Kultur und Ästhetik in der kulturellen Moderne: Zur epochemachenden Bedeutung von Ästhetik und Philosophie, Kunst und Architektur im 20. Jahrhundert 9783495997819, 9783495997802


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Einleitung Kunst und Ästhetik – Von der Neuzeit bis zur Postmoderne
1. Die Kunst der Neuzeit
2. Differenzierung und Autonomie: die Moderne
3. Entdifferenzierung und Öffentlichkeit: die Postmoderne
Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst
1. Die Ontologisierung des Schönen und die Verbannung der Kunst
2. Die neuplatonische Metaphysik des Schönen und die Rehabilitierung der Kunst
3. Die Subjektivierung des Schönen und das ästhetische Geschmacksurteil
4. Die Historisierung des Schönen und die Philosophie der Kunst
5. Die Umkehrung des Platonismus und die Aporie des schönen Scheins
6. Die Überwindung der Ästhetik und die Entbergung der Wahrheit
7. Die Rehabilitierung des Naturschönen und der utopische Gehalt der Kunst
8. Die Krise der Ästhetik des Schönen und das Erhabene in der Kunst
9. Das Ende der Kunst und die Kunst nach dem Ende der Kunst
10. Zusammenfassung
Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen
1. Die philosophischen Grundlagen
2. Von der E-Kultur zur U-Kultur
3. Die Musik der modernen Kultur
4. Die Literatur der modernen Kultur
5. Die Malerei der modernen Kultur
6. Die Architektur der modernen Kultur
7. Das Produktdesign der modernen Kultur
8. Das Kommunikationsdesign der modernen Kultur
9. Fazit und Ausblick
Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne im 20. Jahrhundert
1. Die Bestimmung der Begriffe Moderne und Postmoderne
2. Einheit und Vielheit in der Moderne
3. Pluralismus in der Postmoderne
4. Woher nimmt die Kritik ihr Maß?
5. Anmerkung zur unterscheidenden Kritik
6. Postmoderne in der Philosophie
7. Postmoderne in der Kultur
8. Die ethische Frage der Postmoderne
9. Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne
Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts
1. Einleitung
2. Das abbildende Bild
3. Das Bild als Farbe
4. Das abstrahierende Bild
5. Das abstrakte Bild I
6. Das abstrakte Bild II
7. Das refiktionalisierte Bild
8. Das bewegte Bild
Kapitel 5 Das Erhabene in der Kunst und seine ästhetische Überwindung
1. Das Erhabene in der romantischen Kunst
2. Das Erhabene und die abstrakte Kunst der Moderne des 20. Jahrhunderts
3. Die Rehabilitation des Schönen in der Postmoderne
Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?
1. Architekturgeschichte und Architekturtheorie
2. Zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts
3. Ansätze einer philosophisch orientierten Architekturgeschichte
4. Hegel als Kunst- und Architekturhistoriker
5. Zur Konzeption einer lebensweltlich orientierten Architekturtheorie
Kapitel 7 Die Entwicklung der Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne
1. Die Vorgeschichte der Moderne in der Philosophie
1.1 Der erkenntnistheoretische Rationalismus von Descartes
1.1.1 Exkurs zur geschichtlichen Perspektive
1.2 Der erkenntnistheoretische Empirismus von Locke
1.3 Der erkenntnistheoretische Rationalismus von Leibniz
2. Kant, Hegel, Husserl – Die Gründer der Moderne in der Philosophie
2.1 Der transzendentale Kritizismus von Kant
2.2 Der absolute Idealismus von Hegel
2.3 Die transzendentale Phänomenologie von Husserl
3. Die modernen Kritiker der philosophischen Moderne
4. Die Debatte Moderne versus Postmoderne
Kapitel 8 Die kulturelle Moderne – Der Nexus von Einheit und Vielheit
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Kultur und Ästhetik in der kulturellen Moderne: Zur epochemachenden Bedeutung von Ästhetik und Philosophie, Kunst und Architektur im 20. Jahrhundert
 9783495997819, 9783495997802

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Hans Friesen

Kultur und Ästhetik in der kulturellen Moderne Zur epochemachenden Bedeutung von Ästhetik und Philosophie, Kunst und Architektur im 20. Jahrhundert

https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

Hans Friesen

Kultur und Ästhetik in der kulturellen Moderne Zur epochemachenden Bedeutung von Ästhetik und Philosophie, Kunst und Architektur im 20. Jahrhundert

https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-495-99780-2 (Print) ISBN 978-3-495-99781-9 (ePDF)

1. Auflage 2023 © Verlag Karl Alber – ein Verlag in der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, Baden-Baden 2023. Gesamtverantwortung für Druck und Herstellung bei der Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei). Printed on acid-free paper. Besuchen Sie uns im Internet verlag-alber.de https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

Inhaltsverzeichnis

Einleitung Kunst und Ästhetik – Von der Neuzeit bis zur Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Die ästhetische Vorgeschichte als Voraussetzung der kulturellen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

Ein allgemeiner Überblick über die verschiedenen Tendenzen im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

67

Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . .

129

Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

Der Wandel der Bildfunktion von der Moderne über die Postmoderne bis zur Zweiten Moderne . . . . . . . . . . . . .

145

Kapitel 5 Das Erhabene in der Kunst und seine ästhetische Überwindung

Von der reflexiven Geisteskunst in der Moderne zur neuen Sinnlichkeit in der Postmoderne . . . . . . . . . . . . . . . .

169

5 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Das Verhältnis von »Baukunst und Zeitwille« in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . .

193

Kapitel 7 Die Entwicklung der Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . .

239

Kapitel 8 Die kulturelle Moderne – Der Nexus von Einheit und Vielheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

265

6 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

Einleitung Kunst und Ästhetik – Von der Neuzeit bis zur Postmoderne

1. Die Kunst der Neuzeit Die Kunst der Neuzeit ist aus einer radikalen Veränderung des künst­ lerischen Selbstverständnisses hervorgegangen. Im Mittelalter und in der Antike stand die Kunst im Dienste einer übersinnlichen Ord­ nung; ihre Aufgabe war es, die kosmische oder göttliche Hierarchie widerzuspiegeln. Im Kunstwerk drückte sich nicht das Genie eines Künstlers aus, sondern vielmehr die göttliche Wirklichkeit, die jener als bescheidener Rhapsode erfasste.1 Die neuzeitlichen Vorstellungen über Schönheit, Kunst und Künstler haben sich grundsätzlich verän­ dert. Während im Mittelalter alles in Gott seinen Ursprung und durch ihn seine Bedeutung hatte, erhält in der Neuzeit der Mensch, der sich auf seine Erfahrung und sein Denken beruft, den Vorrang. Das Kunstwerk spiegelte nicht mehr in erster Linie die übersinnliche Wirklichkeit wider, sondern ist zum charakteristischen Ausdruck der Persönlichkeit des Künstlers geworden. Diese radikale Veränderung in der Auffassung des Künstlers trug den Keim der Entstehung der Avantgarde der Moderne in sich. Niemandem käme es in den Sinn, den Namen des Künstlers des Kuros von Tenea in der Münchener Glyptothek zu erfragen; hinsichtlich moderner Kunst scheint es bis­ weilen wichtiger zu sein, den Namen des Künstlers und einiges aus seinem Leben zu kennen als ein Wissen über das Werk zu haben. Der Künstler, der in der Antike und im Mittelalter ein »Mittler« zwischen Mensch und Gott war, ist von der neuzeitlichen Moderne über die Aufklärung bis zur Moderne des 20. Jahrhunderts zum »Genie« geworden, das alle Quellen seiner Inspiration in sich selbst, d.h. in der musterhaften Originalität im Gebrauch seiner Erkenntnis­ 1 Vgl. Platon, Ion, in: Sämtliche Werke 1, übersetzt v. Schleiermacher, Hamburg 1985, S. 102f.

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Einleitung Kunst und Ästhetik – Von der Neuzeit bis zur Postmoderne

kräfte, zu finden vermag.2 Das Schöne kann nicht mehr entdeckt werden; es ist nicht schon in der übersinnlichen Welt als der Glanz der Urwirklichkeit vorhanden, sondern muss regelrecht erfunden werden. Man könnte hier von einer kopernikanischen Wende in der Ästhetik sprechen. Allerdings verläuft die Entwicklung der Moderne nicht einheitlich. In der Avantgarde-Bewegung der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gibt es sowohl eine Rückbindung an die antike Auffassung einer zeitlosen Schönheit als auch eine Übernahme der Wertvorstellungen der modernen Zivilisation und des technischen Fortschritts. Aber auch in der Rückbesinnung auf die antike Auffas­ sung einer Nachahmung der Natur konnte der Autonomieanspruch der Moderne aufrechterhalten werden, dann nämlich, wenn zwischen der Schöpfung in der Natur und der Schöpfung in der Kunst eine Analogie behauptet wurde. An die Stelle der abbildenden Kunst, die nach der Natur arbeitet, trat die bild-erzeugende Kunst, die wie die Natur hervorbringt. Hans Arp sagte das stellvertretend für viele moderne Künstler so: »Wir wollen nicht die Natur nachahmen. Wir wollen nicht abbilden, wir wollen bilden. Wir wollen bilden, wie die Pflanze ihre Frucht bildet, und nicht abbilden. Wir wollen unmittelbar und nicht mittelbar bilden.«3 Der Künstler verabschiedet sich hier von einer Tradition, in der es um eine Abbildung vorgegebener Bilder der Welt ging. Die bildnerische Darstellung stand nicht mehr im Dienste der Repräsentation, der Wiedergabe des Sichtbaren, sondern wurde vielmehr als autonome, sichtbar machende Schöpfung aufgewertet. Der Künstler war damit von seiner Tradition gänzlich abgetrennt und auf sich selbst zurückgeworfen. Als neue Möglichkeit eröffnete sich ihm nun, seine eigenen inneren Visionen in eine äußere zweioder dreidimensionale Form zu bringen. In anderen Kulturen, der fernöstlichen oder der afrikanischen beispielsweise, ist ein derart gesteigertes Interesse am Individuellen4 nicht entwickelt worden; hier ist die Kunst lediglich als Ausdruck kollektiver oder göttlicher Erfahrung entstanden, niemals aber als Objektivierung individueller bildnerischer Sensibilität, wie in den verschiedenen Avantgarden am Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa, die zu diesem Zweck den Bruch mit der Tradition und die Schaffung von zeitlos Neuem so weit wie es möglich war vorangetrieben haben. Sie sind damit auch an 2 3 4

Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg 1974, S. 160. H. Arp in: E. Trier, Bildhauertheorien im 20. Jahrhundert, Berlin 1971, S. 141. Vgl. M. Rowell (Hg.), Skulptur im 20. Jahrhundert, München 1986, S. 7–10.

8 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

2. Differenzierung und Autonomie: die Moderne

ihr Ende gekommen. Heute stellt sich deswegen für den Künstler die Frage, ob es in dem Zeitraum, der durch das Absterben der Avantgarde leer geworden ist, möglich sein kann, eine Kunst auf der Grundlage der Überwindung jeglicher Subjekt-Metaphysik zu schaffen, d.h. eine Kunst des in die sinnliche Wirklichkeit des Lebens eingebundenen Geistes.

2. Differenzierung und Autonomie: die Moderne Subjektivierung des Künstlers heißt Autonomisierung der Kunst, heißt, dass der private wie der öffentliche Raum der Moderne (der Innenraum wie der Außenraum), ganz im Gegensatz zur Prämoderne, mit allein vom Künstler zu verantwortenden Werken bestückt wer­ den konnte. In vormodernen Zeiten ist die Kunst sowohl durch die öffentliche Meinung als auch durch die Macht in Kirche und Staat mit­ gestaltet worden. Neben der Kunst, die nach wie vor fremdbestimmt war, gab es seit der Renaissance eine, die allein aus sich selbst heraus ihre Werke hervorbrachte. Dieses widersprüchliche Nebeneinander von fremdbestimmter und selbstbestimmter Kunst konnte auch in einer Künstlerpersönlichkeit auftreten, wie beispielsweise in der von Goya, der als zeitkritischer Maler und gleichzeitig als Hofmaler des spanischen Königs tätig war. Dagegen hat die Kunst der Moderne alle Beziehungen zu außerkünstlerischen Instanzen aufgekündigt und ihre Werke nur noch einem »selbstbestimmten, kunstimmanenten Wertmaßstab«5 ausgesetzt. In der Moderne wird der Kunst als einer der Sphären der ausdifferenzierten Vernunft ein eigenständiger Platz neben der Wissenschaft und der Moral zugewiesen: »Max Weber hat die kulturelle Moderne dadurch charakterisiert, daß die in reli­ giösen und metaphysischen Weltbildern ausgedrückte substantielle Vernunft in drei Momente auseinandertritt, die nur noch formal (durch die Form argumentativer Begründung) zusammengehalten werden. Indem die Weltbilder zerfallen und die überlieferten Pro­ bleme unter den spezifischen Gesichtspunkten der Wahrheit, der nor­ mativen Richtigkeit, der Authentizität oder Schönheit aufgespalten, jeweils als Erkenntnis-, als Gerechtigkeits-, als Geschmacksfragen 5 Vgl. M. Warnke, Kunst unter Verweigerungspflicht, in: V. Plagemann (Hg.), Kunst im öffentlichen Raum, Köln 1989, S. 225.

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Einleitung Kunst und Ästhetik – Von der Neuzeit bis zur Postmoderne

behandelt werden können, kommt es in der Neuzeit zu einer Aus­ differenzierung der Wertsphären Wissenschaft, Moral und Kunst.«6 Diese Ausdifferenzierung wird von dem Philosophen Jürgen Haber­ mas als historischer Fortschritt begriffen. Sie befreit die Kunst aus ihren traditionellen höfischen, kirchlichen und ständischen Funkti­ onszusammenhängen und leitet eine Entwicklung ein, die als Prozess zunehmender Autonomisierung beschrieben werden kann. Die Kunst der Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist völlig auf sich selbst gestellt: »Ihre Inhalte fügen sich in das, was täglich beschäftigt, nicht mehr ein, weil sie sich in einer metaphysischen Volte selbst zum Thema gemacht hat.«7 Von der Renaissance bis zur Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte die Kunst sich von außerkünstlerischen Zwecken immer mehr freihalten und gehorchte schließlich nur noch – um es in Kants berühmten Worten zu sagen – einer Zweckmäßigkeit ohne Zweck, d.h. einer Zweckmäßigkeit, die darin besteht, die Möglichkeit der eigengesetz­ lichen Entwicklung zu ergreifen, um dadurch einer Antwort auf die Frage Was ist Kunst? näher zu kommen.8 Gänzlich abgetrennt davon organisierte sich das gesellschaftliche Leben in rational und zweckmäßig geregelten wirtschaftlichen und administrativen Hand­ lungsbereichen. Es versteht sich von selbst, dass mit der eigensinnigen Entwicklung der Kunst ihre gesellschaftliche Relevanz verloren ging, denn einen gesellschaftlichen Anspruch kann die Kunst nur erheben, wenn sie in die anderen Bereiche eingreift. Aber die Kunst der Moderne hat alle Beziehungen zu außerkünstlerischen Bereichen aufgekündigt und ihre Werke nur noch einem »selbstbestimmten, kunstimmanenten Wertmaßstab« ausgesetzt. Auch innerhalb der Kunst gab es eine Ausdifferenzierung. Als Ludwig Mies von der Rohe 1929 im Innenhof seines berühmten Barcelona-Pavillons eine Statue von Georg Kolbe aufstellte, war für beide klar, dass die Plastik nicht ein Dekorationselement für die Architektur sein kann, sondern gegenüber dem Bauwerk als ein eigenständiges Bildwerk betrachtet werden muss. Diese Emanzipation der Plastik von der Architektur kann auf Adolf Loos zurückgeführt werden, der dem Ornament den Kampf angesagt hatte. Infolge dieser Entwicklung hat die Architektur 6 J. Habermas, Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, Weinheim 1988, S. 183. 7 St. Schmidt-Wulffen, »En passant«, in: Jenisch-Park. Skulptur, Katalog hrsg. v. d. Kulturbehörde Hamburg, Hamburg 1986, nicht paginiert. 8 Vgl. J.-F. Lyotard, Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 38.

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3. Entdifferenzierung und Öffentlichkeit: die Postmoderne

auf die skulpturale Schmückung ihrer Werke verzichtet. Die Plastik, die einmal öffentliche Kunst war, wurde zur musealen Kunst. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde diese Entwicklung beklagt, und jüngere, postmoderne Künstler dachten wieder darüber nach, wie die Plastik in die Architektur wiedereingegliedert, aber auch, wie sie im öffentlichen Raum aufgestellt werden könnte.

3. Entdifferenzierung und Öffentlichkeit: die Postmoderne In der Postmoderne der 1980er Jahre hat die Kunst den Weg einer Entdifferenzierung der ausdifferenzierten Sphären eingeschlagen. Die Werke durchbrachen die ästhetische Immanenz der AvantgardeKunst und stellten Bezüge mit außerästhetischen Bereichen her, was eine lebenspraktisch folgenreiche Rezeptionshaltung hervorbrachte. Nach dem Ende der Avantgarden ließ sich nämlich eine neue Haltung des Künstlers erkennen, eine Haltung, die den Anspruch auf Auto­ nomie nicht mehr um jeden Preis erhob, sondern für ein neues Ver­ hältnis mit außerkünstlerischen Bereichen sich öffnete. Eine solche Haltung hat sich beispielsweise in der Werkentwicklung von Joseph Beuys herausgebildet. Eine Kunst, die über den Bereich des bloß Ästhetischen hinausging und im öffentlichen Raum als »geistiger Impulsgeber« fungieren wollte, und ein öffentlicher Raum, der nicht nur als »Stellmöglichkeit« für autonome Werke verstanden wurde, sondern als das »maßgebende Forum«9 der Fortentwicklung der Kunst nach dem Ende der Avantgarden, gaben ein neues Modell, das für Kunst im öffentlichen Raum signifikante Grenzüberschreitun­ gen erwirken konnte. Als Beispiel einer solchen öffentlichen Kunst wäre das Projekt der Hamburger Spülfelder zu nennen, in dem es Beuys darum ging, die durch Menschenhand geschundene Natur ästhetisch zu rehabilitieren. Eine solche Kunst will mehr als einen flüchtigen optischen Reiz auslösen, nämlich in die Lebenswirklichkeit der Menschen eindringen, um so die Verborgenheit des Seienden in die Unverborgenheit zu setzen und dadurch in eine neue und wesentliche Welt aufbrechen zu können – um es mit Heidegger zu formulieren. Denn Kunst ist ein Anliegen, das den Menschen 9 Vgl. U. M. Schneede, Joseph Beuys’ »Gesamtkunstwerk Freie und Hansestadt Ham­ burg«, in: V. Plagemann (Hg.), Kunst im öffentlichen Raum, Köln 1989, S. 203.

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Einleitung Kunst und Ästhetik – Von der Neuzeit bis zur Postmoderne

in seinem Wesen angeht. Aber das bedeutsamste Kriterium solcher Kunst, nämlich exemplarisch und musterbildend zu sein, ist bei den Auftraggebern für Kunst im öffentlichen Raum häufig unerwünscht. Bei dem, was heute im öffentlichen Raum herumsteht, handelt es sich deswegen auch allzu oft um leicht zugängliche, oder aber um längst legitime autonome Werke, die qua Voraussetzung nicht geeignet sind, das »Paradoxon ihrer Isolation inmitten der Sichtbarkeit«10 aufzuheben, insofern das Absterben des öffentlichen Raums sogar noch begünstigen. Es bleibt also zu empfehlen, den öffentlichen Raum in Zukunft mit Kunstwerken einzurichten, die ein Verweilen des Menschen befördern, ein Verweilen des Menschen in einer aus dem Gewöhnlichen herausspringenden Offenheit. Heidegger hat das als ein Verweilen in der im Werk geschehenden Wahrheit beschrieben.

10 Vgl. R. Sennett, Der öffentliche Raum stirbt ab, in: Kunstforum, Bd. 81, 1985, S. 100ff.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst Die ästhetische Vorgeschichte als Voraussetzung der kulturellen Moderne

Der griechische Philosoph Platon hatte das Schöne für unsterblich erklärt. Der Aufstieg zur Schönheit versprach ihm zufolge Teilhabe an der Unsterblichkeit. Heute jedoch hat das Schöne diesen metaphysi­ schen Rang der Unsterblichkeit eingebüßt. Doch warum musste das unsterblich Schöne im 20. Jahrhundert sterben? Was sind die Gründe für dieses Schicksal? Gibt es eine innere Zersetzungsmacht in der Idee des Schönen selbst? Oder einen inneren Auflösungsprozess in der Geschichte des Schönen? Oder ist das Schöne durch äußere Mächte (des Bösen, des Hässlichen) gestürzt worden? Wie konnte es zum ästhetischen Immoralismus des 19. und 20. Jahrhunderts kommen? Und schließlich: Wie kam es zur Rehabilitation des Erhabenen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Die Beantwortung dieser Fragen erfordert eine Rekonstruktion der Geschichte des Schönen. Ich werde im Folgenden die wichtigsten Stationen dieser Geschichte der Ästhe­ tik nachzeichnen. Vom methodischen Ansatz her gesehen werde ich die Geschichte des Schönen als Wechsel-Geschichte zwischen Metaphysik und Ästhetik beschreiben. Der systematische Gesichts­ punkt des methodischen Ansatzes besteht dabei in dem Versuch, die metaphysischen und ästhetischen Theorien der Schönheit in die Geschichte des Schönen einzuordnen. Die Geschichte des Begriffs der Schönheit fällt nicht mit der Geschichte der philosophischen Disziplin der Ästhetik zusammen.11 Als selbstständige Wissenschaft wurde die Ästhetik durch den WolffSchüler Alexander Gottlieb Baumgarten entwickelt. Mit der Ästhetik wollte er das wolffsche »System« um eine neue, streng rational

Vgl. P. O. Kristeller, Das moderne System der Künste, in: ders., Humanismus und Renaissance II, München o. J., S. 164 ff.

11

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

aufgebaute Disziplin ergänzen. Diese neue Disziplin der Ästhetik, die von Baumgarten hierarchisch noch unterhalb der Logik verortet wird, begründet er als Theorie der Vervollkommnung der sinnlichen Erkenntnis.12 Obwohl die Ästhetik sich zunächst nicht mit der bilden­ den Kunst an sich beschäftigt, sondern vielmehr mit ihren Prinzipien und ihrer Theorie, gibt es umgehend eine enge Verbindung, die die neue Disziplin mit den einzelnen Künsten, insbesondere der Dicht­ kunst, eingeht; dies unterscheidet die Ästhetik allerdings von der tra­ ditionellen Philosophie des Schönen, die bis in die Antike zurückreicht und mit Kunst und Sinnlichkeit wenig gemein hatte. Philosophie des Schönen bei Platon beispielsweise, aber auch bei Plotin, Augustinus und Thomas, ist nicht ›Ästhetik‹, sondern ›Metaphysik‹. Dennoch wird der Begriff der Schönheit, allerdings entbunden von seinen traditionellen metaphysischen Zusammenhängen, der Hauptbegriff der Disziplin der Ästhetik von Baumgarten über Kant und Schelling bis Hegel, und die Ästhetik wird vorübergehend zur wichtigsten Disziplin der Philosophie erklärt. Mit dem endgültigen Verfall der großen idealistischen Systeme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist der Begriff des Schönen schließlich wieder aus dem Zentrum des philosophischen Diskurses gerückt worden. Suspendiert worden ist der Begriff somit nicht erst durch die ›nicht mehr schönen‹ Künste in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Nach Hegel arbeiten Rosenkranz, Baudelaire und Nietzsche an einer Ästhetik des Hässlichen, die auch den Schönheits­ begriff nicht unberührt lässt. Diese Vorgeschichte läuft allmählich auf die nicht mehr schöne Kunst eines Beckmann oder Dix hinaus. Die Begriffsgeschichte des Schönen, die mit der Konstitution der Ästhetik als philosophische Disziplin gegen Mitte des 18. Jahrhun­ derts ihren Höhepunkt und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits den Anfang ihres Verfalls erlebt, nimmt von der platonischen Philosophie ihren Ausgang – in jenem frühen platonischen Dialog, in dem Sokrates mit dem Sophisten Hippias darüber streitet, »was das Schöne ist« (Hippias I, 287 e).13 Mit dieser Fragestellung zwingt Sokrates seinen im Relativismus stehenden und eine ästhetische 12 Vgl. A. G. Baumgarten, Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte der »Aesthetica« (1750/58), hrsg. v. H. R. Schweitzer, Hamburg 1988, § 14: »Das Ziel der Ästhetik ist die Vollkommenheit (Vervollkommnung) der sinnlichen Erkenntnis als solcher. Damit aber ist die Schönheit gemeint.« 13 Ich zitiere nach Platon, Sämtliche Werke, übersetzt v. Schleiermacher, Ham­ burg 1957.

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1. Die Ontologisierung des Schönen und die Verbannung der Kunst

Auffassung des Schönen vertretenden Gesprächspartner von vornhe­ rein in eine metaphysische Richtung, denn er will nicht wissen, was von irgendwem zu irgendeinem Zeitpunkt »schön« genannt worden ist, sondern fragt nach dem allgemeinen Wesen des Schönen oder nach dem Schönen »an und für sich«. Wer demnach nicht weiß, »was das Schöne selbst ist«, hält Schönes völlig grundlos für schön. Doch der frühe Dialog Hippias endet selbst »aporetisch«, d. h., eine zufrie­ denstellende Antwort auf die Frage nach dem Schönen ist nicht gefun­ den worden. Erst in seinen mittleren Dialogen (Symposion, Phaidon, Phaidros) bestimmt Platon das Schöne als »Idee«, die zwar selbst nicht sinnlich ist, aber alles sinnlich existierende Schöne an ihrem Glanz teilhaben lässt. Durch diese metaphysische Bestimmung konnte das Schöne dem Bereich der Beliebigkeit entzogen werden. Gegen den Relativismus, der seit der Sophistik immer wieder vertreten worden ist, haben Platon und seine Nachfolger stets versucht, die absolute Geltung des Schönen nachzuweisen. Hegels Vorlesungen über die Ästhetik in den 1820er Jahren in Berlin, die das Schöne der Kunst behandeln, repräsentieren den nicht mehr zu überbietenden Abschluss dieser Entwicklung. Allerdings lässt sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit der Philosophie Nietzsches eine wir­ kungsmächtige Gegenströmung ausmachen, die schließlich bewirkte, dass alle Positionen, die von obersten normgebenden Instanzen, hei­ ßen diese nun Idee oder Weltgeist, ausgehen, heute mehr oder weni­ ger obsolet erscheinen. Dennoch ist das letzte Wort in dieser Sache noch nicht gesprochen. Zumindest mit Lyotards ästhetischer Theorie ist eine gewisse Rehabilitation der Ontologie in der Kunst zu ver­ zeichnen.

1. Die Ontologisierung des Schönen und die Verbannung der Kunst Es gibt kaum einen Dialog Platons, in dem der Versuch einer Defini­ tion des Schönen so zentral behandelt wird, wie im Hippias maior, obwohl der Dialog aporetisch endet. Die Untersuchung der Frage, was denn das Schöne ist, erfolgt in sechs Anläufen. Zu Beginn des Dialogs möchte Sokrates von Hippias wissen, was das »Schöne selbst« (Hippias I, 286 d) ist, d. h. er fragt nach dem Schönen, welches »durch das Schöne schön« (287 c) ist. Hippias, der nach seinen eigenen

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Worten zwischen dem, was schön ist, und dem, was das Schöne ist, nicht trennen kann, antwortet: »Nämlich wisse nur, Sokrates, wenn ich es dir recht sagen soll, ein schönes Mädchen ist schön« (287 e). Mit dieser Antwort gibt sich Sokrates aber nicht zufrieden, denn mit einer schönen Göttin verglichen, wird auch das schönste Mädchen hässlich sein. Sokrates wiederholt noch einmal, dass er nach »dem Schönen selbst« gefragt habe, »wodurch auch alles Übrige geschmückt wird und schön erscheint« (289 d). Wenn Hippias hierauf erklärt, das, wodurch alles geschmückt werde, sei nichts anderes als das Gold, muss Sokrates erneut widersprechen, denn Gold sei nur dort schön, wo es passend sei – ein Rührlöffel aus Feigenholz sei viel schöner und passender als ein goldener. Nun scheint Hippias zu verstehen, wonach Sokrates eigentlich gefragt hat: »Du dünkst mich darauf auszugehen, ein solches Schönes zu antworten, was niemals irgendwo irgend jemandem häßlich erscheinen kann. [...] Ich sage also, daß es immer für jeden und überall das schönste ist, wenn ein Mann, reich, gesund, geehrt unter den Hellenen, in einem hohen Alter und nachdem er seine verstorbenen Eltern ansehnlich bestattet, selbst wiederum von seinen Kindern schön und prachtvoll begraben wird« (291 d–e). Mit einem abermaligen Hinweis auf die eigentliche Frage (»nach der Schönheit selbst frage ich dich«, 292 d) ist auch diese Antwort erledigt, denn das Genannte treffe nicht auf Götter und Heroen zu. Nach dem dreifachen Scheitern des Hippias greift Sokrates nun auf einen schon geäußerten Gedanken zurück: »Das Schöne ist das Passende, Schickliche.« Da Hippias auf die Frage, ob das Schickliche die Dinge schön sein oder scheinen lasse, für »schön scheinen« plädiert, ist die Definition abzuweisen. Auch der zweite Versuch (»das Schöne ist das Brauchbare«) überzeugt nicht, denn sei das Schöne das zum Guten Brauchbare, das Nützliche, also dasjenige, das Gutes hervorbringe, so müsste das Schöne Ursache des Guten sein. Ursache und Resultat sind aber stets voneinander verschieden. Ist aber das Schöne nicht gut, und das Gute nicht schön? Das kann man Sokrates zufolge sicherlich nicht bestreiten. Damit muss diese Antwort zurückgewiesen werden. Auch der nun folgende letzte Ver­ such scheitert. Sokrates fragt, ob das Schöne das durch Gesichts- und Hörsinn vermittelte Angenehme sein könnte. Da nach der Definition diese beiden Sinne nur in ihrem Zusammenwirken das Schöne liefern können, nun aber die Vergnügungen der Augen und Ohren zu den Annehmlichkeiten gehören, die sowohl jedem der beiden Sinne für sich als auch beiden zusammen zugesprochen werden können, ist auf

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1. Die Ontologisierung des Schönen und die Verbannung der Kunst

die letzte Frage keine richtige Antwort zu geben. Sokrates beendet das Gespräch mit dem Bekenntnis, nicht zu wissen, was das Schöne sei. Der Hippias maior, der als echtes Frühwerk betrachtet werden muss, somit zu einer Zeit entstanden ist, in der die Ideenlehre noch nicht gefunden worden ist, endet aporetisch, d. h. kann die Frage nach dem Schönen nicht befriedigend beantworten.14 Die Frage nach dem Schönen kann erstmals in Platons mittlerer Schaffensperiode, in der er seine Ideenlehre entwickelt, als ontologi­ sche Frage gestellt werden. Das Schöne selbst ist eine Idee, und die Idee des Schönen ist die einzige Idee, an der die Welt des Werdens und der Vergänglichkeit unmittelbar teilnehmen kann. Die Rede der Diotima im Symposion beschreibt einen an das Unvergängliche her­ anführenden Aufstieg, der von der Liebe zum schönen menschlichen Körper (die vom Streben nach der Schönheit eines Körpers, wo die Teilhabe an der Unsterblichkeit in der Fortpflanzung besteht, bis zur Schönheit in allen Körpern schreitet) über die Liebe zur »schönen Seele« (die als Liebe zu den praktischen guten Anlagen im Menschen zum aktiven politischen Wirken für die Gemeinschaft leitet) und über die Liebe zu den schönen Wissenschaften (deren Erkenntnisse unveränderlichen Bestand haben) bis hin zur »dialektischen Wesens­ schau« führt, deren Gegenstand die Idee des Schönen selbst in ihrer »Eigenartigkeit« (Symposion, 211 e) ist. Platons Auffassung des Schö­ nen umfasst somit eine Folge von Rangstufen. Auf der niedrigsten Stufe steht das Schöne der erotischen Liebe und der ästhetischen Wahrnehmung, auf der höchsten die Idee des Schönen, die »an und für und in sich selbst ewig überall dasselbe seiend« (Symposion, 211 b) ist. Der Aufstieg zur Idee erfordert eine entschiedene Überwindung der Sinnlichkeit und Triebhaftigkeit des Schönen. Das sinnlich-erotisch Schöne ist Ausdruck des »Tierischen und Wilden« (Politeia, 571 c) und steht daher für Chaos, Maßlosigkeit und Anarchie. Das rein geistig Schöne erscheint dagegen als Ausdruck von Herrschaft, Gesetz und Ordnung. In der Sphäre des ästhetisch Schönen besteht der erste Schritt zur Überwindung des triebhaften Begehrens im Übergang zum bloßen Anschauen des schönen Körpers und in der Verlagerung der Aufmerksamkeit vom individuellen Liebesobjekt, das »jeder sich nach seiner Gemütsart wählt« (Phaidros, 252 a), zum Schönen »in allen

Vgl. P. Friedländer, Platon, Bd. II: Die Platonischen Schriften. Erste Periode, Berlin 1964, S. 97, 100, 107.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Körpern« im Sinne eines allgemeinen Formgesetzes, wie es vor allem Polyklet mit seinem Kanon künstlerisch zu realisieren versuchte. In seinem staatstheoretischen Werk Politeia hat Platon sich auch intensiv mit der Kunst auseinandergesetzt. Er untersucht hier die Tauglichkeit der Kunst zur Verbesserung der Gesellschaft in einem »idealen Staat«.15 Zu diesem Zweck lässt er den Sokrates zunächst die These aussprechen, dass das Werk der Tragödiendichter und der übrigen Darsteller der Wirklichkeit insgesamt »ein Verderb zu sein« scheint – und zwar »für die Seelen der Zuhörer« (Politeia, 595 b) –, um dann seinem Gesprächspartner Glaukon das Zustandekommen dieser These genauer zu erläutern. Eingangs macht er auf die Unzulänglich­ keit der Sprache im Allgemeinen aufmerksam, indem er darauf hin­ weist, dass die Sprache nur mittels Verallgemeinerungen funktionie­ ren kann und somit bestenfalls ein abstraktes Abbild der Wirklichkeit anbietet. Parallel dazu steht für Sokrates der Maler, den er mit einem Menschen vergleicht, der mit einem Spiegel durch die Welt läuft und behauptet, das Spiegelbild sei die Realität. Diese Skepsis gegenüber dem Maler betrifft auch noch den Handwerker. Beispielsweise fertigt der Tischler nicht den Tisch schlechthin, sondern nur eine bestimmte Möglichkeit eines Tisches unter unzähligen anderen Möglichkeiten, einen Tisch materiell herzustellen. Aufgrund dieser Vorgedanken schließt Sokrates auf eine Dreiteilung der Wirklichkeitsdarstellung: Zum Ersten das Original, der Ur-Tisch, welcher einzigartig ist und als das von Gott kreierte »Tisch-Ideal« betrachtet werden muss. Sokrates nennt Gott auch den »Wesensbildner« des Tisches. Zum Zweiten nennt Sokrates im Hinblick auf seine Dreiteilung der Wirklichkeits­ darstellung den Handwerker, den er als den »Werkbildner« bezeich­ net. Und drittens wird noch der Künstler genannt, den Sokrates als »Nachbildner« vorstellt. In genau dieser Reihenfolge nimmt nun auch der Wahrheitsgehalt der Darstellungen ab, denn die Darstellung des Werkbildners (d. h. des Handwerkers) zielt auf das Urbild, während die Darstellung des Nachbildners (d. h. des Künstlers) nur auf die Erscheinung des Urbildes, nämlich das Werkbild, bezogen ist. Die Darstellung des Künstlers vermag Sokrates zufolge nicht über das Werk hinaus auf das Original zu zielen, weil sie in der Regel keine Experten dessen sind, was sie nachbilden oder worüber sie dichten. Die Künstler sind aus diesem Grunde am weitesten von der Wahrheit Vgl. H. Seidl, Erörterungen zu Platons Kritik an der Dichtkunst, in: R. Hofmann u. a. (Hg.), Anodos. Festschrift für Helmut Kuhn, Weinheim 1989, S. 297–314.

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1. Die Ontologisierung des Schönen und die Verbannung der Kunst

entfernt, wie Sokrates behauptet. Doch er gibt sich mit dem bisher Gesagten noch nicht zufrieden. Aus scheinbarem Respekt vor dem »edlen Homeros«, dem »Anführer« aller Tragödiendichter, fühlt er sich genötigt, das bisher Gesagte an Hand weiterer Überlegungen zu überprüfen. So überlegt er, ob ein wirklich weiser und wissender Künstler sich nicht vielmehr um die Verbesserung der konkreten Welt bemühen würde, statt nur darüber zu reden bzw. zu schreiben. In diesem Zusammenhang stellt Sokrates die folgende Frage: »Lieber Homeros, wenn du denn, was Tugend anlangt, nicht der dritte von der Wahrheit abstehende Verfertiger des Schattenbildes bist, wie wir den Nachbildner bestimmt haben, sondern doch der zweite, und wirklich zu erkennen vermochtest, durch welche Bestrebungen die Menschen besser werden oder schlechter im häuslichen Leben sowohl als im öffentlichen: so sage uns doch, welche Stadt denn durch dich eine bessere Einrichtung bekommen hat, wie Lakedaimon durch den Lykurgos und so viele andere große und kleine Städte durch andere mehr?« (Politeia, 599 d). Glaukon zumindest kann diese Frage nicht beantworten. Dies nun lässt Sokrates mutmaßen, dass es mit Homer, was wirkliches Wissen über die Dinge und Geschehnisse betrifft, die er in seinen Epen beschreibt, nicht allzu weit bestellt sein kann. Platon geht es im Grunde genommen hier vor allem darum, die Dichtung, aber auch die anderen Künste von dem Mythos zu befreien, sie seien mit Wahrheit verbunden. Man darf sie rezipieren, aber Wissen und Lehren sollte man nur mit Vorbehalt daraus ziehen. Zur genaueren Fassung seiner These bringt Sokrates noch eine weitere Figur in seine Argumentationskette ein: den Gebrauchenden. Sokra­ tes führt an, dass es für jeden Gegenstand auch einen Gebrauchszweck gibt. So kann der Maler, also der Nachbildner, zwar einen Sattel malen und der Sattler, der Werkbildner, einen Sattel herstellen, aber nur der Gebrauchende, also der Reiter, hat das eigentliche Wissen darüber, ob der Sattel gut ist oder nicht. Und zuletzt kann nur er Verbesserungsvorschläge zur Optimierung des Sattels einbringen. Der Gebrauchende ist hier somit ein Wissender und der Verfertiger nur ein Meinender. Der Unwissendste von allen dreien jedoch ist der Nachbildner, er braucht weder ein Wissen noch eine richtige Meinung über die Güte oder Schlechtigkeit von dem, was er nachbildet. Nachdem sich nun gezeigt hat, dass die Kunst als Medium des Wissens stark überschätzt wird, wenn nicht sogar völlig ungeeignet ist, wendet sich Sokrates der Frage zu, welche Wirkung die Kunst auf den Rezipienten ausüben kann. Insofern prüft er die Fragen, ob sie

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

vielleicht positiv auf den Charakter bzw. die Persönlichkeit des Men­ schen einwirken könne, oder ob sie zumindest als Erziehungsinstru­ ment verwendet werden könne. Aber auch auf diesen Gebieten räumt Sokrates der Kunst keine große Bedeutung zu. Für Sokrates ist es dagegen viel wahrscheinlicher, dass die Kunst nicht auf den Verstand bzw. die Vernunft, sondern, da sie entweder visuell (Malerei) oder akustisch (Dichtung, Musik) aufgenommen wird und diese Sinne sehr täuschungsanfällig seien, in erster Linie auf die Emotionen bzw. das Unvernünftige einwirke. Außerdem führt Sokrates an, dass sich der Mensch oft wider besseres Wissen von seinen Begierden und nicht von seiner Vernunft leiten lasse. So führt die Kunst den Rezipienten nicht nur leicht in die Irre, sondern sie stärkt auch die niederen Triebe, anstatt diese auszutrocknen und daran zu arbeiten, dass die Vernunft über die Begierden und die Leidenschaften im Menschen dominieren kann. So gesehen wird die Kunst nur mit Vorbehalt in Platons »Staat« aufgenommen: Sie kann akzeptiert werden, wenn sie sich darauf beschränkt, »Gesänge an die Götter und Loblieder auf treffliche Männer« (Politeia, 607 a) hervorzubringen. Den Künsten steht Platon dementsprechend sehr misstrauisch gegenüber; sie wirken auf Triebe, Bedürfnisse und Leidenschaften, und um solcher Wirkung zu begegnen, werden ethische und noeti­ sche Angemessenheit des Schönen zu den entscheidenden Kriterien erhoben. Kunst wird stets als Nachahmung (mimesis) von etwas verstanden. Sie gibt nur bestimmte Ansichten wieder, bildet nicht nach, was ist, sondern was aus einem subjektiven Blickwinkel so erscheint. Ihre Nachahmungen sind somit unvollkommen. Während ein menschlicher Werkbildner wie der Tischler immerhin noch Abbil­ der, die sich zumindest der Intention nach auf ein Urbild beziehen, produziert, so orientiert sich der künstlerische Nachbildner lediglich an dem, was bereits ein Abbild ist; seine Kunst ist demnach am weitesten von der Wahrheit entfernt (Politeia, 598 b). Vollkommene Nachahmung ist aus platonischer Sicht eigentlich nur die Kunst des göttlichen Werkbildners (demiourgos), der allein im Besitz jenes ›idealen Urbildes‹ ist, das in der Mannigfaltigkeit der ästhetisch erscheinenden Abbilder nur getrübt zum Ausdruck kommen kann. In der Auseinandersetzung mit denjenigen, die behaupten, »die Lust bestimme den Wert der musischen Kunst« (Nomoi, 668 c), sieht sich Platon immer wieder genötigt, das Schöne mit dem Guten und Wahren gleichzusetzen. Besonders kritisch beurteilt Platon die Dich­ tung, weil sie durch die Schilderung vernunftloser Seelenzustände

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1. Die Ontologisierung des Schönen und die Verbannung der Kunst

zu gefährlicher Identifikation verleitet, sodass unter ihrem Einfluss »Lust und Unlust im Staate das Regiment führen« würden und nicht das Gesetz, das eine »vernünftige und ruhige Gemütsverfassung« verlangt (Politeia, 607 a/604 e). Im Gegensatz zu dem, was nur »in Beziehung auf etwas« (Philebos, 51 c/d) schön ist, ist die ›Harmonie‹ als universales Proportionsgesetz der beste Ausdruck von Einheit, Reinheit und Unveränderlichkeit, d. h. des »immer an und für sich« Schönen.

Frühschriften

Der große Hippias Ion

nicht was ‚schön‘ ist, sondern was ‚das Schöne‘ ist

Hauptschriften

Symposion Phaidon Phaidros Politeia

das Schöne ist Idee

Spätschriften

Timaios Gesetze Philebos

das Schöne als Maß, Zahl und Proportion

Plotin, Goethe, Hegel , Mondrian, Malewitsch

Vitruv, Alberti, Leonardo, Dürer, Le Corbusier

Schema zu den Schönheitbegriffen in Platons Werken

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

2. Die neuplatonische Metaphysik des Schönen und die Rehabilitierung der Kunst Der Versuch, aus den zerstreuten Anmerkungen Platons über das Schöne und die Kunst ein »ästhetisches System« machen zu wollen, ist, wie Alfred Baeumler herausgestellt hat, völlig hoffnungslos.16 Der erste, der systematische Abhandlungen über das Schöne geschrieben hat, ist der spätantike Philosoph Plotin, der zwar von Platon ausgeht, aber in wesentlichen Punkten doch neue Akzente setzt, womit er das Mittelalter stark beeinflussen konnte. Hegel hat in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie deutlich gemacht, dass es sich bei Plotins Denken nicht um bloße Abstraktionen, sondern um »Taten des Weltgeistes und darum des Schicksals« handelt; den Einwand der Schwärmerei weist er entschieden zurück. Am Ende des klassischen Altertums stehend ist Plotin sicherlich der bedeutendste Denker und folgenreichste Anreger gewesen. Einige Jahrhunderte nach Platons Dialogen, die »uns über die inneren Bezirke seiner Philosophie nur Andeutungen machen«, ist Plotin der »erste« Platoniker, »den wir über diese inneren Bezirke sprechen hören.«17 Unter den Schriften Plotins, die Porphyrios 30 Jahre nach Plotins Tod in einer Ausgabe veröffentlichte, entfaltete der Text Über das Schöne, der die höhere Liebe zum geistigen Schönen zum Thema hat, die breiteste Wirkung. Von Michelangelo bis Mondrian hat dieser Text vielleicht sogar einen größeren Einfluss ausgeübt als der entsprechende platonische Dialog, von dem Plotin das Thema des Aufstiegs zur geistigen Schönheit übernahm. Wie bei Platon baut sich auch für Plotin die Welt in Stufen auf. Das höchste Ziel menschlichen Lebens ist die Schau der geistigen Schönheit. Und um dieses Ziel erreichen zu können, muss der Schauende es selber werden, d. h. Schauender und Geschautes müssen eins werden. In der Philosophie Platons bildeten der gerechte Staat und die objektiven Gesetze des Handelns den Mittelpunkt; bei Plotin dagegen ist es der Einzelne, der sich der »Anschauung ewiger Gestaltung und Umgestaltung«18 hingibt. Nicht die Praxis der Menschen macht hier den Gegenstand der Philosophie aus, sondern das einsame Verhältnis Vgl. A. Baeumler, Ästhetik, München u. Wien 1972, S. 3. R. Harder, Zu Plotins Leben, Wirkung und Lehre, in: Plotin, Ausgewählte Schrif­ ten, hrsg. v. W. Marg, mit einem Nachwort von R. Harder, Stuttgart 1973, S. 257. 18 Baeumler, Ästhetik, a. a. O., S. 19. 16 17

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2. Die neuplatonische Metaphysik des Schönen und die Rehabilitierung der Kunst

der Seele zum »Einen«. Das grundlegende Prinzip des Seins ist für Plotin das gestaltlose »Eine«, das mit dem Guten und Schönen iden­ tisch ist. Das »Eine« ist ein in sich ruhendes göttliches Höchstes. Es überschreitet alle Vorstellungen und lässt sich nur in Form negativer Prädikationen beschreiben: »So gilt es denn hier, sich hinaufzuschnel­ len zum Einen und ihm keinerlei sonstige Bestimmung beizulegen...« (AS, 81 f.).19 Die Stufe unterhalb des »Einen« nimmt der Geist (nus) ein. Er ist nach Art eines Spiegelbildes aus dem »Einen« hervorge­ gangen. Der Geist umfasst in sich die ganze Welt der »Ideen«, den kosmos noetos. Die Ideen liegen nicht außerhalb des Geistes; sie sind in ihm, d. h. weder früher noch später als der Geist, sondern immer zugleich mit ihm (AS, 77 ff.). Auf der dritten Stufe von oben steht die Seele, die psyche. Sie ist das vermittelnde Glied zwischen den geistig bestimmten Formen des wahren Seins und dem Bereich der Materie, der hyle, die als solche der Inbegriff des Bösen und der Finsternis ist. Ist die Seele ihrem eigentlichen Wesen nach Teil der dem wahren Sein zugehörigen Weltseele, so ist sie durch ihre Verbindung mit dem materiellen Leib immer in die Welt des Bösen und Unreinen ver­ strickt. Das tiefste Bestreben der Seele ist deshalb darauf gerichtet, die Verstrickung zu lösen und sich nach Möglichkeit von allem Materi­ ellen weg wieder der Welt des reinen Geistes zuzuwenden. Die Seele, die alles Irdische abzuschütteln vermag, kann sich schließlich mit dem Geist vereinen. Im berauschten und selbstvergessenen Zustand glück­ seliger Entrückung kann sie in ganz seltenen Augenblicken sogar mit dem Höchsten, dem Einen, das mit dem Guten und Schönen identisch ist, eins werden. »Eins werden« mit dem Einen heißt hier, Schauender und Geschautes werden eins. Zwar nimmt Plotins Auffassung der Seele von der platonischen Seelenlehre ihren Ausgang, aber im Gegensatz zu Platon bleibt die Seele für ihn auch im Leib der geistigen Welt teilhaftig, obwohl sie sich dessen nicht immer bewusst wird: »So also kommt die Seele, ob sie gleich ein Göttliches ist und von den oberen Räumen stammt, in den Leib, sie, ein zweiter Gott im Range, schreitet hinab in diese Welt mit freigewollter Wendung, um ihrer Kraftfülle wegen, zu formen, was unter ihr ist. Gelingt es ihr, rasch wieder zu entfliehen, so bleibt sie unversehrt, hat obendrein Erkennt­ nis des Schlechten gewonnen, die Schlechtigkeit in ihrem Wesen erkannt, sie hat ihre eigenen Kräfte ans Licht gebracht und ihr Wirken und Schaffen offenbart; im Bereich des Körperlosen ruhend wären 19

Ich zitiere nach Plotin, Ausgewählte Schriften, hrsg. v. W. Marg, Stuttgart 1973.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Körperwelt

absolute Finsternis

formlose chaotische Materie absolutes Licht

Einheit des das Guten, Wahren, Eine to én Schönen

Emanation (lat. emanatio = Ausstrahlung)

Geist

Weltseele

Einzelseele

Mensch = Einzelseele + Leib

Rückkehr des Menschen zum Einen durch Kontemplation, Kunst Philosophie und Ekstase

diese Kräfte unnütz, da sie ewig unverwirklicht blieben, und der Seele selbst bliebe unbewusst, was sie in sich trägt, wenn es nicht in Erschei­ nung träte, nicht aus ihr hervorginge« (AS, 31).

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3. Die Subjektivierung des Schönen und das ästhetische Geschmacksurteil

Im Rahmen der Schönheitsmetaphysik Plotins wird der Kunst, die von Platon verurteilt worden war, wieder eine wesentliche Funktion zugeschrieben. Die Kunst sei nämlich imstande, eine höhere Form der Schönheit zu offenbaren. Plotin wendet sich von der seit Platon gängigen Auffassung der Kunst als Nachahmung der sinnlichen Natur ab und lehrt, dass die Künste zwar das sichtbar Seiende nachahmen, aber von den Ideen ihre Bestimmung zur Darstellung der Dinge erhal­ ten. Der Künstler, der sein Werk nach einem innerlich geschauten Urbild erschafft, ist eine von göttlicher Eingebung befähigte Person, die die Schönheit des »Einen«, d. h. des Göttlichen, in den Abbildern zur Offenbarung bringen kann. Mit dieser Auffassung konnte sich das Mittelalter anfreunden und bestimmte die Schönheit als Ausdruck der göttlichen Schöpfungsordnung. Die Philosophie der Kunst, die auf Plotins Schönheitsmetaphysik positiv zurückgreifen kann, beginnt seltsamerweise jedoch weit vor Plotin »mit der Bestreitung ihres Gegenstandes«, wie Baeumler es eindrucksvoll beschrieben hat.20 In der Schrift Politeia, die der Erzie­ hung der griechischen Jünglinge gewidmet ist, finden sich Passagen, die als »schärfste Kampfschrift«21 gegen die Kunst aufgefasst werden können und müssen. Die ästhetische Reflexion ist demnach nicht von der Kunst, sondern von der Idee des Schönen, die durch Platons Dialoge Symposion und Phaidros bekannt war, inspiriert worden. Die in diesen Dialogen bestimmte Idee des Schönen hat über Plotins systematische Veränderung und Erweiterung für Jahrtausende eine ungeheure Wirkung nicht nur auf die Ästhetik, sondern auch auf die Kunst ausgeübt.

3. Die Subjektivierung des Schönen und das ästhetische Geschmacksurteil Die in der Metaphysik Platons begründete Einheit des Guten, Wahren und Schönen ist bis ins 18. Jahrhundert gültig. In seinem Dialog Phaidros hatte er dargestellt, wie die Seele vor ihrer Geburt in der Idee des Schönen die Ideen des Wahren und Guten schaut und wie sie nach der Geburt als Mensch im Leben durch Wiedererinnerung von der 20 21

Vgl. Baeumler, Ästhetik, a. a. O., S. 3. Ebd.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Schönheit der Leiber über die seelische und intellektuelle Schönheit wieder zur Idee des Schönen aufsteigen kann. Mit der Abwendung von diesem, in erster Linie durch Platon und Plotin begründeten ontologisch-metaphysischen Verständnis des Schönen rücken im 18. Jahrhundert die subjektiven Voraussetzun­ gen ästhetischer Erfahrung in den Mittelpunkt der philosophischen Diskussion. Der Akzent in der Kontroverse zwischen Empiristen, Rationalisten und Kritizisten verlagert sich nicht nur vom Objekt zum Subjekt, sondern auch von der Frage nach der Ableitbarkeit des Schönen aus vorgegebenen allgemeinen Regeln und Instanzen zur Frage nach den apriorischen oder aposteriorischen Voraussetzungen ästhetischer Beurteilung und deren intersubjektiver Verbindlichkeit. Hume etwa erklärt zwar einerseits die bloße Empfindungsäuße­ rung zum alleinigen Inhalt der ästhetischen Beurteilung, aber ande­ rerseits spricht er auch von einer faktisch existierenden Norm des Geschmacks. Bei aller Subjektivität im Einzelnen erkennt er damit insgesamt doch einen Konsens in der Beurteilung des Schönen an. Die Berufungsinstanz für die Geltung einer allgemeinen Norm ist das Urteil erfahrener Kritiker. Sie nämlich kennen jene Reihe von »Meisterwerken«, die in einem lange währenden Prozess kritischer Beurteilung den Test der Zeit (test of time) bestanden haben. Auch für Baumgarten, den ersten Begründer der Ästhetik als philosophische Disziplin, steht der Aspekt der Individualität oder Subjektivität im Vordergrund der neuen philosophischen Betrachtung des Sinnlichen und Schönen. In seinem Anliegen, die subjektive sinnliche Erfahrung als gültigen Gegenstand der Philosophie zu rechtfertigen, musste er die durch seine Lehrer Leibniz und Wolff vorgenommene Abwertung der sinnlichen Wahrnehmung verwerfen. Baumgarten wollte die Sinnlichkeit, das untere Erkenntnisvermögen, als ein Analogon, d. h. als eine Ähnlichkeit im Hinblick auf Verstand und Vernunft, bestimmen. Die Unterscheidung in dieser Bestimmung hatte er von Wolff übernommen, allerdings wollte er, und hierin ist er über Leibniz und Wolff hinausgegangen, dass die Ästhetik, die er als Lehre der sensitiven Erkenntnis definiert, der Logik, der alten und bewerten Lehre des rechten Verstandes- und Vernunftgebrauchs, notwendigerweise an die Seite treten müsse. Obwohl Baumgarten mit dieser Auffassung über die Standpunkte seiner Lehrer hinausge­ gangen war, blieb er letztlich in der Tradition der rationalistischen Philosophie stehen, weil er die Vorherrschaft der Vernunft niemals anzweifeln wollte. Insofern konnte er es als seine »vornehmste Auf­

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3. Die Subjektivierung des Schönen und das ästhetische Geschmacksurteil

gabe« ansehen, die Bedeutung des unteren Erkenntnisvermögens für eine umfassende Erkenntnis des vernünftigen Subjekts zu ergründen und darzulegen. Für Kants Kritik der Urteilskraft, die in ihrer Hinwendung zum Subjekt ästhetischer Erfahrung einerseits der empiristischen Position folgt, ist die Geltung des Geschmacksurteils andererseits aber keine »Konvention«, sondern ausschließlich auf die bloße Form ästhetischer Erfahrung bezogen. Damit geht er aber nicht, wie Baumgarten bei­ spielsweise, von der sinnlichen Erkenntnis des Schönen, sondern vom Problem des Geschmacksurteils aus. Gleich zu Beginn seiner Kritik der Urteilskraft setzt er einen Gegensatz zwischen dem logischen und ästhetischen Urteil: »Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnis­ urteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasje­ nige versteht, dessen Bestimmungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann« (KU, § 5).22 Die Ästhetik kann nach dieser Definition keine niedere Form der Logik sein, wie es Baumgarten in seiner Aesthetica von 1750 behauptet hatte, weil die Bezüge im ästhetischen Urteil sich von denen im logischen Urteil grundsätzlich unterscheiden. Im logi­ schen Urteil wird die Vorstellung eines Gegenstandes durch den Ver­ stand auf das Objekt bezogen. Die Folge der Herstellung dieser Bezie­ hung besteht darin, dass etwas von der Beschaffenheit des Gegenstandes erkannt werden kann. Das ist beim ästhetischen Urteil ganz anders, denn darin wird nichts erkannt, sondern etwas gefühlt. Im ästhetischen Urteil wird die Vorstellung nämlich nicht auf das Objekt, sondern entweder durch die Einbildungskraft allein oder durch die Einbildungskraft im Verbund mit dem Verstand auf das Subjekt bezogen, wobei das Subjekt sich selbst fühlt, wie Kant sagt. In seiner Kritik der Urteilskraft verwirft er somit die Möglichkeit, Ästhetik als logische Wissenschaft verstehen zu können, und eröffnet damit den Weg zu einer Autonomie des Ästhetischen. Baumgarten hatte sich bemüht, die Begründung einer Ästhetik als Wissenschaft in Analogie zur Logik durchzuführen und damit die seit Platon negativ konnotierten Begriffe wie Täuschung, Veränderlichkeit, Dunkelheit, Unklarheit und Undeutlichkeit zu rehabilitieren. Doch die Frage nach der Erkenntniskompetenz der Sinne wurde nach Baumgarten kaum noch weiterverfolgt. Kant hat solchen Versuchen nicht erst in der Kri­ tik der Urteilskraft, sondern bereits in der Kritik der reinen Vernunft eine klare Absage erteilt. Er weist die von Leibniz bis Baumgarten 22

Ich zitiere nach I. Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg 1974.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

gültige Konzeption einer bloß graduellen Verschiedenheit von Sinn­ lichkeit und Verstand zurück und führt die grundsätzliche Unter­ scheidung von zwei voneinander unabhängigen Stämmen der Erkenntnis ein. Obwohl er die Annahme eines gemeinsamen Ursprungs der Erkenntnis für widersinnig erklärt, ist ein wechselseitig sich ergänzendes Zusammenwirken von Sinnlichkeit und Verstand für das Zustandekommen der Erkenntnis, in der es um die begriffliche Bestimmung der Anschauung geht, dennoch notwendig. Für das Zustandekommen des ästhetischen Urteils gelten allerdings ganz andere Regeln, denn hier geht es gerade darum, die Bestimmung der Anschauung durch den Begriff zu vermeiden und die Situation des freien Spiels von Einbildungskraft und Verstand mit der gegebenen Vorstellung eines Gegenstandes aufrechtzuerhalten.

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3. Die Subjektivierung des Schönen und das ästhetische Geschmacksurteil Erkenntnisurteil, in dem die Beschaffenheit des Objekts erkannt wird

(Verstand)

Subjekt

Objekt

Ve Theorie

-

Innen

S

V

(Subjekt)

(Vorstellung)

Außen

O

Verstand Wahrheit

(Objekt)

die Vorstellung wird durch den Verstand auf das Objekt bezogen dadurch wir die Beschaffenheit des Objekts erkannt Erkenntnisurteil = logisch

Geschmacksurteil, in dem das durch die Vorstellung affizierte Subjekt sich selbst fühlt

(Einbildungskraft)

Subjekt

Objekt

E Ästhetik

S -

V

Innen

Außen

O

Gefühl Schönheit

die Vorstellung wird durch die Einbildungskraft auf das Subjekt bezogen dadurch fühlt das Subjekt sich selbst Geschmacksurteil = ästhetisch

In seiner Kritik der Urteilskraft hat Kant das Geschmacksurteil bzw. ästhetische Urteil folgendermaßen definiert: »Um zu unterscheiden, ob etwas schön sei oder nicht, beziehen wir die Vorstellung nicht durch den Verstand auf das Objekt zum Erkenntnisse, sondern durch die Einbildungskraft (vielleicht mit dem Verstande verbunden) auf das Subjekt und das Gefühl der Lust oder Unlust desselben. Das Geschmacksurteil ist also kein Erkenntnisurteil, mithin nicht logisch, sondern ästhetisch, worunter man dasjenige versteht, dessen Bestim­ mungsgrund nicht anders als subjektiv sein kann. Alle Beziehung der Vorstellungen, selbst die der Empfindungen, aber kann objektiv sein (und da bedeutet sie das Reale einer empirischen Vorstellung); nur

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

nicht die auf das Gefühl der Lust und Unlust, wodurch gar nichts im Objekte bezeichnet wird, sondern in der das Subjekt, wie es durch die Vorstellung affiziert wird, sich selbst fühlt.« (KU, 39 f.) Da es Kant darum geht, die Vorstellung des Schönen im Unbe­ stimmten zu halten, gibt er der Ästhetik eine klare subjektivistische Fundierung. Die Analytik des Schönen in der Kritik der Urteilskraft behandelt daher vorzugsweise ästhetische Geschmacksurteile, die mit dem subjektiven Gefühl der Lust und Unlust verbunden sind. Aber diese Analytik ist dennoch nicht empirisch, d. h. inhaltlich ansetzend, sondern durch und durch transzendental ausgerichtet und gibt demzufolge ausschließlich eine formale Analyse des Schönen. Die formale Erklärung des Schönen nach seinen vier verschie­ denen »Momenten«, die der Kritik der reinen Vernunft entnommen sind, bezieht sich in seinem ersten Moment auf die »Qualität« des subjektiven Zustands, der einem reinen Geschmacksurteil zugrunde liegt: es ist das Moment der ›Interesselosigkeit‹, mit dem das Wohl­ gefallen am Schönen sowohl vom Wohlgefallen am Angenehmen als auch vom Wohlgefallen am Guten unterschieden werden kann. Das zweite Moment der Erklärung des Schönen, das sich auf die »Quan­ tität« des ästhetischen Urteils bezieht, ist als Erläuterung des mögli­ chen Geltungsbereichs eines Geschmacksurteils zu verstehen: »Schön ist das, was ohne Begriff allgemein gefällt« (KU, § 9). Dieser Anspruch auf Allgemeinheit, der keine Bestätigung durch Begriffe erfährt, son­ dern von der Beistimmung anderer Subjekte, ist ein Anspruch auf subjektive Allgemeinheit (KU, § 6), die allerdings nicht gefordert wer­ den kann. Ein ästhetisches Urteil jedoch, das als ein Fall der Regel betrachtet werden kann, darf mit Recht allgemeine Zustimmung erwarten. Das dritte Moment der Erklärung des Schönen, das sich auf die »Relation« des ästhetischen Urteils bezieht, ist als Erläuterung der Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes zu verstehen, die im freien Spiel der Erkenntniskräfte des Subjekts bei der Gegenstands­ vorstellung zu bemerken ist. Daher ergibt sich eine weitere Bestim­ mung der Schönheit: »Schönheit ist Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, sofern sie, ohne Vorstellung eines Zwecks, an ihm wahrgenommen wird« (KU, § 17). Was aber ist unter einer ›Zweck­ mäßigkeit ohne Zweck‹ zu verstehen? Kant bestimmt sie einerseits als »das Formale in der Vorstellung eines Dinges, d. i. die Zusam­ menstimmung des Mannigfaltigen zu Einem«, andererseits als »eine gewisse Zweckmäßigkeit des Vorstellungszustandes im Subjekt«, d. h. als harmonisches Zusammenspiel von Einbildungskraft und Ver­

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3. Die Subjektivierung des Schönen und das ästhetische Geschmacksurteil

stand mit einer Vorstellung (KU, § 15, § 39). Das vierte Moment der Erklärung des Schönen, das sich auf die »Modalität« des ästhetischen Urteils bezieht, ist eng mit dem Moment der jedermann ›angesonne­ nen‹ Allgemeinheit eines ästhetischen Urteils verbunden: »Schön ist, was ohne Begriff als Gegenstand eines notwendigen Wohlgefallens erkannt wird« (KU, § 22). An der Notwendigkeit, die Kant hier im Auge hat, ist eine deutlich normative Seite sichtbar: Es wird nämlich an die »unbestimmte Norm eines Gemeinsinns« (KU, § 22) appelliert. Kants transzendentale Erörterung des Geschmacks endet mit einer Definition, die das Schöne als »Symbol des Sittlich-Guten« (KU, § 59) herausstellt: Die wahre Bedeutung »zur Gründung des Geschmacks« liege in der »Entwicklung sittlicher Ideen« und in der »Kultur des moralischen Gefühls«, »da, nur wenn mit diesem die Sinnlichkeit in Einstimmung gebracht wird, der echte Geschmack eine bestimmte unveränderliche Form annehmen kann« (KU, § 60). Auch wenn in Sachen des Geschmacks am Ende die Unveränderlichkeit wieder erstrebenswert erscheint, bei der ästhetischen Beurteilung des Schö­ nen ist das Besondere stets dem Allgemeinen vorzuziehen. Nicht nur im Hinblick darauf, dass ästhetische Urteile immer »einzelne« Urteile sind, auch in den Bedingungen der Produktion des Schönen äußert sich die Zuwendung zum Besonderen: nämlich in der Lehre vom Ori­ ginalgenie, das exemplarische Werke schafft, ohne einem allgemeinen Regelzwang zu gehorchen. Der Bereich des Konkreten, Besonderen, Individuellen, der von Baumgarten zum Gegenstand der neuen phi­ losophischen Disziplin der Ästhetik erhoben worden war und mit einem eigenen Wahrheitsanspruch verbunden wurde, nämlich der ästhetischen Wahrheit (veritas aesthetica), die er der logischen Wahr­ heit gegenüberstellte, hat somit auch den Eingang in die Kritik der Urteilskraft gefunden, obwohl Kant Baumgartens ästhetische Wahr­ heitskonzeption sowie dessen Verbindung von Schönheit und Voll­ kommenheit nicht übernahm. Nach der Analytik des reinen Geschmacksurteils verbleibt das Schöne zunächst im Bereich des formal Sinnlichen. Aber die Schön­ heit geht schließlich doch noch über den Bereich der bloß formalen Sinnlichkeit des reinen Geschmacks hinaus in den Bereich des Geisti­ gen, d. h. in den Bereich des Intelligiblen hinein. Die vier Definitionen der Schönheit, die der aus der Urteilstafel der ersten Kritik bekannten Klassifikation entsprechen, lassen sich demnach in einem Satz zusammenfassen: »Man kann überhaupt Schönheit (sie mag Natur- oder Kunstschönheit sein) den Ausdruck

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

ästhetischer Ideen nennen« (KU, 175). Die ästhetische Idee ist eine Vorstellung, die sich nicht auf Begriffe bringen lässt. Sie ist das Gegenstück von einer Vernunftidee, die ein Begriff ist, dem keine Vorstellung adäquat sein kann. Das regelgebende »Genie« ist das »Vermögen der Darstellung ästhetischer Ideen«: »Unter einer ästhe­ tischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungs­ kraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d. i. Begriff, adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann« (KU, 168). Trotz des Siegeszugs des bestimmenden Urteils (d. h. des Erkenntnisurteils) im 19. Jahrhundert, an dem Hegel folgenschwer mitgewirkt hat, gibt es ein Diskursgenre, in dem kein Begriff, keine äußerliche Zweckbestimmung, kein empirisches oder ethisches Inter­ esse eine entscheidende Rolle spielt, nämlich das des Urteilens über das Schöne, aber auch über das Erhabene. Kants dritte Kritik beschäf­ tigt sich mit der Möglichkeit des Urteilens unter der Bedingung, dass man sich nicht vom Verstand leiten lassen kann, dass kein Begriff gegeben ist; er beschreibt diese Möglichkeit, die eher mit Gefühlen als Begriffen operiert, als Reflexion ohne Regel. Adorno und Lyotard werden hier anknüpfen. Allerdings wird Lyotard dabei die ganze Ästhetik des Schönen verwerfen.

4. Die Historisierung des Schönen und die Philosophie der Kunst In der kritischen Transzendentalphilosophie, die ihre Aufgabenstel­ lung ausdrücklich als eine rein formale betrachtet, gibt es noch keine Anstöße zu einer Historisierung des Schönen, wie sie etwa bei Win­ ckelmann zu beobachten sind, der die Kunst des Altertums unter dem Aspekt ihrer Geschichte befragt und für den die Stile deshalb nicht wie in der antiken Rhetorik einfach zur Auswahl bereitliegen, sondern historisch gebunden sind; und das heißt, dass er die Vielheit der Stile auf die Einheit eines Entwicklungsganges hin durchsichtig zu machen versucht. Auch bei Herder, der das Schöne in einer Man­ nigfaltigkeit konkreter historischer Ausdrucksformen verwirklicht sieht, finden sich Ansätze einer Historisierung des Schönen. Hier steht Kant noch auf einer Ebene mit Platon, dessen metaphysische Wesensdefinition des Schönen Historizität grundsätzlich ausschließt.

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4. Die Historisierung des Schönen und die Philosophie der Kunst

Auch das Mittelalter, in dem das Schöne als Ausdruck der ›unvergäng­ lichen‹ göttlichen Schöpfungsordnung oder sogar als Imago Dei, als Bild Gottes betrachtet wird, ist von der Geschichte abgekehrt. Erst in der nachkantischen Ästhetik finden sich erste Ansätze zu einer Historisierung des Schönen. Der umfassendste Ansatz hierzu, der sich kritisch von Kant absetzte, ist die Ästhetik Hegels, die im Medium einer spekulativen Geschichtsphilosophie vorgetragen wird. Dieses Werk, das bis vor kurzem allerdings nur in der posthum erschienenen Nachschrift eines Schülers vorlag, bildet zugleich den Höhepunkt und Abschluss einer Tradition, die mit der platonischen Begründung des Schönen als Idee begonnen hatte und sich bis ins 19. Jahrhundert hin­ ein behaupten konnte. Auch Hegel will, wie einstmals Platon, wissen, »was das Schöne überhaupt«, d. h. »seinem Wesen und Begriff nach« (Ä, I, 29, 32)23 ist. Er betrachtet diesen Wesensbegriff des Schönen als »eine durch das System der Philosophie gegebene Voraussetzung«, den er »der Notwendigkeit nach herleiten« möchte (Ä, I, 35, 28). Dadurch könne er sich dem im ästhetischen Diskurs zutage tretenden Streit verschiedener ›Ansichten‹ vom Schönen entziehen. Mit seiner berühmten Definition, die das Schöne als das »sinnliche Scheinen der Idee« (Ä, I, 117) bestimmt, entfernt er sich jedoch von Platons Wesensbegriff, indem er das ästhetisch Schöne als die eigentliche Form des Schönen auszeichnet. Hegels Ästhetik handelt in erster Linie nicht vom Schönen in der Natur, sondern vom Schönen in der Kunst, das höher steht als jenes, weil es »aus dem Geist« geboren ist (Ä, I, 14). Allgemeiner Maßstab für die Bestimmung des Schönen ist jener spekulativ anvisierte Punkt der Geschichte, in dem der Geist als »absoluter« Geist seine Vollendung erreicht hat. Die Historisie­ rung des Schönen ist mit der dialektischen Metaphysik des Geistes untrennbar verbunden. Aus diesem Grunde kann sich das Schöne, das zwischen dem Geistigen und dem Sinnlichen steht, nicht gegen eine denkende, philosophische Betrachtung sperren. Daran ändert auch die Entfremdung nichts, die im Verhältnis des Begriffs zum Sinnlichen vorliegt, denn der Geist vermag sich selbst auch »in der Entäußerung zur Empfindung und Sinnlichkeit wieder zu erkennen ... indem er das Entfremdete zu Gedanken verwandelt und so zu sich zurückführt«. In der »Mitte« zwischen Sinnlichem und Geistigem steht aber nicht nur 23 Ich zitiere nach G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, 3 Bde., auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu edierte Ausgabe des Suhrkamp Verlages, Frankfurt a. M. 1986.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

das Schöne, sondern auch das Kunstwerk: »Das Kunstwerk steht in der Mitte zwischen der unmittelbaren Sinnlichkeit und dem ideellen Gedanken. Es ist noch nicht reiner Gedanke, aber seiner Sinnlichkeit zum Trotz auch nicht mehr bloßes materielles Dasein, wie Steine, Pflanzen und organisches Leben, sondern das Sinnliche im Kunstwerk ist selbst ein Ideelles, das aber, als nicht das Ideelle des Gedankens, zugleich als Ding noch äußerlich vorhanden ist« (Ä, I, 48). Das Kunstwerk, das in der Mitte zwischen Sinnlichem und Geis­ tigem steht, ist zugleich Vermittlung von Besonderem und Allgemei­ nem, Äußerem und Innerem, Form und Inhalt, Gestalt und Idee. Aus den verschiedenartigen Beziehungen der Idee zur Gestalt erwachsen die epochalen Formen der Kunst, die »im Erstreben, Erreichen und Überschreiten des Ideals als der wahren Idee der Schönheit« bestehen. Auf der ersten Stufe der symbolischen Kunstform hat »die Idee die Form noch in sich selber nicht gefunden und bleibt somit nur das Rin­ gen und Streben danach« (Ä, I, 83). Ihr Inhalt ist »mehr oder weniger abstrakt, trübe und nicht wahrhaft in sich bestimmt«. Historisch wird diese Stufe der Entfaltung des Schönen durch die ägyptische Kunst repräsentiert, die in ihrer Unruhe, Maßlosigkeit und Rätselhaftigkeit den Charakter der Erhabenheit besitzt. Das Erhabene in diesem Sinne ist eine historische Vorstufe des Schönen. Auf der Stufe der klassischen Kunstform wird das Schöne als Ideal, als »schlechthin angemessene Einheit von Inhalt und Form« (Ä, I, 297) zum Ausdruck gebracht. Das Inbild solcher vollkommenen Schönheit ist die Gestalt des Menschen als des sinnenhaft existierenden Geistes, die vor allem in der Skulptur des perikleischen Zeitalters verwirklicht worden ist. Hegel zufolge ist die Kunst nur im klassischen Griechenland der »höchste Ausdruck für das Absolute« (Ä, I, 423) gewesen. Auf der Stufe der romantischen Kunstform des Christentums nämlich löst sich die Einheit von Inhalt und Form auf einem höheren Standpunkt wieder auf: Das Wahre tritt von der sinnlichen Vorstellung zurück. Die Einheit von Inhalt und Form in der griechischen Kunst war »selbst nur sinnlich, während sie im Christentum im Geist und in der Wahrheit erfaßt ist«. Das heißt: »Die Idee hat sich frei für sich gemacht.« Die »leibliche« Schönheit wird von der »geistigen« Schönheit überstiegen (Ä, I, 520). Die künstlerische Form bleibt hinter einem Inhalt zurück, der vor allem als »innerliche Gestalt der Seele in sich selbst« (Ä, I, 511) erscheint. Seele, Innerlichkeit und Subjektivität stehen im Zentrum der romantischen Kunstform.

