Schutzraum dar, der die Abwesenheit des Menschlichen garantieren kann. Die Waldtiere als außerhalb der Kulturation stehend meiden den Menschen als Aussätzigen, der ihnen auf der Jagd nachstellt.18

Die Degradierung des Menschlichen als negative Apotheose Bambi ist die Geschichte vom Erwachsenwerden des kleinen Rehkitzes Bambi und stellt ein »Erziehungsideal« (Ehneß 2002, S. 254) dar, das in der von Gottstein so bezeichneten »Bildungserfahrung junger Rehe« (Gottstein 2007, S. 268; 17 In seiner kulturgeschichtlichen Untersuchung zum Frosch zeigt Bernd Hüppauf, dass im Bild des Frosches die Projektion des Menschen im Anderen erfolgt: »Der Schauer vor dem Frosch ist ein Schauer vor dem eigenen Ich, so dass der Mensch im Anblick des Tiers sich sieht, aber nicht wiedererkennt« (Hüppauf 2011, S. 110). Der Ökofrosch wird im 20. Jahrhundert zum kulturellen Zeichen der Selbstbedrohung: »Die Katastrophe der Moderne beschwört das archaische Tier, [. . .] dieser Frosch lehrt die Furcht vor der Zukunft der menschlichen Zivilisation« (Hüppauf 2011, S. 188 f.). 18 Die Dienerschaft der domestizierten Haustiere wird dagegen als Verrat aufgefasst, was sich am ›Jagdgesellen‹ des Dackels zeigt, den die Tiere als »Verräter«, als »Scherge[n]«, »Elende [n]« und »Abtrünnige[n]« beschimpfen (S. 37). Die Verachtung des Wildtieres gegenüber dem Haustier wird in der Hasstirade des vom Dackel gestellten Fuchses deutlich: »Du Elender . . . du spürst uns auf, wo Er uns nicht findet . . . du verfolgst uns, wo Er uns nicht einholen kann . . . du lieferst uns aus . . . uns, die wir alle deine Verwandten sind . . .« (S. 237). Der Konflikt zwischen Natur und Kultur tritt an dieser Stelle am deutlichsten zutage, da die Gattungssolidarität der Tiere untereinander offen eingefordert wird.

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vgl. Tabbert 2005, S. 19; Kümmerling-Meibauer 1999, S. 961) die Hierarchie zwischen Mensch und Tier nivelliert. Der erfolgreiche Bildungsweg Bambis fungiert als Ansatzpunkt für eine kulturökologisch ausgerichtete Bildung und macht den Charakter der »Inszenierung« virulent, die literarisch evozierte »Erfahrungsräume« der Natur eröffnet (Wanning 2008, S. 122 f.). Es ist eine Sinnsuche in der Darstellung der »Geschichte eines Individuums als Totalität« (Schmidt / Öhlschläger 1994, S. 241), die schließlich auch vom Anthropozentrismus wegführen soll. Diese Suche beginnt zunächst mit der Einsamkeit, auch abseits der Tiergemeinschaft, die Bambi über den Menschen nachdenken lässt. Bambis Vater, der Alte, wird zur anthropofugalen Leitfigur, die Bambi den Weg dafür aufzeigt. Hierzu ist jedoch eine analytische Durchdringung der menschlichen Natur notwendig, die Offenlegung ihrer Schwächen, um sich schließlich vom Menschen unabhängig machen zu können. Der Text führt den Leser immer weiter weg, »tiefer in den Wald hinein« (S. 91), versinnbildlicht durch den »Graben« (S. 219), den Bambi schließlich überquert und den Weg, der ihn in immer tiefere, höhlenartige Verstecke führt. Diese äußerste Entfernung und Entfremdung bringt schließlich eine negativen Apotheose, eine ›Entgöttlichung‹ des Menschen und seine Reintegration in das Gesamtsystem der Natur hervor. Dem Menschen werden als vermeintlich göttlichem Wesen die Augustinischen Attribute von Allmacht und Allgüte abgesprochen. Der Mensch, so das vorgezogene Resümee des Alten, ist ebenso wenig »allmächtig [. . .] wie er allgütig ist« (S. 213). Bambi bricht auf seinem Bildungsweg den Bann des Menschen. Initiiert wird die Sinnsuche durch die Eskalation menschlicher Gewalt, die Bambi zur Menschenflucht drängt:19 »Er fühlte sich von etwas Dunklem bedroht, er verstand nicht, wie die anderen so heiter und sorglos sein konnten, wenn doch das Leben so schwer und so gefährlich war« (S. 89). Nach dem Tod Gobos meidet Bambi die Gemeinschaft der übrigen Tiere und sucht Einsamkeit und Isolation: »Oft und öfter kam er nun hierher, seit er sich allein aufhielt. Hier gab es wenig Straßen, und hier traf er fast niemals jemanden von den Seinigen. Gerade das aber wollte er. Denn ihm war nun der Sinn ernst geworden und das Gemüt schwer« (S. 202). Zu Recht benennt Baßler diese Bildungs- und Textbewegung als »atopische Kunst des Alleinseins und Verschwindens« (Baßler 2006, S. 133), die in der anthropomorphen Kategorie (und im doppelten Blick des Tieres wie 19 Den ersten Todesfall durch die Jagd des Menschen auf die Tiere nimmt Bambi noch als einen »Donnerschlag« (S. 83; vgl. S. 200, S. 215, S. 243) wahr, der Schuss aus dem Gewehr wird als göttliche Gewalt hyperbolisiert: »Das . . . war . . . Er« (S. 84). Die Wildtiere versteigen sich in blinde Panik und Angst, die Krähe bekräftigt es als unausweichliches Schicksal, dass »man Ihm nicht entgehen kann« (S. 87). Folglich »tötet [Er], wen Er will. Nichts kann uns helfen« (S. 88). Als »dunkle Gewalt« (S. 110), die unerklärlich für die Tiere ist, gewinnt der Mensch zugleich Macht über sie.

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des Menschen) auf die Menschenflucht hindeutet und in ihrer doppelten Funktionalisierung des anti-anthropozentrischen Narrativs eine ökologische Betrachtungsweise fördert. Der Vater führt seinen Sohn durch den Wald und offenbart ihm die Heimtücke des Menschen, indem er ihn an eine seiner Tierfallen führt: »Bambi gewahrte einen dunklen Strich, gleich einer Ranke. Der wand sich straff von dem einen Zweig zum Hasen nieder und umschlang seinen Hals« (S. 210). Die Befreiung des Hasen durch den Alten (vgl. S. 211) lässt die List des Menschen durchschaubar werden und ermöglicht Bambi eine erste nüchterne Betrachtung des Menschen. Die Falle erweist sich als metallisch klingender, kultureller ›Fremdkörper‹ im Naturraum ›Wald‹ und verdeutlicht so die kulturelle Funktionalisierung der Natur (vgl. Wanning 2008, S. 117): »Die Schlinge lag rund am Boden. Bambi stieß leicht dagegen; sie klirrte, und Bambi erschrak. Das war ein Klang, der nicht zum Walde gehörte« (S. 212). Das »Unheil« (S. 214) der Jagd führt dazu, dass Bambi von einem Jäger angeschossen und zur Menschenflucht gezwungen wird, wobei der Mensch der Blutspur des verwundeten Rehs folgt. Bildhaft zeigt die ›Schweißfährte‹ als kreisförmige Blutspur die menschliche Kulturation, die durch die menschliche Aggression initiiert wird.20 Schließlich wenden sie sich vom alten Weg ab und überqueren den »breiten Graben« (S. 219), der für Bambi den Übertritt in einen neuen Lebensabschnitt bedeutet. Immer weiter entfernen sie sich vom Menschen, bis sie schließlich das Versteck des Alten erreichen: »Sie kamen durch ein niedriges Eichen- und Hartriegeldickicht. Ein mächtiger, geborstener Buchenstamm lag tief eingebettet im Buschwerk quer vor ihnen und sperrte den Weg« (S. 221). In der »Grube«, weit entfernt vom Menschen, gelingt Bambi die Genesung von der »tiefe[n] Erschütterung« (S. 223). Bambi bekennt sich zu seinem Bildungsweg, der zugleich der Weg der Anthropofugalität ist: »[D]ie alten Wege gehe ich nicht mehr« (S. 227). Die Menschenflucht von der Lichtung über den Waldrand bis in das tiefe Dickicht des Waldes ist laut Schmidt und Öhlschläger die »Überwindung durch das Zurückweichen vor der bedrohlichen Zivilisation« (Schmidt / Öhlschläger 1994, S. 243), die mit der Flucht vor dem Zivilisationswesen ›Mensch‹ gleichzusetzen ist. Ein Jagdunfall lässt Bambi seine letzte Lektion vom sterblichen Menschen lernen und die »Verblendung« (Cartmill 1995, S. 200) beenden, als »Er« (S. 245) – der Mensch – sich mit seiner eigenen Waffe tötet und seine Sterblichkeit 20 Der Alte treibt Bambi im Wissen von der Unbarmherzigkeit des Menschen an: »Jetzt musst du dich retten . . . verstehst du mich, Bambi? . . . retten . . . sonst bist du verloren . . . denke nur daran, dass Er hinter dir her ist . . . verstehst du mich, Bambi? . . . und Er tötet dich ohne Erbarmen« (S. 217). Der Alte und Bambi wenden nun selbst eine List an, um ihrem Verfolger zu entkommen, indem sie im Kreis gehen und den Menschen verfolgen (vgl. S. 218).

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offenbart. Die Schlussszene kann als paradoxale Umkehrung, als anti-anthropofugale Bewegung hin zum Menschen, dem Menschen entgegen, aufgefasst werden, womit die ökologische Reintegration des Menschen einsetzt: »Er ist im Walde . . . wir müssen hingehen« (S. 243). Der Alte und Bambi gehen »jener scharfen Witterung entgegen, [. . .] [i]n immer schärferen Wellen schlug der aufreizende Geruch heran« (S. 244). Dieser Weg zum Menschen ermöglicht es schlussendlich, dass der Mensch als totes Objekt, als sterbliches Wesen analysiert und entzaubert werden kann: »Auf zerknicktem Buschwerk im zerwühlten Schnee lag Er am Boden« (S. 245). Die Entgöttlichung und Degradierung des Menschen wird vollzogen, indem der Mensch in den Kreislauf der Schöpfung zurückgeholt wird und sich der Bildungsweg des Tieres vollendet: [S]iehst du nun, dass Er daliegt, wie einer von uns? Höre, Bambi, Er ist nicht allmächtig, wie sie sagen. Er ist es nicht, von dem alles kommt, was da wächst und lebt. Er ist nicht über uns! Neben uns ist Er und ist wie wir selber, denn Er kennt wie wir die Angst, die Not und das Leid. Er kann überwältigt werden gleich uns, und dann liegt Er hilflos am Boden, so wie wir andern, so wie du Ihn jetzt vor dir siehst. (S. 246, Hervorhebungen N.B.)

Diese Einsicht kann bezeichnenderweise aber nur am toten Menschen geschehen, der als ›Abwesender‹ zum Katalysator der Erkenntnis wird und den Menschen als leidende Kreatur in den Kreislauf der Schöpfung zurückführt. Bambi bleibt die vage theologisch konnotierte Einsicht: »Ein anderer ist über uns allen . . . über uns und über Ihm« (S. 247). Der Mensch wird in den Zyklus des Lebens zurückgeführt wie alle übrigen Geschöpfe und ist des Dünkels menschlichen Auserwähltseins beraubt. Bambi ist erwachsen geworden: »Er ging weiter und verschwand im Walde« (S. 250). Das Verschwinden im Wald ist gleichbedeutend mit der Menschenflucht und dem Verschwinden des Menschen, das sich in der im Sinne eines Palindroms gestellten Frage am Beginn und am Ende des Bildungsweges herauskristallisiert: »Kannst du nicht alleine sein?« (S. 249). Die Andeutung eines neuen Lebenszyklus verweist auf das kreislaufhafte Muster des Lebens, dem sich der Mensch widersetzt – und damit sich selbst der ›letzten Einsicht‹ beraubt.

Und die Hoffnung bleibt? Andeutung eines utopischen Entwurfes Als Beispiel kulturökologischer Literatur verweist Bambi auf die Bedingungen der Möglichkeit menschenflüchtigen Erzählens. Die Merkmale einer anthropofugalen Literatur speisen sich einerseits aus dem misanthropischen-kulturkritischen Diskurs des 20. Jahrhunderts und andererseits aus der Philosophie

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der Menschenflucht.21 Saltens ›Tiergeschichte‹ kann als Prolog dieser menschenflüchtigen Literatur gelten, mit Seibert zudem »als getarnter Rückzug aus der Unmenschlichkeit, als Versuch, das Humane in Tiergestalt zu retten« (Seibert 1994, S. 42). Zu den Merkmalen einer anthropofugalen und kulturökologischen Literatur, die für Bambi virulent sind, gehört die Auswahl tierischer Hauptfiguren als ›Menschenflüchter‹ samt des örtlichen Charakters der Menschenflucht durch den anti-anthropozentrischen (und anti-kulturellen oder kulturell peripheren) Gegenraum des Waldes, was insgesamt die Funktionalisierung des anti-anthropozentrischen Narrativs bewirkt. Zu diesen anthropofugalen Merkmalen gehören ebenfalls die den Text bestimmende fluchtartige Textbewegung weg vom Menschen, das Handlungsmotiv von Isolation und Einsamkeit sowie der misanthropisch-distanzierte (Tier-)Blick auf das menschliche Wesen. Die exponierte negative Darstellung der gewalttätigen Menschennatur und im Gegensatz dazu die tendenziell eher positive Darstellung der übrigen kreatürlichen Natur von Pflanze und Tier gehören ebenfalls zu den festzustellenden anthropofugalen Textmerkmalen. Auf einer Mikroebene findet mit dem Tod des Jägers die Sterblichkeit des Menschen ihren Ausdruck und deutet auf die Makroebene der ›sterbenden‹ Menschheit hin. Auf eine utopische Möglichkeit der Versöhnung von Mensch und Tier wird im Roman selbst an zwei Stellen hingewiesen. So spricht das Reh Marena von der kulturökologischen Utopie: »Es heißt, eines Tages wird Er unter uns treten und sanft sein wie wir. Er wird mit uns spielen, der ganze Wald wird glücklich sein, und wir werden uns versöhnen« (S. 111). Diese utopischen Visionen werden aufgrund der menschlichen ›Mordgeschichten‹ Lügen gestraft, was sich am Schicksal Gobos zeigt. Nicht zufällig erinnert Marena an die Utopie im Beisein Gobos, der unmittelbar danach erschossen wird: »An jenem Tage sagte ich, Er werde einmal zu uns in den Wald kommen und mit uns spielen . . .« (S. 197). Es bleibt die Möglichkeit einer regressiven ›Rückführung‹ des Menschen in die Gemeinschaft der Schöpfung. Eine Aussöhnung des Menschen mit der Natur erscheint möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich – und wird dennoch zum Anlassgeber einer kulturellen Bildung, die sich der kulturökologischen Systematik verschreibt.