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4. Die Historisierung des Schönen und die Philosophie der Kunst

Den drei Kunstformen ordnet Hegel die einzelnen Künste zu, die aufgrund ihrer jeweils verschiedenen Darstellungsmittel das Verhält­ nis von Form und Inhalt in unterschiedlicher Weise gestalten. Die der symbolischen Kunstform besonders angemessene Kunst ist die Architektur, die mit ihrem »nur nach dem Gesetz der Schwere« (Ä, II, 17) gestaltbaren Material das bloße Suchen nach angemessener Darstellung eines geistigen Inhalts repräsentiert. Die der klassischen Kunstform besonders angemessene Kunst ist die Skulptur, die die vollkommene Vermittlung von Form und Inhalt in der menschlichen Gestalt zum Ausdruck bringt. Und die der romantischen Kunstform besonders angemessenen Künste sind die Malerei, die Musik und die Poesie, in deren schwerelosen Medien Farbe, Ton und Wort die vielfäl­ tige Subjektivität des Menschen sich zur freien Geistigkeit ausbildet. Indem Hegel die Kunst als einen Teilbereich des absoluten Geis­ tes bestimmt, bringt er sie in Verbindung einerseits mit Religion und Philosophie und andererseits mit der Wahrheit, denn wie Religion und Philosophie ist die Kunst nur eine der Arten und Weisen, die Wahrheit des Geistes zum Ausdruck zu bringen (Ä, I, 19). Die drei Sphären des absoluten Geistes stehen jedoch nicht in einem gleichbe­ rechtigten Verhältnis zueinander. Sie sind nämlich getrennt durch ihre jeweilige spezifische Form, in der sie den absoluten Geist bewusst machen. Der Bereich der Kunst stellt das Absolute (die Wahrheit) in sinnlicher Form dar. Die Religion, obwohl sie immer mit der Kunst als Darstellung religiöser Inhalte verknüpft war, stellt das Absolute in der Form der Vorstellung dar. Die Philosophie schließlich, als höchste Stufe des Bewusstseins vom Absoluten, vereinigt diese Bewusstseinsarten endgültig in der Form des Denkens zum absoluten Wissen. In seinen Vorlesungen in Heidelberg und insbesondere in Berlin entwickelte Hegel eine eigene Philosophie der Kunst, die jedoch erst posthum von seinem Schüler Heinrich Gustav Hotho mit dem Titel »Vorlesungen über die Ästhetik« veröffentlicht wurde. Allerdings wird diese im wissenschaftlichen Diskurs benutzte Ausgabe der hegelschen Ästhetik seit einigen Jahren kritisch betrachtet, denn der Herausgeber dieser Ausgabe, Hotho, hat zur Vervollkommnung der Systematik des Gegenstands entscheidende eigene Gedanken einge­ fügt.24 Daher müssen in der wissenschaftlichen Forschung wieder Vgl. dazu A. Gethmann-Siefert, Hegels Ästhetik. Stationen der Transformation der Berliner Vorlesungen zur Ästhetik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 56, 2002, 2, S. 274–292.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Hegels Vorlesungsnotizen über die Ästhetik und insbesondere die Mitschriften seiner Schüler, die von Annemarie Gethmann-Siefert vor allem in den 1990er Jahren redigiert und herausgegeben wur­ den25, zur Interpretation und weiteren Erforschung herangezogen werden. In dieser, an den »Mitschriften« orientierten wissenschaftli­ chen Vorgehensweise von Gethmann-Siefert könnte gezeigt werden, dass Hegels Ästhetik auch als wesentliche Grundlage einer kunstund architekturgeschichtlichen Betrachtung dienen kann. Im Rahmen der wissenschaftlichen Forschung wird jedoch auch Hothos Veröffent­ lichung, obwohl hier andere Kunstwerke berücksichtigt und andere systematische Schwerpunkte gesetzt werden, als wichtige Vorlage genutzt werden müssen, um die hier stärker pointierten systemati­ schen Aspekte der Kunst nicht aus den Augen zu verlieren. Zur genauen Betrachtung der Konzeption der Kunst ist eine allgemeine Einführung in die Ästhetik-Vorlesung Hegels notwendig; diese soll hier in erster Linie von den durch Gethmann-Siefert und ihren Mitarbeitern publizierten Quellen zu den Berliner Vorlesungen ausgehen. Als seinen Grundansatz stellt Hegel hier – wesentlich deut­ licher als in dem von Hotho publizierten Text – die Behauptung auf, dass Kunst sich durch ihre spezifische Funktion in den verschiedenen vergangenen Epochen und Kulturen bestimmt. Hegels Vorlesungen über die Ästhetik stellen den Versuch dar, die Geschichte der Welt­ anschauungen als eine Folge von »Gestaltungsmöglichkeiten durch die Kunst« (Gethmann-Siefert) zu erklären. So diente die Kunst in der griechischen Antike als das höchste Medium zur Darstellung des »geschichtlichen Selbstbewußtseins« des griechischen Volkes. Hier bildete sie mit der Wiedergabe der Gottheiten die Grundlage der Sittlichkeit, während sie in den späteren Epochen eher für das Streben des Menschen nach Vernunft steht. Dieser wissenschaftliche Ansatz, der kein historisches Vorbild hat, berechtigt dazu, Hegel als den Vater der wissenschaftlichen Kunstgeschichte zu betrachten. Er verbindet erstmals philosophische Reflexion mit historischer Forschung und

25 Zugänglich sind heute beispielsweise die Nachschriften der Vorlesungen von 1820/21 (G. W. F. Hegel, Vorlesung über Ästhetik. Berlin 1820/21. Eine Nachschrift. I. Textband, hrsg. von H. Schneider, Frankfurt a. M. 1995), bei denen es sich eher um eine Ausarbeitung als um eine bloße Mitschrift handelt, sowie von 1823 (G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrie­ ben von Heinrich Gustav Hotho, hrsg. von A. Gethmann-Siefert, Hamburg 1998). Weitere Nachschriften sollen veröffentlicht werden.

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4. Die Historisierung des Schönen und die Philosophie der Kunst

ästhetischer Kritik.26 Um die geschichtliche und kulturelle Funktion der Kunst zu verstehen, muss die Kunst in ihrer Geschichte sowohl in systematischer als auch in phänomenaler Hinsicht betrachtet werden. Hegels von Hotho ergänzte und veröffentlichte Ästhetik vereint beide Hinsichten zu einer umfassenden Betrachtung des Wesens und des Zweckes von Kunst in Vergangenheit und Gegenwart. Ausgehend von einer philosophischen Definition des Ideals der Kunst folgt eine unter systematischen Gesichtspunkten vorgenommene kunsthistori­ sche Betrachtung der epochalen Kunstformen sowie die Darstellung der verschiedenen geschichtlichen Ausdrucksformen der einzelnen Künste. Der Schwerpunkt von Hegels Ästhetik in den Quellen liegt in einer sachlichen Antwort auf die Frage nach der Funktion der Kunst in der jeweiligen geschichtlichen Epoche und auf die Frage der Vermitt­ lung von geschichtlichen Wahrheiten durch die Kunst. In seiner phi­ losophischen Analyse stellt Hegel die Kunst als die endliche Form der Bewusstmachung des Absoluten der verschiedenen geschichtlichen Epochen dar. Ausgehend von dieser Anschauung wird die Vielfalt der Gestaltungsmöglichkeiten der Künste zwischen Schönheit und Hässlichkeit aufgezeigt. Die Künste stellen in ihrem inhaltlichen Ausdruck somit ein bestimmtes geschichtliches Bewusstsein dar. Hegel sieht im Verständnis der Kunst einen bedeutenden Weg zum Verständnis des Menschen. Die jeweilige Stufe des geschichtlichen Selbstbewusstseins lässt sich an der Entwicklung des Verhältnisses von Form und Inhalt bei der Darstellung des Göttlichen erkennen.

A. Gethmann-Siefert u. B. Collenberg-Plotnikov, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, in: Ästhetik und Kunstphilosophie. Von der Antike bis zur Gegenwart in Einzeldarstel­ lungen, hrsg. von J. Nida-Rümelin und M. Betzler, Stuttgart 1999, S. 363–377, hier S. 376. 26

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KUNST

KUNST

ROMANTISCHE

KLASSISCHE KUNST

Musik

(Form/Inhalt)

Malerei Landschaftsmalerei

Ende der Kunst

Vorstellung des Absoluten

Darstellung des Absoluten

(Form/Inhalt) Plastik

christliche Religion

griechische Kunst

SYMBOLISCHE

Anfang der Geschichte des Geistes

Architektur

(Form/Inhalt)

Tierplastik

Beginn des Werdens des Absoluten

Religion

Kunst

Poesie

Ende der Religion

Denken des Absoluten

Hegelsche Philosophie

Philosophie

Ende der Geschichte

das Absolute als Resultat

Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Hegels Konzeption des absoluten Geistes, dargestellt als Wellenoder Phasenmodell

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4. Die Historisierung des Schönen und die Philosophie der Kunst

Erst in der schönen Gestalt der griechischen Menschendarstellung vermag sich das Göttliche der antiken Welt in vollendeter Harmonie zu offenbaren. Damit ist ein Ende der Kunst gesetzt, denn der christ­ liche Gott der mittelalterlichen Welt offenbart sich nicht mehr in der menschlichen Gestalt, sondern in der Geschichte des Jesus. Aber auch über dieses Ende der Kunst hinaus hat die Kunst die Funktion der Erhaltung und Überlieferung der Kultur. Zu Hegels Zeiten wird diese Funktion in der musealen Kunstvermittlung ausgeübt, in der das Ideal des absolut Schönen zu verlöschen beginnt. Wichtig für das Verständnis der Ästhetik Hegels ist auch seine Definition von Kunstwerk und Künstler. Die Kunst ist dann Werk, wenn sie für eine Gruppe von Menschen ein Ausdruck des gemeinsamen Bewusstseins ist. Der Künstler, der von Hegel als Genie bezeichnet wird, ist derje­ nige, der es vermag, dieses gemeinsame Bewusstsein angemessen in einer endlichen Form darzustellen. Das Schöne als ein zentraler Begriff der Ästhetik ist in der Defi­ nition Hegels nicht das Naturschöne, sondern »das aus dem Geiste geborene Schöne«. Als Ideal bezeichnet Hegel die Gestaltung eines bewusst geistig bestimmten Schönen. Das Ideal realisiert sich als Kunstwerk, welches in die von Hegel definierten Kunstformen einzu­ ordnen ist. Die unterschiedlichen Kunstformen beinhalten allerdings unterschiedlich ausgeprägte Ausdrucksformen dieses Ideals. Die höchste Form wird in der klassischen Kunst Griechenlands erreicht. Danach verliert die Kunst ihre Bedeutung als einzige kulturelle Ori­ entierungsmacht. Im christlichen Mittelalter und in der modernen Welt werden die tiefsten Überzeugungen des Menschen Hegel zufolge nicht mehr ausschließlich im Kunstwerk ausgebildet, sondern ebenso durch die Religion im Mittelalter und die Philosophie in der Moderne. Die Kunst übernimmt in ihrer Epoche, die auf die klassisch-antike folgt, die führende Aufgabe einer formellen geschichtlichen Bildung des Menschen. Die Dominanz des Gehalts über die Gestalt charakte­ risiert diese von Hegel als romantisch bezeichnete Kunstform, die für ihn bis in seine eigene Gegenwart fortwirkt. Ein zentraler Begriff der hegelschen Ästhetik ist der Begriff des Werkes. Hegel erklärt ihn am Beispiel der Architektur von Tempel­ bauten und Königsgräbern. Diese Werke sind als Hervorbringungen einer durch diese Tätigkeiten geeinten Nation aufzufassen. Durch die Beteiligung unzähliger Menschen am Bau von Werken, wie den Pyramiden von Gizeh, wird ein gemeinsames Bewusstsein erzeugt. Die vielen unterschiedlichen Interessen zahlloser Individuen vereinen

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

sich hier zu einer einzigen Weltanschauung. Die Werke der Architek­ tur erzeugen damit einen »Vereinigungspunkt für den Menschen«, wie Hegel beispielsweise in der Vorlesung von 1823 gesagt hat27, durch den die zahlreichen und fremden Menschen zu den Menschen eines bestimmten geeinten Volkes werden. In der gemeinsamen Arbeit an einem großen Bauwerk sieht Hegel einen Schritt von der Natur zur Kultur – oder von den bloßen Instinkthandlungen zu den geistig geplanten Handlungen des Menschen vollzogen, wie Gethmann-Siefert es dargestellt hat. Diese Entwicklung, die eine des geschichtlichen Selbstbewusstseins des Menschen ist, ist in der grie­ chischen Skulptur am stärksten ausgeprägt worden. Die Darstellung der griechischen Götter in Form von idealisierten Menschen stellt die Lebenseinstellung und die geschichtliche Orientierung sowohl des Einzelnen als auch des Staates dar und verbindet beide zu einer Einheit. Wird in der Architektur und der Skulptur das Göttliche vor allem objektiv ausgedrückt, so kann die Malerei des Mittelalters durch die Farbigkeit eine subjektive Darstellung des Absoluten liefern. Die Kunst verlässt hier die Dimension des Raumes. Mittels Farbe konstru­ iert die Malerei eine geschichtliche Welt. Die Gottesgestalt ist nicht auf sich selbst bezogen, sondern sie wird in konkreten Situationen und Handlungen gezeigt. Die Malerei erzeugt Darstellungen eines geschichtlichen Gottes (so in der Darstellung der Erschaffung der Erde in sieben Tagen) und wird somit der Glaubensauffassung der christ­ lichen Welt gerecht. Hegel sieht in der Malerei eine angemessene Form der christlichen Kunst. Sie muss aber, um Wirkung zu erzielen, über die Darstellung des Schönen hinausgehen (beispielsweise in der Darstellung des Jüngsten Gerichts). Gethmann-Siefert hat in ihren Erforschungen der Mitschriften der Vorlesungen Hegels über die Ästhetik zeigen können, dass der geistige Inhalt der christlichen Reli­ gion Hegel zufolge nur noch über »nicht-mehr-schöne-Malerei«28 vermittelt werden kann. Die Malerei hat vorwiegend die Welt des Menschen, dessen Lebens- und Leidensgeschichte zum Thema. Die Darstellung des Alltäglichen als neuer Inhalt der Bildkunst kommt in der Neuzeit hinzu. Vor allem in der niederländischen Genre-, Stillleben- und Landschaftsmalerei sieht Hegel den Zweck der Kunst,

Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nachgeschrie­ ben von Heinrich Gustav Hotho, a. a. O., S. 211. 28 Ebd, Einleitung, S. CLIX.

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5. Die Umkehrung des Platonismus und die Aporie des schönen Scheins

d. h. die Bildung des Menschen durch »die Erweiterung des je eigenen geschichtlichen Selbstbewußtseins um das Fremde«29, erfüllt. Hegels These vom Ende der Kunst, das auf ihren Höhepunkt in der Antike folgen sollte, hat zu unzähligen Auseinandersetzungen und Interpretationen geführt, die Hegel auf einen Kritiker an allen folgenden Kunstepochen festlegen wollten. In Hegels Neufassung der »Enzyklopädie« (1827 und 1830) wird Gethmann-Siefert zufolge deutlich, dass er mit seiner These vom Ende der Kunst lediglich zeigen wollte, wie die dominierende Stellung aufgehoben wurde, in der die Kunst in der Vergangenheit der Antike als die einzige Orientierungsmacht für den Menschen auftreten konnte.30 In der Moderne ist die Kunst nicht mehr an die Darstellung des Schönen gebunden, dadurch wird ihre geschichtliche Relevanz als neue und zentrale Fragestellung einer philosophischen Kunsttheorie in den Vordergrund gerückt.31

5. Die Umkehrung des Platonismus und die Aporie des schönen Scheins Für Nietzsche geht Hegels historische Begründung der Kunst in die falsche Richtung. Historizität kann bei ihm nicht mit einer Dialektik des Fortschritts verbunden werden. Nach seiner Diagnose ist der Niedergang der archaischen griechischen Kultur, der Hegels Auffas­ sung zufolge die ›klassische Periode‹, in der die Kunst zum höchsten Ausdruck für das Absolute wurde, einleitete, gleichbedeutend mit einem Prozess der Abwertung des Lebens und der Aufwertung des Geistes, der sich selbst in den Personen von Sokrates und Platon zum Ausdruck bringt. Für Nietzsche ist Sokrates der Prototyp des Meta­ physikers, der dem tragischen Zeitalter der Griechen ein Ende setzt. Die negative Bewertung des Lebens durch Sokrates ist für Nietzsche Gethmann-Siefert, Collenberg-Plotnikov, a. a. O., S. 372. Vgl. A. Gethmann-Siefert, Hegels systematische Begründung der Geschichtlich­ keit der Kunst, in: Hegels ›Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften‹ (1830). Ein Kommentar zum Systemgrundriß, hrsg. v. H. Drüe u. a., Frankfurt a. M. 2000, S. 367 ff. 31 Vgl. dazu A. Gethmann-Siefert, Hegel über das Häßliche in der Kunst, in: Hegels Ästhetik. Die Kunst der Politik – Die Politik der Kunst, Hegel-Jahrbuch 2000, Zweiter Teil, S. 21–41. 29

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

völlig ›anti-griechisch‹, oder – wie er auch sagt – ›pseudogriechisch‹. Insofern ist das »Problem des Sokrates«, wie Nietzsche es sieht, kein individuelles Problem, weil der Verfalls- und Auflösungsprozess des Lebens den Philosophen zugleich als sein Werkzeug und Symptom benutzt. In der Person des Sokrates sagt das klassische Griechentum zugleich nein zum Leben und ja zu einer anderen, besseren Welt der Ideen und des wahren Seins. Aber diese von Sokrates favorisierte Welt hat in den Augen Nietzsches »die Kennzeichen des Nicht-Seins«, d. h. des Nichts, sie ist letztlich auch ein Nichts. Die Konstruktion einer anderen, übersinnlichen Welt ist sinngemäß das »Symptom niedergehenden Lebens«. Gegen solche Konstruktionsversuche will Nietzsche die Realität der sinnlichen Erscheinungswelt verteidigen, auch wenn sich diese Realität nicht im Sinne der Wahrheit, sondern als Schein erweisen sollte. Wie immer man Nietzsche auch einschätzen mag, ob noch als letzten Metaphysiker (wie beispielsweise Heidegger und Lyotard32) oder bereits als ersten Nachmetaphysiker, d. h. Dif­ ferenzdenker (wie Deleuze33 und Derrida), eines jedenfalls ist unbe­ streitbar: von ihm ist der Abgesang auf die metaphysische Einheit der Schönheit mit dem Wahren und Guten ausgegangen. In einem Nachlassfragment aus dem Jahre 1888 hat er das unmissverständlich ausgesprochen: »An einem Philosophen ist es eine Nichtswürdigkeit zu sagen: das Gute und das Schöne sind eins: fügt er gar noch hinzu, ›auch das Wahre‹, so soll man ihn prügeln. Die Wahrheit ist häßlich: wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen« (Bd. 13, 500).34 Die Welt ist nicht Gottes Schöpfung und daher auch nicht gut, sondern verlogen und grausam. Das ist die Wahrheit. Dennoch gelte es für das Dasein, das Leben in der Welt zu ertragen, was allerdings nur in der Täuschung und der Lüge möglich sei. An der Wahrheit, meint Nietzsche, würden wir sicher zugrunde gehen. Wir brauchen die Lüge, um zu überleben. Ohne die Lüge wäre das Leben in der verlogenen und grausamen Welt unerträglich und gar nicht auszuhalten: »Die Redlichkeit«, behauptet Nietzsche, »würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben«. Deshalb wählt er eine »Welt-Anschauung«, in der die Lüge die entscheidende Rolle spielt, nämlich die Kunst, mit der man seiner Meinung nach Vgl. J.-F. Lyotard, Die Moderne redigieren, in: ders. Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989. 33 Vgl. G. Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, Frankfurt a. M. 1985. 34 Ich zitiere nach F. Nietzsche, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hrsg. v. G. Colli u. M. Montinari, München 1980. 32

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5. Die Umkehrung des Platonismus und die Aporie des schönen Scheins

an einem »Umlügen« der unerträglichen Wirklichkeit arbeiten kann. Unter Kunst versteht Nietzsche in erster Linie aber nicht die Kunst der traditionellen oder zeitgenössischen Kunstwerke, sondern die Kunst des Lebens, also Lebenskunst. Der Künstler als Lebenskünstler wertet den Schein höher als die Realität. Der Schein bedeutet »die Realität noch einmal«, verstanden im Sinne »einer Auswahl, Verstärkung, Correctur« (G, 79). Dieses Bekenntnis zum Leben im Schein, das hier der Götterdämmerung entnommen ist, könnte vielfältig durch weitere Belegstellen ergänzt werden, beispielsweise mit den Aphorismen 54 und 107 aus der Fröhlichen Wissenschaft, in denen direkt vom Schein die Rede ist, nämlich von der »Kunst, als den guten Willen zum Scheine« (Aph. 107) und sogar davon, dass der Schein »das Wirkende und das Lebende selber« (Aph. 54) ist. Die Seinsfrage, die Sokrates als höchste angesehen hatte, wird von Nietzsche zur leersten aller Fragen degradiert. Bei diesem Überwindungsversuch des Seins muss die nicht aufgehobene Verstrickung in den metaphysischen Zusammenhang allerdings zum unlösbaren Problem werden. Denn mit Nietzsches Überwindungsversuch findet lediglich eine Überwin­ dung im Sinne und im Rahmen der Metaphysik statt. Und eine solche Überwindung kann nur relativ sein, weil Nietzsche mit seiner Favori­ sierung des Schein-Begriffs einen Hauptbegriff der zu überwindenden Tradition verwendet und damit das zu Überwindende mit einem Begriff des zu Überwindenden überwinden will. Die beiden Begriffe »Sein« und »Schein« gehören jedoch zusammen und sind in ihrem Zusammenhang zwei der Hauptbegriffe der traditionellen Metaphy­ sik. Sie stellen eine gedankliche Konstruktion im Rahmen dieser Tradition dar: nämlich die Zwei-Welten-Theorie, die von Platon über Descartes bis Kant die abendländische Philosophie beherrschte. Selbst Hegel gehört noch in diese Reihe, auch wenn er die Zweiheit von sinnlicher und übersinnlicher Welt, d. h. von unten und oben, durch die Zweiheit von vorher und nachher, d. h. durch Geschichte und Absolutheit, vertauscht, denn Geschichte ist bei Hegel der Weg, den der sich selbst verwirklichende Geist zurückzulegen hat, um letztendlich im absoluten Wissen anzukommen.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

6. Die Überwindung der Ästhetik und die Entbergung der Wahrheit Heidegger, der sich von Nietzsches Destruktion der traditionellen Metaphysik beeindrucken ließ, konnte dessen Versuche der Entgeis­ tigung des schönen Scheins und der ästhetischen Rechtfertigung der Welt aber nicht mehr nachvollziehen. Seine Auffassung gegenüber dem ästhetischen Zugang zur Welt und zur Kunst ist von grund­ sätzlichen Vorbehalten geprägt, weil er den Begriff der Wahrheit nicht aufgeben kann. Seine Bestimmung des Wesens der Kunst als »Ins-Werk-Setzen der Wahrheit« des Seins schlägt einen Weg ein, auf dem Nietzsche zwar als Metaphysik-Kritiker, nicht aber als Ästhetiker akzeptiert wird. Auf diesem Weg erfolgt bei Heidegger eine gewisse »Re-Ontologisierung« des Kunstwerks. Es geht ihm dabei um die »Entbergung« des Seins, die einzig von der Kunst bewerkstelligt werden kann. Dem begrifflichen Denken ist das nicht möglich, weil es feststellend tätig ist und das Sein sich nicht feststellen lässt wie ein Seiendes. Es gilt das Sein vom Seienden zu unterscheiden. Das Seiende, das sind die Dinge und zum Teil auch die Menschen. Das Sein des Seienden kann jedoch nicht selbst wiederum ein Seiendes sein. Es gibt Heidegger zufolge die ontologische Differenz von Sein und Seiendem, die nicht aufgehoben werden kann und daher als solche bestehen bleiben muss. Der Ort der Entbergung des Seins ist nicht der feststellende Begriff, sondern die Kunst, die bei Heidegger als ein Geschehen herausgestellt wird. Und dieses Geschehen darf auch nicht vom Menschen her verstanden werden, wie es in der Ästhetik von Baumgarten bis Hegel üblich war. Das Geschehen nimmt vielmehr erst den Menschen in sich hinein. Der Mensch ist somit keineswegs Urheber des Geschehens, das sich in der Epoche der westlichen Metaphysik durch ein Vergessen der Seinsfrage auszeichnete, dessen Zuspitzung in der Gegenwart eine neue Epoche der Seinsgeschichte vorbereitet, wie Heidegger behauptet. Während die Metaphysik mit dem Verbergen des Seins verbunden ist, kann in der Kunst sein Entbergen ins Schöne stattfinden. Dieses Entbergen darf allerdings nicht als Werk des Menschen betrachtet werden, sondern ist allein dem Sein selbst geschuldet. Mit seiner Polemik gegen die Fundierung der Kunst in der Subjektivität versucht Heidegger, endgültig sowohl über die Tradition der metaphysischen als auch der relativistischen Ästhetik hinauszugelangen.

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7. Die Rehabilitierung des Naturschönen und der utopische Gehalt der Kunst

Heideggers Lehre vom Ursprung des Kunstwerks, die das Wesen der Kunst als ein ›Sich-ins-Werk-Setzen‹ der Wahrheit bestimmt, wurde schließlich zum Anknüpfungspunkt für eine der wirkungs­ mächtigsten Positionen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, nämlich der von Derrida, der das Geschehen der Entbergung des Seins als unaufhebbares Spiel von Anwesenheit und Abwesenheit entfaltet und darin die Illusion einer endgültigen Sinnfindung entlarvt. Die Dissemination von Sinn erfordert anstelle einer traditionellen Inter­ pretation eine pluralistische Lektüre. Der Lesende wie der Schrei­ bende werden durch die »Schrift« in eine Offenheit bzw. in ein freies und regelloses Spiel der Zeichen gestellt, dessen Ende keiner kennt. Diese Auffassung markiert mit denjenigen von Nietzsche und Heidegger endgültig die Grenze zwischen metaphysischer und nach­ metaphysischer Ästhetik. Auf die Seite der metaphysischen Ästhetik gehört demnach die Tradition der Ästhetik von Baumgarten bis Hegel und auf die Seite der nachmetaphysischen Ästhetik sind die kunst­ theoretischen Entwicklungen von Nietzsche über Heidegger bis Der­ rida und die ästhetischen Positionen von Adorno und Lyotard zu set­ zen.

7. Die Rehabilitierung des Naturschönen und der utopische Gehalt der Kunst Wendet man sich intensiver Adornos kritischer Rezeption der hegel­ schen Ästhetik zu, so wird sogleich deutlich, dass der Wahrheitsgehalt der Kunst für Adorno keineswegs als eingelöst betrachtet werden kann, sondern ganz im Gegenteil als höchst zerbrechlich und als ein noch nicht eingelöstes Versprechen erscheint. Hegels Thesen über das Ideal der Kunst stellen eine gelungene Versöhnung von Besonderem und Allgemeinem im Kunstwerk vor, die sich allerdings erst im selbstbewussten Denken, das über die Kunst hinausgegangen ist, zum absoluten Wissen entwickelt. Adorno dagegen hält an der Spannung von Besonderem und Allgemeinem im Kunstwerk fest. Versöhnung wird zum utopischen Gehalt der Kunst, die sie immer erstrebt, aber innerhalb einer herrschaftlich strukturierten antagonistischen Reali­ tät nicht erreichen kann. Nach Hegel offenbart das Kunstschöne durch den sinnlichen Schein das Sein der Ideen nicht vollkommen. Das sinnliche Schei­

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

nen der Idee resultiert aus der »gnoseologischen Unfähigkeit«35 des Kunstwerks, die Idee, in der Begriff und Sache zusammenfallen, im spekulativen Begriff zu erfassen. Die Kunst ist lediglich eine Etappe des zu sich selbst kommenden Geistes, die Hegel auf die Antike begrenzt und die im Mittelalter durch Religion und in der Neuzeit durch Philosophie fortgesetzt wird. Das Kunstwerk bleibt für Hegel daher etwas Vergangenes. Für Adorno, der die Kategorien der traditionellen Ästhetik nicht einfach übernimmt, sondern im Lichte der modernen Welt transformiert, gewährt der Erfahrungs­ gehalt der modernen Kunst gerade die Möglichkeit, das Innerste des menschlichen Seins in der modernen Gesellschaft als einen »negativen, durch und durch katastrophischen«36 Zustand zu durch­ schauen. Aber die Kunstwerke, die die menschliche Welt in ihrer ganzen Nichtigkeit enthüllen, bleiben dennoch von der Sehnsucht beseelt, die faktisch bestehende falsche Realität einmal überwinden zu können. Der Zustand der mit sich versöhnten Welt wird im Schein des Kunstwerks so lange antizipiert, wie die gewaltlose Syn­ thesis des Begriffs und der Sache noch nicht realisiert worden ist. Im Schein des Kunstwerks liegt ein Versprechen, das durch den Begriff allerdings nicht eingelöst werden kann. Mit dieser Überzeu­ gung distanziert sich Adorno schließlich radikal von Hegel, dem das Selbstverständnis der ›nachmetaphysischen Moderne‹ unbekannt geblieben ist. Mit dem in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnenden Zerfall der metaphysischen Tradition, die das Denken von Einheit, Ganzheit und Vollkommenheit favorisierte, und in der Entwicklung der modernen Kunst, in der Begriffe wie Destruktion, Deformation oder Dekomposition eine Schlüsselrolle spielen, muss die platonische Idee der ewigen Schönheit mit dem Tode ringen. Das dem Schönen entgegengesetzte Hässliche, dessen Darstellung seit Platon dem strengsten Verdikt unterlag, wird freigesetzt und von der Kunst »absorbiert« (ÄT, 407)37; dadurch musste sich der Begriff der Schönheit zwangsläufig völlig verändern. Baudelaire beispiels­ weise charakterisiert die »gegenwärtige Schönheit« im Zeichen der Modernität gänzlich unplatonisch als »das Vorübergehende, das Ent­

35 H. Paetzold, Profile der Ästhetik. Der Status von Kunst und Architektur in der Post­ moderne, Wien 1990, S. 114. 36 Ebd., S. 107. 37 Ich zitiere nach Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1981.

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7. Die Rehabilitierung des Naturschönen und der utopische Gehalt der Kunst

schwindende, das Zufällige«38. Adorno geht auch von Baudelaire aus, wenn er die Moderne mit seiner Ästhetik der Negativität philosophisch bestimmt und legitimiert. In seinem Anliegen, den »Wahrheitsgehalt der Kunstwerke« auf den Begriff zu bringen, stützt er sich in erster Linie aber auf Hegels Philosophie, deren dialektischen Ansatz er ins 20. Jahrhundert hinüberretten möchte, jedoch ohne die Negation der Negation mit Positivität gleichzusetzen. Damit wendet sich Adorno gegen die unter dem Primat des Geistes vollzogene Identität von Begriff und Sache, die Versöhnung verspricht, deren Ausbleiben in der gesellschaftlichen Realität dem hegelschen System jedoch dessen Unwahrheit offenbart. Auch wenn sich Adorno immer wieder an der hegelschen Methode schulte, seine Negative Dialektik, die vom real unversöhnten Gesellschaftszustand ausgeht, rechnet Hegel eine ungewollte Affinität zum positivistischen Identitätsdenken vor. Mit seiner Auffassung einer prinzipiellen ›Nichtidentität von Identität und Nichtidentität‹ widersetzt sich Adorno jedem System- und Iden­ titätsdenken und wird zum ›Anwalt‹ des Besonderen. In dieser Eigen­ schaft hat er in seiner Minima Moralia Hegels Prämisse, das Wahre sei das Ganze, mit dem gegenteiligen Satz, nämlich dass das Ganze das Unwahre sei, endgültig aufzuheben versucht.39 Adornos Insistieren auf ein geschichtlich vermitteltes Natur­ schönes als zentrales Moment ästhetischer Erfahrung sprengt die Immanenz einer durch das vernünftige Subjekt gesetzten Identität. Durch deren Gewalt dem Nichtidentischen gegenüber kann das spe­ zifisch Andere der Kunst nicht zureichend zur Geltung kommen. Die antagonistische Struktur der Realität kann das Terrain abgeben, in dem Kunst als das Andere dieser Realität zu erscheinen vermag. Durch den anhaltenden und sich totalisierenden Zustand der Natur­ beherrschung wird die Kunst ausdrücklich als Gegengewicht heraus­ gefordert, sich vermöge ihrer besonderen Wahrheitserfahrung als Antithese der Empirie entgegenzustellen. Inmitten der auf Rationa­ lität eingeschworenen Gesellschaft vollzieht sich in der Kunst ein Verhalten, in dem das Subjekt sich gewaltlos zu seinem anderen stellt. Dieses Verhalten beschreibt Adorno mit dem Begriff ›Mimesis‹. Mimetisches Verhalten in der Kunst wird aber nicht losgelöst von Rationalität betrachtet, denn es bringt das »von der Rationalität verschüttete Bild ihres Zwecks« (ÄT, 86) zum Ausdruck. 38 39

Ch. Baudelaire, Gesammelte Schriften, Bd. IV, Dreieich 1981, S. 286. Vgl. Th. W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt a. M. 1980, S. 57.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Der traditionelle Begriff der ›Mimesis‹, der seit Aristoteles benutzt wurde, die Aufgabe der Kunst zu bestimmen, wird von Adorno in der Reflexion über moderne Kunst neu konturiert. Damit versucht er zu demonstrieren, warum Kunstwerke sich antithetisch der Realität gegenüber verhalten. Meinte Mimesis traditionell das schlichte Nachahmen der Natur, so transformiert Adorno sie zu einer schillernden Kategorie, die sich wohl am besten mit ›Anähnelung‹ und ›Anschmiegung‹ übersetzen lässt. Naturerfahrung des rationalen Subjekts ist die des Objektivierens, die die Fremdheit der Natur, die Quelle der Angst des Subjekts, annulliert. Naturerfahrung des künst­ lerischen Subjekts entledigt sich zum Teil dieses distanzierenden Ver­ hältnisses, versucht gewaltlos der Natur gegenüberzutreten. Kunst emanzipiert sich von Natur durch Mimesis an diese, d. i. eine Eman­ zipation ohne den vollständigen Verlust von Natur: »Kunst ist Zuflucht des mimetischen Verhaltens. In ihr stellt das Subjekt, auf wechselnden Stufen seiner Autonomie, sich zu seinem Anderen, davon getrennt und doch nicht durchaus getrennt.« (ÄT, 86) Die Erfahrung der Kunst, besonders der modernen Kunst, bezeichnet so eine Erkenntnis, die der Signifikanz der abstrakten Begriffe mangelt und doch Natur (das Nichtidentische, das Besondere) eigentümlich zum Sprechen bringt: »[D]ie neue Kunst bemüht sich um die Ver­ wandlung der kommunikativen Sprache in eine mimetische. [...] Die wahre Sprache der Kunst ist sprachlos.« (ÄT, 171) Und zur Erkennt­ nisweise der Kunst sagt Adorno weiter: »Kunst berichtigt die begriff­ liche Erkenntnis, weil sie, abgespalten, vollbringt, was jene von der unbildlichen Subjekt-Objekt-Relation vergebens erwartet: daß durch subjektive Leistung ein Objektives sich enthüllt.« (ÄT, 173) Mimeti­ sches Verhalten in der Kunst versucht so eine Korrektur der dualisti­ schen Subjekt-Objekt-Trennung, die auch Hegels Dialektik durch ihre identitätsphilosophische Aufhebung nicht erreichte, da bei ihm das Objekt (Natur) nicht spricht, sondern nur der Geist durch es: »Fort­ lebende Mimesis, die nichtbegriffliche Affinität des subjektiv Her­ vorgebrachten zu seinem Anderen, nicht Gesetzten, bestimmt Kunst als eine Gestalt der Erkenntnis, und insofern ihrerseits als ›rational‹.« (ÄT, 86 f.) Der Wahrheitsgehalt der Kunst beruht demnach auch in dieser autonomen Weise auf Erkenntnis, die der Natur beisteht. Doch eine verselbstständigte Mimesis würde in Magie und Zauber zurück­ fallen. Sie hätte keinen Sinn für das notwendig historisch Gewordene der Kunst, nämlich ihrer Autonomie. Gelungene Mimesis erscheint durch das ihr Oppositionelle: nämlich Rationalität. Denn, und hier

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7. Die Rehabilitierung des Naturschönen und der utopische Gehalt der Kunst

hält Adorno an Hegel fest, Kunstwerke sind auch durch den Geist, durch subjektive Tätigkeit keine überflüssige Verdopplung der gegen­ ständlichen Welt: »Kunst möchte gerade durch ihre fortschreitende Vergeistigung, durch Trennung von Natur, diese Trennung, an der sie leidet und die sie inspiriert, revozieren.« (ÄT, 141) Mimesis wird so zum Medium einer ästhetischen Ganzheitserfahrung in einer vom analytischen Geist parzellierten Welt. In seiner Ästhetischen Theorie rehabilitiert Adorno das Natur­ schöne Kants gegen Hegels idealistische Favorisierung des Kunstschö­ nen als ästhetische Grundschicht des Kunstwerks. Trotzdem bleibt die Ästhetische Theorie Hegel verpflichtet. Zwar versagen Adorno zufolge die traditionellen Kategorien vor den Werken der modernen Kunst (und hier würden die hegelschen keine Ausnahme machen), aber die ästhetische Dimension wird von Adorno selbstverständlich in der Bewegung erfahren und erschlossen, die das dialektische Denken vollzieht. Kunst tritt aus der Empirie heraus und schafft deren mögli­ ches Gegenbild. Aber dieses Gegenbild muss als Werk verobjektiviert werden und tritt damit wieder in den Kreis der empirischen Realität zurück. Schönheit verlangt Ausgleich der Spannung im Kunstwerk, aber sie kehrt sich zugleich gegen die Erfüllung dieses Ausgleichs. Das ist mit Hegel gegen Hegel gesprochen, denn Schönheit, die als labiles Gleichgewicht der Spannung im Kunstwerk sich bestimmt, hat eine »Substanz«, die sich dem »festen Begriff« (ÄT, 118) ent­ zieht. Angesichts der Kolonisierung der Natur durch Gesellschaft und Technik suchen die authentischen Kunstwerke Adorno zufolge Zuspruch vom begrifflich nicht einholbaren Naturschönen, von dem die Kritik der Urteilskraft immer ausgegangen war (ÄT, 97). Insofern steht Adorno mit seiner Ästhetischen Theorie sowohl in der Tradition der kantischen als auch der hegelschen Ästhetik, ohne beide als Resultat zu vereinigen. Er versucht auch nicht, Kants Formästhetik gegen Hegels Gehaltsästhetik auszuspielen, denn für Adorno sind im Kunstwerk Form und Inhalt miteinander vermittelt, wobei gilt, dass stets mit und zugleich gegen Kant und Hegel gedacht wird. Beide, Kant als auch Hegel, haben demnach ihr relatives Recht in der Ästhetischen Theorie, die den Anspruch hat, die Kunst der Moderne philosophisch zu bestimmen und zu legitimieren, ohne sie dabei als »Resultat« zu vereinnahmen: »Es ginge also darum, das ›Resultat‹ zu vermeiden.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Darum, eine Dialektik zu denken – und also schon in dieser selbst zu denken –, die kein Moment eines spekulativen Diskurses wäre.«40

8. Die Krise der Ästhetik des Schönen und das Erhabene in der Kunst Der Rehabilitierung des Naturschönen, die wesentlich eine Leistung der 1970 posthum erschienenen Ästhetischen Theorie von Adorno ist, folgt in den 1980er Jahren eine durch Lyotard initiierte Aktualisierung des Erhabenen. Für Lyotard ist die Ästhetik der Avantgarde der Moderne eine Ästhetik des Erhabenen. Die Ästhetik des Schönen sei unkritisch zum bloßen »Design« verkommen und auf eine Ware reduziert worden. Gegen diesen Trend setzt Lyotard auf die Produk­ tion von Kunstwerken, die nicht an den Gemeinsinn eines geteilten Wohlgefallens appellieren, die keine »Wirklichkeit« liefern, sondern Anspielungen auf ein »Denkbares« erfinden, das nicht dargestellt und nicht mitgeteilt werden kann. Solche Kunstwerke findet Lyotard in der Avantgarde des 20. Jahrhunderts; sie erscheinen dem Publikum als »formlose« und »ungeheure« Gegenstände, die Unlust hervor­ rufen. Nach Lyotard entzieht sich die Kunst der Avantgarde »qua Voraussetzung notwendig« dem auf Sichtbarkeit fixierten Publikums­ geschmack, der an eine Ästhetik des Schönen gebunden sei. Der avantgardistische Künstler stellt sich dagegen eine Aufgabe, die darin besteht, sehen zu lassen, dass es Unsichtbares im Sichtbaren gibt, darzustellen, dass es etwas Nicht-Darstellbares gibt. Was aber ist dieses Undarstellbare überhaupt? Lyotard sagt: »Das Undarstellbare ist Gegenstand einer Idee, für die sich kein Beispiel, kein Fall und auch kein Symbol zeigen (darstellen) läßt« (I, 218).41 Es lässt sich nicht darstellen, denn »darstellen heißt relativieren« (ebd.), heißt in Bezüge setzen, unter Bedingungen der Sichtbarkeit bringen. Das, was Lyotard mit Kant »das Absolute überhaupt« nennt, lässt sich nicht in »vergleichende« Zusammenhänge stellen; insofern ist es nicht darstellbar, darstellbar ist jedoch, dass es Absolutes gibt. Damit kann die Malerei, wie Lyotard sagt, »in den Bereich eindringen, den die Ästhetik des Erhabenen erschlossen hat« (I, 216). Was aber ist das Erhabene? 40 41

J.-F. Lyotard, Streitgespräche, oder: Sprechen ›nach Auschwitz‹, Bremen 1981, S. 25. Ich zitiere nach J.-F. Lyotard, Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, Wien 1989.

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8. Die Krise der Ästhetik des Schönen und das Erhabene in der Kunst

Die Begriffsgeschichte des Erhabenen geht bis in die Antike zurück. Im Griechischen bedeutet das Erhabene (hypsos = Höhe) »die Erhöhung der pathetisch sich aufschwingenden Seele«, es bezeichnet eine »Selbststeigerung«, die im »enthusiastischen Dichtervortrag« hervorgerufen wird und sich in der »Katharsis«, der Reinigung der Affekte von Furcht und Mitleid vollendet.42 An diese ursprüngli­ che Bedeutung versucht Platon, allerdings »unter nachsophistischen Bedingungen«43, d. h. auf der Basis der Ideenlehre, anzuknüpfen. Die mit dem Wort hypsos verbundene Vorstellung eines »räumlichen Aufschwungs« ist im »Höhlengleichnis« als auch in der Beschreibung des Stufenweges in der Erkenntnis des Schönen im Symposion enthal­ ten.44 Aristophanes hingegen sieht im Erhabenen die »hohle Form« aller »dichterischen Himmelsausflüge« und ersetzt es, gleich Aristote­ les, durch die »Klarheit« des sprachlichen Ausdrucks.45 Dagegen stellt die einem gewissen Longinus zugeschriebene Abhandlung Vom Erha­ benen (»Peri hypsous«) den Versuch dar, die ursprüngliche Bedeutung von hypsos zu bewahren. Longinus ist Rhetoriker; es geht ihm um die Erhebung der Seele durch Dichtung und Redekunst, d. h. um eine »Hochsinnigkeit«, die zugleich die Bedingung der Gelungenheit des sprachlichen Kunstwerks darstellt. Der erhabene Stil, der nicht aus empeiria entspringt, sondern sich über das sinnlich Vorhandene erheben kann, weil in ihm das Ursprüngliche auftritt, nähert sich dem höheren Sinn Gottes; aber anders als bei Platon, für den die Dichtung nur unter der Führung der Philosophie ein Bewusstsein vom Göttlichen festhalten könnte, will Longinus dieses Ziel mit einer die Philosophie sich unterordnenden Dichtung erreichen. Die Lehre vom erhabenen Stil muss daher selbst im erhabenen Stil dargestellt werden. Weil der erhabene Stil nicht auf Kunstfertigkeit beruht, sondern auf eine natürliche Anlage zurückzuführen ist, kann es eine »Kunstlehre des Erhabenen« eigentlich nicht geben; Longinus hingegen behauptet, »daß sich das Gegenteil beweisen läßt, wenn man bedenkt, daß die Natur zwar im Pathetischen und Gehobenen

Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Sp. 624. Ebd., Sp. 625. 44 Vgl. J. H. Kühn, Hypsos. Eine Untersuchung zur Entwicklungsgeschichte des Auf­ schwungsgedankens von Platon bis Poseidonios, Stuttgart 1941. 45 Vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Sp. 625 f. 42

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

zumeist nach eigenem Gesetz, nicht jedoch willkürlich oder ganz ohne Regeln zu verfahren pflegt ...«46 Mit Nicolas Boileau, der Mitte des 17. Jahrhunderts den Traktat Vom Erhabenen ins Französische übersetzte, wird die strenge Form, die seit der auf das klassische Altertum zurückblickenden Renais­ sancezeit im Zentrum ästhetischer Auffassungen gestanden hatte, durch die regellose schöpferische Ausdruckskraft des Künstlers und des Redners in den Hintergrund gedrängt. Auch Joseph Addison bewertet die erhabene, von Regeln unbeeinträchtigte Form des Kunst­ werks in Übereinstimmung mit Longinus zunächst höher als die streng geregelte Form klassizistischer Prägung47, stellt schließlich jedoch das Erhabene dem Schönen gleichberechtigt zur Seite. Diese Gegenüberstellung des Erhabenen und Schönen ist für Edmund Burke bereits selbstverständlich. In seinem Werk A Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and the Beautiful begründet er 1757 eine psychologische Ästhetik, die zwischen dem Schönen und dem Erhabenen streng unterscheidet und ersteres mit dem »Gesellig­ keitstrieb«, letzteres mit dem »Selbsterhaltungstrieb« verbindet. Kant zeigt 1764 in seiner anthropologisch-psychologischen Stu­ die Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, dass »Größe« das Hauptmerkmal jedes Erhabenen ist. Anders als Hume und Burke versucht Kant in Ansätzen bereits in dieser Schrift, der Beliebigkeit des ästhetischen Urteils entgegenzutreten. Das Erhabene und Schöne sollen mit Ansprüchen auf Allgemeingültigkeit verbun­ den werden können: dem Erhabenen soll »allgemeine Achtung« entgegengebracht werden, dem Schönen »allgemeine Wohlgewogen­ heit« (VS, Bd. 2, 837).48 Das durch »Grausen« und »Schwermut« (827) sich erregende Gefühl des Erhabenen, das dem Menschen bei genügender Übung »zu tugendhaften Regungen geschickt macht« (826), ist ein »ernsthaftes« (827) Gefühl. Während das Schöne mit »adoptierten« Tugenden »geadelt« wird, beruht das Erhabene auf »Grundsätzen« und ist deswegen »echte« Tugend (837). Auch in der Kritik der Urteilskraft von 1790 ist das Erhabene dem Schönen entgegengesetzt. Obwohl das Schöne wie das Erhabene darin übereinkommen, »daß beides für sich selbst gefällt« (KU, § 23), fallen Longinus, Vom Erhabenen, hrsg. v. O. Schönberger, Stuttgart 1988, S. 7. G. Pochat, Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Köln 1986, S. 368. 48 Ich zitiere nach I. Kant, Vorkritische Schriften bis 1768, Bd. II, hrsg. v. W. Weischedel, Frankfurt a. M. 1977. 46

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8. Die Krise der Ästhetik des Schönen und das Erhabene in der Kunst

für Kant auch »namhafte Unterschiede« in die Augen: »Das Schöne der Natur betrifft die Form des Gegenstandes, die in der Begrenzung besteht; das Erhabene ist dagegen auch an einem formlosen Gegen­ stande zu finden, sofern Unbegrenztheit an ihm, oder durch dessen Veranlassung, vorgestellt und doch Totalität derselben hinzugedacht wird: so daß das Schöne für die Darstellung eines unbestimmten Ver­ standesbegriffs, das Erhabene aber eines dergleichen Vernunftbegriffs genommen zu werden scheint« (KU, § 23). Das Wohlgefallen am Erhabenen ist »kein Spiel, sondern Ernst in der Beschäftigung der Einbildungskraft«; es erregt nicht positive Lust, »vielmehr Bewunde­ rung oder Achtung«, die Kant »negative Lust« nennt; es ist ein Gefühl, welches »nur indirekt entspringt«, d. h. aus »einer augenblicklichen Hemmung der Lebenskräfte und darauf sogleich folgenden desto stär­ keren Ergießung derselben erzeugt wird« und daher nicht in einem Naturgegenstand, sondern nur im Gemüt selbst, in seinen Ideen angetroffen werden kann. Zwar soll die Analytik des Erhabenen am Leitfaden der gleichen »Momente« (KU, § 24) erfolgen wie in der Zergliederung der Geschmacksurteile, aber die Einteilung der Momente verändert sich durch die Unterscheidung zwischen dem Mathematisch- und dem Dynamisch-Erhabenen, außerdem wird die Untersuchung hinsichtlich der Relation nicht explizit durchgeführt. Während das Mathematisch-Erhabene im Verhältnis zum Erkenntnisvermögen untersucht wird, wird das Dynamisch-Erhabene in Beziehung auf das Begehrungsvermögen betrachtet. Daraus folgt, dass die Natur in der Beurteilung des ersteren als über alle Verglei­ chung groß erscheint, während sie in der Beurteilung des letzteren als furchterregende Macht dargestellt wird. Die Einbildungskraft schei­ tert in beiden Fällen, ihre überwältigenden Auffassungen zu einer Vorstellung zusammenzufassen. Das erhabene Gefühl verdankt sich der Möglichkeit, das Scheitern der Einbildungskraft in einen Erfolg der Vernunft verwandeln zu können. Dazu muss sich das Gemüt von der Sinnlichkeit lösen und den Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zuwenden. Die Vernunft enthält einen Anspruch auf abso­ lute Totalität, d. h. auf Zusammenfassung der Erscheinungen in der Sinnenwelt zu einem Ganzen und fordert von der Einbildungskraft, sich alle sinnlichen Erscheinungen als Ganzes vorzustellen. Wenn die Erscheinungen nun so groß oder so mächtig sind, dass alle Bemühungen der Einbildungskraft, sie gemäß der Vernunftforderung in ein Ganzes zu fassen, vergeblich bleiben, fühlt sie die Schranken

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

ihrer synthetisierenden Tätigkeit und sinkt deprimiert in sich zurück. Um aus dieser Unlust doch noch eine Lust entstehen zu lassen, muss die Einbildungskraft nach einem anderen Gesetz, das die Vernunft ihr vorlegt, zweckmäßig bestimmt werden. Die Vermittlung zwischen Einbildungskraft und Vernunft wird dabei von der ästhetisch reflektie­ renden Urteilskraft hergestellt. Will man nun über das Erhabene in der bildenden Kunst spre­ chen, bedarf es einer Erklärung, denn weder Burke noch Kant haben die Malerei für fähig gehalten, das Erhabene zu entfalten, weil sie den Zwängen der figurativen Darstellung unterliege. Allenfalls in der Dichtung könnte das Erhabene ihnen zufolge einen Platz finden. Als Beispiel führt Burke Miltons Schilderung des höllischen Reichs in Paradise Lost an. Bei Kant liegt der Fall ähnlich. Nach ihm gelingt es nicht, das Absolute der Macht und das Unendliche der Größe in Raum und Zeit darzustellen, weil es reine Ideen sind. Es scheint demnach so zu sein, dass das Erhabene in der Malerei keinen Platz finden könne. Lyotard zeigt jedoch, dass Kant »unfreiwillig eine andere Lösung« (I, 152) für das Problem des Erhabenen in der Malerei nahelegt: Wenn Kant das Verbot von Bildern durch das jüdische Gesetz als Beispiel für das Paradoxon einer »negativen Darstellung« anführt, so habe er einen Hinweis für die »abstraktionistischen und minimalistischen Auswege« aus dem »figurativen Gefängnis« (I, 152) der Malerei gegeben. In der Moderne wird die Überwindung der figurativen Repräsentation der Wirklichkeit zur Bestimmung der Kunst. Damit kann die Malerei, wie Lyotard sagt, in den Bereich eintreten, den die Ästhetik des Erhabenen erschlossen hat, und Zeugnis ablegen von der Inkommensurabilität von Denken und Wirklichkeit. In der Moderne laufen die wesentlichen Bestrebungen der Kunst darauf hinaus, nicht die darstellbare Wirklichkeit, sondern die undarstellba­ ren Seinsgründe im Kunstwerk zu offenbaren und dadurch nicht sinn­ liche, sondern seinserfüllte Schönheit vernehmbar zu machen. Anders als aus der ästhetischen Auffassung der Kunst, in der sich das Schöne als harmonische Empfindung des Wirklichen ankündigt, soll aus der ontologischen Auffassung etwas den Menschen Verpflichtendes, die Wirklichkeit an sich, die zur Selbsterhaltung der Menschheit auffor­ dernde Präsenz einer undarstellbaren Idee der Vernunft, resultieren. Der eigentliche Gegenstand der modernen Kunst ist das »Sein«, das den Erscheinungen zugrunde liegt, aber selbst keine ist. Und dieses Sein kündigt sich dem Betrachter, wie Lyotard sagt, »imperativisch« an (I, 157). Insofern kommt es in der modernen Malerei immer wieder

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8. Die Krise der Ästhetik des Schönen und das Erhabene in der Kunst

zu einer »Quasi-Darstellung« von etwas, was eigentlich gar nicht darstellbar ist. Das Erhabene der bildnerischen Avantgarden ist ein »immanentes«; es ist zu suchen »in der Materie der künstlerischen Arbeit selbst«, in den unendlich durchzuführenden plastischen Ver­ suchen, das Absolute, das undarstellbar ist, d. h. »das Universum, die Menschheit, das Ende der Geschichte, den Augenblick, den Raum, das Gute und so weiter« (I, 218), hervorzurufen. Aber woher rührt das Hervorrufen des Absoluten, woher rührt die »merkwürdige Leidenschaft« der Vernunft, von der Einbildungs­ kraft, die sich im Relativen befindet und dort ihre Synthesen vor­ nimmt (die grundlegendsten Synthesen, durch die etwas gegeben wird), etwas zu fordern, was sie qua Voraussetzung gar nicht leis­ ten kann, nämlich die Darstellung des Absoluten? Die Logik der Avantgarden gehört Lyotard zufolge, ebenso wie die des technischwissenschaftlichen Apparats, zu einem »Bewältigungsprozess«, der die Probleme der Evakuierung der Menschheit vor dem Tod der Sonne zu lösen hat. Die Aufgabe der Avantgarden besteht darin, für diese Problematik »empfänglich« zu machen, indem sie das Absolute immer wieder hervorruft.49 Der Menschheit steht in der Tat eine gewaltige Katastrophe bevor, wie die Naturwissenschaftler behaupten. Die Sonne wird explodieren und damit das Ende des Lebens auf der Erde besiegeln. Zwar wird die Katastrophe erst in »viereinhalb Milliarden Jahren« (I, 24) eintreten, aber die Notwendigkeit wird immer dringlicher, darüber nachzudenken, ob und wie das Denken die Katastrophe überdauern kann. Lyotard stellt sich daher die Frage, ob es ein Denken ohne Körper geben kann, d. h. ob das Denken sich vom Körper lösen kann, obwohl alles bisherige Denken immer vom Körper abhängig war. An der Beantwortung dieser Frage, so glaubt nun Lyotard, arbeiten, allerdings unbewusst, nicht nur der gesamte technisch-wis­ senschaftliche Apparat der modernen Gesellschaften, sondern auch die künstlerischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts. In diesem Sinne müssen wir die Aufgabe der Avantgarden darin verstehen, das Absolute hervorzurufen. Wie für Platon der Aufstieg zur Schönheit, so verspricht für Lyotard, so meine These, das Hervorrufen des Absoluten eine Teilhabe an der Unsterblichkeit. Das Erhabene, das Lyotard zufolge in der Kunst der Avantgarden auf dem Spiel steht, ist in Wahrheit ein Metaphysisch-Schönes. Die Idee des Schönen, die 49

Vgl. J.-F. Lyotard, Postmoderne für Kinder, Wien 1987, S. 109 f.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Platon und Plotin für unsterblich erklärt hatten, ist in der Kunst des 20. Jahrhunderts nicht wirklich gestorben, sondern in der Ästhetik des Erhabenen zu neuem Leben erstanden. Endgültig gestorben ist für Lyotard lediglich die durch Kant und Hegel gegen Platons und Plotins Auffassung rehabilitierte sinnliche Schönheit, weil sie zur Selbster­ haltung der Menschheit nichts beitragen konnte. Dies aber bedeutet letztendlich das Ende der Ästhetik. Die Idee der Schönheit, die in der Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts durch ihre Versinnlichung Erfolg und Fall erleben musste, kann sich im 20. Jahrhundert weiter­ hin am Leben erhalten, weil sie die Ästhetik verlassen hat und wieder in die Metaphysik zurückgekehrt ist.

9. Das Ende der Kunst und die Kunst nach dem Ende der Kunst Die zentrale These Arthur C. Dantos ist die vom »Ende der Kunst«. Im Anschluss an Hegel meint er damit, dass sich die Kunst in einem bestimmten Moment in Philosophie verwandelt und dass sich diese Transformation auch wieder auflöst. Die moderne Kunst, die um die vorletzte Jahrhundertwende angetreten war, um Stück für Stück die malerischen Ebenen des Illusionismus der traditionellen Kunst seit der Neuzeit abzutragen, hat die Grenzen, die sie sich dabei selbst gesetzt hat, immer wieder überschreiten müssen. Um über diese Grenzüberschreitungen der Kunst genauer zu sprechen, wäre es erforderlich, sowohl auf die avantgardistischen Versuche einerseits zur Aufrechterhaltung und andererseits zur Überwindung der Grenze zwischen Kunst und Alltag als auch auf die ebenso in der Kunsttheorie wie bei den Künstlern vorzufindende Vorstellung von einem Ende der Kunst einzugehen, was in dem dafür nötigen Umfang in diesem Kapitel allerdings nicht geleistet werden kann. Aus diesem Grunde werde ich mich hier auf die These beschränken, dass das von Hegel bereits Anfang des 19. Jahrhunderts behauptete Ende der Kunst für eine Krise der Repräsentation steht, die sich im 20. Jahrhundert wie­ derholt. Diese Krise wurde vor allem von dem Kunsthistoriker Hans Belting sowie dem Kunstphilosophen Danto wahrgenommen und eingehend analysiert. Danto und Belting haben diesen Diskurs noch entscheidend erweitert. Sie sprechen nicht nur vom Ende der Kunst und vom Ende der Kunstgeschichte, sondern auch bereits von einer

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9. Das Ende der Kunst und die Kunst nach dem Ende der Kunst

Kunst nach dem Ende der Kunst und von einer Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte.50 Hatte die Kunst seit der Neuzeit den Versuch, auf der zweidimensionalen Fläche die Illusion einer dritten Dimension hervorzurufen, bis an seine Grenze getrieben, versuchen die Video-Installationen der Medienkunst in den 1990er Jahren, die Illusion der Wirklichkeit als Bewegung zu erzeugen. Genau dieser zentrale Aspekt der Wirklichkeit, d. h. die Zeitlichkeit, war der auf den räumlichen Aspekt fixierten Malerei seit der Renaissance nicht in den Blick gekommen. Erst mit den technischen Voraussetzungen der Medienkunst konnte die Bewegung als Grundzug der Wirklichkeit entdeckt und dargestellt werden. Kunst als Medienkunst betrachtet erfordert daher unweigerlich die endgültige Verabschiedung der tradi­ tionellen Kunst.51 In diesem Sinne sind aber nicht nur das abbildende Standbild, sondern auch sämtliche Versuche der Desillusionierung oder Refiktionalisierung des Standbildes als traditionelle Kunst zu definieren. Das Ende der Kunst ist demzufolge als das Ende des Standbildes zu verstehen. Kunst nach dem Ende der Kunst kann mit Notwendigkeit allein noch das technisch bewegte Bild sein. Das hat Folgen für die Kunstgeschichte, denn die Kunstgeschichte hat in der Vergangenheit als ihren Forschungsgegenstand ausschließlich das Standbild gekannt. Mit diesem Forschungsgegenstand ist Hans Belting zufolge auch die traditionelle Kunstgeschichte an ihr Ende gekommen. Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte ist Mediengeschichte des bewegten Bildes. Während Belting also seine Behauptung vom Ende der Kunst und der Kunstgeschichte mit der sich in der Kunst der 1990er Jahre vollziehenden Transformation des traditionellen Standbildes in das technisch bewegte Bild begründet, verlegt Danto das Ende der Kunst in die 1960er Jahre zurück und bringt es in Zusammenhang mit der Entstehung des postmodernen Pluralismus, der zunächst in der Pop Art auftaucht und mit dem es in der weiteren Entwicklung keine herrschende, historisch maßgebliche Stilrichtung mehr gibt.

50 Vgl. H. Belting, Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995; A. C. Danto, Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996. 51 Vgl. dazu H. Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne, München 1994, S. 175 ff.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Eine zweite entscheidende These Dantos lautet sinngemäß: Man kann auch mit dem Pluralismus leben.52 Hierzu muss man aber wis­ sen, dass eine solche These – die durch Nietzsche schon 100 Jahre vor­ her vorformuliert wurde – erst seit den 1980er Jahren philosophisch vertreten werden kann. Auch Danto selbst kann mit dem Pluralismus nicht so radikal leben, wie Nietzsche sich das noch vorgestellt hatte. Insofern vertritt er eher einen eingeschränkten Relativismus. Es stellt sich zuerst die Frage, was der Pluralismus für die Künstler bedeutet. Danto diagnostiziert eine fundamentale Wandlung des künstlerischen Selbstbewusstseins in der Reflexion einer kunst­ immanenten Entwicklung innerhalb der autonomen Kunstsphäre von der ersten zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Noch 1913 – so die These von Danto – war die Einstellung des Künstlers in der Moderne in einen Widerspruch verfangen: einerseits gab es viele Wahl- bzw. Stilmöglichkeiten (d. h. den Stilpluralismus), andererseits wurde jeweils nur ein wahrer und richtiger Weg propagiert (d. h. der Kunstmonismus). Dieser Kunstmonismus macht ohne Zweifel das eigentliche Kunstwollen der Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus. Mit Hegel gesprochen wäre das als neuer Klassizis­ mus zu betrachten, denn hier versuchen die Künstler offensichtlich, zwischen der sinnlichen Gestalt und dem geistigen Gehalt der Werke, oder – anders ausgedrückt – zwischen dem faktischen Werk und dem theoretischen Manifest eine Synthese herzustellen. Paradoxerweise ereignet sich dieser Versuch jedoch inmitten einer pluralistischen Phase der Kunstgeschichte. Dieser Widerspruch zwischen dem fakti­ schen Stilpluralismus und dem propagierten Kunstmonismus wurde sukzessive erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts aufgelöst. So stellt Danto – auf eine Podiumsdiskussion in der School of Visual Arts in New York rückblickend – fest, dass der Pluralismus in der Kunst noch 1981 eine »beunruhigende Vorstellung« (259) war, wenngleich er schon seit den 1970er Jahren künstlerische Praxis war und beispielsweise Malewitschs dogmatischen Kunstmonismus mehr oder weniger außer Kraft gesetzt hatte. Schon zu dieser Zeit gab es kei­ nen Mainstream mehr innerhalb der Kunst, sondern es wanden sich »zahllose kleine Einzelströmungen in einem gemeinsamen Flußbett« (264), um es mit Dantos Worten zu sagen.

Vgl. A. C. Danto, Mit dem Pluralismus leben lernen, in: Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996. Im Folgenden zitiere ich aus diesem Aufsatz.

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9. Das Ende der Kunst und die Kunst nach dem Ende der Kunst

Hauptströmung / Mainstream

Moderne:

- viele Wahlmöglichkeiten, eine richtige und wahre Strömung - Exklusivität und Essentialismus

Postmoderne:

- zahllose Einzelströmungen im gemeinsamen Flußbett - kein Mainstream

Im Jahre 1963 hatte Andy Warhol rhetorisch gefragt: »Wie kann man einfach sagen, daß ein Stil besser ist als ein anderer? Man sollte in der Lage sein, nächste Woche Abstrakter Expressionist oder Pop-Künstler oder Realist zu sein, ohne das Gefühl zu haben, etwas aufzugeben.« (260) Mit diesem Zitat trat Warhol bereits für einen Stilpluralismus ein und paraphrasierte damit ein bekanntes Marx-Zitat aus der Deutschen Ideologie, wonach jeder sich in jedem beruflichen Zweig ausbilden lassen und in diesem arbeiten können solle; eine ebenfalls bereits pluralistische Ideologie, für die aber weder in der Avantgar­ dekunst der frühen Sowjetunion noch in der westlichen Moderne ein Platz vorhanden war. Denn die Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bestanden mit »dem Eifer religiöser Intoleranz auf

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

der Exklusivität ihrer Strategien« (260), wie Danto sagt. Deutlich wird hier, wie sehr das Wesen der Kunst noch mit dem Wesen der Religion übereinstimmt: Religion wie auch Kunst sind dem Wesen nach ausschließlich (exklusiv) und intolerant; es kann danach nur einen wahren Glauben und nur eine wahre Kunstrichtung geben. Ideologie, Exklusivität und Essenzialismus waren die Charakteristika jener Zeit, die einen Pluralismus auf keinen Fall dulden konnte.

abstrakte Kunst = Ende der Kunst

Moderne Fortschritt abstrahierende gegenständliche

Entwicklung

Postmoderne Stile

keine herrschende, historisch maßgebliche Stilrichtung Entwicklung

Schemata zur Entwicklung der Kunst von der Moderne zur Postmoderne

Diese Situation änderte sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts radikal. Danto erwähnt eine in Europa nicht sehr bekannte US-amerikanische Künstlerin namens Jennifer Bartlett, die Mitte der 1960er Jahre provokativ geäußert haben soll, ihr gefalle so ziem­ lich alles in der Kunst. Für Danto ist sie deshalb eine »frühreife Pluralistin« (263). Sie verstieß mit ihrer Toleranz gegenüber verschie­ denen Wegen der Kunstauffassung und Kunstproduktion gegen den quasi-religiösen Charakter des ästhetischen Monismus der modernen Kunst jener Zeit. Sie interessierte sich nicht so sehr für die essen­ tialistische, theoretische Frage nach dem Wesen der Kunst, die bis dato immer wieder zu dogmatischen, kunstmonistischen Antworten geführt hatte, sondern vielmehr für die Kunstwerke in ihrer faktischen Vielfalt, in ihrer wesensfreien Pluralität. Unbewusst hatte sie in ihrem

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9. Das Ende der Kunst und die Kunst nach dem Ende der Kunst

eigenen Schaffen und Rezipieren von Kunst für sich die Kunst bereits von der Frage nach dem Wesen der Kunst, somit von der Kunsttheorie, entlastet oder diese zumindest nicht mehr ernst genommen. Als schließlich in den späten 1960ern alles zum Kunstwerk werden konnte, vom Brillo-Karton bis zum aufgewickelten Hühner­ draht, wurde deutlich, dass der Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst, so Danto, »kein visueller«, sondern ein »begrifflicher« (264) ist. Und diesen Unterschied vermochte nicht mehr die Kunst selbst herauszufinden, sondern diese Aufgabe fiel ab nun der »Kunst­ philosophie« zu. Wenn alles gefällt, wenn alles ein Kunstwerk sein kann, wenn es »kein verbindliches Aussehen für ein Kunstwerk« (263) mehr gibt, dann muss der Kunstmonismus aus der Kunstsphäre verabschiedet und die Kunstphilosophie von der Kunst entkoppelt werden. Danto sagt: »Künstler mußten nicht länger Philosophen sein. Indem sie die Frage nach dem Wesen der Kunst der Philosophie überantwortet hatten, stand es ihnen nun frei, zu tun, was sie wollten.« (264) Das Dispositiv der modernen autonomen Kunst mit ihrem Zusammenhang der Werke einerseits und den Manifesten und Kunst­ theorien andererseits zerfällt und entlässt die Kunstphilosophie aus seiner Sphäre; die ausdifferenzierte Kunstphilosophie erhält nun die neue, grundsätzliche Aufgabe, eine angemessene, d. h. allgemeine Kunstdefinition aufzustellen, ohne sich dabei auf die besonderen Werke einer Stilrichtung oder eines Zeitalters zu berufen – was Danto beispielsweise in seiner kunstphilosophischen Schrift Die Verklärung des Gewöhnlichen dann auch leistete, indem er die Grenzlinie zwi­ schen Kunst und Nicht-Kunst rekonstruierte.53 Der Widerspruch zwischen Stilpluralismus einerseits und Kunst­ monismus andererseits wurde durch die Entwicklungen seit den 1960er Jahren immer weiter aufgelöst, sodass die Künstler nun Kunst machen konnten ohne Kunsttheorie. Diese Entlastung der Künstler führte zu immer weiteren Entfaltungen der Pluralität. Seit den 1970er Jahren hat sich so eine »Arbeitsteilung« ergeben zwischen einem klar pluralistisch geprägten Kunstbereich einerseits und einer nach einer einheitlichen Kunstdefinition suchenden theoretischen Kunst­ philosophie andererseits. Die oben angesprochene weitere These Dantos vom »Ende der Kunst«, wonach sich die in einem bestimmten Moment in Philosophie A. C. Danto, Die Verklärung des Gewöhnlichen. Eine Philosophie der Kunst, Frank­ furt a. M. 1984.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

verwandelte Kunst wieder befreit, hängt eng mit der in den 1960er Jahren des letzten Jahrhunderts erfolgten Abkopplung der Kunsttheo­ rie als Kunstphilosophie von der Kunst zusammen. Denn die Erlösung der Kunst von der Frage nach dem Wesen der Kunst ist zugleich (und nichts anderes als) das Ende der Kunst bzw. ihrer Geschichte. In jenem historischen Moment der Trennung von Kunst und Kunstphilosophie war die Kunst »tatsächlich an ihr Ende gelangt« (264), wie Danto kategorisch behauptet. Das Ende der Kunst bedeutet also, die Grenze zwischen einer religiös verstandenen Kunst, die die Wesensfrage stellt, und einer wirklich pluralistischen, d. h. wesenslosen Kunst zu markieren. Insofern ist die Formel vom »Ende der Kunst« ein Grenzbegriff. Danto geht es – wie im Übrigen auch Hegel – darum, den Unterschied zwischen einer mit einem verbindlichen Kanon aus­ gestatteten Kunst-Religion und einer ›kanonlosen‹ Kunst zu bestim­ men. Sofern es nun seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine Entwicklungen in der Kunst mehr gibt, die einen verbindlichen Kanon hervorbringen, kann Danto von einer »post-historischen Periode der Kunst« (264) sprechen. Dieses Fehlen eines verbindlichen Kanons hat entscheidende Auswirkungen auf die Qualität der Kunst. Galt zuvor ein solcher Kanon als verbindliches Kriterium für künstlerische Qualität, so gilt Qualität jetzt als das, was unabhängig, getrennt von einem Kanon bzw. künstlerischen Standards entsteht, somit das, was nicht mehr diesen Kunstkriterien genügt – letztlich alles. Das Ende der Kunst, so verstanden, ist demnach der Übergang von religiöser Kunst zur völligen Freiheit der Kunst. Wie sieht es nun aber für Danto mit einem möglichen Pluralis­ mus in der Philosophie aus? Er selbst sagt, dass es in seinem Werk eine Verbindung zwischen einem »Antipluralismus in der Philosophie« und einem »Pluralismus in der Kunst« (270) gebe. Wie ist das nun zu verstehen? Welche Form nimmt diese Verbindung an? Es wurde oben gesagt, Kunstphilosophie werde von der Kunst abgekoppelt, die Kunst werde von der Wesensfrage entlastet. Aufgabe der Kunstphilosophie ist nach Danto, den nicht visuellen, sondern begrifflichen Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst zu bestim­ men. Kunstphilosophie im Sinne Dantos kümmert sich nicht darum, die eine Kunst von der anderen Kunst oder Kunst von »mehr«-Kunst oder »weniger«-Kunst zu unterscheiden und somit womöglich ein Kunstwerk dem anderen vorzuziehen oder gar kunstkritische Bewer­ tungen abzugeben. Kunstphilosophie hat Kunst von Nicht-Kunst,

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10. Zusammenfassung

d. h. den bloßen realen Alltagsgegenstand vom Kunstwerk zu unter­ scheiden, und sonst nichts zu tun. Sie stellt die Wesensfrage. Sie muss eine Definition vorlegen können, die nur eine eindeutige sein kann; insofern ist sie antipluralistisch. Aber gerade durch diese Entlastung der Kunst von der Wesensfrage gibt sie die Kunst in ihrer künstleri­ schen Praxis frei, alles wird nun machbar, jeder Stil ist erlaubt. Weil die Kunst als Kunst-Religion an ihr Ende gekommen und damit keiner eindeutigen Interpretation mehr verpflichtet ist, kann sie beispielsweise Danto oder andere Kritiker zur freien Beurteilung herausfordern. Eine solche Kunstkritik, die keine verkappte Kunstphi­ losophie mehr ist, beschäftigt sich ausschließlich mit der kritischen Beurteilung einzelner Werke. Meisterwerke einer so verstandenen Kunstkritik hat Danto in seinem Buch Reiz und Reflexion vorgelegt.54 Als »Kunstkritiker« kann Danto »an allem Gefallen finden« (271), d. h. dem Stilpluralismus frönen, als »Kunstphilosoph« unterschei­ det er mit quasi-religiöser Unerbittlichkeit zwischen dem bloßen realen Ding und dem Kunstwerk, huldigt somit der antipluralisti­ schen Wesensfrage.55

10. Zusammenfassung Fassen wir die wichtigsten Ergebnisse zusammen: Der Begriff der »Metaphysik«, der in der Nachfolge von Aristoteles geprägt wurde, spielt in der Geschichte der philosophischen Ästhetik ausnahmslos eine andere Rolle als in der Kunst und ihrer Geschichte, vor allem des 20. Jahrhunderts. Das Wort »Ästhetik« enthält grundsätzlich zwei Bedeutungen. Die erste und ältere geht auf das griechische Wort aisthesis zurück, was übersetzt »sinnliches Wahrnehmen« heißt. In der zweiten und heute geläufigen Bedeutung ist Ästhetik eine ›philosophische Disziplin‹, die sich von der traditionellen Metaphysik distanziert und sich mit dem Begriff der Schönheit als Gefühl (bei Kant) beschäftigt, den sie am Leitfaden der Kunst oder der Natur diskutiert. Von diesen beiden Bedeutungen geht ausdrücklich und ausführlich auch Kant aus, für den Ästhetik im weiteren Sinne die Wissenschaft der Regeln der Sinnlichkeit (in: KrV) und im engeren Sinne die Lehre von der Beurteilung des Schönen (in: KU) ist. 54 A. C. Danto, Reiz und Reflexion. Kunst in der historischen Gegenwart, Mün­ chen 1994. 55 Vgl. dazu auch A. C. Danto, Das Fortleben der Kunst, München 2000, S. 131 f.