21 Im 20. Jahrhundert werden insbesondere die beiden Weltkriege, die Shoah und die in der Nachkriegszeit neu hinzukommende nukleare Bedrohungslage zu Impulsgebern des kulturkritischen Diskurses: Die aggressive Menschennatur wird in der Folge zum Signum menschlicher Existenz und radikalisiert sich in der pessimistisch-misanthropischen Philosophie der Menschenflucht, die Ulrich Horstmann auf der Grundlage der Position von Êmile Michel Cioran (vgl. Cioran [1949] 1994) entwickelt hat. Zur Begründung einer Literaturgattung anthropofugaler Literatur vgl. Büscher 2014.

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Bettina Oeste

(Kultur-)ökologisches Lernen am Bilderbuch – Der Schäfer, der Wind, der Wolf und das Meer von Einar Turkowski. Vorüberlegungen zum Verhältnis Literaturökologie und Kinder- und Jugendliteratur (KJL)

Seit den frühen 1990er Jahren ist im Bereich der Literaturwissenschaften eine zunehmende Öffnung zu sozial- und kulturwissenschaftlichen Fragen, Ansätzen und Methoden erkennbar. Mit der Entwicklung einer sog. Kulturökologie beschreitet die Kulturwissenschaft nun ihrerseits transdisziplinäre Wege, da sie sich hier auf einem originär naturwissenschaftlichen Terrain bewegt. Die Begleiterscheinungen von Klimawandel und Ökokrise sowie die daraus resultierenden Folgen zählen indessen zu den Gegenstandsbereichen der Sozial- und Kulturwissenschaft (vgl. Leggewie / Welzer / Heidbrink o. J., S. 2), mithin zu einer sich konstituierenden Kulturökologie. Gehörte die Auseinandersetzung des Menschen mit der belebten und unbelebten Umwelt von jeher zu den zentralen Motiven literarischen Schaffens, so tun es die aus Globalisierung, Industrialisierung und Technologisierung resultierenden veränderten, teils als bedrohlich empfundenen Lebensbedingungen nachgerade in moderner respektive postmoderner Literatur. Dabei geht es letztlich immer um die literarische Auslotung der außerliterarischen Wechselbeziehung zwischen Natur und Kultur : Literatur erscheint in diesem Licht als eine Form des Wissens, und der Textualität, die die Erfahrungen der zivilisatorischen Moderne in immer neuer Weise mit der biozentrischen Erfahrungsgeschichte der Menschheit verbindet und diese in revitalisierender Weise in Sprache und kulturellem Diskurs zu Geltung bringt. (Zapf 2008, S. 22 f.)

Die Fokussierung auf die benannten ökologischen Aspekte bei der Betrachtung von Literatur und literarischen Texten stellt eine Erweiterung der bisherigen methodischen Ansätze dar. In Anlehnung an den aus dem ursprünglich in der Amerikanistik entwickelten Ecocriticism beginnt sich mit der Ökokritik oder unter dem Begriff Kulturökologie auch in der germanistischen Literaturwissenschaft eine weitere Theorie zu begründen: Ecocriticism is the youngest of the revisionist movements that have swept the humanities over the past few decades. It was only in the 1990s that it began to gain

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momentum, first in the US and in the UK, as more and more literary scholars began to ask what their field has to contribute to our understanding of the unfolding environmental crisis. (Bergthaller 2013)

In Erweiterung der von Hubert Zapf aufgeworfenen Frage nach der Notwendigkeit eines weiteren ›Paradigmas‹ der Literaturwissenschaft (vgl. Zapf 2008, S. 15) könnten im Hinblick auf das hier zur Disposition stehende Subsystem der Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Didaktik kritische Stimmen die Verhältnismäßigkeit der Mittel hinterfragen. Mit anderen Worten: Käme der Versuch, den ökokritischen oder kulturökologischen Ansatz auf KJL anzuwenden, nicht dem sprichwörtlichen Kanonenschuss auf Spatzen gleich? Wenn es sich bei der KJL, wie in dem Fall des hier ausgewählten Werkes von Einar Turkowski Der Schäfer, der Wind, der Wolf und das Meer (2010) noch dazu um ein Bilderbuch mit postmodernen Zügen handelt, werden in didaktischen Kontexten zudem häufig Bedenken hinsichtlich der Alters- oder Adressatenangemessenheit angemeldet. Gleichwohl ist spätestens mit dem auf Hans Jonas zurückzuführenden Begriff des Ökologischen Imperativs (vgl. Jonas 1984, S. 35 ff.) die moralischethische sowie zukunftsorientierte Dimension der in unterschiedlichen Disziplinen geführten Ökodiskurse entfaltet worden, die letztlich einen intragenerationellen Austausch unabdingbar machen. Im Folgenden soll daher untersucht werden, welchen Beitrag literarische Texte im ökologischen Dialog zwischen den Generationen leisten können bzw. inwieweit der literaturökologische Ansatz für die didaktische Aufarbeitung eines zugegebenermaßen komplexen Sachverhalts produktiv gemacht werden kann. Um zu vergegenwärtigen, welcher Stellenwert der Natur- und Umweltthematik in der Geschichte der KJL überhaupt zukommt, erfolgt zunächst in diachroner Perspektive ein Blick auf die Klassiker der KJL, bevor in einem zweiten Schritt das Augenmerk auf die Entwicklung einer sog. ökologischen KJL in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts gerichtet wird. Auf der Basis dieser Vorüberlegungen erfolgt eine Analyse des benannten Bilderbuches, wobei neben den kulturökologischen Aspekten auch gattungstheoretische Betrachtungen einfließen. Mit den abschließenden literaturdidaktischen Ausblicken sollen Chancen und Möglichkeiten einer literaturökologischen Vorgehensweise für die KJL und ihre Didaktik eruiert werden.

Natur und Umwelt in der Kinder- und Jugendliteratur Mit Hilfe eines Exkurses in den Bereich der Kinderklassiker kann die Affinität kinder- (und jugend-)literarischer Texte zu Natur- und Umweltthemen deutlich hervorgekehrt werden. Anders als im Bereich der allgemeinen oder Erwachse-

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nen-Literatur ist die Bezeichnung Klassiker hier nicht als Epochenbegriff zu verstehen, vielmehr handelt es sich um eine äußerst disparate Gruppe von Texten unterschiedlicher Provenienz, die durch zähe Tradierung und damit verbundene Langlebigkeit, aber auch durch besondere literarisch-ästhetische Qualitätsmerkmale (vgl. Kümmerling-Meibauer 2004, S. XIff.) einen gewissen Bekanntheits- und Beliebtheitsgrad erlangt haben, sodass man von Kinder- oder auch Jugendklassikern spricht. Zudem konnte Heidi Lexe nachweisen, dass einer Vielzahl der hier relevanten Texte immer wiederkehrende Motivkonstellationen zugrunde liegen, worunter sie insbesondere auch die Naturnähe zählt. (vgl. Lexe 2003, S. 91) Mit den naturnahe gezeichneten Handlungsräumen würde letztlich auf Kindermythen der Romantik zurückgegriffen, die Lexe im Rekurs auf Hans Heino Ewers als ›ideologisches Konstrukt‹ bezeichnet, »das die Natur des Kindes als vor-zivilisatorische begreift und die Nähe des Kindes zum Natürlichen, Kreatürlichen, Unverbildeten betont.« (ebd.) Es ist diese Oppositionsbildung von Kind als Sinnbild des Natürlichen versus Zivilisation, Kultur, Erwachsenenwelt, die die KJL per se für den literaturökologischen Ansatz interessant macht, weil sich das Wechselspiel zwischen Natur und Kultur hier gewissermaßen in der Entwicklung kindlicher Protagonisten vollzieht. Neben den kinder- und jugendliterarischen Texten, die mit dem klassischen Motiv der Naturnähe (auch im Sinne kindlicher Schonräume) spielen, sind ferner die Texte zu betrachten, die sich dem ökologischen Diskurs im engeren Sinne verpflichtet haben. Der Begriff Ökologie hat seit seiner ersten Bestimmung durch den Zoologen Ernst Haeckel 1866 eine Bedeutungserweiterung erfahren. Zunächst rein biologisch besetzt, bezog sich Ökologie auf Sachverhalte innerhalb der Tier- und Pflanzenwelt und wurde unter systemtheoretischen Gesichtspunkten sukzessive zu einer Humanökologie ausgeweitet, die dem Umstand, dass der Mensch als »ein einzigartiges ›Doppelwesen‹« mit Merkmalen und Möglichkeiten eines »Naturwesens« wie auch »Kulturwesens« (vgl. Haber 2001, S. 88) mit stetig wachsenden technologischen Mitteln in das Zusammenspiel unterschiedlicher Ökosysteme eingreift: Ökologie faßt die Welt als ein Ensemble integrierter Systeme und Ganzheit auf, in der alles voneinander abhängig ist. Die Entwicklung der modernen Technik hat den Menschen bekanntlich in die Lage versetzt, Änderungen seiner Umwelt von bisher unbekanntem Ausmaß in einer neuen Geschwindigkeit zu verursachen, so daß schwer einschätzbare Risiken für alles künftige Leben auf der Erde entstehen. (Goodbody 1998, S. 17)

Sind erste Bestrebungen zur Etablierung einer interdisziplinären Kulturökologie bereits in den 1930er Jahren, in dezidierter Form ab den 1950er Jahren erfolgt (Finke 2008, S. 251 f.), so hat im Zuge der 1968er-Revolution und der mit ihr

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eingeleiteten gesellschaftspolitischen Umbrüche eine Schärfung des allgemeinen Umweltbewusstseins stattgefunden. 1971 legte erstmals eine bundesdeutsche Regierung ein Umweltprogramm vor. Zudem wurden diverse Bürgerinitiativen gegründet, bis sich 1980 schließlich die Partei Die Grünen formiert hat. (vgl. Kahlert 2007, S. 431) Die gesellschaftspolitischen und geistesgeschichtlichen Umbrüche dieser Zeit machen sich – vergleichbar früherer Epochen – in Form eines Paradigmenwechsels (Ewers 1995a, S. 17) schließlich auch in der allgemeinen Literatur bemerkbar, die sich an Kinder richtet und von »einer neuen, einer egalistischen Kindheitsauffassung« (Ewers 1995b, S. 38) zeugt. Es entsteht eine neuartige realistische KJL, die gesellschaftlich relevante Diskurse aufgreift und Tabuthemen wie Krieg (auch Nationalsozialismus und Holocaust), Gewalt, Tod und schließlich die ökologische Krise, literarisch be- und verarbeitet. Franz Payrhuber betont die pädagogisch-didaktische Wirkungsabsicht einschlägiger Texte und verweist auf vergleichbare Darstellungsabsichten in der s. g. »Problemliteratur für jugendliche Leserinnen und Leser«. (vgl. Payrhuber 2011, S. 110 f.) Der emanzipatorische Anspruch an die Kinderliteratur [und die für Jugendliche, B.Oe.], wie er sich in kinderliterarischen Paradigmenwechsel nach 1968 niederschlug und bis heute gilt, impliziert das Recht, aber auch die Zumutung, über alles informiert zu sein. (Daubert 2011, S. 88)

Zu den ersten problemorientierten Büchern mit Umweltthematik dieser Zeit sind erstaunlicherweise Bilderbücher (teilweise ohne kindliche ProtagonistInnen) an erster Stelle zu nennen. Zu den Klassikern in diesem Bereich gehören u. a. Der Maulwurf Grabowski von Luis Murschetz (1972) und Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder von Jörg Müller (1973) mit eindeutig gesellschaftskritischer Botschaft. Zu den namhaften Kinderromanen zählen Julie von den Wölfen von Jean Craighead George (1974) oder Die sanften Riesen der Meere von Nina Rauprich (1987), zwei Romane, in denen trotz abenteuerlicher Handlung der umweltpädagogisch-didaktische Impetus deutlich hervorsticht. Analog zur allgemeinen Literatur, in der die Ökokrise zunehmend gattungsübergreifend, etwa in autobiografiebasierten Texten, in Dystopien und Science Fiction- und Fantasyliteratur verhandelt wird (vgl. Goodbody 1998, S. 27), weitet sich auch in der KJL das Gattungsspektrum aus. Zu den berühmtesten Dystopien auf dem deutschsprachigen Jugendbuchmarkt sind die in ihrer Radikalität nicht unumstrittenen Werke Wir Kinder von Schewenborn (1983) und Die Wolke (1987) von Gudrun Pausewang zu zählen, wobei in letztgenanntem Werk die ökologische Krise an eine Adoleszenzthematik verwoben wird, was ganz besonders in den medialen Adaptionen, also sowohl in der Literaturverfilmung (2006) als auch in der im Jahre 2008 nach Vorlage des Romans erschienenen Graphic Novel zum Tragen kommt. Seit einigen Jahren hat der

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amerikanische Erfolgsautor Carl Hiaasen mit seinen Umweltkrimis diesen Sektor für das Thema Ökologie weiter geöffnet, und Ulf Abraham führt aus, dass auch SF- und Fantasyliteratur letztlich durch den Widerpart von Natur und Technik belebt wird. (vgl. Abraham 2012, S. 171 ff.) Dagmar Lindenpütz, die sich in ihrer Dissertation mit der »Konzeption von Natur und Umwelt in der erzählenden Kinderliteratur seit 1970« (Lindenpütz 1999) befasst hat, definiert die von ihr benannte ökologische Kinderliteratur wie folgt: Für die Gesamtheit der an Kinder adressierten Texte, die sich mit Themen des Umweltschutzes aus der Perspektive aktueller ökologischer Diskurse befassen, wird in der vorliegenden Arbeit auch der Terminus ›ökologische Kinderliteratur‹ verwendet. ›Ökologisch‹ bedeutet in diesem Zusammenhang nicht: ›streng wissenschaftsorientiert‹. Die kinderliterarischen Texte sind vielmehr ebenso mit höchst unterschiedlichen Weltbildern und Wertvorstellungen verknüpft wie die Beiträge von Natur und Gesellschaftswissenschaftlern, Politiker und Massenmedien zu den ökologischen Diskursen der Erwachsenen. Hier wird unsere Untersuchung ansetzen: Die Prämissen und Leitvorstellungen herauszuarbeiten, die sich in der Struktur der Texte verbergen, ist eines ihrer Hauptanliegen. (Lindenpütz 1999, S. 20)

Lindenpütz erkennt in der von ihr untersuchten KJL unterschiedliche paradigmatische Konzeptionen von Natur und Umwelt (vgl. Lindenpütz 1999, S. 51), die sie als Ökologische Aufklärung, Ethische Fundierung und als Postmoderne Zeitdiagnostik klassifiziert. Erkennbar ist hier ein Verständnis von Literatur, das Zapf unter Bezugnahme auf Ottmar Ette und seiner Abhandlung über die Aufgaben der Philologie wie folgt umschrieben hat: Literatur ist […] nicht einfach die Illustration der Erkenntnisse anderer Disziplinen und eine deren ›eigentlichem‹ Wissen nachgeordnete Form bloß abgeleiteter Wissensvermittlung. Sie ist vielmehr eine eigenständige Form der Erkenntnis und ein komplexes ›Lebenswissen‹, womit die Literaturwissenschaft ihrerseits zu einer eigenen Form von ›Lebenswissenschaft‹ […] wird, allerdings einer anderen als einer bloß biologisch-naturwissenschaftlich definierten. (Zapf 2008, S. 17)

Betrachtet man in diesem Kontext das bereits erwähnte Buch von Einar Turkowski, so wird sehr schnell ersichtlich, dass das Werk zwar in mehrerlei Hinsicht, insbesondere was seinen innovativen Charakter, Polyvalenz und CrossWriting (vgl. Kümmerling-Meibauer 2004, S. XIIff.) anbelangt, mehrere Klassikerkriterien erfüllen würde, sich aber allein durch die Absage an einen kindlichen Protagonisten dem von Lexe umschriebenen Modell der kindlichen Naturnähe nicht so einfach unterordnen ließe. Gleiches gilt für die von Lindenpütz benannten Konzeptionen der Ökologischen Kinderliteratur, die ebenfalls erst bei der genaueren Betrachtung des Buches offenkundig werden. Doch gerade der

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gänzliche Verzicht auf den Duktus des Aufklärerischen und Moralisierenden lässt den didaktischen Einsatz des Buches so aussichtsreich erscheinen.

Einar Turkowski: Der Schäfer, der Wind, der Wolf und das Meer Zu den Entdeckungen auf dem deutschen Bilderbuchmarkt der letzten Jahre sind ganz sicher die Werke des jungen Illustrators und Geschichtenerzählers Einar Turkowski zu zählen. Geboren 1972 in Kiel, überraschte er bereits mit seinem inzwischen mehrfach preisgekrönten Erstlingswerk Es war finster und merkwürdig still– Eine Küstengeschichte (2005). Mehr noch als dieses Debütwerk lassen seine weiteren Bilderbücher wie Die Mondblume (2009), Der rauhe Berg (2012) und besonders Der Schäfer, der Wind, der Wolf und das Meer (2010) die Affinität des Künstlers zu naturnahen Stoffen erkennen, ohne dass er jedoch allein auf diese Thematik festzulegen wäre. Mit 19 Grafiken auf insgesamt 27 Buchseiten erfüllt das schmale Bändchen die äußeren Merkmale des traditionellen Bilderbuchs (vgl. Thiele 2003, S. 71). Weniger eindeutig fällt die Kategorisierung hinsichtlich des Inhalts, der grafischen Umsetzung sowie des Adressatenbezugs aus. Auf textueller Ebene wird die Geschichte eines irischen Schäfers erzählt, dessen Schafe besondere Eigenheiten besitzen. Es gibt u. a. ein »Frühstücksschaf« mit auffallender Ähnlichkeit zu einem Toaster, ein »trojanisches Schaf« oder auch ein »Schaf aus tausendundeiner Nacht«. Jedoch fürchtet der Schäfer ständig, eines seiner Tiere zu verlieren: »Durch Krankheiten. Durch einen Wolf.« (o. A.) Diese Sorge treibt den Schäfer derart um, dass er seine Schafe verkauft, von dem Erlös ein Boot erwirbt und als Fischer sein Glück auf dem Meer sucht. Bis hierher wäre der klassische Handlungsaufbau (Ausgangssituation – Wandel – Lösung), der in kurzen knappen Sätzen, teilweise auch nur Halbsätzen, dargeboten wird, allein auf textueller Ebene verständlich und nachvollziehbar. In seiner Bild- und Gleichnishaftigkeit lädt er gegebenenfalls zu allegorischen Deutungsversuchen ein, die jedoch auf visueller Ebene umgehend hinterfragt, durchbrochen und konterkariert werden. Turkowski arbeitet mit einer speziellen, von ihm entwickelten BleistiftTechnik, die seinen Schwarz-Weiß-Grafiken auf den ersten Blick eine gewisse Stringenz und Klarheit verleiht. Erst auf den zweiten Blick erschließen sich dem Betrachter die wirklichkeitsnahen und fantastischen Details, die wie bei den großen Surrealisten die Bausteine für eine traumartige Konfiguration bilden (vgl. Turkowski 2009, Autoreninformation o. A.). Die surreale Wirkung, die Turkowski mit seinen Fantasiewelten erzeugt, wird – auch das ist typisch für sein Schaffen – maßgeblich durch die grafische Kombination von natürlichen Elementen mit mechanisch-technischem Gerät hervorgerufen. Seine grotesken Zwittergestalten aus Kreatur und Maschine stellen ein kulturgeschichtlich de-

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terminiertes, mehrfach kodiertes Geflecht zwischen Natur und Kultur dar, sodass deren Grenzlinien schließlich kaum noch auszumachen sind. Um diesem Vexierspiel zusätzlichen Anstoß zu verleihen, nutzt Turkowski die Spannungen, die sich aus den möglichen Bild-Text-Interdependenzen im Bilderbuch ergeben können, wenn etwa Bild und Text wechselweise das Erzählen übernehmen (vgl. Thiele 2011, S. 224 ff.), oder Lesererwartungen durch kontrapunktische Bild-Text-Beziehungen durchkreuzt werden. Mit den Zeilen »Ein Schäfer in Irland. Er hatte viele Schafe« (o. A.) werden auf Rezipientenseite Vorstellungsbilder erweckt, die in einer langen Tradition kultureller Erscheinungsformen stehen.

Abb. 1: Der Schäfer bei ›seiner‹ Arbeit

Turkowskis Schäfer jedoch ist mit der ländlichen Hirtenidylle, wie sie in literarischen Texten oder Kunstwerken der Renaissance oder des Barocks vermittelt wird, nicht in Einklang zu bringen. Auch mit dem Gleichnis vom guten Hirten hat der Schäfer in Irland nur so viel gemein, als dass der Vater- und Schöpfergedanke, der dem biblischen Bild eingeschrieben ist, hier aufgegriffen und verfremdet wird. Denn spätestens der Blick auf ›seine‹ Herde zeigt, dass es sich nicht um kreatürliche Wesen handelt, mit denen der Schäfer in Einklang lebt, sondern um Kreaturen aus seiner eigenen Werkstatt. Aus dem natürlichen Kreislauf herausgerissen und mit besonderen Funktionen versehen, werden die

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Schafe nunmehr in einen zivilisatorischen Zusammenhang gestellt. Von der Antike (trojanisches Schaf) bis zur Neuzeit (Frühstücksschaf) symbolisiert jedes der Schafe mit seiner besonderen Eigenheit einen kulturgeschichtlich bedeutsamen Aspekt auf dem Wege der Menschheit in die vermeintliche Zivilisation.

Abb. 2: Ein Schaf aus tausendundeiner Nacht

Mit dem Fortschreiten kultureller und technischer Errungenschaften erhalten jedoch auch die Gefahren und Bedrohungen für Mensch und Tier eine neue, da hausgemachte Qualität. Neben sprichwörtlichen Zivilisationskrankheiten wird hier insbesondere der Wolf als Bedrohung für Mensch und Tier – besser für Mensch und seinen technischen Komfort – wahrgenommen. Allerdings wird der ursprünglich natürliche Feind des Schafes auch hier mehrfach kodiert und in einen intertextuellen Zusammenhang gesetzt, der tiefreichendere Bedeutungszuschreibungen zulässt. Die visuelle Darstellung des Wolfs in Turkowskis Band lässt eher an einen Reiß- oder Fleischwolf denken, an eine elektronisch betriebene Maschine, die, wenn man den versteckten Hinweisen auf dem Bild folgt, ebenfalls aus der Werkstatt des Schäfers stammen könnte, würde sie nicht das Logo einer Firma namens ›Wolf‹ tragen. Auf diese Weise mehrfach kodiert bleibt der Bezug zum natürlichen Wolf allein auf semantischer Ebene erhalten. Der natürliche Vorgang des Reißens von Schafen wird mit unterschiedlichen Kulturtechniken des Menschen gleichgesetzt. Damit ist das Bild vom Wolf jedoch keineswegs ausgeschöpft. Als mythische Gestalt, Märchen- und Fabelwesen sowie als immer wiederkehrendes literari-

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sches Motiv löst der Wolf gerade im deutschen Kulturraum ambivalente Gefühle zwischen Faszination und Grauen aus. Negativ konnotiert ist die Bezeichnung Wolf darüber hinaus durch die jüngere deutsche Vergangenheit. Die Affinität Hitlers zu Wölfen und wolfartigen Tieren ist allseits bekannt und bis heute an der auf ihn zurückzuführenden Benennungen sowohl der Wolfsschanze als auch der Stadt Wolfsburg erkennbar. In vielen literarischen Werken, insbesondere in zeitgeschichtlicher KJL, wird auf diesen Zusammenhang angespielt (vgl. Oeste 2011, S. 158 f). In dem hier zur Debatte stehenden kulturökologischen Zusammenhang mag eine solche Deutungsweise zunächst abwegig erscheinen. Eingedenk der sozialdarwinistischen Implikationen im Rahmen nationalsozialistischer (Rassen-)Ideologien ergeben sich jedoch neue Bezüge und mögliche Deutungsansätze. Anhand der Motive Schäfer, Schaf und Wolf konnte bereits aufgezeigt werden, wie sich mit der Kombination unterschiedlichster Versatzstücke aus den Archiven kulturellen Wissens ein Labyrinth möglicher Bedeutungszusammenhänge auftut, in dem nicht nur das literarische Subjekt, wie hier der Schäfer, sich zu verlieren droht. In dem dichten Geflecht von Textzitaten aus Mythos, Religion, Kultur und Literatur wird auch dem Betrachter der sichere Halt einer eindeutigen Sinnkonstruktion oder eines verbindlichen Wertesystems vorenthalten. Damit sind die Parallelen zur außerliterarischen Realität einer postmodernen »Risikogesellschaft« offenkundig. Ulrich Beck führt in der gleichnamigen soziologischen Studie aus, dass mit der Herauslösung des Subjekts aus historisch vorgegebenen Sozialformen, mit dem Verlust von traditionellen Sicherheiten und einer gänzlich neuen Art der sozialen Einbindung (vgl. Beck 2003, S. 206) ein Individualisierungsschub verbunden ist, der für den Einzelnen weitreichende Konsequenzen hat. War das, was ihn traf, früher eher ein ›Schicksalsschlag‹, qua Gott oder Natur gesandt, z. B. Krieg, Naturkatastrophen, Tod des Ehepartners, kurz, ein Ereignis, für das er selbst keine Verantwortung trug – so sind es heute weit eher Ereignisse, die als ›persönliches Versagen‹ gelten […]. In der individualisierten Gesellschaft nehmen also nicht nur, rein quantitativ betrachtet, die Risiken zu, sondern es entstehen auch qualitativ neue Formen des persönlichen Risikos: Es kommen, was zusätzlich belastend ist, auch neue Formen der ›Schuldzuweisung‹ auf. (ebd., S. 218)

Wenn Turkowski die von Beck umrissenen gesellschaftlichen Zustände mit den literarischen Mitteln der Postmoderne reflektiert, so erteilt er damit nicht nur einer pädagogisch-didaktisch intendierten KJL eine Absage, sondern auch dem Anspruch, mit Literatur das eingangs beschriebene ›Lebenswissen‹ zu vermitteln. Vielmehr versetzt er seinen Leser in einen letztlich unabschließbaren Verstehensprozess, in dem mit Hilfe literaturökologischer Zugänge dennoch