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Kapitel 1 Die Idee des Schönen und das Werk der Kunst

Bei Kant, wie später auch bei Hegel, die beide den Begriff des Schönen sowohl mit einer Theorie der Künste als auch mit einer der sinnlichen Anschauung verbinden, wird die Schönheit aus dem anti­ ken und mittelalterlichen Reich der »objektivistischen Metaphysik«, d. h. der an der übersinnlichen Idee oder an Gott orientierten Meta­ physik, befreit. Aber während sie damit bei Kant zum Gegenstand einer ausschließlich vom Subjekt ausgehenden Ästhetik wird, wird sie bei Hegel zum Hauptbegriff einer Philosophie der Kunst, die den ontologischen Dualismus von Sein und Schein in Frage stellt und eine kulturgeschichtlich orientierte ›Ästhetische Theorie‹ anstrebt, die in Adornos Ästhetik, trotz aller Kritik Adornos an Hegel, einen hohen Rang einnimmt. ›Kunst‹ und ›Philosophie der Kunst‹ bzw. ›Ästhetik‹ sind hier sowohl in ihren jeweils eigenen geschichtlichen Entwicklungen als auch in ihren Wechselbeziehungen betrachtet worden. Nach Hegel haben beide es mit dem »in sich selbst Gehaltvollen« zu tun. Er beschreibt damit für ›Kunst‹ und ›Philosophie der Kunst‹ zwar einen gemeinsamen Gegenstand, aber die Beschäftigung damit wird für beide zu einer getrennten, letztlich zusammenhangslosen Aufgabe. Eine wechselseitige Befruchtung und Fortpflanzung in synchroner Hinsicht ist für Hegel nicht vorgesehen, denn Religion und Philo­ sophie sollen die Kunst aus ›systematischen Gründen‹ ja gerade überwinden. Und aus Adornos Kritik an Hegel resultiert dann, dass er die angesprochene gegenseitige Befruchtung und Versöhnung zwar anstrebt, letztlich jedoch – und zwar aus ›antisystematischen Grün­ den‹ – das notwendige Scheitern dieses Versuchs bekennen muss. Das, wie gesagt, von Hegel bereits Anfang des 19. Jahrhunderts behauptete Ende der Kunst steht für eine ›Krise der Repräsentation‹ und wiederholte sich in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Diese Krise, die vor allem von Hans Belting sowie Arthur C. Danto analysiert wurde, haben beide noch entscheidend erweitert. Für sie ist nicht nur das Ende der Kunst und das Ende der Kunstgeschichte, sondern auch schon die Kunst nach dem Ende der Kunst und die Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte angesagt. Eine zweite entschei­ dende These Dantos lautete sinngemäß: Man kann auch mit dem Pluralismus leben. Diese These, die von Nietzsche schon formuliert wurde, kann allerdings auch, wie Danto es in seiner Auseinander­ setzung mit Nietzsche gezeigt hat, mit der Kunst von Warhol, also erst nach den 1960er Jahren philosophisch vertreten werden. Auch Danto selbst kann in den 1980er Jahren mit dem Pluralismus nicht so radikal

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10. Zusammenfassung

leben, wie Nietzsche sich das noch vorgestellt hatte. Insofern vertritt er eher einen eingeschränkten Relativismus.

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen Ein allgemeiner Überblick über die verschiedenen Tendenzen im 20. Jahrhundert

Zur Entwicklung der Kultur im 20. Jahrhundert lässt sich die Grund­ these aufstellen, dass es eine Entwicklung von Einheit zu Vielheit bzw. vom Bedürfnis nach Einheit und Ganzheit zum Bedürfnis nach Vielheit und Verschiedenheit gibt. Der Begriff »Einheit« ist synonym zu den Begriffen Totalität, Wahrheit, Richtigkeit und Geschlossenheit. Unter dem Begriff »Vielheit« wird Pluralität, Toleranz, Demokratie und Offenheit verstanden. Die Moderne steht für das Bedürfnis nach Einheit und die Postmoderne für das nach Pluralität. Jürgen Habermas beispielsweise gilt als Vertreter der Position der Moderne, die der Vielheit einen gewissen Platz einräumt, Jean-François Lyo­ tard hingegen steht für die Postmoderne, die jede Einheit ablehnt. Die Debatte hinsichtlich Moderne versus Postmoderne gestaltet sich sehr schwierig, da die Begriffe »Postmoderne« und »Moderne« sehr vielschichtig und ambivalent sind. In der Debatte eröffneten sich zwei Ansichten: Die erste ist die, dass die Moderne in den 1960er Jahren endgültig in die Postmoderne verwandelt wurde. Die zweite Ansicht ist, dass die erste Moderne (ab 1910) in eine zweite Moderne (etwa ab 1990) transformiert wurde. Die Diskussion wird in vielen verschiedenen Bereichen geführt, beispielsweise in der Philosophie, der Kunst und der Architektur.56

56 Vgl. W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmoderne-Dis­ kussion, Weinheim 1988.

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

1. Die philosophischen Grundlagen Die moderne Kultur bzw. die kulturelle Moderne, die hier behandelt werden soll, teilt sich in kulturhistorischer Hinsicht in folgende unterschiedliche Bereiche auf: Musik, Literatur, Malerei, Architektur und Design als Gebrauchskunst. Es muss in diesem Zusammenhang zwischen den Begriffen »modern«, »die Moderne« und »Modernität« unterschieden werden. Die Gründe dafür können wie folgt dargestellt werden: Theodor W. Adorno hat die Moderne in seiner »Ästhetischen Theorie« in Bezug auf Charles Baudelaires Gedichtband »Die Blumen des Bösen« (1857) um 1850 herum beginnen lassen. Um die Moderne zu verstehen, muss man sich jedoch auch mit ihrer Vorgeschichte befassen. Dies ist möglich, indem man sich mit dem Wort »modern« geschichtlich auseinandersetzt. Zum einen wurde der Begriff im 5. Jahrhundert n. Chr. gebraucht, um die christliche Gegenwart von der heidnisch-römischen Vergangenheit abzugrenzen. In der Renaissance (14./15. Jahrhundert) kam der Begriff der »Modernität« als Epochenbewusstsein ins Spiel, um die eigene Zeit als Übergang vom Alten zum Neuen begreifen zu können. Dies lässt sich als eine tiefere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Antike bezeichnen. Doch schon vor der Renaissance, um das 12. Jahrhundert herum, wurde der Begriff »Modernität« gebraucht, um die Antike als normatives Vorbild, das zur Nachahmung empfohlen wurde, in das Bewusstsein der Menschen zu rücken. Dieses Bewusstsein von der geistigen Orientierung an der Antike dauerte mit der Epoche der Klassik an und wurde im 18./19. Jahrhundert durch die Roman­ tiker abgelöst. Letztere wendeten sich von den klassischen antiken Werten, dem Paradigma der Antike ab, und idealisierten zunächst das Mittelalter. Im Zeitalter der Romantik entstand damit etwas, was Adorno für den ästhetischen Bereich »die Moderne« genannt hatte. Im 19. Jahrhundert wurde auch die Phase der Romantik überwunden, sodass die eigentliche ästhetische Moderne beginnen konnte, die einen grundlegenden Teil der kulturellen Moderne ausmachte. Die ästhetische Moderne zeichnete sich durch ein radikalisiertes Bewusst­ sein von Modernität aus. Der geschichtliche Rückbezug wurde durch eine Aktualität des Zeitgeistes ersetzt. Nicht mehr die Antike oder das Mittelalter standen im Zentrum der geistigen Aktivität, sondern die Gegenwart sollte in den Werken der Kultur zum objektiven Ausdruck gebracht werden. Die Werke zeichneten sich durch »das

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1. Die philosophischen Grundlagen

Neue« aus, dem wichtigsten Kennzeichen der Moderne, statt sich mit Altem und Vergangenem zu beschäftigen. Adorno bezeichnete das Neue als »Gesinnung der ästhetischen Moderne« und verschaffte ihr im Anschluss an Baudelaire und Edgar Allan Poe deutlichere Konturen. Diese Strömungen entfalteten sich bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Dadaisten und Surrealisten weiter und zeichneten sich durch den Zeitgeist der Avantgarde aus. Der Begriff ist metaphorisch zu betrachten, kommt er doch ursprünglich aus dem Sprachschatz des Militärs und bezeichnete die Vorhut, die in unbekanntes Gebiet vorstößt, um Neues zu entdecken, die Risiken schockierender Entdeckungen immer im Hinterkopf. Ebenso lassen sich auch die künstlerischen Avantgardisten zu dieser Zeit charakteri­ sieren. Zusammenfassend lassen sich drei Grundsätze der Avantgarde herausstellen: Zum einen war es der Blick nach vorn statt in die Vergangenheit, zum anderen eine Verherrlichung der Aktualität. Zum dritten war es die Erfahrung einer mobilisierten Gesellschaft, ein besonderer Dynamismus, der euphorisch gefeiert wurde. Dieser Dynamismus steht für eine ganz besondere Sehnsucht. Es war keine Sehnsucht nach einer »unbefleckten, innehaltenden Gesellschaft«, sondern, wie Octavio Paz formulierte, »eine Sehnsucht nach wahrer Präsenz«. Sie wendete sich gegen alles Normale, Moralische und prak­ tisch Nützliche und versuchte eher, eine Faszination des Schreckens, der Geheimnisse und der Skandale zu verbreiten. Adorno drückte es so aus: »Die Male der Zerrüttung sind das Echtheitssiegel von Moderne; das, wodurch sie die Geschlossenheit des Immergleichen verzweifelt negiert; Explosion ist eine ihrer Invarianten.«57 Die ästhetische Moderne vertrat eine antihistorische Ideologie des immer Neuen, versuchte sich von unreflektierter Nachahmung einer Normativität zu distanzieren. Sie rebellierte gegen das, was Kunst früher auszeichnete, um Platz für die Inszenierung des Neuen zu gewinnen. Der Maler Kasimir Malewitsch beispielsweise schuf 1914/15 und in den 1920er Jahren mit seinen radikal neuen, abstrak­ ten Kunstwerken »Schwarzes Quadrat«58, wovon mehrere Exemplare entstanden, etwas Außergewöhnliches, ebenso wie sein Malerkollege Ad Reinhardt mit seiner Bildserie »Black Painting«, welche lediglich aus unterschiedlich schwarz lackierten Leinwänden bestand. Doch in Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt am Main 1982, S. 41. Vgl. J. Simmen, Kasimir Malewitsch: Das schwarze Quadrat. Vom Anti-Bild zur Ikone der Moderne, Frankfurt am Main 1998. 57

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts brachte diese Ideologie sich selbst zu Fall. 1970 fand der Modernismus kaum noch Resonanz. Der Grund war schlicht. Man fand nichts Neues, Individuelles mehr. Paz formulierte es in seinem Essay über Baudelaire so: »Die Modernität negiert sich schließlich selbst: die Avantgarde von 1967 wiederholt die Taten und Gesten derjenigen von 1917.«59 So diskreditierte sich die Avantgarde letzten Endes selbst, die surrealistische Revolte war gescheitert. Die Konsequenzen aus diesem Scheitern wurden unter­ schiedlich gezogen. Einige sahen es als endgültigen Abschied von der Moderne, andere erblickten in ihm einen Übergang in die Postmo­ derne. Aber was bedeutet nun die kulturelle Moderne? Die Idee der kulturellen Moderne entwickelte sich durch den Rückbezug auf die bereits erläuterte ästhetische Moderne, doch dieser Rückbezug muss eher als eine Beschränkung zu sehen sein, da der Begriff der kultu­ rellen Moderne viel mehr meint. Seit Platon bereits besteht eine Einheit aus dem Guten, dem Wahren und dem Schönen. Diese Einheit formiert sich als substanzielle Vernunft, eine Vernunft, die für sich selbst steht. Die substanzielle Vernunft differenziert sich in drei Wert­ sphären oder auch Expertenkulturen aus. Max Weber untersuchte die­ sen Ausdifferenzierungsprozess und stellte die drei Expertenkulturen Wissenschaft, Moral und Kunst heraus. Jürgen Habermas griff diese Idee der drei Wertsphären auf und fand heraus, dass diese drei Exper­ tenkulturen seit der Neuzeit in den Wissenschaften eine gewisse kog­ nitiv-instrumentelle Eigengesetzlichkeit hervorgebracht haben. Die Moral beispielsweise entwickelte eine moralisch-praktische Eigenge­ setzlichkeit, während die der Kunst eher ästhetisch-expressiver Natur war. Die Bildung der Eigengesetzlichkeit muss nicht als linearer Fortschritts-, sondern als Lernprozess verstanden werden. Doch die Ausbildung der Expertenkulturen brachte auch Probleme mit sich. Sie führte zu einer Kluft zwischen der breiten Masse und den Experten, zu kultureller Rationalisierung und letztlich zu einer Verarmung der Lebenswelt. Die Beschäftigung mit diesem Problem war nichts Neues. Immanuel Kant beschreibt diese Kluft bereits und befasst sich mit den einzelnen Wertsphären in seinen berühmten Kritiken: »Kritik der reinen Vernunft« (widmet sich der Wissenschaftstheorie der Naturwissenschaften) von 1781, »Kritik der praktischen Vernunft« (setzt sich mit den Gesetzen von Moral und Recht auseinander) von 59

O. Paz, Essays 2, Frankfurt am Main 1984, S. 329.

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1. Die philosophischen Grundlagen

1788, »Kritik der Urteilskraft« (in ihr beschäftigt sich Kant einerseits mit der dritten Expertenkultur der Kunst, andererseits versucht er, alle drei Wertsphären in einen »Zusammenklang« zu bringen) von 1790. Doch die meisten Philosophen sind sich heute einig, dass die­ ses Vorhaben gescheitert ist. In den 1970er Jahren erkannte auch Habermas dieses Problem und begann das »Projekt der Moderne« als Antwort und mögliche Lösung darauf zu entwickeln. Die drei Wertsphären Moral, Kunst und Wissenschaft müssen in ihrem kogni­ tiven Potenzial zu gleichen Teilen gefördert und im Zusammenhang weiterentwickelt werden. Sein dazu verfasstes Buch ist »Der philoso­ phische Diskurs der Moderne« (1985). Im Jahre 1981 präsentierte er seine »Theorie des kommunikativen Handelns«, die als systematische Hauptschrift interpretiert werden muss. Dieses System geht davon aus, dass eine Reflexion des Problems der Moderne, alle Wertsphä­ ren in einen Zusammenhang zu stellen, allein auf der Ebene der Vernunft, wie Kant es versucht hatte, nicht ausreicht. Vielmehr muss die soziologische Ebene ins Blickfeld hinzugenommen werden, das Expertenwissen muss durch einen Blick auf die Lebenswelt ergänzt werden. Modellhaft kann die Lebenswelt als eine Art Auffangbe­ cken gedacht werden, die das alleine nicht greifbare, »auslaufende« Expertenwissen auffängt. Um das Expertenwissen in die Lebenswelt »zurückfließen« zu lassen, braucht sie Hilfestellung. Diese wird nach Habermas durch Experten gewährleistet, die das Wissen in die Welt zurücktragen. Wichtig ist hier die Unterscheidung zwischen (Wissen) produzierenden und »übersetzenden« Experten. Letztere müssen die Distanz zwischen Bevölkerung und spezialisiertem Wissen dadurch überwinden, indem sie als Vermittler fungieren. Als Beispiel aus der Kunst lässt sich ein Zitat von Arnold Gehlen anführen. Er sagte: »Moderne Kunst ist kommentarbedürftig!« Dies heißt, dass Kunstkri­ tiker als Experten benötigt werden, um den wahren Sinn der Kunst zu erschließen. So verhält es sich bezogen auf alle Wertsphären der modernen Gesellschaft. Der Schwerpunkt meiner Überlegungen liegt im Weiteren auf der Ausdifferenzierung der Expertenkultur der Kunst. Für den Bereich der Kunst wurde ein eigener Gegenstandsbereich formuliert. Die Kategorisierung erfolgte auf der Grundlage des Schönen. Im 18. Jahr­ hundert wurde eine Entwicklung sichtbar, innerhalb derer die Hand­ lungsbereiche ausdifferenziert und institutionalisiert wurden, zum Beispiel die Bereiche der Musik, der bildenden Kunst und der Litera­ tur. Im 19. Jahrhundert war festzustellen, dass innerhalb des Kunstbe­

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

reiches eine ästhetizistische Ausprägung durchgesetzt wurde. Werke wurden im Bewusstsein des l’art pour l’art geschaffen, unter der Priorität der künstlerischen Form und der ästhetischen Gestaltung. Im Folgenden wird die Form von Kunst in und seit der Renais­ sance beschrieben. Kognitive Strukturen des Kunstbereichs wurden produziert und definiert und setzten sich von den kognitiven Struktu­ ren der Wissenschaft und der Moral ab. Dadurch wurde der Subjekti­ vismus gefördert und das »künstliche« der Kunst betont. Kunst hob sich somit von den anderen Bereichen ab und wurde als autonomer Bereich identifiziert. Kant formulierte im 18. Jahrhundert in seinem Werk »Kritik der Urteilskraft« eine Analyse des Geschmacksurteils. Dieser folgend war das Geschmacksurteil als etwas Subjektives anzu­ sehen. Jedoch durfte es nicht auf die Subjektivität reduziert werden, sondern bedurfte einer Form der intersubjektiven Zustimmung. Andernfalls wäre das Geschmacksurteil als beliebig anzusehen gewe­ sen. Die Werke der Kunst, als einem autonomen Bereich, erhoben Anspruch auf objektive Beurteilung. Notwendig hierfür war die Schaf­ fung eines Kriteriums, das dem Geltungsanspruch der Kunst genügte. Für den Bereich der Kunst wurde das Anspruchskriterium der Schön­ heit festgelegt. Parallel dazu entwickelte sich in der Wissenschaft der Geltungsbereich der Wahrheit, in Form von empirisch belegbaren Tatsachen, und für den Bereich der Moral der Anspruch des Rechts und der Richtigkeit des Handelns. Die Kunst als eigenständiger Geltungs­ bereich stand im Zusammenhang mit der Kunstkritik. Die Bewertung des Schönen konnte nicht auf Grundlage des Verstandes erfolgen. Nach Kant ist die Schönheit nicht als eine reale Eigenschaft anzuse­ hen, die den Dingen anhaftet, sondern begründet sich ausschließlich durch die Vorstellung. Der real existierende Gegenstand wird mit dem in der Vorstellung existierenden Idealbild abgeglichen. Fallen Gegen­ stand und Vorstellung zusammen, entsteht nach Kant ein Gefühl der Lust beim Betrachter – äquivalent dazu das Gefühl der Unlust, wenn Gegenstand und Vorstellung in Widerspruch stehen. Demzufolge kann das Geschmacksurteil nicht in der Außenwelt verortet werden, sondern findet seinen Platz in der Subjektivität, d. h. dem Inneren des Betrachters. Schönheit auf der Ebene der Vorstellung im Subjekt führt dazu, dass der Gegenstand der Vorstellung entspricht. Somit müssen wir uns den Gegenstand als einen fiktiven denken. Schönheit ist nicht real existierend an Gegenständen zu betrachten, sondern nur auf der Ebene des Bewusstseins zu erkennen. Den Gegenstand der Kunst als einen fiktiven zu betrachten, hat Sinn, da man ihn dadurch

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1. Die philosophischen Grundlagen

von der Denkungsart der anderen Expertenkulturen unterscheiden kann bzw. muss. Im Gegensatz zur Kunst ist in der Wissenschaft ein objektivierendes Denken der Außenwelt zu erkennen. Ebenso hat bei Recht und Moral die moralische Beurteilung nichts mit Fiktion zu tun. Ein ästhetischer Gegenstand ist immer verbunden mit einem Gefühls- und Gemütszustand des Betrachters. Wir können uns den ästhetischen Gemütszustand im Sinne eines interesselosen Wohlge­ fallens vorstellen. Von ästhetischer Betrachtung wird erwartet, dass auf Aneignung verzichtet wird. Aneignung wird hier im Sinne von »besitzen« oder »einverleiben« verstanden. Es geht lediglich um ein interesseloses Wohlgefallen an einem Kunstwerk. Die Kunst definiert sich in Abgrenzung von Moral und Wissen. Daraus resultiert, dass Grundbegriffe der Ästhetik als Abgrenzungsbegriffe zu verstehen sind. Nur wenige Begriffe gehen darüber hinaus. Kant definiert den Begriff des »Genies« als positiven. Er deutet auf diese Weise ein Wesen, das in der Lage ist, im freien Gebrauch seiner Erkenntniskräfte eine musterhafte Originalität hervorzubringen. Kurz, das Genie ist ein begabter Künstler: Er ist in der Lage, bestimmten Erfahrungen einen authentischen Ausdruck verleihen zu können. Er ist ein Wesen, das einerseits fähig ist, sich als dezentrierte Subjektivität von den Zwängen des Erkennens der Wissenschaften zu befreien, andererseits vom Handeln nach den Gesetzen von Moral und Recht loszusprechen. Aufgrund der dadurch entstehenden Autonomie kann das Genie die Eigengesetzlichkeit des Ästhetischen entfalten. Damit in der Gesellschaft ein Genie entstehen kann, muss: 1.) die Kunstproduktion institutionalisiert werden. Beispiel: der Kunstmarkt. 2.) In der Kunst muss es zu einem ästhetizistischen Selbstverständnis des Künstlers und ergänzend zu einem ästhetizistischen Selbstverständnis eines Kritikers kommen. In den nachfolgenden Ausführungen werden zwei unterschiedli­ che Formen des Kritikers unterschieden. Auf der einen Seite befindet sich der Kritiker innerhalb des Kunstbereichs. Er wird betrachtet als Interpret der Kunst selbst. Dadurch verschafft sich der Kunstbereich ein Bewusstsein des künstlerischen Schaffens überhaupt. Auf der anderen Seite versteht er sich als Anwalt des Publikums. Er besitzt eine Übersetzungsfunktion, um den Rückfluss des Expertenwissens in die Lebenswelt zu garantieren. Weiterhin werden wir den Versuch des Surrealismus, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kunst in der Lebenswelt aufzulösen, beleuchten und Gründe für das Scheitern dieses Versuches benennen.

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

Die surrealistische Revolte forderte das Ende der Kunst. Kunst sollte sich mit der Alltagswelt verschmelzen. Auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertraten Persönlichkeiten wie Joseph Beuys und Andy Warhol die Meinung, dass jeder Mensch als Künstler gelten könne und forderten die Aufhebung der Kunst ins Leben. Mit dieser Forderung folgen sie der Auslegung Friedrich Schillers, nach der die Kunst als Glücksversprechen zu verstehen ist. Dieses Versprechen kann jedoch nur eingelöst werden, wenn ein Verhältnis zum Ganzen hergestellt werden kann. Schillers Programm der ästhe­ tischen Erziehung versucht, eine über Kunst hinausgehende Utopie zu erreichen, indem er Kunst und Alltagswelt versöhnt. Die Utopie der Versöhnung ist als solche jedoch gescheitert. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vertreten einige Künstler die Ansicht, dass die Zielsetzung der Utopie Schillers grundlegend positiv und richtig war, sich aber in der Realität verkehrt hatte. Anstelle der gewünschten Versöhnung fand sich weiterhin eine faktische Unversöhntheit der Kunst mit der sozialen Wirklichkeit. Daher forderte man immer heftiger, die Kunst wieder aus der Expertenkultur zurückzuholen und für die Alltagswelt ertragreich zu machen. Diese Anstrengung wurde in der Postmoderne der 1980er Jahre aufgegeben und abgelehnt. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Debatte Moderne versus Postmoderne immer noch unent­ schieden ist. Das gilt zwar weniger für den Stilbegriff, aber auf jeden Fall für den Epochenbegriff. Auf gesellschaftstheoretischer Ebene bedeutet dies, dass sich auf die Frage, in welcher Epoche wir nun leben, keine definitive Antwort finden lässt. Insofern befinden wir uns gegenwärtig in einem Zeitalter der Unbestimmtheit oder in einer Zwischenzeit, zwischen Moderne und Postmoderne und warten auf das Neue.

2. Von der E-Kultur zur U-Kultur Das, was wir bereits auf der Ebene der philosophischen Aussage besprochen haben, dass es eine Entwicklung von der Einheit zur Vielheit gibt, gilt es auch auf einer kulturgeschichtlichen Ebene zu rekonstruieren. Diesbezüglich ist zu sagen, dass es eine Entwicklung von der E-Kultur zur U-Kultur zu rekonstruieren gibt. Der Begriff »E-Kultur« steht dabei für Elite-Kultur und der Begriff »U-Kultur« für Unterhaltungskultur. Grundsätzlich lässt sich konstatieren, dass

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2. Von der E-Kultur zur U-Kultur

die Begriffe Kunst und Kultur keineswegs feststehende, sondern wan­ delbare Begriffe sind. In den feudalabsolutistischen und klerikalen Herrschaftssystemen in den mittelalterlichen, aber auch den früh­ neuzeitlichen Staaten gab es die spätere Trennung von Kultur und Leben noch nicht. In diesen Zeitabschnitten wird noch nicht davon gesprochen, dass die Kultur im Sinne eines Sonderbereichs vom allgemeinen Leben der Menschen abgetrennt ist. Im Mittelalter und in der Frühneuzeit gibt es noch kein Reich autonomer und idealisierter Wertvorstellungen. Dieses ist erst in der Renaissance als Welt der Kunst ausdifferenziert worden, hauptsächlich von den Humanisten der damaligen Zeit. Diese Ausdifferenzierung wird fortgeführt, bei­ spielsweise in der Aufklärung des 17./18. Jahrhunderts und in den bürgerlichen Bildungsschichten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhun­ derts. Bei genauer Betrachtung der Zeit zwischen 1500 und 1800, d. h. der Zeit zwischen Humanismus und Aufklärung, lässt sich feststellen, dass Kunst und Kultur nicht mehr in einer dienenden Funktion zu sehen sind, wie es noch im Mittelalter der Fall war, sondern einen Eigenwert in sich selbst gewonnen haben. Der Beschäftigung mit Kunst, die um 1800 einen Höhepunkt erreicht, lag ein ›interesseloses Wohlgefallen‹ zugrunde, eine Kategorie, die Immanuel Kant 1790 in seiner »Kritik der Urteilskraft« vorgestellt hat. Der Begriff des ›Interesselosen‹ meint die Befreiung der Künste von staatlicher und klerikaler Bevormundung und muss durchaus noch im Sinne einer revolutionären, einer gesellschaftsverändernden, einer kulturverän­ dernden Kategorie gesehen werden. Dies ändert sich allerdings in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, da hier der revolutionäre Begriff des Interesselosen weitgehend entideologisiert worden ist. Grund dafür ist, dass eine neue gesellschaftliche Schicht die kulturelle Füh­ rungsrolle übernommen hat, die als sich ökonomisch bereichernde »Bourgeoisie« bezeichnet werden kann. Diese Bourgeoisie verstand unter Kultur etwas Neues, und zwar ein Mittel zur Repräsentation oder Zeichen von Besitz und Bildung. Dadurch distanziert man sich sowohl vom Adel als auch vom Klerus. Eine neue bürgerliche Schicht übernimmt somit die Führungs­ rolle, die Bürger werden zu den führenden Repräsentanten der herr­ schenden Kunstgesinnung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Damit verbunden ist die Entwicklung einer ganz neuen Kultur, die zwischen dem entleerten Prunk der höfischen Kreise einerseits und den niedrigen Vergnügungen der Unterklasse andererseits zu veror­

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

ten ist. Dazwischen eröffnet sich eine neue bürgerliche Linie der Kultur. Das Kulturkonzept dieser neuen bürgerlichen Schicht ist konkret sowohl gegen den vom Hofe favorisierten wilhelminischen Klassizismus als auch gegen die als »vulgär« empfundene Volkskunst des Naturalismus gerichtet. Es kann konstatiert werden, dass sich dies weiterentwickelt und im Zuge der zunehmenden wirtschaftlichen Prosperität, d. h. zur Gründerzeit der frühen 90er Jahre des 19. Jahrhunderts, eine Wende ins Großbürgerliche stattfindet. Damit hat sich das Großbürgertum durchgesetzt, nicht nur in der Wirtschaft, sondern auch in der Kultur und beginnt jetzt in diesem machtgeschützten Bereich, den sie kon­ trolliert, sich mit ihrer eigenen Innerlichkeit zu beschäftigen. Das Entdecken der Innerlichkeit auf der Ebene der Kultur führt zur ästhe­ tischen Wende dieser. Daraus entsteht um die Jahrhundertwende die sogenannte Fin-de-Siècle-Kultur. Ein wichtiger Vertreter dieser Zeit ist Arthur Schnitzler60, der repräsentativ für die Ausgefallenheit der Epoche ist, die sich in einer historischen Umbruchsituation befindet. Von diesem Zusammenhang lässt sich insgesamt sagen, dass die Innerlichkeit, die hier gepflegt wird, jetzt dekadente Züge ent­ wickelt und zulässt. Das interesselose Wohlgefallen, welches in der Aufklärung befreiend gemeint war, ist im »Fin de Siècle« (auch »Décadence«) nicht mehr gefragt, aber nachdem eine Transformation dieses Konzeptes vorgenommen wurde, konnte es zu einem Ausdruck der bürgerlich-elitären Ideologie der Ideologielosigkeit werden. Diese Position der großbürgerlichen Kultur wird dadurch unterstützt, dass es in Deutschland ab 1859 zunehmend wirtschaftliche Verbesserun­ gen und Erfolge gibt. Zwischen 1895 und 1910, in der Zeit des Deutschen Kaiserreiches, gelingt es Deutschland, in der Weltrangliste der Industrienationen auf den zweiten Platz aufzurücken. Dieser Fortschritt unterstützt die großbürgerliche Kultur gewaltig und sorgt dafür, dass es insgesamt folgende kulturelle Situation in Deutschland zu verzeichnen gibt. Einerseits gibt es die wilhelminischen Führungs­ schichten in der Politik. Diese befürworten auf der Ebene der Kultur einen klassizistischen Monumentalismus. Andererseits setzt sich das Großbürgertum von dieser Ebene der Kultur ab und erreicht auf diese Weise in Deutschland ein beachtliches Bildungsniveau. Auf dieser Grundlage favorisiert es eine bestimmte Kunst, und zwar eine for­ malistisch-symbolistische oder eine in die jugendstilhaft-dekorative 60

Vgl. H. Scheible, Arthur Schnitzler, Reinbek bei Hamburg 1976, S. 71.

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2. Von der E-Kultur zur U-Kultur

Richtung tendierende Kunst. Als dritte Schicht muss die deutsch-völ­ kisch eingestellte Bevölkerungsschicht genannt werden. Diese ist sowohl gegen die Hofkunst gerichtet als auch gegen die bürgerliche Kultur. Sie ist der Ansicht, dass die großbürgerliche Kultur zu stark Französisch orientiert ist. Von der Ebene der deutsch-völkisch einge­ stellten Gesellschaftsschicht gehen dann drei eigene Bewegungen aus: 1.) die Lebensreformbewegung, 2.) die Wandervogelbewegung und 3.) die Heimatkunstbewegung. Somit haben wir faktisch betrachtet um die vorletzte Jahrhun­ dertwende ein breites Spektrum völlig unterschiedlicher Ansätze von Kultur vorliegen. Ungefähr zehn Jahre später zeigt sich dann eine veränderte Situation. Es lässt sich jetzt eine scharfe Opposition beobachten, auf der einen Seite die Expressionisten, die sich in der Kultur durchsetzen und eine ästhetische Avantgarde bilden, und auf der anderen Seite der kulturellen Ebene das völlig gegensätzliche wil­ helminische System. Zu diesem System werden jetzt vorübergehend sowohl die Deutschvölkischen als auch die Großbürgerlichen gezählt. Diese neue Situation, in der der Expressionismus eine kulturelle Führungsrolle übernimmt, dauert allerdings nur wenige Jahre, und zwar genau bis 1914, als der Erste Weltkrieg ausbricht. Dieser Krieg löst in sämtlichen Intellektuellenkreisen in Deutschland eine – aus heutiger Sicht – nicht zu erklärende Kriegsbe­ geisterung aus. Ein Grund ist vielleicht, dass die Intellektuellen sich gegen die zivilisatorischen Entartungserscheinungen wehren wollen, wie sie sich in den westeuropäischen Ländern, in erster Linie in England und Frankreich identifizieren ließen. Zu diesen Intellektu­ ellenkreisen gehören auch die Impressionisten, die im Krieg einen Aufbruch ins Abenteuerlich-Wilde wahrnehmen. Die Beobachtung des Krieges, besonders die Sinnlosigkeit des Stellungskrieges, führt jedoch dazu, dass diese Begeisterung schnell verfliegt. Am Ende des Krieges 1918 ist davon nichts mehr zu spüren. Eine kulturell verändernde Wirkung im Sinne einer Reinigung der Kultur geht von diesem Krieg somit nicht aus. Das Resultat ist vielmehr eine große Enttäuschung, die schließ­ lich dazu beiträgt, dass im November 1918 in Deutschland eine Revo­ lution ausbricht. Im Zuge der »Novemberrevolution« engagieren sich erneut viele Künstler, in erster Linie die Expressionisten und die Dadaisten. Diese Künstler versuchen sich an die breite Masse zu wenden. Allerdings tun sie das mit völlig übersteigerten stilistischen Ausdrucksformen, die so stark ins Ekstatisch-Übertriebene gesteigert

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

sind, dass die Mehrheit der Bevölkerung diesen Annäherungsversuch als volksfremd empfindet und ablehnt. Dies führt letztendlich zum Scheitern der expressionistischen Revolte. In der Weimarer Republik kommt es dann zu einer Situation, in der die deutsche Wirtschaft primär durch US-amerikanische Mil­ lionenkredite angekurbelt wird. Diese neue wirtschaftliche Situation bringt eine weitere Schicht hervor, die Angestelltenklasse, mit der sich etwa Siegfried Krakauer beschäftigt hat. Diese Klasse entwickelt neue kulturelle Vorlieben. Sie interessiert sich für die Produkte der neuen Medienkonzerne, für die Freizeitwelt des Kinos, für Rundfunk­ sendungen, Sportveranstaltungen, Illustrierte, aber auch für die Hits der Schlagerindustrie. Es werden nicht mehr die gefeierten Künstler der Hochkultur verehrt, sondern die Stars des neuen Show-Business. Insofern lässt sich sagen, dass die neue Angestelltenklasse keine bildungsbürgerliche Schicht ist, sondern eine Schicht, die Bildung immer mehr durch Unterhaltung ersetzt. Im Ganzen betrachtet führt dies in der Weimarer Republik dazu, dass es in der Kulturszene einen Gegensatz zwischen der vom Großbürgertum gestützten elitären Hochkultur einerseits und der »rüden« Populärkultur andererseits gibt. Es lassen sich in der Wei­ marer Republik aber auch Tendenzen beobachten, die bestrebt sind, diesen Gegensatz zu überwinden. Allerdings gelingt das nicht. Viel­ mehr wird dadurch bewirkt, dass eine Abschaffung der Hochkultur­ form zugunsten einer neuen verbraucherorientierten Designerkultur stattfindet. Diese neue Designerkultur erzielt zunächst große Erfolge in den 1920er Jahren, die durch die im Oktober 1929 beginnende Weltwirtschaftskrise jedoch zunichtegemacht werden. Deutschland stürzt insgesamt in eine tiefe Krise, die Spuren hinterlässt, nicht nur auf der Ebene der Wirtschaft und der Politik, sondern auch auf der Ebene der Kultur. In dieser Situation der tiefen Krise versuchen sich zwei Kräfte durchzusetzen. Einerseits die kom­ munistische Partei, die beabsichtigt, sich durch rote »Kampfkunstver­ bände« breitzumachen. Andererseits die Nationalsozialisten, die den Versuch unternehmen, das deutsche Kulturerbe aufrechtzuerhalten. Als Adolf Hitler 1933 an die Macht kommt, etabliert er entgegen den ursprünglichen Zielen der Nationalsozialisten eine aufheiternde Unterhaltungskultur, die sich vor allem durch eine affirmative Mas­ senwirksamkeit auszeichnet. Die Nationalsozialisten versuchen im Bereich der Kultur den Zuspruch der breiten Bevölkerungsschichten zu erringen. Dies bedeutet, dass die Bildungsbürger nicht mehr

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2. Von der E-Kultur zur U-Kultur

erwünscht sind, sie müssen in die innere Immigration. Und die kulturellen Gegner der Nationalsozialisten, vor allem die linken und jüdischen Intellektuellen, werden ins Exil getrieben und spielen während der gesamten Nazizeit keine bedeutende Rolle. Am Ende des Krieges haben wir eine völlig veränderte Situation, in der sich die ehemaligen Exilanten einerseits und die Exponenten der inneren Immigration andererseits erhoffen, dass durch die neue Ver­ bindung der älteren deutschen Hochkultur mit der antifaschistischen Kunst ein Programm der politischen Umwandlung des deutschen Volkes zum Durchbruch gebracht werden kann. Allerdings gelingt das nur für ein paar Jahre, in denen sich die Vertreter der trivialen Unterhaltungskultur, die schon in der nationalsozialistischen Frei­ zeitindustrie tätig waren, im Hintergrund halten. Diese Situation ändert sich 1948 – mit dem Beginn des Kalten Krieges – erneut, wobei in Deutschland die Unterhaltungskultur wieder zugelassen und zum Teil auch politisch instrumentalisiert wird. Primär wurde dies im Frühjahr 1949 registriert, als im Zuge der Gründung der BRD die brachliegende Unterhaltungsindustrie zu neuem Leben erweckt wurde. Die Konstituierung der BRD erzeugt im Herbst desselben Jahres eine Gegenreaktion in der Sowjetischen Besatzungszone mit dem Ergebnis der Gründung der DDR. Die DDR musste realisieren, dass die BRD bemüht war, eine Ebene der U-Kultur zu etablieren, wovon sich die DDR distanzierte und stattdessen einseitig eine hoch­ wertige Kulturform unterstützen wollte. Daraus ergab sich, dass dort der Umschlag ins Populistisch-Triviale erst in den 1980ern erfolgte. Bis zu diesem Zeitpunkt war erfolglos versucht worden, die als »deka­ dent« empfundene westdeutsche U-Kultur mithilfe der angeblich höherwertigen Hochkultur der DDR zu bekämpfen. Zum besseren Verständnis der raschen Kulturentwicklung der BRD wäre vertiefend zu erwähnen, dass sie durch das »Wirtschafts­ wunder« gefördert und vorangetrieben wurde, eine starke West­ orientierung entwickelte und diese Konzeption als pluralistischen Ausdruck einer offenen Gesellschaft ansah. Ziel hierbei war, die Kul­ turbedürfnisse der breiten Masse zu bedienen. Diese Entwicklung hat in Westdeutschland jedoch nicht dazu geführt, dass die Hochkultur gänzlich zerstört wurde. In den 1950er und 60er Jahren wurde die Hochkultur ausschließlich vom konservativen Bürgertum unterstützt. Ihm und einigen aus dem Exil zurückgekehrten Intellektuellen ist es zu verdanken, dass eine elitäre Hochkultur im Westen auch noch nach dem Zweiten Weltkrieg existieren konnte. Diese E-Kultur brachte

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

eine auf die formalen Aspekte beschränkte Kunst hervor. Diese Kunst findet auf der Ebene der abstrakten Malerei, der atonalen Musik und der absurden Literatur statt. Aus zwei Gründen wurde sie, die E-Kul­ tur, richtungsweisend: 1.) weil sie bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gegen die Nazi-Kunstdiktatur war und 2.) weil man versuchte, die E-Kultur als Ausdruck westlicher Freiheit zu verstehen. Das bedeutet, dass es in dieser Zeit (1950er und 1960er Jahre) ein friedliches Gegenüber zwischen einer formal-ästhetisch eingestellten E-Kultur und einer trivialen U-Kultur gab. In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre verändert sich dieses Bild auf der Ebene der Kultur in Deutschland. Es lässt sich feststellen, dass die E-Kultur beständig an Status verliert und die U-Kultur immer neue Triumphe erlebt. In der postmodernen Kunst der 1980er Jahre wird versucht, eine Mischung von E- und U-Kultur durchzusetzen, jedoch misslingt dieser Versuch. 1989/90 erfolgt die Wende, die zur Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten und somit zur Wie­ dervereinigung der beiden deutschen Kulturbereiche führt. Allerdings ist die Wiedervereinigung dieser Kulturen nach 1990 nicht gewaltlos vor sich gegangen. Die ostdeutschen Hochkulturprodukte wurden »verramscht« und man muss diesen kulturellen Zusammenschluss der beiden Kulturen so sehen, dass die westdeutsche Kultur dabei den Ton angegeben hat. Dies lag an der gänzlichen ökonomischen Übermacht der westdeutschen Kultur. Die ostdeutschen E-Künstler wurden in dieselbe randständige Rolle gedrängt, in der die westdeut­ schen E-Künstler schon seit den 1970er Jahren verharrten. Diese Verdrängung der E-Künste hielt in den 1990er Jahren an. Es kann gesagt werden, dass Ende der 1990er Jahre auf der Ebene des kulturellen Werts fast nur noch der Verkaufswert der kulturellen Produkte zählte, aber nicht mehr der Gebrauchswert. Das bedeutet, dass die Kultur des neuen Jahrtausends vom Prinzip von Angebot und Nachfrage bestimmt ist. Weiterhin stellen wir seit der Jahrtau­ sendwende eine zunehmende »Amerikanisierungswelle« fest, was zur Folge hat, dass es eine bedeutende »deutsche« Kultur nicht mehr gibt. Stattdessen wird oder ist die Kultur mittlerweile internationalisiert bzw. amerikanisiert. Des Weiteren muss registriert werden, dass es keine Avantgardebewegungen mehr gibt, die wie in den 1920er Jahren die Absicht hatten, eine andere oder bessere Gesellschaft zu errichten. Diese Bewegungen wurden durch die Event-, Einkaufs-, Ess-, Tou­

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3. Die Musik der modernen Kultur

rismus- und Wohnkultur ersetzt bzw. vereinnahmt.61 Philosophisch oder kulturökonomisch ausgedrückt heißt das, dass die ästhetischen Ausdrucksformen heute fast vollständig vom kommerziellen Inter­ esse abhängig sind. Wird die Entwicklung kulturhistorisch betrachtet, lässt sich ein entmutigendes Ende erkennen, es scheint wenigstens im Moment und in den nächsten Jahren keine Besserung in Sicht zu kommen. Und über die nächsten Jahrzehnte lässt sich noch nicht viel sagen.

3. Die Musik der modernen Kultur Die Musik ist ein bedeutender Teil der Kultur der Moderne. In der Kultur der Moderne lässt sich eine grundsätzliche Zäsur am Anfang dieses Zeitalters in allen kulturellen Richtungen, d. h. in der Malerei, der Literatur, der Architektur und der Musik, feststellen. Während in der Malerei die Einführung der Abstraktion für einen Bruch sorgte, wurde in der Literatur die Aufmerksamkeit auf den inneren Monolog gerichtet. In der Architektur legte man den Fokus auf den Purismus von geometrischen Formen. Die Puristen strebten eine einfache funktionale Malerei und Bauweise an, in der sich Ästhe­ tik und Maschinenwelt vereinigen sollten. Auf rationaler Grundlage wurden einfache geometrische Formen mit maschineller Präzision verwendet. Die Puristen schätzten den Goldenen Schnitt als ideale Proportion. Rein dekorative Elemente lehnten sie ab. Durch diesen Purismus wurde ebenfalls eine Zäsur gesetzt. Im Allgemeinen wird die Zäsur im Sinne eines Umsturzes oder Umbruches in den einzelnen kulturellen Richtungen interpretiert. Sie führte in der Kultur der Moderne vor allem zu einer Abkehr von der Tradition. Für jede der genannten Richtungen wurde der Versuch unternommen, alle bisherigen und traditionellen Erwartungshorizonte zu durchkreuzen. Dieser umfassende Versuch der Abkehr vom Traditionellen findet auch in der Musik statt. In der Avantgarde der Musik des 20. Jahrhunderts wird ein Verbot überlieferter Hörgewohnheiten ausgesprochen, was bedeutet: die Hörgewohnheiten zu zerstören und durch ein neues Prinzip zu ersetzen. Konkret meint die Abkehr von der klassisch-romantischen A. Andersen, Der Traum vom guten Leben. Alltags und Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt am Main 1977.

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

Musik eine Kritik oder Zerstörung des Prinzips der Tonalität. Tonalität in der Musik bezeichnet den Bezug auf einen Grundton. Aus dem Material einer Tonleiter (= stufenweise Folge von Tönen, zumeist innerhalb einer Oktave) werden Melodie und Akkorde nach den Regeln der traditionellen Harmonielehre gebildet. Auf diese Weise findet Tonalität ihre praktische Ausprägung. Neben dem Prinzip der Tonalität werden auch andere Errungenschaften der traditionellen (abendländischen) Musik zerstört bzw. aufgehoben. Hierzu gehören beispielsweise der Vorrang des Melodischen, des Schön- bzw. Wohl­ klangs (Schönberg: »Musik soll nicht schön, sondern wahr sein«); die Infragestellung und teilweise Verwerfung überlieferter Formen und Gattungen sowie eine Neubestimmung von Musik/Nicht-Musik oder Klang/Geräusch. Betrachtet man die Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert, so kommt man an Arnold Schönberg (1874–1951) nicht vorbei, der stellvertretend für die angesprochene Zäsur in der modernen Musik steht. Bereits im 19. Jahrhundert sind die Veränderungen, die Schönberg bewirkte, in Ansätzen vorgedacht bzw. vorproduziert worden, beispielsweise durch Richard Wagner. Dieser versuchte, zum Beispiel in seinem »Tristan-Akkord«, das System der Tonalität bis an seine Grenzen auszuschöpfen. Dieser kann als dissonanter Akkord beschrieben werden, was bedeutet, dass dieser Akkord tonar­ tig unbestimmt ist bzw. bleibt. Der Begriff »Dissonanz« stellt in der Musik allgemein die Bezeichnung für Intervalle und Akkorde dar, die in der traditionellen Musik als »auflösungsbedürftig« empfunden werden. Der Begriff »Konsonanz« hingegen beschreibt in der Musik die Bezeichnung für einen Wohl- oder Zusammenklang, d. h., es sind damit Intervalle und Akkorde gemeint, die als in sich ruhend und nicht »auflösungsbedürftig« empfunden werden. Der vermehrte Einsatz der Dissonanz ist als Schritt in die Richtung zu vermerken, die von Schönberg weiterentwickelt wurde. Schönberg versuchte, Wagners vorexerzierte Gedanken weiterzuführen, was für ihn eine Aufweichung des Tonalen bedeutete. 1909 erschienen Schönbergs »Drei Klavierstücke op. 11«. In diesem Werk wurde der Versuch unternommen, ohne jede tonale Bindung zu musizieren. Mit diesem gelungenen Experiment wur­ den bisher gültige Strukturgesetze der Musik außer Kraft gesetzt. Musikwissenschaftliche Nachforschungen ergaben, dass Schönberg nicht absichtlich in diese neuen, unbekannten Regionen der Musik vorstieß, da er selbst gar nicht revolutionär sein wollte. Sein Anliegen

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3. Die Musik der modernen Kultur

bestand darin, die konventionelle Tonsprache aufzubrechen, um zu sehen, welche neuen, freieren, ungeahnten Expressionsmöglichkeiten sich auf diesem Wege ergeben würden. Dieser Schritt zur Atonalität kann als Versuch einer Befreiung des musikalischen Ausdrucks von der Konsonanz interpretiert werden. Unter »Atonalität« versteht man eine Musik ohne jede tonartige Fesselung und einen Oberbegriff für eine Musik, die nicht den funktionalen Gesetzen der herkömmlichen Harmonielehre entspricht. Es existiert keine Tonart im traditionel­ len Sinne, d. h. die einzelnen Töne haben keinen Bezug zu einem festgelegten Grundton, wie es bei der Tonalität der Fall ist. Es ist Schönberg gelungen, die traditionelle kategoriale Unterscheidung zwischen Dissonanz und Konsonanz in der Musik aufzuheben. Er war der Meinung, dass die Musik nicht mehr durch die Logik der Harmonie regiert werden sollte, wodurch eine rationale Bändigung der Musik vermieden wurde. Schönberg wollte die Rationalität bzw. die Vernunft aus dem Bereich der Musik herausdrängen und dadurch eine Musik des Unbewussten zustande bringen. Mit diesen Versuchen lässt sich der Beginn einer Bewegung setzen, die in der Musik dazu überging, alles Traditionelle niederzureißen. Die Zäsur, die Schönberg setzte, gilt nicht als eine, die von außen in die Musik hineingebracht wurde, sondern als eine, die von innen aus der Entwicklung der Musik selbst heraus entstanden ist. Diese erschien notwendig, weil Schönberg der Auffassung war, dass sich die tonalen Mittel in der Musik um die Jahrhundertwende nicht mehr steigern ließen. Um den Begriff der Zäsur nicht überzustrapazieren, kann der Begriff der »Erschöpfung« ins Spiel gebracht werden. Denn es handelt sich auch um eine Erschöpfung der Möglichkeiten der Kultur in der Musik. In der Kultur der Moderne stellt man insgesamt fest, dass die gesamten kulturellen Erscheinungen dieser Zeitepoche von der Zäsur oder einer Erschöpfung gekennzeichnet sind. Für die Welt der Kultur kann demgemäß gesagt werden, dass hier eine ganze Welt der Musik zusammenbricht, aber auch eine neue Musik entsteht. Adorno spricht in diesem Kontext von einem Umschlag in subjektive Unfreiheit, die eine befreite Musik hervorzurufen scheint: »Der Wagnerische Satz von der Regel, die man selber stelle und dann befolge, enthüllt seinen verhängnisvollen Aspekt. Keine Regel erweist sich als repressiver denn die selbstgestellte. Ihr Ursprung in Subjektivität gerade wird zur Zufälligkeit beliebiger Setzung, sobald sie sich positiv dem Subjekt als regulative Ordnung entgegenstellt. Die Gewalt, die die Massenmusik den Menschen antut, lebt fort am gesellschaftlichen Gegenpol, bei der

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

Musik, die den Menschen sich entzieht. Wohl ist unter den Regeln der Zwölftontechnik keine, die nicht aus der kompositorischen Erfahrung, aus der fortschreitenden Erhellung des musikalischen Naturmaterials notwendig hervorginge. […]: daß kein Ton wiederkehre, ehe die Musik alle andern ergriffen hat; daß keine Note erscheine, die nicht in der Konstruktion des Ganzen ihre motivische Funktion erfüllt; das keine Harmonie verwendet werde, die nicht eindeutig an dieser Stelle sich ausweist. […] Was einmal das nachhorchende Ohr gefunden hat, wird entstellt zum erfundenen System, an dem abstrakt Richtig und Falsch der Musik sich nachmessen lassen soll. […] Durch Organisa­ tion möchte die befreite Musik das verlorene Ganze, die verlorene Macht und Verbindlichkeit Beethovens wiederherstellen. Das gelingt ihr bloß um den Preis ihrer Freiheit, und damit mißlingt es. Beethoven hat den Sinn von Tonalität aus subjektiver Freiheit reproduziert. Die neue Ordnung der Zwölftontechnik löscht virtuell das Subjekt aus. Die großen Momente des späten Schönberg sind gegen die Zwölfton­ technik so gut wie durch sie gewonnen.«62 Nach Adorno ist für die Freiheit der Neuen Musik der Preis der Unfreiheit des Subjekts zu entrichten. Das ergibt sich aus einem, so sagt Adorno, von Schönberg initiierten dialektischen Umschlag, denn zu Beethovens Zeiten hätte es eine andere, entgegengesetzte Konstellation gegeben: Wenn dieser den »Sinn von Tonalität aus subjektiver Freiheit reproduziert«, wie Adorno konstatiert, so bedeutet das doch, dass wir damit auf der Objektseite notwendig auf eine ›Beherrschung des musikalischen Naturmaterials‹ schließen müssen. Der Zusammenbruch der traditionellen Welt in der Kultur hat auch in den Bereichen außerhalb der Kultur – im engeren Sinne der höheren Welt der Künste –, wie beispielsweise in der Politik oder den Naturwissenschaften, ihre Parallelerscheinungen. Anknüpfend damit, dass in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Kaiserreich dem Ende entgegenging, kann in der Politik von einer Erschöpfung gesprochen werden. In den Naturwissenschaften stellte man eine Erschöpfung der traditionellen Darstellung fest, da um die Jahrhun­ dertwende die bis dahin uneingeschränkt geltende newtonsche Phy­ sik durch neuere Theorien bzw. Erkenntnisse ersetzt bzw. in ihrer Geltung stark eingeschränkt wurde. Die Erschöpfung innerhalb der Geschichte der Musik um die Jahrhundertwende steht somit nicht isoliert da, denn sie fand auch in den genannten anderen Bereichen 62

Th. W. Adorno, Philosophie der neuen Musik, Frankfurt am Main 1958, S. 65 f.

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3. Die Musik der modernen Kultur

der modernen Gesellschaft statt. Diese Erschöpfung im 19. Jahrhun­ dert wird von Wagner geistig vorbereitet und geahnt. Auch in der romantischen Musik des 19. Jahrhunderts finden sich Erschöpfungs­ erscheinungen dadurch bzw. darin, dass die allgemeine Gültigkeit eines vernünftigen Wirklichkeitsentwurfes bezweifelt wurde. Das führte dazu, dass die durch die Aufklärung entzauberte Welt nicht als positiv, sondern als seelenlos betrachtet wurde. Dies bewirkte wiede­ rum, dass man sich in der Musik insgesamt auf eine melancholische Grundstimmung zubewegte. Schönberg gehörte zu denen, die diesen Pessimismus nicht mitmachen wollten und er entschied sich für eine Distanzierung von der Tradition in einer neuen Musik. Als Schönberg die Tradition insgesamt destruierte, begab er sich damit zwar in eine Leere, aber er hatte sich vorgenommen, diese Leere zu akzeptieren und zu überwinden, bis sich für ihn am Horizont Neues in der Musik abzeichnete. Seine Aufgabe lässt sich somit als Versuch beschreiben, Musik in der selbsterzeugten Leere zu komponieren. Ihm glückte das Bemühen, in dieser Leere neue konstruktive Formen zu finden und damit konnte er ein neues Kapitel in der Musikgeschichte schreiben. Musik ist damit für Schönberg nicht länger als klanggewordener Ausdruck eines Gefühls zu verstehen, sondern wird eher als eine Idee aufgefasst. Dies war etwas Neues in der abendländischen Musikge­ schichte und sorgte dafür, dass für Schönberg neue »Fixpunkte« in der Musik auftauchten. Als ein Hauptpunkt gilt die »freie Atonalität«. In den 1920er Jahren entwickelte Schönberg die »freie Atonali­ tät« weiter zur »Zwölftontechnik«. Diese geht, wie Adorno das bereits dargestellt hat, von den zwölf Tönen der chromatischen Tonleiter aus, wobei diese als gleichberechtigt betrachtet werden. Der Komponist erstellt aus diesem Tonvorrat – nach seinen Vorstellungen – eine Zwölftonreihe (= Grundgestalt). Die Hauptregel besagt, dass keine der zwölf Noten vor Ablauf aller anderen Noten wiederholt werden darf. Weitere Modi (Reihen) werden durch Techniken wie Krebs (vertikale Spiegelung), Umkehrung (horizontale Spiegelung) sowie den Krebs der Umkehrung erzeugt. Diese Modi können auf die verschiedenen (12) Tonhöhen der chromatischen Skala transponiert werden, wodurch dem Komponisten (maximal) 48 Reihen bzw. Modi zur Verfügung stehen. Komponieren setzt in diesem Sinne eine streng rationale Konstruktion und eine klare Gliederung voraus. Das oberste Prinzip dieser musikalischen Weltauffassung besteht nicht darin, Gefühle musikalisch auszudrücken, sondern im Gegenteil einen musikalischen Gedanken darzustellen. Als die vielleicht originellsten

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

und einflussreichsten Werke klassischer Zwölftontechnik können die späteren Kompositionen (op. 17–31) des Schönberg-Schülers Anton Webern (1883–1945) erachtet werden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Reihenprinzip in Anschluss an Webern auch auf andere Parameter – Tondauer, Dynamik, Anschlagsart – ausgedehnt. Es entwickelte sich die »serielle Musik« (»Serialismus«) mit den Hauptvertretern Pierre Boulez (1925–2016), Karlheinz Stockhausen (1928–2007) und Luigi Nono (1924–1990). Diese Art der Musik muss als eine technische Musik aufgefasst werden, bei der die Kompo­ nenten der traditionellen Musik wie Motiv, Thema, die Variation eines Themas und die Melodie weitgehend fehlen bzw. vom Rezipienten nicht mehr ohne Weiteres erfasst werden können. Es handelt sich dabei um eine reine Reihentechnik. Das Motiv ist die kleinste musi­ kalisch sinnvolle Einheit. Aus ihm kann sich das weitere Geschehen entwickeln. Unter einem Thema versteht man in der Musik den musikalischen Grundgedanken einer Komposition. Die Melodie ist eine künstlerisch geformte Folge von Tönen. Musikalische Parameter wie Dynamik und Akzente, sowie Intervalle und viele andere werden in der Melodie zu einer künstlerisch individuellen Gestalt kombiniert. Eine Melodie kann ebenso gut Ergebnis eines Kompositionsaktes wie einer Improvisation sein. Dieser Technizismus in der Musik hat viele Kritiker dazu veran­ lasst, von einer »Musik in der Zwangsjacke« zu sprechen. Es ist nicht ganz von der Hand zu weisen, dass der Raum für Expression in der Neuen Musik schwindet und diese dadurch als abstrakte Konstruk­ tion zu begreifen ist, der das Prinzip einer rationalen Reihentechnik zugrunde liegt. Die Neue Musik wurde in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nur sporadisch akzeptiert und ihre Karriere ging bereits in den 1930er Jahren wieder zu Ende. Im Nationalsozialismus wurde die Neue Musik nicht geschätzt, sondern insgesamt abgelehnt und als dekadent, als »entartet« verurteilt. In der NS-Zeit, die die internationale Moderne in der Musik ignorierte, schätzte man in Konzertveranstaltungen, wie in der Vorkriegszeit, die Klassiker von Bach bis Beethoven oder von Mozart bis Brahms. Zwar gab es nach dem Zweiten Weltkrieg einen Neuanfang im Bereich der Neuen Musik, aber »der Neubeginn nach dem Krieg« wurde, sowohl in den Konzerten als auch in den Radioprogrammen, mit »Darbietungen

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deutscher Klassik«63 ausgestaltet. Dieser Neuanfang stellte sich für die Neue Musik als niederschmetternd heraus, da man es zu dieser Zeit mit einem Zeitgeist zu tun hatte, der aufgrund der kriegsbe­ dingten Schreckenserfahrungen vieler Menschen weniger nach einer schweren Musik verlangte, sondern sich eher als ein Verlangen nach gemäßigteren Formen von Musik entwickelte. Beispiele hierfür sind neben den Klassikern Stücke von Igor Strawinsky (1882–1971), Béla Bartók (1881–1945) und Sergej Prokofjew (1891–1953). In einer kulturellen Nische entwickelte sich ein neues Interesse, das von den USA ausging bzw. wiederentdeckt wurde. Als wichtige Person lässt sich hier der Künstler John Cage (1912–1992) nennen. Dieser wurde als Schüler von Schönberg, der vor den Nationalsozia­ listen fliehen musste und in die USA emigrierte, ausgebildet. Cage wollte über Schönbergs Atonalität und Zwölftontechnik hinaus und konzentrierte sich in diesem Versuch auf den »Zufall« in der Musik. Das bedeutete für ihn, dass es in seiner Auffassung von Musik darum gehen musste, dass kein Ton, kein Akkord und keine Pause bewusst gesetzt werden soll, sodass eine neue Version des Komponierens entstand. Ursprünglich bedeutet der Begriff des Komponierens ›etwas zusammenzufügen‹. Ist jedoch der Zufall im Komponieren dominant, dann geht es eher darum, das Gegenteil zu produzieren, d. h. darum, etwas zu zersprengen. Mit diesem Versuch gelang es Cage, die Musik mit dem Zufall zu gestalten. Unter seinem Einfluss formierte sich in den Vereinigten Staaten ein Protest gegen die ›Verplanung‹ der Musik. Dieser Protest versuchte, das ›Prinzip des Zufalls‹ stärker werden zu lassen. In Europa existierte die Neue Musik zunächst nur in einer Nische. Dennoch wurde dort zur Kenntnis genommen, dass sich in den USA ein Protest gegen die Neue Musik formiert hatte, wodurch auch die europäischen Mitglieder dazu übergingen, sich mit der neuen Musiktechnik, dem Zufall, zu beschäftigen. Eines dieser Mitglieder war der französische Serialist Boulez, der in einem Vortrag in Darmstadt, wo die Gruppe der Neuen Musik ihr Nischendasein lebte, Grundprinzipien einer Kompositionsweise nach dem Zufalls­ verfahren entwickelte. Der Vorschlag von Boulez führte zu einem internationalen Streit über den Umgang mit dem Zufälligen in der Musik. Cage kritisierte den Zufallsbegriff von Boulez, indem er die Auffassung des Zufälligen in den europäischen Musikexperimenten Vgl. A. Schildt und D. Siegfried, Deutsche Kulturgeschichte. Die Bundesrepublik von 1945 bis zur Gegenwart, München 2009, S. 83.

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im Sinne eines ›gesteuerten Zufalls‹ darstellt. Dieser gesteuerte Zufall ist für ihn ein Paradox im Sinne einer absichtlichen Absichtslosigkeit. Seiner Meinung nach braucht der Zufall absolute Freiheit und muss unbeeinflusst durch den Künstler in der Musik existieren können. Das bedeutet, dass von Cage erwartet wurde, dass er durch den Zufall eine Einzigartigkeit von Tönen, Klängen, Geräuschen und der Stille erschaffen kann. Dies strebte Cage dann auch an und experimentierte mit einer »Anarchie« in der Musik. In dem Werk »Music of Changes« (1951) konnte er sein Streben umsetzen. Der Titel dieses Schlüssel­ werkes weist eine Parallele zu dem altchinesischen Orakelbuch »I Ging« mit dem Untertitel »Buch der Wandlungen« auf und geht aus der intensiven Beschäftigung von Cage mit diesem Buch hervor. Bei der Produktion des Werkes »Music of Changes« hatte Cage den ›Zufalls- und Schicksalsbegriff‹ des »I Ging« zugrunde gelegt. Das Orakelbuch beinhaltet Zeichen, welche die Zukunft vorherzusagen beanspruchen. Das bedeutet für Cage, dass das vom Zufall produzierte Ergebnis, die Zukunft, akzeptiert werden muss. Das »I Ging« ist das älteste Werk der chinesischen Philosophie und wird auf ein Alter von etwa 5000 Jahren geschätzt. Das Orakel dieses Werkes wird nach dem Zufallsprinzip produziert. In der chinesischen Weltauffassung geht man von einem Zusammenhang zwischen dem Zufall und dem Schicksal aus. Schicksal ist als ein Sich-Fügen in die Schickung des Zufälligen definiert und zeigt damit, dass man dieses Schicksal akzeptieren muss und nicht dagegen rebellieren darf. Die westliche Welt ist hingegen im Laufe der Zeit dazu übergegangen, das Schicksal wenden bzw. verbessern zu wollen, indem man versucht, mit den Methoden der Vernunft in die Wege des Schicksals einzugreifen. In der chinesischen Philosophie wird dies klar und deutlich abgelehnt. Cage übernimmt diese Auffassung des altchinesischen Orakelbuches und entwickelt während des Komponierens die Haltung des Gewäh­ ren- und Seinlassens dessen, was einem zufällt. Er spricht in diesem Zusammenhang von einer »Magie« des Zufalls. Wenn man dies im Kontext der Kultur des 20. Jahrhunderts insgesamt untersucht, stellt man fest, dass es Versuche der Überwindung der Vernunft auch in anderen Künsten gegeben hat, wie etwa in der bildenden Kunst. Dies­ bezüglich kann Marcel Duchamp genannt werden, der bereits 1913 das Werk »Erratum Musical« produzierte. Dieses Werk muss man sich im Sinne einer Lottomaschine vorstellen, in der sich verschiedene Bälle befinden, die jeweils für einen bestimmten Ton stehen. Beim Spielen mit dieser Lottomaschine hatte Duchamp dann verschiedene

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Bälle entnommen und mit den restlichen jeweils ein Musikstück nach dem Prinzip des Zufalls komponiert. Daran orientierte sich Cage und entwickelte diese Vorgehensweise weiter. Es ging ihm darum, alle ordnenden Prinzipien aus der Musik bzw. aus dem Komponieren zu verbannen. Er versprach sich davon, dass dadurch in der Musik ein Reich der Freiheit realisiert werden könnte. Dies stellte jedoch nicht das Ende der Karriere von Cage dar, denn er ging noch über die Einführung des Zufalls hinaus, indem er sich in den 1950er Jahren mit der Einbeziehung der »Stille« in die Musik beschäftigte. Cage hatte diesbezüglich eine ganz bestimmte Definition dessen, was Stille bedeuten kann. Demnach fasste er unter der Stille sämtliche Töne jenseits der Musik zusammen. Cage komponierte dazu Musikstücke, die er die »Stillen Stücke« nannte. Ein berühmtes Beispiel findet sich in einem Stück, das 4 Minuten und 33 Sekunden lang ist (»4′33″“, 1952). Cage beschäftigt sich hierin mit den Hintergrundgeräuschen einer Musikaufführung, die normalerweise ignoriert bzw. verschluckt werden. Als solche Hintergrundgeräusche in diesen Stücken tauchten etwa Geräusche auf, die sich beispielsweise beim Öffnen und Wiederverschließen eines Klaviers ergeben. Die dabei entstandenen Geräusche machten das Musikstück aus. Das Stück bestand somit aus gar keinen »musikalischen« Tönen. Es war ein Umgang oder eine Produktion von Tönen, die immer mehr auf die Auflösung der Musik hinauslaufen musste. In der Musikwelt der 1970er Jahre war das Publikum immer weniger und letzten Endes gar nicht mehr bereit, sich auf die Musik von Cage einzulassen. Somit ging es auf diesem Weg nicht mehr weiter. In den 1970er und 80er Jahren entstand daher ein neues Interesse bzw. eine neue Sensibilität für die Klanglichkeit. In der Musikwelt ging man dazu über, tonale Elemente wieder verstärkt zuzulassen. Das heißt, dass gegen die abstrakte Gedankenmusik vor allem vom jüngeren Publikum das Recht der Sinnlichkeit neu eingeklagt wurde. Der Vorrang des Denkens in der Musik wurde durch den Vorrang der Gefühle ersetzt und man unterstützte wieder das Recht der Ohren auf einen einfachen und harmonischen Klang. Mit dieser neuen Bewegung in der Musik wurde insgesamt eine Auflösung der strengen musikalischen Trennung zwischen E- und U-Musik nahegelegt. Heute lässt sich registrieren, dass die Grenzen zwischen E- und U-Kultur in der Musik unkenntlich werden, weil die E-Kultur ein Nischendasein führen muss, und dass die Musik der 1980er und 90er Jahre dabei ist, immer mehr zu dem zu wer­

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den, was sie früher einmal gewesen ist, nämlich ein emotionales Vergnügen. Musik kann heute weitgehend nicht mehr als eine auto­ nome Kunstgestalt betrachtet werden, sondern es muss akzeptiert werden, dass Musik heute etwas ist, was sich vor allem auf der Ebene des menschlichen Amüsierens befindet. Seit den 1970er Jahren ist der im Massenpublikum herrschende Musikgeschmack als populäre Musik zu erklären. Aber sollte man diese Entwicklung nun entweder beklagen oder beklatschen, oder einfach nur nüchtern diagnostizieren und so hinnehmen? Das wird wohl jeder für sich selbst entscheiden müssen. Eine Möglichkeit für jeden einzelnen allerdings, ohne gleich die unbestrittene ›Vorherrschaft westlicher Musik‹ in Frage stellen zu müssen, wäre es, sich für die »Chancen von Akkulturation« zu interessieren, d. h. sich für »die Aneignung nicht-westlicher Musik durch die westliche Musik- und Unterhaltungsindustrie« stark zu machen und auf diese Weise Begriff und Sache von »Global Pop« oder »Word Music« zu diskutieren und zu verbreiten: »Kulturelle Aneignung (Appropriation) ist dann nicht per se einseitig oder gar ein Gewaltakt, ist doch gerade in der Musik die Übernahme von Themen und Techniken, Instrumenten und Arrangements aus anderen, sicher auch ›exotischen‹ Quellen an der Tagesordnung. […] Das heißt nicht, dass man Weltmusik romantisieren sollte, denn wie generell im Handel mit Rohstoffen hat man es mit einer Wertschöpfungskette zu tun, die den Kreativen regelmäßig weniger übriglässt als den primären und sekundären Verwertern.«64

4. Die Literatur der modernen Kultur Nachdem zunächst die Entwicklung der Musik im 20. Jahrhundert behandelt wurde, geht es nun um die Literatur der modernen Kultur. Wie auch die Musik beginnt die Literatur mit einer Krise bzw. einer lähmenden Wirkung. Ende des 19. Jahrhunderts lag eine Ratlosigkeit auf der gesamten Gattung der Literatur, in der für die Dichter die Frage, welchen Sinn der innerliche Mensch in einer heillos geworde­ nen äußerlichen Welt in der Literatur nach dem Naturalismus wahr­ nehmen sollte, im Mittelpunkt stand. Hierbei ging es immerhin um die Diagnose, ob die Literatur noch einmal, wie in der Romantik des 64 C. Leggewie und E. Meyer (Hg.), Global Pop. Das Buch zur Weltmusik, Stuttgart 2017, S. 4 f.

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18./19. Jahrhunderts, einen unbedingten oder letzten Sinn aufweisen kann. Es wird in dieser Hinsicht jedoch von dem »hohlen Schweigen« gesprochen, welches sich als eben die lähmende Wirkung der Literatur selbst zum Ausdruck bringt. Die Zeit des antinaturalistischen Dramas bei Arthur Schnitzler (1862–1931) und Hugo von Hofmannsthal (1874–1929) wurde von einer pessimistischen Weltanschauung in der Literatur geprägt. Aufgrund dessen wurde die Welt nun nicht mehr als fragloses bzw. verlässliches Ganzes betrachtet. Im Gegenteil: Die Ganzheit der Welt wurde als ein Vakuum an Sinn erfahren, in der der Mensch zu einem ins Pathologische gesteigerten Leben getrieben wurde. Von Hofmannsthal erzählt in seinem »Brief des Lord Chandos an Francis Bacon« (1902), ihm sei »die Fähigkeit abhanden gekommen, über irgend etwas zusammenhängend zu denken und zu sprechen.« Ganz besonders sichtbar ist diese ›Sinnleere‹ in der Moderne an der Wurzellosigkeit und Heimatlosigkeit des geistigen Menschen in der Literatur nach dem Expressionismus, wie sie in der negativ-kritischen Literatur im frühen 20. Jahrhundert etwa von Robert Musil (1880–1942) und Franz Kafka (1883–1924) ausge­ führt wurde. Zur lähmenden Wirkung der Literatur fügte sich die Entdeckung des Unbewussten, die vorrangig auf Siegmund Freuds Traumanalysen im Jahr 1900 (»Die Traumdeutung«) zurückgeht. Durch diese Entde­ ckung erlebte die gesamte Literatur nach 1900 einen erheblichen Einschnitt, da die neue Auffassung des Unbewussten, bestehend aus Formen der verdrängten Sexualität, den Weg zu den moralischen Vor­ stellungen des 19. Jahrhunderts endgültig abschnitt. Die lähmende Wirkung bzw. der Einschnitt wurde innerhalb der Literatur durch bestimmte Schriftsteller verstärkt. So beispielsweise Arthur Schnitz­ ler, der im Jahr 1900 sein Drama »Reigen« zunächst unter Freunden verteilte und erst 1903 veröffentlichte. Mit dieser Schrift bezieht er sich auf die Psychoanalyse von Freud und auf dessen Traumdeutung, und damit dringt er in den Schein der bürgerlichen Wohlanständigkeit ein. In seinem Stück entlarvt er die vom Bürgertum romantisierte Liebe als einen kruden sexuellen Trieb. Somit wird der Mensch als ein Bündel aus sexuellen Trieben und ansonsten ohne Sinn und ohne Seele angesehen. Schnitzler schildert in seinem Werk »Reigen«, dass sich der Mensch in einer Situation der schwankenden Balance befin­ det. Der Mensch ist geprägt von seiner Unentschiedenheit und steht zwischen dem Abgrund und der Rettung seines Lebens. Die Folgen für die Literatur, die sich aus deren Prägung durch Schnitzler ergeben,

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sind grundlegende Änderungen im Hinblick auf ihre Struktur, ihre Technik und ihre künstlerische Form. Diese Änderung stellt Hugo von Hofmannsthal, der seine ersten Dramen als lyrische Stimmungsbilder verfasste, in seinem fiktiven »Brief des Lord Chandos« deutlich heraus. Es handelt sich dabei um einen literarischen Text, welcher in Briefform an den Philosophen Francis Bacon geschrieben ist und von einer Sprachkrise berichtet. Hierin beschreibt Hofmannsthal in außerordentlich wortgewandter Klage, dass die Fähigkeit zum zusammenhängenden Denken in der Moderne abhandengekommen sei, wodurch es in ein unerklärliches Unbehagen gerate. Es handelt sich dabei um einen selbstgestrickten Widerspruch bzw. einen Gegensatz par excellence. Hofmannsthal stellte heraus, dass Wörter wie Geist oder Seele infolgedessen abstrakt und ohne Inhalt werden würden. Doch nicht nur im »Chandos-Brief« wird eine pessimistische und paradoxe Weltansicht fixiert, sondern auch andere Schriftsteller wie beispielsweise Thomas Mann setzten sich mit diesem Thema auseinander. Diese insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, teilweise auch der zweiten Hälfte, immer wieder empfundene Sprachkrise, die für ein krisenhaftes Verhältnis zum Wort steht, findet sich auch bei Lyrikern von Rainer Maria Rilke über Georg Trakl, Gottfried Benn und Paul Celan bis hin zu Ingeborg Bachmann, aber auch Schriftstellern wie Kafka und anderen. Thomas Mann (1875–1955) versuchte 1901 mit seinem Roman »Buddenbrooks. Verfall einer Familie«, dessen Inhalt der allmähliche Niedergang einer Familie über mehrere Generationen ist, auf eine all­ gemeine Krise der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit zu verweisen. Der Verfall einer Familie repräsentiert die damaligen Zustände im Bürgertum der Wilhelminischen Epoche. Der Roman basiert konkret auf der Geschichte von drei Generationen einer Lübecker Kaufmanns­ familie, die zu Beginn noch den starken Willen zum positiven und guten Leben aufweist, der aber mit der Zeit durch Müdigkeit und Wehrlosigkeit ersetzt wird und in einer seelisch-geistigen Überfei­ nerung endet. Der Roman ist gekennzeichnet durch einen optimis­ tischen Anfang, einen bedeutungsvollen Höhepunkt und am Ende durch einen nicht mehr aufzuhaltenden tragischen Verfall der Familie. Ebenso wie sein Bruder Heinrich, dessen bekanntester Roman »Der Untertan« 1918 erschien, hat Thomas Mann den Anspruch gehabt, einen »Roman der Epoche«, d. h. hier des »Wilhelminischen Zeital­ ters«, geschrieben zu haben.