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einige Ankerplätze geschaffen werden können. Hierzu sei ein Blick auf die Leerstellen der Geschichte, zunächst auf das offene Ende, gerichtet: Auch wenn es sich bei der Figur des Schäfers um keinen kindlichen Protagonisten handelt, wie man es in einem Bilderbuch erwarten könnte, so scheint es sich hier keinesfalls um eine gefestigte Person zu handeln, die als Wertsetzungsinstanz in Frage käme. Gänzlich unklar bleibt nämlich, ob die Rechnung des Schäfers aufgeht und der radikale Ausbruch aus seinem bisherigen Leben tatsächlich – und nachhaltig – seine Lage oder die der von ihm zurückgelassenen Tiere zu verbessern vermag. Kann er sich gänzlich aus den alten Gewohnheiten befreien und von seinen Macht- und Geltungsansprüchen gegenüber seinen Schutzbefohlenen absehen und ein wirklich neues, für ihn befriedigendes Leben beginnen, oder wird er wieder in das alte Schema verfallen? Ungewiss bleibt zudem das weitere Schicksal der verlassenen Schafe. Im Nachgang zur eigentlichen Geschichte wirbt ein Werbeplakat mit der Aufschrift: »Sheep! Sale 30 % – BuyNow – Handmade« für den Verkauf der Tiere. Die Blickrichtung des Betrachters wird durch die Gestaltung des Plakats in zwei unterschiedliche Richtungen gelenkt: Mit dem darauf abgebildeten Schaf nach links, gewissermaßen in Richtung der zurückliegenden Geschichte, und, dem Wegweiser folgend, nach rechts. Unklar bleibt, ob es sich hier um das Plakat des ursprünglichen Schäfers handelt oder ob nicht vielmehr der Nachbesitzer nun seinerseits schon wieder einen Versuch unternimmt, sich der Schafe zu entledigen, weil vielleicht auch er sich überfordert fühlt. Frei nach dem Motto Die Geister, die ich rief… wird bei einer solchen Betrachtung die Frage nach der Verantwortung aufgeworfen bzw. die Frage, inwieweit das Rad der Geschichte überhaupt zurückzudrehen ist. Dass der Künstler neben den beschriebenen Leerstellen und dem Einsatz von Intertextualität auf weitere literarische Stilmittel der Postmoderne zurückgreift, scheint, setzt man voraus, dass er mit seinem Bilderbuch auch Kinder und Jugendliche ansprechen will, zunächst einmal sehr ambitioniert, erweist sich aber bei genauerer Betrachtung für die didaktische Auswertung höchst ergiebig. Daher soll auf einige Punkte an dieser Stelle noch einmal unter diesem Gesichtspunkt eingegangen werden. Mit der Lösung von traditionellen Bilderbuchkonzepten, sowohl in thematischer als auch bildnerisch-stilistischer Hinsicht erteilt der Künstler einer ausdrücklichen Adressatenzuweisung eine Absage. Vielmehr ist sein Werk auf vielerlei Ebenen zu lesen und zu verstehen. Die polyvalenten Bild-Textkonstruktionen bieten je nach literarischem Sozialisationsstand seiner Rezipienten unterschiedliche Zugriffsmöglichkeiten, von denen der kulturökologische nur einer ist. Cross-over- oder All-Ages-Literatur im Bilderbuchsektor stellen eine Herausforderung dar. Jens Thiele weist kritisch auf die Tendenz moderner und postmoderner Bilderbuchmacher hin, von Linearität und Kohärenz nahezu abzusehen. Stattdessen würden »Konstruktion und Dekonstruktion von Texten

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und Bildern vorgeführt« (Thiele 2004, S. 21), in denen sich das Kind nicht wiederfinden kann. Turkowski hingegen setzt mit seinen Werken ganz offensichtlich auf ›Wiederholungstäter‹ jeglichen Alters. Seine Bücher erschließen sich, das hat die Arbeit mit Kindern sowie in der Erwachsenenbildung ergeben, keinem Betrachter, weder dem kindlichen noch dem Erwachsenen, auf den ersten Blick. Sie laden vielmehr dazu ein, Bild um Bild immer wieder zu betrachten und mit dem Text abzugleichen. Dabei lassen sich immer weitere Einzel- und Kleinigkeiten entdecken. Turkowskis Bilder fordern zum Verweilen auf und stellen sich einer auf Beschleunigung ausgerichteten Welt eindeutig entgegen. Auch hierin mag man eine kulturökologische Aussagekraft erkennen.

Didaktische Ausblicke Wenn seit den 1990er Jahren der ökologische Diskurs maßgeblich unter dem Schlagwort Nachhaltigkeit geführt wird, so geschieht das nicht zuletzt eingedenk des anbrechenden neuen Jahrtausends unter dem Aspekt der intergenerationellen Verantwortung. 1992 wurde auf der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung in Rio de Janeiro »die dauerhaft-umweltgerechte Entwicklung (sustainable development) zu einem weltweit anerkannten Leitbild staatlichen Handelns erklärt« (Kahlert 2007, S. 431) und wird seitdem als »gesellschaftspolitische Gestaltungsaufgabe« (ebd., S. 433) begriffen. Dieser Leitgedanke spiegelt sich nicht ganz konkret in den Lehrplänen für Schule und Unterricht in unterschiedlichen Fächern wider. So heißt es beispielsweise in den Richtlinien und Lehrplänen für die Grundschule in NRW: Die Schule vermittelt die zur Erfüllung ihres Bildungs- und Erziehungsauftrags erforderlichen Kenntnisse, Fähigkeiten und Werthaltungen und berücksichtigt dabei die individuellen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler. Sie fördert die Entfaltung der Person, die Selbstständigkeit ihrer Entscheidungen und Handlungen und das Verantwortungsbewusstsein für das Gemeinwohl, die Natur und die Umwelt. (Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen 2008, S.11)

Konkret auf das Fach Deutsch bezogen, bedeutet dies, dass im Rahmen der vier Kompetenzbereiche, zu denen u. a. der Schwerpunktbereich Lesen – mit Texten und Medien umgehen gehört, die Kompetenz zu sozialem und demokratischem Handeln (ebd., S. 23) erweitert werden soll. Für die Sekundarstufe I formulieren die Lehrpläne für das Fach Deutsch folgende Anforderungen an den Deutsch- respektive Literaturunterricht: Die Begegnung mit Literatur – auch in ihren unterschiedlichen historischen und gesellschaftlichen Bezügen – soll Leseinteressen wie Lesevergnügen wecken und zur Lektüre von Literatur anregen. Sie ermöglicht es, Grundmuster menschlicher Erfah-

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rungen kennen zu lernen und trägt dazu bei, eigene Positionen und Werthaltungen zu entwickeln. (Richtlinien und Lehrpläne für die Gesamtschule – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen 2004, S. 11)

Im Rahmen einer ökologischen Bildung und Erziehung kommt dem Deutschunterricht die Aufgabe zu, das in den naturwissenschaftlichen Fächern angelegte kognitive Fachwissen durch emotionales Wissen zu ergänzen. Mit Karst/Vester könnte man die Aufgabe des Deutschunterrichts also darin sehen, Begegnungen mit abbildenden, metaphorischen, symbolischen Darstellungen zu ermöglichen. (vgl. Karst/Vester 1994, S. 20) Besondere Möglichkeiten ergeben sich hier mit dem Einsatz von Bilderbüchern, die, wie Christine Kretschmer betont, im Sinne einer »ästhetischen Alphabetisierung« in besonderem Maße die Aufgabe erfüllen, »Buchstaben und Bildzeichen als Zugänge zur Welt« wahrzunehmen. (Kretschmer 2003, S. 23) Für Kaspar Spinner gehört die Fähigkeit, metaphorische und symbolische Ausdrucksweisen zu verstehen, neben der subjektiven Involviertheit und der Perspektivübernahme sowie einigen weiteren Kompetenzen zu den zentralen Aspekten, die beim literarischen Lernen eine Rolle spielen. (Spinner 2006) Auf Turkowskis Werk bezogen, könnte bereits in der Grundschule die Erschließung der symbolähnlichen Verwendung der Figuren Schäfer, Schaf, und Wolf über den Einsatz zusätzlicher Texte (Märchen, Sachtexte über das Klonschaf Dolly, Fabeln, Gedichte) erfolgen. Folgende Aspekte sollten zur Sprache gebracht werden: – Die Fürsorge des Menschen und seine Verantwortung für die ihm anvertraute Natur/Kreatur (Bewahrung der Schöpfung) – Die Sonderstellung des Menschen in seiner natürlichen Umgebung – Das Eingreifen des Menschen in die Natur – Gefahren und Bedrohungen durch die Natur – In der Auseinandersetzung mit der Natur können Wissensbestände aus den Archiven der Kulturgeschichte abgerufen und auf eigene Lebenssituationen übertragen werden Die Schülerinnen und Schüler würden sich mit der literarischen Figur des Schäfers auf diese Weise näher auseinandersetzen, seine Perspektive einnehmen und seine Beweggründe nachvollziehen lernen. Die Identifikation mit dem nicht-kindlichen Protagonisten kann durch einen einfachen handlungs- und produktionsorientierten Auftrag erfolgen: Indem die Schülerinnen und Schüler ein eigenes Schaf nach ihren Wünschen und Vorstellungen malen, lernen sie die Beweggründe des Schäfers nachzuvollziehen. Wie entsprechende Übungen in Grundschulklassen gezeigt haben, übertragen Kinder bei der Gestaltung eigener Schafe scheinbar automatisch das von Turkowski angewandte Prinzip und

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projizieren ihre eigenen Wünsche und Sehnsüchte auf ein Phantasieschaf. Dabei erkennen sie, dass es durchaus nachvollziehbare menschliche Bedürfnisse, wie die nach Bequemlichkeit, Unterhaltung und Ablenkung, aber auch Machtansprüche waren, die den Schäfer dazu veranlasst haben, seine Tiere zu manipulieren. Damit wäre bereits eine erste wichtige ökologische Erkenntnis gewonnen. Für den Einsatz in der Sekundarstufe I bietet das Bilderbuch aufgrund seiner postmodernen Implikationen weiteres Potenzial. Beim Nachspüren der weit verzweigten intertextuellen Bezüge und Zitate ergeben sich vielfache Möglichkeiten für ökologisches und literarisches Lernen. Auch hier bietet es sich an, über das Hinzuziehen weiterer Textsorten, das Verständnis zum Bilderbuch zu erschließen. Ansätze hierfür liefern beispielsweise die künstlichen Schafe, die mit ihren jeweils besonderen Eigenschaften und Funktionen auf unterschiedliche kulturelle und historische Errungenschaften in der Menschheitsgeschichte referieren. Was ein toasterartiges Frühstücksschaf zu leisten vermag, liegt auf der Hand, aber welche Funktionen kann ein Schaf aus 1001 Nacht erfüllen oder was kann ein Schaf im Wolfspelz bedeuten? Hier liefern wiederum die literarischen Vorlagen zusätzliche Interpretationsangebote. Wie steht der Mythos der Pandora in Verbindung mit dem Boot des Schäfers, das deutlich sichtbar diesen Namen trägt? Mit diesen Zugriffsweisen offenbaren sich dem Leser sicherlich keine eindeutigen Sinnkonstruktionen und kein ethisch-normatives Wertangebot, vielmehr wird hier ein vielschichtiges Repertoire aus dem bestehenden kulturellen Gedächtnis entfaltet, aus dem der Rezipient wiederum eigenen Sinn konstruieren muss. Auf einer anderen Ebene als in der Grundschule kann die Identifikation mit der Figur des Schäfers ebenfalls in der Sek. I Zugänge zum ökologischen Lernen liefern. Auch wenn es sich um keine Krise apokalyptischen Ausmaßes handelt, wie sie in der ökologischen Literatur der Moderne respektive Postmoderne gerne heraufbeschworen wird, so muss doch festgehalten werden, dass sich der Schäfer in seiner Angst um die Tiere in einer Sinn- und Lebenskrise befindet, die ihn zu einem radikalen Bruch mit bisherigen Lebensgewohnheiten veranlasst. Auf die von Beck umrissenen Probleme zunehmender Individualisierung und den damit verbundenen Herausforderungen, die sich durch Modernisierung und Technologisierung für den Menschen ergeben, wurde bereits hingewiesen. Aus traditionellen Fixierungen herausgelöst, sieht der Mensch sich zunehmend mit Entscheidungsaufgaben konfrontiert, die zu lösen es eines aktiven Handlungsmodells des Alltags bedürfte. (Beck 2003, S. 217) Turkowski führt, allerdings völlig wertfrei, nur eine Handlungsmöglichkeit vor Augen. Aus kulturökologischer und ethisch-moralischer Sicht wirft er damit eine Menge Fragen auf, deren Antworten in den intertextuellen Botschaften seiner fiktional-literarischen Konstruktion eingeschrieben sein könnten, denn:

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Die ›schöne‹ Literatur weiß ja gewissermaßen mehr von der Welt und vom Menschen als jeder einzelne Spezialdiskurs: Das ist der ›Mehrwert‹ der Literatur gegenüber den Fachdiskursen. Sie ist, aus der Leserperspektive gesehen, den Fachkursen zwar selbstverständlich unterlegen an Genauigkeit und begrifflicher Präzision, doch überlegen an Vorstellungsreichtum und Nachhaltigkeit. (Abraham/Launer 2002, S. 33)

Quellenverzeichnis Primärliteratur Turkowski, Einar (2010): Der Schäfer, der Wind, der Wolf und das Meer. Hildesheim. Weitere erwähnte Primärmedien aus dem Bereich der KJL George, Jean Craighead (1974) [EA 1972]: Julie von den Wölfen. Aarau [u. a.]. Hage, Anike (2008): Die Wolke – Eine Graphic Novel. Ravensburg. Müller, Jörg (1973): Alle Jahre wieder saust der Presslufthammer nieder – oder Die Veränderung der Landschaft. Aarau [u. a.]. Murschetz, Luis (1972): Der Maulwurf Grabowski. Zürich. Pausewang, Gudrun (1983): Die letzten Kinder von Schewenborn oder… sieht so unsere Zukunft aus? Ravensburg. Pausewang, Gudrun (1987): Die Wolke. Ravensburg. Rauprich, Nina (1987): Die sanften Riesen der Meere. Berlin. Schnitzler, Gregor (2006): Die Wolke, DVD, 102 min., Deutschland. Turkowski, Einar (2009): Die Mondblume. Zürich. Turkowski, Einar (2012): Der rauhe Berg. Zürich.

Sekundärliteratur Abraham, Ulf (2012): Fantastik in Literatur und Film. Eine Einführung für Schule und Hochschule. Berlin. Abraham, Ulf / Launer, Christoph (2002): »Was Literatur leistet«, in: dies. (Hg.): Weltwissen erlesen. Literarisches Lernen im fächerverbindenden Unterricht. Baltmannsweiler, S. 6–33. Beck, Ulrich (2003): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/ Main. Daubert, Hannelore (2011): »Moderne Kinderromane«, in: Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler, S. 87–105. Ewers, Hans-Heino (1995a): »Kinderliterarische Erzählformen im Modernisierungsprozess. Überlegungen zum Formenwandel westdeutscher epischer Kinderliteratur«, in: Lange, Günter / Steffens, Wilhelm: Moderne Formen des Erzählens in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart unter literarischen und didaktischen Aspekten. Würzburg, S. 11–25. Ewers, Hans-Heino (1995b): »Veränderte kindliche Lebenswelten im Spiegel der Kin-

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derliteratur der Gegenwart«, in: Daubert, Hannelore / Ders. (Hg.): Veränderte Kindheit in der aktuellen Kinderliteratur. Braunschweig, S. 35–48. Finke, Peter (2008): »Kulturökologie«, in: Nünning, Ansgar / Nünning, Vera (Hg.): Einführung in die Kulturwissenschaften. Stuttgart, S. 248–279. Goodbody, Axel (1998): »Literatur und Ökologie. Zur Einführung«, in: Amsterdamer Beiträge zur neueren Germanistik 43, S. 11–40. Haber, Wolfgang (2001): »Ökologie und Nachhaltigkeit. Einführung in die Grundprinzipien der theoretischen Ökologie«, in: Di Blasi, Luca / Goebel, Bernd / Hösle, Vittorio (Hg.): Nachhaltigkeit in der Ökologie. Wege in eine zukunftsfähige Welt. München, S. 66–95. Jonas, Hans (1984): Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt/Main. Kahlert, Joachim (2007): »Umweltbildung«, in: Sander, Wolfgang (Hg.): Handbuch politische Bildung. Bonn, S. 430–441. Karst, Theodor / Venter, Joachim (1994): Natur und Literatur. Fächerverbindender Unterricht in der Grundschule. Baltmannsweiler. Kretschmer, Christine (2003): Bilderbücher in der Grundschule. Berlin. Kümmerling-Meibauer, Bettina (2004): Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur. Ein internationales Lexikon. Sonderausgabe. Band 1 A–G. Stuttgart. Lexe, Heidi (2003): Pippi, Pan und Potter. Zur Motivkonstellation in den Klassikern der Kinderliteratur. Wien. Lindenpütz, Dagmar (1999): Das Kinderbuch als Medium ökologischer Bildung. Untersuchungen zur Konzeption von Natur und Umwelt in der erzählenden Kinderliteratur seit 1970. Essen. Oeste, Bettina (2011): Mensch versus Monster. Hitler-Konzeptionen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur nach 1945. Baltmannsweiler. Payrhuber, Franz-Jospef (2011): »Moderne realistische Jugendliteratur«, in: Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler, S. 106–124. Richtlinien und Lehrpläne für die Grundschule in Nordrhein-Westfalen. Ministerium für Schule und Weiterbildung (Hg.) (2008). Düsseldorf. Richtlinien und Lehrpläne für die Gesamtschule – Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Deutsch. Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes NordrheinWestfalen (Hg.) (2004). Düsseldorf. Spinner, Kaspar H. (2006): »Literarisches Lernen«, in: Praxis Deutsch 200, S. 6–16. Thiele, Jens (2003): »Das Bilderbuch«, in: Ders. / Steitz-Kallenbach, Jörg (Hg.): Handbuch Kinderliteratur. Grundwissen für Ausbildung und Praxis. Freiburg im Breisgau, S. 70–98. Thiele, Jens (2011): »Das Bilderbuch«, in: Lange, Günter (Hg.): Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart. Ein Handbuch. Baltmannsweiler, S. 217–230. Thiele, Jens (2004): »Ist das Kind noch im Bilde?«, in: Julit 03, S. 12–26. Zapf, Hubert (2008): »Kulturökologie und Literatur. Ein transdisziplinäres Paradigma der Literaturwissenschaft«, in: Ders. (Hg.): Kulturökologie und Literatur. Beiträge zu einemtransdisziplinären Paradigma der Literaturwissenschaft. Heidelberg, S. 15–44.

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Biobibliographische Angaben

Anica Betz ist seit November 2013 Promotionsstipendiatin der Professional School of Education an der Ruhr-Universität Bochum und arbeitet ›Zur Rolle von Authentizität in der linguistischen Wissenschaftsvermittlung im Schülerlabor – am Beispiel des Ruhrdeutschen‹ (Betreuung: Jun.-Prof. Dr. Claudia Müller und Prof. Dr. Björn Rothstein). Ihre Forschungsbereiche sind: Authentizität in der linguistischen Wissenschaftsvermittlung, Ruhrdeutsch, Interessenforschung, sprachdidaktisches Arbeiten mit Kinder- und Jugendliteratur, Literatur und Raum. Publikationen: Anica Betz/Hanna Kröger-Bidlo (Hrsg.): Neue Aspekte in der muttersprachlichen und DaF Literaturdidaktik. German as a foreign language – Teaching and Learning German in an Intercultural Context 2/2014, darin: Claudia Müller/Anica Betz: Mit Jugendliteratur Sprachvariation reflektieren – ein integrativer Ansatz für den Deutschunterricht der Sekundarstufe I, S. 27–52. Nick Büscher, Dr. phil., 2005 bis 2010 Lehramtsstudium der Fächer Germanistik und Philosophie (Gymnasium) an der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Universität Hannover, Promotion 2013, Februar 2013 bis Juli 2014 Studienreferendar für das Lehramt an Gymnasien am Studienseminar Stadthagen (Gymnasium Ernestinum Rinteln), seit September 2014 Studienrat a.P. am Gymnasium Bad Nenndorf. Forschungsschwerpunkte: Mythos und Postmoderne, Literatur und Raum, anthropofugale Gattungsentwicklung (mit den Schwerpunkten Utopie, Anti-Utopie, Science Fiction und Apokalypse), Kulturökologie und Literaturdidaktik. Publikationen: Solipsismus in der Großstadt: Thomas Glavinics Die Arbeit der Nacht. In: »Es sind (s)eine Ängste.« Die Romane Thomas Glavinics in fachdidaktischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive. Hrsg. von Jan Standke. Frankfurt a. M. [u. a.]: Lang 2014 (= Beiträge zur Literatur- und Mediendidaktik); Apokalypse als Utopie. Anthropofugalität in der österreichischen Nachkriegsliteratur. Würzburg: Königshausen & Neumann 2014; Heterotopie der Liebe. Raumstrukturen in Marieluise Fleißers Abenteuer aus dem Engli-

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Biobibliographische Angaben

schen Garten. In: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik. 13/ 14 (2009/10). S. 89–119. Beate Brunow, Ph.D., Assistant Professor of German an Wofford College in Spartanburg, SC (USA). Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Sprachdidaktik (Deutsch als Fremdsprache), Lehr-Lernforschung in der Hochschuldidaktik und deutsche Frauenliteratur des 19. Jahrhunderts. Seit 2013 ist sie Trainerin für Spracharbeit für das Goethe-Institut in der Ostregion der USA. Zur Zeit leitet sie an Wofford College einen Arbeitskreis für Lehrende zum Thema: »Methoden der Evaluation des Lehrens und Lernens.« Publikationen: »Working through Difficult Narratives: From Reading Trauma to Thinking Critically«, in: Postscript, Vol. 29, Spring 2014; mit Dr. Joshua Brown: »Portfolio Assessment in College-level Business German Courses«, in: German as a Foreign Language, 1/ 2014, S. 94–117. Cathrin Cronjäger promoviert interdisziplinär im Fach Anglistische Literatur- u. Kulturwissenschaft zu Aneignungsprozessen in queer-lesbischer Literatur des 20. u. 21. Jahrhunderts. Sie wird seit 2012 vom Lehrstuhl Anglistik und Amerikanistik der Humboldt-Universität zu Berlin betreut, wo sie auch von 2012 bis 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig gewesen ist. Von 2010 bis 2013 wurde sie als assoziierte Doktorandin durch das DFG-Graduiertenkolleg »Dynamiken von Raum und Geschlecht« (Kassel/Göttingen) unterstützt. Zudem wurde das Projekt von 2010 bis 2011 durch einen vom DAAD-finanzierten Forschungsaufenthalt an der San Diego State University in Kalifornien (USA) gefördert. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören: Gendertheorie, Diskurstheorie, mediale und kulturelle Adaption, feministische Epistemologie, Geschichte der Sexualität, Literatur als Diskurs. Gabriele Dürbeck, Dr. phil., ist Professorin für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Vechta. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ecocriticism, Postkolonialismus, Literarische Anthropologie und Postdramatisches Theater. Sie ist Mitglied des Alexander von Humboldt Network of Environmental Humanities (http://environmental-humanities-network.org/) und des DFG-Netzwerks »Ethik und Ästhetik in Literarischen Repräsentationen ökologischer Transformationen« (http://portal.uni-freiburg.de/ndl/forschung/dfg_ netzwerk). Publikationen: Stereotype Paradiese. Ozeanismus in der deutschsprachigen Südseeliteratur, 1815–1914 (Tübingen 2007), Herausgeberin des Special Focus: »Writing Catastrophes: Interdisciplinary Perspectives on the Semantics of Natural and Anthropogenic Disasters«, in: Ecozona. European Journal of Literature, Culture and Environment 3.1 (2012) und Koeditorin von

Biobibliographische Angaben

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Postkoloniale Germanistik. Bestandsaufnahme, theoretische Perspektiven, Lektüren (Bielefeld 2014). Werner Graf, Dr. phil., Prof. i. R., lehrte Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik an der Universität Paderborn, Forschungsschwerpunkte sind literarische Sozialisation, insbesondere die qualitative biografische Leseforschung, und Literatur der Moderne, z. B. Robert Musil und Peter Handke. Publikationen: Einführung in die literarische Sozialisation ›Lesegenese in Kindheit und Jugend‹ (2007), eine lektürebiografische Fallstudie ›Lesen und Biographie‹ (1997), eine Theorie der Lesemodi ›Der Sinn des Lesens‹ (2004) und eine Untersuchung zur Lektürebiografie des ›Führers‹: ›Adolf Hitler begegnet Karl May‹ (2012). Sieglinde Grimm, Dr. phil., ist Professorin für Literaturwissenschaft und Didaktik (Schwerpunkt Literatur im Unterricht) an der Universität zu Köln. Ihre Forschungs- und Arbeitsgebiete sind: Friedrich Hölderlin, Literatur der klassischen Moderne, Bildung und Bildungsroman, Aufgaben/Aufgabenentwicklung, Interkulturelle Literatur(-didaktik) sowie Kulturökologie und Literatur (-didaktik). Publikationen: Sprache der Existenz. Kafka, Rilke und die Rettung des Ich im Roman der klassischen Moderne (2003); zusammen mit Roman Bartosch (Hgg.): Teaching Environments. Ecocritical Encounters (2014), weitere Beiträge zur Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, zur Kinder- und Jugendliteratur sowie zu Positionen und Modellen der Literaturdidaktik. Solveig Lena Hansen, M.A. ist derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Ethik und Geschichte der Medizin der Universitätsmedizin Göttingen, an dem sie bereits seit 2007 tätig ist. Sie hat interdisziplinär im Fach Bioethik zur Verhandlung des sogenannten ›reproduktiven Klonens‹ in Deutschland und England promoviert. Die Promotion wurde von 2010–2013 durch das DFG-Graduiertenkolleg »Dynamiken von Raum und Geschlecht« (Kassel/Göttingen) gefördert. Ihre weiteren Forschungsschwerpunkte sind: Literarische Verhandlung der Organtransplantation, Bioethik und Recht im kulturellen Kontext, Fiktionstheorie, Bioethik und Film, Gender und Medizin sowie Public Health-Kampagnen. Publikationen: Wöhlke, Sabine; Hansen, Solveig Lena; Schicktanz, Silke (Hg.) (2015): Bioethik und Film. Potentiale, Methoden, Anwendungsfelder. Sonderheft der Zeitschrift für Ethik in der Medizin 26 (1); Hansen, Solveig Lena (2014): Benötigtes Leben. Literatur als Medium zur kritischen Auseinandersetzung mit der Lebendorgantransplantation, in: Silke Förschler, Rebekka Habermas und Nikola Roßbach (Hg.): Verorten – Verhandeln – Verkörpern. Interdisziplinäre Analysen zu Raum und Geschlecht. Bielefeld: Transcript, S. 307–334; Hansen, Solveig Lena (2012): Utopische Dynamiken

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Biobibliographische Angaben

von Macht, Reproduktion und Gesetz? Ein interdisziplinärer Beitrag zur Law and Literature-Debatte, in: Susanne Beck (Hg.): Gehört mein Körper noch mir? Untersuchungen zur (Straf-)Gesetzgebung im Kontext der beschränkten Verfügungsbefugnis über den eigenen Körper in den Lebenswissenschaften, Würzburg 2012, S. 193–213. Thomas Hardtke ist Promotionsstipendiat an der Friedrich Schlegel Graduiertenschule für literaturwissenschaftliche Studien (Freie Universität Berlin). Er arbeitet an einer Dissertation über religiösen Wahn in literarischen, medizinischen und theologischen Texten seit 1800. Weitere Forschungsgebiete sind Lesesozialisation, Bildungstheorie und Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts. Publikationen: »Interpreting Experience – Experiencing Interpretation: Towards a Hermeneutics of Religious Experience« (Herausgeber, gemeinsam mit Ulrich Schmiedel und Tobias Tan), in Vorbereitung, erscheint bei Brill (Leiden). Almut Hille, Dr. phil., Professorin für Deutsch als Fremdsprache an der Georg-August-Universität Göttingen (Vertretung). Forschungsschwerpunkte: Kultur-, Literatur- und Mediendidaktik im Fach Deutsch als Fremdsprache; Globales Lernen im Fremdsprachenunterricht; Deutschsprachige Literatur des 20./ 21. Jahrhunderts. Publikationen: Identitätskonstruktionen. Die »Zigeunerin« in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Würzburg 2005; Erzählte Städte. Beiträge zu Forschung und Lehre in der europäischen Germanistik. München 2013 (Mitherausgeberin); Globalisierung – Natur – Zukunft erzählen. Aktuelle deutschsprachige Literatur für die internationale Germanistik und das Fach Deutsch als Fremdsprache. München 2015 (Mitherausgeberin). Elisabeth Hollerweger, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Forschungsstelle Kulturökologie und Literaturdidaktik der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen methodisch im Bereich Kulturökologie, Intermedialitätsforschung, Gender Studies und gegenstandsbezogen im Bereich neuerer/neuester deutscher Literatur sowie Kinder-/Jugendliteratur. Publikationen: Wenn möglich, bitte wenden. Klimawandel als Makrothema einer Bildung für nachhaltige Entwicklung im medienintegrativen Deutschunterricht (gemeinsam mit Anna Stemmann). In: Petra Josting, Ricarda Dreier (Hrsg.) 2014: Lesefutter für Groß und Klein. Kinder- und Jugendliteratur nach 2000 und literarisches Lernen im medienintegrativen Deutschunterricht. München: kopaed. Upcycling zwischen Fakten und Fiktionen. In: Stephan Habscheid, Gero Hoch, Hilde Schröteler-von-Brand, Volker Stein (Hrsg.) 2014: DIAGONAL Heft Nr. 35: Umnutzung. Alte Sachen – neue Zwecke. Göttingen: v& r unipress. »›Wenn man Natur erleben will, dann muss man in der Zeit zurückreisen‹«. Der Zukunftsroman Somniavero. In: Sabine Planka (Hrsg.) 2013: Kinder- und Ju-