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Ein weiterer Schriftsteller, der genannt werden sollte, ist Rainer Maria Rilke (1875–1926), der sich ebenfalls mit dem Pessimismus und der Krise seiner Zeit auseinandergesetzt hat. »Die Aufzeichnun­ gen des Malte Laurids Brigge« ist der Titel eines 1910 in Tagebuch­ form veröffentlichten Romans. Die Prosaerzählung Rilkes wurde absichtlich in einer ungeordneten Form verfasst und widersprach somit der traditionellen Gestaltung von Literatur. Der Hauptdar­ steller in Rilkes Roman ist gekennzeichnet von Einsamkeit, Dasein­ sangst und Verlassenheit. Die Leere und Kälte verschiedener Orte in Paris erzeugt eine Wechselwirkung mit der Hauptperson Malte Laurids Brigge, für die die Wirklichkeit nicht mehr eine sichere äußere Geborgenheit darstellt, sondern eine Ebene des einsamen subjektiven Erlebens. Rilke selbst, der als Mystiker für die Nachtseite der Natur schwärmt, benennt seine Auffassung der Wirklichkeit als »Weltinnenraum«, der vom Dichter selbst gestaltet werden kann: »Der Mystiker wird hier zum Meister der Innenerfahrung, die sich nicht nur in den Menschen, sondern auch in das Tier, auch in die Kunst- und Dingwelt versenkt und sie zum Sprechen bringt.«65 Aus seinen Erfahrungen, die in das Innere der Wirklichkeit vor­ dringen, ergibt sich, dass das Schwelgen in der Schönheit der Sprache allerdings keine geeignete Antwort mehr auf das Chaos und die Sinnlosigkeit des modernen Lebens darstellt. Im 20. Jahrhundert setzt sich dieser Pessimismus in der Kultur und Zivilisation durch und wird aufgefangen beispielsweise durch ein messianisches Verkündigungs­ pathos, welches durch die Lyrik des Expressionismus mitgetragen wird. Im Expressionismus wird der Pessimismus etwas abgeschwächt, dennoch geht man im Großteil der lesenden Bevölkerung davon aus, dass große Städte Orte entindividualisierter Menschenmassen sind. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wird der Rückzug in den von Rilke so bezeichneten »Weltinnenraum« schließlich abgelöst von einer wiederaufbauenden literarischen Auseinandersetzung mit der Welt. In dem Roman »Berlin Alexanderplatz« (1929) von Alfred Döblin (1878–1957) geht es um die Geschichte des aus der Haft entlassenen Totschlägers Franz Biberkopf in der Stadt Berlin und um das mit diesem Ort zusammenhängende Chaos und Durcheinander in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auffällig und zugleich neu in der (deutschen) Literatur ist, dass in dem Roman viele unterschied­ O. Mann, Deutsche Literaturgeschichte. Von der germanischen Dichtung bis zur Gegenwart, Gütersloh o. J., S. 476.

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liche Geschehnisse gleichzeitig nebeneinander und nacheinander dargestellt werden, wie es auch im neuen Kinofilm zu beobachten war. Der Roman rückt die überall vorhandenen Ängste zwar in den Vor­ dergrund, aber diese erfahren vor allem in »Berlin Alexanderplatz« auch dadurch eine deutliche Mäßigung, indem Döblin als Schluss seines Romans eine mystische Wiedergeburt des kriminellen Groß­ stadtproletariers Franz Biberkopf als Hilfspförtner in einer Fabrik inszeniert. Während bei Döblin eine Abschwächung des Negativen zu verzeichnen ist, bleibt der Pessimismus in Verbindung mit einer seltsamen Paradoxie bei Franz Kafka weiterhin bestimmend und wurde zu einer Angst vor der Welt als einem schreckenerregenden und unlösbaren Rätsel. Sein Roman »Der Prozess« (1925) spiegelt die pessimistische Ansicht über die Ungerechtigkeit, Verwirrung und Anonymität der Welt wider, in die der innere Mensch des 20. Jahrhunderts heillos verstrickt ist. In diesem Zusammenhang spielen Autorität, Bedrohung, Verhaftung Unschuldiger oder auch Vollstreckung eines nie verkündeten Urteils eine außergewöhnlich bedeutende Rolle. Am Ende des Romans wird der Bankprokurist K. von einem anonymen Hinrichtungskommando umgebracht, obwohl er seinen Richter nie gesehen hat und es auch zu keinem Prozess kam. Er stirbt »wie ein Hund«66, heißt es im letzten Satz. Zur Interpretation lässt sich sagen: »Die Ängste, die er beschreibt, das mal absurde, mal verzweifelte Ungenügen an der Benennung einer Welt, die ihr Auseinanderfallen in subjektive und objektive Momente niemals verleugnen kann, auch wenn das gewöhnliche Standesbewußtsein Einheitlichkeit und Übereinstimmung suggeriert, entwirft das Bild bleibender Unvertrautheit, die nicht im Privaten aufgeht, sondern der Existenzordnung überhaupt die Sicherheit abgräbt.«67 Wahrschein­ lich hat kein anderer Dichter oder Denker des 20. Jahrhunderts die Angst des einsamen modernen Menschen so eindringlich und doch so unbegreiflich zum Ausdruck gebracht wie Kafka. Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde von vielen Intel­ lektuellen als eine Chance zur Erneuerung begriffen. Man war der Ansicht, dass man auf diesem Wege die dekadente Zivilisation reini­ gen könnte. Mit dem tatsächlichen Stattfinden des Krieges erlosch diese romantische Vorstellung jedoch schnell wieder. In diesem zeitli­ F. Kafka, Der Prozeß, Frankfurt am Main 1986, S. 194. O. A. Böhmer, Sternstunden der Literatur. Von Dante bis Kafka, München 2003, S. 16. 66

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chen Kontext entwickelte sich aus dem Expressionismus ein Sammel­ becken kultureller Antikriegsbewegungen. Diese Einstellung fand vor allem in Ernst Tollers (1893–1939) Stück »Die Wandlung« (1919) ihren Ausdruck. Inhalt dieses Stücks ist ein junger Mensch, der sich vom Patriotismus hin zur Liebe wendet. Die nächstfolgende Etappe der Literatur löste den Expressionismus durch die neue Sachlichkeit ab und dadurch wurde der Roman wieder zur wichtigsten Literatur­ gattung erhoben. Im Werk »Ulysses« (1922) von James Joyce (1882– 1941), in dem sich ebenso wie in Virginia Woolfs (1882–1941) »Mrs Dalloway« (1925) die Handlung über lediglich einen einzigen Tag erstreckt, entwickelte sich ein neuer Weg des Erzählens, der hin zum ›inneren Monolog‹ (»Bewusstseinsstrom«) eines Erzählers lenkte. Dabei verschwimmen Ereignisse der Gegenwart mit Fragmenten der Vergangenheit und es entstehen ambivalente Gefühle. Doch das bedeutet auch, dass geheime Wünsche zwar nicht erfüllt bzw. verwirk­ licht, aber einer äußeren moralischen Bewertung entzogen werden. Dies zeigt sich etwa bei Clarissa Dalloway, die sehr oft an ihren früheren Freund zurückdenkt, der für ihr Leben interessanter gewesen wäre als der solide, aber phlegmatische Mann, den sie geheiratet hat. In Hermann Hesses (1877–1962) Roman »Steppenwolf« (1927) wird die Ambivalenz im Leben des Helden in einen Pluralismus überführt. Die Romanhauptfigur besitzt zweierlei Wesenszüge, die zum einen bejahend den »Weg nach innen« anregen und zum anderen vernei­ nend dem äußeren Leben gegenüberstehen. Dieser Ausgangspunkt wird als ein Dualismus angesehen, welcher sich im Laufe des Romans zum Pluralismus weiterentwickelt. Am Ende geht es nicht mehr um zwei Wesenszüge, sondern um unzählbare, sich ständig wandelnde ›Polpaare‹, die eine selige Buntheit der Welt erzeugen. Hesse will damit zeigen, dass jedes Menschen Leben »nicht bloß zwischen zwei Polen, etwa dem Trieb und dem Geist, oder dem Heiligen und dem Wüstling [schwingt], sondern es schwingt zwischen tausenden, zwischen unzählbaren Polpaaren.«68 Durch die NS-Zeit erlitt die Literatur eine kulturelle Verarmung. In dieser Zeit wurden viele Literaten ins Exil verbannt, ermordet oder zumindest in die innere Emigration gezwungen. Aufgrund dieser Situation gestaltete es sich problematisch, im Jahr 1945 an die Literatur vor 1933 wieder anzuknüpfen. Nach 1945 fand ein Generationenwechsel in der Literatur statt. Diese neue Generation 68

H. Hesse, Der Steppenwolf, Frankfurt am Main 1972, S. 67.

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lehnte die Auswirkungen des Wirtschaftswunders in den 1950er und 60er Jahren ab. Eine kritische Haltung vertrat auch Wolfgang Koeppen (1906–1996) in seinen Werken »Tauben im Gras« (1951), »Das Treibhaus« (1953) und »Der Tod in Rom« (1954). Obwohl diese Werke heute als Meisterwerke deutscher Nachkriegsliteratur betrach­ tet werden, fanden sie in den 1950er Jahren wenig Resonanz bei den Lesern. In der Nachkriegsliteratur kann differenziert werden zwischen stilistisch experimentelleren, avancierten Autoren und solchen, die eher konventionellen Erzählungsmustern folgten und deren Schwer­ punkt auf dem Inhalt, den behandelten Sujets lag. Koeppen kann zu den ersteren gezählt werden, genauso Uwe Johnson (1934–1984, hervorzuheben sind die »Mutmassungen über Jakob«, 1959) sowie Arno Schmidt (1914–1979), dessen Roman »Zettel’s Traum« (1970) wohl als Gipfelpunkt experimenteller deutscher Nachkriegsprosa gelten kann. Zu den zweiteren gehören Literaten wie Heinrich Böll, Martin Walser oder auch Siegfried Lenz. Walser (*1927) widmete sich der Thematik der Inhumanität dieser Zeit in seinem Roman »Halbzeit«, der 1960 erschienen ist. Böll (1917–1985) befasst sich mit der Sinnlosigkeit des Krieges und verfasst ein Bekenntnis zur Trüm­ merliteratur. In seinen Romanen »Haus ohne Hüter« (1954), in dem aus wechselnder Sicht über das Schicksal der Freunde Martin Bach und Heinrich Brielach erzählt wird, die beide im Krieg die Väter verloren haben, und »Ansichten eines Clowns« (1963) setzt er sich kritisch mit gesellschaftlichen Veränderungen auseinander und verurteilt das Fortleben des NS-Gedankenguts in der jungen Bundesrepublik sowie die Heuchelei der katholischen Kirche. Aus Anlass einer Pressekam­ pagne gegen Böll, der die medial geschürte Terroristenhysterie im Zusammenhang mit Ulrike Meinhof kritisiert hatte, entsteht 1974 der Roman »Die verlorene Ehre der Katharina Blum«, der die fiktive Geschichte eines Mädchens erzählt, das sich in einen von der Bundes­ wehr desertierten jungen Mann verliebt. In ihrer Verzweiflung über die Verleumdungen durch einen Medienkonzern bringt Katharina ihren Peiniger, den Reporter des Massenblattes, um. Auch Günter Grass (1927–2015) beschreibt in seinem Werk »Die Blechtrommel« (1959) die vergangene und gegenwärtige Wirklichkeit mittels einer Kunstfigur, dem Zwerg Oskar Matzerath, der einfach aufgehört hat zu wachsen. Mit der Lebensgeschichte seines fiktiven Negativhelden greift er die Stimmung der vorherrschenden Literatur kritisch auf, indem er mit einem geradezu besessenen Detailrealismus alle mög­ lichen sprachlichen und inhaltlichen Tabus der Epoche enthüllt und

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zerbricht, um dadurch den wegschauenden und hindämmernden Zeit­ genossen aufzuschrecken. Dieses Werk wurde als eines der wenigen Werke der deutschen Nachkriegsliteratur im europäischen Ausland akzeptiert und von einer breiten Leserschaft wahrgenommen. In den 1960er Jahren richtete sich die Literatur neu aus. Schrift­ steller wie Peter Handke (*1942), Ernst Jandl (1925–2000) und Gerhard Rühm (*1930) trugen zum Ende der modernen Literatur bei, die bis 1980 ihren Abschluss fand. Parallel dazu entwickelte sich spä­ testens seit den 1960ern allmählich die Postmoderne in der Literatur, die ein neues Interesse am kulturellen Menschen selbst involvierte. Die starre Grenze zwischen ernster Literatur und Unterhaltungslite­ ratur wurde durch Werke wie »Hundert Jahre Einsamkeit« (1967) von Gabriel García Márquez (1927–2014) und »Der Name der Rose« (1980) von Umberto Eco69 (1932–2016) mehr oder weniger fließend: »Zweifellos findet ein Roman, wenn er unterhaltsam ist, Anklang beim Publikum. Nun hat man jedoch eine Zeitlang geglaubt, daß Anklang beim Publikum (also Konsens und damit ›Erfolg‹) ein Zei­ chen für Minderwertigkeit sei.«70 Doch diese Ansicht gilt heute als überwunden. Gegenwärtig dominiert in der Literatur die Frage, wie in der belanglos und unverständlich gewordenen Welt der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts diese wenigstens von den Schriftstellern noch geschildert werden kann, aber dies auch nur individuell, das heißt: wie sie etwa bei Handke als ›narzisstisches Literaturritual‹ erlebt wird und wie dies jeweils metaphorisch, kunstvoll und vieldeu­ tig, beispielsweise in Form ›geschichteter Augenblicke‹ (so wie bei Botho Strauß [*1944]) erzählt werden kann, anstatt traditionell und allgemeinverständlich in Form ›gerader Fortsetzung‹ und ›umschlos­ sener Entwicklung‹, was in der Postmoderne möglicherweise litera­ risch nicht mehr ausführbar ist und überzeugen könnte. Als kulturel­ les Leitmedium, das sie in der bürgerlichen Gesellschaft gegen Ende des 18. Jahrhunderts tatsächlich einmal war, spielt die Literatur heute und wahrscheinlich auch in Zukunft kaum noch eine Rolle. Aber wer weiß: »Während gegenwärtig alles Kulturelle, auch die integren Gebilde, zu ersticken droht im Kulturgewäsch, ist doch, zur gleichen Stunde, den Kulturwerken aufgebürdet, wortlos festzuhalten, was der Politik versperrt ist.«71 69 Vgl. U. Eco, Die Unterhaltung, in: ders., Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, Mün­ chen und Wien 1984, S. 69–75. 70 Ebd., S. 70.

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5. Die Malerei der modernen Kultur Wenn man über die Kunst des 20. Jahrhunderts spricht, dann spricht man über eine kulturhistorische Entwicklung, die mit den Entwick­ lungen in der Literatur und auch in der Musik eine Parallele hat, nämlich einen kulturellen Neuanfang. Einen Neuanfang, den wir auch in der bildenden Kunstgeschichte finden. Dieser künstlerische Neuan­ fang, der sich von überkommenen Formen und Inhalten trennt, ereig­ net sich am Anfang des 20. Jahrhunderts. Ein bedeutender Künstler dieser Zeit ist Franz Marc (1880–1916), der eine Vision hatte, die das bisher ›Ungesehene‹ entwerfen wollte und sollte. Dieses Ungese­ hene muss auch im kritischen Sinne verstanden werden, denn Marc hatte mit dieser Vision einen schrittweisen Abbau des traditionellen Selbstverständnisses der Kunst als Ziel. In seiner Vorstellung ging es darum, alles in der Kunst von Grund auf neu zu gestalten. Wenn wir uns jetzt aber die Kunstsituation im Ganzen anschauen, müssen wir feststellen, dass wir hier nicht eine einheitliche Konzeption vorliegen haben, sondern eine Reihe an unterschiedlichen Bewegungen in der Kunst – sehr unterschiedliche Bewegungen, Stile und Experimente. Trotz dieser Unterschiedlichkeit gibt es einen kleinsten gemein­ samen Nenner und der besteht darin, dass man etwas Neues wollte. Joseph Beuys (1921–1986) wollte dafür stellvertretend: »Den Austritt der neuen Kunst aus der traditionellen Kunst« und die »Erweiterung des Kunstbegriffs«.72 Man verstand diese Erneuerung im Sinne einer Revolte gegen die Kunst der Vergangenheit schlechthin. In erster Linie waren die Klassik und die Romantik des 19. Jahrhunderts angesprochen. Die Revolte richtete sich aber auch gegen die Idee des Werkes und weiterhin gegen die Bestimmung der Kunst als Kunst und auch gegen die Institutionen der Kunst. Diese Vielfältigkeit der Kritik, verstanden im Sinne eines Aufbruchs, führte dann zunehmend in eine Krise des künstlerischen Selbstverständnisses. Die Revolte wurde durch alle Richtungen der modernen Kunst mitproduziert, so etwa auch von den Expressionisten. Diese brachen mit der Bildtradition des 19. Jahrhunderts. Ungeachtet dieses Bruchs darf der Expressio­ nismus jedoch noch nicht als eine avantgardistische Kunstrichtung verstanden werden, denn der Expressionismus verblieb weiterhin Th. W. Adorno, Noten zur Literatur, Frankfurt am Main 1981, S. 430. H. Richter, Geschichte der Malerei im 20. Jahrhundert. Stile und Künstler, Köln 1990. S. 257. 71

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innerhalb der traditionellen Werkästhetik. Innerhalb dieser ging es jedoch bereits um die Aufhebung ihrer selbst. Dies geschah durch eine Verdichtung des Dargestellten, des Figürlichen. Es kam zu einer Verzerrung von Raum und Perspektive. In diesem Sinne richtete man sich gegen die traditionelle Kunst. Das Geschäft der Malerei im Expressionismus bestand darin, die »innere Vision« des Künstlers zum Ausdruck zu bringen. Hier liegt ein durchaus individualistischer Ansatz zugrunde. Die wirkliche Revolution in der Malerei brachte aber nicht der Expressionismus zustande, sondern ein spanischer Künstler namens Pablo Picasso (1881–1973). Picasso hat mit sei­ nem 1907 vollendeten Gemälde »Les Demoiselles d’Avignon« zu einer Richtungsänderung in der Malerei beigetragen.73 Dargestellt sind in diesem Gemälde fünf nackte Frauengestalten, die sich durch eckige Leiber auszeichnen; Leiber ohne plastische Fülle. Außerdem haben diese Frauenleiber schematisch gemalte Gesichter. Mit diesem Gemälde wird heute die Geburtsstunde des Kubismus verbunden. Während die Farborgien der Expressionisten noch vom Gefühl und von der subjektiven Empfindung geprägt waren, bestand das Grundproblem des Kubismus eher in der Frage nach der Destruktion des dreidimensionalen Körpers. Ein großes Problem in der Malerei war es stets, wie sich auf einer zweidimensionalen Leinwand über­ haupt ein dreidimensionaler Körper darstellen lässt. Dieses Problem ist durch perspektivische Illusionen gelöst worden. Jetzt stellt sich der Kubismus die Frage, wie eine Darstellung des dreidimensionalen Körpers auf der zweidimensionalen Leinwand unter Verzicht auf die traditionelle perspektivische Illusion bewerkstelligt werden kann. Diese Frage bewirkte, dass sich die Malerei immer mehr davon ablöste, etwas abbilden zu wollen, sich somit davon distanzierte, die Wirklichkeit wiederzugeben. Sie fängt jetzt an, die Gegenstände der Objektwelt in Flächen und Linien zu zerlegen. Zum Beispiel werden Bilder entworfen, die sich aus mehreren Perspektiven betrachten lassen und die aus einem anderen Blickwinkel betrachtet ein anderes Bild darstellen. Dies geschieht durch das Ausschalten der perspektivi­ schen Illusion. Zudem werden jetzt bildfremde Materialien ins Bild integriert, zum Beispiel Holz, Stoffe und Zeitungsausschnitte. All das bewirkt, dass die traditionellen Sehgewohnheiten zerstört werden. Es kommt in diesem Zusammenhang zu einer Intellektualisierung 73 Vgl. K. Herding, Pablo Picasso. Les Demoiselles dʼAvignon. Die Herausforderung der Avantgarde, Frankfurt am Main 1992.

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bzw. Vergeistigung der Kunst, d. h., im Betrachter entsteht ein grund­ sätzliches Misstrauen gegenüber der sinnlichen Wahrnehmung, aber auch gegenüber den sichtbaren Objekten der Welt. Dem Kubisten Georges Braque (1882–1963) zufolge ging es in der Kunst der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts darum, den sichtbaren Objekten den Kampf anzusagen. Über den Kubismus muss man festhalten, dass er einerseits mit der Zentralperspektive bricht, aber dennoch den Gegen­ standsbezug nicht sofort völlig auflöst. Das heißt, der Gegenstand und der Gegenstandsbezug bleiben in dieser Malerei erhalten. Der Kubismus befindet sich mit einem Bein noch immer innerhalb der traditionellen Ästhetik, mit dem anderen geht er darüber hinaus. Etwas wirklich Neues ereignet sich erst danach in den Richtun­ gen, die wir heute mit den Namen Futurismus, Dadaismus und Surrealismus verbinden. In diesen Richtungen geht es darum, das Verhältnis zwischen Abbild oder Bild auf der einen Seite und sinnli­ cher Wirklichkeit auf der anderen Seite zu zerstören oder radikal in Frage zu stellen. Futurismus, Dadaismus und Surrealismus sind der Auffassung, dass es nicht länger darum geht, in der Kunst ein Bild der Wirklichkeit zu repräsentieren. Sie sind der Überzeugung, dass dieser Illusionscharakter der Kunst aufgegeben werden muss und dass ein »autonomes« Kunstwerk anvisiert werden sollte. Dieses autonome Kunstwerk zeichnet sich in den Kunstrichtungen überdies dadurch aus, dass es in die Lebenspraxis überführt werden sollte. Dies versteht sich als eine Art Kriegserklärung gegenüber der traditionellen Kunst. Die Kunst erklärt sich selbst den Krieg. Schauen wir uns zum Beispiel die Kunst von Marcel Duchamp (1887–1967) an. Dieser hatte im Jahr 1917 einen Skandal dadurch hervorgerufen, dass er einen ganz gewöhnlichen Alltagsgegenstand, ein Pissoir, ins Museum gestellt hat und dieses Werk unter den Titel »Fontaine« setzte. Sicherlich handelt es sich hierbei auch um eine Art Bloßstellung des Kunstbetriebs in einem Museum, aber es wurde zudem der Versuch unternommen, einen gewöhnlichen Alltagsgegenstand, einen Konsumgegenstand, der gemeinhin zweckgebunden ist, aus seinem Kontext, seiner eigent­ lichen Bedeutung herauszureißen und ihn für ›zweckfrei‹ zu erklä­ ren. Wir werden mit dieser Kunst gezwungen, einen gewöhnlichen Gegenstand nun ›rein ästhetisch‹ zu betrachten.74 Genau das hat 74 Eine solche Interpretation findet sich ähnlich auch bei Th. de Duve, Kant nach Duchamp, in: Kunstforum. Kunst und Philosophie, Bd. 100, April/Mai 1989, S. 186– 206. Der Autor geht hier davon aus, dass wir Kant nach Duchamp neu lesen müssen.

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Duchamp mit diesem künstlerischen Akt vollzogen. In dieser Kriegs­ erklärung gegenüber der Kunst ging es noch um mehr, aber in erster Linie ging es (erstens) um eine Kritik der traditionellen Kunst und diese Kritik wurde jetzt auch von anderen Künstlern im Sinne einer Entgrenzung, aber auch (zweitens) im Sinne eines Aufhebens des Illusionscharakters praktiziert. Darüber hinaus wird in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts – vor allem im Zuge der Pop-Art – dazu übergegangen, den Autonomieanspruch, der in der Tradition seit der Neuzeit mühsam errungen wurde, wieder in Frage zu stellen und aufzuheben. Die Künstler taten dies, um die Trennung zwischen Kunst und Leben wieder aufzulösen. Man sah die Kunst von einer entfremdeten Lebenspraxis abgehoben und wollte durch die Aufgabe und Funktion der Autonomie erreichen, dass die Kunst wieder mit dem Leben vermählt werden konnte. Bevor wir uns jedoch der zwei­ ten Hälfte widmen, soll zunächst der Surrealismus im Mittelpunkt stehen. Durch die Einbeziehung des Irrationalen, des Paradoxen und des Absurden in die Kunst ist es dem Surrealismus gelungen, eine neue Sprache in die Kunst einzuführen. Dieses Programm wurde 1924 durch André Breton (1896–1966) im ersten »Manifest des Surrealis­ mus« niedergeschrieben; 1932 verfasste er »Die kommunizierenden Röhren«, in dem er die Kluft zwischen Wachsein und Schlaf, Tag und Traum durch kommunizierende Röhren ersetzte.75 Max Ernst (1891–1976), ein Vertreter dieser Kunstrichtung, hatte sich vorgenommen, an einer Zerstörung des Aberglaubens in der Kunst zu arbeiten. Dieser Aberglaube bezog sich hierbei auf das bewusste Schöpfertum des Künstlers. Dies hat Ernst gezielt als einen Aberglauben zu entlarven versucht. Sein Schöpfertum spricht daher durch sein Unbewusstes und es geht in der Kunst darum, die im Unterbewusstsein vergrabenen Bilder ans Licht zu befördern. Ernst nennt diese im Unterbewusstsein vergrabenen Bilder »Fundstü­ cke« und Ziel seiner Kunst ist, diese Fundstücke unverfälscht in das Gemälde, auf das Papier, ans Licht zu befördern. Das Zeichnen und das Malen, womit dies bewerkstelligt werden sollte, dürfen wir nicht im traditionellen Sinne verstehen, sondern wir müssen das Malen und Zeichnen des surrealistischen Künstlers als ein »Ereignis« verstehen, das sich in einem »Trancezustand« realisiert. In Ernsts Bildern werden fremde Bildelemente, die zuvor noch nie in irgendwelchen Bildern auftauchten, integriert. Diese Beob­ 75

Vgl. A. Breton, Die kommunizierenden Röhren, München 1973.

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achtungen lassen sich aber auch bei Joan Miró (1893–1983) und Salvador Dalí (1904–1989) machen. Der wohl bekannteste Künstler des Surrealismus nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Belgier René Magritte (1898–1967). Auch bei ihm bemerken wir den Versuch, die Wirklichkeit durch die Kombination des Widersprüchlichen zu verrät­ seln. Hiermit versucht er zum einen den Betrachter zu irritieren, aber nicht nur das, denn diese Irritation soll zum anderen auch einen Sinn haben. Sie soll den Betrachter dieser Gemälde zur Reflexion zwingen. Wenn man sich allerdings die Frage stellt, ob die Entgrenzung im Surrealismus gelungen ist, dann müssen wir heutzutage kritisch feststellen, dass dies nicht der Fall ist, sondern dass wir vielmehr eine Trennung von Kunst und Leben vorliegen haben, die im Surrealismus ursprünglich aufgehoben werden sollte. Die Kampfansage an die traditionelle Kunst ist daher auch mit dem Surrealismus noch nicht radikal geworden. Wirklich ›radikal‹ wird die Kunst erst in der abstrakten Malerei. Der französische Künstler Maurice Denis (1870–1943) soll einmal gesagt haben, dass das Kunstwerk ›in Wirklichkeit‹ eine flache, mit Farbe bedeckte Oberfläche ist. Diese Definition des Kunstwerkes hatte auch Wassily Kandinsky (1866–1944) vertreten; bereits 1910 (ver­ mutlich erst 1913; es wird angenommen, dass er es zurückdatiert hat) hat er das erste76 abstrakte Bild gemalt. Hierbei handelt es sich um ein Aquarell, in dem eine erkennbare gegenständliche Abbildung nicht anwesend ist. Dieser Weg in die Abstraktion, den wir bei Kandinsky finden, ist der Weg der Malerei hin zur Gegenstandslosigkeit, und darf bei solchen Künstlern wie Kandinsky allerdings nicht als Werk eines frühen Intellektuellen verstanden werden, sondern hat nicht nur in der abstrakten Kunst eher starke Anklänge an eine von vielen Künstlern geteilte Kunstreligion. Solche Anfänge können wir auch bei Franz Marc oder Paul Klee feststellen. Klee (1879–1940) hatte die Absicht, in seiner Kunst zum Urgrund der Schöpfung vorzudringen, wobei er unter Schöpfung die künstlerische Gestaltung verstand. Er setzte Schöpfung und Gestaltung gleich, und daher sehen wir, dass der gestaltende Akt im Sinne von Schöpfung aufgeführt wird und ins Zentrum der künstlerischen Überlegung rückt. Hier entstehen die 76 Es ist nach heutigem Kenntnisstand davon auszugehen, dass diese Pionierrolle eher der schwedischen Malerin Hilma af Klint (1862–1944) und ihrem Werk »Chaos Nr. 1, Gruppe I« (1906) zukommt. Vgl. dazu I. Müller-Westermann (Hg.), Hilma af Klint. Wegbereiterin der Abstraktion, Katalog zur Ausstellung im Moderna Museet, Ostfildern 2013.

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Anfänge einer neuen religiösen Kunst oder Kunstreligion, die beson­ ders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Kunst dominieren. Wie müssen wir die Ablehnung bzw. Unterdrückung der Gegen­ standswelt bzw. der Raumdarstellung in der Kunst exakter interpre­ tieren, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur »Annähe­ rung der Darstellung an die Ebene«, der Flachheit der Leinwand des Gemäldes geführt hatte? Dem Kunsttheoretiker Wilhelm Worrin­ ger zufolge ist die Unterdrückung der Raumdarstellung »im letzten Grunde nichts anderes als ein Überbleibsel jener Qual und Unruhe, die den Menschen den Dingen der Außenwelt in ihrem unklaren Zusammenhang und Wechselspiel gegenüber beherrschte«; sie ist daher der Versuch, »den Ausgangspunkt alles künstlerischen Schaf­ fens«77 im ›Abstraktionsdrang‹ zurückzugewinnen – als klare Fassung einer Welt von reinen Formen. Diesen Versuch hat der russische Künstler Kasimir Malewitsch (1878–1935) im Jahr 1915 durchgeführt. Er hat ein berühmtes Gemälde mit dem Titel »Schwarzes Quadrat auf weißem Grund« produziert. Dieses »Schwarze Quadrat« hat er als einen absoluten Nullpunkt in der Malerei im Sinne eines radikalen Neuanfangs verstanden. Seine Kunst, und auch die Kunst von Piet Mondrian, zeichnete sich nach 1915 dadurch aus, dass im bildneri­ schen Aufbau des Gemäldes nur noch Elementarformen vorkamen, wie beispielsweise das Quadrat, Dreieck oder das Kreuz bei Mondrian. Diese reinen Formen wurden dann jedoch auch ideologisiert. Sie wurden als Sinnbilder einer ursprünglichen Intuition oder auch als Sinnbilder einer magischen Assoziation verstanden. Mit diesen Sinn­ bildern sollte eine Zone gegenstandsloser Vollkommenheit erreicht werden. Diesen Versuch finden wir bei Kandinsky ebenso wie bei Mondrian wieder. Der Zweite Weltkrieg bringt das Unternehmen der modernen Kunst zunächst zu einem Endpunkt. Nach dem Krieg geht es dann aber in einer etwas veränderten Situation weiter. Man konnte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verschiedene Stilrichtungen bestimmten Ländern zuordnen. Der Kubismus lässt sich beispiels­ weise in erster Linie Frankreich zuordnen, der Futurismus Italien, der Expressionismus Deutschland, der Konstruktivismus Russland. Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelt sich die Situation und es lässt sich auf der internationalen Ebene eine große Welle der abstrakten 77 W. Worringer, Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, Mün­ chen 1987, S. 58.

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Malerei erkennen. Das abstrakte Vokabular, das in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auskristallisiert wurde, war jetzt geradezu als eine neue Heilsbotschaft zu betrachten. Der Hauptort dieser Kunst, den wir auch abstrakten Expressionismus nennen können, war in den 1940ern zunächst Paris. Dort begann die Entwicklung des abstrakten Expressionismus und hieraus bildete sich die informelle Kunst. Das ist eine nicht-geometrische, abstrakte Malerei, die zudem den Versuch unternimmt, »Fremdkörper« wie Gips, Sand usw. in die Malerei zu integrieren. Dies geschieht aber nicht, um irgendetwas anzudeuten oder auszusagen, sondern man ist nun in den 1940er, 1950er Jah­ ren der Auffassung, dass man sich jeglichem Illusionismus in der Kunst widersetzen muss. Die US-amerikanische Kunst entwickelte in den 1950er Jahren ein immer größeres Selbstbewusstsein und wurde dadurch auch international mehr berücksichtigt. Der abstrakte Expressionismus in den USA wird allerdings nicht so praktiziert wie der in Europa. Es wird nicht in erster Linie Farbe auf die Leinwand gepinselt, sondern man geht dazu über, Farbe auf die Leinwand zu schleudern oder zu gießen und dann anschließend mit Spachteln oder Stöcken zu verteilen. Dies ist eine grundlegende Innovation. Überdies findet zu dieser Zeit auch ein Rollentausch statt. New York löst Paris als Kunsthauptstadt des 20. Jahrhunderts ab. Einer der erfolgreichsten Künstler des abstrakten Expressio­ nismus in der frühen zweiten Hälfte des Jahrhunderts, Jackson Pollock (1912–1956), erfand zu dieser Zeit die sogenannte »Drip«Methode.78 Dieses besteht darin, dass durch eine durchbohrte Dose Farbe in rhythmischen Bewegungen auf großen Leinwänden verteilt wird. Dieses Verteilen von Farbe soll aber nicht rational und bewusst gesteuert sein und der Künstler will mit dieser Art des Malens auch nicht mehr seine eigenen Gefühle illustrieren, sondern es geht nun vielmehr darum, Gefühle des Künstlers unkontrolliert zum Aus­ druck zu bringen. Das bedeutet, dass in dieser Kunst der Begriff der »Komposition«, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch eine tragende Rolle gespielt hat, jetzt aufgegeben wird. Ausgehend davon muss gesagt werden, dass es in der Malerei nun nicht mehr darum geht, irgendetwas zu thematisieren, sondern man versteht das Bild jetzt als einen Ausdruck der Körperlichkeit eines Malaktes. C. Greenberg, Jackson Pollock: Inspiration, Vision, intuitive Entscheidung, in: ders., Die Essenz der Moderne. Ausgewählte Essays und Kritiken, hrsg. v. K. Lüdeking, Amsterdam und Dresden 1997, S. 354. 78

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Wir müssen das Bild als eine Fläche, auf der ein Künstler »Einschrei­ bungen« vornimmt, sehen – Einschreibungen, bei denen der ganze Körper des Künstlers in Anspruch genommen wird und er sich selbst verobjektiviert bzw. materialisiert. Im Ganzen ließe sich jetzt auch konstatieren, dass die Kunst nun darin besteht, immer mehr zu reduzieren, immer mehr das aus der Kunst herauszubrechen, was in der traditionellen Kunst früher wichtiger Bestandteil war. Man könnte die ganze Entwicklung der Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts daher mit zwei Begriffen sehr gut beschreiben: Reduktionismus und Purismus. Diese Entwicklung führte die Kunst immer mehr an die Grenze des Sichtbaren – wie zum Beispiel im Kontext der Werke mit dem Titel »Black Painting« von Ad Reinhardt (1913–1967). Der Künstler wollte hier den Betrachter an die Grenze des nicht mehr Sichtbaren führen und verstand seine Bilder daher als sogenannte »Letzte Bilder«. Die Auseinandersetzung mit dem Bild war auf diese Weise ausgereizt und nach 1966 distanzieren sich die Künstler zunehmend vom Bild und beschäftigen sich anstatt dessen mit Objekten. Ein Künstler, der stellvertretend für diese Entwicklung steht, ist der US-Amerikaner Frank Stella (*1936). Er versteht ein Bild als eine Leinwand mit aufgetragener Farbe oder auch als ein auf die Leinwand gemachtes farbiges Etwas, das er dann behandelt hat wie jedes Alltagsding. Er trifft keine Unterscheidung zwischen Alltagsgegenständen und Kunstgegenständen. Diese Trennung hat er aufgegeben. Die Kunst schreitet allmählich immer mehr ihrem eigenen Ende entgegen und spätestens mit den »Letzten Bildern« von Reinhardt ist dieses Ende erreicht worden. Nach dieser Zeit entsteht eine völlig neue Orientierung in der Kunst – eine neue Orientierung, die sich wieder auf die Sinnlichkeit und Bildlichkeit des Kunstwerkes zurückbesinnt und neu favorisiert. Dies ist die sogenannte Postmoderne. Aber auch die Pop-Art in den 1960er Jahren nimmt diesen Schritt bereits vor. Sie konzentriert sich auf Charakteristika der modernen Verbrauchskultur und versucht, die Zeugnisse der modernen Verbrauchskultur sichtbar zu machen. Dabei scheut sie sich nicht davor, eine Anpassung an die Welt des Konsums und der Plakate vorzunehmen. Die Pop-Art entsteht zwar bereits in den 1960er Jahren, aber eine genaue Datierung, wie in der postmo­ dernen Kunstrichtung, muss in die 1970er Jahre fallen. In dieser Zeit lässt sich ein ganz neuer Hunger nach Bildern feststellen. Es wird ver­ sucht, wieder etwas zu machen, was Ende des 19. Jahrhunderts schon aufgegeben worden ist. Es werden Bilder gemalt, die etwas darstellen,

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Bilder, die eine Geschichte erzählen. Es wird wieder gegenständlich gemalt und jede Intellektualisierung in der Kunst kategorisch abge­ lehnt. In der Kunst der 1970er Jahre wird eine unbekümmerte Suche nach visuellen Erfahrungen in Angriff genommen. Die Abstraktion wird zunehmend zurückgewiesen und eine neue Gegenständlichkeit setzt sich in der Kunst durch. Das bewirkt, dass eine herrschende Tendenz in der Kunst der 1980er Jahre gar nicht mehr existiert. In den 1980er Jahren kann sowohl wieder gegenständlich als auch abstrakt gemalt werden. Zudem geht man wieder positiv mit dem Ornament um. Dies war in der Moderne verpönt. Ende der 1980er Jahre entdeckt man nun wieder die Begeisterung für das Ornament und das Dekorative.79 Auf den Punkt gebracht hat diese Entwicklung der Kunsthistoriker Adi Martis: »Wie die Modernisten die Farbe nicht benutzten, um etwas zu malen, sondern die Farbe selbst malen wollten, den Bildträger nicht als Lasttier gebrauchten, sondern als Träger seiner selbst, so benutzt der postmoderne Ikonograph seine Bildsprache nicht, um etwas zu erzählen, sondern um des Erzählens selbst willen: Bilder als Bilder, Ikonographie als Ikonographie, das läßt sich mit der Farbe-als-Farbe, Material-als-Material-Methode der vorigen Avantgarde vergleichen.«80 Eine weitere Entwicklung in den 1990er Jahren ist dann das »technisch bewegte Bild«. Bilder waren bis dato immer Standbilder gewesen und nun, mit den neuen technischen Möglichkeiten in den 1980er und 90er Jahren, unter anderem dem Videorekorder, wurde es auch möglich, mit bewegten Bildern in der Kunst zu arbeiten. In den 1990ern herrscht über die Technisierung der Kunst hinaus eine Pluralisierung in der Kunst vor. Der gemeinsame Nenner, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Kunst noch existierte, der Monismus der Überzeugung über Kunst, wurde abgeschafft und wir haben daher wirklich die Möglichkeit alles, was uns gefällt, in der Kunst zu realisieren. Alles ist möglich.

Vgl. K. Honnef, Kunst der Gegenwart, Köln 1988. A. Martis, Die Verantwortung der Bilder, in: D. Kamper und W. v. Reijen (Hg.), Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt am Main 1987, S. 363–402, hier S. 378.

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6. Die Architektur der modernen Kultur In den letzten Abschnitten haben wir die Konzentration auf die wich­ tigen Künste Musik, Literatur und Malerei gelegt. Bei all diesen ist festzustellen, dass es am Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Bruch gab. Dieser wurde als Versuch für einen Neuanfang gewertet. Dabei ist wichtig zu wissen, wovon man sich abzusetzen versuchte. In der Architektur ist dieser Bruch als Abset­ zung von der traditionellen Architektur des 19. Jahrhunderts zu sehen. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts herrschte der Klassizismus vor, der um 1840 vom Historismus abgelöst wurde. Dem entgegen­ gesetzt gab es die Ingenieurbaukunst und den Jugendstil. Äußerlich kennzeichnende Teile oder Elemente des Jugendstils sind dekorativ geschwungene Linien sowie flächenhafte florale Ornamente und die Aufgabe von Symmetrie. Der Jugendstil verbreitete sich in Europa und seine Zeit reichte von ca. 1889/90 bis spätestens 1920. Zur Pro­ grammatik des Jugendstils gehörte die Forderung nach Funktionalität und Ausdruck der Funktion in der Erscheinung der Dinge – die Funk­ tionen eines Gebäudes sollten auch dessen Gestaltung sichtbar prä­ gen. So beispielsweise sollten die Fassaden nicht länger symmetrisch und von axialen Aufteilungen bestimmt sein müssen, sondern einer aus dem Grundriss entwickelten Raumvorstellung folgen dürfen. Ins­ gesamt gehören die Abkehr von den historischen Bauformen und die intensive Suche nach neuen dekorativen Gestaltungsmöglichkeiten in Architektur und Kunstgewerbe zum erklärten Programm vieler Künstler des Jugendstils. Eine der zentralen Fragen des Jugendstils war in gewisser Weiterführung der Stildebatten des 19. Jahrhunderts die Frage nach dem »modernen« Stil, dem »Stil unserer eigenen Zeit«. Da jedoch die Ingenieure die Vorbilder der neuen Architektur sein sollten, wurde dieser von der modernen Architektur abgelehnt. Den Jugendstil zu verwerfen, zeigte sich daher als sinnvoll, da er aus der Perspektive des 20. Jahrhunderts als Übergangsphänomen interpre­ tiert wurde. Die dynamischen Ranken, Kurvenlinien und dekorativen Verzierungen haben in erster Linie Anklang in der wohlhabenden Bevölkerung der mitteleuropäischen Länder gefunden. Diese haben sie offensichtlich gebraucht, um aus ihrer nüchterner werdenden Welt herauszutreten bzw. diese kompensieren zu können. Die moderne Architektur bzw. das moderne Bauen schließt nicht an der traditionellen Architektur, sondern der ›Ingenieurbaukunst‹

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an. Die Ingenieurbaukunst ist im 19. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Industriellen Revolution erschienen. Hierbei emanzipierten sich die Ingenieure, die vorher die Gehilfen der Architekten waren, gegenüber diesen. Begonnen hat dieser Durchbruch mit dem Beginn des Brückenbaus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.81 Richtig hervor kam dieser jedoch erst in London, durch den »Crystal Palace«, einer Ausstellungshalle in Eisen-Glas-Konstruktion. Der »Crystal Palace« (»Kristallpalast«) war ein vom britischen Botaniker und Gewächshausbauer Joseph Paxton eigens für die erste Weltausstel­ lung 1851 in London entworfenes Ausstellungsgebäude im viktoria­ nischen Baustil. Es wurde ursprünglich im Hyde Park errichtet und nach dem Ende der Weltausstellung nach Sydenham im Londoner Stadtbezirk Lewisham versetzt, wo es in vergrößerter Form 1854 erneut eröffnet wurde. 1936 ist der »Crystal Palace« durch einen Brand vollkommen zerstört worden. Die Tradition der Weltausstellungen wird bis heute fortgesetzt. An dieser ›Ingenieurbaukunst‹ setzt die moderne Architektur an. Somit gab es um 1900 einen radikalen Neuanfang. Der Ansatz der modernen Architektur kam von dem Franzosen Le Corbusier (1887– 1965). Er hatte die Auffassung, dass sich die Schönheit nicht über überflüssige Schnörkeleien oder schmückendes Beiwerk einstellt, sondern dass diese sich einzig und allein aus dem Geist der Kon­ struktion des Gebäudes ergibt. Nach ihm sollte es eine Huldigung an die Geometrie und Mathematik sein, dass nur auf dieser Ebene der Inbegriff des absolut Schönen erscheinen kann. Hierbei hat die Geometrie die Aufgabe das Auge zu befriedigen und die Mathematik den Geist. Demnach machen Auge (Körper) und Geist für Le Corbu­ sier den ganzen Menschen aus. Dies bezeichnet die Wendung gegen den Historismus und Klassizismus. Sie ist gegen die verschwenderi­ sche Fassadenkultur, die in erster Linie beim Historismus produziert worden ist, und ebenso gegen die überladene Stilmixtur dessen. Es wird die Reinheit der Konstruktion gefordert, die durch handwerk­ liche Konstruktion und das Material hervorgehoben wird. Diesen Forderungen entsprechend schien bereits eine verputze Wand als verlogene Sache. Das Überreiche wurde abgelehnt. Dementgegen wurden die Schnörkel und der Dekor durch klare geometrische For­ 81 Vgl. H. Klotz, Geschichte der Architektur. Von der Urhütte zum Wolkenkratzer, München und New York 1995, S. 199 ff., vgl. auch J. Pahl, Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts. Zeit – Räume, München und New York 1999, S. 19–36.

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men ersetzt. Nach dem berühmten Satz von Ludwig Mies van der Rohe (1886–1969) gilt: »Less is more«. Somit ist die wesentliche Grundauffassung der modernen Architektur die Reduktion. Durch diese kann die Architektur die ästhetische Vollendung erreichen. Im neuen zeitgemäßen Bau wird der Kubus favorisiert. Auch folgte die Orientierung an anderen geometrischen Grundformen wie Würfel, Kugel, Kegel und Zylinder. Diese waren als absolut schöne und erhabene Grundformen angesehen und von diesen muss bei guter Architektur ausgegangen werden. Die Reduktion in der Architektur hat in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine große Wirkung entfaltet, sie ist überall zu sehen. Sie ist als Stempel der modernen Architektur wiederzuerkennen. Ein weiterer Protagonist der modernen Architektur war der Österreicher Adolf Loos (1870–1933). Er gilt als einer der Pioniere der Moderne in der mitteleuropäischen Architektur. Er hat den Jugendstil kritisiert und von einer »Jugendstildekadenz« gesprochen. Loos erhob eine heftige Kritik an Dekor und Ornament in seinem berühmten Aufsatz »Ornament und Verbrechen« von 1908; dieser war grundlegend für die weitere Entwicklung in der modernen Archi­ tektur. Die Verdrängung des Ornaments aus der Architektur im Sinne Loos’ wurde zum neuen architektonischen Glaubensbekenntnis in dieser. Die Bedingung hierfür ist, dass etwas nur schön sein kann, wenn es einen Zweck ausdrückt, überhaupt einen Zweck hat. In der Dekoration wird kein Zweck gesehen, die zweckfreie Schönheit wurde in der modernen Architektur kategorisch abgelehnt. Kritik, Ornamentlosigkeit, Sachlosigkeit und äußerste Formreduktion sind die Erfordernisse der neuen Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Jugendstil erforderte diese nicht, deshalb wurde sich in der Architek­ tur von diesem distanziert. Nicht das Zweckfreie, sondern der Geist der Technik, der Kon­ struktion eines Gebäudes beherrschte die Auffassung der neuen Architektur. Dies alles bringt die Ingenieurbaukunst mit und wird deshalb als neues Vorbild betrachtet. Die Konstruktion der Ingenieur­ bauer muss hinsichtlich ihrer Formen betrachtet werden, sodass es sich um funktionsgebundene Formen handelt, welche mit neuen Materialien erprobt wurden. Als Materialien zählen nun Eisen, Beton und Glas. Architekten waren fasziniert von den Ingenieuren. Die erfolgreichsten Ingenieure waren die Maschinenbauer des 19. Jahr­ hunderts. Es wurde gebaut, wie die Konstruktion es erfordert, in Form eines Dampfers oder einer Lokomotive und war nicht an Vorbildern

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wie den alten Verkehrsmitteln (Postkutsche, Segelschiff) orientiert. Dies war die Faszination an dem Neuen. So etwas Vorbildloses wollte man auch in der Architektur leisten. Nicht nur in der Architektur, auch in der Kunst, im Futurismus wurde gesagt: Ein Rennwagen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist schöner als die »Nike von Samothrake«, der Rennwagen galt als das Schönheitsvorbild schlecht­ hin. Allemal diente dies der Provokation. Als »Nike von Samothrake« wird eine griechische Statue bezeichnet, die die Siegesgöttin Nike darstellt und sich heute im Louvre in Paris befindet. Die modernen Architekten wollten provozieren und etwas völlig Neues kreieren, hierbei sind sie beim Bauen von anderen Vorgaben ausgegangen. Anstelle von klassischen Bauformen orientierten sie sich an reinen Formen als Ausdrucksmittel, wie dem Rechteck, dem Zylinder, dem Kegel und klaren, geraden Linien. Mit dem neuen Bauen verband sich ein moralisches Verlangen. Aufrichtigkeit und Integrität wurden als die neuen Werte in der Architektur betrachtet und behandelt. So auch von Hermann Muthesius (1861–1927), der 1907 den Deutschen Werkbund mitbegründet hatte.82 Er vertrat die Auffassung, dass es einen Zusammenhang zwischen neuem Bauen und neuem moralischen Verlangen geben muss. Er war Architekt, Autor, Geheimrat im Preußischen Handelsministerium, einflussrei­ cher Theoretiker der »modernen« Architektur und des »Industrial Designs« sowie Kritiker des Jugendstils. Gut gestaltete Objekte sollen einen Einfluss auf das alltägliche Leben haben. Es lässt sich damit eine neue Ordnung schaffen, d. h. eine neue Ordnung in die Bedingungen des alltäglichen Lebens bringen. Auf diese Weise sollte zudem ein »neuer« Mensch erzeugt werden. Dieser durfte nicht in alten Behau­ sungen (Behausungen der traditionellen Kultur-Welt) leben, sondern es sollte für die neuen Menschen eine neue Architektur hervorge­ bracht werden. Die Protagonisten der modernen Architektur, allen voran Le Corbusier, wollten demgemäß eine radikale gesellschaftliche Veränderung ohne politische Revolution erreichen. Diese Meinung war nicht nur in Frankreich und Deutschland vertreten worden. In Russland herrschte der Konstruktivismus, in welchem man davon ausgegangen ist, dass eine geordnete Form und eine klare Planung eine moralische Kraft entwickeln können, die eine Brücke zwischen Kunst und Gesellschaft schlägt. Ebenso vertreten war dies in den Niederlanden. Hier entwickelte sich die 82

Vgl. B. Rudhof, Design, Hamburg 2001, S. 26 f.

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6. Die Architektur der modernen Kultur

Künstlergruppe »De Stijl« mit den Mitgliedern Piet Mondrian (Maler; 1872–1944), Theo van Doesburg (Maler; 1883–1931) und Gerrit Rietveld (Architekt und Kunsttischler; 1888–1964). De Stijl war eine niederländische Gruppe von Malern, Architekten und Designern, die 1917 in Leiden eine Künstlervereinigung und eine Zeitschrift gleichen Namens gründete. Die Gruppe bekannte sich zu einer geometrischabstrakten, »asketischen« Darstellungsform in Kunst und Architektur und einem auf Funktionalität beschränkten Purismus, der ähnlich wie das deutsche Bauhaus, zu dem ideen- und kunstgeschichtlich eine enge Beziehung besteht, Grundsätze für eine auf alle Gestal­ tungsbereiche anwendbare Ästhetik aufstellte. Ihre Vorstellungen standen unter dem Einfluss des Kubismus und der kunsttheoretischen Publikationen Kandinskys. Ihr Anliegen war es, sich vollständig von den Darstellungsgrundsätzen der traditionellen Kunst abzuwenden und eine neue, völlig abstrakte Formensprache zu erarbeiten, die auf der Variation von wenigen elementaren Prinzipien der bildnerischen Gestaltung (waagerecht/senkrecht, groß/klein, hell/dunkel und den Grundfarben) beruhte. Das bedeutet die Reduktion von Farben auf die drei Primärfarben Rot, Gelb und Blau sowie die Nichtfarben Schwarz, Grau und Weiß. Die Konzepte der De-Stijl-Bewegung wirkten nicht nur in bildender Kunst und Architektur, sondern auch im Design von Möbeln und anderen Gebrauchsgegenständen. Ähnlich wie Le Corbusier hat Rietveld vom Rechteck ausgehend einen neuen Stil für die Erstellung von Möbeln und Gebäuden ent­ wickelt. Innerhalb des Rechtecks wurde eine Reduktion der Farben auf die Nichtfarben Schwarz und Weiß, sowie die Primärfarben Rot, Gelb und Blau vorgenommen. Berühmt geworden sind unter anderem der »Rot-Blau-Stuhl« und das »Rietveld-Schröder-Haus« in Utrecht in den Niederlanden. Auch in diesem 1924 erbauten Gebäude sind die Reduktion und Versachlichung in Innenausstattung und Grundriss erkennbar. Es zählt als sachliche Architektur, alles Nebensächliche wird weggelassen. Die Gruppe De Stjil hat großen Einfluss auf das Bauhaus in Deutschland ausgeübt, die Kunst und das Kunsthand­ werk sind miteinander verschmolzen. Unter dem Einfluss von van Doesburg fand es zum rein sachlichen Stil. Diese Reinheit als Stil hat sich als Stil des Bauhauses durchgesetzt. Ausgehend von der Vereinigung von ›Kunst und Technik‹ erlaubte es, auf diese Weise klare, organische Baukörper herzustellen. 1923 wurde von Georg Muche (1895–1987) ein Musterhaus, das »Haus am Horn«, an dem alle Werkstätten beteiligt waren, auf der ersten Bauhaus-Ausstellung

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

vorgestellt.83 Dieses Musterhaus lässt sich als das erste realisierte Beispiel des neuen Wohnens in Deutschland beurteilen. Es besteht aus einem weißen, kubischen Gebäude mit flachem Dach, und es ist völlig funktional geplant. Alle Zimmer sind um das Wohnzimmer gruppiert. Das Licht kommt von oben ins Wohnzimmer, somit gibt es eine natürliche Lichtquelle. Nicht nur das zeichnet es aus, sondern außerdem, dass das Schlafzimmer und das Bad einander zugeordnet wurden, ebenso Küche und Esszimmer. Die Küche ist eine reine Koch­ küche, ausgestattet mit Platten und pflegeleichten Arbeitsflächen. Dieser Baustil ist immer wieder Vorbild für modernes Bauen. Moderne Architektur verankerte sich jedoch nicht nur auf der Ebene des Gebäudes, sondern auch auf der Ebene des Städtebaus. Gelehrt wurde das im Bauhaus von Dessau, Vorsitzende von diesem waren Walter Gropius, Hannes Meier und Ludwig Mies van der Rohe. Sie gaben im Bauhaus auch Seminare für Städtebau. Somit war schon vor dem Zweiten Weltkrieg die verkehrsgerechte Stadt in Seminaren geplant. Zur verkehrsgerechten Stadt gehörte bereits damals die Aufhebung der städtischen Block-Bebauung, die eine Idee der traditionellen Architektur des 19. Jahrhunderts war. Der wegweisendste Architekt der modernen Architektur war sicherlich Le Corbusier, der zunächst als Angestellter des Architekturbüros von Auguste Perret (1874–1954) gearbeitet hat.84 Dort brachte er die ersten Gedanken an Gebäuden aus Stahl und aus Glas hervor, das erste wirkliche Stahlbetongebäude wurde jedoch erst 1903 von Perret errichtet. Dieses Gebäude faszinierte Le Corbusier und er hat in diesem Zusammenhang für sich die Auffassung geformt, dass Stahl als das Baumaterial der Zukunft angesehen werden muss. Darauf entwickelte er seine Architektur, seine Ästhetik, die maschinelle Ästhetik. Diese wird so genannt, da Le Corbusier von Maschinen ausgegangen ist (Autos, Schiffe, etc.), die wiederum auf der Ebene des Maschineningenieurbaus gründen. Demnach entsprach die neue Architektur einem Abschied von der bekannten Ästhetik. Es war die Grundeinstellung, dass es keine Wiederholung des alten Stils geben durfte, sondern etwas neu gestaltet werden musste. 1922 wurde der Versuch unternommen, ein Haus zu konstruieren, das »Maison Citrohan«, für das ein Automobil und dessen Serienfertigung zum 83 Vgl. A. Bossmann und W. Thöner, Das Bauhaus 1919 bis 1933. Ursprünge und Vorgeschichte des Bauhauses, in: Kunst-Museum Ahlen (Hg.), Das Bauhaus. Gestal­ tung für ein modernes Leben, Köln 1993, S. 15–26, hier S. 21. 84 Vgl. W. Oechslin, Moderne entwerfen. Architektur und Kulturgeschichte, Köln 1999.

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Vorbild des Entwurfsprozesses gemacht wurde. Diese Auffassung im Häuserbau wurde auf den Städtebau übertragen, in den 1920er und 30er Jahren zum Beispiel war die Planung einer sogenannten »Ville Contemporaine« angedacht, hierbei ist Le Corbusier von geo­ metrischen Vorstellungen bei der Anordnung von 24 Wolkenkrat­ zern ausgegangen. Zwischen den einzelnen Bauten sollten grüne, parkähnliche Freiflächen konzipiert werden. In der Vergangenheit gab es die Trennung zwischen Stadt und Land. Die Stadt war das künstliche Gebilde in einer Landschaft. Durch die neue Planung war eine Vermischung der bis dahin getrennten Sphären Land und Stadt entstanden. Eine weitere Planung war der »Plan Voisin«; gemäß diesem sollte das ganze Zentrum von Paris abgerissen und durch achtzehn 200 Meter hohe Superwolkenkratzer ersetzt werden. Dieser Plan diente als Vorbild für viele Satellitenstadtplanungen nach dem Zweiten Weltkrieg. Einzelne Häuser wurden nicht mehr als QuasiIndividuum angesehen, sondern sollten durchstandardisiert sein, d. h. vom Architekten als Wohnmaschine gebaut werden. Während für die Moderne – zumindest innerhalb der verschiede­ nen Phasen oder Werke – eine Identität des Ausdrucks aufrechterhal­ ten werden konnte, zerbricht auch diese noch in der Postmoderne ab den 1960er Jahren. Es gibt dort nicht mehr den natürlichen Ausdruck oder die Identität eines Werkes; dieses wird jetzt einem Prinzip unterworfen, das sich durch eine Historisierung und Relativierung aller Elemente auszeichnet und mit dem Begriff des »Zitat-Pop« am besten beschrieben ist. Dies lässt sich für die Pop-Musik der 1970er und 80er Jahre aufzeigen; andere Beispiele finden sich in der Architektur dieser Zeit. Das Zitieren architekturhistorischer Ver­ satzstücke, an dem moderne Kritiker allein Züge nostalgischer und eklektischer Geschichtsaneignung zu sehen vermögen, hat durchaus kritische Funktion (im Sinne einer unterscheidenden Kritik), weil sich der Architekt auf diese Weise von der Geschichtsfeindschaft zum Beispiel eines Gropius, der für seine Studenten die Vorlesungen über Baugeschichte abgeschafft hatte85, absetzen kann und den einer sich rasch entwickelnden Industriegesellschaft entsprechenden Funk­ tionalismus überwindet. Die moderne Architektur, die Wohnungsbau und Kapitalaufwand in ein günstigeres Verhältnis bringen wollte, 85 Vgl. H.-P. Schwarz, Architektur als Zitat-Pop? Zur Vorgeschichte der postmoder­ nen Architektur, in: P. Kemper (Hg.), Postmoderne oder Der Kampf um die Zukunft, Frankfurt am Main 1988, S. 265 f.

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um auf diesem Wege den gesamtgesellschaftlichen Bedarf an Räum­ lichkeit zu decken, ist letztendlich über sich selbst gestürzt, denn es ist in den 1970ern durch den Unterschied, den die postmoderne Architektur gesetzt hat, ganz offensichtlich geworden, dass sie sich nicht am Kriterium der Bewohnbarkeit, sondern am Ideal eines vor­ geblich sozialen Zusammenlebens in Siedlungen oder Hochhäusern orientierte. Das Ideal des Funktionalismus, dass die rationale Form der Wohnsiedlung die Bewohner zu einem rationalen Verhalten anregen könnte, ist ins Gegenteil umgeschlagen: die Anonymität, die langen Korridore in diesen Siedlungen etc. haben in den 1960er und 70er Jahren die Kriminalität deutlich ansteigen lassen. Eine Brutalisierung des Lebens hat sich auch in den Bürohochhäusern und den Massenuniversitäten ereignet.86 In seinem 1977 publizierten Buch »Die Sprache der postmodernen Architektur«87 stellt Charles Jencks als einer der Ersten die Behauptung auf, dass im sozialen Versagen des Modernismus ein Hauptgrund für das Entstehen des Postmodernismus in der Architektur zu finden ist. Auch Jacques Derridas Kritik an der modernen Architektur geht in diese Richtung. In seinen metaphorischen Aussagen erscheint das Projekt der moder­ nen Architektur als ein Turmbau zu Babel, der die architekturale Differenz aufheben und damit sämtliche Orte uniformieren wolle.88 Aber die Vervielfältigung der Sprachen habe die Vollendung des Turms und die Eroberung des Himmels verhindert. Postmoderne sei die Feststellung der Niederlage dieses Planes zur Beherrschung und der Anfang eines neuen Typs von Vielfalt. Derrida drückt es folgendermaßen aus: »Wenn sich die Moderne durch das Streben nach absoluter Herrschaft auszeichnet, so ist die Postmoderne vielleicht die Feststellung oder die Erfahrung ihres Endes, des Endes dieses Plans zur Beherrschung.«89 Derrida entpuppt sich hier (sicherlich 86 Sicherlich wäre hier aus soziologischer Sicht zu ergänzen, dass nicht nur die Architektur, sondern auch die in manchen Siedlungen des sozialen Wohnungsbaus anzutreffende soziale Situation, die etwa durch eine allzu einschlägige Belegungspo­ litik von Stadtverwaltungen und Wohnbaugenossenschaften entstanden ist, für eine höhere Kriminalität verantwortlich gemacht werden kann. 87 Ch. Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alterna­ tiven Tradition, Stuttgart 1988. 88 Vgl. J. Derrida und E. Meyer, Labyrinth und Archi/Textur, in: Das Abenteuer der Ideen. Architektur und Philosophie seit der industriellen Revolution, Ausstellungskata­ log, Berlin 1984, S. 95–106. 89 Ebd.

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7. Das Produktdesign der modernen Kultur

nicht bewusst) als Postmoderner, der sich nicht wie Heinrich Klotz mit einer Revision der Moderne90, sondern (Jencks nahekommend) mit ihrer Überwindung (im Sinne Nietzsches) beschäftigt.91

7. Das Produktdesign der modernen Kultur Design war ein wichtiges Thema für die Kunstgattungen des 20. Jahr­ hunderts, wobei besonders die industrielle Formgestaltung Anfang des Jahrhunderts eine große Rolle spielte. Die Künstlervereinigung »Deutscher Werkbund« in München unterstützte dies. Der Werkbund war eine sogenannte Denkfabrik, eine wirtschaftskulturelle Vereini­ gung von Künstlern, Unternehmern, Handwerkern etc.92 Gründer des Werkbundes war, wie bereits erwähnt, Hermann Muthesius. Das Problem der Zeit um die Jahrhundertwende lag nicht in der Herstellung, sondern in der Formgebung der Geräte, wie auch der Architekt Peter Behrens (1868–1940) erkannte. Es hatte bisher stets die Vergangenheit als Vorbild gegolten, so hatten die ersten elektroni­ schen Leuchten eine noch sehr traditionelle Form und auch die ersten Autos sahen eher aus wie Kutschen. Doch das änderte sich schnell, trotz vieler Widerstände. Diese Veränderung konnte allerdings nicht alle überzeugen und auch Muthesius beschäftigte sich sehr intensiv mit diesem Thema. Bei der Dresdner Kunstgewerbeausstellung 1906 forderte er unter anderem eine neue Formensprache und er fand schnell Mitstreiter wie die Architekten Bruno Paul (1874–1968) und Richard Riemerschmid (1868–1957). Es kam darauf an, Abstand von der alten Auffassung zu nehmen. Es sollte ein maschinengesteuerter Möbelbau angestrebt werden. Durch den Werkbund sollten auch Formkonzepte gefördert werden und eine Art der Geschmackserziehung bei den Käufern stattfinden. Doch diese Haltung wurde vielfach diskutiert und somit bildeten sich zwei Standpunkte. Zum einen waren die Unternehmer der Meinung, dass die wirtschaftliche Expansion angekurbelt werden sollte. Zum anderen vertraten die Sozialreformer die Auffassung, 90 Vgl. H. Klotz (Hg.), Die Revision der Moderne. Postmoderne Architektur 1960–1980, Frankfurt am Main 1984. 91 Vgl. Ch. Jencks, Post-Modern und Spät-Modern. Eine grundlegende Definition, in: P. Koslowski, R. Spaemann, R. Löw (Hg.), Moderne oder Postmoderne? Zur Signatur des gegenwärtigen Zeitalters, Weinheim 1986, S. 227 f. 92 Vgl. J. Campbell, Der Deutsche Werkbund 1907–1934, München 1989.

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

dass sich die Arbeitsbedingungen verbessern müssten. Der Werk­ bund favorisierte eine versachlichte Gestalt und orientierte sich am Schönheitsbegriff der technischen Form. Muthesius plädierte für eine Standardisierung, eine Formdisziplin, doch auf der anderen Seite war der Belgier Henry van de Velde. Van de Velde war für eine freie Entfal­ tung der künstlerischen Fähigkeit, für die Gestaltung als individueller Form. Die künstlerische Freiheit sollte an erster Stelle stehen. Dieser sogenannte Werkbundstreik konnte bis heute noch nicht geschlichtet werden. Die gegensätzlichen Positionen der Formgestaltung sind durchaus gegenwärtig. In den 1970er und 80er Jahren vertrat der Produktdesigner Dieter Rams (*1932) die Position der Typisierung. Der Leitgedanke war »Form follows function«. Rams war seit 1955 für den Elektro­ geräte-Hersteller Braun tätig und entwickelte dessen Designs. Im Gegensatz dazu war der Italiener Ettore Sottsass (1917–2007) der Meinung, dass in jedem Fall eine freie Formentfaltung gewährleistet werden muss: »Form follows fiction«. So stehen sich die Modernisten um Rams und die Postmodernisten um (den mittlerweile verstor­ benen) Sottsass mit ihren unterschiedlichen Positionen gegenüber. Sottsass rebellierte offen gegen die bloße Brauchbarkeit. Er warb für schiefe Möbel, krumme Keramiken und war gegen die Regeln der funktionsgerechten Produktgestaltung. Der Belgier Henry van de Velde (1863–1957) wirkte zudem in anderen Gebieten. 93 1908 wurde er Direktor der von ihm initiierten »Großherzoglich-Sächsischen Kunstgewerbeschule Weimar«. Diese existierte bis 1915, van de Velde blieb bis zuletzt Direktor. 1919 ent­ stand aus der Vereinigung der (ehemaligen) »Großherzoglich-Säch­ sischen Kunstgewerbeschule« und der »Großherzoglich-Sächsischen Kunstschule Weimar« das »Staatliche Bauhaus zu Weimar«. Die Gründung erfolgte unter Walter Gropius, der zum Direktor der neuen Hochschule gewählt wurde. Gropius (1883–1969) lernte im Büro von Peter Behrens und war im Werkbundstreik auf der Seite des Belgiers van de Velde. Seine erste bedeutende architektonische Arbeit war das »Fagus-Werk« in Alfeld an der Leine. Sowohl der Kunstgewer­ beschulbau (»Van-de-Velde-Bau«) als auch das gegenüberliegende Kunstschulgebäude wurden nach Plänen van de Veldes realisiert.

Vgl. K.-J. Sembach und B. Schulte (Hg.), Henry von de Velde. Ein europäischer Künstler seiner Zeit, Köln 1992.

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7. Das Produktdesign der modernen Kultur

1925 wurde diese Hochschule von Weimar nach Dessau verlagert und komplett neu aufgebaut. Für diesen Aufbau entwickelte Gropius selbst die Pläne. Er bestand aus Verwaltungsräumen, Lernräumen, einer Mensa, einem Studentenwohnheim und einem Ateliergebäude. Das Bauhaus Dessau wurde 1926 fertiggestellt. Heute gilt das Bau­ haus als Höhepunkt in der Architekturgestalt des 20. Jahrhunderts. Die Bauhaus Gesellschaft kümmerte sich um den Vertrieb der Pro­ dukte, die im Bauhaus hergestellt wurden. Es war ausschließlich an industrieller Produktion orientiert. Auch Fächer wie Töpferei oder Bildhauerei wurden gestrichen. Berühmte Lehrer dieser Schule waren Marcel Breuer (1902–1981) und Mart Stam (1899–1986). Breuer beschäftigte sich mit Möbeldesign und Malerei und war Leiter der Möbelwerkstatt im Bauhaus. Er entwarf den ersten Stahlrohrstuhl, den sogenannten »Freischwinger«. Doch mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde das Bauhaus geschlossen. Auch nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde das Bauhaus nicht neu gegründet, obwohl die DDR ebenso wie die BRD sich für einen Neuaufbau bzw. Neuanfang einsetzten. Stattdessen wurde 1955 die »Hochschule für Gestaltung Ulm« von Inge Aicher-Scholl, Otl Aicher, Max Bill und weiteren gegründet. Es entstand ein völlig neues Programm, in welchem der interdiszipli­ näre Unterricht an erster Stelle stand.94 Für die Studierenden galt das Kriterium der Sachlichkeit und Nutzbarkeit. Bedeutende Lehrer dieser Hochschule waren Hans Gugelot (1920–1965), der auch schon mit der Firma Braun Geräte gestaltet hat und Otl Aicher (1922– 1991), der sich mit dem sinnlichen Erscheinungsbild der Lufthansa beschäftigte. Aicher kümmerte sich um die Schriftzüge, das Briefpa­ pier, die Uniformen etc. Die Idee von Gugelot lag vor allem darin, aus modularen Elementen Möbelsysteme herzustellen. Es ging um eine charakteristische Reduktion von Möbeln und somit erfand er nach und nach ein Baukastenmöbelsystem. Es ging ihm exemplarisch darum, dass beispielsweise ein Schrank in vielfältige Formen verwan­ delt werden kann. Der Schwede Ingvar Kamprad (1926–2018) verfolgte das gleiche Konzept wie Gugelot und verwirklichte diese Idee in Form eines Möbelhauses. Er gründete 1943 das Unternehmen IKEA. Für ihn stand dabei besonders eine preiswerte Kollektion demontabler Möbel im Mittelpunkt. Sie sollten für jeden erschwinglich sein. Das wich­ 94

Vgl. G. Bonsiepe, Interface. Design neu begreifen, Mannheim 1996, S. 149 ff.

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

tigste Werbemittel für IKEA war der 2021 eingestellte Katalog mit einer Auflage von bis zu 200 Millionen. Doch in den 1960er Jah­ ren war Deutschland noch nicht auf eine solche Art von Möbeln vorbereitet. Es brauchte zehn Jahre bis sich IKEA in Deutschland allgemein bekannt und endgültig gesellschaftsfähig machen konnte. Der vertrauteste Einrichtungsgegenstand von IKEA ist längst ein Design-Klassiker: das 1979 eingeführte »Billy«-Regal, das bisher etwa über 77 Millionen Mal verkauft worden ist. Das von Gillis Lundgren entworfene Regal ist praktisch und funktional, geräumig, leicht zu ergänzen, höhenverstellbar, zeitlos in seiner schlichten Eleganz und vor allem preiswert. Insofern zählt es zu den erfolgreichs­ ten Entwürfen der Firma IKEA, die gewiss zu den erfolgreichsten Möbel-Konzernen der Welt gehört. Das Design der Postmoderne Ende der 1980er Jahre, vertreten durch Ettore Sottsass und Alessandro Mendini, wollte insbesondere die sinnliche Präsenz des Produkts in den Vordergrund stellen und nicht den Nutzwert, wie es bei den Modernen der Fall gewesen war. Insgesamt war dies eine radikale Umorientierung im Design. Beispielsweise wurde Uniformität zu Vielfalt oder Einfachheit zu Komplexität. Dem Design werden damit keine Grenzen mehr gesetzt.

8. Das Kommunikationsdesign der modernen Kultur Der Alltag des modernen Menschen ist geprägt von Werbung, die sich in Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen findet.95 Hier soll es um die Konzentration auf Werbung im Bereich des Fernsehens gehen. In diesem Kontext dominiert der Kampf um die höchsten Einschaltquoten. Der Werbeerfolg wird dementsprechend am Markt­ anteil, den das Fernsehen bzw. das bestimmte Programm erreicht, gemessen. Das Fernsehen selbst stellt somit einen eigenen Markt mit visuellen Waren dar, die verkauft werden. Auch hier finden sich wie auf einem realen Markt Händler, die ihr Angebot präsentieren. Dies geschieht entweder sehr dezent oder manchmal auch sehr aggressiv, wenn die Produkte mit einem geeigneten Kommunikationsdesign 95 Vgl. S. J. Schmidt, D. Sinofzik, B. Spieß, Wo lassen Sie leben? Kulturfaktor Wer­ bung – Entwicklungen und Trends der 80er Jahre, in: Ch. W. Thomsen (Hg.), Aufbruch in die Neunziger. Ideen, Entwicklungen, Perspektiven der achtziger Jahre, Köln 1991, S. 142–170.

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8. Das Kommunikationsdesign der modernen Kultur

den Konsumenten regelrecht aufgedrängt werden. Die Unterschiede des Werbeniveaus schwanken dabei sehr stark zwischen seriösen Informationen bis hin zu extrem »marktschreierischen« Angeboten. Über den Erfolg, den eine Werbung auf dem Werbe-Markt hat, entscheidet die Einschaltquote. Sie ist in doppelter Hinsicht ein Gradmesser und bezieht sich erstens auf den Erfolg und zweitens auf den Preis der Werbung. Die Produzierenden der Werbung sehen die Zuschauer dabei als Geschmacksexperten an. Sie sollen mit den Produkten verführt werden und dies immer wieder von Neuem. Auf diesem Weg werden die Kunden in der modernen Kultur für die industriellen Produkte gewonnen. Das Fernsehen bietet dabei eine ganz eigene Art der Präsenta­ tion: Im Gegensatz zu anderen Medien, wie etwa der Zeitung, wählt der Zuschauer das aus, was ihm bei der Werbesendung ins Auge fällt. Die bürgerliche Kulturkritik geht dabei in gewisser Weise völlig verlo­ ren. Traditionell setzt diese Öffentlichkeit voraus. Aber das Fernsehen stellt eine sehr reduzierte Art der Öffentlichkeit dar. Es repräsentiert nur einen bestimmten Aspekt der Öffentlichkeit. Das heißt: Es geht vor allem darum, zu sehen oder gesehen zu werden. Die Produkte werden televisuell angeboten. Um auf der televisuellen Ebene Kunden zu gewinnen, gibt es bestimmte Regeln: Es muss etwas ›Neues‹ geboten und als ›Sensation‹ präsentiert werden. Auf diese Weise kann die Aufmerksamkeit des Zuschauers leicht in Beschlag genommen werden. Dabei ist es kein Geheimnis mehr, dass die Werbemacher mit gewissen Tricks arbeiten, um den Erfolg der Werbung zu erhöhen. Für die Macher von Werbung ist Kulturkritik ohnehin überflüssig, da in ihrer Werbung angeblich alles offen liegt, niemand betrogen wird und sich jeder über alles informieren kann. Fällt man dennoch auf vermeintliche Sensationen und scheinbar ganz besondere Angebote herein, so ist man selbst derjenige, der sich freiwillig hat überreden lassen. Das wird in der liberalen Welt jedoch nicht als Betrug interpre­ tiert, sondern allenfalls als psychologische Manipulation. Diese Art der Beeinflussung im Bewerben und Anbieten von Waren wird in der kapitalistischen Gesellschaft als legitim betrachtet. Werbung arbeitet nicht mit logischen Argumenten, sondern vornehmlich auf einer sinnlichen Ebene: Formen, Farben, Tempo und Rhythmus sind Elemente dieser Vorgehensweise. Ebenso dienen Texte und Stimmen in Werbespots der Manipulation des Zuschauers. Werbung bietet im Normalfall keine Grundlage für Diskussion, son­ dern ist eher eine Paradoxie. Ein repräsentatives Beispiel dafür ist eine

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

Werbung von Mercedes aus dem Jahr 201196: Ein Mann und eine Frau liegen in einem Zimmer auf dem Bett. Sie fragt, ob es nicht schön wäre, mal wieder in die Berge zu fahren. Der Mann aber assoziiert damit nicht den Urlaub, sondern die Vorstellung davon, wie sie in einem neuen Mercedes durch die Bergwelt fahren. Als sie als Urlaubsort Venedig vorschlägt, antwortet er nur: »Oh nein. Vergiss es!«, da die Vorstellung, dort mit dem Mercedes zu fahren, für ihn nicht in Frage kommt. Die Werbung übermittelt demnach die Botschaft, dass nicht die Liebe und der gemeinsame Urlaub im Mittelpunkt stehen (gestützt durch die Metapher Venedigs als »Stadt der Liebe«), sondern die Fahrt mit dem neuen Mercedes, der all das übertrifft, ausschlaggebend ist. Ein ebenfalls beliebtes Motiv in der Werbung ist das Landschaftsbild. Wenn im Mittelpunkt die Landschaft steht, so deswegen, weil auf indirektem Wege die Attraktivität der Landschaft auf die Attraktivität des Produktes übertragen werden soll. Diese Art der indirekten Werbung führt über einen Umweg zum anvisierten Ziel. Dieses besteht darin, das Produkt im Bewusstsein des Zuschau­ ers zu verankern und ihn dadurch zum Kauf zu motivieren. Zu differenzieren ist die indirekte von der direkten Form der Werbung, die das Publikum unvermittelt zu erreichen versucht und dabei sehr stark mit der Ästhetik der Bilder und dem Element der Wiederholung arbeitet, welche das Produkt in das Bewusstsein des Zuschauers »einbrennen« soll. Ein weiteres Element ist die Kameratechnik. Kom­ ponenten dabei sind beispielsweise die Zeitlupe, Detailaufnahme oder virtuelle Bilder-Welten. Wichtig ist es außerdem, die Werbung eng mit dem Programm zu verknüpfen und eine Wechselwirkung zwischen beiden zu schaffen. Dies gelingt durch eine enge zeitliche Abfolge oder das mehrma­ lige Abwechseln von Programm und Werbung. Dadurch kann der Zuschauer kaum noch unterscheiden, ob es sich um das Fernsehpro­ gramm oder die Werbung handelt, es entsteht eine Wechselwirkung. Werbung findet sich beispielsweise auf Trikots von Skiläufern oder Fußballern oder den Banden des Stadions. Es herrscht zwischen Werbung und Programm eine Identität oder Quasi-Identität, Wer­ bung macht Werbung für das Programm und umgekehrt. Eine große Rolle spielt dabei auch die Erotik, die als Blickfang oder Lockvogel eingesetzt wird. 96 Dieser Werbespot lässt sich unter https://www.youtube.com/watch?v=Y6dPVtY dxG0 abrufen.

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9. Fazit und Ausblick

Damit Werbung im Fernsehen erfolgreich sein kann, muss die Werbeindustrie auch mit dem Faktor Zeit arbeiten. Durchschnittlich verbringen Deutsche drei bis vier Stunden am Tag vor dem Fernseher, die US-Amerikaner sogar bis zu fünf Stunden. Es müssen somit Köder ausgelegt werden, um die Attraktivität eines Programmangebotes durch eingeschnittene Spots zu einer neuen Qualität zu führen. Das Produktangebot der Werbung muss mit der Aufmerksamkeitsspanne des Zuschauers verbunden werden. Prozesse der Aufmerksamkeits­ erregung müssen beispielsweise innerhalb von nur zehn Sekunden eines Werbespots erfolgen. Dabei müssen Lücken taktisch genutzt werden, um zu vermeiden, dass der Zuschauer, der sich durch Wer­ bung belästigt fühlt, umschaltet. Solche Lücken sind beispielweise die wenigen Minuten, bevor eine Nachrichtensendung beginnt, der Übergang der Nachrichten zum Wetterbericht oder auch Ringpausen beim Boxkampf. Der Zuschauer wird hierbei sehr wahrscheinlich nicht umschalten, um der Werbung zu entgehen, weswegen diese Strategien eine sehr hohe Erfolgsquote aufweisen. Außerdem wird das Bedürfnis des Zuschauers umzuschalten gering gehalten, wenn der Spot zum Blickfang wird oder im Spot Entspannung geboten wird, die durch ästhetische Mittel wie Farben erreicht wird. Von Frustration oder Depression der Alltagswelt ver­ sucht die Werbung mit einer von ihr geschaffenen Scheinwelt abzu­ lenken. Sie erschafft so die Illusion, dass der Zuschauer sich das in der Realität vermisste Glück mit der in der Werbung präsentierten Ware erfüllen kann. Dennoch geht von einem Werbespot unausgesetzt auch eine untrügliche Zudringlichkeit bzw. Anmaßung aus, durch die es der Werbung bis heute nicht gelingt, den Zuschauer vollständig in Beschlag zu nehmen.

9. Fazit und Ausblick Kritiker sprechen heute von einem doppelten Irrtum. Die Kunst muss als autonomer Bereich, als Bereich, dessen Gesetzmäßigkeiten ihm inhärent sind, angesehen werden. Metaphorisch wäre die Kunst als zerbrechliches Gefäß zu verstehen. Im Moment des Zerbrechens zerfließen auch die Gehalte, die sich darin befinden. Nach Jürgen Habermas kann eine befreiende Wirkung innerhalb der Kunstkritik nur dadurch entstehen, dass die drei Expertenkulturen Kunst, Wis­ senschaft und Moral einander durchdringen und zusammenarbeiten,

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

um die Verarmung der Lebenswelt aufzuheben. Damit meint er die Rettung der Kunst durch zwangloses Zusammenspiel der drei Expertenkulturen auf der Ebene des Kognitiven, des Moralisch-Prak­ tischen und des Ästhetisch-Expressiven. Die Folge daraus wäre die Aufhebung der »Verdinglichung«. Das Projekt der Moderne sollte nicht aufgegeben und aus den Fehlern der Surrealisten sollte gelernt werden. Aufgabe muss vielmehr der Versuch sein, herauszufinden, welche Schlüsse aus den Fehlern der Surrealisten zu ziehen sind. Eine Möglichkeit bietet sich durch eine umfassende Betrachtung des Kriti­ kers. In seiner Neubetrachtung wird dem Kritiker nicht nur die Rolle des Experten, sondern auch die des Anwalts des Interpretationsbe­ darfs des breiten Publikums zuteil. Durch diese Form der Kunstkritik ist es dem normalen Menschen möglich, ästhetische Erfahrungen zu machen, mit deren Hilfe er Probleme beleuchten, verändern und lösen kann. Als das Optimum der Kunstkritik ist die Rezeption durch den Laien anzusehen. Habermas bringt hierzu ein Beispiel des Schriftstellers und Malers Peter Weiss, aus dem resultiert, dass aus der Veränderung des Blickwinkels der Lebenswelt ein Beitrag gegen die Verarmung der Lebenswelt geleistet werden kann. Zu sehen war dies am gewählten Beispiel des Kriegsheimkehrers, dessen Erfahrung im Krieg seinen Blickwinkel bei der Betrachtung eines Kunstwerkes veränderte. Es geht um die Aneignung einer Expertenkultur. Während noch im Mittelalter religiöse und metaphysische Welt­ bilder von zentraler Bedeutung waren und die Bereiche der Wissen­ schaft, Moral und Kunst in diesen fest ein- bzw. untergeordnet waren, kam es mit Beginn der Neuzeit zur Ausdifferenzierung von drei autonomen Expertenkulturen. In der Zeit der Aufklärungsepoche widmete sich unter anderem der deutsche Philosoph Immanuel Kant der Überprüfung bzw. Analyse jeder einzelnen der Expertenkulturen und verfasste in diesem Zusammenhang seine drei Hauptwerke. So erschien im Jahr 1781 die »Kritik der reinen Vernunft«, die eine Theo­ rie der Wissenschaft beinhaltete. Im Jahr 1788 folgte die »Kritik der praktischen Vernunft«, eine Theorie des Rechts und der Moral, und zwei Jahre später die »Kritik der Urteilskraft«, die sowohl eine Theorie der Kunst als auch eine Reflexion auf das gesamte System darstellte. Kant gab an, dass die Ausdifferenzierung der Expertenkulturen zwar akzeptiert werden müsse, dennoch sprach er sich vehement für die Wiederherstellung der einstmaligen, aus dem Altertum bekannten Einheit der drei Bereiche aus. An dieser Stelle sei erwähnt, dass Kant letztendlich nicht vollständig überzeugte und mit seinem Programm

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9. Fazit und Ausblick

scheiterte. Auch der Philosoph und Soziologe Habermas widmete sich der von Kant behandelten Problematik. Er propagierte ebenfalls die Wiederherstellung der Einheit der drei Expertenkulturen, distan­ zierte sich jedoch insofern von den Überlegungen Kants, als dass er feststellte, sein Ziel ließe sich nur unter einer soziologischen Zusatz­ annahme, nämlich der praktischen Lebenswelt, verwirklichen. In Abgrenzung dazu akzeptiert Jean-François Lyotard, ein französischer Philosoph der Postmoderne, die Ausdifferenzierung und damit die Trennung der drei Expertenkulturen als solche und verzichtet auf die Wiederherstellung ihrer Einheit. Er widmet sich der Problematik auf der Ebene sprachphilosophischer Betrachtungen und bezeichnet die Expertenkulturen als ›heterogene und inkommensurable Sprach­ spiele‹, die in diesem Sinne keinerlei gemeinsames Maß aufweisen. Lyotard gibt an, dass sich die Einheit nicht wieder herstellen ließe, da wir in einer demokratischen und somit pluralistischen Welt leben, in der jegliche Totalität und damit jegliche Form von Einheit verwerf­ lich ist. Lyotard ersetzt Habermas’ Ansatz, wonach Kunst in erster Linie als »Ästhetik des Schönen« beschrieben werden muss, durch eine »Ästhetik des Erhabenen«. Habermas’ Auffassung zufolge und demnach in Abgrenzung zu Lyotards »Ästhetik des Erhabenen« haftet Schönheit lediglich an der Vorstellung von einem Ding und wird somit zu einer Fiktion. Bevor nun jedoch weiter auf Lyotards »Ästhetik des Erhabenen« eingegangen wird, soll seine Forderung nach einem Verzicht der Wiederherstellung der Einheit der drei Expertenkultu­ ren erläutert werden. Lyotards Meinung nach zeichnet sich unsere gesamte Kultur durch eine Zersplitterung aus. Die Moderne sei insge­ samt von einer starken Destabilisierung der Wirklichkeit betroffen. Sie leide unter einer globalen Erschütterung des Glaubens an eine Einheit und Ganzheit der Totalität. Im 20. Jahrhundert und gerade in der zweiten Hälfte machte man nun laut Lyotard die Erfahrung, wie wenig »wirklich« die Wirklichkeit eigentlich ist. Demnach sei der Versuch, eine erneute Einheit der Expertenkulturen zu schaffen, unmöglich. Ebenso wie sich die Lebenswelt durch eine Trennung auszeichne, könnten auch die Expertenkulturen nicht zusammengehalten werden. Mit seiner Ansicht kritisiert Lyotard die gesamte Konzeption von Habermas, dessen Theorie der »Ästhetik des Schönen« auf der Grundlage einer harmonischen Welt basiert. Demgegenüber stellt er seine Theorie der »Ästhetik des Erhabenen« auf. Diese verzichtet auf die Einheit der Erfahrung und somit auf die Einheit der Expertenkulturen, begründet

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

dadurch, dass die Wirklichkeit, in der wir heute leben, destabilisiert ist und somit keine Grundlagen für eine angemessene Erfahrung liefert. Deshalb fordert Lyotard, die Erfahrungen durch Experimente zu ersetzen. Diese Idee setzten die Künstler in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der Kunst der Avantgarde um. Lyotards Theorie der »Ästhetik des Erhabenen« wird dem Problem, mit dem Wider­ spruch in der Wirklichkeit umzugehen, gerecht, indem sie ähnlich widersprüchlich konzipiert ist. Das Gefühl des »Erhabenen« ist an sich eine zwiespältige Affektion, es ist Lust und Unlust zugleich. In diesem Sinne geht das Gefühl der Lust aus einer zuvor empfundenen Unlust hervor, sodass der Widerstreit innerhalb dieses Gefühls des »Erhabenen« kompatibel mit dem Widerstreit in unserer Wirklich­ keit ist. Dieses Gefühl entsteht auf der Ebene des Verhältnisses zwischen dem Vermögen der Darstellung und dem Vermögen des Denkens. Seine Definition ergibt sich in der Abgrenzung von anderen Dimensionen. So ist das Gefühl des »Erhabenen« von dem zu diffe­ renzieren, was Kant »Erkenntnis«, »Geschmack« und »Schönheit« nannte. Laut Kant ergibt sich eine »Erkenntnis« mit dem Anspruch auf Wahrheit, wenn es zu einer Übereinstimmung bzw. Entsprechung zwischen einer Aussage, einem Begriff und der Empirie bzw. dem jeweiligen Fall in der Außenwelt kommt. »Geschmack« ist für ihn das Verhältnis zwischen dem Vermögen der Einbildungskraft und dem Vermögen des Verstandes. Der Ausdruck dieses Verhältnisses ist eine unbestimmte, regellose Übereinstimmung. »Schönheit« ist nach Kant Form der Übereinstimmung zwischen einer Vorstellung und einem Gegenstand. Auch dieses Verhältnis ist nicht logisch, sondern ästhetisch, sodass es sich hier ebenfalls um eine unbestimmte, d. h. nicht begriffliche, Übereinstimmung handelt. Was jedoch ist dann demgegenüber genau das »Erhabene« und wie kommt es zustande? Das »Erhabene« ist ein Gefühl, das sich auf Grundlage des Scheiterns der Einbildungskraft ergibt, in dem Versuch, eine ganze Vorstellung von einem Objekt der Lebenswelt zu generieren. In diesem Zusammenhang führt Kant das Beispiel eines Menschen an, der vor einer Pyramide steht. Mithilfe seiner Einbildungskraft versucht dieser, ein Gesamtbild von der Pyramide zu erzeugen. Um eine solche Gesamtwahrnehmung zu erlangen, bedarf es der Zusammensetzung verschiedener Teilanschauungen, ähnlich einem Puzzle. Das zu erstellende Bild ist jedoch größer als die Fläche, die der Einbildungskraft für die Zusammensetzung dieser Einzelwahrnehmungen zur Verfügung steht. So scheitert das Subjekt

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9. Fazit und Ausblick

darin, die Einzeleindrücke zu einem Gesamtbild zusammenzufügen. Die Erfahrung dieses Scheiterns produziert nun eine Empfindung von Unlust. Beim Gefühl des »Erhabenen« geht es darum, Letztere doch noch in ein Gefühl der Lust zu transformieren. An diesem Punkt muss das Subjekt seine Vernunft zur Hilfe nehmen, um mittels seines Denkvermögens eine ganze Vorstellung zu erschaffen. Dementspre­ chend vermag der Verstand, die Einzelwahrnehmungen zu einem Gesamtbild zusammenzusetzen. Aus eben dieser Tatsache ergibt sich ein Gefühl der Lust. In dieser Hinsicht ermöglicht die Zusammen­ arbeit von Sinnlichkeit bzw. Einbildungskraft und Vernunft, dass das erhabene Gefühl erzeugt wird. Allerdings finden sich in der praktischen Lebenswelt Fälle, in denen die Herstellung einer Gesamt­ wahrnehmung selbst durch die Hinzunahme bzw. das Mitwirken der Vernunft unmöglich bleibt. Hier sei ein Werk von Barnett Newman (1905–1970), US-amerikanischer Maler und Bildhauer, erwähnt, welches im Bereich der Farbfeldmalerei anzusiedeln ist. »Who’s Afraid of Red, Yellow and Blue I« (1966) zeigt eine rot lackierte Leinwand, die sich über eine riesige Fläche erstreckt. Am rechten und linken Rand dieser Farbfläche befindet sich je ein Streifen in anderer Farbe von etwa 5 cm Breite. Wendet man sich nach längerem Betrachten von diesem Bild ab, so führt der überwältigende Roteindruck dazu, dass die Umgebung, in der man sich befindet, nun gänzlich rot erscheint. Die Einbildungskraft ist in diesem Moment nicht in der Lage, die Ein­ zeleindrücke zu einem Ganzen zu subsummieren und scheitert somit bei der Herstellung einer Gesamtwahrnehmung. Solche Fälle, bei denen die Einbildungskraft von vornherein zum Scheitern verurteilt ist, zeigen sich beispielsweise auch in dem Versuch, eine Gesamtvor­ stellung von der Idee der ›Welt‹, von ›Totalität‹, vom absolut ›Großen‹ oder der Idee des ›Einfachen‹ bzw. des ›nicht mehr Teilbaren‹ zu entwickeln. Mit dieser Idee des »Unfassbaren« beschäftigt sich die Kunst der Moderne. Insbesondere die Avantgardisten haben versucht, in ihren Bildern zu zeigen, dass es etwas gibt, das sich denken, aber nicht darstellen bzw. sichtbar machen lässt. Bereits Caspar David Friedrich (1774–1840), einer der bedeutendsten Maler und Zeichner der Früh-Romantik, fertigte Gemälde von Landschaften an, in denen es jedoch nicht um Letztere an sich ging, sondern bei deren Betrach­ tung die Landschaft als Metapher für Unendlichkeit zum Tragen kommen sollte. Zu diesem Zweck ließ Friedrich das Ende seiner Landschaften in einem Nebel verschwinden. Durch den Versuch, etwas Formloses, die Abwesenheit der Form darzustellen, beantwor­

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

tet Friedrich die Frage, wie man Unsichtbares sichtbar machen kann bzw. wie man sichtbar machen kann, dass es etwas Unsichtbares gibt. Die Künstler der Moderne, wie Kandinsky und Malewitsch, bedienen sich ebenfalls der Darstellung von etwas Formlosem bzw. einer leeren Abstraktion. So ergibt sich eine negative Form der Darstellung, die auf alle Gestaltungsmittel der gegenständlichen Kunst, alles Figurative und Abbildliche verzichten muss. Als ein weiterer beispielhafter Maler sei in diesem Zusammenhang der Niederländer Piet Mondrian erwähnt. Hauptmotiv seiner Werke sind rechteckige Farbflächen in den Grundfarben. Es handelt sich um rahmenlose Bilder. In seinem Verzicht auf Rahmen zeigt sich ein Verzicht auf etwas Eingrenzendes, das Einheit herstellen würde. Demzufolge betrachtet Mondrian die Struktur seiner Farbflächen und waagerechten und senkrechten Linien als Struktur der Wirklichkeit, sodass seine Bilder Ausschnitte aus der globalen Grundordnung dieser Wirklichkeit darstellen. Zusammenfassend handelt es sich bei der avantgardistischen Kunst um eine solche, die zur Ästhetik des ›Erhabenen‹ gehört. In dem Versuch, etwas Unsichtbares darzustellen, ergaben sich in der Moderne zwei künstlerische Vorgehensweisen, die Lyotard in Anlehnung an Kant herausgearbeitet hat. Die Künstler der einen Gruppe legten den Akzent auf die ›Ohnmacht des Darstellungsver­ mögens‹, auf das Scheitern der Einbildungskraft. Ihre Grundhaltung war die der Melancholie. Ihnen gegenüber steht die Gruppe derer, die ihren künstlerischen Schwerpunkt auf die Vernunft (im Kantischen Sinne), das Denkvermögen setzten. Als Grundhaltung wurde ihnen die der Novatio, der Erneuerung zugesprochen. So handelt es sich hier einerseits um Künstler, die in ihren Werken ›Trauer‹ hervorgebracht haben – die deutschen Expressionisten. Auf der anderen Seite sind diejenigen zu finden, die ein ›Wagnis‹ mit ihrer Kunst eingingen – hier seien vor allem Braque und Picasso erwähnt. Sie gelten als expe­ rimentierfreudig und verstehen ihre Kunst positiv. Diese Tendenzen spiegelten sich jedoch nicht nur in der Kunst, sondern auch in der Literatur wider. So ist Marcel Proust (1871–1922) mit seinem Werk »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« (1913–27) den Anhängern der Melancholie zuzurechnen, wohingegen James Joyces »Ulysses« der Seite der Novatio angehört. Es ist festzuhalten, dass es innerhalb der Moderne zwei künstlerische Richtungen gibt, die sich auf jeweils einen Aspekt des ›erhabenen‹ Gefühls konzentrieren lassen. Im Bereich der Kunst stellte sich die Entwicklung über das gesamte Jahrhundert so dar, dass in der ersten Hälfte generell noch

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9. Fazit und Ausblick

davon ausgegangen wurde, dass es nur einen richtigen und wahren Weg bzw. nur eine sinnvolle Richtung gäbe. Diese Einstellung findet sich in der Avantgarde der modernen Kunst wieder. Es handelt sich dabei um eine durchgängige Auffassung, die die moderne Kunst charakterisiert. Dies wird auch durch den Russen Kasimir Malewitsch vertreten. 1913 preist er in seinem Manifest den Kubofuturismus als alleinig richtige Kunstrichtung an. Zwei Jahre später, 1915, vertrat er daraufhin die Meinung, dass nur der Suprematismus der einzig richtige Kunststil sei. Ab 1917 wiederum wird davon ausgegangen, dass der Konstruktivismus die einzig sinnvolle Richtung sei. Dies ist beispielhaft für die Widersprüchlichkeit dieser Zeit, in der zwar Stilrichtungen streng verfolgt wurden, jedoch die vorherrschende Richtung regelmäßig abgewechselt wurde. Auf der Ebene der Theorie gab es keinen Platz für Pluralismus, der eigene Stil wurde als der einzig wahre angesehen. In der Praxis sah dies faktisch jedoch anders aus: hier zeigte sich eine Vielfalt an Stilen und Richtungen, wie beispielsweise der Impressionismus, Expressionismus, Kubismus, Futurismus sowie Realismus. In den 1950er Jahren lehnten Einzelne bereits die abstrakte Kunst ab, wie etwa Robert Rauschenberg (1925– 2008), und ließen es sich nicht mehr vorschreiben, was als Kunst angesehen wurde. In den 1960er Jahren wird der Pluralismus auch in der Kunsttheorie das erste Mal als positiv angesehen und verteidigt. Andy Warhol (1928–1987) stellte hier die Frage: »Wie kann man einfach sagen, dass ein Stil besser ist als ein anderer? Man sollte in der Lage sein, nächste Woche Abstrakter Expressionist oder Pop-Künstler oder Realist zu sein, ohne das Gefühl zu haben, etwas aufzugeben.«97 Auch Jennifer Bartlett (*1941), die als frühe Pluralistin beschrieben wird, äußerte sich zu dieser Zeit ähnlich, beispielsweise mit Worten wie: »Mir gefielen eine ganze Menge unterschiedlicher Arbeiten«98. Zum Ende der 1960er galt die Suche nach dem Wesen der Kunst als überholt. Es ergab sich damit eine völlig neue Situation, denn nun gab es kein verbindliches Aussehen eines Kunstwerks mehr, sondern alles konnte als ein Kunstwerk angesehen werden. Problematisch gestaltete es sich hier, dass der Unterschied zwischen Kunst und Nicht-Kunst nicht mehr sichtbar war. Der einzelne Künstler konnte nun herstellen, was er wollte. Seit Ende der 1960er Jahre wurde 97 Zitiert nach A. C. Danto, Mit dem Pluralismus leben lernen, in: ders., Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996, S. 265. 98 Ebd., S. 263.

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Kapitel 2 Die Künste der Moderne und ihre philosophischen Grundlagen

die Entwicklung der Kunst nicht mehr als Fortschritt angesehen. Stattdessen wurde alles akzeptiert und nichts mehr favorisiert. In den 1970er Jahren gab es keinen Mainstream mehr in der Kunst, sondern nur zahlreiche Einzelströmungen. Anfang der 1980er Jahre wird die Ansicht von der Notwendigkeit der Einheit sowohl in Theorie als auch Praxis, die noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorherrschte, völlig transformiert. Sowohl auf der Ebene der Kunst als auch auf der der Philosophie taucht gleichzeitig der Begriff der Pluralität auf. Was durch die Tatsache verursacht wird, dass die Philosophie und die Kunst schon immer sehr eng miteinander verknüpft waren. So äußerte sich der US-amerikanische Philosoph und Kunstkritiker Arthur C. Danto beispielsweise 1981 in New York auf einer Podiumsdiskussion zum Thema »Pluralismus in der Kunst«. Ziel der Debatte war es, der Frage nachzugehen, was Pluralismus für die Kunst bedeutet. Die Entwicklung der Kunst kann auch anhand der Metapher eines Flusses veranschaulicht werden. Die Postmoderne steht hier für zahlreiche Einzelströmungen in einem Flussbett, es ist kein Main­ stream mehr vorhanden. In der Moderne gibt es hingegen einen klaren Mainstream. Zwar gibt es faktisch viele Wahlmöglichkeiten, aber in ideologischer Hinsicht nur einen richtigen und wahren Weg. In der Medienkultur der 1990er Jahre zeichnet sich der Versuch ab, erneut eine Einheit anzustreben. Von der virtuellen Realität verspricht man sich, dass durch die globale Vernetzung von Wissensbeständen der Expertenkulturen die Einheit wiederhergestellt wird. Dadurch soll eine größere Verständlichkeit erreicht werden. Die Einheit hat sich faktisch allerdings noch nicht eingestellt. Doch die Medienkultur bestimmt die Diskussion nicht vollständig, es gibt immer noch die Philosophie. Die Diskussion über die Positionen von Habermas und Lyotard sind weiterhin grundlegend. Es hatte sich in der Philosophie die Debatte darüber ergeben, dass und wie die drei Expertenkulturen sprachphilosophisch zu erklären seien. Lyotard erläuterte sie vermit­ tels von zwei Familien von Sätzen: Das sind einmal die deskriptiven, also die beschreibenden, und die präskriptiven, also die vorschreiben­ den Sätze. Doch die Undurchlässigkeit der Sprache verhindert eine Einheit im Sinne von Habermas. Diese Hürde ist bis heute nicht aufgehoben worden.

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Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne im 20. Jahrhundert

Seit Michael Köhler99 vor nun über 40 Jahren in einem frühen Überblick über die Verwendung der Begriffe »Postmodernismus«, »Postmoderne« und »Postmodernität« den Schluss ziehen musste, dass es keine Übereinstimmung unter den Autoren gibt, hat sich in der Tat bis heute wenig verändert. Aus diesem Grunde konnte auch zehn Jahre später Hans Bertens in seinem Überblick das Begriffs­ feld der Postmoderne einen »terminologischen Irrgarten«100 nennen. Betrachtet man die vielen verschiedenen expliziten und impliziten Definitionsversuche bis heute, so lässt sich vielleicht ein einziges Merkmal festhalten: es ist der Pluralismus. ›Einheit‹, d.h. Darstellbar­ keit und damit Beherrschbarkeit, ist das Hauptmerkmal der Moderne; ›Vielheit‹, d.h. Unbestimmbarkeit und damit Unbeherrschbarkeit, ist das Hauptmerkmal der Postmoderne. Doch in welcher Beziehung müssen diese beiden unterschiedlichen Begriffe gedacht werden? Welche Bedeutung haben sie in solcher Beziehung konkret oder können sie auch voneinander völlig entkoppelt gedacht werden? Sind damit etwa aufeinander folgende Epochenbegriffe gemeint? Oder können sie auch als zeitlich parallel auftretende, also relationale Stilbegriffe verstanden werden? Diese Fragen sollen im Folgenden angesprochen, sehr wahrscheinlich aber können sie nicht vollständig zufriedenstellend beantwortet werden.

Vgl. M. Köhler, ›Postmodernismus‹: Ein begriffsgeschichtlicher Überblick, in: Amerikastudien, 22, 1977, S. 16. 100 Vgl. H. Bertens, Die Postmoderne und ihr Verhältnis zum Modernismus, in: D. Kamper u. W. v. Reijen (Hg.), Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmo­ derne, Frankfurt am Main 1987, S. 47. 99

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Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne

1. Die Bestimmung der Begriffe Moderne und Postmoderne Das postmoderne Werk zeichnet sich dadurch aus, dass ein Plura­ lismus grundlegend ist, und zwar nicht nur als Vielfalt verschiede­ ner Werke innerhalb einer Biographie, sondern als Vielfalt in ein und demselben Werk, die dessen Identität widerlegt. Das ideale Kunstwerk, das von Hegel als »schlechthin angemessene Einheit von Inhalt und Form«101 bestimmt worden war, ist in der Postmoderne nicht mehr anzutreffen; die Entleerung dieser Bestimmung ist offen­ sichtlich und irreduzibel. Das postmoderne Kunstwerk, in seiner Produktion bereits so mehrdeutig, dass es die künstlerische Intention übersteigt, ist für den Betrachter wie ein Text, dessen Lektüre eher zu einer weiteren Differenzierung als zu einer Vereinheitlichung seiner Bedeutungen führt.102 Von daher wird jede Suche nach einer »hermeneutischen Identität« fruchtlos bleiben, was vielleicht eine für Gadamer103, aber nicht für Adorno unmögliche Vorstellung bedeutet. In seinem »Versuch, Becketts Endspiel zu verstehen«, hat er gezeigt, dass die Einheit des ästhetischen Sinnzusammenhangs zur Illusion geworden ist: »Die Interpretation des Endspiels kann darum nicht der Schimäre nachjagen, seinen Sinn philosophisch vermittelt auszuspre­ chen. Es verstehen kann nichts anderes heißen, als seine Unverständ­ lichkeit verstehen, konkret den Sinnzusammenhang dessen nachkon­ struieren, daß es keinen hat.«104 Dagegen versucht der postmoderne ›Neostrukturalismus‹ erweiternd aufzuzeigen, dass die Einheit des ästhetischen Sinnzusammenhangs nicht lediglich negiert werden darf, sondern auch pluralisiert werden soll, indem die Perspektive des ästhetischen Sinnzusammenhangs zum »differentiellen Spiel« wird, das in »einem selbst nicht Sinnhaften« gründet, d.h. in einer unkon­ trollierbaren Struktur von Zeichen und Texten: »Dem geschlossenen Text wird der offene Text, der Interpretation (als Suche nach dem Zen­ tralsinn des Texts) die plurale Lektüre gegenübergestellt, die nicht die Sinn-Einheit, sondern die semantische ›dissémination‹ verfolgt.«105 Mit dieser Konzeption stimmen Gilles Deleuze und Félix Guattari G. W. F. Hegel, Ästhetik, hrsg. v. F. Bassenge, Berlin/Weimar 1965, Bd. 1, S. 296f. Vgl. R. Barthes, Cy Twombly, Berlin 1983, S. 87ff. 103 Vgl. H. G. Gadamer, Die Aktualität des Schönen, Stuttgart 1977, S. 32ff. 104 Th. W. Adorno, Versuch, das Endspiel zu verstehen, in: ders., Noten zur Litera­ tur, Frankfurt am Main 1981, S. 283. 105 M. Frank, Was ist Neostrukturalismus?, Frankfurt am Main 1984, S. 102.

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1. Die Bestimmung der Begriffe Moderne und Postmoderne

zwar überein, gehen aber auch darüber noch hinaus. Insofern ver­ knüpfen sie mit der Moderne ebenso wie andere Neostrukturalisten das Bild der Hauptwurzel und mit der Postmoderne das Absterben dieser Hauptwurzel: »Die Hauptwurzel ist verkümmert, ihr Ende abgestorben; und schon beginnt eine Vielheit von Nebenwurzeln wild zu wuchern.« Aber mit der ›Verkümmerung der Hauptwurzel‹ in der Postmoderne »besteht ihre Einheit als vergangene, zukünftige oder als mögliche fort.« Deleuze und Guattari misstrauen dem Bild der Verkümmerung der Hauptwurzel und entlarven darin das Verlangen nach einer »noch umfassendere(n) verborgene(n) Einheit«. Sie spre­ chen deshalb von einer »erweiterte(n) Totalität«106, die entschieden abgelehnt werden müsse. Mit dieser Auslegung demaskieren sie sowohl Burroughs als auch Joyce107 und Nietzsche, die lediglich die ›lineare‹ durch eine ›zyklische‹ Einheit ersetzen würden. Dage­ gen stellen sie alsdann ihre eigene radikale Auffassung: »Das Viele (multiple) muß man machen: nicht dadurch, daß man fortwährend übergeordnete Dimensionen hinzufügt, sondern im Gegenteil ganz schlicht und einfach in allen Dimensionen, über die man verfügt: jedesmal n – 1 (Das Eine ist nur dann ein Teil der Vielheit, wenn es von ihr abgezogen wird). Das Einzelne abziehen, wenn eine Vielheit konstituiert wird; n – 1 schreiben.«108 Das ist sicherlich die radikalste Darstellung von Vielheit, die denkbar ist: Das Eine ist nur noch Teil der Vielheit, es kann der Vielheit nicht mehr als gleichberechtigt gegenübertreten. Die Stellung und Funktion der Einheit wird auf diese Weise total entmachtet. Die Vielheit erhält dadurch ein Monopol, und ihre Alleinherrschaft verhindert qua Voraussetzung jedes weitere Hervortreten von Einheit, Ganzheit und Geschlossenheit: Die Kon­ sequenzen dieser Entscheidung sind auf Anhieb nicht überschaubar. Eine solche Positionierung der Vielheit wollen wir im Folgenden allerdings nicht übernehmen – sie ist zwar radikal, aber daher auch zu einseitig und nicht mehr geeignet, um letztlich – wie wir es hier in ethischer Hinsicht bezwecken – eine Dialektik von Moderne und Postmoderne anzustreben und zu verteidigen. G. Deleuze und F. Guattari, Rhizom, Berlin 1977, S. 9. Vgl. ebd., S. 10: »Die Wörter eines Joyce, denen man zu Recht ›Vielwurzligkeit‹ nachsagt, brechen die lineare Einheit der Wörter, sogar der Sprache nur auf, um im gleichen Zuge eine zyklische Einheit des Satzes, des Textes oder des Wissens herzu­ stellen.« 108 Vgl. ebd., S. 11. 106 107

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Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne

2. Einheit und Vielheit in der Moderne In einem bemerkenswerten Aufsatz109 untersucht Werner Hofmann das Spiel der Dissonanzen, das sich bei so unterschiedlichen Künstlern wie Schönberg, Kraus, Mondrian, Loos, Kandinsky und anderen fin­ det. Sie alle haben das Kunstwerk zu einem Labyrinth gemacht; es sollte nicht mehr »eine falsche glättende Harmonie«110 suggerieren können, sondern – um es im Anschluss an Hofmann mit Schönberg zu sagen – einen »komplizierten Zusammenklang« herstellen. Die Teile des Ganzen sollten in einen offenen Widerstreit miteinander treten. Adolf Loos verwirklicht ein solches Spiel der Dissonanzen in seinem Haus am Michaelerplatz in Wien, das in der Zeit von 1909 bis 1911 gebaut worden ist. An diesem Gebäude gibt es, wie Hofmann herausstellt, einiges, was dem Blick als »regelwidrige Dissonanz«111 erscheinen muss: die glatten Mauern, die rahmenlosen Fenster, die Beziehungslosigkeit der beiden unteren Geschosse mit den vier Ober­ geschossen etc. Ähnliches findet sich bei Malern wie Kandinsky, Klee, Malewitsch oder Mondrian. In den gegenstandslosen Bildern von Mondrian beispielsweise gibt es die »herkömmlichen Orientierungs­ hilfen«112 nicht mehr: die Hierarchie von Figur und Grund, die der räumlichen Gestaltung zugrunde liegt, verschwindet ebenso wie die Symmetrie, die die innerbildlichen Beziehungen einträchtig ordnet. So entstehen dissonante Ordnungen, die zu neuen Ganzheiten füh­ ren. Denn der gemeinsame Einsatz in der modernen Kunst besteht weiterhin darin, eine Synthesis zu bilden. Damit erfüllt sie, wie man in der Moderne noch annimmt, höchstwahrscheinlich eine Forderung von »Kultur überhaupt«113, vermutlich in der Hoffnung, dass sich die Logik des Zerfalls zu ermäßigen pflege. Auch wenn Alban Berg in seiner Analyse von Schönbergs Kammersymphonie Nr. 1 E-Dur op. 9 (1906) zu dem Ergebnis kommt114, dass dieses Werk zwei Deutun­ gen zulässt, die sich im Widerstreit befinden, so geht es ihm letztlich doch wieder darum, den durch die Vielheit kompliziert gewordenen 109 Vgl. W. Hofmann, Die Emanzipation der Dissonanzen, in: J. Le Rider und G. Raulet (Hg.), Verabschiedung der (Post-)Moderne?, Tübingen 1987, S. 117–131. 110 Ebd., S. 122. 111 Ebd., S. 118. 112 Ebd., S. 122. 113 Vgl. S. Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt am Main 1972, S. 96, 110. 114 Vgl. Hofmann, a.a.O., S. 129f.

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3. Pluralismus in der Postmoderne

Zusammenhang aufrecht zu erhalten, genauso wie Schönbergs »harte Zusammenklänge« das Ziel einer »Harmonie der Dissonanzen« nicht aus den Augen verlieren. Es handelt sich hierbei um eine ›Überein­ stimmung aus der Nicht-Übereinstimmung‹; Kant würde hier von einer Lust aus der Unlust sprechen, sie erweckt jenes Gefühl, das Kant in seiner dritten Kritik als »erhaben« benannt hat. Darin unterscheidet sich die Moderne von der Postmoderne: letzterer geht es darum, Zeugnis von den »unbestimmten« Übereinstimmungen abzulegen.

3. Pluralismus in der Postmoderne Die Ausmessung des kulturellen Feldes der Postmoderne lässt sich nicht mit einer einheitlichen Definition vornehmen. Gerade hierin liegt der Witz der Postmoderne. Ihab Hassan weigert sich denn auch, eine verbindliche Definition115 aufzustellen. Diese wird ihrem Gegenstand nicht gerecht. Der Grund liegt in der Mehrdeutigkeit, durch die die Postmoderne gekennzeichnet ist. Roland Barthes116 hat am Beispiel einer literarischen und soziologischen Deutung des Tagebuchs gezeigt, dass ein und derselbe Gegenstand mehrere in sich kohärente Definitionen zulässt (sodass man eigentlich – würde Bernhard Waldenfels117 hinzufügen – gar nicht von ein und demsel­ ben Gegenstand sprechen kann). Keine dieser Definitionen könnte die anderen verdrängen: alle stehen gleichmöglich und gleichwertig nebeneinander. Man kann sich zwar nicht beliebig für die eine oder die andere entscheiden – denn die Wahl einer bestimmten Definition erfolgt in Abhängigkeit zur Relativität der Wahlbedingungen. Aber niemals kann eine Definition mehr Gültigkeit beanspruchen als die andere. Die offensichtliche Unmöglichkeit, eine logisch eindeutige Definition zu finden, ergibt sich weder infolge einer relativistischen Betrachtungsweise, noch infolge eines Unvermögens, sondern auf­ grund einer Disposition der postmodernen Kultur selbst: nämlich 115 Vgl. I. Hassan, Pluralismus in der Postmoderne, in: D. Kamper u. W. v. Reijen (Hg.), Die unvollendete Vernunft: Moderne versus Postmoderne, Frankfurt am Main 1987, S. 158. 116 Vgl. R. Barthes, Kritik und Wahrheit, Frankfurt am Main 1967, S. 61f. 117 Vgl. B. Waldenfels, Ordnung im Zwielicht, Frankfurt am Main 1987, S. 162ff. Vgl. auch Rötzers Gespräch mit Waldenfels, in: F. Rötzer (Hg.), Denken, das an der Zeit ist, Frankfurt am Main 1987, S. 322f.

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Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne

ihrer grundsätzlichen Offenheit und damit ihrer Uneindeutigkeit. Sie besitzt gleichzeitig mehrere Bedeutungen, die von keiner Definition vereinheitlicht werden können.118 Die banale Tatsache, dass einerseits jede Epoche glaubt, die kanonische Bedeutung eines Werkes zu ken­ nen, sich jedoch andererseits die Definition eines Werkes in der Geschichte verändert, erkennt man in der Postmoderne als Zeichen einer Mehrdeutigkeit, das nach Ablösung universaler Ansprüche auf Gültigkeit durch lokale und temporale verlangt. Wenn eine eindeutige Definition nicht möglich ist, so bleibt nur noch, eine möglichst große Vielzahl von Merkmalen aufzuzeigen, die geeignet sind, sowohl zur Unterscheidung von Moderne und Postmoderne beizutragen als auch herauszustellen, was das Neue der postmodernen Kultur ausmacht. Es ist ein radikaler Pluralismus, der alle festen Anhaltspunkte oder Maßstäbe für das Wahre und Falsche, das Gerechte und Ungerechte und das Schöne und Hässliche zum Verschwinden bringt.

4. Woher nimmt die Kritik ihr Maß? Hegel hatte betont, dass die Kritik einen Maßstab erfordere, der von dem Beurteilenden ebenso wie von dem Beurteilten unabhängig sein müsse.119 Dieser Maßstab, der von dem ewigen und unwandelbaren Urbild oder der Idee der Sache selbst herzunehmen sei, sei die Bedingung und Voraussetzung aller Kunstkritik und philosophischen Kritik. Die Abwesenheit eines solchen Maßstabes führe dazu, dass die Kritik nur Subjektivitäten gegen Subjektivitäten zu setzen hätte und ihr Anspruch als einseitiger Machtanspruch erscheinen würde. Die philosophische Kritik, die eine allgemeine Vorstellung von der Idee der Philosophie voraussetzt, die also über einen Maßstab verfügt und aus diesem Grunde das Absolute gegen das Bedingte setzt, kann Eigenmächtigkeit und Willkür überwinden, kann allgemeine Gültig­ keit beanspruchen und zur Selbstanschauung in einem objektiven Ganzen gelangen. Hegel glaubte noch fest an die Möglichkeit eines solchen Maß­ stabes. Diesen Glauben hat die postmoderne Philosophie endgültig Vgl. Barthes, a.a.O. Vgl. G.W.F. Hegel, Über das Wesen der philosophischen Kritik überhaupt und ihr Verhältnis zum gegenwärtigen Zustand der Philosophie insbesondere, in: ders., Werke, Bd. 2, Frankfurt am Main 1987, S. 171–187. 118

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4. Woher nimmt die Kritik ihr Maß?

aufgegeben. Damit gerät sie aber in eine Gefahr, die sich durch die Beliebigkeit einer jeden Kritik auszeichnet. Das Geschäft des Kritikers muss sich darauf einstellen, dass eine ›Totalkritik‹ im marxistischen und neomarxistischen Sinne nicht durchführbar ist, denn sie misst die Welt – um es mit Nietzsche zu sagen – mit einem »nicht vorhandenen Maßstab«120. Und das Ganze, wogegen eine solche Kritik sich richtet, kann nicht ausgemacht werden; die Gesellschaft als Ganzes ist für den Kritiker nicht greifbar; sie besteht vielmehr aus einer Vielfalt unterschiedlicher Felder, deren Grenzen er nicht eindeutig bestimmen kann. Kritik ist aus diesem Grunde allenfalls noch als ›Partialkritik‹ möglich. Oder aber als ›unterscheidende Kritik‹; philosophische Kri­ tik, die in der Moderne noch mit der Illusion, »daß es möglich sei, in Kraft des Denkens die Totalität des Wirklichen zu ergreifen«121, einsetzte, muss in der Postmoderne ihr Maß in den lokalen und tem­ poralen Kontexten suchen – oder aber die Bedeutung eines Werkes auf ›dem Wege einer Unterscheidung‹ von anderen ermitteln. Weiterhin wird sowohl der Begriff Moderne wie auch die Post­ moderne ambivalent gedacht und gebraucht sowie vor allem auf die ›westliche Welt‹ bezogen, insofern kann von der Universalität der Moderne und deren Kritik eigentlich gar nicht gesprochen wer­ den, denn als »modern« galt noch Mitte des 20. Jahrhunderts ins­ besondere »wirtschaftliches Wachstum und westliche Wissenschaft, Demokratisierung und Industrialisierung, Säkularisierung und Indi­ vidualisierung«122. Doch die in dieser Charakterisierung enthaltene »positive Eindeutigkeit« der Bestimmung täuscht, denn betrachtet man die Moderne aus einem etwas mehr Übersichtlichkeit zulas­ senden historischen Abstand, erkennt man ihre erst allmählich aus der Verborgenheit auftauchende andere kritische Seite: »Die Moderne hatte schließlich nicht nur Licht-, sondern auch Schatten­ seiten: Auschwitz wäre ohne moderne Technologie nicht möglich gewesen; Industrialisierung und westlicher Konsum brachten nicht nur Fortschritt, sondern auch gravierende Probleme mit sich – von der Entfremdung der Arbeiter über den Verlust von Lebensqualität Vgl. F. Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 1, München, Berlin, New York 1988, S. 884. 121 Th. W. Adorno, Die Aktualität der Philosophie, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, Frankfurt am Main 1973, S. 326. 122 C. Mauch / K. Patel (Hg.), Wettlauf um die Moderne. Die USA und Deutschland 1890 bis heute, München 2008, S. 16.

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Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne

bis zur Zerstörung der Umwelt. Hinzu kommt, dass die Kriterien für Modernität fast ausnahmslos der europäisch-amerikanischen Erfah­ rungswelt entnommen sind und dadurch keinerlei globale Gültigkeit für sich beanspruchen können.«123

5. Anmerkung zur unterscheidenden Kritik Von der ursprünglichen Bedeutung des Wortes ausgehend möchte ich »Kritik« als ein ›Vermögen der Unterscheidung‹ des einen Werkes von einem anderen verstehen. Das Geschäft einer solchen Kritik besteht in der ›Vergleichung‹. Zur Bestimmung der Quellen, des Umfanges und der Grenzen eines Werkes bedarf es des Vergleichs mit einem anderen Werk. Insofern erfolgt diese Kritik weder aus Prinzipien noch nach einem unabhängigen Maßstab, sondern lediglich in der Unterschei­ dung mehrerer Werke. Weil die Anzahl solcher Unterscheidungen ins Endlose gehen könnte, gilt es zunächst, herauszufinden, von welchen anderen Werken sich das zu bestimmende Werk in erster Linie absetzt. Auf diese Weise kann die Kritik ihm einen Platz in der Geschichte der Werke einrichten oder seinen geschichtlichen Ort feststellen, denn ein nennenswertes Werk definiert sich durch die Abgrenzung von ganz bestimmten anderen Werken. Während die Legitimation bloß »schulgerechter« Werke, die man als gelehrige Nachahmungen exemplarischer Werke bestimmen könnte, sowohl auf ihrer synchronen als auf ihrer diachronen Verkettung liegen kann, steht die »epochemachender« Werke, die »neue Wege einschlagen und neue Aussichten eröffnen«124, ausschließlich auf ihrer diachronen. Diese Verkettungen zu suchen und erkennbar zu machen, ist Aufgabe einer »Kunst-Kritik«, die sich für Unterschiede interessiert. Aller­ dings kann eine solche Kunst-Kritik über die inhaltliche Bedeutung eines Werkes weniger aussagen, als es eine »Kunst-Analytik« tun könnte, denn sie setzt den Akzent auf die ›Relationen‹ der Werke, nicht auf ihre ›Gehalte‹. Mit Kant betrachtet müsste diese Kritik irgendwo im Spannungs­ feld von bestimmender und reflektierender Urteilskraft angeordnet werden. Sie kann weder auf einen bestimmten Begriff noch auf ein Ebd. I. Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, hrsg. v. W. Becker, Stuttgart 1983, S. 161.

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6. Postmoderne in der Philosophie

transzendentales Prinzip zurückgreifen. Aus diesem Grunde kann es ihr auch weder gelingen, eine verbindliche Definition der Postmo­ derne (beispielsweise für die Architektur oder die Philosophie etc.) zu liefern, noch, einzelne Gebäude oder einzelne Werke immer exakt als modern oder postmodern zu bestimmen. Sicherlich ist das Seagram Building modern. Und das AT&T-Building in New York (550 Madi­ son Avenue) ist zweifellos postmodern. Aber was ist mit Le Corbu­ siers Kapelle von Ronchamp? Ist sie noch modern? Oder nicht doch schon postmodern? Man könnte weitere Beispiele anführen, die zei­ gen, dass eine genaue Grenzziehung zwischen Moderne und Post­ moderne gar nicht möglich ist. Es gibt nämlich ein breites Übergangs­ gebiet, in dem Merkmale des alten Stils mit jenen des neuen interferieren und Zwischenformen erschaffen. Die Moderne ist nicht plötzlich, sondern allmählich in die Postmoderne übergegangen, wobei eine Zeit zwischen den Zeiten entstand, eine Zwischenzeit, in der eine Unbestimmtheit herrschte, die offensichtlich im Pluralismus der Postmoderne und ihrer Beurteilung fortbesteht. Insofern ist die Vermutung, dass die Postmoderne selbst nichts anderes als ein Stil zwischen den Stilen, oder eine Epoche zwischen den Epochen, also ein langer Übergangszeitraum sein könnte, in dem sich das Alte und das Neue noch in einer unbestimmten Übereinstimmung befinden, nicht von der Hand zu weisen. Eine solche Beurteilung der Postmoderne richtet eine Zeit der Unbestimmtheit ein, in der man, zumindest für eine Weile, eine ästhetische Lebensform verwirklichen könnte. Das postmoderne Denken zeichnet sich dadurch aus, dass es die Anstren­ gung, die »Idee eines Ganzen« wirklich zu machen, aufgegeben hat. Das Mannigfaltige bekommt einen Namen, der positiv nicht exakt definierbar ist: Postmoderne. Nach den totalitären Bewegungen in der jüngeren europäischen Vergangenheit, konkret gemeint sind hier vor allem Faschismus und Stalinismus, ist es wohl das Beste für die »Menschheit«, für eine Epoche, zumindest aber für eine Stilzeit, in der Unbestimmtheit zu leben.

6. Postmoderne in der Philosophie Die Philosophie ist im Vergleich mit anderen Diskursarten erst spät auf die Postmoderne aufmerksam geworden. Zunächst taucht der Begriff Ende der 1950er Jahre in der nordamerikanischen Literaturkri­

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Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne

tik auf.125 Dort wird er verwendet, um Tendenzen der Einebnung des Gegensatzes von ›hoher‹ und ›niederer‹ Literatur zu kennzeichnen. Vermittelt durch den Architekturkritiker Charles Jencks hält er dann, etwa um die Mitte der 1970er Jahre, Einzug in die Theorie und Praxis der Architektur, durch die der Begriff in das öffentliche Bewusst­ sein der amerikanischen Welt gelangt und seine größte Popularität erreicht. Der Streit um Moderne und Postmoderne wird kurze Zeit später ebenfalls durch Jencks' Vermittlung in Europa bekannt. In der Philosophie ist der Ausdruck »Postmoderne« erst anerkannt worden, als Lyotard 1979 sein Werk La condition postmoderne126 publizierte. Die zentrale Thematik dieses Werkes ist einerseits der »Zerfall der Einheit« und andererseits die »Entfaltung der Vielheit«.127 Die Moderne wollte das gesamte menschliche Wissen mit Hilfe von ›großen Erzählungen‹ legitimieren und zu einer Einheit zusammen­ fügen. Dazu hat sie drei solcher Meta-Erzählungen hervorgebracht: die ›Emanzipation der Menschheit‹ in der Aufklärung, die ›Teleologie des Geistes‹ im Idealismus und die ›Hermeneutik des Sinns‹ im Historismus. Am Anfang des 20. Jahrhunderts haben Literaten, Philosophen und Naturwissenschaftler begonnen, an der ›Einheit des Wissens‹ zu zweifeln und sie zu bestreiten. Ihre Einschätzungen haben schließlich dazu geführt, dass wir heute nicht mehr ernsthaft an die Maßgeblichkeit von Begriffen wie ›Totalität‹ glauben können. Das Prinzip der Totalität hatte in der Moderne für die Men­ schen die Vorstellungen, die sie sich von der Gesellschaft machten, wesentlich beeinflusst. Zwei Modelle setzten sich durch. Das eine Modell, nach dem die Gesellschaft als ›funktionale Totalität‹ auf­ gefasst werden muss, entstand in der soziologischen Theorie von Parsons bis Luhmann; das andere Modell, welches die Gesellschaft als ›zweigeteilte Totalität‹ betrachtet, wurde in der Tradition der Gesellschaftstheorie von Marx bis zur Kritischen Theorie entwickelt. Beide Vorstellungen von der Gesellschaft stehen in einem engen Zusammenhang mit den großen Erzählungen von der Legitimierung des Wissens, die das 19. Jahrhundert ausgebildet hat. Mit dem Nie­ dergang dieser großen Erzählungen am Anfang des 20. Jahrhunderts, Den besten Überblick über die Herausbildung des Begriffs Postmoderne in Literatur, Kunst, Architektur, Soziologie und Philosophie gibt: W. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, Weinheim 1987. 126 J.-F. Lyotard, La condition postmoderne, Paris 1979; dt.: Das postmoderne Wissen, Graz, Wien 1986. 127 Vgl. Welsch, a.a.O., S. 31–37, 169–184. 125

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7. Postmoderne in der Kultur

so Lyotards These, ist das Prinzip der Totalität endgültig entwertet worden. Wir sind zurückgeblieben mit einer Situation, die als ›Zer­ streuung des Wissens‹ in viele verschiedene Sprachspiele gekenn­ zeichnet werden kann. Diese Vielfalt, die zunächst zur Trauer über die verlorene Ganzheit geführt hatte, ist mittlerweile in ihren positiven Dimensionen erkannt worden. Man sieht sie als Zeichen für einen Fortschritt in der Geschichte, der uns in die Postmoderne geführt hat. Nach Lyotard muss die Postmoderne als Möglichkeit betrachtet wer­ den, die positiven Dimensionen der Vielfalt fruchtbar zu machen für eine Neuorientierung in den höchstentwickelten Gesellschaften des Westens. Insofern zeigt Das postmoderne Wissen einen Ausweg aus den Aporien der beiden großen geschichtsphilosophischen Werke Dialektik der Aufklärung und Überwachen und Strafen, die an der abendländischen Zivilisation so große Bedenken äußern, dass sie das düstere Bild der völligen Ausweglosigkeit zeichnen. In der gegenwärtigen Welt, also in der postmodernen Welt, in der die vereinheitlichende und legitimierende Macht der großen Spekulations- und Emanzipationserzählungen ihre Glaubwürdigkeit verloren hat und in der die »Sehnsucht nach den verlorenen Erzäh­ lungen für den Großteil der Menschen selbst verloren«128 ist, muss versucht werden, eine neue Art der Legitimierung des Wissens zu entwerfen: nach Lyotard weiß man heute, dass diese von nirgendwo anders herkommen kann als von einer Theorie der Heterogenität und Inkommensurabilität der Sprachspiele. Mit dieser These ist er neben Foucault und Derrida einer der interessantesten französischen Denker der Postmoderne, die über den Poststrukturalismus hinausgehen, wobei sich Lyotard als einziger offen zum Schritt zur Postmoderne in der Philosophie bekennt. Das Denken der beiden anderen Genannten könnte man, würde Wolfgang Welsch sagen, als einen »anonymen Postmodernismus«129 designieren.

7. Postmoderne in der Kultur Der metaphysische Standpunkt, von dem aus die Geschichte der menschlichen Kultur als Einheit gedacht werden konnte, beginnt 128 129

Vgl. Lyotard, a.a.O., S. 122. Vgl. Welsch, a.a.O., S. 80.

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Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne

mit Nietzsches Säkularisierung des Ursprungs durch die Abstam­ mungslehre zu schwinden. Damit zerfällt auch jener Aberglaube, in dem das moderne Denken über das Subjekt verstrickt ist. Alle Forschungen der Genealogie – sowohl bei Nietzsche als auch bei Foucault – führen zur Erkenntnis, dass das Heterogene eine Wahrheit darstellt, die in der abendländischen Kultur durch das vorherrschende Streben nach Homogenität verschüttet wurde. Nicht ein Gott steht am Ursprung der Menschheit, sondern die Affen, sagt Nietzsche. Damit sind die metaphysischen Ideale und Vorurteile entwertet; die Einheit des geschichtlichen Prozesses130 entlarvt sich als Fata Morgana und offenbart eine Vielheit miteinander streitender Perspektiven, die von nun an eine übergreifende, einheitliche Wahrheit ebenso wie eine Kritik des Ganzen ad absurdum führen. Damit ist für Nietzsche die Moderne am Ende; der Eintritt in die Postmoderne verlangt nun, eine Ästhetik der Vielheit zu erfinden. Doch bereits in der Moderne kann man eine gewisse Pluralisierungstendenz vorfinden. Was für das 19. Jahrhundert noch nicht gilt, damit meine ich, dass man in einem Leben mehrere Stile durchleben muss, ist im 20. Jahrhundert zur allgemeinen Lebensordnung geworden. Der Musikkritiker Diedrich Diederichsen beschreibt dieses Durchleben mehrerer Stile für den Zeitraum, der mit der Revolte 1968 beginnt und der Postmoderne in den 1980ern endet.131 Mitte der 1980er Jahre versuchten der Philosoph Derrida und der Architekt Bernard Tschumi, Philosophie und Architektur jenseits der starren Ausdifferenzierung der Moderne in eine Beziehung zu setzen. Ihren Versuch nennt man »dekonstruktive Architektur«. Dekonstruk­ tion heißt hier jedoch nicht nur Architekturen abbauen; sie heißt vor allem, neuartige, andersartige Architekturen aufzubauen: Dekon­ struktion will aus der Verrücktheit der Architektur eine Architektur der Verrücktheit machen. Dabei tritt sie nicht als »höhere« Methode auf, mit der man gewissermaßen von oben auf ein System herabbli­ cken und es beherrschen könnte, sondern verwendet genau dieselben Prinzipien, die sie dekonstruieren will. Sie stellt sich also nicht außer­ halb eines Systems, um es mit einer »überlegenen« Vernunft zu ver­ einnahmen; sie versucht vielmehr innerhalb des jeweiligen Systems dieses aufzubrechen. Der Parc de La Villette in Paris ist dafür das beste Beispiel. Die Nullpunkte der Verrücktheit, die in diesem architektura­ 130 131

Vgl. F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Stuttgart 1964, S. 232. Vgl. D. Diederichsen, Sexbeat. 1972 bis heute, Köln 1985.

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7. Postmoderne in der Kultur

len Werk durch rote Gebäude markiert worden sind, ›verräumlichen‹ und halten zugleich das ›Ereignis der Verräumlichung‹ fest. Eine solche Dekonstruktion stabilisiert kein »System«, sondern hält die Architektur in der »Dissoziation der Verräumlichung« aufrecht und reflektiert damit einen neuen Typ von Vielheit.132 Häufig wird der dekonstruktiven Architektur die Aufhebung der Postmoderne zugeschrieben. Diese Betrachtungsweise irritiert sicherlich. Aber wenn man bedenkt, dass der Ausdruck Postmoderne als Epochen- und als Stilbegriff verwendet wird, wird klar, dass er hier nur als Stilbegriff gemeint sein kann. Demnach wäre dekonstruktive Architektur ein neuer Stil nach der postmodernen Architektur. Diese Sichtweise möchte ich allerdings kritisieren – jedoch nicht im Sinne derjenigen, die nie reflektierten, im Namen welcher (traditionellen) Wahrheit sie die Launen des Augenblicks kritisierten, die also schon wieder eine neue Mode befürchteten, sondern im Sinne der Überle­ gung, nach dem postmodernen Frei-Stil-Klassizismus, bei dem das sinnliche Moment in den Vordergrund trat, den Dekonstruktivismus, der das immaterielle und reflexive Moment betont, als zweite Phase einer durchaus noch von der modernen ausgehenden Architektur, d.h. als Zweite Moderne in der Architektur anzuerkennen. Hier tritt die Dekonstruktion nicht nach der Postmoderne, sondern mit ihr auf, wobei sie sich jeweils unterschiedlich auf die Moderne beziehen: die Dekonstruktion in Form einer kritischen Weiterführung einiger Aspekte der Moderne und der Postmodernismus als radikalen Bruch mit ihr, der etwas relativ Neues hervorbrachte. In den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts tauchte der Postmo­ dernismus in allen Bereichen des kulturellen und gesellschaftlichen Lebens auf. So auch in den Debatten über den Feminismus. Craig Owens beispielsweise sieht einen Zusammenhang zwischen dem feministischen Kampf gegen das Patriarchat und der postmodernen Kritik an der Hierarchisierung im Zusammenleben der Geschlech­ ter.133 Das zentrale Motiv des postmodernen Denkens, nämlich auf Differenz, Vielfalt und Inkommensurabilität zu insistieren, ist gera­ dezu der Einsatz in den Kämpfen der Frauen. So wie der Postmo­ 132 Vgl. J. Derrida, Am Nullpunkt der Verrücktheit – Jetzt die Architektur, in: W. Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne, Weinheim 1988, S. 215–232. 133 Vgl. C. Owens, Der Diskurs der Anderen – Feministinnen und Postmoderne, in: A. Huyssen u. K. R. Scherpe (Hg.), Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wandels, Reinbek 1986, S. 172–195.

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Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne

dernismus die beispielsweise im Poststrukturalismus dominierende Form, Differenz als hierarchische Opposition darzustellen (Signifi­ kant/Signifikat, Anwesenheit/Abwesenheit), entschieden kritisiert, so will der Feminismus die Differenz zwischen Mann und Frau begreifen, ohne gleich in hierarchisierten Oppositionen zu denken, oder, ohne einem neuen Essentialismus das Wort zu reden. Einer­ seits zieht man die biologischen Unterschiede zwischen Mann und Frau in Erwägung, andererseits stellt man die Behauptung auf, dass die Adjektive »weiblich« und »männlich« sowohl den Mann als auch die Frau charakterisieren.134 Postmodernismus und Feminismus stehen hierbei allerdings noch am Anfang; erste Resultate dieser Gemeinsamkeit nennt Craig Owens: In den Arbeiten einer Fotografin wie Martha Rosler ist zu sehen, was die Repräsentation, oder – um es im Anschluss an Owens mit Heidegger zu sagen – was das »vorstellende Herstellen« von Frauen aus den Frauen gemacht hat: überall erscheinen sie in der modernen kapitalistischen Welt als Objekt eines begehrenden männlichen Blicks. Im Anschluss an Freuds Auffassung, dass der Übergang von der matriarchalischen zur patriarchalischen Gesellschaft mit der Abwertung des Geruchs und der Aufwertung des Blicks verbunden war, beschäftigen sich andere junge amerikanische Fotografinnen und Video-Künstlerinnen mit einer Kritik an der Männlichkeit des Blicks und verweigern dem Betrachter das ›visuelle Vergnügen‹, das bei ihnen als eine männliche Perversion entlarvt wird.135

8. Die ethische Frage der Postmoderne Die Verwendung der Bezeichnung »Postmoderne« ist umstritten, obwohl der Ausdruck inzwischen zu einem gängigen Charakteristi­ kum geworden ist für Tendenzen in Theater, Tanz, Musik, Kunst, Architektur, Fotografie und Film, in Literatur und Literaturwissen­ schaft, in Philosophie, Soziologie, Psychoanalyse und Geschichtswis­ senschaft. Eine exakte Definition gibt es nicht – und kann es wohl auch nicht geben: sie würde nämlich die Vielfalt der Entwicklungslinien zum Verschwinden bringen. Um genau das zu verhindern, wird in 134 Vgl. J.-F. Lyotard, Ein Einsatz in den Kämpfen der Frauen, in: ders., Das Patchwork der Minderheiten, Berlin 1977, S. 52–72. 135 Vgl. Owens, a.a.O.

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9. Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne

der Postmoderne aber nicht mit der Negation oder der gebändigten Rückkehr zur Einheit verfahren, sondern mit der »dissémination« (Derrida), d.h. also lediglich die Zerstreuungen nachkonstruiert und vermessen. Die verschiedenen Merkmale der Postmoderne lassen sich nicht zu einem eindeutigen Begriff zusammenfassen. So lässt sich allein die Vielfalt als Merkmal, das jede einheitliche Definition verhindert, festhalten. Das hat Vorteile und auch Nachteile. Ein Vorteil wäre die Offenheit, ein Nachteil die Beliebigkeit. Aber an Verschiedenes lässt sich nicht ein einziger Maßstab anlegen. Vor allem dann nicht, wenn Moderne und Postmoderne nicht als auf­ einander folgende Epochen betrachtet werden, sondern wenn man diese Begriffe als Stilrichtungen, das bedeutet als gegensätzliche Stilrichtungen versteht. Die Tatsache, dass verschiedene Maßstäbe für Verschiedenes gelten, führte zum Niedergang der ›einen großen Vernunft‹ in der Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts, d.h. zu dem Versuch, die unvollendete Moderne zu vollenden und schließlich zum gleichzeitigen Eintritt in die Postmoderne. Aber die Zerstreuung der Vernunft darf nicht in Beliebigkeit enden. Die Frage der Postmoderne ebenso wie der Moderne lautet deshalb: Wie lässt sich die Vielfalt, mit der uns die Tradition zurückgelassen hat, mit einer Konzeption von Gerechtigkeit verknüpfen? An der Beantwortung dieser Frage arbeiten Lyotard und Habermas an erster Stelle in der Philosophie. Während der erste sich für die ›Vielheit‹ und eine ›achtenswerte Postmoderne‹ einsetzt, engagiert sich der zweite für eine Vollendung des bisher unvollendet gebliebenen Projekts der Moderne, sodass es sich in seiner Einheit bzw. Identität bzw. in seinem kommunikativen Zusammenspiel zeigen kann. Die entscheidende Frage ist also, ob beide Ansätze, wenigstens in ihrem gleichzeitigen Auftreten, mitein­ ander verbunden werden können?

9. Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne Wir haben gesagt, dass es bei der Moderne vor allem um ihre Einheit geht, bei der Postmoderne in erster Linie um ihre Vielheit. Um das Problematische, um die Kosten einer einseitigen Auflösung oder Einebnung dieses Gegensatzes wenigstens skizzieren zu können, sei abschließend nochmals ein zusammenfassender Blick auf diese Antithetik und einige mit ihr verknüpfte Aspekte gestattet.

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Kapitel 3 Die Frage nach Bedeutung und Verhältnis von Moderne und Postmoderne

Die Moderne vertritt einen Universalismus und Essentialismus. Damit verbunden ist aber, dass marginale Diskurse ausgeschlossen werden oder wurden. Solche marginalen Diskurse sind zum Beispiel lokale Diskurse über Ethnizität, über Regionalität etc. Alle diese mar­ ginalen oder lokalen Diskurse werden deshalb ausgeschlossen, weil die Generalperspektive der Moderne darin besteht, Universalismus und Essentialismus zu vertreten, die per definitionem unverträglich sind mit Regionalismus und Marginalismus. Die postmoderne Rich­ tung besteht positiv darin, genau die Werte zu vertreten, die für die moderne Richtung negative Vorzeichen haben. Und das sind die marginalen und lokalen Diskurse. Diese werden nun in der post­ modernen Richtung in den Vordergrund gerückt. Die sogenannten »Metaerzählungen« der Moderne werden dann von den Vertretern der postmodernen Position mit einem negativen Vorzeichen verse­ hen. Auch wenn das Denken zur Parteinahme für eine der beiden Gegensatzseiten drängt, sollte Philosophie dieser Versuchung nicht erliegen und sich nicht vorschnell für die eine oder andere Richtung entscheiden. Beide Richtungen vertreten berechtigte Belange. Weder kann man sinnvollerweise Universalität aufgeben, ohne sich der Gefahr der theoretischen Zersplitterung und der praktischen Beliebig­ keit und Unverbindlichkeit auszusetzen, noch kann man so etwas wie das Eigenrecht lokaler oder marginaler Diskurse aufgeben, ohne in die Gefahr einer theoretischen wie praktischen, alle Unterschiede einebnenden »Macht der Vereinigung« zu geraten. Beides ist wichtig und beides muss integriert werden. Nur wo man es fertigbringt, beide gegensätzlichen Seiten komplementär zu verknüpfen, kann man von einem Gelingen der Dialektik von Universalismus und Relativismus, Allgemeinem und Besonderem, Moderne und Postmoderne sprechen. Und genau deshalb kann es nicht darum gehen, sich entweder für die moderne oder für die postmoderne Richtung zu entscheiden. Viel­ mehr müsste es hier darum gehen, die Sackgasse eines undialektischen »Entweder-oder« zu vermeiden.

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Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts Der Wandel der Bildfunktion von der Moderne über die Postmoderne bis zur Zweiten Moderne

1. Einleitung Die moderne Kunst, die Anfang des 20. Jahrhunderts angetreten war, um tatsächlich Stück für Stück die malerischen Ebenen des neuzeitlichen Illusionismus abzutragen, hat die Grenzen, die sie sich dabei selbst gesetzt hat, immer wieder überschreiten und verschieben müssen. Über Grenzüberschreitungen der modernen Kunst zu spre­ chen, heißt in diesem kunstphilosophischen Versuch daher, in einer geschichtlichen Rekonstruktion folgendes zu untersuchen: Wie sich (erstens) die künstlerischen Ansätze einerseits zur Aufrechterhaltung und andererseits zur Überwindung der Grenze zwischen Kunst und Alltag zeigen und (zweitens) wie sich die ebenso in der Kunsttheorie wie bei den Künstlern anzutreffende Vorstellung von einem Ende der Kunst genauer darstellt. Das »Ende der Kunst«, von Hegel bereits Anfang des 19. Jahrhunderts angekündigt, steht für eine Krise der Repräsentation des Absoluten, die auch in diesem Jahrhundert (an dessen Anfang von Künstlern wie Duchamp und Malewitsch und an dessen Ende unter anderen von den Kunsttheoretikern Belting und Danto) behauptet wurde. Danto und Belting haben diesen Diskurs allerdings noch erweitert. Sie sprechen nicht nur vom ›Ende der Kunst‹ und vom ›Ende der Kunstgeschichte‹, sondern auch bereits von einer ›Kunst nach dem Ende der Kunst‹ und von einer »Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte«.136 In theoretischer Hinsicht kann man grundsätzlich zu der Auf­ fassung tendieren, dass historische Entwicklungen überhaupt erst erkannt und verschiedene Entwicklungen voneinander unterscheiden 136 Vgl. A. C. Danto, Reiz und Reflexion, München 1994 und H. Belting, Das Ende der Kunstgeschichte. Eine Revision nach zehn Jahren, München 1995.

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Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

werden können, wenn man einen ›Überblick‹ hat. Im Mittelpunkt die­ ses konstruktiven Versuchs steht daher nicht die kunstgeschichtliche Analyse eines einzelnen Werkes, sondern die Frage der Entwicklung der Kunst in der Moderne sowie die Frage nach dem kunsttheoreti­ schen Beschreibungsmodell dieser Entwicklung. Dieser Versuch wird aus diesem Grunde den Charakter eines ›historischen Überblicks‹ erhalten. Ich stelle mir nämlich vor, erst in der Kenntnis eines solchen Überblicks die Besonderheit eines einzelnen zeitgenössischen Kunst­ werks wirklich und auch besser einschätzen zu können. Doch diese Analyse des einzelnen Werkes wäre ein zweiter Schritt, der hier nur in Ansätzen erfolgen kann. Ich möchte in diesem Kapitel vor allem auch zu erklären ver­ suchen, was ›Kunst nach dem Ende der Kunst‹ heißen bzw. sein könnte. Diese Untersuchung soll mit der Darstellung jener ›Krise‹ beginnen, in der sich die gegenwärtige Kunst und damit selbstver­ ständlich auch die Kunstgeschichte seit den 1990er Jahren befindet. Für diese Krise, die beispielsweise Klotz dargestellt hat, gibt es allerdings bereits auch schon einen Ausweg. Er wird in den beiden Mitte der 1990er Jahre neu erschienenen Büchern von Belting und Klotz, die sich mit der Entwicklung der modernen Kunst kritisch aus­ einandersetzen, umfangreich beschrieben und detailliert erläutert.137 Wir werden es im Folgenden daher mit vier Modellen zu tun haben, die ich der Anschaulichkeit halber durch ein Schema darstellen möchte. In der Erklärung dieses Schemas soll sowohl die Krise der Kunst sowie der Kunstgeschichte als auch ein Ausweg aus dieser Krise demonstriert werden. Das in diesem Schema konstruktivistisch gedachte erste Modell ist von Clement Greenberg. Man könnte es das ›lineare Fortschrittsmodell‹ nennen. Das zweite Modell ist das ›geradlinige Verlaufsmodell‹, auf das man beispielsweise in den Schriften von Werner Hofmann stößt bzw. konstruktivistisch in sie hineindenken könnte. Das dritte Modell ist das um den Pluralismus erweiterte zweite Modell. Diese beiden Modelle sind allerdings höchst problematisch. Das vierte Modell, das von mir ebenfalls in konstrukti­ vistischer Hinsicht mit den neueren Kunsttheorien von Belting, Klotz, Danto und Groys in Beziehung gebracht werden soll, kann als Ausweg aus der Krise vorgestellt werden.138

Vgl. H. Belting, Das Ende der Kunstgeschichte, a.a.O., und H. Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne, München 1994.