Biobibliographische Angaben

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gendliteratur intermedial 02. Die Zeitreise. Ein Motiv in Literatur und Film für Kinder und Jugendliche. Würzburg: Königshausen & Neumann. Elisabeth Jütten, Dr. phil. Juniordozentin am Deutschen Seminar der Universität Tübingen. Publikationen: Diskurse über Gerechtigkeit im Werk Jakob Wassermanns. Tübingen 2007 (Conditio Judaica 66), »From Dead Letters to Living Writing. The Aesthetic of Life in Novalis«. In: Tina Pusse (Hg.): From Ego to Eco. Imagining Ecocentrism in Literature, Film and Philosophy. Amsterdam 2015. Arbeitsschwerpunkte sind u. a. Deutsch-jüdische Literatur, Literatur und Wissenschaft, Literaturtheorie. Ulrich Kinzel, Dr. phil., ist außerplanmäßiger Professor für Neuere deutsche Literatur und Literatur-/Mediendidaktik an der Universität Kiel. Zu seinen gegenwärtigen Forschungsgebieten gehören die Themen Kultur und urbaner Raum, Maritime Kultur und literarische Erfahrung sowie Bildung und Neoliberalismus (hierzu wird ein Sammelband erscheinen: Hg. mit Jennifer Ham und David Pan, The Origins of Bildung and the Future of the Humanities). Publikationen: Ethische Projekte. Literatur und Selbstgestaltung im Kontext des Regierungsdenkens. Humboldt, Goethe, Stifter, Raabe (Klostermann 2000); Hg., An den Rändern der Moral. Studien zur literarischen Ethik (Königshausen & Neumann 2008); Hg., London – Urban Space and Cultural Experience. Themenheft / Special Issue der Zeitschrift Literatur in Wissenschaft und Unterricht 2010. Ulrike Kruse, Dr. phil., Germanistin und Historikerin; Forschungsschwerpunkte: Phantastik/Science Fiction, Kulturökologie/ecocriticism, Human-Animal Studies; z. Zt. angestellt bei Cornelsen Schulverlage, Berlin. Publikationen: Das Haus als Welt. Die geordnete Welt in der frühneuzeitlichen Ökonomikliteratur. In: Christian Moser, Linda Simonis (Hrsg.): Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien. Göttingen: v& r unipress, 2014, S. 579–590; Von Biene und Menschen. In: Tiere Bilder Ökonomien. Aktuelle Forschungsfragen der Huma-Animal Studies. Hrsg. v. Chimaira – Arbeitskreis für Human-Animal-Studies. Bielefeld: transcript, 2013, S. 63–85. Der Natur-Diskurs in Hausväterliteratur und volksaufklärerischen Schriften vom späten 16. bis zum frühen 19. Jh. Bremen: edition lumiÀre, 2013. Jana Mikota, Dr. phil, seit dem Sommersemester 2012 Studienrätin im Hochschuldienst, seit Juli 2014 Oberstudienrätin im Hochschuldienst an der Universität Siegen. Lehre im Bereich der Literaturdidaktik und Literaturwissenschaft. Forschungsschwerpunkte: (Kinder- und Jugend-)Literatur, Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, historische/aktuelle Lese- und Kanonfor-

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Biobibliographische Angaben

schung. Z. Zeit Projekte im Bereich der Mehrsprachigkeit, Kulturökologie und Puppenliteratur. Publikationen: im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur sowie zu Schriftstellerinnen des 19. und des frühen 20. Jahrhunderts. Publikationen: Blumesberger, Susanne/Kümmerling-Meibauer, Bettina/Mikota, Jana/Seibert, Ernst (Hg.): »Hieroglyphe der Epoche?«. Zum Werk der österreichjüdischen Autorin Anna Maria Jokl (1911–2001). Praesens: Wien 2014. Fooken, Insa/Mikota, Jana (Hg.): Puppen. Menschenbegleiter in Kinderwelten und imaginären Räumen. V & R: Göttingen 2014. Mikota, Jana/Oehme, Viola: Siegener Werkstattgespräche mit Kinderbuchautorinnen und -autoren. Universi: Siegen 2013 ff. (bisher erschienen u. a. Bände zu Kirsten Boie und Andreas Steinhöfel. Harro Müller-Michaels, Dr. phil., Professor em. Dr. phil. für Literaturwissenschaften (Didaktik der Germanistik) an der Ruhr-Universität Bochum (seit 1975). Arbeitsschwerpunkte: Poetik und Didaktik des Dramas, Wirkungsästhetik, Interpretationen zu Werken vom 18. (Herder, Kleist) bis 20. Jahrhundert (Uwe Johnson), Literarische Anthropologie (z. B. Träume, Tabu, Gerechtigkeit, Schmerz und Tod), Beiträge zur Kanondebatte (seit 1981). Theorien und Geschichte des Deutschunterrichts und seiner Didaktik (DFG-Projekte), Qualitative Unterrichtsforschung (Fallstudien zum DU). Bausteine für ein Curriculum, Methodische Bildung, Leistungsbeurteilungen. Publikationen: Einführung in die Didaktik: Grundkurs Lehramt Deutsch (2009), Gleichheit oder Gerechtigkeit? Ziele der Bildung (2013), Wettstreit der Diskurse – Von den Niederlagen der Didaktik (2013). Publizistische Beiträge zu Abitur, Allgemeinbildung, BachelorStudium (seit 1994), Essays zu Formen und Funktionen des Fragens, Antihelden, Sport, Familie und Autobiografie. Herausgeber des Jahrbuchs der Deutschdidaktik (1978–1994), der Zs. Deutschunterricht/Braunschweig (seit 1992). Bettina Oeste, Dr. phil., ist Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Universität Duisburg-Essen und dort am Institut für Germanistik im Bereich der Literaturwissenschaft/Literaturdidaktik in der Lehrerausbildung beschäftigt. In ihrer Dissertation untersuchte sie Hitlerdarstellungen in der deutschsprachigen Kinder- und Jugendliteratur. Ihre allgemeinen Lehr- und, Forschungsschwerpunkte liegen ebenfalls im Bereich der zeitgenössischen Kinder- und Jugendliteratur sowie der Lese- und Literaturdidaktik. Publikationen: ›Kirsten Boie jenseits von Afrika‹. In: Kirsten Boie. Bielefelder Poet in Residence 2013. Hrsg. von Petra Josting. München: kopaed 2014. S. 197–207 (Kinder- und Jugendliteratur aktuell; Bd.2) und ›Bedrohtes Glück. Überlebensstrategien in der KJL‹. In: BiblioTheke. Zeitschrift für katholische Bücherei- und Medienarbeit. 28 (2014) H. 3/4. S. 12–16 [http://www.borromaeusverein.de/bibliotheke/].

Biobibliographische Angaben

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Torsten Pflugmacher, Dr. phil., Juniorprofessor für Fachdidaktik Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz. Forschungsgebiete: Literaturdidaktische Unterrichtsforschung, Professionsforschung, Gegenwartsliteratur, Katastrophennarrationen. Publikationen: Vor der Konstruktion kommt die Rekonstruktion: Möglichkeiten und Grenzen einer kasuistischen Literaturdidaktik. In: Mitteilungen des DGV, H. 3 (2014), S. 154–163. Den GAU erzählen. Alexander Kluges Tschernobylerzählungen als Anti-Bildungsroman. In: Der Deutschunterricht, Themenheft »Man kann nicht lernen, nicht zu lernen. Alexander Kluge im Unterricht«, H. 3 (2012), S. 58–67. »Und vor allen Dingen an Euren Eindrücken auch ein bisschen arbeiten.« Eine Fallrekonstruktion zu ästhetischer Erfahrung im Literaturunterricht. In: Kirschenmann, Johannes, Kaspar H. Spinner, Christian Richter (Hg.): Reden über Kunst. München: kopaed 2011. S. 121–135. Susanne Scharnowski, seit 2003 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Deutsche und Niederländische Philologie der Freien Universität Berlin. Arbeitsschwerpunkte: Lehre auf dem Gebiet Länder- und Kulturstudien; Koordination des Studienangebots für internationale Gaststudierende; ERASMUSProjektkoordination mit Hochschulen in England. Forschungsschwerpunkte: Ästhetik und Ideologie der DEFA-Gegenwartsfilme; »Heimat« in Literatur und Film: Präsentationen und Konstruktionen von Natur und Umwelt in der Populärkultur ; Dorf und Provinz in der Gegenwartsliteratur. Publikationen: »›Unser Wissen ist ein bloßes Propädeutikum‹. Bullau. Versuch über Natur als Naturessay.« In: Almut Hille / Sabine Jambon / Marita Meyer (Hg.): Globalisierung, Ökologie und Literatur. Studien für die Internationale Germanistik und das Fach Deutsch als Fremdsprache. München: Iudicium, 2014; »›Bau auf, bau auf‹. Zur Inszenierung von Ruinen, Baustellen und Neubauten in ausgewählten DEFA-Gegenwartsfilmen 1946–1991.« In: Almut Hille/ Benjamin Langer (Hg.): Erzählte Städte. Beiträge zu Forschung und Lehre in der europäischen Germanistik. München: Iudicium, 2013, S. 71–84; »Literatur für das Anthropozän. Die Ästhetik der berührten Natur in Dieter Bachmann Unter Tieren und Andreas Maier/Christine Büchner Bullau. Versuch über Natur.« In: Wiebke Amthor/ Almut Hille/Susanne Scharnowski (Hg.): Wilde Lektüren. Literatur und Leidenschaft. Bielefeld: Aisthesis, 2012, S. 363–380. Kaspar H. Spinner, Dr. Dr. h.c., emeritierter Professor an der Universität Augsburg. Arbeitsgebiete: Literaturdidaktik, ästhetische Bildung. Publikationen: Kreativer Deutschunterricht. Seelze 2. Aufl. 2008. Kurzgeschichten – Kurze Prosa. Seelze 2012. Erziehung oder Lust am Ausleben von Fantasien? Beiträge zur Kinder- und Jugendliteratur und ihrer Didaktik. Frankfurt a. M. 2013.

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Biobibliographische Angaben

Sebastian Susteck, Dr. phil., Professor für Neugermanistik und Literaturdidaktik an der Ruhr-Universität Bochum. Forschung zu Didaktik und Geschichte des Deutschunterrichts sowie zur Literatur- und Sozialgeschichte. Publikationen: Implizitheit und Explizitheit. Untersuchungen zu einem Grundproblem des Literaturunterrichts und seiner Didaktik (erscheint Juventa-Beltz 2015); Kinderlieben. Studien zum Wissen des 19. Jahrhunderts und zum deutschsprachigen Realismus von Stifter, Keller, Storm und anderen (DeGruyter 2010). Nadja Türke, Doktorandin am Institut für Germanistik der Universität Potsdam: promoviert mit einer wissenschaftsgeschichtlichen Studie zur ökologisch orientierten Forschungsperspektive in der Germanistik. Mitglied der Forschungsstelle Kulturökologie und Literaturdidaktik. Forschungsinteressen: Literatur und Ökologie, Ratgeberliteratur, Wissenschaftsgeschichte. Publikationen: ›Inszenierte Lebensstile – Landlust & Co.‹, in: Wanning, Berbeli (Hg.): Mensch, Natur, Text. Zeitschrift DEUTSCHUNTERRICHT (67) 2014, S. 24–28; ›Literaturwissenschaft im Anthropozän. Eine kleine Genealogie einer ökologisch orientierten Forschungsperspektive in der Germanistik‹, in: Dürbeck, Gabriele / Stobbe, Urte (Hg): Tod des Helden? Figurendarstellung in der Umwelt- und Klimawandelliteratur. Komparatistik Online 2015. Berbeli Wanning, Dr. phil., Professorin für deutsche Literatur und Sprache und ihre Didaktik an der Universität Siegen und Leiterin der Forschungsstelle Kulturökologie und Literaturdidaktik. Ihre Arbeitsschwerpunkte liegen in diesem Bereich sowie in der Didaktik der Literaturgeschichte, Ästhetik und Didaktik der Neuen Medien, insbesondere der veränderten Erzähltechnik (Protagonize!-Konzept). Publikationen: Schnurgerade durch den Wald. Unmögliche Wege der Vernunft, in: Landschaften – Gärten – Literaturen, hrsg. von I. von der Lühe und J. Wolschke-Bulmahn, München 2013, S. 213–228; Das Protagonize!-Erzählkonzept. Neue Wege, literarisches Wissen zu vermitteln, in: Medieninnovationen, hrsg. von P. Wolf, Leipzig 2013, S. 245–258; Literatur, Natur, Umwelt, in: Deutschunterricht 2/2014, S. 4–10.

Personenregister

Abraham, Ulf 10, 252, 262, 397, 406 Ackermann, Jacob Fidelis 349 Adorno, Theodor W. 190, 231f., 238 Agamben, Giorgio 346 Alt, Peter-Andr¦ 64, 68, 80, 157, 163, 228, 245, 386–388, 412 Amann, Wilhelm 293f. Anderson, Lee 304f. Anderson, Sascha 221 Anz, Thomas 276 Arendt, Hannah 346 Arndt, Ernst Moritz 234f., 351 Asche, Adam A. 342, 351 Aue, Hartmann von 224 Aurel, Marc 186f. Bachmann-Medick, Doris 291, 346 Bambi 25, 375–389 Barry, Peter 378 Barthes, Roland 73, 176, 187, 193 Bartsch, Max 319 Baßler, Moritz 379–381, 386 Bataille, Georges 152 Baty, S. Paige 181f. Baumert, Jürgen 160 Baumgart, Wolfgang 220, 226, 348 Beck, Ulrich 14, 26, 78, 80, 123, 199, 291, 401, 405, 412 Bergthaller, Hannes 31, 35–37, 42f., 46, 394 Bettelheim, Bruno 227 Bick, Ilsa J. 64 Biehler, Birgit 328f.

Birkett, Terri 42 Birnbacher, Dieter 200 Bloch, Ernst 179–181 Blumenbach, Johann Friedrich 349 Bogdal, Klaus-Michael 347 Böhm, Max 237, 309, 311–313, 319, 346, 359, 362 Böhme, Gernot 309, 311–313 Böhme, Hartmut 260 Boote, Werner 38 Braungart, Georg 300 Brecht, Bertolt 186f., 191, 220 Brenner, Peter J. 292 Brockes, Barthold Heinrich 220 Bronfen, Elisabeth 181–183 Brown, Louise Joy 198, 410 Brüder Grimm 220, 225f. Budde, Nadia 30f., 33f., 37–39, 42, 45 Camus, Albert 375 Canetti, Elias 19, 237f. Celan, Paul 220 Chakrabarty, Dipesh 85 Chamisso, Adalbert von 303f. Commoner, Barry 146, 291 Condie, Ally 49, 62f., 65f., 68 Cook, James (Captain) 95 Crossley, Nick 184 Crutzen, Paul 15, 84, 86f. Czupek, Adam 75 Darwin, Charles Robert 345 Daubert, Hannelore 396

418 Derrida, Jacques 152f., 347 Detering, Heinrich 341, 344 Dibley, Ben 86 Disney, Walt 375 Doderer, Klaus 376 Drux, Rudolf 146 Duhamel, Roland 190 Dunker, Axel 151–153 Dürbeck, Gabriele 15, 83, 90, 94f., 410, 416 Dürrenmatt, Friedrich 320f. Düwell, Marcus 200f., 203f., 208 Ebeling, Kirsten Smilla 206 Eco, Umberto 185, 413 Eichendorff, Joseph von 19, 21, 220, 227–234, 238, 263–265, 268, 270, 362 Eicher, Thomas 243f. Emerson, Ralph Waldo 180 Ende, Michael 31, 33, 36f., 41, 43f., 51, 57, 67, 71, 80, 83, 91, 105, 107f., 112f., 147, 149, 152, 157, 179, 182, 185, 188, 226, 264–267, 303f., 330, 336, 358f., 363, 369, 384, 388, 402 Engels, Eve Marie 205, 349 Enzensberger, Hans Magnus 19, 117, 129, 219–223, 238 Eschenbach, Wolfram von 224 Ette, Ottmar 79, 346, 397 Ewers, Hans Heino 395f. Fauser, Markus 262 Fichte, Johann Gottlieb 300 Fichtl, Johann Gottlieb 22, 292, 300–303 Finke, Peter 74, 395 Fischer, Ernst Peter 168, 171, 173, 328, 362, 365, 367, 398 Fleck, Dirk C. 15, 78, 83f., 87, 89–92, 94–97, 362 Foer, Jonathan Safran 16, 108f. Fontane, Theodor 129, 275 Foucault, Michel 178f., 181f., 184, 191f., 347 Frank, Horst Joachim 175, 285f.

Personenregister

Freud, Sigmund 112, 237, 244, 334, 336, 376, 382 Fritzsche, Joachim 154 Galilei, Galileo 103 Ganghofer, Ludwig 224 Garbe, Christine 177 Garrard, Greg 267, 269f. Gauguin, Paul 95 Geisel, Theodor 13, 29–31, 33f., 37–39, 42, 45f., 247 Genette, G¦rard 206, 209, 343 Gilgamesch 222, 226 Giuliani, Rudy 104 Glotfelty, Cheryll 376 Gmelin, Karl Christian 328f. Goethe, Johann Wolfgang von 21, 106, 160, 263f., 268, 270, 410, 413 Goodbody, Axel 83, 304, 341, 395f. Greiner, Bernhard 349 Groddeck, Wolfram 189f. Grondin, Jean 154 Grzimek, Bernhard 299 Grzimek, Michael 297, 299 Guggenmos, Josef 316f. Gugutzer, Robert 183f. Gumbrecht, Hans Ulrich 313 Haan, Gerhard de 41, 44, 357 Haber, Wolfgang 395 Hadot, Pierre 187, 346 Haeckel, Ernst 17, 145, 147, 395 Hallet, Wolfgang 276f. Hallström, Lasse 321 Hamburger, Käte 87, 189 Hammer, Michael 244 Hand, David 43, 86, 104, 113, 134, 205, 334, 358, 375, 382, 405 Hänsel und Gretel 226f. Harrison, Robert P. 19, 219–222, 238f. Haslinger, Josef 16, 109f. Hauptmann, Gerhart 315f. Hawthorne, Nathaniel 260 Hebel, Johann Peter 23, 327–337 Heidegger, Martin 189, 223

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Personenregister

Heise, Ursula 361, 369 Herder, Johann Gottfried 298, 348, 414 Hermand, Jost 363, 366 Heukenkamp, Ursula 264f. Heyder, Clemens 202 Hiaasen,Carl 397 Higgins, David M. 197 Hildebrandt, Dieter 104 Hille, Almut 22, 157, 291, 294, 412, 415 Hitler, Adolf 237, 401, 411 Hofer, Stefan 157, 291f., 294, 306 Hoffmann, E.T.A. 17, 143, 145–149, 153, 157f. Hölderlin, Friedrich 223, 411 Homer 177 Honold, Alexander 95, 302 Hurrelmann, Bettina 159, 243f. Huxley, Aldous 51, 62f., 67

Kleist, Heinrich von 15, 102, 105f., 108, 110, 129, 414 Kluge, Alexander 119, 127–130, 132–136, 415 Klüger, Ruth 101 Knopf, Jan 79, 330 Köchy, Kristian 328 Kondylis, Panajotis 348 Körner, Theodor 147, 234 Koschorke, Albrecht 347 Kreft, Jürgen 17, 154–159 Kretschmann, Winfried 96 Kruse, Max 318f. Kruse, Ulrike 23, 24 , 327, 328 , 413 Krüss, James 317 Kügler, Hans 187f. Kümmerling-Meibauer, Bettina 50, 376, 386, 395, 397, 414

Iser, Wolfgang

Lakoff, George 17, 164, 167, 169 Lämmert, Eberhard 229f., 238 Lange, Günther 120, 262, 309, 415 Le Guin, Ursula K. 205 Lee, Tanith 208, 210–212 Leggewie, Claus 306, 393 Leibniz, Gottfried Wilhelm 147, 409 Leinfelder, Reinhold 85–87, 95 Lessing, Gotthold Ephraim 106, 114 Leubner, Martin 30, 49, 75, 158 L¦vi-Strauss, Claude 302f., 306f. Lexe, Heidi 375, 378, 395, 397 Liebrand, Claudia 147 Lindenpütz, Dagmar 397 Lloyd, Saci 54–58 Lorax 13, 29–33, 35–39, 41–46 Lösener, Annegret 175 Lotter, Konrad 357 Luhmann, Niklas 243, 291, 359 Luther, Martin 334f.

260, 262

Jackson, Peter 20, 243, 246, 251–253, 255–257 Jean Paul 223 Johnson, Mark 17, 164, 167, 169, 414 Jonas, Hans 93f., 168, 394 Jünger, Ernst 19, 64, 126, 220, 234–237 Kahlert, Joachim 396, 403 Kant, Immanuel 63, 103, 106, 233f., 348 Kather, Regine 294, 298f. Katthage, Gerd 167, 169 Kauder, Volker 203 Kehr, Eike 253 Keller, Gottfried 17, 79, 143, 145f., 150–153, 155f., 315, 416 Kepser, Matthis 262 Kerner, Charlotte 17, 52, 143, 164, 167f. , 171 Kerner, Justus 221 Kerridge, Richard 83 Khadra, Yasmina 16, 112f. Kittstein, Ulrich 186, 264f. Klages, Ludwig 24, 363f., 368

Malkmus, Bernhard 360 Mattenklott, Gert 247 Mecklenburg, Norbert 150 Meinert, Sascha 73f. Menninghaus, Winfried 347f.

420 Mense, Lisa 199 Merleau-Ponty, Maurice 184 Meyer-Sickendiek, Burkhard 309 Monroe, Marilyn 18, 181f. Moor, Franz von 20, 246–249, 253–257 Moor, Karl von 246 , 247, 250 , 253, 257 Morgenstern, Christian 317 Morgenthaler, Erwin 328 Mörike, Eduard 265 Müller, Claudia 409 Müller, Timo 260, 262 Müller, Wilhelm 228 Müller, Jörg 396 Müller-Michaels, Harro 15, 101, 154–157, 414 Murphy, Patrick D. 83, 90, 92 Mutzenbacher, Josefine 377 Neiman, Susan 104, 107f. Neumann, Birgit 276f., 409, 413 Newton, Isaac 103 Nicolai, Christoph Friedrich 114 Nietzsche, Friedrich 189, 192, 236 Nix, Daniel 244, 252, 315 Nünning, Ansgar 346f. , 259 , 262 , 276 Nünning, Vera 347 Oeste, Bettina 2 f., 393, 401, 414 Oliver, Lauren 61f., 65, 67 Onceler 30, 32f., 38, 40f., 45 Ono, Yoko 185f., 191 Ott, Konrad 72f. Paefgen, Elisabeth K. 144, 176, 262 Parzival 224 Pausewang, Gudrun 52–55, 57f., 129, 136, 396 Payrhuber, Franz-Josef 396 Pestalozza, Albert Graf von 237 Pfeffer, Susan Beth 54f., 57f. Pfister, Bertram Gottlieb 24, 341f., 344f., 350f. Pfister, Eberhard 24, 341f., 344f., 350f. Piechocki, Reinhard 91, 328

Personenregister

Platon 73, 147, 177f. Plumpe, Gerhard 152f., 243 Plutarch 180 Politycki, Matthias 291f., 300–303 Pontzen, Alexandra 294 Popp, Ludwig 341 Pouh, Lieselotte 376, 382, 384 Pozananski, Ursula 59 Preußler, Otfried 314 Raabe, Wilhelm 24, 341–345, 350f., 413 Rauprich, Nina 396 Regener, Sven 22, 285 Rehmann-Sutter, Christoph 199 Reichardt, Ulfried 293 Reinwand, Vanessa-Isabelle 379 Renaud, ChristianSaupe, Anja 30, 32–36, 40, 44f. Rilke, Rainer Maria 18, 187, 189–193, 411 Rist, Johann 328 Rohse, Eberhard 350 Roosevelt, Theodore 298 Rosebrock, Cornelia 244, 252 Rossi, Veronika 59, 66 Roth, Eugen 21, 59–61, 124, 219, 263, 265f., 268–270 Roth, Friederike 221, 239 Rotkäppchen 226 Rousseau, Jean-Jacques 104, 106 Rudorff, Ernst 24, 363f., 368 Rueckert, Friedrich 291 Rumpelstilzchen 226 Rupp, Gerhard 11, 203, 279–282 Ruppelt, Georg 167 Russ, Joanna 197, 206–209, 211f. Ryan, Judith 189 Safranski, Rüdiger 239 Salten, Felix 25, 375–380, 383f., 389 Saruman 20, 253–256 Scharpenberg, Margot 21, 263, 266, 268–270, 272 Schätzing, Frank 83, 90, 129 Schelling, Friedrich Wilhelm 17, 147f., 159f.

421

Personenregister

Schenkendorf, Max von 228, 234 Scherpe, Klaus 346 Schiller, Friedrich 12, 20, 106, 243, 245–247, 249, 252–257 Schlegel, August Wilhelm 348, 412 Schmeling, Manfred 293f. Schmidt, Arno 26, 220, 377, 382f., 386f. Schmitz-Emans, Monika 293f., 303 Schön, Erich 20, 58, 62f., 177, 256, 262, 264 Schopenhauer, Arthur 345, 350f. Schwarzer, Alice 198, 337 Schweikart, Ralf 49f. Seel, Martin 312, 365 Seitz, Klaus 305f., 363 Selby, David 305 Sellin, Iris 168 , 171 Sellin, Siri 171 Seneca, Lucius Annaeus 344f. Shipley, Elisabeth 205 Shippey, Tom 253 Sieglerschmidt, Jörn 328 Sontag, Susan 64, 119 Spinner, Kaspar H. 22f., 77, 262, 264, 309, 317, 404, 415 Starre, Alexander 53, 316, 378 Steiner, Rudolf 96 Stifter, Adalbert 19, 220, 223, 235, 413, 416 Storm, Theodor 102, 129, 317, 416 Strauß, Botho 220 Swift, Jonathan 381 Szondi, Peter 189 Tabbert, Reinbert 386 Tausch, Harald 17, 153f., 159, 341–343 Teilhard de Chardin, Pierre 87 Thiele, Jens 31, 398f., 402f. Thiemeyer, Thomas 63 Tholen, Toni 347 Thoreau, Henry David 78 Tieck, Ludwig 19, 227f., 232

Titzmann, Michael 193 Toepfer, Georg 345f., 349 Tolkien, J.R.R. 20, 243, 246, 251–256 Töpfer, Klaus 87, 91, 93 Trepl, Ludwig 366–368 Treptow, Rainer 377, 383 Trojanow, Ilija 22, 291f., 294–300, 302f. Turkowski, Einar 25f., 393f., 397–401, 403–405 Updike, John

16, 111f.