137

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1. Einleitung

Beginnen wir mit dem ersten Modell, das Greenberg in der Nach­ kriegszeit vertreten hat. Für Greenberg stellt sich die Entwicklung der modernen Kunst als ein linearer Fortschrittsprozess dar. Die Entwicklung verläuft von der gegenständlichen zur ungegenständ­ lichen Malerei, deren Höhepunkt für Greenberg in der amerikani­ schen Kunst des abstrakten Expressionismus erreicht worden ist. Der Kubismus ist in diesem Modell eine Zwischenstufe, die den Gegenstandsbezug noch nicht vollständig überwunden hat. Das ist 138 Vgl. B. Groys, Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie, München und Wien 1992.

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Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

erst der Kunst vollständig gelungen, für die Greenberg den Titel »American Type Painting« gefunden hat. Diese Malerei zeichnet sich in erster Linie durch ihre Flachheit aus. Für Greenberg ist die Ausführung der Flachheit das höchste, was in der Malerei zu erreichen ist und damit zugleich auch das Ende der Malerei. In dieser Perspek­ tive musste eine Kunst wie die Pop Art, die wieder zur Figuration in der Malerei zurückgefunden hatte, als Verfallskunst erscheinen. Greenberg ist offensichtlich davon ausgegangen, dass es eine neue Malerei nach dem Ende der Malerei, das durch die Flachheit in den Gemälden des abstrakten amerikanischen Expressionismus begrün­ det wurde, nicht geben kann. Diese Auffassung, nämlich alle nach der »American Type Painting« entstehende Kunst als Verfallskunst werten zu müssen, kann letztendlich nicht überzeugen und musste notwendigerweise scheitern. Gehen wir also zum zweiten Modell über, das in den Schriften von Werner Hofmann entwickelt wird, wie wir konstruktiv unterstellen, das sicherlich aber auch für Haftmann und Imdahl gilt. Hofmann hat dieses Modell, welches man als ein ›geradliniges Verlaufsmodell‹ bezeichnen könnte, am deutlichsten in seinem Buch »Von der Nach­ ahmung zur Wirklichkeit« ausgeführt.139 Hier vertritt Hofmann die Auffassung, dass es gar keinen Fortschritt in der Geschichte der Kunst gibt, sondern lediglich einen Verlauf, in dem von Zeit zu Zeit gewisse Wiederholungen bzw. Erneuerungen auftauchen. Eine dieser Erneuerungen ist die, wie Hofmann es formuliert, »schöpferische Befreiung der Kunst von 1890 bis 1917«, d.h. die Entwicklung der Moderne in der Kunst. Den Übergang von der gegenständlichen zur ungegenständlichen Kunst siedelt Hofmann nämlich auf derselben Ebene an, auf der er den Übergang vom Sinnbild des Mittelalters zum Abbild der Neuzeit identifiziert. Daraus ist nach Hofmann zu schließen, dass es nicht sinnvoll ist, über so etwas wie Fortschritt in der Kunst zu sprechen. Der Übergang zur modernen Kunst stellt nicht etwas radikal Neues dar, denn dieser Übergang entspricht formal dem Übergang, der sich vom Sinnbild zum Abbild ereignete. In dieser Sichtweise wäre der Ursprung der Moderne im Mittelalter zu suchen. Diese Behauptung wird von Hofmann in seinem neuesten Buch »Das entzweite Jahrhundert – Kunst zwischen 1750 und 1830« nicht nur

Vgl. W. Hofmann, Von der Nachahmung zur Wirklichkeit. Die schöpferische Befreiung der Kunst 1890–1917, Köln 1974.

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1. Einleitung

wiederaufgenommen, sondern zudem noch bekräftigt.140 Gegenüber diesem Modell, das sicherlich auch von Parallelentwicklungen spricht, ist das dritte zum ersten Mal in der Geschichte wirklich und bewusst durch den Pluralismus gekennzeichnet, d.h. ab den 1970er Jahren geht man sowohl in der künstlerischen Praxis als auch in der Kunsttheorie nicht mehr davon aus, dass es noch eine historische vorherrschende Stilrichtung in der Kunst gibt bzw. geben muss. So stellt Danto – auf eine Podiumsdiskussion in der School of Visual Arts in New York rückblickend – fest, dass der Pluralismus in der Kunst noch 1981 eine »beunruhigende Vorstellung«141 war, wenngleich er schon seit den 1970er Jahren gängige künstlerische Praxis war und insbesondere den auf Malewitsch zurückgehenden dogmatischen Kunstmonismus mehr oder weniger außer Kraft gesetzt hatte. Schon zu dieser Zeit gab es keinen Mainstream mehr innerhalb der modernen Kunst, sondern es wanden sich »zahllose kleine Einzelströmungen in einem gemein­ samen Flußbett«142, um es mit Dantos eigenen Worten zu sagen. Gegenüber den aus heutiger Sicht problematisch erscheinenden ersten beiden Auffassungen möchte ich ein viertes Modell ansprechen, das mit den kunstwissenschaftlichen Arbeiten von Belting, Klotz, Weibel, Danto und Groys aus den 1990er Jahren vereinbar ist, die sich nicht nur mit dem Pluralismus angefreundet hatten, sondern ebenso mit dem Auf und Ab in der Geschichte und der Medienkunst. Ich habe es das ›mehrgleisige, zickzacklinige Entwicklungsmodell‹ genannt, das nicht nur Aufwärts-, sondern auch Abwärtsentwicklun­ gen, Haupt- und Nebenentwicklungen, gegensätzliche und parallele Entwicklungen kennt. Außerdem ist in diesem Modell auch die Rede vom Ende der Kunst. Im Unterschied zu Greenbergs Auffassung vom Ende der Kunst sind sich alle Genannten im Zusammenhang mit dem dritten Modell darin einig, dass das Ende der Kunst nicht ein absolutes Ende bedeutet, sondern dass es eine Kunst nach dem Ende der Kunst geben kann und auch geben muss. Als Beispiel für eine solche Kunst wird von allen Genannten die ›Medienkunst‹ vorgeschlagen. Ein weiterer wichtiger Gesichtspunkt, der in erster Linie von Belting immer wieder angesprochen wird, ist die Verabschiedung der einglei­ sigen Stilgeschichte zugunsten einer mehrgleisigen Kunstgeschichte. 140 Vgl. W. Hofmann, Das entzweite Jahrhundert – Kunst zwischen 1750 und 1830, München 1995. 141 Vgl. A. C. Danto, Mit dem Pluralismus leben lernen, in: ders., Kunst nach dem Ende der Kunst, München 1996, S. 259. 142 Vgl. ebd. S. 264.

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Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

Er bezeichnet sie in seinem Buch »Das Ende der Kunstgeschichte« als »dritte Kunstgeschichte« und hat sie, ebenso wie die anderen genann­ ten Kunsttheoretiker, zum »erwünschten Anlaß« genommem, die Geschichte der modernen Kunst umzuschreiben, d.h. noch einmal zu schreiben. Dabei interessiert sich Belting in erster Linie aber nicht für das Ende der Kunst, sondern für das Ende der Kunstgeschichte. Ich werde im Folgenden also den Versuch unternehmen, die Geschichte der modernen Kunst sowohl im Hinblick auf das ›Ende der Kunst‹ als auch im Hinblick auf die ›Kunst nach dem Ende der Kunst‹ zu rekonstruieren. Dabei ist es unerlässlich, sowohl auf die Kunstwerke vor dem Anfang der Kunst als Kunst als auch auf die Kunstwerke nach dem Ende dieser Kunst einzugehen. Über Kunst nach dem Ende der Kunst zu sprechen, setzt allerdings ein Geschichts­ modell voraus, das sich sowohl vom linearen Fortschrittsmodell, das auf einen Endpunkt zusteuert, als auch vom geradlinigen hierarchi­ schen Verlaufsmodell, das eine Hauptströmung annimmt, klar und deutlich unterscheidet. Ich bin der Überzeugung, dass der in dieser experimentellen Versuchsanordnung gewählte Problemzusammenhang ausschließlich aus der ›Vogelperspektive‹ angemessen zu erörtern ist. Dabei nehme ich bewusst in Kauf, zunächst eventuell die Nähe zum einzelnen Werk oder das Besondere des einzelnen Werkes aus den Augen zu verlieren. Mir geht es nämlich nicht darum, das Besondere des einzelnen Werkes in der Geschichte, wie die werkorientierten Kunsthistoriker es machen, unmittelbar bzw. unvermittelt zu erfassen, sondern den Gang der modernen Kunst zu ihrem Ende und über dieses Ende hinaus konstruktiv zu verfolgen. Erst darüber verspreche ich mir bessere Einsichten hinsichtlich der Einschätzung der zeitgenössischen Kunst zu bekommen. Mit diesen besseren Einsichten könnten wir uns dann selbstverständlich wieder der Besonderheit des einzelnen Werkes nähern und dazu übergehen, neue Interpretationsvorschläge zu unterbreiten.

2. Das abbildende Bild Der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit ist auf der Seite der Neuzeit mit der Einführung einer neuen Bildfunktion verbunden. Die mittelalterliche Auffassung des Bildes als Sinnbild wird außer Kraft

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2. Das abbildende Bild

gesetzt und durch eine neue Bildauffassung ersetzt. Das Bild der Neu­ zeit ist das die sinnliche Wirklichkeit abbildende Bild. Insofern ist der Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit als der Übergang vom Sinnbild zum Abbild zu beschreiben. War der mittelalterliche Mensch eher jen­ seitsgewandt, stand der neuzeitliche im Zeichen der Entdeckung der Welt und des Menschen durch die Kunst, um es mit Jacob Burckhardt zu sagen.143 Das Bild war entweder Abbild der sinnlichen Erschei­ nungswirklichkeit oder Repräsentation der gesellschaftlichen Macht­ verhältnisse. In beiden Fällen jedoch wurde es als ein Fenster gesehen, durch das hindurch die Welt ansichtig werden sollte.144 Alberti hat das Bild als einen ebenen Schnitt durch die Sehpyramide bestimmt. Er schuf damit eine »Distanz« zwischen dem Menschen und der Welt, die dem mittelalterlichen Menschen unbekannt gewesen sein dürfte. »Die Kunstanschauung der Renaissance charakterisiert sich also der mittelalterlichen gegenüber dadurch, daß sie das Objekt gewisserma­ ßen aus der inneren Vorstellungswelt des Subjekts herausnimmt und ihm eine Stelle in einer festgegründeten ›Außenwelt‹ anweist, daß sie (wie in der Praxis der ›Perspektive‹) zwischen Subjekt und Objekt eine Distanz legt, die zugleich das Objekt vergegenständlicht und das Subjekt verpersönlicht.«145 Die ästhetische Grenze zwischen Bild und Betrachter war in der Renaissance bewusst, sollte aber überschritten werden, um dadurch die Illusion eines begehbaren Bildraumes entstehen zu lassen. Die Entwicklung der Perspektive war in diesem Zusammenhang das entscheidende Mittel. Zunächst noch sehr unbeholfen, wurde sie rasch verbessert und gezielt eingesetzt, um die entsprechende Wirkung im Betrachter zu erzeugen. Am Beispiel von zwei Bildern kann man Danto zufolge zeigen, wie die Illusion des begehbaren Bildraumes perfektioniert wurde. In dem Gemälde »Die Legende des heiligen Kreuzes« von Piero della Francesca ist der perspektivische Blickpunkt noch so hoch, dass der reale Betrachter ihn unmöglich einnehmen kann. Der Betrachter kann deshalb auch nicht wirklich an der bildnerischen Illusion teilnehmen. Danto spricht in diesem Zusammenhang von der »Körperlosigkeit des Auges«, die 143 Vgl. J. Burckhardt, Die Kultur der Renaissance in Italien, Stuttgart 1988, IV. Abschnitt. 144 Vgl. E. Panofsky, Die Perspektive als »symbolische Form«, in: ders., Aufsätze zu Grundfragen der Kunstwissenschaft, Berlin 1985, S. 99. 145 E. Panofsky, Idea. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin 1985, S. 25f.

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Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

später von einem anderen Maler überwunden werden kann, so dass der Betrachter die Möglichkeit hat, ein Teil der Illusion zu werden. Gemeint ist hier die »Rosenkranzmadonna« von Caravaggio. Für Danto wird hier die Körperlichkeit des Auges dadurch realisiert, dass der Betrachter vor dem Bild genau den Blickpunkt der Perspektive des Bildes einzunehmen vermag.146 Damit wird er auf ganz konkrete Weise mit dem Werk in Verbindung bzw. Übereinstimmung gebracht und kann Teil des Geschehens werden. Der ontologische Status des Bildes ist durch den Begriff der ›Mimesis‹ geregelt. Danach ist die Wirklichkeit der sichtbaren Welt ihrem Abbild zwar übergeordnet, aber die Welt des Bildes und die Welt des Betrachters sind homogen zueinander. Für Panofsky ist die Raumdarstellung und die Raumkonstruktion in der Malerei der Neu­ zeit Ausdruck des Wirklichkeitsverständnisses und des Weltbildes der Epoche. Ästhetische Wahrnehmung ist für den neuzeitlichen Men­ schen demzufolge ein wiedererkennender Blick. Beide Welten, die Welt des Bildes und die Welt des Betrachters, gehören nämlich zu der einen und bevorzugten neuzeitlichen Welt, die als dreidimensionaler Raum wissenschaftlich konstruiert und als Modell zur Erkenntnis auf die Außenwelt angewendet werden kann. In Leonardos anatomischen Zeichnungen kommt durch strenge und exakte Naturbeobachtung die Wirklichkeit als naturwissenschaftliche Erkenntnis zum Vorschein. Aus diesem Grunde konnten diese Zeichnungen auch den Ärzten zur Belehrung über den menschlichen Körper dienen. Das exakte Abbild der Wirklichkeit wird hier zum Vorbild für den ärztlichen Eingriff in die Wirklichkeit. Dass diese Wirklichkeit einmal Vorbild für das Abbild gewesen ist, kann auf der einmal erreichten Ebene der Wirklichkeit als Bild keine entscheidende Rolle mehr spielen. Die neuzeitliche Kunst erhält im Verhältnis des Menschen zu seiner Welt die Funktion der Entdeckung. Immer neue Themen und neue Sichten werden im Zusammenhang der Wirklichkeit durch die Abbildung ermöglicht. Der neuzeitliche Mensch kommt nicht über die Wirklichkeit selbst, sondern über das Bild der Wirklichkeit zur Erkenntnis der Wirklichkeit. Aus dem Bild der Wirklichkeit wird dann zwangsläufig die Wirklichkeit als Bild, wie es Heidegger in seinem berühmten Aufsatz »Die Zeit des Weltbildes« festgestellt hat. »Wenn wir uns auf die Neuzeit besinnen«, sagt Heidegger, »fragen wir nach dem neuzeitlichen Weltbild. [...] Wo es zum Weltbild kommt, 146

Vgl. Danto, Reiz und Reflexion, a.a.O., S. 393f.

152 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

2. Das abbildende Bild

vollzieht sich eine wesentliche Entscheidung über das Seiende im Ganzen. [...] Der Grundvorgang der Neuzeit ist die Eroberung der Welt als Bild. Das Wort Bild bedeutet jetzt: das Gebild des vorstel­ lenden Herstellens.«147 Mit Weltbild meint Heidegger nicht nur ›Bild der Welt‹ im Sinne von Abbild, sondern vor allem ›Welt als Bild‹. Der neuzeitliche Mensch begreift nämlich die Welt als Bild. Das neuzeit­ liche Weltbild entspricht der Auffassung des neuzeitlichen Menschen, der das Seiende vor sich hinstellt, um es ständig vor sich zu haben. Auf diese Weise wird die neuzeitliche Subjekt-Objekt-Beziehung begründet. Damit vollzieht sich eine wesentliche Entscheidung über das Seiende im Ganzen, wie Heidegger sagt: »Das Sein des Seienden wird in der Vorgestelltheit des Seienden gesucht und gefunden.«148 Der neuzeitliche Mensch ist nach Heidegger der Ansicht, über die Welt ›im Bilde sein‹ zu müssen. Weil er Sein als Vorgestelltheit des Seienden bestimmt, muss er die Welt vor sich hinstellen, d.h. ständig vor sich haben, um festzustellen, wie sie in Wirklichkeit ist. Vorstel­ lend setzt sich der Mensch über die Welt ins Bild; und herstellend nimmt er im Bild die Welt als Bestand in Besitz. Diese Entwicklung, also die Eroberung der Welt als Bild, bedient sich der Malerei so lange, bis die Fotografie erfunden wird, die die Funktion der Entdeckung der Welt und des Menschen »schneller, billiger und dazu noch genauer« erfüllen konnte.149 Damit wird die Malerei als in der neuzeitlichen Geschichte ausgebildete institutionelle Praxis der Herstellung von Bildern in Frage gestellt. Mit ihrer bis dahin selbstverständlichen Ausrichtung auf Abbildung und Repräsentation gerät die Malerei in eine tiefe Krise, aus der die moderne Kunst nur über den Bruch mit der Abbildfunktion herauskommen konnte. Mit dem Verlust der Abbildfunktion konnte sich die Repräsentationsfunktion auch nicht mehr halten.

147 M. Heidegger, Die Zeit des Weltbildes, in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M. 1972, S. 88–94. 148 Ebd. S. 90. 149 Vgl. H. Molderings, Vom Tafelbild zur Objektkunst: Kritik der »reinen Malerei«, in: W. Busch (Hg.), Funkkolleg Kunst. Eine Geschichte der Kunst im Wandel ihrer Funk­ tionen, München 1997, S. 258.

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Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

3. Das Bild als Farbe Den ersten radikalen Bruch mit der Abbildfunktion der Malerei vollzog der Impressionismus, für den der Bezugspunkt der Malerei nicht mehr der Gegenstand, sondern die Farbe ist. Durch die Befreiung des Bildes vom Diktat der Repräsentation und der Abbildung konnte die Farbe den Gegenstand erfolgreich verdrängen. Peter Weibel ist in einem bemerkenswerten Aufsatz von 1992, der von Imdahls berühmter Studie über Farbe ausgeht, auf diese Veränderungen in der künstlerischen Verwendung von Farbe detailliert eingegangen.150 Farbe wurde nicht mehr als Lokalfarbe, die in der traditionellen Male­ rei der Darstellung von Gegenständen verpflichtet war, verwandt, sondern Farbe wurde in der Malerei des Impressionismus um der Farbe willen eingesetzt. Damit war der Weg beschritten, der aus dem Bild schließlich eine reine Farbfläche werden lassen konnte. Im Impressionismus wird dieses Ziel allerdings noch nicht erreicht. Wie Imdahl in seiner Studie über Farbe berichtet, ist erst Kandinsky vor dem Heuhaufenbild von Claude Monet, das er 1895 in der französischen Ausstellung in Moskau gesehen hatte, klargeworden, dass die Farbe den »Gegenstand als unvermeidliches Element des Bildes« diskreditieren kann.151 Der Impressionismus verliert den Gegenstandsbezug noch nicht vollständig, sondern stellt lediglich die Farbe über den Gegenstand. Die Farbe verabschiedet sich vom Gesetz der Lokalfarbe und erhält einen besonderen Stellenwert. Im traditio­ nellen gegenständlichen Tafelbild ist der Bezugspunkt der farbigen Darstellung die äußere sinnliche oder übersinnliche Wirklichkeit. Die Farbe war ein Mittel zur Darstellung von Personen oder Gegen­ ständen. Sie hatte keinen absoluten Wert, d.h. keinen Eigenwert als Farbe. Erst im Impressionismus ist die Farbe immer mehr an die Stelle des Gegenstandes getreten und zum neuen Mittelpunkt der malerischen Überlegung aufgestiegen. Der Gegenstand wird aber noch nicht vollständig überwunden, sondern tritt lediglich in den Hintergrund. Das Problem von Malern wie van Gogh oder Gauguin ist für Weibel nicht mehr die Frage der Repräsentation von Gegen­ ständen und Menschen, sondern die Frage nach dem Aufbau einer Vgl. P. Weibel, Von der Verabsolutierung der Farbe zur Selbstauflösung der Malerei, in: H. M. Bachmayer, D. Kamper, F. Rötzer (Hg.), Nach der Destruktion des ästhetischen Scheins. Van Gogh, Malewitsch, Duchamp, München 1996. Vgl. auch M. Imdahl, Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich, München 1987. 151 Imdahl, Farbe, a.a.O., S. 7.

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154 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

3. Das Bild als Farbe

Farbfläche, die Frage nach der Wirkung von Farbe und Licht. Aber die Darstellungen dieser Malerei, die einen Gegenstandsbezug behalten, sind autonome. Die Entwicklung vom Altarbild zum autonomen Tafelbild geht über die drei Stufen der symbolischen Darstellung im Mittelalter, der gegenständlich repräsentierenden Darstellung in der Neuzeit und schließlich der autonomen Darstellung seit dem Impres­ sionismus. Eine gegenständliche Malerei, die unter dem Diktat der Abbildung und der Repräsentation steht, kann nur heteronome Bilder hervorbringen. Erst eine gegenständliche Malerei, die ihre gegen­ ständliche Welt, wie beispielsweise das ›blaue Pferd‹, erfindet, kann ein autonomes Bild erzeugen. Im fortschreitenden Verlauf der Moderne wendet sich die Farbe immer entschiedener vom Gegenstand ab und bezieht sich schließlich nur noch auf sich selbst. Delaunays Gemälde »Die simultanen Fenster auf die Straße« besteht ausschließlich aus der Wirkung des Simultan­ kontrastes der Farbe. Die Verabsolutierung der Farbe hat aber nicht nur den Gegenstand, sondern auch die Form aus dem Bild verdrängt. Während beim gemalten Apfel die Identität von Farbe und Form noch besteht, ist sie, um es mit Weibel zu sagen, beim blauen Pferd durch eine Nicht-Identität ersetzt. Die Relation von Farbe und Form ist hier aber nicht aufgehoben, sondern erhalten als Nicht-Identität. Mit der zunehmenden Einschränkung auf die Fläche verschwindet aber auch die vom Gegenstand abgeleitete Form zugunsten einer Verabsolutierung der Farbe, die eine Verbindung der abstrahierten Farbe mit abstrahierten Formen der Geometrie herstellen. Diese Entwicklung, ich meine die Entwicklung zum gegenstandslosen Bild, führt auch zum monochromen Bild, mit dem die Entfernung der Farbe aus dem Bild die Malerei an den Rand ihres Verschwindens brachte. Das ist die Entwicklung von Rodtschenko bis Manzoni. Für Malewitsch beispielsweise bedeutet Gegenstandslosigkeit auch Farblosigkeit. Die Stufen der Abstraktion sind in diesem Sinne als Stufen der Selbstauflösung der Malerei zu betrachten.152

152 Vgl. W. de Boer, Zur Entsinnlichung der modernen Kunst. Eine anthropologische Untersuchung, in: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Januar 1553, S. 24-38.

155 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

4. Das abstrahierende Bild Die nächste, auf den Impressionismus folgende Stufe dieser Selbst­ auflösung der Malerei ist der Kubismus, der das abstrahierende Bild hervorgebracht hat. Cézanne hatte bei seinem Versuch der Überwin­ dung der illusionistischen Darstellungsweise zwei Strategien mitein­ ander verbunden. Erstens war er davon ausgegangen, dass alles in der Welt nur aus stereometrischen Grundformen wie Zylinder, Kegel und Kugel besteht, zweitens hatte er das Ziel, das Dargestellte an die Fläche zu binden.153 Picassos künstlerische Strategie folgt dieser Auf­ fassung, ergänzt sie jedoch durch die Aufhebung einer einheitlichen Perspektive, sodass die Gegenstände nun aus verschiedenen Blick­ winkeln gleichzeitig dargestellt werden. Auch in den Bildern Braques werden von den Gegenständen nur noch Fragmente unterschiedlicher Ansichten, die einander neu zugeordnet werden müssen, dargestellt. Einen Rückbezug auf die Wirklichkeit der einseitigen Abbildung eines Gegenstandes unter einem einheitlichen Blickwinkel schließen die kubistischen Künstler kategorisch aus, womit sie eine starke ästhetische Grenze zwischen Kunst und Alltag aufgebaut haben.154 In der kubistischen ›Formzertrümmerung‹ bleibt der Gegen­ standsbezug, wie verzerrt auch immer, erhalten. Das kubistische Bild kann deshalb noch nicht als abstraktes, d.h. den Gegenstand überwundenes, sondern nur als abstrahierendes Bild beschrieben werden. Allerdings stellt das kubistische Bild neue Anforderungen an die ästhetische Wahrnehmung. Ein lediglich wiedererkennender Blick reicht vor diesen Bildern nicht aus; es muss so etwas wie ein sehendes Sehen, ein von der normalen Seherfahrung freigesetz­ tes, autonomes, gegenstandsfreies Sehen, hinzukommen, um den Betrachter vor einem kubistischen Bild nicht scheitern zu lassen. Max Imdahl hat über den Zusammenhang von Bildautonomie und Gegen­ standssehen einen nach wie vor beeindruckenden Aufsatz geschrie­ ben und gezeigt, wie in der Verknüpfung von wiedererkennendem und sehendem Sehen die kubistischen Bilder den Betrachtern zugänglich werden können.155 Die ästhetische Grenze, die die kubistischen Bilder zwischen Kunst und Alltag aufstellen, kann dennoch nicht überwun­ den werden. Vgl. K. Badt, Die Kunst Cézannes, München 1956. Vgl. H. Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne, München 1994, S. 31ff.

153 154

156 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

5. Das abstrakte Bild I

Die autonome Kunst versucht, Fragmente aus der Alltagswelt in die Kunstwelt zu überführen und in das Kunstwerk zu integrieren. Sie überwindet damit aber nicht die Grenze zwischen Kunst und Alltag, sondern verstärkt sie noch, denn der aus dem Alltagszusammenhang herausgerissene Zeitungsausschnitt beispielsweise hat im neuen Kontext der Kunst seine Identität als Alltagsgegenstand, die er nur im Kontext des Alltagszusammenhangs haben kann, verloren. An einem Werk von Picasso, wie dem »Stillleben mit Rohrstuhlgeflecht« von 1912, könnte man das beispielhaft zeigen. Hier ist also ein Alltagsge­ genstand in die Kunstwelt überführt worden und musste durch die Integration in den Kunstzusammenhang seine Identität als Alltags­ gegenstand aufgeben. Damit ist die Grenze zwischen Kunst und Alltag nicht aufgehoben, wie gesagt wurde, sondern im Gegenteil noch ver­ stärkt worden und für den normalen, kunsthistorisch und kunsttheo­ retisch ungebildeten Betrachter weiterhin undurchlässig.

5. Das abstrakte Bild I Solange die Malerei im Dienste der abbildenden Funktion unbefragt und als selbstverständlich akzeptiert wurde, war es noch nicht mög­ lich, das Wesen der Malerei freizulegen. Erst nachdem der Gegen­ standsbezug, der im kubistischen Bild ja noch vorhanden war, durch die abstrakte Malerei vollständig überwunden wurde, kann so etwas wie das Wesen der Malerei zum Vorschein kommen. Dieses Wesen wurde auf der Suche nach visueller Transzendenz in der Idealität rei­ ner Formen gefunden. Die Kompositionen reiner Formen und Farben galten als Ausdruck einer transzendenten Ordnung. Damit wird ein latenter und diffuser Platonismus deutlich, durch den alle namhaften Abstrakten, in erster Linie Kandinsky, Mondrian und Malewitsch geprägt sind. Diese Auffassung besteht in der Behauptung einer metaphysischen Hinterwelt. So hat beispielsweise Mondrian seine abstrakten Bilder als Gesetzestafeln der wahren Wirklichkeit oder als Ausschnitte aus einer universellen, unter normalen Umständen verschleierten, Gesetzmäßigkeit verstanden. Die ästhetische Grenze, die durch den Kubismus zwischen Alltag und Kunst gezogen worden 155 Vgl. M. Imdahl, Cézanne – Braque – Picasso. Zum Verhältnis zwischen Bildau­ tonomie und Gegenstandssehen, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M. 1996, S. 303ff.

157 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

war, wird durch die Abstrakten verlagert und als Grenze zwischen Sein und Schein, Realität und Fiktion, Kunst und Welt bestimmt. Ich beziehe mich im Hinblick auf die Gestaltung und Veränderung der ästhetischen Grenze in der modernen Malerei im Folgenden in erster Linie auf den Ansatz, den der Kunsthistoriker Johannes Meinhardt 1995 in einem Aufsatz dargestellt hat.156 Abstrakte Malerei, wie sie nach 1913 ausgebildet wurde, sollte in einem gründlichen Reinigungsprozess die Malerei endgültig von allem Sensuellen befreien. Das Bild sollte in die Idealität reiner Formen übergehend »reine Anschauung ohne Inhalt«157 werden, wie Meinhardt es ausgedrückt hat. Was der Betrachter in diesen Bil­ dern zu sehen bekommt, sind nicht wiedererkennbare Abbildungen der gegenständlichen Welt, sondern ideale Formen, die, um es mit Meinhardt zu sagen, als »transzendenter Besitz des Bewußtseins«158 vorausgesetzt werden. Diese idealen Formen, die im Gemälde durch den Künstler entäußert werden, sollen vom Betrachter als eine »intel­ ligible Ordnung« in dem System idealer Elemente, reiner geometri­ scher Formen, reiner Farben und reiner Beziehungen identifiziert werden. So unwahrscheinlich es dem heutigen Menschen erscheinen mag, aber offensichtlich haben Kandinsky, Mondrian und Malewitsch wirklich daran geglaubt, dass es eine geistige Hinterwelt, d.h. eine wahre Wirklichkeit oder universell gültige Gesetzmäßigkeit unter der verschleierten Oberfläche der gewöhnlichen sinnlichen Erschei­ nungswelt gibt. Die Reinigung der Malerei erreichte ihren Höhepunkt in der weißen oder schwarzen Monochromie. Weiße oder schwarze Mono­ chromie befreit die Malerei von allen sensuellen Einzelheiten und Reizungen. Aber diese Befreiung reduziert die Malerei Meinhardt zufolge auf einen formalen, in Wirklichkeit leeren Schematismus: Als der Endpunkt jeder erdenklichen Reduktion ist sie in den Augen des modernen Künstlers die Schwelle zu einer »reinen Spiritualität ohne Bindung an Sensualität«. In den Bildern von Ad Reinhardt ist das Verfahren der Reduktion in der Form der »aktiven Negativi­ tät« am weitesten entwickelt worden.159 Seine Bilder sind nur noch durch Abwesenheiten gekennzeichnet: sie sind Nichtkomposition, Vgl. J. Meinhardt, Ende der Malerei und Malerei nach dem Ende der Malerei, in: Kunstforum, Bd. 131, Aug.-Okt. 1995. 157 Ebd., S. 210. 158 Ebd., S. 209. 159 Vgl. ebd., S. 210 u. S. 226–229. 156

158 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

6. Das abstrakte Bild II

Nichtform, Nichtfarbe, Nichtillusion usw. Der Gang der Reduktion vollendet sich in dem Erreichen der angezielten reinen Immaterialität einer ›Bildfläche‹, die alle positiven Bestimmungen abgeworfen hat (auch die des materiellen Bildträgers) und dadurch in reine Intelligi­ bilität aufgehen sollte. Am Ende des 20. Jahrhundert ist der Glaube der Avantgardisten der ersten Jahrhunderthälfte, im Bild könne eine durch die Sinnlichkeit verschleierte wahre Wirklichkeit wiederaufer­ stehen und dadurch zu einer grundlegenden Veränderung des Lebens führen, endgültig zerstört. Doch Ad Reinhardt, Barnett Newman und viele andere Künstler in den 1960er Jahren waren in ihrer Kunst die­ sem Glauben noch streng verpflichtet. Wenn wir diese Kunst aber nicht von unseren heutigen Voraussetzungen einfach nur verkennen wollen, müssen wir sie zunächst von ihren eigenen Voraussetzungen her verstehen, um sie dann erst von unseren Voraussetzungen kri­ tisch-historisch in den Blick nehmen zu können.

6. Das abstrakte Bild II Mit den Bildern von Ad Reinhardt sind alle Möglichkeiten der Reduktion vom Sensuellen bis an die letzten Grenzen ausgespielt worden. Wollte die Malerei nach den Bildern Reinhardts sich nicht in endlosen Wiederholungen erschöpfen, musste sie mindestens einen Richtungswechsel einschlagen. Diesen haben verschiedene Künstler der Nachkriegsmoderne in ihren Werken vorgenommen und sind dabei auf die Ebene der materiellen Wirklichkeit des Bildträgers gekommen. Während aber die sichtbare Realität der Materialien und Tätigkeiten bei Fautrier, Dubuffet und Pollock noch, wie Meinhardt behauptet, als »Bildlichkeit«160 wahrgenommen wird, wird erst in der Bestimmung und Wahrnehmung des Gemäldes als ein Objekt in der Welt die Transzendenz der Malerei völlig aufgegeben. Für Meinhardt hat sich damit die Einstellung der Malerei ein weiteres Mal verlagert. Doch dieser Wechsel, den Stella und Judd vorgenommen haben, lässt vom Gemälde außer der materiellen Oberfläche eines Trägers nichts mehr übrig. Und das hat schließlich den vollständigen Zusammenbruch der ästhetischen Differenz zur Folge gehabt. Der Zusammenbruch der ästhetischen Differenz zwischen materiellem 160

Ebd., S. 214.

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Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

Gegenstand und visueller ästhetischer Ordnung ist nach Meinhardt gleichzusetzen mit dem Ende der modernen Malerei. Diese war mit einem tiefgreifenden Verdacht gegen den Illusionismus der traditio­ nellen Malerei angetreten und musste, um es mit Meinhardt zu sagen, nun feststellen, dass die letzten noch möglichen Gemälde keine Gemälde im ästhetischen Sinne mehr sind. An der bloß noch materiellen Oberfläche muss die ästhetische Differenz mit Notwen­ digkeit zusammenbrechen. Das Gemälde wird dann nicht mehr als Kunstwerk wahrgenommen, wie Meinhardt sagt, sondern als ein Gegenstand unter anderen Gegenständen in der Welt.161 Ein Fortgang der Malerei war dadurch nicht mehr möglich. Wenn die Arbeit an bestimmten künstlerischen Problemen so weit voran­ geschritten ist, dass ein Weitergehen in derselben Richtung keine weiteren oder neuen Ergebnisse mehr bringen kann, gibt es nur noch einen einzigen Ausweg: die einmal angenommenen Voraussetzungen müssen durch neue ersetzt werden. Diesen Weg ist die Postmoderne in der Malerei gegangen. Sie ist für eine ›Refiktionalisierung‹ des auf einen gewöhnlichen Gegenstand reduzierten Gemäldes eingetre­ ten. Mit Meinhardt lässt sich aus der bis hierher rekonstruierten Geschichte der modernen Kunst eine Entwicklung ablesen, die sich im Wesentlichen innerhalb »zweier Brüche«162 bewegt. Mit dem ersten, die Moderne einleitenden Bruch, dem ›Bruch mit dem Abbild und der Referentialität‹, wurde die ›Entgegensetzung von vormoder­ ner und moderner Malerei‹, die sich um den ›Gegensatz zwischen Funktionalität und Autonomie‹, zwischen ›Referentialität und tran­ szendenter Ordnung‹ herum anordnet, gesetzt. Mit dem zweiten, die Moderne überwindenden Bruch, dem Bruch mit der Abstraktion und Konkretion, wurde der Gegensatz von moderner und postmoderner Malerei, der sich um die Achsen Desillusionierung und Refiktiona­ lisierung dreht, von bestimmender Bedeutung für die Behauptung der ausdifferenzierten nachmodernen Kunst. Diese Kunst tritt in der Postmoderne allen Versuchen zur Grenzüberschreitung der Kunst wieder entschieden entgegen. Meinhardt nimmt die Postmoderne allerdings nicht ernst. Er betrachtet sie als »simple Gegenbewegung« zur Moderne.163 Aus diesem Grund kann er ihre historische Stellung auch nicht angemessen einschätzen. Gegen Meinhardt werde ich im 161 162 163

Vgl. ebd., S. 213ff. Vgl. ebd., S. 214. Vgl. ebd.

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7. Das refiktionalisierte Bild

Folgenden daher eine andere Einschätzung vorschlagen, in der die Postmoderne weder als das »notwendige Schicksal der Moderne« noch als »simple Gegenbewegung«, sondern als gleichwertige Gegen­ bewegung erscheint.

7. Das refiktionalisierte Bild In der soeben genannten Sichtweise muss die Postmoderne als eine »ästhetische Neubesetzung der Fiktion« gedeutet werden. Als erster Kunstwissenschaftler hat Heinrich Klotz diese Sichtweise in seinem 1994 erschienenen Buch über »Kunst im 20. Jahrhundert« entwickelt und vorgestellt.164 Die Kunst den »Bindungen des schönen Scheins« zu entheben und ihr die »Relevanz einer das Leben durchdringenden und das Leben verändernden Kraft« zu verleihen, sagt Klotz, war das historische Programm einer dominanten Entwicklungslinie der Avantgarde. Umberto Eco hatte sich bereits zehn Jahre vorher zur Postmoderne ähnlich geäußert. Er sieht in der Neubesetzung des Fiktiven aber vor allem den Bezug auf die Vergangenheit, der von der Avantgarde in ihrer Kunst aufgegeben und dadurch zerstört worden sei.165 Speziell durch die anvisierte Identität von Kunst und Leben hat die moderne Kunst für Klotz den »Anspielungsreichtum des Fik­ tiven« letztlich vollständig verspielt. Er sieht in der Postmoderne den Versuch, diesen Anspielungsreichtum des Fiktiven, der sich aber nicht wie bei Umberto Eco auf die Vergangenheit beschränken lässt, für die Kunst zurückzugewinnen. Beispielhaft für die Malerei sei das in den Werken von Rainer Fetting, Sandro Chia, Eric Fischl und David Salle verwirklicht worden. In detaillierten Untersuchungen zeigt er, wie die Postmoderne, die sich in den frühen achtziger Jahren auch in Deutsch­ land in allen Bereichen der Kunst und Architektur durchgesetzt hatte, auf den Anspruch einer Identität von Kunst und Leben verzichtete und das Kunstwerk wieder auf seinen Scheincharakter zurückführte. Insofern geht es in den postmodernen Werken der Kunst und der Architektur um die »Wiedererlangung eines fiktiven Gehalts«, der durch den Versuch der Moderne, Kunst ins Leben zu überführen, 164 Vgl. H. Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne, München 1994. 165 Vgl. U. Eco, Postmodernismus, Ironie und Vergnügen, in: ders., Nachschrift zum ›Namen der Rose‹, München und Wien 1984, S. 78.

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Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

geopfert worden sei. Dieser fiktive Gehalt, der sowohl Vergangenes als auch Zukünftiges umfasst, kann ausschließlich unter der Bedin­ gung einer Neuerrichtung der ästhetischen Grenze zwischen Kunst und Wirklichkeit in die Kunst zurückgeholt werden. Nicht den »Verzicht auf die Selbstbegründungsansprüche der Moderne«, mit dem die »Gefahr einer erneuten Annäherung an den Historismus« zusammenhängt, sieht Klotz als das eigentliche Thema der Postmoderne, sondern die Herausforderung durch den Anspruch auf die »Wiederkehr des Ästhetischen als Fiktivem«. Die Wiederer­ langung des Fiktiven ist für ihn aber ausdrücklich mit dem Verzicht der Überführung autonomer Kunst in Lebenspraxis verbunden. Dieser Verzicht ist die Konsequenz aus dem Versuch der Avantgarde, die Reduktion von allem Sensuellen an ihre Grenze zu treiben und damit das Ende der Kunst unvermeidlich akzeptieren zu müssen. Daraus ergibt sich für Klotz die Auffassung, dass Kunst heute nur wieder als von der Realität abgegrenzte Fiktion, als von der Lebenspraxis abgetrennte Kunstwelt, möglich sein kann. Aber ist die postmoderne Malerei nun wirklich die Malerei nach dem Ende der modernen Malerei? Mit Sicherheit nicht. Dass die postmoderne Malerei nicht die Malerei nach dem Ende der moder­ nen Malerei sein kann, hat sich meines Erachtens während der 46. Veranstaltung der Biennale in Venedig 1995 deutlich gezeigt. Zu ihrem 100jährigen Bestehen hatte die Biennale nämlich auch die Medienkunst entdeckt.166 Die Ausstellung insgesamt muss als höchst aufschlussreich bewertet werden, denn die Sonderausstellung von Jean Clair, die einen Rückblick auf die wesentlichen Entwicklungs­ phasen der Moderne vorzunehmen beanspruchte, war offensichtlich sehr einseitig auf eine Parteinahme für die gegenständliche Kunst angelegt und verwies genau damit auf jene alternative Entwicklung der Moderne, die schließlich in die Postmoderne mündete und kei­ nesfalls vergessen werden sollte. Aber Clair, der Leiter der Biennale 1995, begnügt sich nicht damit, auf diese Entwicklung hinzuweisen. Denn er verfolgt mit dem Hinweis auf diese immer wieder in der Kunstwelt ausgeklammerte Entwicklung der Moderne die Absicht einer Absage an die Abstraktion. Parallel zu dieser späten Absage an die Abstraktion muss es dann als angemessen und verständlich erscheinen, wenn gesagt wird, dass den Avantgarden der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Ausspielen von Figuration gegen 166

Vgl. den Katalog der 46. Biennale in Venedig 1995.

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7. Das refiktionalisierte Bild

Abstraktion als Ausdruck einer reaktionären Haltung gegolten hatte. In ihrer bewussten Ausrichtung auf die Abstraktion musste jede Hinwendung zur gegenständlichen Malerei als Verrat erscheinen. Diese Situation zu ändern, hat sich Jean Clair vorgenommen. Seine gewaltige Anstrengung, die Entwicklungsphasen der Moderne nach­ zuzeichnen, zeigt die gegenständliche Malerei im Spannungsfeld von »Identität und Nicht-Identität« (wie seine Ausstellung im Palazzo Grassi betitelt war) als den immerwährenden Versuch, die Gestal­ ten des Körperlichen sowohl realistisch als auch fiktional sichtbar zu machen. Die Moderne hat mit ihrer Thesis gleichzeitig immer auch ihre Antithesis gesetzt. Das gilt nicht nur für die Malerei, sondern auf all ihren Gebieten. Insofern ist beispielsweise auf der politischen Ebene der Faschismus kein Betriebsunfall einer ansonsten aufklärerischen Moderne. Der Faschismus ist ebenso ein Kind der Moderne wie die Aufklärung. Auf einer anderen Ebene gilt das Gleiche für die gegenständliche und ungegenständliche Kunst in der Moderne. Beide Richtungen gehören zur Moderne. Doch während die ungegenständ­ liche Kunst insbesondere seit 1945 fraglos als Hauptweg der Moderne ausgerufen und akzeptiert wurde, konnte sich die gegenständliche lange Jahre lediglich im Abseits, d.h. auf Nebenwegen der Kunstwelt halten, die allerdings später in den 1980er Jahren in die Postmo­ derne mündeten. Vergegenwärtigen wir uns die einzelnen Länder-Pavillons der Biennale 1995, so fällt die ›Fiktionalisierung der Kunst‹ auch im Deut­ schen Pavillon auf, in dem unter der Leitung von Jean-Christophe Ammann Werke von Katharina Fritsch, Martin Honert und Thomas Ruff ausgestellt waren. Katharina Fritschs achteckiges, von einem Wald mit schwarzen Stachel-Bäumen eingezäuntes Architekturmo­ dell mit dem Titel »Museum« war ein schlichtes, letztlich jedoch überzeugendes Modell für einen fiktionalen Gehalt, der sich auf einen subjektiven Traum der Künstlerin und – damit zusammenhängend – auf die Zahl »Acht« bezog. Mit der Zahl Acht samt Vielfachen und Brüchen hat sich die Künstlerin in den letzten Jahren bis an die Grenze der Besessenheit beschäftigt. Unübersehbar ist auch ihre Vorliebe für Symmetrie. Mit ihrer Installation »Acht Tische mit acht Gegen­ ständen«, die 1984 in der Düsseldorfer Ausstellung »Von hier aus« gezeigt wurde und heute im Baseler Museum für Gegenwartskunst zu sehen ist, wurde Katharina Fritsch über Nacht bekannt. Wie bei all ihren Arbeiten herrscht ein extremer Subjektivismus vor. So hat sie

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Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

das Podest und das Museumsmodell im Mittelraum des Deutschen Pavillons nach ihrem eigenen Maß entworfen. Das achtseitige Prisma hat eine Höhe von 1,60 Meter. Das ist genau das Augenniveau der Künstlerin. Insgesamt gesehen scheint diese Arbeit so etwas wie der Traum ihres eigenen, aber letztlich weder für sie selbst noch für den Betrachter erreichbaren idealen Museums zu sein. Denn das Modell des Museums ist durch einen furchterregenden Wald mit stacheligen Ästen von den Betrachtern unerreichbar abgeschirmt. Auch Martin Honerts Beitrag zur Biennale, mehrere lebensgroße und buntbemalte Figuren, die einem abhebenden Flugzeug nachwinken, führen in eine Fiktion ein. Sie visualisieren Erich Kästners »Fliegendes Klassenzim­ mer«, jener weichherzige und beglückende Kinderroman, der erfolg­ reich verfilmt worden ist und den Künstler wahrscheinlich an seine eigene Kindheit erinnern lässt. Der Betrachter wird ebenfalls unmit­ telbar in diese Welt, d.h. in diese postmoderne Fiktion versetzt.

8. Das bewegte Bild Den Höhepunkt der Biennale 1995 bot sicherlich der amerikanische Pavillon. Hier konnten wir finden, was wir Klotz und Weibel zufolge nach dem Ende der Malerei einzig und allein als Bild noch akzeptieren können: nämlich das technisch bewegte Bild. Ansätze zum bewegten Bild fanden sich auch im österreichischen und auch im koreanischen Pavillon, in dem traditionelle Tonfiguren und Video-Vorstellungen die Geschichte des Landes und die zeitgenössische Technik mitein­ ander verbunden hatten. Doch im amerikanischen Pavillon fanden wir über die Darstellung avancierter Medien der Bildproduktion hinausgehend den Versuch, das Bild nach dem Ende der Malerei herzustellen. Das war der Versuch von Bill Violas Video-Räumen. In Violas Raumfolge musste der Besucher von Raum zu Raum seine visuellen und akustischen Wahrnehmungen auf eine neue Situation einstellen. Viola thematisiert die Bewegung in der Zeit, indem er mit der Geschwindigkeit von Bildern, mit der Formatierung von Szenen, und mit Ausschnitt und Totale spielt. Besonders gelungen war der letzte Raum, der den Rundgang abschloss. Man sah, wie häufig bei Viola, eine dem Motiv in der traditionellen Malerei nachgestellte

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8. Das bewegte Bild

Szene mit drei Frauen.167 Zwei sich unterhaltende Frauen begrüßen eine dritte, die langsam auf die beiden zugehend schließlich eine der beiden umarmt. Dabei wurden durch die in extremer Zeitlupe ablau­ fenden Bewegungen hochsubtile Nuancen in den Blicken und Gesten der Personen herausgearbeitet und die im Verlauf des Auftritts sich verändernden Beziehungen zwischen den Frauen sichtbar gemacht. In einem Standbild könnten die Beziehungen und subtilen Aspekte die­ ser Begrüßung allenfalls indirekt angedeutet, niemals aber in solcher Intensität und in solchem Umfang erreicht und dargestellt werden. Daran ändert auch nichts die Tatsache, dass Viola hinsichtlich der Handlung und des Motivs der Figuren alles bewusst »doppeldeutig, rätselhaft und offen für diverse Spekulationen und Interpretationen« lassen wollte, wie er es in einem Interview gesagt hat.168 Die Arbeiten Violas, aber auch diejenigen von Nam June Paik, Gary Hill, Bruce Nauman, stehen in der Logik der formalen Kon­ sequenzen, die Impressionismus, Kubismus, Abstraktion, Visualisie­ rung von Konzepten und Refiktionalisierung von Bildern gezogen haben. Nach dem Ende der Malerei sind Bilder, die den Anspruch, Kunstwerke zu sein, erheben wollen, ausschließlich als bewegte Bilder denkbar, die stilgeschichtlich Klotz zufolge einer »Zweiten Moderne« zugerechnet werden müssen. Violas Video-Installationen müssen jenseits von Desillusionierung und Refiktionalisierung als Versuch betrachtet werden, das Ende der Kunst als Ende des Standbildes zu bestimmen. In diesem Sinne sind seine Bilder wieder Abbilder, aber nicht Abbilder einer stillstehenden sinnlichen Erscheinungs­ wirklichkeit, sondern Abbilder der sich verändernden Wirklichkeit. Der Grundzug der Wirklichkeit besteht für Viola in der Bewegung. Hatte die Kunst der Neuzeit den Versuch, auf der zweidimensio­ nalen Fläche die Illusion einer dritten Dimension hervorzurufen, bis an seine Grenze getrieben, versuchen die Video-Installationen der Medienkunst, die Illusion der Wirklichkeit als Bewegung zu erzeugen. Genau dieser zentrale Aspekt der Wirklichkeit, also die Zeitlichkeit, war der auf den räumlichen Aspekt fixierten Malerei seit der Renaissance nicht in den Blick gekommen. Erst mit den techni­ schen Voraussetzungen der Medienkunst konnte die Bewegung als Grundzug der Wirklichkeit entdeckt und dargestellt werden. Kunst als Vgl. J. G. Hanhardt, Bill Viola. Werk und Denken, München 2015, S. 163ff. Siehe das Interview mit J. Zutter in: Ungesehene Bilder, Ausstellungskatalog, Kunsthalle Düsseldorf, 1992, S. 93ff.

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Kapitel 4 Zur Entwicklung der Kunst des 20. Jahrhunderts

Medienkunst betrachtet erfordert daher unweigerlich die endgültige Verabschiedung der traditionellen Kunst. In diesem Sinne sind aber nicht nur das abbildende Standbild, sondern auch sämtliche Versuche der Desillusionierung oder Refiktionalisierung des Standbildes als traditionelle Kunst zu definieren. Das Ende der Kunst ist das Ende des Standbildes. Kunst nach dem Ende der Kunst kann mit Notwen­ digkeit allein noch das bewegte Bild sein. Das hat Folgen für die Kunstgeschichte, denn Kunstgeschichte hat in der Tradition als ihren Forschungsgegenstand ausschließlich das Standbild gekannt. Mit die­ sem Forschungsgegenstand ist Belting zufolge auch die traditionelle Kunstgeschichte zu Ende gekommen. Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte ist Mediengeschichte des technisch bewegten Bil­ des. Entwicklungslogisch betrachtet setzt sie dort an, wo die Moderne ansetzte, als sie die Krise des Abbildes und der Repräsentation mit einem gewaltigen Desillusionierungsunternehmen überwinden wollte. Weil seither jedoch über 100 Jahre vergangen sind, muss diese Kunstgeschichte nach dem Ende der Kunstgeschichte, darin würden Klotz und Weibel mit mir übereinstimmen, als Beschreibung einer »zweiten Moderne« eingeschätzt werden. Nach der Moderne und der Postmoderne, also nach der schritt­ weisen Abhebung der malerischen Ebenen des Illusionismus und nach der Refiktionalisierung des Bildes, entsteht mit der Medienkunst eine neue, eine zweite Moderne in der Kunst. Die Moderne, die aus dem Bruch mit dem Abbild hervorgegangen ist, hat das Gemälde auf seine dingliche Realität zurückgeführt. Die Postmoderne, die nach dem ersten Ende der Malerei der konkreten Kunst für eine Refiktiona­ lisierung des Bildes eintritt, erneuert damit nicht wirklich die Malerei, wie Klotz es kritisch herausgestellt hat, sondern knüpft an Tendenzen an, die bereits bei Max Beckmann, beim späten Picasso und beim späten de Chirico vorzufinden waren und vollendet damit endgültig die Malerei des figurativen Standbildes, d.h. des unbewegten Bildes. Die Postmoderne ist also neu und zugleich auch alt, insofern nichts wirklich Neues nach der Moderne, sondern lediglich eine Phase in der Moderne. Die Medienkunst, die in der Tradition der Malerei seit der Renaissance nicht mit dem Illusionismus, sondern mit der Bewegungslosigkeit des Tafelbildes bricht und das bewegte Bild zur neuen Kunst erhebt, ist damit zur Kunst nach dem Ende der Malerei geworden. Aber diese Kunst nach dem Ende der Malerei ist nicht etwas absolut Neues. Denn die Medienkunst hat die Grenze, die die Moderne sich selbst gesetzt hat, nur wieder einmal überschritten.

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8. Das bewegte Bild

Und damit ist sie nichts mehr und nichts anderes als eine »zweite Moderne«. Das ›notwendige Schicksal‹ der Moderne ist insofern nicht die Postmoderne, wie der Kunsthistoriker Meinhardt es meinte, sondern ganz klar und deutlich die Zweite Moderne.

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Kapitel 5 Das Erhabene in der Kunst und seine ästhetische Überwindung Von der reflexiven Geisteskunst in der Moderne zur neuen Sinnlichkeit in der Postmoderne

Das bekannte ›Reflexiv-Werden‹ der Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde von der Postmoderne, die mit dem Tran­ savantgardismus in Italien, dem Neoexpressionismus in Deutsch­ land und der Kunst der 1980er Jahre in Amerika auftrat, in Frage gestellt. Von all diesen Richtungen ist eine Wiederversinnlichung der Kunst ausgegangen. Damit konnte die ausdifferenzierte Kunst in die gesellschaftliche Wirklichkeit zurückkehren. Durch diesen Wandel, der auf eine vollständige Preisgabe des anti-ästhetisch definierten Ästhetik-Begriff der Moderne hinausläuft, ist die Kunst zu einem selbstverständlichen Bestandteil des postmodernen Alltagslebens geworden, womit alle Berührungsängste vor falscher Aufhebung der künstlerischen Autonomie überwunden werden konnten. Das hängt sicherlich auch damit zusammen, dass man eingesehen hat, dass es keine wirkliche Alternative zur gegenwärtigen gesellschaftlichen Wirklichkeit gibt. Wenn im Gange der Geschichte Vernunft und Wirklichkeit eine Zeit lang eine bessere Beziehung eingehen, hat die Kunst nicht mehr das Wesen, sondern die Erscheinung der Welt darzustellen. Das Ideal ist dann nicht mehr das Beharren, wie bei Mondrian, sondern der Wandel. Er muss zur Eigenschaft par excel­ lence der Kunst werden; um Neues zu schaffen, darf sie nicht mehr bestimmten Regeln unterworfen sein; sie muss ihre Regeln vielmehr selbst erfinden. Was sich in einem solchen freien Spiel der Kunst ankündigt, ist der ästhetische Anspruch unserer Zeit. Es ist nicht ein Anspruch auf Überlegenheit der menschlichen Bestimmung, sondern ein Anspruch auf Zweckmäßigkeit der sinnlichen Wirklichkeit in der veränderlichen Zeit.

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Kapitel 5 Das Erhabene in der Kunst und seine ästhetische Überwindung

1. Das Erhabene in der romantischen Kunst Caspar David Friedrich stellt in seinen Bildern die Natur weniger als schöne denn als erhabene Landschaft dar. Als »erhaben« könnte man seine Darstellung der Landschaft bezeichnen, weil deren Anschauung – um es mit Kantischen Worten zu sagen – die Idee der Unendlichkeit bei sich führt. Darum hat man ihn häufig den Maler der unendlichen Landschaft genannt. Lebenslang interessierte ihn der Versuch, mittels einer Symbolik in der Darstellung auf das Unendliche hinzuweisen. Hierin könnte man ihn als einen Maler betrachten, der die Kantischen Ideen des »Mathematisch-Erhabenen«, in der die Natur als über alle Vergleichung groß erscheint, und des »Dynamisch-Erhabenen«, in der sie als Furcht erregende Macht vorgestellt wird, beharrlich in seinen Bildern umzusetzen sucht. Dies strebt er mit Hilfe einer Komposition an, die die Betonung auf das Verhältnis von Mensch und Natur legt. Zumeist ist der Mensch als Rückenfigur in den Vordergrund der Bilder gestellt und blickt mit dem Betrachter in eine großartige und übermächtige Landschaft hinein. Friedrichs Bilder dienen deshalb regelrecht zur Illustrierung einer bekannten Passage aus Kants Kritik der Urteilskraft, die ich im Folgenden zitieren möchte: »Kühne, überhangende, gleichsam drohende Felsen, am Himmel sich auftürmende Donnerwolken, mit Blitzen und Krachen einherziehend, Vulkane in ihrer ganzen zerstörenden Gewalt, Orkane mit ihrer zurückgelassenen Verwüstung, der grenzenlose Ozean in Empörung gesetzt, ein hoher Wasserfall eines mächtigen Flusses u. dgl. machen unser Vermögen zu widerstehen in Vergleichung mit ihrer Macht zur unbedeutenden Kleinigkeit. Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden; und wir nennen diese Gegenstände gern erhaben, weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.«169 Sich mit der »scheinbaren Allgewalt der Natur« zu messen, war der Einsatz von Friedrichs Leben und Werk, mit dem er zweifelsohne das Trauma der Jugendzeit, hilflos dem Ertrinken seines liebsten Bru­ ders zusehen zu müssen, fortwährend verarbeitete. Seltsamerweise 169

I. Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg 1974, S. 107.

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1. Das Erhabene in der romantischen Kunst

entfremdet er sich dabei von der »gräßlichen« Natur nicht, indem er ihr eine »ideale« entgegenstellt (wie die Nazarener), sondern gewinnt ein zwiespältiges Verhältnis zu ihr, das ihn bald schwermütig, bald heiter machte, wie sein Freund Schubert berichtet: »Seitdem er als Jüngling seinen Bruder, den Knaben, den er wie sein eigenes Herz liebte, unter dem zusammenbrechenden Eise des Meeres mußte ver­ sinken sehen, dahin er ihn zum Schlittschuhlaufen verlockt hatte, war er lange Zeit in ein düsteres Grämen versunken, das ihm die Freude am Leben bis zum Gefahr drohenden Überdruss verleidete. Er wollte keinen tröstenden Zuspruch der Freunde, er floh die Gesellschaft der Bekannten und Verwandten. Die stille Wildnis der Kreidegebirge und der Eichenwaldungen seiner vaterländischen Insel Rügen waren im Sommer, noch mehr aber in der stürmischen Zeit des Spätherbstes und im angehenden Frühling, wenn auf dem Meer an der Küste das Eis brach, sein beständiger, sein liebster Aufenthalt. In Stubbenkammer, wo damals noch kein modernes Gasthaus stand, verweilte er am öftesten, dort sahen ihn die Fischer manchmal mit Sorge um sein Leben, ja wie einen, der freiwillig in der Flut sein Grab suchen wollte, auf und zwischen den Zacken der Bergwand und ihren ins Meer hin­ einragenden Klippen herumklettern. Wenn der Sturm am kräftigsten war und die Wogen am höchsten heranschlugen, da stand er, von dem heranspritzenden Schaume oder auch von einem plötzlichen Ergusse des Regens durchnäßt, hinschauend wie Einer, der sich an solcher gewaltigen Lust der Augen nicht satt sehen kann. Wenn ein Gewitter mit Blitz und Donner über das Meer daherzog, dann eilte er ihm, wie Einer, der mit diesen Mächten den Freundschaftsbund geschlossen, entgegen, auf den Felsensaum der Klüfte oder ging ihnen nach in den Eichenwald, wo der Blitz den hohen Baum zerspaltete und murmelte da sein halblautes ›wie groß, wie mächtig, wie herrlich‹.«170 Die Unermesslichkeit der Natur und die Unwiderstehlichkeit ihrer Macht auf der einen Seite, auf der anderen Seite die ästhetisch moralische Überlegenheit des Menschen – genau dieses Verhältnis ist es, das man in Friedrichs Bildern immer wieder gestaltet finden kann. Diese Darstellung gelingt ihm mittels einer Analogie, über die Kleinigkeit der in eine übermächtige Landschaft hineinblickenden Figur, wobei sie sich in jener Sicherheit befindet, die das ästhetische Genießen nach

170 G. H. v. Schubert, in: C. D. Friedrich, Bekenntnisse, hrsg. v. K. K. Eberlein, Leipzig 1924, S. 220f.

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Kapitel 5 Das Erhabene in der Kunst und seine ästhetische Überwindung

Kant voraussetzt. Am besten gelungen ist diese Darstellung in dem Bild Der Mönch am Meer. In der Anschauung, in der sich der Betrachter – wie Kleist und Brentano es empfehlen171 – mit der den düster dunstigen Himmel betrachtenden Gestalt eines einsam nachsinnenden Grüblers identi­ fiziert (»... und so ward ich selbst der Kapuziner...«172 heißt es bei Kleist), avanciert er über die Konfrontation mit der »scheinbaren Allgewalt der Natur« zu einer Erhebung seiner Seele und erregt in sich ein erhabenes Gefühl, ein Gefühl der Überlegenheit über die Natur. Mit dieser Überlegenheit über die Natur meint Kant aber keinesfalls eine physische, die zur Abwendung der Bedrohung beitra­ gen würde, sondern eine geistige, ein Bewusstsein der Menschheit um ihre eigene, übersinnliche Bestimmung, ein Bewusstsein, worauf sich eine »Selbsterhaltung von ganz anderer Art« gründet als jene, die im Natur- und Tierreich anzutreffen ist. Dem Wissen, dass unsere Selbsterhaltung »von der Natur außer uns angefochten und in Gefahr gebracht werden kann«173, steht das Wissen gegenüber, »ein Vermögen zu widerstehen« in uns zu haben. Dieses Wissen, das das Tier nicht hat und deswegen den Gewalten der Natur ausgeliefert ist, begründet ein Moment der Überlegenheit über die Natur, d.h. eine Möglichkeit, die Grenzen der empirischen Natur zu transzendieren. Hierbei denkt Kant, ohne die Gefahr einer Dialektik der Aufklärung in Erwägung zu ziehen, an die »Menschheit in unserer Person«, bei der es sich um ein Prinzip handelt, das »nicht aus der Erfahrung entlehnt«, sondern »aus reiner Vernunft entspringen muß.«174 Aus einem solchen Prinzip können, wie Kant betont, alle Gesetze des Willens abgeleitet werden. Gerade hierin, sich selbst Gesetze der Pflicht geben zu können, erweist sich der Mensch als erhaben über die Naturgewalten. Die Freiheit, die in dieser Überlegenheit steckt, 171 Vgl. H. v. Kleist, Empfindungen vor Friedrichs Seelandschaft, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. III, München, Wien 1982, S. 327f. Vgl. auch C. Brentano, Ver­ schiedene Empfindungen vor einer Seelandschaft von Friedrich, worauf ein Kapuziner, in: ders., Werke, Bd. 2, Darmstadt 1963, S. 1034ff. Über den Dissens zwischen Kleist und Brentano vgl. Ch. Begemann, Brentano und Kleist vor Friedrichs Mönch am Meer, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 1, 1990, S. 54–95. 172 Kleist, a.a.O., S. 327. 173 KU, S. 107. 174 I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg 1965, S. 54. Vgl. auch I. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg 1985, S. 102, 151.

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1. Das Erhabene in der romantischen Kunst

bleibt als Möglichkeit auch noch da, sollte der Mensch der Bedrohung wirklich erliegen, denn »die Menschheit in unserer Person« bleibt »unerniedrigt«175 in diesem Fall. Um das zu verdeutlichen, möchte ich noch einmal eine längere Passage aus der Kritik der Urteilskraft zitieren: »Auf solche Weise wird die Natur in unserem ästhetischen Urteile nicht, sofern sie furchterregend ist, als erhaben beurteilt, sondern weil sie unsere Kraft (die nicht Natur ist) in uns aufruft, um das, wofür wir besorgt sind (Güter, Gesundheit und Leben), als klein, und daher ihre Macht (der wir in Ansehung dieser Stücke allerdings unterworfen sind) für uns und unsere Persönlichkeit demungeachtet doch für keine solche Gewalt anzusehen, unter die wir uns zu beugen hätten, wenn es auf unsere höchsten Grundsätze und deren Behaup­ tung oder Verlassung ankäme. Also heißt Natur hier erhaben, bloß weil sie die Einbildungskraft zur Darstellung derjenigen Fälle erhebt, in welchen das Gemüt die eigene Erhabenheit seiner Bestimmung, selbst über die Natur, sich fühlbar machen kann.«176 Man kann die einsame Gestalt in Friedrichs Werk Der Mönch am Meer als »Figuration«177 des Kantischen ästhetischen Subjekts betrachten, weil sie den Eindruck vermittelt, dass sie die schreckliche Macht der Natur empfindet und dass sie zugleich aufgrund der Überlegenheit durch das Bewusstsein der Menschheit in ihrer Person ein Vermögen besitzt, die Konfrontation mit den Naturgewalten auszuhalten. Friedrichs Figur geht nicht unter in der übermächtigen Natur, sondern steht gleichsam vor ihr, als Zuschauer, in sicherer Entfernung von jeder Gefahr. Im Zuschauer, auch in demjenigen, der sich in den Mönch hineinversetzt, vollzieht sich eine Reflexion, die sich mit Ideen auf das gewaltige Naturschauspiel richtet und die Vorstellung dadurch ins Übersinnliche erhebt. Wenn man nicht wüsste, dass die Urteilskraft älter ist als Friedrichs Bilder, könnte man auf den Gedanken kommen, Kants Betrachtung über die Entstehung erhabener Gefühle geradezu als »Protokoll der Wahrnehmungen, Empfindungen und Reflexionen des ›ästhetischen Subjekts‹ vor den Landschaften Caspar David Friedrichs, sei das Subjekt nun aufgefaßt als Betrachter des Bildes, als Betrachter der Landschaft (Rückenfigur) Vgl. KU, S. 107. KU, S. 107f. 177 Vgl. B. Ränsch-Trill, ›Erwachen erhabener Empfindungen bei der Betrachtung neuerer Landschaftsbilder‹. Kants Theorie des Erhabenen und die Malerei Caspar David Friedrichs, in: Kant-Studien, 68, 1977, S. 92. 175

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Kapitel 5 Das Erhabene in der Kunst und seine ästhetische Überwindung

oder als der Maler selbst«178, zu lesen. Eine Kostprobe möchte ich im Folgenden zitieren: »Die Verwunderung, die an Schreck grenzt, das Grausen und der heilige Schauer, welcher den Zuschauer bei dem Anblicke himmelansteigender Gebirgsmassen, tiefer Schlünde und darin tobender Gewässer, tief beschatteter, zum schwermütigen Nachdenken einladender Einöden usw. ergreift, ist bei der Sicherheit, worin er sich weiß, nicht wirkliche Furcht, sondern nur ein Versuch, uns mit der Einbildungskraft darauf einzulassen, um die Macht eben desselben Vermögens zu fühlen, die dadurch erregte Bewegung des Gemüts mit dem Ruhestand desselben zu verbinden und so der Natur in uns selbst, mithin auch der außer uns, sofern sie auf das Gefühl unseres Wohlbefindens Einfluss haben kann, überlegen zu sein.«179 Friedrichs Bilder beschränken sich nicht darauf, das Erhabene in der Natur, sofern sie als eine »Macht« begriffen wird, darzustellen; vor allem nämlich stellen sie die erhabene Natur dar, sofern sie als eine »Größe« gegeben ist. Denn nicht ohne Grund hat man ihn immer wieder den Maler des Unendlichen genannt. Es gelingt ihm mittels der »Durchsichtigkeit der Farben vor dem Licht«, besonders in den »atmosphärischen Partien« seiner Bilder, auf das Unendliche anzuspielen.180 Die Landschaft, die im Nebel verschwindet, der Blick, der sich in der räumlichen Ferne verliert, die Meere und die Gebirge, die eine räumliche Unendlichkeit andeuten, die Kirchenruinen, die zugleich Vergänglichkeit und Ewigkeit erahnen lassen und die zeit­ liche Unendlichkeit symbolisieren – all dies führt über die Gegen­ ständlichkeit hinaus in eine Transzendenz oder Spiritualität, die nicht selten Zeichen einer göttlichen Offenbarung in der säkularen Welt ist, also für eine Unendlichkeit im religiösen Sinne steht, wie es in einigen seiner Landschaftsbilder am deutlichsten zum Ausdruck kommt, wenn die Figuren in frommer Andacht das »Geheimnisvolle der alltäglichsten Naturschauspiele«, Sonnenaufgang und Sonnenun­ tergang, betrachten.181 Es gelingt der Darstellung aber nur im »übertragenen« Sinne, d.h. im Sinne der Analogie, den Betrachter das Unendliche assoziie­ Ebd., S. 95. KU, S. 116. 180 Vgl. H. Rehder, Die Philosophie der unendlichen Landschaft, Halle 1932, S. 168. 181 Zur eigentümlich romantischen Religiösität Friedrichs vgl. R. Rosenblum, Die moderne Malerei und die Tradition der Romantik, München 1981, S. 15ff., 23. Vgl. dazu auch Ränsch-Trill, a.a.O., S. 96. 178

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1. Das Erhabene in der romantischen Kunst

ren zu lassen. Die Anschauung vermag im Gemüt des Betrachters günstigstenfalls eine Sehnsucht nach Offenbarung zu erwecken, sie vermag schlimmstenfalls auf eine Nichtachtung oder eine Ableh­ nung der Bilder hinauszulaufen.182 Diese Unähnlichkeit zwischen Ausdruck und Idee resultiert für Kant aus einer »Unzulänglichkeit des Ausdrucks für die Idee«183, die konstitutiv ist für jede symboli­ sche Darstellung in den »bildenden Künsten«, in denen »Ideen in der Sinnenanschauung«184 ausgedrückt werden. Da den Ideen, d.h. den Vernunftbegriffen, gewissermaßen keine sinnliche Anschauung angemessen sein kann, kann ihre Darstellung nur eine symbolische sein, die der Idee eine Anschauung unterlegt, die mit ihr aber nicht übereinstimmt. Es handelt sich hier um eine »Übertragung der Reflexion über einen Gegenstand der Anschauung auf einen ganz anderen Begriff, dem vielleicht nie eine Anschauung direkt korrespon­ dieren kann.«185 Mit dem »ganz anderen Begriff« ist auch der des Unendlichen gemeint. Friedrichs Bilder können demnach als indirekte Darstellungen des Unendlichen betrachtet werden. Die Figuren, die als Rückenfiguren vor den Landschaften stehen, unterstützen eine solche Einschätzung, weil sie – wie Kleist und Brentano bemerkten – den Betrachter geradezu auffordern, sich mit ihnen zu identifizieren, es ihnen gleichzutun, sich in ihre Perspektive zu versetzen, damit die unermesslichen Naturerscheinungen das erhabene Gefühl erwecken können. Zwar gibt es keine Ähnlichkeit zwischen der Lichtmystik bei Friedrich, welche Gegenstände transparent erscheinen lässt, oder dem Nebel, in dem eine Landschaft verschwindet usw. einerseits, und der Idee der Unendlichkeit andererseits, »wohl aber zwischen den Regeln, über beide und ihre Kausalität zu reflektieren.«186 Wenn eine sinnliche Anschauung mit einem Vernunftbegriff im Symbol zusammengebracht wird, überbrückt dieses zwar die Kluft zwischen Ausdruck und Idee, beseitigt sie jedoch nicht. Das Übersinnliche, auf das in der Welt der räumlich-zeitlichen Erscheinungen hingewiesen wird, bleibt vom Sinnlichen durch eine Kluft getrennt, die sich in der Anschauung als Empfindung einer Unzufriedenheit bemerkbar macht. Die Grenze, die jenseits der empirischen Realität die absolute 182 183 184 185 186

Vgl. Ränsch-Trill, a.a.O., S. 97. Vgl. KU, S. 215. Vgl. KU, S. 177. KU, S. 213. KU, S. 212. Vgl. dazu auch Ränsch-Trill, a.a.O., S. 98.

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Kapitel 5 Das Erhabene in der Kunst und seine ästhetische Überwindung

Realität zu denken ermöglicht, wird bei Friedrich symbolisch als Ufer oder Küste dargestellt187, hinter welcher die Unermesslichkeit des Meeres beginnt. Eine solche Kunst ist der Ästhetik des Erhabenen zuzurechnen, weil die Anschauung ihrer Darstellungen die Idee des Unendlichen herausfordert. Wie weitreichend die Kantische Ästhetik des Erhabenen, sicherlich auf Umwegen vermittelt, in die romantische Malerei überhaupt eingegangen ist, zeigen beispielsweise die Briefe über Landschaftsmalerei von Carl Gustav Carus, in denen er erklärt, dass die Anspielung auf die Unendlichkeit zugleich den eigentlichen Standpunkt des Menschen bestimmen soll.188 Denselben Gedanken findet man bei Kant: Durch die Erfahrung der unendlichen Größe und absoluten Macht der Natur kann der Mensch die Erhabenheit seiner eigenen Bestimmung ins Auge fassen.

2. Das Erhabene und die abstrakte Kunst der Moderne des 20. Jahrhunderts Caspar David Friedrichs Auffassung, dass das Erhabene das Kardinal­ thema der Kunst bildet, ist auch für die Malerei des US-amerikani­ schen Künstler Barnett Newman konstitutiv, obwohl die Kunst beider stark voneinander abweicht.189 Zwischen dem Romantiker und dem abstrakten Expressionisten liegen Welten. Zwar sehen beide ihr Ziel darin, das Erlebnis einer Sphäre, die jede sinnlich vertraute übersteigt, zu ermöglichen; aber die Arten und Weisen, dieses Ziel zu erreichen, sind grundverschieden. Während Friedrich mittels einer figurativen Symbolik versucht, den Betrachter auf eine Transzendenz jenseits des Empirischen zu lenken, versucht Newman in seiner Bilderreihe Who's afraid of red, yellow and blue dem Betrachter alle »Kategorien, unter denen Vertrautes erscheinen könnte«190, zu nehmen und ihn so zu überwältigen, wie er in der Entstehung eines erhabenen Gefühls (nach Kant) »unmittelbar« überwältigt werden würde. Der Unterschied ist Vgl. Ränsch-Trill, a.a.O., S. 99. Vgl. C. G. Carus, Briefe über Landschaftsmalerei, Heidelberg 1972, S. 36f. 189 Über die Beziehungen und Übereinstimmungen zwischen der nordeuropäischen Romantik und dem amerikanischen abstrakten Expressionismus vgl. R. Rosenblum, a.a.O., S. 13, insbesondere S. 14. 190 M. Imdahl, Barnett Newman. Who's afraid of red, yellow and blue III, Stuttgart 1971, S. 5. 187

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2. Das Erhabene und die abstrakte Kunst der Moderne des 20. Jahrhunderts

also der zwischen einer indirekten und einer negativen Darstellung des Nichtdarstellbaren. Es ist ein Unterschied ums Ganze, denn Newman verknüpft seine Art der Darstellung mit einer radikalen Infragestellung der traditionellen indirekten symbolisch-figurativen Darstellung im Besonderen und im Allgemeinen mit einer Kritik der abendländisch-europäischen Kunst überhaupt, weil er sie von der »established rhetoric of beauty«191 beherrscht sieht. Selbst Piet Mondrians Komposition mit Rot, Gelb und Blau fällt für ihn unter diese Kritik, weil sie von der Idee des komponierten Tafelbildes ausgeht und aus diesem Grunde das Geometrische über das Metaphysische stellt.192 Newman vermeidet ausdrücklich alle kompositionellen Ele­ mente in seiner Kunst. Wenn dennoch Linien oder Streifen vorkom­ men, so niemals als Verknüpfung von senkrechten und waagerechten, sondern entweder als waagerechte, wie in Day before one, oder, wie in den meisten Bildern, als senkrechte: »Mit dem Verzicht auf Richtungsgegensätze ist nicht nur jedwede Komposition als eine Form der Harmonisierung von Gegensätzen verweigert, sondern es ist zugleich unsere natürliche Erfahrungsstruktur ausgesetzt, welche selbst – nach der Auffassung Newmans – eine Gewißheit ist, das heißt eo ipso das Erlebnis einer jede vertraute Erfahrung übersteigenden Erfahrung negiert und damit auch die Überwältigung zur Erhabenheit ausschließt, auf die es Newmans Kunst gerade ankommt.«193 Diese Auffassung von Max Imdahl, dass sich Newmans Interesse am Erhabenen ausschließlich mit einer nichtgeometrischen Kunst vertragen konnte, wird vom Kunsthistoriker Rosenbaum bestätigt: »Akkurate, auf Parallelen und rechten Winkeln aufbauende Bildstruk­ turen galten ihm als armselige Abstraktionen im Gegensatz zu den grenzenlosen Räumen, den vertikalen Kräften ohne Anfang und Ende, mit deren Hilfe er seinen Werken etwas Erhabenes zu geben begann.«194 Newmans Absicht, seine Bilder erhaben wirken zu lassen, macht sich eine Beobachtung von Burke zunutze, nach der man beim Anblick riesiger kahler Wände in eine starke Unruhe geraten kann, wenn das Auge angesichts ihrer großen Höhe und Länge nicht

B. Newman, The sublime is now, in: Tiger's Eye, vol. 1, Dec. 1948, S. 52. Ebd. Vgl. auch Imdahl, a.a.O., S. 6f., S. 8f. Vgl. ebenfalls B. Kerber, Der Ausdruck des Sublimen, in: ders., Amerikanische Kunst seit 1945, Stuttgart 1971, S. 36. 193 Imdahl, a.a.O., S. 9. 194 Rosenblum, a.a.O., S. 221. 191

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Kapitel 5 Das Erhabene in der Kunst und seine ästhetische Überwindung

so schnell an deren Grenzen angelangt.195 Diese Beobachtung liegt seiner Gestaltung riesiger Bilder zugrunde. Whoʼs afraid of red, yellow and blue III, das zweitgrößte und am besten gelungene Bild der ganzen Reihe, misst 2,45 m in der Höhe und 5,44 m in der Breite, begrenzt durch eine 15 cm breite linksseitige Blauzone und eine 2,5 cm breite rechtsseitige Gelbzone.

Abb. 1: Barnett Newman, Whoʼs afraid of red, yellow and blue III, 1967–68

Es ist die Größe, die Unüberschaubarkeit dieses Bildes, die Unmög­ lichkeit, es mit einem Blick zu erfassen, wenn man es, wie Newman anwies, aus geringer Entfernung betrachtet196, die einen Eindruck von »unermeßlicher Räumlichkeit« entstehen lässt197; diese Überwäl­ tigung der Sinnlichkeit und die dadurch hervorgerufene Bestürzung können das Gemüt des Betrachters zu einem Gefühl stimmen, das man mit Kant als »erhaben« bezeichnet. Das erhabene Gefühl ver­ 195 Vgl. E. Burke, Vom Erhabenen und Schönen, übers. v. F. Bassenge, neu hrsg. v. W. Strube, Hamburg 1980, S. 182ff., 108ff. 196 Zu Newmans Anweisung, bei der Betrachtung eine bestimmte Distanz zu den Bildern nicht zu überschreiten, vgl. Kant, Kritik der Urteilskraft, S. 96. Dazu auch P. M. Pickshaus, Kunstzerstörer, Reinbek 1988, S. 80: »Werden Newmans Werke, wie er es selbst erwartet hat, aus unmittelbarer Nähe betrachtet, so überfordert die Intensität dieser großflächigen Farbfelder die Adaptionsfähigkeit des Auges, stellen sich kom­ plementäre Nachbildeffekte ein...« 197 Vgl. Pickshaus, a.a.O., S. 68.

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dankt sich der Möglichkeit, das Scheitern der Einbildungskraft in einen Erfolg des Vernunftvermögens verwandeln zu können.198 Dazu muss das Gemüt sich von der Sinnlichkeit lösen und den Ideen, die höhere Zweckmäßigkeit enthalten, zuwenden. Ausgelöst wird dieses Gefühl vor Newmans Bild Who's afraid of red, yellow and blue III zweifellos durch die alles beherrschende, alles einhüllende, dadurch einen unermesslichen Farbraum herstellende rote Farbe: »Newman selbst hat, was seinen Umgang mit Farben anbetrifft, davon gespro­ chen, er habe noch nie in der Absicht auf harmonische Konstellationen mit Farben manipuliert, sondern immer nur versucht, die Farbe als solche zu ›erschaffen‹ oder sie auf ihre ›absolute Qualität‹ zu bringen: Wer vor Newmans ›Who's afraid of red, yellow and blue III‹ tritt, ist überwältigt von dem beherrschenden Kontinuum des Rot als einem Wert der Fülle, der Expansion, der Energie und der prinzipiellen Indifferenz gegenüber aller Begrenztheit, Form und Bestimmtheit im Sinne der Ebene oder der räumlichen Tiefe.«199 Form und Farbe treten hier in ein ungewöhnliches Verhältnis, nämlich das eines Widerstreits, den Newman nicht aufheben, sondern akzentuieren will. Imdahl spricht davon, dass sich die Rotgegebenheit von der Bildgegebenheit befreit. Die gegebene Form wird gesprengt, die durch die Grenzen des Bildes definierte Bildgestalt transzendiert; ein die Bildgrenzen überschreitendes, scheinbar grenzenloses Rot präsentiert sich dem Betrachter. Durch diese Entgrenzung wird er mit einer Erscheinung konfrontiert, die er aufgrund ihrer Nichtdarstell­ barkeit nur noch zur Idee einer ganzen Vorstellung zusammenfassen kann. Und dieses Vermögen, unabhängig vom Wahrgenommenen zweckmäßige Vorstellungen haben zu können, erweckt jenes Wohl­ gefallen, welches Kant »erhaben« nennt. Diese Wirkung wird aber nicht ausschließlich durch die Größe des Bildes erreicht, sondern auch – wie Imdahl gezeigt hat – durch die beiden seitlichen Randzonen, die ein »farbenenergetisches Spannungsverhältnis« hervorbringen können: »Ist also [...] vermöge der seitlichen Randzonen erstens das gegebene Bildkontinuum transformiert in das autonome, das heißt vom Bildfeld befreite Kontinuum des Rot, so ist zweitens dieses 198 Wie Newmans Ästhetik des Erhabenen auf den manisch-depressiven Kunstzer­ störer, dem ›Who's afraid of red, yellow and blue IV‹ zum Opfer fiel, gewirkt haben könnte, untersucht Pickshaus in einer psychoanalytisch-kultursoziologischen Studie; vgl. ders., a.a.O., S. 73–116, insbesondere S. 114–116. 199 Imdahl, a.a.O., S. 14.

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infolge der verschiedenen Interaktionen zwischen Rot und Blau und Rot und Gelb noch transformiert in einen in sich selbst dynamisch differenzierten Energiebereich.«200 Die Farbe, die sich nicht an die Form binden lässt und diese gleichsam übersteigt, vermittelt dem Betrachter den Eindruck von Größe schlechthin, die jeden Maßstab der Sinne übertrifft, die also kei­ nen »Vergleichungsbegriff« gestattet, deshalb als »absoluter Begriff« bestimmt werden muss, d.h. als Erhabenheit, die in den Ideen zu suchen ist, würde Kant sagen. Nach Lyotard entfaltet diese ihre Wirksamkeit in jenem Augenblick, der den Fragen nach Sinn und Wirklichkeit des Betrachteten vorausgeht. Mit dieser Auffassung, die aus einer recht komplizierten Vermischung Kantscher und Heideg­ gerscher Gedankengänge hervorgeht, versucht er, Newmans Schrift The sublime is now gerecht zu werden, nach der das Bild selbst der Augenblick ist, der nur in jenem Augenblick fühlbar ist, der der Beschreibung zuvorkommt. Der Betrachter, der diesen Augenblick verfehlt, muss unweigerlich vor dem Bild scheitern. Alle Versuche, Newmans Bilder zu kommentieren, sind vergeblich, denn sie haben keinen im traditionellen Sinne zu verstehenden Inhalt, der in einem Kommentar dargestellt werden könnte. Wichtig ist also, jenen Augen­ blick nicht zu verpassen, in dem etwas geschieht, das auf der Stelle und ohne weitere Hilfsmittel das Gemüt mit einem zwiespältigen Gefühl des Erhabenen erschüttert. Im Gegensatz zu Friedrichs indirekter, über die Identifikation mit dem Mönch vermittelten Konfrontation mit Größe und Macht der Natur, handelt es sich bei Newmans Bildern um eine unmittelbare, im Hier und Jetzt sich ereignende Erhabenheit, die dem Betrachter sowohl ankündigt, dass etwas geschieht, als auch, dass nichts geschehen könnte, die in ihm das widersprüchliche Gefühl der Lust, die aus einer Unlust kommt, erregt, weil das Es geschieht sich zurückhält und zunächst ein unsicheres Geschieht es? das Bewusstsein aus der Fassung bringt. Die Wirksamkeit der Bilder entfaltet sich in einer Zeit, die den Fragen nach Bedeutung und Realität des Betrach­ teten vorausgeht. Lyotard sagt: »Es handelt sich nicht um die Frage nach dem Sinn und der Wirklichkeit dessen, was geschieht, oder was das bedeutet. Bevor man fragt: was ist das?, was bedeutet das?, vor dem quid, ist ›zunächst‹ sozusagen erfordert, daß es geschieht, quod. Daß es geschieht, geht sozusagen immer der Frage nach dem, was geschieht, ›voraus‹. Denn daß es geschieht: das ist die Frage als 200

Ebd., S. 16.

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Ereignis; ›danach‹ erst bezieht sie sich auf das Ereignis, das soeben geschehen ist. Das Ereignis vollzieht sich als Fragezeichen, noch bevor es als Frage erscheint. Es geschieht, Il arrive ist ›zunächst‹ ein Geschieht es? Ist es, ist das möglich? Dann erst bestimmt sich das Fragezeichen durch die Frage: geschieht dies oder das, ist dies oder das, ist es möglich, daß dies oder das geschieht?«201 Newmans Bilder, die, wie gesagt, ihre Wirksamkeit in einer Zeit aufdecken, die den Fragen nach Bedeutung und Realität des Darge­ stellten vorangeht bzw. zuvorkommt, haben einen Ereignischarakter im philosophischen Sinne. Es geht dabei um die Phase eines Ereignis­ ses, das unvorhersehbar erfolgt. Dieses Ereignis ist der Augenblick, in dem man versucht, jene Präsenz einzufangen, die daran erinnert, dass überhaupt etwas geschieht, bevor wir anfangen zu fragen, welche Bedeutung dem, was da geschieht, zukommt. Es geht also darum – um es mit Heidegger zu sagen –, die Weise zu erfassen, wie es Sein und wie es Zeit gibt, d.h., das Sein im Sinne von »Anwesen« und »Anwesenlassen«, wie es sich als Ereignis zeigt, zu vernehmen. Was aber versteht man eigentlich unter Ereignis? Nach Heidegger benennt es das, »was beide, Zeit und Sein, in ihr Eigenes, d.h. in ihr Zusammengehören, bestimmt...«202 Und weiter heißt es: »Sofern es Sein und Zeit nur gibt im Ereignen, gehört zu diesem das Eigen­ tümliche, daß es den Menschen als den, der Sein vernimmt, indem er innesteht in der eigentlichen Zeit, in sein Eigenes bringt. So geeignet gehört der Mensch in das Ereignis. Dieses Gehören beruht in der das Ereignis auszeichnenden Vereignung. Durch sie ist der Mensch in das Ereignis eingelassen.«203 Allerdings will Lyotard das Ereignis nicht, wie Heidegger, als direkt an den Menschen gerichtet auffassen, also nicht den Menschen zum Empfänger des »Reichens« und »Schickens« machen; insofern versteht Lyotard Ereignisse im Sinne von herkömmlichen »Geschehnissen« oder »Vorkommnissen« von in Sätzen dargestellten Universen.204 Für Lyotard ist der Mensch nicht der direkte Empfänger des Ereignisses, sondern der Referent

J.-F. Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, in: Merkur, 424, 1984, S. 152. M. Heidegger, Zeit und Sein, in: ders., Zur Sache des Denkens, Tübingen 1969, S. 20. 203 Ebd., S. 24. 204 Vgl. J.-F. Lyotard, Der Widerstreit, München 1987, S. 133f. 201

202

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eines Satzes, der sich ereignet; er wird hier »im Universum eines Satzes dargestellt, also mit Bezug auf eine Bedeutung situiert.«205 Der Inhalt der Gemälde aus der Serie Who's afraid of red, yellow and blue (wenn man hier überhaupt von Inhalt reden kann), besteht für Lyotard in einem »Abziehen der Ereigniszeit [...] von der Präsentation des bildlichen Objekts selbst.«206 Aber was heißt hier Abzug der Ereigniszeit? Wahrscheinlich hat sich Lyotard die Frage gestellt, ob ein Bild einem Betrachter in dem Ereignis der Betrachtung ein nicht darstellbares Sein (im Heideggerschen Sinne) präsentieren könne. Wenn der Inhalt des Bildes in einem Abziehen der Ereigniszeit von der Präsentation des bildlichen Objekts bestünde, könnte die Betrachtung für Lyotard als ein Ereignis verstanden werden, welches den Betrachter und das Bild in dem Universum der Betrachtung im Hinblick auf eine Präsentation von Sein im Hier und Jetzt positioniert, wobei der Gegenstand und dessen Bedeutung als Undarstellbarkeiten fungieren. Der Akzent wird nicht mehr auf den Menschen gesetzt, sondern auf das, was sich zwischen Betrachter und Betrachtetem abspielt und dabei diese Formation oder Situation übersteigt. Dieser Akt der Betrachtung schlägt um in einen intellektuellen Vorgang: die sinnlich wahrnehmbaren Wesenheiten erweisen sich als Anti-For­ men, in denen die Ideen des Übersinnlichen sich manifestieren. Newmans Bilder haben keine Formen, die sinnlich wahrnehmbar wären, die als Zeichen identifiziert und mit einer Bedeutung versehen werden könnten. Anders als Friedrichs Bilder bedeuten diese nichts, aber sie sind. Eine solche eigenständige und sich selbst genügende ›Wirklichkeit‹, die sich der Wahrnehmung entzieht, weil sie alle Formgrenzen überschreitet, ist daher auch kein Thema des (in klaren und deutlichen Grenzen) verstehenden Verstandes, sondern allein der grenzenlos denkenden Vernunft. Allerdings ist Newmans These, dass der Abzug der Ereigniszeit dem Betrachter einen »totalen Sinn« offenbaren würde, ebenso wie Heideggers Ansicht über das Ereignis, nämlich, dass es als an den Menschen gerichtet aufzufassen sei, für Lyotard nicht haltbar, auch wenn er Newman als intellektuellen Künstler betrachtet, dem es stets gelungen sei, für sein Tun eine überzeugende Theorie zu formulieren. Bis auf diesen Punkt stimmen beide völlig überein in den theoretischen Fragen, die eine reflexiv Vgl. ebd., S. S. 81. Vgl. J.-F. Lyotard, Der Augenblick, Newman, in: ders., Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, S. 18.

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gewordene Kunst, eine Kunst, in der es wenig bzw. nichts zu sehen und dafür viel zu denken gibt, aufzuwerfen vermag. In seinem Aufsatz über Newman zeigt er, dass das Sein in der Ereigniszeit keinesfalls mit einem Sinn zusammenfällt.207 Der Sinn eines Bildes stellt sich ausdrücklich erst nachträglich ein, nachdem die Anschauung stattgefunden hat und die Verstandestätigkeit beginnt, etwas Inhaltliches über die rein plastische Präsentation von Newmans Werk zu erarbeiten; nachdem die Kommentatoren sich mit dem sichtbaren Inhalt des Bildes auseinandergesetzt haben, um diesen schriftlich zu fassen bzw. darzustellen. Da Newmans Bilder aber keinen im traditionellen Sinne zu verstehenden Inhalt haben, der dar­ stellbar wäre, weil der unscheinbare Inhalt sich allenfalls unsichtbar aufdrängt, erzählen sie nichts sinnlich Konkretes über das Ereignis, sondern wollen lediglich durch sich selbst als quasi audiovisuelles Ereignis des Seins auftreten. Daher ist der Inhalt in seinen Bildern etwas Augenblickliches, eine »Zeitempfindung«208, in der sich das Sein im Hier und Jetzt darbietet. Sie haben dem Auge des Betrachter also keine darstellbare Botschaft mitzuteilen, sondern seinem Ohr lediglich einen »minimalen Befehl«209 auszusprechen, der allerdings auch gehört werden muss: sei!, – doch diese Interpretation, die wir hier anstellen, ginge für Lyotard bereits über die rein ›plastische Präsentation‹ von Newmans Werk hinaus: »Wenn man also nur die plastische Präsentation befragt, das, was sich dem Blick bietet, ohne sich mit durch die Titel suggerierten Konnotationen zu behelfen, fühlt man sich nicht nur ferngehalten von jeglicher Interpretation, man fühlt auch, daß das Entziffern des Bildes, seine Identifikation durch die Linien, die Farben, den Rhythmus, das Format, die Größe und den Werkstoff (Medium und Pigment) leichter, fast augenblicklich erfolgt. Offensichtlich gibt es kein Geheimnis in seiner Herstellung, keinen Trick, um die Intelligenz des Blicks abzuschwächen und so die Neugier zu wecken. Es ist nicht verführerisch, nicht doppeldeutig, es ist klar, ›direkt‹, freimütig, ›arm‹.«210 Wenn man Newmans Werk zur Ästhetik des Erhabenen rechnet, so bedarf es einer Erklärung, denn Burke und Kant haben die Malerei nicht für fähig gehalten, das Erhabene zu entfalten, weil sie den Zwän­ 207 208 209 210

Vgl. ebd., S. 20. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. ebd. Ebd., S. 14.

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gen der figurativen Darstellung unterliege; eine nicht figurative Kunst konnten beide sich unmöglich vorstellen. Allenfalls in der Dichtung könnte das Erhabene ihnen zufolge einen Platz finden. Als Beispiel führt Burke Miltons Schilderung des höllischen Reichs in Paradise Lost an. Bei Kant liegt der Fall ähnlich. Ihm zufolge gelingt es nicht, das Absolute der Macht oder das Unendliche der Größe in Raum und Zeit darzustellen, weil es reine Ideen sind. Es scheint demnach so zu sein, dass das Erhabene in der Malerei keinen Platz finden könne. Lyotard zeigt jedoch, dass Kant »unfreiwillig eine andere Lösung«211 für das Problem des Erhabenen in der Malerei nahelegt: Wenn nämlich Kant das Verbot von Bildern durch das jüdische Gesetz als Beispiel für das Paradoxon einer »negativen Darstellung« anführt, so habe er einen Hinweis für die »abstraktionistischen und minimalistischen Auswege« aus dem »figurativen Gefängnis« der Malerei gegeben.212 Newman hat diesen Hinweis meiner Ansicht nach zweifellos aufgenommen. Nicht zuletzt spricht dafür seine Forderung, Kunst solle Ethik, nicht Ästhetik sein.213 Das »Erstaunen«214 darüber, dass überhaupt etwas ist und nicht vielmehr nichts, ist der Ethik näher als der Ästhetik. Völlig zu Recht behauptet Lyotard, dass es Newman darum gehe, »der Farbe, der Linie und dem Rhythmus die Kraft der Verpflichtung zu geben, in einer Beziehung von Angesicht zu Angesicht, in der zweiten Person, deren Modell nicht sein kann: Sieh das an, (dort) sondern: Sieh mich, oder besser: Hör mir zu. Denn die Verpflichtung ist viel mehr ein Modus der Zeit und des Raums, und ihr Organ ist mehr das Ohr als das Auge.«215 Die Kunst Newmans unterscheidet sich sowohl von der traditio­ nellen, in der es um Perspektive und Sichtbarkeit ging, als auch von jener modernen, die Perspektivität destruiert und damit das Gewicht auf Sichtbarkeit im Verhältnis zum Unsichtbaren legt. Newman verzichtet zwar nicht auf Sinnlichkeit, die Betonung aber liegt auf Sittlichkeit, darauf, dass es Pflicht gibt. Mehr will uns sein Werk gar nicht sagen. Es hat keine Botschaft im traditionellen Sinne, die über etwas spricht, von einem Sender (dem Maler) ausgeht, an einen Empfänger (den Betrachter und seinem Auge) sich richtet. Dennoch spricht das Werk, aber nicht von etwas, nicht durch den Maler, 211 212 213 214 215

Ebd., S. 17. Vgl. ebd., S. 18. Vgl. dazu Imdahl, a.a.O., S. 27; vgl. ebenfalls Kerber, a.a.O., S. 40. Vgl. J.-F. Lyotard, Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 64. Lyotard, Der Augenblick, Newman, a.a.O., S. 11.

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sondern durch sich selbst: Es wendet sich sozusagen an den hörenden Betrachter, im ersten »Augen«-blick, für einen Augenblick, situiert ihn auf eine unaustauschbare Du-Instanz und ruft, wie schon erwähnt, jenen »minimalen Befehl« aus: sei! – und sobald wir als Betrachter vor dem Bild diesen Imperativ vernehmen bzw. hören, sagt ebendieser Befehl uns, dass wir sein sollen, aber nicht, was wir sein oder tun sollen. Er erinnert uns lediglich an die ethische Dimension unseres Lebens: das Sein, das für den Menschen ein Sollen bedeutet, d.h. die Menschheit soll sich selbst erhalten. Es steckt in diesem Sein somit der Charakter einer Aufforderung, wie Newman es annahm und was Lyotard offenbar überzeugend fand. Aber wie der einzelne Mensch dafür sorgen muss oder was er genau dafür tun kann, wird nach Lyotards Ansicht nicht gesagt. Denn was die Menschen tun sollen, diese Frage taucht immer nachträglich auf, ist jedem Einzelnen selbst überantwortet. Für Lyotard und Newman ebenso wie für Kant ist das Erhabene deswegen von so großer Bedeutung, weil es uns auf einen ›wider­ sprüchlichen Zug‹ unseres Seins in der Welt aufmerksam macht. Wir sind nämlich, wie Kant es sieht, Bürger zweier Welten: erstens der Sinnenwelt, darin dem Endlichen verhaftet und der Unwidersteh­ lichkeit der Naturgewalten ohnmächtig ausgeliefert; zweitens aber einer höheren Welt, darin über die Sinnenwelt hinausragend und in Freiheit gesetzt. Die »große Belehrung«, die der Mensch – um es mit Wilhelm Weischedel216 zu sagen – durch das erhabene Gefühl »emp­ fängt«, besagt, dass er in der äußersten Bedrohung durch die ›Unwi­ derstehlichkeit der Natur‹ und die ›Unermesslichkeit ihrer Größe‹ seiner Überlegenheit gewahr werden kann: d.h., dass er einerseits mit seinem Vermögen der Anschauung und der Einbildungskraft am Unendlichen und am Absoluten scheitert, sich andererseits beides in seinem Denken mit Ideen vorstellen und sich selbst mit diesen Ideen als autonomes Vernunftwesen bestimmen kann. Im Aufschwung zum Erhabenen trifft der Mensch also auf seine Freiheit. Und in dieser Freiheit kann er das Rechte tun – er muss es aber nicht. In der Geschichte der letzten zweihundert Jahre ist es der Menschheit beinahe gelungen, mit Hilfe dieser Freiheit die absolute Unfreiheit, Horkheimer und Adorno würden sagen, die »falsche Totalität« herzu­ stellen. Das Erhabene ist insofern ein widersprüchliches Gefühl – es 216 Vgl. W. Weischedel, Rehabilitation des Erhabenen, in: ders., Philosophische Grenzgänge. Vorträge und Aufsätze, Stuttgart u. a. 1967, S. 104.

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verleitet den Menschen in seinem Verhalten und Handeln zum Guten ebenso wie zum Schlechten. Nicht ohne Grund spricht Nietzsche von einer »Scham« vor der erhabenen Gebärde, die er als Symptom einer »physiologischen Erschöpfung« des Menschen betrachtet.217 Nach seiner Ansicht wäre die Vorstellung, die höhere Zweckmäßigkeit von der Zweckmäßigkeit der Natur »ganz abzutrennen«, als Ressentiment zu betrachten. Horkheimer und Adorno sprechen von einem »Fluch« der Trennung von Sinnlichkeit und Vernunft, der eine »unaufhaltsame Regression« bewirke: »Diese beschränkt sich nicht auf die Erfahrung der sinnlichen Welt, die an leibhafte Nähe gebunden ist, sondern affiziert zugleich den selbstherrlichen Intellekt, der von der sinnlichen Erfahrung sich trennt, um sie zu unterwerfen. Die Vereinheitlichung der intellektuellen Funktion, kraft welcher die Herrschaft über die Sinne sich vollzieht, die Resignation des Denkens zur Herstellung von Einstimmigkeit, bedeutet Verarmung des Denkens so gut wie der Erfahrung; die Trennung beider Bereiche läßt beide als beschä­ digte zurück.«218 Wenn der Philosoph Friedrich Nietzsche219 uns aufzuklären versucht, dass die Trennung von theoretischer und praktischer Ver­ nunft ein Irrtum gewesen sei, so muss man wohl hinzufügen, ein Irrtum, der sich nicht wiedergutmachen lässt. Für ihn ist die Kantische Metaphysik eine historische Erscheinungsweise des »unvollständigen Nihilismus« in der abendländisch-platonischen Philosophie.220 Aber hat er selbst oder seine Nachfolgerschaft eine ›wertsetzende Philo­ sophie‹ ausbilden können, die jene Metaphysik überwinden kann? Ich möchte diese Frage mit ja und nein beantworten. Denn die »Über­ windung der Metaphysik« hat die Trennung von theoretischer und praktischer Vernunft nicht »aufgehoben«; sie kann nämlich höchstens »verwunden« werden, würde Heidegger221 sagen; aber tatsächlich läuft diese »Überwindung« als »Verwindung« auf eine weitere, radi­ kale »Zerstreuung der Philosophie«222 im 20. Jahrhundert hinaus. Vgl. F. Nietzsche, Der Wille zur Macht, Stuttgart 1964, S. 161f., 164. M. Horkheimer, Th. W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main 1981, S. 35. 219 Vgl. Nietzsche, a.a.O., S. 210f., 287f., 318f. 220 Vgl. M. Heidegger, Nietzsches Wort ›Gott ist tot‹, in: ders., Holzwege, Frankfurt am Main 1980, S. 212ff., 222. 221 Vgl. M. Heidegger, Überwindung der Metaphysik, in: ders., Vorträge und Auf­ sätze, Pfullingen 1954, S. 75. 222 Vgl. Lyotard, Immaterialität und Postmoderne, a.a.O., S. 21. 217

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Daher wird unsere Antwort auf Nietzsche folgendermaßen lauten müssen: Solange der Nihilismus nicht zum »Ideal des überreichsten Lebens« geworden ist, bleibt uns wohl nichts anderes, als das Beste aus der Kantischen Trennung zu machen.

Abb. 2: Barnett Newman, Whoʼs afraid of red, yellow and blue II, 1969–70

Um die Aufgabe der Kritik der Urteilskraft richtig zu verstehen, ist es notwendig, sich auf das Grundproblem der Kantischen Philosophie zu besinnen: die Teilung des Vermögens des menschlichen Gemüts in zwei völlig unterschiedliche, in ein Erkenntnis- und ein Begehrungs­ vermögen und damit in eine Spaltung des Subjekts und seiner Ver­ nunft in zwei heterogene und inkommensurable Kräfte. Das Problem der Verknüpfung dieser beiden Kräfte hat das philosophische Denken bis heute beunruhigt, und es ist wohl aussichtslos, einmal eine Einheit der Vernunft (»unter einem Prinzip«) herzustellen. Festzustel­ len bleibt das Vorhandensein zweier Vernunftarten als selbständige gesetzgebende Vermögen, die gegen allen wechselseitigen Einfluss durch eine »unübersehbare Kluft«223 voneinander geschieden sind. 223

KU, S. 11.

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Kapitel 5 Das Erhabene in der Kunst und seine ästhetische Überwindung

Will man den Schwierigkeiten mit den beiden »Einleitungen« zur Kritik der Urteilskraft nicht aus dem Wege gehen (wie es die zeitge­ nössische deutsche Kantrezeption beispielsweise tut, indem sie die Urteilskraft aus der »sachbezogenen Analyse«224 interpretiert), so bleibt wohl als einziger Weg, sich auf eine Reflexion einzulassen, wie Lyotard sie vorführt. Das tue ich in diesem Zusammenhang, indem ich mit ihm die These vertrete, dass es die Romantik nur indirekt verstanden hat, das Erhabene in der Kunst zu entfalten.225 Das tue ich aber auch noch, wenn ich gegen ihn die These vertreten werde, dass das Erhabene in der Postmoderne keine Bedeutung mehr hat und somit für eine klare Grenzziehung zwischen Moderne und Postmoderne eintrete.

Abb. 3: Philip Taaffe, We are not afraid, 1985

W. Henckmann, Das Problem der ästhetischen Wahrnehmung in Kants Ästhetik, in: Philosophisches Jahrbuch, 78, 1971, S. 328. 225 Vgl. Lyotard, Immaterialität und Postmoderne, a.a.O., S. 99. Vgl. auch Lyotard, Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit, in: ders., Das Inhumane, Wien 1989, S. 219. Vgl. ebenfalls Lyotard, Das Erhabene und die Avantgarde, a.a.O., S. 153f. 224

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3. Die Rehabilitation des Schönen in der Postmoderne

3. Die Rehabilitation des Schönen in der Postmoderne Seinerzeit jüngere postmoderne Künstler wie der US-Amerikaner Philip Taaffe sahen das Vertrauen, das Newman noch in das Erha­ bene setzte, äußerst bedenklich. Er hat es zum Thema seiner Arbeit gemacht, um eine neue Betrachtungsweise auf es zu eröffnen. Seine Kunst läuft darauf hinaus, die Ästhetik des Erhabenen, die Sinnlich­ keit und Vernunft in einen Widerstreit setzt, mit einer Ästhetik des Schönen, die die Sinnlichkeit mit der Vernunft in eine unbestimmte Übereinstimmung bringt, zu destruieren. Schiller sah im Gefühl des Erhabenen die Möglichkeit einer ästhetischen Erhebung über die sinnlose Vernichtungsbereitschaft des empirischen Schicksals. Mit dieser Möglichkeit hat die Menschheit in den letzten zweihundert Jahren tatsächlich die Macht des Schicksals gebrochen und ist im Begriff, es selbst in die Hand zu nehmen. Die Gewalt, die der Natur durch den Menschen angetan wurde, übertrifft bei weitem diejenige, die wir durch die Natur erleiden mussten. Kämpft der Arzt bei den großen Krankheiten eigentlich noch gegen die Natur oder nicht doch schon gegen die Schulden der menschlichen Vernunftkultur? Wohl nicht ohne Grund bezeichnet man den größten Todbringer heutzu­ tage, ich meine den Herzinfarkt, als Zivilisationskrankheit. Wenn es für ein Vernunftwesen aufgrund der Schwächung der Naturgewalten keinen Sinn mehr hat, »sich seiner Independenz von Naturgeset­ zen bewußt zu werden«226, so versteht man, warum das Erhabene immer häufiger ins Lächerliche absinkt. In einer Zeit, in der die Naturgewalten mehr oder weniger gezähmt worden sind, kann das Gefühl des Erhabenen, welches ja mit der Ungeheuerlichkeit der Naturgewalten anwächst, nur noch in einer Simulation hervorgeru­ fen werden. Eine solche Simulation wollen Newmans Bilder über Größe und Farbe herstellen. Jüngere Künstler begegneten solchen Versuchen mit einer ironischen Ablehnung. Wenn Sandro Chia in seinem in den 1980er Jahren geschaffenen Werk Der Maler das abstrakte Bild auf ein ungefähr DIN-A-3-Blatt großes Format redu­ ziert und es einer Person in die Hand gibt, die aussieht wie ein

226 F. Schiller, Über das Erhabene, in: ders., Vom Pathetischen und Erhabenen, hrsg. v. K. L. Berghahn, Stuttgart 1970, S. 95.

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»Rausschmeißer«227, so kann von erhabenen Gefühlen keine Rede mehr sein. Es ist eine Geste, die zum kynischen Lachen ermuntert, eine Frechheit, die dem abstrakten Künstler ins Gesicht schlägt, mit der in diesem Werk ein damals junger Postmodernist das etablierte und esoterische Werk der Moderne hinausbefördern wollte. Über diese bloße Destruktion der reflexiv gewordenen Kunst hinausgehend wagt Taaffe eine Auseinandersetzung, die man als »Manipulation«, vielleicht auch als »Dekonstruktion« oder als »Reflexion« der reflexiv gewordenen Kunst bezeichnen könnte; er versteht es zu zeigen, wie ein einziger Schritt vom Erhabenen ins Lächerliche führen kann. 1985 schuf er ein »exemplarisches« Werk mit dem bemerkenswerten und bezeichnenden Titel We are not afraid, das dieser Einschätzung in jeder Hinsicht gerecht wird. Zunächst ist zu erwähnen, dass es sich bei diesem Bild um ein Zitat von Newmans Whoʼs afraid of red, yellow and blue II handelt. In den Maßen stimmt es genau mit diesem Werk überein; es misst in der Höhe 3,04 m und in der Breite 2,59 m. Aber nicht nur im Format, auch im Bildaufbau ist es nahezu identisch mit der Vorlage von Newmans Werk. Eine einzige Veränderung hat Taaffe vorgenommen, indem er Newmans berühmte Zips an den Rändern durch Darstellungen um Stäbe gedrehter Seile und in der Mitte durch eine gedrechselte Kordel ersetzt.228 Mit dieser gezielten Destruktion kann das Bild nicht mehr einer Ästhetik des Erhabenen zugerechnet werden. Denn die hinzugefügten dekorativen oder orna­ mentalen Elemente, die zur Rhetorik des Schönen gehören, lassen dem Bild nichts mehr, was das Fassungsvermögen sprengen könnte; sie erregen nämlich das freie Spiel von Einbildungskraft und Verstand mit ihren Formen, die mit einem Gefühl reiner kontemplativer Lust wahrgenommen werden können. Damit wird die Fiktion des Schönen ins Bild zurückgeholt.229 Vgl. A. Martis, Die Verantwortung der Bilder, in: D. Kamper u. W. v. Reijen (Hg.), Die unvollendete Vernunft. Moderne versus Postmoderne, Frankfurt am Main 1987, S. 363. 228 Vgl. J. Avgikos, Philip Taaffe, in: Similia/Dissimilia, hrsg. v. R. Crone, Düsseldorf 1987/88, S. 157. Vgl. auch B. Bürgi, Who's Afraid of Red, Yellow and Blue?, in: ders. (Hg.), Rot, Gelb, Blau. Die Primärfarben in der Kunst des 20. Jahrhunderts, St. Gallen/ Kassel 1988, S. 113. Vgl. weiterhin M. Brüderlin, Paradigmen des Ornamentalen in der Gegenwartskunst, in: IN SITU, Ausstellungskatalog, Sezession Wien 1988. Vgl. schließlich D. A. Ross, J. Harten, Amerikanische Kunst der späten 80er Jahre. The BiNational, Köln 1988, S. 198ff. 229 Vgl. H. Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne, München 1994, Teil 2. 227

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3. Die Rehabilitation des Schönen in der Postmoderne

In allen Bildern Taaffes manifestiert sich eine geometrische Malerei, die keine Wiedergeburt von Mondrians reinen geometri­ schen Formen bedeutet, sondern eine Neuschöpfung, die aus vielerlei Bezugnahmen entsteht, aus Deformationen von gegebenen Formen, wobei eine Verspieltheit der Darstellung herauskommt. Der Betrach­ ter hat es in der Anschauung mit einer Ordnung im Aufbau der Bilder zu tun, die für sich selbst spricht, d.h. für nichts bestimmt ist, und sich als »schön« bezeichnen lässt. In seiner Theorie der schönen Form hat Kant dafür den Ausdruck einer »Zweckmäßigkeit ohne Zweck«, d.h. einer »Zweckmäßigkeit der Form nach«, gefunden. Die »Zweckmä­ ßigkeit der Form nach« liegt dem Geschmacksurteil zugrunde, wenn der Betrachter in einem ästhetischen Experiment an das Kunstwerk die Frage richtet, ob es ihm etwas Unbestimmtes präsentieren könne, das er als schön ansprechen würde. Es ist für Kant selbstverständlich, dass die Lust am Schönen als auf einer Situation beruhend verstanden werden muss, in der sich dieses Experiment in einem interesselo­ sen Verhältnis zwischen ästhetischer Stimmung und empirischer Welt, d.h. in ruhiger Kontemplation, ohne Bewegung des Gemüts, als gelungen erwiesen hat. Das Bedürfnis, Lust an den schönen Gegenständen in der Kunst zu empfinden, kann enttäuscht werden, wenn sie uns formlose und ungeheure Erscheinungen präsentiert. Dann gerät das Gemüt in eine unruhige Bewegung, in den Zustand von Angst und Schrecken; es ist nun darauf angewiesen, in den erhobenen Stand ästhetisch-moralischer Selbständigkeit einzutreten, in dem es die verderbliche Macht der sinnlichen Welt dem Begriff nach zu vernichten vermag. Wo aber kann die Kunst heute noch mit formlosen und ungeheuren Erscheinungen das Gemüt des Betrachters in Bewegung bringen? In einer audiovisuellen Medienwelt, die die Unterschiede zwischen Realität und Fiktion, zwischen dem Sensiblen und dem Intelligiblen längst eingeebnet hat und der wir uns kaum noch entziehen können, kann mangels wirklich Neuem das Erhabene seine Wirksamkeit nicht mehr entfalten. Wenn, wie Lyotard es sagt, »die Wirklichkeit in einem Maße destabilisiert ist, daß sie keinen Stoff mehr für Erfahrungen gewährt, wohl aber für Erkundung und Experiment«230, unterstellt er zugleich, nur eine Ästhetik, die nicht auf Wirkliches, sondern auf Denkbares anspielt, könne experimentel­ len und damit innovativen Charakter haben. Bei Kant ist das etwas 230 J.-F. Lyotard, Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: ders., Postmo­ derne für Kinder, Wien 1987, S. 16.

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Kapitel 5 Das Erhabene in der Kunst und seine ästhetische Überwindung

anders. Es gilt bei ihm nämlich zu unterscheiden – das Experiment auf Seiten des Künstlers und auf Seiten des Betrachters. Ausgehend von Kants Ästhetik interessiert es besonders im Hinblick auf den letzteren. Und in seiner Rezeptionsästhetik, die zwischen dem Gefühl des Erhabenen und dem Gefühl des Schönen unterscheidet, hat es jeweils grundsätzliche und verschiedenartige Züge, die es erlauben, zum einen die Natur und zum anderen die Freiheit in der Welt mit einem Gefühl der Lust wahrzunehmen und damit nicht mehr aus den Augen zu verlieren.231

231

Vgl. F. Kaulbach, Ästhetische Welterkenntnis bei Kant, Würzburg 1984, S. 215f.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit? Das Verhältnis von »Baukunst und Zeitwille« in der Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Abb. 1: Klee, Hauptweg und Nebenwege, 1929

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Das in Abb. 1 dargestellte Werk von Paul Klee könnte als Hinweis dafür dienen, dass das Feld der Architektur des 20. Jahrhunderts nicht als einheitliches, sondern als heterogenes Feld vorgestellt werden muss. Also dieses Feld hat Hauptwege und Nebenwege. Ein Haupt­ weg, nicht der Hauptweg, soll im Folgenden rekonstruiert werden. Eine Architekturgeschichte, in der gleichzeitig zahlreiche unter­ schiedliche Strömungen nebeneinander oder gegeneinander gegeben sind, kann nicht mehr auf eine »eindimensionale« Stilgeschichte, d.h. einen »Gänsemarsch der Stile«232 reduziert werden; sie muss viel­ mehr Haupt- und Nebenwege unterscheiden und untersuchen. Diese Untersuchung soll hier jedoch nicht darin bestehen, die Pluralität der unterschiedlichen Wege im 20. Jahrhundert und ihre vielfältigen Verflechtungen zu analysieren, sondern vielmehr auf einen für diese Zeitepoche sehr markanten Hauptweg der Architekturentwicklung hinzuweisen. Dies impliziert, so behaupte ich, eine Reihe von Fragen, etwa die Frage nach dem Selbstverständnis dieser Zeit. Meine beiden grundsätzlichen Thesen zur Beantwortung der hier aufgeworfenen Fragen lauten: 1.) Architektur ist ihre Zeit in Gebäuden erfasst. Ähnlich äußert sich Ludwig Mies van der Rohe: »Baukunst ist immer raumgefaßter Zeitwille, nichts anderes. […] Man wird begreifen müssen, daß jede Baukunst an ihre Zeit gebunden ist und sich nur an lebendi­ gen Aufgaben und durch die Mittel ihrer Zeit manifestieren läßt. […] Die Forderung der Zeit nach Sachlichkeit und Zweckmäßig­ keit sind zu erfüllen.«233 2.) Philosophie dagegen ist ihre Zeit in Gedanken erfasst, um es mit Hegel zu sagen.234 Aber auch die Auffassung Mies van der Rohes hat Hegel in seiner Philosophie der Architektur bereits vorwegge­ nommen.

232 Vgl. K. J. Philipp, Gänsemarsch der Stile. Skizzen zur Geschichte der Architekturge­ schichtsschreibung, Stuttgart 1998. 233 L. Mies van der Rohe, Baukunst und Zeitwille, in: Der Querschnitt, 4, 1924, S. 31– 32. 234 Vgl. dazu J. Simon, Hegels Begriff der Philosophie als »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« und das Programm einer vergleichenden Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 25. Jg., 1/2000.

194 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

1600

1923 1932 1945

Humanismus

Rationalismus Empirismus

1978

1992

theoretischer Pluralismus

faktischer Stilpluralismus

Phänomenologie Kritische Theorie Moderne versus Postmoderne… Existentialismus Strukturalismus Frankfurter Schule… Neostrukturalismus… Analytische Philosophie… Angewandte Ethik…

theoretischer Monismus

Aufklärung Deutscher Idealismus Positivismus Kritizismus Gegenaufklärung

faktischer Stilpluralismus

philosophiegeschichtliche Entwicklung:

1960/1

Postmoderne? Zweite Moderne?

Klassizismus Historismus Jugendstil Bauhaus Postmoderne Dekonstruktion (1755-1830) (1830-1910) (1880-1920) (1923-1933) (ab 1960) (ab 1978) Rokoko Romantik Ingenieurarchitektur Neues Bauen International Style Spätmoderne Neomoderne (1720-1780) (1790-1840) (1851-1889) (20/30er Jahre) (ab 1932) (ab 1961) (ab 1992) Schule von Chicago Bauwirtschaftsfunktionalismus (1880-1900) (ab 1945)

1900

absolute Gültigkeit eines Stils

Barock (17.-18. Jh.)

1800

Moderne

Gänsemarsch der Stile

Renaissance (15.-16. Jh.)

architekturgeschichtliche Stilentwicklung:

Zeitfluss: 1400

Neuzeit

kulturgeschichtliche Epochenentwicklung in Mitteleuropa und Nordamerika:

Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Schema 1: Kulturgeschichtliche Epochenentwicklung

195

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.

Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

1. Architekturgeschichte und Architekturtheorie Wir kennen heute eine ganze Reihe von Ansätzen gelehrter Beschäf­ tigung mit Architektur. Zu den ältesten gehört die Architekturge­ schichte. Ihr Gegenstand ist die Vergangenheit, das heißt, sie befasst sich mit der Welt- und Stilgeschichte der Architektur. Im 20. Jahrhun­ dert haben sich dann daneben Architekturkritik und Architekturtheo­ rie, die jeweils ihre eigene Geschichte haben, etabliert. Während sich die Architekturkritik mit der Gegenwart, der kritischen Darstellung der Architektur in der öffentlichen Diskussion, beschäftigt, befasst sich die Architekturtheorie mit der Frage: Was ist Architektur? Das heißt, es geht ihr um eine Wesensdefinition von Theorie und Praxis der Architektur. In jüngster Zeit hat sich eine neue Dimension gelehr­ ter Beschäftigung mit Architektur herausgebildet, die sich der Frage widmet: Was soll oder darf Architektur? Das heißt, es geht ihr um die ethische Zweckdienlichkeit von Architektur und das moralische Handeln in der architektonischen Praxis. Um den Sinn und Zweck dieser umfassenden theoretischen Beschäftigung mit Architektur deutlich zu machen und insbesondere zu zeigen, wo genau im Spannungsfeld von Theorie und Praxis diese verortet werden müsste, sollten wir zuvor noch einmal die Fragestellung der Architekturtheorie thematisieren. Damit können wir uns einen Überblick über das gesamte Gegenstandsfeld der Architektur verschaffen. Architekturtheorie wäre in diesem Zusam­ menhang als eine Theorie der Praxis zu verstehen, das heißt, sie nimmt den gesamten Bereich der Architektur, ihre Voraussetzungen bzw. Bedingungen, Herstellungsprozesse, Phänomene und Produkte in den Blick. Dieser Blick geht zuerst auf das von einem Architekten entworfene Gebäude als eigentlichen Gegenstand und Mittelpunkt der Architekturpraxis. Weiterhin zeigt sich so, dass das Gebäude eine Innenwelt, aber auch eine Umwelt hat. Die Innenwelt wird dargestellt durch die Innenräume, mit deren Ausgestaltung sich insbesondere die Innenarchitektur beschäftigt. Zur Umwelt des Gebäudes gehören Stadt und Land. Theoretisch sowie praktisch beschäftigt sich damit die Stadt- und Regionalplanung. Über die spezialisierten Einzeldis­ ziplinen der Architektur hinausgehend, ist die Architekturtheorie als einzige befähigt, die vielfältigen Gesamtzusammenhänge der Architekturpraxis, sowohl auf der Ebene ihrer Bauprozesse als auch auf der ihrer Resultate, in den Blick zu nehmen.

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1. Architekturgeschichte und Architekturtheorie

In jeder zivilgesellschaftlichen Epoche verkörpert gebauter Raum nicht nur die ökonomischen, sozialen und kulturellen, sondern auch die moralischen Spezifika des Zeitgeistes. Dies gilt genauso für die Architektur in der gegenwärtigen westlichen Zeitepoche; insofern spiegeln sich in ihr neben der selbstreferenziellen Ästhetik und dem Narzissmus unserer modernen oder postmodernen Zeit vor allem die Modernisierung durch Technisierung und die durch Globalisierung extrem verschärften ökonomischen Konkurrenzkämpfe im Bauwesen. Der Architekt, der in Stadt und Land unsere Lebensumwelt plant und gestaltet, kann dabei aber weder ausschließlich ökonomisch und technologisch denken noch völlig unabhängig handeln. Vielmehr stehen seine Entwürfe und Handlungen immer auch in moralischer Beziehung zum Umfeld, d.h. zur Natur und zur Landschaft ebenso wie zur Stadt und zu den Menschen, die ja immerhin tagtäglich mit und im gebauten Raum leben. Nachdem wir mit der Architekturtheorie durchaus umfassend die Frage zu beantworten in der Lage sind, was Architektur ist, stellen wir fest, dass wir damit die Frage nach der Legitimation der Architekturpraxis noch gar nicht angesprochen haben. Unsere These in diesem Kontext soll nun lauten: Wir brauchen Architekturtheorie, weil es einen »Anspruch« der Architekturpraxis gibt. Insofern kann die Frage, was das Besondere einer »philosophisch orientierten Architekturgeschichte« ist und warum diese unbedingt von Hegel ausgehen sollte, am besten folgendermaßen beantwortet werden: – Weil in keiner anderen Philosophie der Architektur das notwendige Zusammenwirken von philosophischer Reflexion, kunst­ historischer Forschung und phänomenaler Analyse so überzeugend formuliert worden ist, wie in Hegels »Vorlesungen über die Ästhe­ tik«. Diese besondere wissenschaftliche Leistungsfähigkeit könnte gewinnbringend für eine »philosophisch orientierte Architekturge­ schichte« herangezogen werden und diese nicht nur im Sinne einer auf eine vollendete Gegenwart der Architektur zurückblickenden Refle­ xion verstehen – so wie Hegel sagt, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst mit einsetzender Dämmerung beginnt, sondern Architektur auch als Spiegel ihrer Zeit deuten. Sicherlich kann Hegels Systemdenken nicht einfach auf die heutigen Verhältnisse übertragen werden, schon deshalb nicht, weil er sich ausschließlich eindeutig diachrone Stufen oder Phasen einer »linearen« Architekturgeschichte vorstellen kann. Wenn wir heute die Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts zum Forschungsgegen­

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

stand machen, dann muss diese Forschung sowohl in die diachrone als auch in die synchrone Richtung entfaltet werden. Der »Gänsemarsch der Stile«, von dem Hegel also noch ausging, kann bereits Mitte des 19. Jahrhunderts nicht mehr als Paradigma maßgeblich sein. Hegels Konzeption der Architekturgeschichte scheint mir dennoch sinnvoll zu sein, will man sich für eine in die geschichtliche Lebenswelt der Menschen einbezogene Architekturauffassung einsetzen. Die Architektur steht in unserer industriellen Zeitepoche durch­ gängig unter Handlungsdruck. Insbesondere in den unter hohem Druck entstehenden Baumaßnahmen muss in der Regel unter Bedin­ gungen gehandelt werden, die der Architekt, wenn überhaupt, nur zum Teil erkennt. Das bedeutet, dass es unweigerlich immer wieder zu nichtintendierten Folgen des Bauens kommt, die in einzelnen Fällen sogar den Charakter krasser Fehlentwicklungen annehmen können. Der in diesen Situationen wirkende Bedingungszusammenhang wird weder den planenden Architekten und ausführenden Ingenieuren noch den kritischen Zeitgenossen sofort bewusst. Ein Beispiel für die unbewusste Dimension der Architekturpraxis findet sich in der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verkünde­ ten Vision der modernen Architektur; deren Protagonisten wollen die »soziale Ungleichheit« ihrer Zeit, die sie zu Recht als Ungerechtigkeit anklagen, durch eine »Architektur der Gleichheit«, d.h. durch serielle Produktion und Standardgrundrisse im sozialen Wohnungsbau auf­ heben. Doch diese Strategie ist bereits Ende der 1920er Jahre mit der Zweckrationalität des Zeilenbaus ins Gegenteil umgeschlagen und trägt nach dem Zweiten Weltkrieg zur globalen Uniformierung des Bauens bei. In den Hochhäusern und Trabantenstädten, die in den 1950er und 60er Jahren in aller Welt entstehen, ist das deutlich zum Ausdruck gekommen, aber noch nicht sofort gesehen worden. Die Unwissenheit den eigenen Handlungsbedingungen gegen­ über wird immer erst nachträglich aufgeklärt. Es ist jedoch nicht die Aufgabe des Architekten, sondern die des Architekturhistorikers, diese Aufklärungsarbeit zu übernehmen und professionell durchzu­ führen. Das kann er allerdings immer nur rückblickend leisten. »Phi­ losophisch orientierte Architekturgeschichte« ist dagegen nicht nur eine im Rückblick aufklärende und rekonstruierende Wissenschaft, mit der die latenten Gehalte einer vollendeten Gegenwart der archi­ tektonischen Praxis bewusstgemacht werden können, sondern zudem Architekturtheorie, die Architektur als ihre Zeit in Gebäuden erfasst interpretiert. Aus den beiden oben genannten Thesen ergibt sich eine

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1. Architekturgeschichte und Architekturtheorie

Reihe von weiteren Fragen: Welche Übereinstimmungen oder Wider­ sprüche gibt es zwischen den erwähnten Gebäuden und Gedanken? Was können sie zur Klärung des Selbstverständnisses ihrer jeweiligen Zeit beitragen?235 Ist die Architektur der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine neue Epoche eingetreten? Das heißt, hat die Unzufriedenheit mit dem Bauwirtschaftsfunktionalismus nach dem Zweiten Weltkrieg, die den Weg in die Postmoderne eröffnete, nicht nur einen neuen Stil, sondern auch eine neue kulturgeschichtliche Epoche entfaltet? Oder ist die Postmoderne eher als Revision der negativen Entwicklungen der Moderne zu verstehen, d.h. eine Revi­ sion, die in eine neue, zweite Moderne führt? Da sich die Philosophie auch solche Fragen stellt, könnte eine »philosophisch orientierte Architekturgeschichte« hier besonders hilfreich sein, zu Antworten zu gelangen. Man sieht in diesem Schema, dass sich aus dem mächtigen Feld der Philosophie der neuzeitlichen Moderne zwei kleinere neue Felder heraus entwickelt haben: die Felder der Moderne und der Postmo­ derne des 20. Jahrhunderts. Der Streit zwischen den Protagonisten dieser Felder ist noch in vollem Gange bzw. wird von den Schülern fortgesetzt. Eine endgültige Entscheidung ist noch nicht in Sicht. Die Frage nach dem Selbstverständnis der Zeit gibt auch in der Architektur Anlass für einen Streit, über den eine Entscheidung noch nicht in Sicht ist. Er polarisiert die Standpunkte und bildet das Spektrum des Diskurses, der heute über die Architektur geführt wird. Um zu erkennen, wie es zu dieser Opposition im Diskurs der gegenwärtigen Architektur gekommen ist, ist es ratsam, auf die Entwicklung der Architektur des 20. Jahrhunderts insgesamt zu schauen. Zur besseren Veranschaulichung habe ich versucht, diese Entwicklung in einem Schema darzustellen. Dieses Schema soll den Beginn und die Entwicklung der HauptRichtungen in der Architektur im 20. Jahrhundert darstellen. Es kann in diesem Rahmen, wie bereits gesagt, nicht darum gehen, das gesamte Spektrum, d.h. alle Hauptwege und Nebenwege in der Architektur dieses Jahrhunderts sichtbar zu machen. Ich unterscheide »stilbildende« und »stilgerechte« Architektur. Um hier die wesent­ lichen Entwicklungen angemessen wiedergeben zu können, muss

235 Vgl. dazu H. Mund, Endzeit-Architektur. Architektur als Spiegel unserer Zeit, München 1994.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

ich mich im Folgenden auf die »stilbildenden« Architekten und ihre Werke, also auf den Hauptweg konzentrieren.

Von Neuzeit zur Moderne

Rationalismus Descartes Leibniz

Empirismus Locke Hume

Kant Hegel Marx Nietzsche Husserl

Horkheimer/ Adorno

Freud

Heidegger Sartre Merleau-Ponty

Habermas (Luhmann) Foucault Wellmer Honneth Moderne

Lyotard Derrida Postmoderne

Wiener Kreis um Schlick Frege Carnap (Wittgenstein) (Popper) Austin Quine Searle Davidson Analytische Philosophie

Schema 2: Moderne, Postmoderne, Zweite Moderne

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Stile

1922/3 Zeitachse

Neues Bauen

Bauhaus

Sozialer Siedlungsbau der 20er und 30er Jahre Gropius, Bauhaus, Dessau, 1925/6

1933

International Style Ÿ Bauwirtschaftsfunktionalismus

1960

Postmoderne

1977 1978

Spätmoderne

1980

1988

Johnson/Wigley, Ausstellung im MOMA, 1988

Dekonstruktion

Gehry, Haus des Architekten, Santa Monica, Kalifornien, 1978 Tschumi, Parc de la Villette, Paris, 1982

Jencks, Spätmoderne Architektur, 1978

Lippsmeier/Reiser, Halle der Deutschen Industrieausstellung, Khartun, 1961 Frei Otto, Deutscher Pavillon der Weltausstellung in Montreal, 1965-67 Behnisch, Olympiazelt in München, 1968-72

Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur, 1977

Venturi, Guild House, Philadelphia, 1960-63 Venturi, Haus der Mutter, Chestnut Hill, Pennsylvania, 1962-64

Hitchcock/Johnson, The International Style. Architecture since 1922, New York 1932

Hentrich, Petsching & Partner, Thyssenhaus, Düsseldorf, 1957-60 Müller, Heinrichs, Düttmann, Märkisches Viertel, Berlin, 1962-72

Architekturentwicklung im 20. Jahrhundert Mies van der Rohe/Johnson, Seagram Building, New York, 1954-58

1. Architekturgeschichte und Architekturtheorie

Schema 3: Architekturentwicklung im 20. Jahrhundert

201

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Wir sehen in diesem Schema unten die Zeitachse, die den Zeitraum des 20. Jahrhunderts wiedergibt. Die senkrechte Linie bildet die Stilachse. Die Felder in diesem Koordinatenkreuz markieren die Stil­ entwicklung der Architektur des 20. Jahrhunderts. Danach beginnt die Moderne um 1920 zunächst mit dem Neuen Bauen und dann mit dem Bauhaus. Aus dieser Entwicklung ist um 1930 der International Style entstanden. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist daraus der Bau­ wirtschaftsfunktionalismus hervorgegangen. In der Absetzung von der Moderne entsteht um 1960 die Postmoderne. In der Fortsetzung der Moderne entwickelt sich ebenfalls um 1960 die Spätmoderne. Und in kritischer Durcharbeitung der Moderne entsteht um 1980 der Dekonstruktivismus. Die senkrechten Striche in den Feldern bilden den Zeitpunkt der Designation ab. Das bedeutet, dass hier Stilbeginn und Designation nicht zusammenfallen, sondern die Designation zu einem späteren Zeitpunkt erfolgt. Ganz allgemein kann man sagen: Die Moderne in der Architek­ tur ist das Produkt der Tätigkeit von klassisch gebildeten Architekten; die Postmoderne dagegen ist das Ergebnis der gemeinsamen Beschäf­ tigung von an der Alltagskultur orientierten Architekten und Archi­ tekturtheoretikern.

Abb. 2: Berliner Wohnung 1906

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1. Architekturgeschichte und Architekturtheorie

Das Guild-House von Robert Venturi ist Anfang der 1960er Jahre eine solche andere Architektur in Opposition zur Moderne. Als postmodern wird sie erst später designiert, nämlich Mitte der 1970er Jahre durch den Architekturtheoretiker Charles Jencks, der dieses Gebäude in seinem Buch »Die Sprache der postmodernen Architek­ tur« veröffentlicht und als Beispiel dieser neuen Architektur vorstellt. Ähnlich verhält es sich mit der anderen Architektur um 1980. Diese ist erst 1988 in der Ausstellung »Dekonstruktive Architektur« von Philip Johnson und Mark Wigley so genannt worden. Auch hier ist aus der Zusammenarbeit eines Architekten und eines Architektur­ theoretikers eine neue Bewegung in der Architektur aus der Taufe gehoben worden und konnte sich dadurch internationale Geltung und Anerkennung verschaffen, aber auch der Kritik unterziehen. Eine andere, d.h. neue Architektur existiert also erst durch ihre »Benennung«. Eine Architektur ohne Namen kann als Architektur gar nicht gewürdigt werden. Abb. 2 zeigt ein Zimmer aus einer Berliner Wohnung von 1906. Häufig findet man in solchen Wohnungen auch ein Bett für einen sogenannten »Schlafgänger«. Als Schlafgänger bezeichnete man Industriearbeiter, denen ein Bett nur zum Schlafen für begrenzte Stunden vermietet wurde. Sie waren also tagsüber und am Wochen­ ende ohne Bleibe. Diese Wohnungssituation ist kennzeichnend für die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg. Zur Ausgangssituation: Die indus­ trielle Revolution des 19. Jahrhunderts bewirkte, dass viele Menschen in die Städte gezogen werden. Es entsteht plötzlich ein ungeheuer großer Bedarf an Wohnraum, der jedoch nicht zur Verfügung steht. Wie London und Paris erlebt auch Berlin eine explosionsartige Ausdehnung, wobei diese Entwicklung ohne Plan und einheitliche Verwaltung verläuft. Berlin besteht bis zum 19. Jahrhundert lediglich aus einem kleinen mittelalterlichen Kern. Um 1830 setzt ein starker Zuzug ein. Das Wachstum der Stadt vollzieht sich ohne Kontrolle und Beschränkung. Erst 1853 wird eine Bauordnung erlassen, die zur Entstehung der typischen Berliner Mietskaserne führt.236 Diese soge­ nannte »Mietskasernenordnung« ist die Grundlage der Entwicklung Berlins und bleibt bis 1919 in Kraft. Der sanitäre Standard der Berliner Mietskaserne ist niedrig: Toiletten gibt es nur im Treppenhaus und müssen von mehreren Mietparteien benutzt werden. In den kleinen 236 Vgl. dazu W. Hegemann, Das steinerne Berlin. Geschichte der größten Mietskaser­ nenstadt der Welt, Berlin u.a. 1962.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Wohnungen leben meistens kinderreiche Familien. Um die Miete zahlen zu können, müssen Schlafgänger aufgenommen werden. Ähnlich bauten bereits die Griechen ihre Tempel, so wie es ihnen ihre Weltanschauung bzw. ihre religiöse Anschauung vorschrieb. Ihre Tradition und ihre Auffassung vom Staatswesen erwarten geradezu eine Öffnung zu Licht und Landschaft. Die Mitglieder des Kultes gehen einzeln zum Gebet in die Vorhalle des Tempels oder versam­ meln sich zu Feierlichkeiten anlässlich der Ehrung der Tempelgottheit im heiligen Hain. Der Tempel ist ein Ort der Versammlung. In der gotischen Kirche tritt man dagegen vom Tageslicht in eine gedämpfte Atmosphäre. Kein Kultgegenstand fängt den Blick ein, die hohen schlanken Pfeiler enden nicht in einem horizontalen Gesims, sondern laufen in einem fixen Punkt unter dem Gewölbe zusammen. Die Wände wollen nie enden, man fühlt sich, als ob man, wie Hegel sagt, »emporzufliegen getrieben«237 (II, 337) wird. In beiden Baustilen werden Säulen oder Pfeiler benutzt, um Dächer zu tragen. Die Griechen setzten auf Ebenmaß ihrer Säulen und auf Überdimensionalität, gotische Pfeiler werden schlanker und schlanker, wie Hegel sagt, und erinnern an Pflanzen, die gebündelt ein filigranes Gewölbe tragen. Hegel befasst sich weiterhin mit den Grundrisslösungen beider Bauformen. Auffällig bei den Griechen sei wohl, dass man von einem offenen Raum in eine Umschließung kommt. Bei gotischen Kirchen tritt man in ein geschlossenes Gebäude. Vor dem Besucher erschließt sich das Hauptschiff, und ein weiter Blick in den Chor ist möglich. Hegel findet aber vielmehr beachtenswert, dass der Weg der Andacht Suchenden vom Hauptschiff verteilt wird in kleinere Kapel­ len und Gebetsnischen, dass am westlichen Eingang gleich der Tauf­ stein zu finden ist, gleichzeitig getauft, gepredigt, gebeichtet, die letzte Ölung erteilt und eine Ehe geschlossen werden kann. Viele Handlungen finden Raum, sind Teil des großen Gotteshauses, Teil einer Religion, die von Hirten und Herde und Leben vor und nach dem Tod spricht. »Wir haben hier keine Zweckmäßigkeit als solche zu suchen, sondern eine Zweckmäßigkeit für die subjektive Andacht des Gemüts in seiner Vertiefung in die innerste Partikularität und in seiner Erhebung über alles Einzelne und Endliche.« (II, 341) Hegel stellt also heraus, dass der gotische Dom Ausdruck der Jenseitsgewandtheit der Menschen dieser Zeit sei und in seinem Aufbau (Vertikalität, 237

G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik II, Werke 14, Frankfurt am Main 1986.

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2. Zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Farbmystik usw.) eine erhabene Stimmung erzeuge. Dagegen sei der griechische Tempel durch seinen offenen Säulengang mit der Umge­ bung verbunden. Sein Aufbau führe im Gegensatz zum gotischen Dom nicht zu einer Abwendung von der Natur, sondern im Gegenteil zu einer deutlichen Zuwendung zu ihr. Nach dieser Auffassung ist Architektur also wesentlich ihre Zeit in Gebäuden erfasst, um es in Variation eines bekannten Satzes von Hegel zu sagen. In diesem Sinne äußerte sich auch Ludwig Mies van der Rohe 1924 in seinem Aufsatz »Baukunst und Zeitwille«, in dem er die Architektur als einen »raumgefaßten Zeitwillen«238 bestimmt. Allerdings ist diese philosophisch orientierte Auffassung für die wissenschaftliche Arbeit an der noch zu leistenden hinrei­ chenden »Bestimmung«239 der Architekturtheorie bisher leider nicht zur Kenntnis genommen worden. So soll hier in erster Linie der Zusammenhang zwischen der Frage nach dem System der Kunst einerseits und der Frage nach der Lebensrelevanz der Architektur andererseits herausgearbeitet werden.

2. Zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts Mitte der 1920er Jahre entsteht eine Phase intensiver Bautätigkeit. Der führende Architekt im Bereich der Siedlungsplanung in Frankfurt am Main ist Ernst May. Unter seiner Leitung entstehen Musterbei­ spiele des sozialen Wohnungsbaus in der sogenannten Plattenbau­ weise, d.h. unter Verwendung serienmäßig in einer Fabrik vorgefer­ tigter Bauteile. Ein Beispiel für den sozialen Wohnungsbau in Frankfurt am Main 1926/27 zeigt Abb. 3. Der Architekt Ernst May ist von 1925–30 Stadtbaurat in Frankfurt am Main.240 Seine Planung der Siedlungen für das »Neue Frankfurt« wird im Rahmen der sozialdemokratischen Wohnungsbaupolitik ermöglicht und auch ausgeführt. Mit einer stark rationalisierten und mechanisierten Bauweise glaubt May, der akuten Wohnungsnot der Stadt beizukommen. Mit der Verwendung von 238 Vgl. L. Mies van der Rohe, Baukunst und Zeitwille, in: Der Querschnitt, 4, 1924, S. 31. 239 Unter Bestimmung verstehe ich allgemein die Begrenzung eines Begriffs hinsicht­ lich seines Inhalts sowie seines Umfangs. 240 Vgl. den Ausstellungskatalog: Ernst May und das Neue Frankfurt 1925–1930, Deutsches Architekturmuseum, Frankfurt 1986.

205 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Fertigteilen und Serienprodukten sollen ganze Siedlungen errichtet werden. Durch die Mithilfe von Grete Schütte-Lihotzky kann die sogenannte »Frankfurter Küche« entwickelt werden – eine standar­ disierte, nach Funktionsabläufen eingerichtete Einbauküche, die auf geringst-möglichem Raum und für alle Wohnungen realisiert wird. Allerdings reicht die Zahl der neuen Wohnungen weder in Frankfurt noch in Berlin jemals aus, und ab 1931 werden die Wohnungsbaupro­ gramme in Folge der großen Depression ab 1928 fast völlig eingestellt.

Abb. 3: Frankfurt, Modell Siedlung Bruchfeldstraße (»Zickzackhausen«)

Abb. 4: Siedlung Westhausen, strenge Zeilenbauweise, Anfang 1930er Jahre

Nach zunächst positiven Anfängen entwickelt sich der soziale Sied­ lungsbau allerdings zunehmend zum »rigiden« zweckrationalen Zei­ lenbau241 (Abb. 4), der zum Vorbild wird für die vielen heute als »unmenschlich« betrachteten Trabantenstädte, die nach dem Zweiten 241

Vgl. N. Huse, Geschichte der Architektur im 20. Jahrhundert, München 2008, S. 40.

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2. Zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Weltkrieg in der ganzen Welt entstehen, um die akute Wohnungsnot zumindest quantitativ zu lindern.

Abb. 5: Weißenhofsiedlung, Stuttgart 1927, Übersichtsplan

Abb. 6: Beitrag von Le Corbusier

Die in Abb. 5 dargestellte Anlage kann als Mustersiedlung des Neuen Bauens betrachtet werden, sie besteht aus 21 unterschiedlichen Mus­ terhäusern verschiedener Architekten. Das städtebauliche Gesamt­ konzept liefert Ludwig Mies van der Rohe. Sein Stahlskelettbau, der eine variable Innenaufteilung besitzt, überragt die Gesamtanlage und bildet den beherrschenden Mittelpunkt der Siedlung. Entlang der Rathenaustraße folgen die Häuser von Hans Scharon, Josef Frank,

207 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Max Taut, Richard Döcker, Hans Poelzig, Ludwig Hilberseimer und Le Corbusier. Das Programm dieses Neuen Bauens besteht darin, einen ästhe­ tischen Purismus sowohl mit einer Sozialmoral als auch mit einem zweckrationalen Funktionalismus zu verbinden.242 Le Corbusiers Beitrag zur Weißenhofsiedlung (Abb. 6): Zwei Kuben auf Stelzen mit freiem Grundriss. Seine Architektur muss als eine mit sozialem Anspruch verstanden werden. Obwohl diese Siedlung nicht ausdrücklich für die unteren sozialen Schichten gebaut wird, lautet der Anspruch, dass mit der Verwandlung des Gebauten die Gesellschaft mitverändert werden sollte.243 Die zeitgenössische Kritik der Gegner der Moderne, die sich um den Architekten Paul Schmitthenner versammeln, sieht diese Siedlung als »artfremdes Ara­ berdorf«.

Abb. 7: Le Corbusier, Doppelhaus, mit freiem Grundriss 2. Geschoss

Wir sehen in Abb. 7 einen sogenannten freien Grundriss, in dem auf fest eingezogene tragende Wände verzichtet wird und der die traditionelle Aufteilung und Trennung von Privatheit und Öffentlich­ keit aufhebt. Mit diesem Grundriss soll den Wohnenden eine neue Lebensform offeriert werden. Le Corbusier hat die Idee, die raumbe­ 242 Vgl. H. Klotz, Kunst im 20. Jahrhundert. Moderne – Postmoderne – Zweite Moderne, München 1994, S. 107ff. 243 Vgl. ebd., S. 108.

208 https://doi.org/10.5771/9783495997819 .

2. Zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts

grenzenden Bauteile wie Wand, Decke und Fassade konstruktiv von­ einander zu lösen, um dadurch Trennwände völlig flexibel einziehen zu können, in seinem 1927 formulierten theoretischen Werk »Fünf Punkte zu einer neuen Architektur« dargestellt.244 Während die Alten im Bauen die Aufgabe sahen, in einer Verknüpfung von Architektur, Wandrelief und Skulpturenschmuck eine würdige Lösung für ein Gebäude zu finden, werden von den Akteuren des Neuen Bauens und ihren Nachfolgern durch die neuen Baumaterialien Eisen und Beton sowie durch serielle Bauweise die Ausdrucksqualitäten eines mechanischen Funktionalismus vermittelt: Reinheit, Leichtigkeit und Wiederkehr des Gleichen, wodurch in der Gesellschaft neue Wohnge­ wohnheiten ausgebildet werden sollten. Dies aber erwies sich mit der Zeit als eine Illusion. Das Bauhaus in Dessau ist eine der entscheidenden Demonstra­ tionen der architektonischen Moderne (Abb. 8).245 Die Gesamtanlage ist von Walter Gropius streng nach Funktionen geordnet. Die wich­ tigste bautechnische Neuerung besteht darin, dass die Betondecken des Werkstattgebäudes auf weit zurückgesetzten pilzförmigen Stüt­ zen ruhen. Dadurch ist keine tragende Außenwand mehr erforderlich. Eine dünne Fassadenhaut aus Glas überzieht alle drei Geschosse. Ein Mustergebäude der internationalen Moderne zeigt Abb. 9. Das Programm der internationalen Moderne besteht in einem zweckrationalen Funktionalismus. Das Seagram Building ist zum Vorbild für unzählige Kopien in aller Welt geworden. Die horizontale Hervorhebung der Fensterreihen dient dazu, die alleinige Dominanz der Vertikalen zurückzunehmen, um dadurch den Eindruck strenger geometrischer Eleganz zu vermitteln, die die klare Struktur des Gan­ zen mit einer präzisen Perfektion im Detail verbindet. Mit diesem Hochhaus, das völlig von Glas und Stahl dominiert wird, verwirklichte Mies van der Rohe seine in die 1920er Jahre zurückreichenden Pläne für eine gläserne Hochhausarchitektur.

Vgl. N. Huse, Le Corbusier, Reinbek b. Hamburg 1999. Vgl. dazu H. M. Wingler, Das Bauhaus. 1919–1933 Weimar, Dessau, Berlin und die Nachfolge in Chicago seit 1937, Bramsche 1975.

244 245

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Abb. 8: Gropius, Bauhaus, Dessau 1925/6

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Abb. 10 zeigt ein markantes Dreischeibenhaus in Düsseldorf.246 Es besteht aus einer hohen und schmalen Mittelscheibe, an die zu jeder Seite zwei kleinere, gegeneinander versetzt liegende Scheiben gestellt werden. Vorbilder hierfür sind die Hochhäuser von Ludwig Mies van der Rohe in Chicago und New York sowie Projekte der amerikanischen Firma Skidmore, Owings and Merrill, wie etwa das Lever Building in New York von 1952.247 Das elegante Gebäude sollte der »wiederge­ wonnenen Leistungsfähigkeit«248 des Phoenix-Rheinrohr-Konzerns nach dem Kriege einen sichtbaren Ausdruck verleihen und der Stadt Düsseldorf so hohes Ansehen bringen.

Abb. 9: Mies van der Rohe/John­ Abb. 10: Hentrich, Petschnigg son, Seagram Building, New York & Partner, Thyssenhaus Düssel­ 1954–58 dorf 1957-60

246 Vgl. dazu W. Pehnt, Ein Star kommt in die Jahre. Dreischeibenhaus, Düsseldorf, in: M. Schreiber, 40 Jahre Moderne in der Bundesrepublik. Deutsche Architektur nach 1945, Stuttgart 1986, S. 23–26. 247 Vgl. dazu H.-U. Khan, International Style. Architektur der Moderne von 1925 bis 1965, Köln 2009, S. 122ff. und S. 137. 248 W. Pehnt, Ein Star kommt in die Jahre, a.a.O., S. 23.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Um die Probleme der Wohnungsnot der Nachkriegszeit zu lösen, werden stark verdichtete Trabantenstädte wie das Märkische Viertel in Berlin gebaut (Abb. 11). Derartige Satelliten entstehen in vielen west­ deutschen Großstädten.249 Der Internationale Stil ist hier auf einen Bauwirtschaftsfunktionalismus reduziert worden, dessen Programm ein rein ökonomischer Funktionalismus ist.