Vanderbeke, Birgit 14, 71–73, 75f., 78–81 Vico, Giambattista 222 Vignemont, Fr¦d¦rique de 184 Voltaire 103f., 106 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 265 Walser, Robert 310–313 Wanning, Berbeli 26, 322, 341f., 350, 359, 376–378, 380, 382, 384, 386f., 416 Warhol, Andy 181 Weber-Kellermann, Ingeborg 203 Weigel, Sigrid 164, 166 Werber, Niels 243 Wermke, Jutta 21, 279f., 283 Westerfeld, Scott 62f. Wiechert, Ernst 19, 220, 235–237 Wieland, Christoph Martin 106, 220 Wilpert, Gero von 294, 336 Wimmer, Reiner 203f. Winckelmann, Johann Joachim 177 Winehouse, Amy 182, 186 Winkler, Iris 252 Wrobel, Dieter 376 Wunderli, Peter 224 Zalasiewicz, Jan 85 Zemanek, Evi 26, 144 Zimmerli, Walther 349

Sachregister

Antagonist 178, 381 Anthropozän 15, 83–87, 89, 91, 93, 95, 97, 293, 415f. Anthropozentrisch 15, 17, 24f., 145, 149, 153f., 327f., 337, 378f., 381, 387, 389 Anti-Utopie 50, 409 Apokalypse 119f., 129, 409 Appellfunktion 87 Ästhetik 24, 26, 117, 128f., 144, 188, 192, 256, 342, 347–350, 357, 362, 366, 410, 415f. Atmosphäre 22f., 86, 127, 282, 294, 309–314, 316–322, 379 atomar 51–54, 58, 118, 125, 130, 134 Bilderbuch 25f., 31f., 34, 37f., 227, 393f., 398f., 402, 405 Bildlichkeit 20, 169, 243, 246, 248, 251f., 255, 257 Bildungsstandard 9f., 143f. Binnenhandlung 29, 32–34, 40, 43 Biotechnologie 198, 200, 204 Böse 103f., 107f., 113, 126, 226, 245, 253f., 256, 381 Bühne 182, 239, 284, 320f. Cultural Turn

291

Dasein 37, 144, 150, 156, 160, 329, 343, 346, 350, 377, 383 Desaster 79, 119 Drama 20, 243, 245–247, 249, 252, 254–257, 414

Drehbuch 134 (Drehbuchideen) Drei-Säulen-Modell 38f., 45, 72 Dynamik 86, 226, 271, 410f. Dystopie 13f., 49–52, 54, 57–61, 63f., 66–68, 83, 117, 120, 145, 396 Ecocriticism 84, 144f., 291, 304, 359, 376, 378, 393, 410, 413 Energie 52, 54–56, 73, 89, 93, 271 Energiewende 25, 367, 369 Equilibrismus 15, 87f., 90, 93f., 97 Erdbeben 15, 58, 66, 102–107, 120, 124, 129f. Erde 11, 15f., 44, 58, 66, 80, 85f., 90f., 93, 104, 111, 198, 205, 207, 224, 235, 254, 265, 282, 293f., 296, 305, 309, 318, 328, 330–332, 334, 338, 363f., 395 Erzählstruktur 29, 35, 77, 125 Erziehung 9, 17, 114, 143, 163f., 234, 280, 357, 361, 404, 415 Ethik 26, 144, 192f., 199f., 204, 222, 410f., 413 Evolution 345 (Evolutionstheorie) Exkursionsdidaktik 283f., 287 Filmtheorie 321 Flucht 121, 125–127, 133, 222, 236, 303, 318, 375, 379, 384, 387 Funktionsmodell 21, 37, 75, 260f. Gattung 15, 26, 86, 192, 292, 362, 377 Gedächtnistheorie 24 Gefährdung 11, 14, 78, 276, 368

424 Gegendiskurs 36–38 Generation 9–13, 31, 38f., 56, 68, 72, 93, 103f., 114, 136, 143f., 175, 181, 206, 269, 298, 369, 394 Genre 22, 49f., 90, 124, 132, 197f., 205, 292, 294, 300 Gentechnik 12, 17, 158f., 163f., 166f., 169, 172f., 360 Gerechtigkeit 22, 38f., 41, 45f., 72f., 104, 114, 122, 202, 292, 304f., 381, 413f. Germanistik 144, 259, 279f., 409, 411f., 414–416 Gestaltungskompetenz 13, 41, 357 Gewalt 25, 60, 64f., 103, 113, 237, 248, 296, 382f., 386, 396 global 11, 15, 22, 35, 38f., 84–89, 93, 95f., 117, 157–159, 182, 269, 271, 291–295, 299–306, 358, 360f., 412f. Handlungselement 29, 168, 278 Hermeneutik 17f., 154, 166 Hybris 120, 131, 153, 172 Ideal 23, 56, 150, 153, 157, 163, 179–181, 187, 209f., 229, 233, 348, 363 Identifikationspotential 13f., 29, 31, 134 Ideologie 94, 105, 144, 187, 220, 222f., 366, 401, 415 Idol 18, 175, 179–181, 183, 185f., 191 Idylle 106, 110, 151, 264, 296, 369 Imagination 74, 152, 155, 205, 209, 246, 259f., 262, 284, 311 Interdisziplinarität 204, 212 Jagd 151, 298, 379, 385–387 Jugendliteratur 13, 49, 51, 68, 168, 409, 412 Katastrophe 16, 50, 52–55, 57f., 63f., 66, 68, 90f., 101–105, 108–111, 114f., 117–135, 385 Kategorie 12, 16, 21, 74, 122, 136, 201, 205, 275f., 286f., 311, 321, 347, 349, 380, 386 Katharsis 16, 114

Sachregister

Kinderbuchklassiker 25f., 375 Kinder- und Jugendliteratur / KJL 26, 50, 393–397, 401, 409, 411–415 Klassik 119, 394f. Klimawandel 11, 35, 79f., 84, 86f., 89f., 120, 122, 173, 304, 358–360, 393, 412 Klonen 17, 163f., 167–173, 411 Kohärenz 402 Kompetenz 10, 13, 21f., 136, 154, 159, 164, 192f., 295f., 304, 306, 376f., 403f. Konstruktion 45, 96, 119, 135, 165, 210, 277, 361, 380, 383, 402, 405, 415 Konzeption 22, 182, 210, 276, 280, 293, 305, 397 Körper 12, 16, 18f., 75, 109, 111, 141, 143, 145, 153, 156, 159, 177, 181–187, 198, 205, 212, 257, 320, 328, 343, 351, 358, 412 Krankheit 62, 64f., 67, 351, 398 Kritik 33, 49, 72, 80f., 87, 95, 112, 125, 131f., 158, 170f., 178, 198, 200f., 207, 212, 219, 221, 228, 232, 238, 302, 360f., 363f., 376, 383 Kulturökologie 11, 26, 50, 84, 143f., 154, 157, 256, 260f., 319, 358f., 375, 393, 395, 409, 411–414, 416 Kulturwissenschaft 15, 84f., 259, 262, 291, 346, 360, 393, 410 Kunstwerk 65, 101, 160, 192, 347f., 399 Landschaft 12, 19, 30, 34f., 92, 94, 106, 134, 155, 217, 229, 248–250, 254–256, 266, 276, 280, 295, 302, 311f., 319, 337, 350, 363f., 368f., 416 Legitimationskrise 9 Lernen 10, 12, 16, 20–23, 29, 53, 65, 76, 91, 103, 105, 113, 131, 133, 135, 144, 146, 157, 159f., 180, 262f., 267–269, 272, 279f., 283, 287, 293, 304–306, 325, 387, 393, 404f., 410, 412, 415 Lernprozess 23, 118, 123, 133, 135, 204, 271f., 380 Liebe 30, 44, 55, 57, 61f., 65f., 95, 109, 148f., 151f., 210f., 221, 228, 263, 335, 367, 409

Sachregister

Literaturdidaktik 9–12, 16, 20–22, 26, 44, 65, 67f., 71, 135, 143f., 154, 159, 193, 255, 257, 259, 262f., 267f., 272, 309, 319, 357, 370, 409, 411–416 Literaturtheorie 20, 260, 262, 413 Literaturwissenschaft 24, 36, 71, 144, 159, 229, 247, 254, 259, 262, 272, 275, 291f., 309, 360, 393f., 397, 411, 413–416 Logos 189f. lokal 35, 91, 96, 178, 291, 293, 295, 299, 301 Lyrik 65, 220, 264, 362 Märchen 35, 108, 225–227, 229, 234, 313, 400, 404 Matrix 179 Medienkompetenz 11 (Medienkompetenzentwicklung) Medium 88, 114, 132, 164, 172, 178, 188, 197, 295, 342, 347, 365f., 377, 384, 411 Mensch-Natur-Verhältnis 91f. Metapher 17–19, 22, 35, 163–167, 169–172, 219, 229, 232, 235, 238f., 262, 265, 298, 327, 337 Metapherntheorie 165, 167 Metaphorik 92, 95, 166, 168, 348 Mimesis 18, 177f. Mittelalter 19, 224f., 229 Muster 61, 63, 67, 118, 134, 136, 180, 206, 210, 224, 363, 388 Mythos 14, 73f., 79, 94f., 97, 181, 233, 401, 405, 409 Nachahmung 18, 175, 177, 180f., 183, 185, 187, 191 Nachhaltigkeit 13f., 20f., 25, 38f., 45, 71–74, 81, 91, 173, 263, 265, 269–271, 341, 358, 370, 403, 406 Narration 128, 342 Naturkatastrophe 16, 60, 84, 89, 101, 104, 106–108, 117, 120, 401 Nemesis 120 Netzwerk 26, 92, 130, 144, 267, 269, 410

425 Ökodiskurs 394 Ökokritik 393 Ökologie 15, 21, 24f., 35, 38, 40, 72f., 75, 78, 88, 143f., 146, 157, 259–263, 267f., 271f., 291–294, 304, 306, 319, 357, 359f., 364, 367f., 370, 377, 384, 395, 397, 415f. Ökonomie 15, 21, 24, 38, 40, 88, 346, 413 Ökothriller 15, 83f., 87–90 Ökozid 91, 94, 97 Opfer 13, 33, 45, 54, 57, 101, 105, 108, 111f., 119–122, 127, 133–135, 197, 341 Orientierung 14, 18, 155, 176f., 180f., 190, 209, 243, 259, 276, 287, 292, 329, 346 Outdoordidaktik 21, 275, 279–287 Pflanze 23, 32, 68, 84, 92f., 222, 328, 330–332, 335f., 338, 389 Phasenmodell 145, 154, 158–160 Präsenz 22, 83, 94, 180, 311, 381 Projektion 145, 149, 224, 362, 365, 385 Prosa 220, 362, 384, 415 Rahmenhandlung 30f., 34f., 39f., 42 Raum 12, 19, 21f., 34f., 55, 59, 107, 127, 144f., 155, 176, 181, 184f., 191, 204–206, 229, 246, 259, 265, 272, 275–280, 282–287, 291, 304f., 311, 314, 320, 362, 365, 409–411, 413 Reisereportage 22, 291f. Repräsentation 26, 144, 210, 249, 347, 410 Resignation 45 Resonanz 22f., 83, 91, 312, 322, 357, 359, 361 Ressource 32, 43, 46, 58, 72, 74, 86f., 89, 91f., 96f., 198, 253, 266, 292, 302, 362f. Rettung 16, 19, 89f., 105, 110, 122, 125, 130, 133, 411 Revolution 89, 94, 106, 167, 264, 350, 367, 395 Rezeption 31, 44, 84, 128, 157, 176, 221, 280, 285, 345, 375f. Romantik 94, 220f., 224, 228–231, 233, 235, 237f., 265, 362, 395

426 Schema 154, 402 Schuld 297, 302 Science Fiction 18, 84, 90, 197–199, 204f., 212, 396, 409, 413 Seele 19, 21, 93, 134, 154, 224, 229–233, 235, 263–268, 351, 362 Selbstreflexion 188f., 306 Skizze 284, 295, 317 Spannung 88, 112, 231f., 239, 244, 399 Sprachlichkeit 20, 24 Sprachspiel 36 Standard 9, 17, 104, 193 Stimmung 22, 44, 244, 278f., 286f., 309, 313f., 316, 318, 321 Störfall 119f., 125f. Suffizienz 14, 80 Symbol 66, 152, 222, 227, 229, 232f., 239, 334, 337 Symbolbildung 16 (Symbolbildungsstragien) Synästhesie 22, 310f. Systemtheorie 243f. Technik 17, 58, 67, 80, 85, 91, 94, 120, 136, 145, 164, 168, 171f., 198, 200, 204, 245, 337, 350, 395, 397f. Technikkatastrophe 117, 120, 122 Teenager 32 Tier 22f., 25, 32, 38, 44, 84, 145, 151–153, 155, 295, 297–299, 330–332, 334, 336, 338, 345f., 375f., 379–386, 388f., 395, 398, 400–402, 405, 413, 415 Tierethik 173 Tiergeschichte 25, 376–379, 389 Totalitarismus 58f. Tourismus 56, 298, 301, 363

Sachregister

Typ / Typus

17, 90, 95, 150, 180

Umweltbildung 17, 163f., 305, 357 Umweltliteratur 83, 90 Umweltverschmutzung 40, 173 UNESCO 143, 376 Unglück 106, 110, 113, 119, 127f. Unterrichtseinheit 11, 18, 43, 178, 185, 192, 314 Unterrichtspraxis 12 Utopie 14, 25, 50, 71, 75, 78, 83f., 87, 90f., 93f., 96f., 106f., 145, 179, 181, 209, 229, 232, 367, 389, 409 Vermittlung 10f., 13, 20, 41, 73, 75, 80, 88, 94, 118, 154, 244, 262, 275, 279f., 283, 285–287, 306, 327, 357, 377 Volksmärchen 19, 225, 227 Wahrnehmbarkeit 244, 255 Wald 19, 78, 219–239, 247f., 298, 310, 312, 364, 375, 377, 380–389, 416 Warnfunktion 13f., 84, 361 Wildnis 60, 67, 151, 299, 327 Windpark 25 Wissenschaft 145, 156, 159, 164f., 171, 192, 197, 203, 222, 264, 279, 281, 292f., 345f., 359, 362, 364, 413 Zeitebene 110, 126, 133 Zivilisation 19, 59, 74, 91, 111f., 208, 222, 224, 234, 236, 267, 379, 385, 387, 395, 400 Zwang 130, 185, 211