Abb. 11: Müller, Heinrichs, Düttmann, Märkisches Viertel, Berlin 1962–72

Plattenbauten sind beispielsweise auch in der Cottbuser Innenstadt errichtet worden. Durch die Vorfertigung der Bauelemente und die Vereinheitlichung der Wohnungsgrößen wurde eine erhebliche Sen­ kung der Bauzeit erwartet. Die 1959 in der DDR eingeführte Platten­ bauweise wurde ab 1970 zur wichtigsten Bauweise des Wohnungs­ baus.250 Die in Abb. 13 dargestellte Platte in Cottbus ist in den 1990er Jahren renoviert worden. Auch in der DDR entstehen Trabantenstädte, die als Produkte rein ökonomischer Gesichtspunkte zu betrachten sind. Die Tafel 249 K. v. Beyme, Der Wiederaufbau. Architektur und Städtebaupolitik in beiden deut­ schen Staaten, München u. Zürich 1987. 250 Vgl. dazu G. Zimmermann, Die andere Architektur: Bauen in der DDR, in: G. de Bruyn, Zeitgenössische Architektur in Deutschland 1970–1996, Berlin u. a. 1997, ins­ besondere S. 24–26.

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2. Zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts

an der Baustellenbaracke (Abb. 12) zeigt, wie der Grundsatz des sozialistischen Bauens lautete: nämlich »hohe Rentabilität und Effek­ tivität«.251 Eine Trabantenstadt für über 1 Millionen Menschen zeigt Abb. 14. Solche Städte ersticken nicht nur das öffentliche Leben, sondern auch die Individualität des Menschen. Ein Architekturkritiker sagt einmal dazu, dass »die psychische Not der zusammengepferchten Bewohner« in dieser Hochhaussiedlung »der physischen Unterver­ sorgung von Slum-Bewohnern durchaus die Waage halten« dürfte.252

Abb. 12: Programm des sozialistischen Bauens

Vgl. Th. Hoscislawski, Bauen zwischen Macht und Ohnmacht. Architektur und Städtebau in der DDR, Berlin 1991. 252 Vgl. H. Mund, Endzeit-Architektur. Architektur als Spiegel unserer Zeit, München 1994, S. 25. 251

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Abb. 13: Beispiel sozialistischen Bauens in Cottbus

Abb. 14: Stadterweiterung Hong Kong, 1970er Jahre

Ein Beispiel für das Innenstadt-Peripherie-Problem moderner Metro­ polen zeigt Abb. 15. Um die im Verkehr erstickenden Cities zu entlasten, werden große Einkaufszentren an die Peripherie verlagert. Die monofunktionale Nutzung und der rationalisierungsbedingte große Zuschnitt dieser Projekte tragen zur Vereinheitlichung der Metropolen in aller Welt bei.

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2. Zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Abb. 15: Einkaufszentrum bei Detroit, 1945

Abb. 16: Pruitt-Igoe, 1952–55, Architekt: Ninoru Yamasaki, Sprengung 1972

Die wahrscheinlich einzige Lösung für die Stadtväter in Saint Louis für die zunehmenden Probleme des internationalen Bauens ist in Abb. 16 zu sehen: Diese Sprengung einer ganzen Hochhaussiedlung am

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

15. Juli 1972 in Saint Louis markiert für den Architekturtheoretiker Charles Jencks den Tod der modernen und den Beginn der postmo­ dernen Architektur.253

Abb. 17: Venturi, Guild House, Philadelphia 1960–64

Bereits in den 1960er Jahren hat Robert Venturi in seinem Buch »Complexity and Contradiction in Architecture« das moderne Bauen einer Generalkritik unterzogen und damit die Rückkehr zur klassi­ schen Symmetrie und zum aufgesetzten Dekor ermöglicht. Es handelt sich bei diesen Veränderungen aber nicht nur um ein fachspezifisches Bedürfnis nach neuen Gestaltungs- und Ausdrucksformen, sondern auch und vor allem um eine allgemeine Neubestimmung der Archi­ tektur angesichts einer rapide sich verändernden Wirklichkeit. Ein erstes Zeugnis der Postmoderne, die den fiktionalen Cha­ rakter der Architektur zurückgewinnen will, zeigt Abb. 17. Ein sym­ metrischer Bau mit Segmentfenster. Außerdem ist eine klassische Dreiteilung dominierend: helle Sockelzone, Schaft aus Ziegelmauer­ werk und abschließendes Element: das Segmentfenster. Eine massive weise Rundsäule im Erdgeschoss betont die Hauptachse. Diese For­ mensprache muss als radikaler Bruch mit den Vorstellungen der 253 Vgl. Ch. Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur. Die Entstehung einer alternativen Tradition, Stuttgart 1980.

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klassischen Moderne betrachtet werden. Nach der Auffassung von Venturi besitzen die »Reklame- und Schilderwelten« im Amerika und Europa der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts für die Menschen einen »weitaus höheren Bekanntheits- und Informationsgrad« als die auf soziale Veränderung abzielende ästhetisch anspruchsvoll durch­ gestaltete Architektursprache des Neuen Bauen in den 1920er Jahren, die zugegeben nur wenigen Menschen nahegebracht werden konnte. In der Postmoderne der 1980er Jahre wird von den Architekten nicht mehr beansprucht, eine Veränderung der Wirklichkeit mit der werkimmanenten Logik der Architektur in Gang zu setzen, sondern bewusst die »Erscheinungsweise der Warenzusammenhänge«254 in der Architektur widerzuspiegeln. Das Verhältnis von Baukunst und Zeitwille ist hier also umgekehrt worden und hat sich von einer kritischen Gestalt in eine affirmative transformiert. Der ästhetische Wert sollte nicht, wie noch in der Avantgarde der 1920er Jahre, als Antithese des kapitalistischen Konsums verstanden werden, sondern wurde dagegen gezielt in den Kontext des ökonomi­ schen Werts gestellt. Von der postmodernen Architekturströmung wurde die Konsumgesellschaft nicht abgelehnt, sondern vielmehr als neuer Wirkungskreis der ästhetischen Erfahrung begriffen, um auf diese Weise das wirtschaftliche Zweckdenken ›gesteigert‹, d.h. hier ›ästhetikfreundlich‹ in die Architektur der Massengesellschaft einzubringen. Ästhetik wird hierbei zur »Politur«, deren »äußerliche Glanz und Geschliffenheit« keine »innerliche Echtheit«255 mehr zum Grunde hat. In Abb. 18 ist ein symbolisches Haus mit Irritationen, wie das in der Mitte ausgeschnittene Dach, zu sehen. Weiterhin finden sich gesimsartige Bauelemente. Die Situation über dem Eingang »zitiert« einen Segmentbogen. Die Zitate beziehen sich sowohl auf die volkstümliche Architektur der Gegend als auch auf die Geschichte der Architektur. Abb. 19 zeigt »das« Monument der Postmoderne. Die klassische Dreiteilung in Basis, Mittelteil und Dach sowie die Gestaltung des Eingangs und des gesprengten Dreiecksgiebels sind deutliche Zitate aus der Architekturgeschichte. Johnson, der wesentlich an der Ent­ wicklung des Internationalen Stils der Moderne beteiligt war, wird 254 M. Müller, Architektur und Avantgarde. Ein vergessenes Projekt der Moderne?, Frankfurt am Main 1984, S. 78. 255 M. Mendelssohn, Über die Frage: was heißt aufklären?, in: E. Bahr (Hg.), Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, Stuttgart 1984, S. 5.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

mit diesem Gebäude auch zum Protagonisten der Postmoderne in der Architektur. Mit diesem Gebäude leitet er einen entscheidenden Wandel für den Bautyp des Hochhauses ein. Das zentrale Anliegen ist hier nicht mehr »Funktionalismus«, sondern »Repräsentation«.

Abb. 18: Venturi, Haus der Mutter, Chestnut Hill, Pensylvania 1962–64

Abb. 19: Johnson, At&T Building, New York, 1978–84

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Abb. 20: Lippsmeier/Reiser, Halle Deutsche Industrieausstellung, Khartun 1961

Die Halle für die deutsche Industrieausstellung in Khartun 1961 kann als erstes Zeugnis der High-Tech-Architektur betrachtet werden (Abb. 20). Die Wurzeln der High-Tech-Architektur reichen bis in die Zeit der industriellen Revolution zurück. Man kann eine durchgehende Linie von den frühen Ingenieurbauten des 19. Jahrhunderts über die Standardisierung von Bauteilen im Neuen Bauen der 1920er Jahre bis zu den jüngsten High-Tech-Gebäuden von Rogers und Foster ziehen. Die spätmoderne High-Tech-Architektur kann als eine unter anderen Fortsetzungen der Moderne betrachtet werden. Ein viel beachtetes technisches Vorbild wird das in Abb. 21 dargestellte Zeltbauprinzip256 des deutschen Pavillons auf der Welt­ ausstellung in Montreal, das die punktförmig aufgehängte textile Membrane von der Tragkonstruktion aus Stahlseilen trennt. Behnisch übernimmt das von Frei Otto entwickelte Zeltbauprin­ zip für das Münchener Olympiazelt (Abb. 22). Über die verschiedenen Sportstätten wölben sich Seilnetze. Zwischen den einzelnen Masten, die im Hintergrund zu sehen sind, spannt sich ein Netz aus Stahlsei­ len, auf dem eine aus Plexiglastafeln zusammengesetzte Schuppen­ haut liegt, die Frei Otto entwickelte. Weiche Formen ersetzen in diesem Bauwerk alles Kantige und Rechtwinklige. Architektur und Landschaft bilden hier keinen Gegensatz, sondern können dadurch 256

Vgl. F. Otto, Das Gesamtwerk. Leicht bauen, natürlich gestalten, München 2005.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

ineinanderfließen. Funktional notwendige Gebäudeteile und Sport­ stätten werden in Zusammenarbeit mit dem Landschaftsarchitekten Wolfgang Leonhardt entweder in Geländemulden eingebaut oder verschwinden völlig unter der Erde.

Abb. 21: Frei Otto, Deutscher Pavillon der Weltausstellung, Montreal 1965–67

Abb. 22: Behnisch, Olympiazelt in München 1968–72

Man sieht in Abb. 23 das Monument der spätmodernen High-TechArchitektur. Äußerlich gleicht es einer großen Maschine. Um im Inneren einen möglichst vielseitig nutzbaren Raum zu haben, hat man die ganzen Versorgungselemente wie Rolltreppen, Aufzüge, Wasserleitungen, Lüftungen und Stromkabel nach außen verlagert. Die Außenseite des Gebäudes ist übersät von farbig akzentuierten Rohrleitungen. An der Fassade ist eine verglaste Rolltreppe erkenn­ bar. Man könnte das Gebäude als Höhepunkt der aus dem Inge­ nieurbau des 19. Jahrhunderts stammenden Maschinenfaszination der Moderne, oder aber auch als Ausdruck eines technologischen Exhibitionismus bezeichnen. Die Vorliebe für Technizismen Anfang der 1970er Jahre steht sicherlich im Zusammenhang mit der ersten Mondlandung im Jahre 1969, die als Triumph der Technik allgemein in Erscheinung getreten ist. Die unverkleideten Rohrleitungen und Lüftungsschächte des

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Centre Pompidou werden vor diesem Hintergrund zu Kennzeichen einer neuen High-Tech-Ästhetik. Weil sich die Architekten hier bewusst nicht um eine Anpassung ihres Baus an die historische Bebauung der Umgebung bemüht haben, kann deren Anblick manche Betrachter nicht überzeugen.

Abb. 23: Piano/Rogers, Centre Pompidou, Paris 1971–77

Wie auch immer man das Centre Pompidou beurteilt, auf jeden Fall kann man es in eine Tradition rücken, die mit dem Londoner Kristall­ palast im Jahre 1851 beginnt und über die Galerie des Machines für die Pariser Weltausstellung von 1889 bis zur Hongkong-und-ShanghaiBank, die 1986 fertiggestellt wird, führt. Weitere Exemplare dieser Gattung sind seit den 1990er Jahren in aller Welt errichtet worden. Fosters Bankgebäude in Hongkong (Abb. 24) ist tatsächlich eine High-Tech-Maschine auf dem damaligen allerneuesten technologi­ schen Stand. So werden Leicht-Metall-Materialien aus dem Schiffsund Flugzeugbau verwendet. Die ganze Technik wird an die Außen­ seite verlagert, wodurch eine ununterbrochene Bürofläche geschaffen werden konnte. Nur die Mitte bleibt frei für einen über alle Geschosse reichenden Lichthof. Die gesamte Konstruktion ist an tragenden Masten aufgehängt. Die nüchterne technische Sprache dominiert dieses Gebäude und artikuliert sich dabei völlig frei von historischen Bezügen der Architektur.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Abb. 24: Foster, Hongkong und Shanghai Bank, Hongkong 1982–86

Abb. 25: Gehry, Haus des Architekten, Santa Monica, Kalifornien 1978

Eine Architektur besonderer Art ist Gehrys Erweiterung eines beste­ henden Hauses (Abb. 25), um zusätzlichen Raum zu schaffen und um den spießigen Charakter des alten Hauses zu dekonstruieren. Dies gelingt insbesondere durch die schiefwinkligen und transparen­

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ten Dachelemente. Gehry ist einer der wichtigsten Vertreter des Dekonstruktivismus, in dem das die westliche Welt in den 1980er und 90er Jahren kennzeichnende Empfinden einer allgemeinen kultu­ rellen Destabilisierung zum Ausdruck kommt. Seine undogmatische Verwendung widersprüchlichster Materialien bringt gezielt einen außergewöhnlichen Reiz hervor. Der komplexe und zugleich verwir­ rende Entwurf, der mit Materialien wie Wellblech, Drahtgeflecht, Sperrholzplatten und Mauerwerk arbeitet, lässt ein in scheinbare Des­ organisation stellendes, aber dennoch Perfektion und Persönlichkeit ausstrahlendes Gebäude erscheinen.

Abb. 26: Blick in die angebaute Küche

In Abb. 26 erkennen wir den Altbau und den Anbau, in welchem sich die Küche des Architekten befindet. Der Altbau bleibt hier als Haus im Haus erkennbar. Dieser zunächst Verwirrung stiftende Entwurf lässt aber einen sehr offen wirkenden glasdachüberwölbten Raum entstehen, der sich in seinem Inneren durch eine hohe Funktionali­ tät auszeichnet. Ebenso wie Eisenman gehört Tschumi einer Architektengenera­ tion an, die die Moderne erneuern will. In seinem Parc de la Villette (Abb. 27) organisiert er das gesamte Gelände mit Hilfe von drei Systemen: Flächen, Linien und Punkten. Die Punkte sind die dekon­ struktivistischen roten Pavillons aus Stahl. Die Orientierung am

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

russischen Konstruktivismus der 1920er Jahre ist nicht zu verkennen. Der Rückgriff auf diesen Nebenweg der Moderne soll auf eine neue, zweite Moderne hinführen.

Abb. 27: Tschumi, Parc de la Villette, Paris 1982–85

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2. Zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Im Unterschied zum Konstruktivismus, der eine Harmonie des Dis­ sonanten anstrebt und damit ein klassisches Element behält, will der Dekonstruktivismus ein Differenzierungsgeschehen hervorbringen, das nicht mehr auf eine Harmonie hinauslaufen soll. Dekonstruktion befürwortet das Un-Harmonische. Die Themen der geschlossenen Form und der problemlosen Ganzheit werden in Frage gestellt. Die Ästhetik des Dekonstruktivismus könnte insofern als eine »Splitte­ rästhetik« bezeichnet werden.

Abb. 28: Ein roter Pavillon

Obwohl die dem russischen Konstruktivismus entlehnten zersplitter­ ten roten Pavillons (Abb. 28) unterschiedliche Funktionen beinhalten können, besteht ihre Hauptfunktion in der Gliederung des gesamten Parkgeländes, wobei das rigide Punktraster der Pavillons immer wieder mit spielerischen bzw. offenen Formen konfrontiert wird.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Abb. 29: COOP Himmelblau, Dachumbau in Wien, 1983–89

In Abb. 29 scheint die aufgesetzte neue Konstruktion das alte Dach zu zerstören. Von unten sieht man nur den Rüssel, der über das Gesims hinausragt. Im Inneren hat man den Eindruck, in einer Flugzeugkanzel zu sein. Der radikale Eingriff in das alte Haus zeigt, dass es den Architekten hier nicht um eine Versöhnung, sondern im Gegenteil um Destruktion und die bewusste Hervorhebung der Differenz zweier Architekturepochen geht. Das äußert sich hier vor allem in der Ablehnung des rechten Winkels. Mit diesem Projekt gelingt es den Architekten, den Übergang von der Vision zur Reali­ sierung herzustellen und damit einen erheblichen Einfluss auf die Stilentwicklung der 1990er Jahre zu nehmen.

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Abb. 30: COOP Himmelblau, UFA-Cinema Center Dresden, Modell, 1998 fertiggestellt

Abb. 30 zeigt das Modell für ein 1998 fertiggestelltes futuristisches Gebäude257 aus mehreren massiven und transparenten deformierten Kuben, das alle bisherigen Formvorstellungen destruiert und bewusst auf eine neuartige Architektur-Ästhetik abzielt, die ihre Entwurfsstra­ tegien aber nicht nur, wie in diesem Beispiel, am russischen Konstruk­ tivismus, sondern auch am philosophischen Dekonstruktivismus Derridas orientiert, obwohl sich dessen schwierige Ideen letztlich nur von dem theoretisch versierten amerikanischen Architekten Peter Eisenman überzeugend baulich umsetzen lassen. Mit den Namen der beiden Tänzer »Ginger und Fred« ist das in Abb. 31 dargestellte Gebäude von Frank Gehry im Volksmund getauft worden. Es bringt völlig neue Anmutungsqualitäten hervor, die auf einer Ästhetik des Schrägen und Schiefen basieren. Die klaren körperlichen Dimensionierungen der traditionellen Architektur wer­ den gänzlich in Frage gestellt. Solche ungewöhnlichen Formen, die mit Hilfe von computergestützten Entwurfsprogrammen gezeichnet werden, bereiten dem Architekten eben dank des Computers auch Vgl. dazu den Ausstellungskatalog: Coop Himmelb(l)au. Die Wiener Trilogie + ein Kino. Drei Wohnbauten in Wien und ein Kino in Dresden, Galerie Aedes East, Berlin 1998.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

hinsichtlich der klar berechneten Gebäudestatik sowie der fortge­ schrittenen Baustellenlogistik heute offensichtlich keine unlösbaren Probleme mehr. Sicherlich wäre ein solcher Bau vor ein paar Jahrzehn­ ten noch nicht zu bauen gewesen. Für die gegenwärtige Bautechnik ist das offensichtlich kein Problem mehr.

Abb. 31: Gehry, Gebäude in Prag, 1995

Abb. 32: Detail

Die nach außen herausragenden und wellenförmig angeordneten Fenster und die gebogenen Wände erzeugen ein sehr ungewöhnliches Aussehen für ein Haus (Abb. 32), das zu vielfältigen Assoziationen Anlass geben kann. Dieses Gebäude ist ein Musterbeispiel von Gehrys individuellem Kampf gegen die Vorherrschaft der weißen, kubischen Rasterarchitektur der internationalen Moderne. Es steht in der Tradition einer lange Zeit vergessenen Nebenentwicklung der frühen Moderne: der sogenannten »organischen Baukunst«, die über Hans Scharoun, den Architekten der 1960 bis 1963 in organisch gewachsenen Formen gestalteten Berliner Philharmonie, auf Hugo Häring, den theoretisch orientierten Baumeister des 1926 auf ovalem Grundriss errichteten Gutes Garkau in Ostholstein, zurückzufüh­ ren ist.

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2. Zur Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts

Gehry hatte sich bereits in den 1970er Jahren als Möbeldesigner einen Namen gemacht, als er sich in den 1990er Jahren erneut mit Möbeldesign beschäftigt (Abb. 33). Zum täglichen Gebrauch dürfte sich dieser 1992 produzierte Sessel aus aufeinander geschichteter roher Wellpappe allerdings wenig eignen. Er ist auch nicht als funktio­ nale Sitzgelegenheit, sondern vielmehr als Kunstmöbelstück gedacht. Er wird heute im von Gehry 1989 gebauten Vitra Design Museum in Weil am Rhein ausgestellt.

Abb. 33: Sessel aus Wellpappe von Gehry

Das Modell für das Max-Reinhardt-Haus in Berlin (Abb. 34) ist das Modell einer visionären Architektur, mit dem Eisenman zeigen will, wie seine Idee der »Falte« oder der »Faltung« in eine konkrete Architektur umgesetzt werden könnte. Das Gebäude nimmt hier die Form eines »Möbius-Bandes« an und bildet damit ein Kontinuum, das vom Boden abhebt und zugleich wieder auf ihn zurückkommt. Eisenmans Architekturzeichnungen (Abb. 35), die auch als Kunstwerke zu sehen sind, unterstreichen noch einmal den fiktio­ nalen und visionären Charakter seiner Architektur. Man kann diese Architektur als eine Vision deuten, die uns sagen soll, dass wir nicht stehen bleiben dürfen in der Architektur und dass wir uns zugleich von jeder Orthodoxie des Gedankens befreien müssen. Diese

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Vision der Dekonstruktion ist allerdings auch schon diejenige der Moderne gewesen.258 Damit sind wir am Ende unserer Rekonstruktion der Architektur des 20. Jahrhunderts angelangt. Erinnern wir uns an den Anfang. Ich hatte dort die Frage gestellt, was die Architektur zur Klärung des Selbstverständnisses unserer Zeit beitragen kann. Wenn man davon ausgeht, dass die Architektur ihre Zeit in Gebäuden erfasst ist oder dass sich in der Stilentwicklung die Epochenentwicklung spiegelt, dann kann man sehr wohl erkennen, dass der gegenwärtige Entwicklungsstand in der Architektur deutlichere Anzeichen dafür gibt, in der Frage der Epochenentwicklung eher auf eine Zweite oder Neue Moderne als auf eine Postmoderne zu setzen.259

Abb. 34: Eisenman, Max Reinhardt. Haus in Berlin, Modell 1995

Abb. 35: Architekturzeichnung von Peter Eisenman

Vgl. J. Cejka, Tendenzen zeitgenössischer Architektur, Stuttgart u.a. 1993, S. 99. Vgl. J. Pahl, Architekturtheorie des 20. Jahrhunderts. Zeit-Räume, München u.a. 1999, S. 310ff.

258 259

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3. Ansätze einer philosophisch orientierten Architekturgeschichte

Blicken wir heute, am Anfang des 21. Jahrhunderts, auf die architek­ turale Welt des letzten Jahrhunderts zurück, können wir ein Neben­ einander moderner, spätmoderner, postmoderner und dekonstrukti­ ver Stilrichtungen beobachten, wobei in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts im klassischen Sinne »modern« kaum noch (die berühmteste Ausnahme bilden die weißen Bauten von Richard Meier) gebaut wird. Dennoch kann die klassische Moderne nicht als abge­ schlossen bezeichnet werden, denn alle Richtungen nach der Moderne des Neuen Bauens und des Bauhauses am Anfang des letzten Jahr­ hunderts bleiben in positiver oder negativer Weise auf diese bezogen. Die Postmoderne beispielsweise ist nicht nur als radikal neuer Stil, sondern auch als Revision einer Moderne, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf einen Bauwirtschaftsfunktionalismus hinausgelaufen ist, verstanden worden.260 Auch der Dekonstruktivismus orientiert sich in kritischer Durcharbeitung an Ideen einer Nebenentwicklung der Moderne, am russischen Konstruktivismus. Damit ergibt sich für das gesamte Jahrhundert ein Bild, das man vielleicht als »Abarbeiten an der Moderne« bzw. »Durcharbeiten« designieren könnte.

3. Ansätze einer philosophisch orientierten Architekturgeschichte Aufgrund all dieser Punkte könnte man abschließend im Hinblick auf die weitere philosophische Auseinandersetzung mit der Geschichte der Architektur des 20. Jahrhunderts die These aufstellen, dass es in der Postmoderne ebenso wie in der Spätmoderne und im Dekon­ struktivismus nicht nur darum geht, einen für Architektur adäquaten Ausdruck ihrer eigenen Zeitepoche hervorzubringen, sondern auch um eine im Freudschen Sinne zu verstehende »Durcharbeitung« der Moderne und der vormodernen Vergangenheit.261 Der französische Philosoph Jean-François Lyotard kommt in einem Aufsatz über die Architektur und Kunst der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, den er in den 1980er Jahren geschrieben hat, ebenfalls zu dieser Einschätzung: »Ich würde sagen, daß das Zitieren von 260 Vgl. H. Klotz, Postmoderne: – Ende der Moderne?, in: B. Wyss (Hg.), Bildfälle. Die Moderne im Zwielicht, Zürich und München 1990, S. 170–181. 261 Vgl. dazu P. Gay, Die Moderne. Eine Geschichte des Aufbruchs, Frankfurt a. M. 2009.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Elementen aus früheren Architekturen in der ›neuen‹ Architektur von einem der Verwendung von Tagesresten aus dem vergangenen Leben in der Traumarbeit analogen Verfahren herrührt, wie Freud es in der Traumdeutung beschreibt.« Um »das Werk der modernen Maler ... richtig zu verstehen«, müsste man »ihre Arbeit mit einer Anamnese im Sinne der psychoanalytischen Therapeutik vergleichen. Ebenso wie der Patient versucht, seine gegenwärtigen Störungen zu verarbeiten, indem er scheinbar inkonsistente Elemente mit vergan­ genen Situationen frei assoziiert, was ihm ermöglicht, verborgene Bedeutungen in seinem Leben und seinem Verhalten zu entdecken, kann man die Arbeit von Cézanne, Picasso, Delaunay, Kandinsky, Klee, Mondrian, Malewitsch und schließlich Duchamp als ›Durch­ arbeiten‹ ansehen, das die Moderne in bezug auf ihren eigenen Sinn bewerkstelligt.«262 Was Lyotard hier für die Modernisten in der Kunst sagt, gilt ebenso für diejenigen in der Architektur. Modernisten, Postmodernis­ ten und Dekonstruktivisten in der Architektur bewerkstelligen also – um es mit Lyotard zu sagen – ein Durcharbeiten in Bezug auf ihren eigenen Sinn. Während jedoch die Modernisten den Stoff ihrer Durcharbeitung in sich selbst bzw. ihrer eigenen Tätigkeit suchen, beziehen sich die Postmodernisten und Dekonstruktivisten auf einen externen Gegenstand. Insofern gibt es einen wichtigen Unterschied zwischen den Modernisten einerseits und den Postmodernisten und Dekonstruktivisten andererseits. Die letzteren, die versuchen, ihre künstlerische Arbeit in Analogie zur Traumarbeit zu vollziehen, in der verschiedene problematische Ereignisse, Zustände bzw. Situationen zusammengestellt und durchgearbeitet werden, beziehen sich dabei jedoch nicht wie die ersteren auf ihre eigene gegenwärtige Zeit, die sie damit zum Maßstab erheben, sondern greifen auf die Vergangen­ heit von Kunst und Architektur zurück und stellen deren problema­ tische Elemente derart zusammen, dass ihre Durcharbeitung einer architektonischen Lösung zugeführt werden kann, die verborgene Zusammenhänge der Vergangenheit, die sich in einem negativen Sinne auf die Gegenwart auswirken, aufdecken, d.h. sichtbar und damit auch beherrschbar und veränderbar machen soll. Hierbei tritt Altes und Neues in eine Konstellation, die gegenüber der der Moderne nur relativ neu ist – aber nicht absolut. 262 J.-F. Lyotard, Notizen über die Bedeutung von »post-«“, in: ders., Postmoderne für Kinder, Wien 1987, S. 101, 105.

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3. Ansätze einer philosophisch orientierten Architekturgeschichte

Wenn man davon ausgeht, dass das Bauwerk kein sich selbst genügendes Kunstwerk ist, sondern immer im urbanen Zusammen­ hang steht und wahrgenommen wird, dann kann das Bildhafte und Plakative eines Baukörpers in einem anderen Sinne in den Vorder­ grund rücken. Die reine, nicht ornamentierte, bilderlose und rationale Architektur der Moderne wird dem unaufhebbar chaotischen Zustand städtischer Organisation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr gerecht. Daher ergibt sich hier der Wert eines Bauwerks gerade nicht aus der gelungenen Einheit von Form und Funktion, wie es im Verständnis der Moderne der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts der Fall ist. Die Ablehnung des industriell gefertigten Ornaments und die Betonung der reinen Zweckform, wie sie von Loos ausgehend gefor­ dert wird, ist aber nur eine Variante in dem Bemühen, »nach der Ablö­ sung der traditionellen Stileinheit ein neues verpflichtendes Zentrum der Stilorientierung zu suchen.«263 Eine andere Variante findet man in dem 1923 begonnenen Versuch von Gropius, eine neue Einheit von Technik und Kunst hervorzubringen. Ein markantes Beispiel hierfür liefert die von seinem Lehrer, Peter Behrens, 1909 erbaute AEG-Tur­ binenfabrik in Berlin. Die Giebelfront dieses Gebäudes wird von zwei sich nach oben verjüngenden Eckpylonen flankiert. Das vieleckige Giebelfeld mit dem Firmensignet scheint dem Mittelfenster aufzusit­ zen; tatsächlich jedoch handelt es sich bei dem Dach um ein Tragsys­ tem aus mit Zugbändern versehenen Dreigelenkbögen, die auf den seitlichen Stützen aufliegen. An der Seitenfront zwischen den Stützen neigen sich die großen Glasfenster leicht zurück. Die Stützen von außen betrachtet erscheinen als Vollwandprofile. In Wirklichkeit aber bestehen die mächtig und massiv wirkenden Fassadenelemente nur aus einer dünnen Betonhaut, die von einem Stahlgitterwerk gehalten wird. Da sie keine tragenden, sondern lediglich raumabschließenden Teile sind, verweisen diese Elemente auf die Künstlichkeit der einge­ setzten Mittel. Für Behrens muss die Formgebung immer über die rein konstruktiven Erfordernisse hinausgehen. Der künstlich erzeugte Ausdruck einer geschlossenen Körperlichkeit aus Glas, Eisen und Beton, die Hervorhebung der Funktionen des Tragens und Lastens, die Gestaltung der Fassade, die an einen modernen Tempel denken lässt – all diese Punkte verweisen auf eine Vereinigung von Kunst R. G. Renner, Die postmoderne Konstellation. Theorie, Text und Kunst im Ausgang der Moderne, Freiburg im Breisgau 1988, S. 59.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

und Technik, die vom Betrachter eine ästhetische Rezeption verlangt. Behrens interessiert sich jedoch nicht nur für Baumaterialien und ihre ästhetische Wahrnehmung durch den Betrachter; was ihn besonders beschäftigt, sind die Bedingungen einer solchen Wahrnehmung in der modernen Welt, Bedingungen, die in erster Linie mit der Schnelligkeit dieser Zeit zu tun haben. In einer programmatischen Schrift bringt er das vortrefflich zum Ausdruck: »Eine Eile hat sich unserer bemächtigt, die keine Muße gewährt, sich in Einzelheiten zu verlieren. Wenn wir im überschnellen Gefährt durch die Straßen unserer Großstadt jagen, können wir nicht mehr die Details der Gebäude gewahren. Ebensowe­ nig wie vom Schnellzug aus Städtebilder, die wir im schnellen Tempo des Vorbeifahrens streifen, anders wirken können als nur durch ihre Silhouette. Die einzelnen Gebäude sprechen nicht mehr für sich. Einer solchen Betrachtungsweise unserer Außenwelt, die uns bereits zur steten Gewohnheit geworden ist, kommt nur eine Architektur entgegen, die möglichst geschlossene, ruhige Flächen zeigt, die durch die Bündigkeit keine Hindernisse bietet.«264 Die Maschine und ihr Sinn, die Bewegung, sind das, was die Zeit um die Jahrhundertwende entscheidend mitgeprägt hat. Für Le Corbusier haben die neuen Maschinen in Dampfschiffen, Flugzeugen und Automobilen einen neuen Geist erweckt, von dem zu lernen die Architekten bereit sein müssten. Erste Erfolge zeigten sich schon bald in der Architektur, jedoch nicht nur in der Form, dass die neuen Denkweisen, moderne Materialien für moderne Zwecke zu benut­ zen, lediglich widergespiegelt bzw. inaktiv übernommen werden, sondern auch darin, dass versucht wird, diesen Zeitereignissen aktiv zu begegnen, d.h. sie zu reflektieren und zu verarbeiten, konkret etwa in den architektonischen Entwürfen bei der Fassadengestaltung. Ein besonders gutes Beispiel hierzu sind die Eckgebäude von Hans Poelzig, Paul Wolf oder Paul Mebes, die vor 1914 realisiert werden. Erich Mendelsohn beschäftigt sich damit auch theoretisch und bringt seine Einschätzung in einem Aufsatz exakt auf den Punkt: »Wie es [das Verlagshaus Rudolf Mosse] im ganzen Ausdruck sichtbar das schnelle Tempo der Straße, die bis zum äußersten gesteigerte Bewegungstendenz zur Ecke aufnimmt, so bändigt es gleichzeitig

264

Zitiert nach Renner, a.a.O., S. 60.

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4. Hegel als Kunst- und Architekturhistoriker

durch die Ausgeglichenheit seiner Kräfte die Nervosität der Straße und der Passanten.«265 Während die traditionelle Architektur von einem stehend wahr­ nehmenden Betrachter ausgeht, rechnet die moderne Architektur bereits mit einem aus der Bewegung erfolgten Betrachten, konkret beispielsweise aus dem fahrenden Automobil. Hiermit nimmt die Moderne einen Zug vorweg, der in der postmodernen Architektur von Las Vegas zentrale Bedeutung gewinnt, d.h. in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts weltweit einen neuen Typus städtischer Formung hervorgebracht hat: die Autostadt, die auf den Autofah­ rer abgestimmte Architektursymbolik.266 Die Übereinstimmung, die Moderne und Postmoderne in diesem Punkt eingehen, wird, was die Fortschrittsgläubigkeit der Moderne betrifft, wieder aufgelöst. Insofern ist es nicht richtig anzunehmen, die Postmoderne entstehe gradlinig aus der Moderne, oder, die Moderne enthalte bereits den Samen, der später in der Postmoderne aufgehe; auch nicht richtig ist es anzunehmen, dass die Postmoderne radikal neu sei.

4. Hegel als Kunst- und Architekturhistoriker Ausgehend von der im Umkreis Hegels von Heinrich Gustav Hotho überlieferten und ergänzten Textversion der Ästhetik kann gezeigt werden, wie Hegel die Entwicklung der Künste in der symbolischen, der klassischen und der romantischen Kunstform vor allem unter sys­ tematischen Gesichtspunkten beschreibt. Für Hegel gibt es somit eine je wechselnde hierarchische Konstellation der einzelnen Künste in den unterschiedlichen Kunstformen: Die Architektur ist der höchste Ausdruck der symbolischen, die Skulptur höchster Ausdruck der klas­ sischen, und die Poesie höchster Ausdruck der romantischen Kunst­ form. Mit dem Fortschreiten der Bewusstmachung des Absoluten der Kultur im Laufe der Geschichte tritt die architektonische Umgebung immer weiter zurück und die Kunst wird schließlich dominant. E. Mendelsohn, Die internationale Übereinstimmung des neuen Baugedankens oder Dynamik und Funktion, in: ders., Das Gesamtschaffen des Architekten. Skizzen, Entwürfe, Bauten, Berlin 1930, S. 28. 266 Vgl. dazu R. Venturi, D. S. Brown, St. Izenour, Lernen von Las Vegas. Zur Ikonographie und Architektursymbolik der Geschäftsstadt, Basel 2007. 265

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

Neben diesen systemtheoretischen Erörterungen finden sich bei Hegel jedoch auch detaillierte Einzelanalysen, die die lebensweltli­ chen bzw. kulturellen Dimensionen der Architektur herausarbeiten. In den verschiedenen Berliner Vorlesungen zur Ästhetik stehen diese Analysen sogar deutlich im Vordergrund, wie Annemarie GethmannSiefert als Herausgeberin dieser Texte in ihren Einführungen betont hat. Hegel sieht beispielsweise in einem Teil der symbolischen Archi­ tektur des Ostens, wie dem Turm zu Babel und dem Tempel von Belus, Bauwerke, die eine Gemeinschaft gestiftet und die Identität eines Volkes begründet haben. So spricht Hegel etwa in der Vorlesung von 1823 davon, dass diese Bauwerke einen »konkreten Vereinigungs­ punkt«267 für die Menschen bilden und damit zugleich eine »Vereini­ gung zum Staate«268 bewirken würden. Weitere Beispiele dieser grundsätzlichen Auffassung finden sich auch in seiner Deutung von griechischem Tempel und christlichem Dom. Während der griechische Tempel durch seinen offenen Säulengang die Verbindung des antiken Menschen mit seiner Umgebung widerspiegelt, ist der gotische Dom aufgrund seiner ›Vertikalität‹ Ausdruck der Jenseitsgewandtheit des mittelalterlichen Menschen. Hier muss die Architektur als »die äußer­ liche Umgebung eines Mittelpunktes« verstanden werden, in dem in der Vergangenheit stets die jeweiligen Gottesgestalten gestanden hat­ ten, die in der Moderne jedoch, vor allem des 19. und 20. Jahrhun­ derts, zum letzten Mal durch den Menschen ersetzt worden ist. Für den Metaphysiker Hegel steht die Architektur zwar nur auf dem untersten Rang im System der Künste, aber in den Einzel­ analysen der verschiedenen Berliner Vorlesungen Hegels gibt es immer wieder die Feststellung, dass die Architektur vor allen anderen Künsten das menschliche Sein in seiner Lebenswelt zum Ausdruck bringen könne.

267 Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Kunst. Berlin 1823. Nach­ geschrieben von Heinrich Gustav Hotho, hrsg. von A. Gethmann-Siefert, Hamburg 1998, S. 213. 268 Ebd., S. 212.

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5. Zur Konzeption einer lebensweltlich orientierten Architekturtheorie

5. Zur Konzeption einer lebensweltlich orientierten Architekturtheorie Die Verknüpfung der Architektur mit der menschlichen Lebenswelt, die der »Kunsthistoriker« Hegel deutlich macht, ist für den »Metaphy­ siker« letztendlich der Grund, die Architektur als zwar erste, zugleich jedoch als niedrigste Kunst einzustufen. Für die Bewusstmachung des Absoluten der Kultur spielt sie nur eine anfängliche und schnell über­ wundene Rolle. Wenn man sich nun wie der Philosoph Heinz Paetzold nicht für die systematische Funktion der Künste, sondern eher für die lebensweltliche Dimension interessiert, kann man bei Hegel also durchaus fündig werden.269 Wie Paetzold es sieht, können die Werke der Architektur in Hegels Ästhetik als Ausdruck der menschlichen Lebenswelt und auch als Beitrag zur Bewahrung der leiblichen Grun­ dierung des Menschen gedeutet werden. Mit dieser Einschätzung will er die Aktualität von Hegels Betrachtung der Architektur für die Architektur der 1980er Jahre, insbesondere für den »Regionalis­ mus«, nachweisen. Der Regionalismus entstand nicht nur aus der Ablehnung der internationalen Ausrichtung, sondern auch wegen des rigorosen Funktionalismus der modernen Architektur. Modernen Architekten wie Le Corbusier, May und Taut ging es in ihrer Auffas­ sung von Architektur in erster Linie um eine gezielte Umerziehung der Bewohner durch eine neue Art des Bauens; diese sollte im Sinne eines »vorausgreifenden Gesellschaftsentwurfs« umgesetzt werden. Die kritischen Regionalisten lehnten dies vehement ab. Die Gebäude dieser Architekten verstehen sich weder als Kunst­ objekte bzw. Ausdruck einer Persönlichkeit (des Architekten) noch als neutrale Funktionsbehälter. Der Zusammenhang von Form und Funktion, wie er vom Neuen Bauen gefordert wurde, wird vom Kri­ tischen Regionalismus aufgebrochen: Er möchte weder eine sich im Funktionieren einschränkende moderne Architektur noch eine sich in der Form erschöpfende postmoderne oder auch dekonstruktive sein. Die Form sollte den Gebrauch nicht vollständig determinieren, son­ dern vielmehr seine Möglichkeiten vergrößern und reicher machen. Während Ludwig Mies van der Rohe sein Verständnis der Architektur als aufgefasster Zeitwille in den 1920er und auch in den 1950er Jahren noch selbstverständlich mit einem internationalen Baustil verbunden 269 Vgl. H. Paetzold, Hegels Sicht auf die Architektur, in: ders., Profile der Ästhetik. Der Status von Kunst und Architektur in der Postmoderne, Wien 1990, S. 42ff.

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Kapitel 6 Ist Architektur ein Spiegel ihrer Zeit?

hatte, sind die Kritischen Regionalisten hingegen der Ansicht, dass die Erfordernisse der Zeit in den 1980er und 1990er Jahren jedenfalls auch in einer unlösbaren Beziehung zur jeweiligen Region stehen. Insofern dürfen die Besonderheiten der Topographie einer Landschaft oder einer Stadt ebenso wie die unterschiedlichen Lebenswelten ihrer Bewohner nicht länger aus dem Planungsbereich der Architektur ausgegrenzt werden. Der Zusammenhang von Architektur und Lebenswelt, der grundlegend für den Regionalismus ist, lässt sich in entsprechend veränderter Form auch im Bauingenieurwesen erreichen. Zwar stehen die Bauingenieure bei den meisten Bauvorhaben in zweiter Reihe, aber wenn es um den Brückenbau geht, sind sie nicht nur für die Statik, sondern auch für die Ästhetik allein verantwortlich. Der Zusammenhang von Bau- und Lebenswelt zeigt sich hier als einer von Statik und Ästhetik mit den Bedürfnissen und Erfordernissen der Region, in der das Bauwerk errichtet wird.270 Der Bauingenieur Jörg Schlaich beispielsweise, der für Projekte von Frei Otto, Fritz Trautwein und Frank O. Gehry die statischen Berechnungen geliefert hat, hat den genannten regionalistischen Zusammenhang ausdrück­ lich mit seinem Entwurf der Hooghly-Brücke, die in der indischen Metropole Kalkutta über den westlichen Mündungsarm des Ganges, dem Hooghly River, führt, hergestellt und auch die notwendigen Konsequenzen bei der Ausführung daraus gezogen. So hat er bei der Realisierung der rund 500 Meter langen Seilbrücke nicht die hochentwickelte Schweißtechnologie aus dem Westen zum Einsatz gebracht, sondern ließ dieses in fünfzehnjähriger Bauzeit 1993 fertig gestellte Brückenprojekt vollständig nieten, um damit sowohl bei der Konstruktion auf die landesüblichen Standards Rücksicht zu nehmen als auch beim Bau mit den Aufträgen und der Arbeit so weit wie möglich im Lande bleiben zu können.271 Es bleiben insgesamt noch vielfältige ungeklärte Bezüge zwi­ schen Moderne, Spätmoderne, Postmoderne und Dekonstruktion, so dass eine philosophisch orientierte Betrachtungsweise auch in der zukünftigen Forschung sachdienlich erscheinen muss. Diese Auffassung vertritt F. Leonhardt in seinem Buch: Brücken, Ästhetik und Gestaltung, Stuttgart 1982, S. 9 sowie im 2. Kapitel: Zu den Grundfragen der Ästhetik, S. 11–31. 271 Vgl. dazu A. Bögle u. a. (Hg.), leicht weit / Light Structures, München 2004, S. 191–195. 270

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Kapitel 7 Die Entwicklung der Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

1. Die Vorgeschichte der Moderne in der Philosophie Mit René Descartes beginnt eine neue Epoche der Philosophie, die mit der Antike und dem Mittelalter radikal bricht und sich an der mathematischen Betrachtungsweise der zeitgenössischen Naturwis­ senschaft orientiert. Wie die Geometrie aus wenigen Axiomen ihr System aufbauen kann, so will Descartes auf einer einzigen Grund­ einsicht die ganze Philosophie aufrichten. Diese Vorgehensweise begründet eine rationalistische Philosophie, die den Bereich des Denkens von dem des Körperlichen substantiell unterscheidet. John Locke und Gottfried Wilhelm Leibniz, die ihre Untersuchungen über den menschlichen Verstand ausgehend von Descartes erweitern, kom­ men dabei allerdings zu völlig entgegengesetzten Ergebnissen. Locke vertritt die Ansicht, dass der Verstand ursprünglich leer ist; Inhalte werden ihm erst durch die Sinne gegeben. Da Locke die sinnliche Erfahrung zur Grundlage der Erkenntnis erklärt, bezeichnet man seine Philosophie als Empirismus. Diesem entgegnet Leibniz, dass der Verstand ursprünglich bereits Begriffe enthält, die nicht aus der Sinnenwelt stammen können. Da sie den Verstand zur Grundlage der Erkenntnis erhebt, bezeichnet man die Philosophie von Leibniz ebenso wie die Descartesʼsche als Rationalismus.272

272 Vgl. G. Gabriel, Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Von Descartes zu Wittgen­ stein, Paderborn 1993. Vgl. auch W. Röd, Die Genese des Cartesianischen Rationalis­ mus, München 1980. Vgl. schließlich B. Williams, Descartes. Das Vorhaben der reinen philosophischen Untersuchung, Königstein 1981.

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Kapitel 7 Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

1.1 Der erkenntnistheoretische Rationalismus von Descartes Bei Descartes beginnt die Philosophie mit dem Zweifel.273 Damit sol­ len alle Schichten des bisherigen Wissens, an denen man grundsätz­ lich noch zweifeln kann, abgetragen werden, um schließlich auf jenes Fundament zu stoßen, an dem niemand mehr zweifeln kann. Auf einem solchen Fundament kann eine gesicherte Erkenntnis der Welt erst aufgebaut werden. Es sind im Wesentlichen drei Schichten, die im Vollzuge des Zweifelns abgetragen werden sollen: die sinnlichen Wahrnehmungen, die Inhalte des Gedächtnisses und die angeblich evidenten Erkenntnisse der Wissenschaften. Es erweist sich jedoch, dass, wenn ich auch an allem zweifeln mag, an einem ich nicht zwei­ feln kann, nämlich, dass ich bin, während ich zweifele, denn ich könnte gar nicht zweifeln, wenn ich nicht da wäre. Daraus leitet Descartes sein erstes festes und absolut zweifelsfreies Fundament ab. Es lautet: Ich denke, also bin ich. Das cogito, ergo sum muss Descartes zufolge als erste »veritas aeterna« anerkannt werden. Das ego cogito ist die Seele als die denkende Substanz (res cogitans) und das Bewusstsein ist ihre Wesenseigenschaft, ihr Attribut. Auf diesem Fundament will er die im radikalen methodischen Zweifeln dekonstruierte Welt wieder rekonstruieren. Dabei ist er von der Überzeugung geleitet, dass die Rekonstruktion der Welt auf deduktiver Art ausnahmslos und mit mathematischer Präzision möglich sei. Der Grad der Gewissheit, der mit dem vollen Bewusstsein seiner selbst verbunden ist, verbürgt die volle Wahrheit. Daraus folgert Descartes, dass auch alle diejenigen Ideen oder Vorstellungen als wahr angesehen werden müssen, die ebenso klar und deutlich erkannt werden. Allerdings bemerkt er, dass die Ideen, die er in seiner Seele vorfindet, nicht alle die gleiche Klarheit und Deutlichkeit besitzen. Zu den Ideen, die mit absoluter Klarheit und Deutlichkeit erkannt werden können, gehört die Idee Gottes als des vollkommensten Wesens. Sie ist für Descartes die zweite »veritas aeterna«. Die eigene Existenz und die Existenz Gottes werden so klar und so deutlich erkannt, dass ein Zweifel nicht mehr möglich ist. Ist Gott aber vollkommen, so ist er auch wahrhaftig. Und ein wahrhaftiger Gott kann unsere Sinne nicht täuschen, sonst wäre er nicht Gott, sondern ein Dämon. Damit ist auch die Existenz der Welt und ihrer Körper als ausgedehnte Substanz (res extensa) gesichert. Vgl. R. Descartes, Meditationes de prima philosophia. Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, hrsg. v. L. Gäbe, Hamburg 1977.

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1. Die Vorgeschichte der Moderne in der Philosophie

Die Ausdehnung ist für Descartes das Attribut des Körpers. Ebenso wie die Innenwelt kann also auch die Außenwelt sicher begründet werden. Wie aber kommt die Idee Gottes in die Seele des Menschen? Die Seele selbst, als endliches Wesen, kann nicht die Ursache einer unendlichen Idee sein, denn eine Wirkung kann nicht größer sein als ihre Ursache. Descartes zufolge muss die Idee Gottes dem Menschen von einem höheren Wesen (und das kann nur Gott selbst sein) ein­ gepflanzt worden sein. Er bezeichnet die Idee Gottes deshalb als »idea innata«, d.h. als angeborene Idee. Gott, der der Seele die Idee von sich selbst eingepflanzt hat, lässt sie nicht absichtlich irren. Daraus folgt, dass alles, was klar und deutlich eingesehen werden kann, auch wirk­ lich wahr ist. Unter der Garantie Gottes sind die Erkenntnisse der Naturwissenschaften demnach als wahr verbürgt.

1.1.1 Exkurs zur geschichtlichen Perspektive Es gibt ein Kunstwerk von Paul Klee mit dem Titel »Hauptweg und Nebenwege«. In Analogie zu diesem Werk, könnte man sagen, dass das Feld der Philosophie der Moderne und insbesondere das des 20. Jahrhunderts nicht als einheitliches, sondern als heterogenes Feld vorgestellt werden muss. Also dieses Feld hat Hauptwege und Nebenwege. Ein Hauptweg, nicht der Hauptweg, soll im Folgenden rekonstruiert werden. Eine Philosophiegeschichte, in der gleichzeitig zahlreiche unter­ schiedliche Strömungen nebeneinander oder gegeneinander gegeben sind, kann nicht mehr auf eine »eindimensionale« Stilgeschichte, d.h. einen sogenannten »Gänsemarsch der Stile« reduziert werden; sie muss vielmehr Haupt- und Nebenwege unterscheiden und unter­ suchen. Diese Untersuchung soll hier jedoch nicht darin bestehen, die Pluralität der unterschiedlichen Wege in der neuzeitlichen Moderne und im 20. Jahrhundert mit ihren vielfältigen Verflechtungen zu analysieren, sondern vielmehr auf einen für diese Zeitepoche sehr markanten Hauptweg der Philosophieentwicklung hinzuweisen. Dies impliziert, so behaupte ich, eine Reihe von Frage, etwa die Frage nach der Unterscheidung und dem Selbstverständnis der Zeitenabschnitte: ›neuzeitliche Moderne‹ und ›Moderne des 20. Jahrhunderts‹. Meine grundsätzliche These zur Beantwortung der hier aufgeworfenen Fra­ gen lautet: »Philosophie ist ihre Zeit in Gedanken erfasst«, um es

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Kapitel 7 Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

mit Hegel zu sagen.274 Daraus ergibt sich meines Erachtens aber nicht nur eine einzige Entwicklungslinie von Philosophie, sondern grundsätzlich mehrere und völlig verschiedene Ansätze. Ich neige zu der Auffassung, dass man Entwicklungen über­ haupt erst erkennen und verschiedene Entwicklungen voneinander unterscheiden kann, wenn man einen Überblick hat. Im Mittelpunkt dieses Kapitels stehen daher nicht die philosophische Analyse eines einzelnen Werkes, sondern die Frage der Entwicklung der Philosophie in der Moderne und die Frage nach dem philosophischen Beschrei­ bungsmodell dieser Entwicklung. Aus diesem Grunde konnten die Ausführungen hier nur den Charakter eines Überblicks erhalten. Ich stelle mir vor, erst in der Kenntnis eines solchen Überblicks die Beson­ derheit eines einzelnen Werks wirklich angemessen einschätzen zu können. Doch diese gründliche Analyse wäre ein zweiter Schritt, der hier nur in Ansätzen erfolgen kann. Wir werden es im Folgenden mit zwei Modellen zu tun haben, die ich der Anschaulichkeit halber durch ein Schema darstellen möchte. In der Erklärung dieses Schemas soll die Krise der Philosophie sowie ein Ausweg aus dieser Krise dargestellt werden. Das im obers­ ten Schema gezeigte erste Modell ist von Hegel. Man könnte es das dialektische bzw. allzu optimistische Fortschrittsmodell nennen. Dieses Modell wird heute als höchst problematisch eingeschätzt. Das bedeutet aber nicht, nun von einer Entwicklung auszugehen, die von der ›Steinschleuder zur Megabombe‹ führt. Wenn man einen Extremismus vermeiden möchte, kann man auch den mittleren Weg einschlagen, wie wir das in unserem zweiten Modell prüfen. Es ist das »mehrdeutige zweigleisige Verlaufsmodell«; es soll als Ausweg aus der Krise des absoluten Optimismus wie des absoluten Pessimismus vorgestellt werden. Beginnen wir mit dem ersten Modell, das Hegel vertreten hat. Für ihn stellt sich die Entwicklung bzw. die ›Geschichte der Philosophie‹, die er als die höchste Form der Selbsterfassung des Geistes betrachtet, als Prozess auf der Basis seines eigenen Systems dar und kombiniert diese mit einer ›Philosophie der Geschichte‹, die er als einen »dia­ lektischen Fortschrittsprozess« der Freiheitsverwirklichung deutet, dessen Träger die staatlich organisierten Völker bzw. die sich durch 274 Vgl. dazu J. Simon, Hegels Begriff der Philosophie als »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« und das Programm einer vergleichenden Philosophie, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie, 25. Jg., 1/2000.

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1. Die Vorgeschichte der Moderne in der Philosophie

die Individuen bildenden Volksgeister sind. Die Entwicklung verläuft in einem harten Kampf des Geistes gegen das ihm Entgegenstehende von der Epoche, in der nur einer frei ist, zur Epoche, in der alle frei sind. Doch diese Auffassung, dass nämlich am Ende der Geschichte alle frei sein könnten, kann uns letztendlich nicht überzeugen. Gehen wir also zum zweiten Modell über. Hier wird die Auffas­ sung vertreten, die man als ein »mehrdeutiges zweigleisiges Verlaufs­ modell« bezeichnen könnte. Es wird angenommen, dass es gar keinen Fortschritt in der Geschichte der Philosophie gibt, sondern lediglich einen Verlauf, in dem von Zeit zu Zeit gewisse Wiederholungen im Sinne von Ähnlichkeiten bzw. Analogien auftauchen.

Gegenwart

Neuzeit

Antike

Fortschritt: Hegels Modell des dialektischen Fortschritts

I/R

R/E

Antike

Neuzeit

M/P

Gegenwart

Wiederkehr: Modell der gegensätzlichen Duplizität

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Kapitel 7 Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

Wir könnten daraus schließen, dass es nicht sinnvoll ist, über so etwas wie Fortschritt in der Philosophie zu sprechen. Der Übergang zur Gegenwart des 20. Jahrhunderts stellt nicht etwas radikal Neues dar, denn dieser Übergang entspricht etwa dem Übergang, der sich vom Mittelalter zur Neuzeit ereignete. Die Entwicklung der Philosophie ist kein Fortschrittsprozess (im Sinne einer naturwissenschaftlichen oder Hegelschen Aufwärtsbzw. Höherentwicklung), in dem das auf der ersten Stufe erworbene Wissen aufgehoben und überwunden wird, sobald die zweite Stufe erreicht ist, sondern die relative Wiederkehr einer Gegensätzlichkeit, die in der Geschichte auf verschiedenen, jedoch gleich gültigen Gebie­ ten eine Auseinandersetzung gefunden hat. Dabei ist zwischen Form und Inhalt zu unterscheiden. Auf der ›formalen Ebene‹ kehrt der »Gegensatz« immer wieder, auf der ›inhaltlichen Ebene‹ gibt es eine Weiterentwicklung im Sinne einer »Erneuerung«, einer »Ersetzung« oder »Fortsetzung«. Also der ›hauptsächlich prozedierende‹ Gegen­ satz wird von Epoche zu Epoche mit jeweils neuen Inhalten gefüllt – Antike: Idealismus vs. Realismus (I/R), Neuzeit: Rationalismus vs. Empirismus (R/E), Gegenwart: Moderne vs. Postmoderne (M/P). Diese Entwicklung wird sich fortsetzen. Neben den hauptsächlichen kann es in jeder Epoche weitere objektiv prozedierende Gegensätze geben. Mit welchem hauptsächlichen Gegensatz sich die Menschen bzw. die Philosophen in Zukunft auseinandersetzen werden, lässt sich heute aber noch nicht mit Sicherheit sagen. Sicher sind wir jedoch darin, dass es sich wieder um einen Kampf gegen das Entgegenge­ setzte handeln wird. Gegenüber der aus heutiger Sicht problematisch erscheinenden Auffassung von Hegel möchte ich hier also, wie gesagt, ein alterna­ tives Modell darstellen, das ich das »mehrgleisige, zickzacklinige Entwicklungsmodell« genannt habe. Es kennt nicht nur Aufwärts-, sondern auch Abwärtsentwicklungen, Haupt- und Nebenentwicklun­ gen, gegensätzliche und parallele Entwicklungen.

1.2 Der erkenntnistheoretische Empirismus von Locke Kommen wir zu unserem eigentlichen Thema zurück. John Locke war der Meinung, dass man nur dann Sicherheit in der Erkenntnistheorie erlangen könne, wenn man zuvor sowohl über das ›Erkenntnisver­

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1. Die Vorgeschichte der Moderne in der Philosophie

mögen überhaupt‹ als auch über das ›Zustandekommen‹, die ›Gül­ tigkeit‹ und die ›Grenzen‹ der Erkenntnis Klarheit geschaffen habe. Mit seiner Untersuchung über den menschlichen Verstand von 1690 brachte er nach Descartes die zweite moderne ›Erkenntnistheorie‹ 275 als spezifisch neuzeitliche Form des Philosophierens hervor, deren Erörterungen bzw. Forschungen den Hauptgegenstand der Philoso­ phie bis ins 20. Jahrhundert ausmachen, bis sie schließlich durch die Wissenschaftstheorie und die Sprachphilosophie abgelöst werden, deren Anfänge allerdings auch schon bei Locke zu finden sind. Den Ausgangspunkt der philosophischen Lehre von Locke bildet eine Kritik an der Lehre von den angeborenen Ideen. Die Rationalisten hatten behauptet, dass gewisse Ideen der menschlichen Seele angebo­ ren sein müssten. Neben den theoretischen Grundsätzen des mensch­ lichen Verstandes und den praktischen Grundsätzen der Moral halten sie die obersten Grundsätze der Logik, wie den Satz der Identität und den Satz des Widerspruchs, für angeboren. Für Locke allerdings gibt es keine angeborenen Ideen, sondern nur erworbene. Auch die obersten Gesetze der Logik, die, wie Locke einwendet, Kindern, Idioten und Naturmenschen durchaus unbekannt seien, können nicht als angeboren gelten, denn die Seele müsste von Ideen, die ihr ›angeboren‹ seien, stets ein Bewusstsein haben, d.h. sie müssten stets im Bewusstsein ›präsent‹ sein, was aber nicht der Fall sein kann. Die Seele gleicht vielmehr einem weißen Blatt Papier, das erst durch die Erfahrung mit Ideen beschrieben wird. Diese Erfahrung kann aus zwei Quellen den Verstand mit Ideen speisen, aus der »Sensation« und der »Reflexion«. Während die Sensation aufgrund der Affizierung der Sinne durch die Gegenstände der Außenwelt und deren Eigenschaften entsteht und die Ideen, die wir von heiß, kalt, süß, bitter etc. haben, hervorbringt, beruht die Reflexion auf der Beobachtung der eigenen inneren Operationen des Geistes und lässt uns die Ideen der verschie­ denen geistigen Tätigkeiten, wie wahrnehmen, denken, zweifeln etc., gewinnen. Sobald der Mensch sich die ersten und einfachen Ideen oder Vorstellungen angeeignet hat, beginnt er, mit ihnen immer kompliziertere Operationen zu unternehmen. Locke unterscheidet unter den Vorstellungen also solche, die »einfach« sind und sämtlich aus der Erfahrung, d.h. der Sinnesempfindung oder der Selbstwahr­ nehmung, stammen, und solche, die »komplex« sind, d.h. durch 275 Vgl. J. Locke, Versuch über den menschlichen Verstand, 2 Bde., übersetzt und eingeleitet von C. Winckler, Hamburg 1981.

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Kapitel 7 Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

Kombination von einfachen Ideen entstanden sind. Zur Bildung der komplexen Ideen hat der Geist die Operationen des Unterscheidens, Vergleichens, Verbindens und Abstrahierens, wobei die Abstraktion die wichtigste Tätigkeit des Geistes darstellt, denn durch sie kann er das Gemeinsame einer Gruppe von Gegenständen unter einen Namen bringen. Als das wichtigste Hilfsmittel der Erkenntnis nennt Locke die »Wörter«, die die Vorstellungen ›zeichenhaft‹ vertreten. Unmit­ telbarer Gegenstand der Erkenntnis ist also nicht der Gegenstand bzw. das Ding, sondern die Vorstellungen der Dinge. Als Erkenntnis gilt für Locke in diesem Zusammenhang die Wahrnehmung der Übereinstimmung zwischen den einzelnen Vorstellungen. Insgesamt unterscheidet er vier Weisen der Übereinstimmung unserer Vorstell­ ungen: 1.) Identität oder Verschiedenheit, d.h., die Vorstellung A ist mit sich identisch und von der Vorstellung B verschieden, 2.) die Relation, d.h. die Beziehung einzelner Vorstellungen aufeinander, 3.) die Koexistenz, d.h. die Erfassung von einzelnen Vorstellungen als zueinander gehörig und 4.) die reale Existenz, d.h. dass unsere Vorstellungen ein reales Korrelat besitzen. Aber gerade weil der Geist die Dinge nicht unmittelbar, sondern über die Vorstellung erkennt, ergibt sich die Frage, ob die Ideen tatsächlich mit den Dingen übereinstimmen. Letztendlich zeigt es sich, dass über die Existenz der Außenwelt nichts wirklich Sicheres auszumachen ist. Wenn jedoch die Außenwelt nicht sicher bewiesen werden kann, aber dennoch eine Notwendigkeit des Denkens darstellt, bleibt nur die Möglichkeit, sie jenseits des sicheren Wissens auf der Ebene des Meinens und des Glaubens als existierend anzuerkennen. In diesem Punkt besteht wohl die eigentliche Schwierigkeit der empiristischen Philosophie von Locke. Lockes Ansatz ist von seiner Beschäftigung mit dem Rationa­ lismus von Descartes zutiefst geprägt.276 Vor allem waren es zwei Dinge, die er kritisierte: die Lehre von den ›angeborenen‹ Ideen (d.h. im Sinne von »präexistent«) und der philosophische Ausgang vom Zweifel, nur weil man nicht alles mit Gewissheit erkennen kann. Für ihn ist entscheidend, dass die Theorie den empirischen Befunden entspricht und dass alle unsere Vorstellungen letztlich aus der Erfahrung stammen.

276

Vgl. L. Krüger, Der Begriff des Empirismus, Berlin 1973.

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1. Die Vorgeschichte der Moderne in der Philosophie

1.3 Der erkenntnistheoretische Rationalismus von Leibniz Im Jahre 1704 vollendete Leibniz seine Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand, mit der er den Empirismus Lockes endgültig widerlegen wollte.277 Kapitel für Kapitel setzte er sich mit dem Werk von Locke auseinander und versuchte zu zeigen, inwiefern der empi­ ristische Ansatz von einer bodenlosen Spekulation getragen wird. Auf Lockes Versuch, alle komplexen Ideen des Verstandes auf einfache Ideen, und diese auf einfache äußere und innere Empfindungen zurückzuführen, entgegnet Leibniz, dass innerhalb des Bewusstsein vor jeder Erfahrung bereits Begriffe wie Sein, Substanz, Einheit, Ursache, Perzeption, Denken und andere enthalten sind. Im ersten Buch seiner Abhandlung argumentiert er daher gegen alle skeptischen Zweifel an den letztlich auf Platon zurückgehenden ideae innatae, um im zweiten Buch dann die Vorstellung einer tabula rasa mit seinem Diktum, nichts ist im Verstand, was nicht aus den Sinnen kommt, außer dem Verstand selbst, zu widerlegen. In diesem Satz ist der ganze Gegensatz zwischen Leibniz und Locke bereits enthalten. Wichtig zu erwähnen ist, dass Leibniz sein Werk in der Dialogform verfasst hat. So kann die Position von Locke durch der Figur Philalèthe und seine eigene Auffassung durch Théophile vertreten werden. Im Gespräch der beiden wird auf diese Weise die Unterschiedlichkeit der beiden Philosophen verständlich. Sie vertreten in der Regel diametrale Gegensätze in ihren Denkweisen. Während Locke eine genetische Begründung von Erkenntnis vornimmt, erwidert Leibniz, dass sich die Konzentration auf die Entstehung eines Urteils auf keinen Fall zu dessen Rechtfertigung eignet. Leibniz unterscheidet und trennt im Gegensatz zu Locke einerseits das Erfahrungsgegebene und andererseits das Denken der konstituierenden Begriffe wie Sein, Möglichkeit und Identität, die schlechterdings nicht aus der Erfahrung gewonnen werden können, sondern im Gegensatz deren Vorausset­ zung sind. Immanuel Kant, der zunächst eine rationalistische Position ein­ nahm und in den sechziger Jahren des 18. Jahrhunderts dann stark unter dem Einfluss des von Hume fortgebildeten Empirismus stand (durch den er, wie er sagte, aus dem »dogmatischen Schlummer« geweckt wurde), ist sicherlich durch Leibniz und seine Neue Abhand­ Vgl. G. W. Leibniz, Neue Abhandlung über den menschlichen Verstand, hrsg. v. M. Holzinger, Berlin 2017.

277

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Kapitel 7 Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

lung über den menschlichen Verstand, die zwar schon 1704 geschrie­ ben, aber erst 1765 veröffentlicht wurde, dazu bewogen worden, einen kritischen Mittelweg zwischen den Gegnern zu beschreiten. In seiner 1781 erschienenen Kritik der reinen Vernunft, in der er sich mehrfach auf das Werk von Leibniz bezieht, hebt Kant hervor, dass jede Erkenntnis stets das Produkt von sowohl empirischen als auch rationalen Anteilen ist.278 Damit kann er die entgegengesetzten Auffassungen von Hume und Leibniz zu einer kopernikanisch gewen­ deten Erkenntnistheorie verknüpfen. Mit Hume nämlich kann er fordern, alle rationalen Grundsätze, überhaupt alles, was an »keinem Probierstein der Erfahrung« geprüft werden kann, als »Blendwerk und Täuschung« zu verwerfen. Und mit Leibniz kann er annehmen, dass es den Verstand selbst als Inbegriff aller Prinzipien des Denkens vor der Erfahrung gibt. Dadurch ist es möglich, eine Erkenntnis zu gewinnen, die über die bloße Kombination von einfachen Ideen hinausgeht und auf zwei Quellen zurückgeht: nämlich Sinnlichkeit und Verstand bzw. Anschauung und Begriff. Berühmt für diesen Kontext ist Kants Satz aus der Einleitung zur transzendentalen Logik: »Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind.«279 Kants erkenntnistheoretische Wende besteht demnach zum einen darin, dass er zwei Quellen der Erkenntnis annimmt, und zum anderen darin, dass er die alte Annahme, unsere Erkenntnis richte sich nach den Gegenständen, durch die These ersetzt, dass sich die Gegen­ stände nach unserer Erkenntnis ordnen lassen. Damit lenkt er unsere Aufmerksamkeit vor allem auf die erfahrungsvorgegebenen und Erfahrung allererst ermöglichenden Aspekte der Erkenntnis. Insofern muss Kant zufolge folgende Frage genau demonstriert werden kön­ nen: Wie kann die kategoriale Form mit dem in ihr zu fassendem anschaulichen Inhalt überhaupt verknüpft werden? Kant beantwortet diese Frage mit dem Hinweis, dass das Mannigfaltige der Anschauung selbst stets einer allgemeinen Form unterliegt, nämlich der Zeit. Eine analoge Beziehung zur ›Zeit‹ ist durch ein transzendentales, die Erfahrungserkenntnis bedingendes »Schema« auch für die Kategorie konstruktiv vorgezeichnet. Durch diese Annahme wird es möglich, dass eine bestimmte Kategorie, also ein reiner Verstandesbegriff, eine unmittelbare Beziehung mit einem gegenständlichen Inhalt erhält. Kant geht also davon aus, dass jeder Kategorie ein bestimmtes zeitli­ 278 279

Vgl. I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, hrsg. v. I. Heidemann, Stuttgart 1966. Ebd., S. 120 (B 75).

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ches Schema entspricht, beispielsweise der Substanz die ›Beharrlich­ keit‹, der Kausalität die ›regelmäßige Folge‹, der Notwendigkeit das ›Dasein zu jeder Zeit‹ etc. Diese transzendentalen Schemata sind aber keine Bilder, sondern Regeln, demnach Prinzipien, Voraussetzungen einer möglichen Naturerkenntnis; nur durch ihre Anwendung als Verbindungsglieder zwischen Form und Inhalt, dem reinen Denken und der Sinnlichkeit, wird Erfahrung möglich und kann sich unsere Erfahrungswelt ausbilden. Sie geben den Kategorien ihre Bedeutung und der Anschauung ihre kategoriale Struktur. Beide, Kategorie und Anschauung, werden durch das Schema ›gleichartig‹, obwohl sie an sich ›ungleichartig‹ sind. Das Schema ist also ›ein vermittelndes Drit­ tes‹, womit die Kategorie einerseits und die Erscheinung andererseits ›in Gleichartigkeit stehen‹ können, wie Kant in der ›transzendentalen Analytik‹ seiner Kritik der reinen Vernunft genauer ausgeführt hat.280

2. Kant, Hegel, Husserl – Die Gründer der Moderne in der Philosophie Kant, Hegel und Husserl können in ihren Grundannahmen als Philo­ sophen verstanden werden, die auf die Problemlage der Philosophie der Neuzeit antworten und mit ihren Antworten eine neue Epoche der Philosophie begründen: die Moderne. Die neuzeitliche Philosophie hatte sich nach dem Zerfall des antiken und mittelalterlichen Kosmos die Frage gestellt, welches die Grundlagen und unbezweifelbaren Fundamente der menschlichen Welterkenntnis sind. Für den Ratio­ nalisten Descartes war das unbezweifelbare ego cogito ein solches Fundament, für den Empiristen Locke hingegen die innere und äußere Erfahrung, für den Rationalisten Leibniz wiederum der intellectus ipse, der Verstand selbst, der in den Sinnen bzw. mit den Sinnen nicht zu finden ist. In der Folgezeit wurden diese Auffassungen immer problematischer, weil mit ihnen weder auf die Frage, wie überhaupt Erkenntnis deduktiv aus einer Setzung möglich sein könne, noch auf die Frage, wie von der Erfahrung aus induktiv zu einer allgemeingül­ tigen Erkenntnis zu kommen sei, überzeugend geantwortet werden konnte. In dieser problematischen Situation stellt sich zunächst Kant noch einmal grundsätzlich die Frage nach der Möglichkeit der Philo­ 280 Vgl. ebd., B 176, 179f., 182ff., 186ff., 188f. Vgl. dazu O. Höffe, Immanuel Kant, München 1988, S. 109–115.

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Kapitel 7 Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

sophie. Hegel und Husserl werden ihm darin folgen. Dabei kommen alle drei zwar zu völlig unterschiedlichen Ergebnissen, doch jeder von ihnen ist der festen Überzeugung, dass es vor ihren eigenen Auffassungen überhaupt noch keine Philosophie gegeben habe, die diesen Namen auch wirklich verdiene. Auf die ungelösten Probleme der neuzeitlichen Philosophie ant­ wortet Kant mit einem transzendentalen Kritizismus, der sowohl die Eigenständigkeit von »Natur« und »Freiheit« und damit eine Kluft zwischen beiden Seiten als auch die Einheit des Systems der Vernunft darzustellen beansprucht, Hegel mit einem dialektischen Idealismus, der die auf Absolutheit abzielende »Selbstbewegung des Geistes« in seiner Geschichte rekonstruieren will, und schließlich Husserl mit einer transzendentalen Phänomenologie, die von einer intentional strukturierten Erfahrungswirklichkeit ausgeht und sich von der Freilegung des transzendentalen Erfahrungsfeldes die Entde­ ckung universaler Strukturen des Bewusstseins verspricht.

2.1 Der transzendentale Kritizismus von Kant Die philosophische Entwicklung des jungen Kant gleicht einer »Odys­ see« zwischen Empirismus und Rationalismus, aus der allmählich die »kritizistische« Fragestellung entwickelt wurde. Ab 1762 begann Kant auf zaghafte Weise von dem durch Wolff vermittelten Rationalismus abzurücken. Es ist die Beschäftigung mit Hume gewesen, durch die Kant aus dem »dogmatischen Schlummer« des Rationalismus geweckt wurde. Im Jahre 1764 verfasste Kant den Aufsatz »Über das Gefühl des Schönen und Erhabenen«, der durch und durch empiris­ tisch beeinflusst ist. Schon ein Jahr später (1765) beschäftigt sich Kant nach der Lektüre von Leibnizens Kritik an Locke erneut mit dem Rationalismus. Eine Rechenschaft von dieser Irrfahrt legt Kant in seiner Prolegomena-Schrift (1783) ab, die einen guten Einblick in die Arbeit des Königsberger Philosophen ermöglicht, weil er hier seine wandlungsreiche Entwicklung in der Ich-Form beschrieben hat.281 Kant hatte sich nach 1765 die Aufgabe gestellt, die berechtigten I. Kant, Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, hrsg. v. R. Malter, Stuttgart 1989. Die Stelle zu Hume (S. 11) lautet: »Ich gestehe frei: die Erinnerung des David Hume war eben dasjenige, was mir vor vielen Jahren zuerst den dogmatischen Schlummer unterbrach, und meinen Unter­ suchungen im Felde der spekulativen Philosophie eine ganz andre Richtung gab.« 281

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2. Kant, Hegel, Husserl – Die Gründer der Moderne in der Philosophie

Belange der empiristischen und rationalistischen Erkenntniskritik in einer neuen philosophischen Konzeption zur denkerischen Ausgegli­ chenheit zu bringen. Aus dieser philosophischen Arbeit sollte die Kritik der reinen Vernunft von 1781 hervorgehen. Sie besteht darin, die Bedingungen und die Voraussetzungen, den Umfang und die Grenzen unseres Erkenntnisvermögens genauer zu untersuchen. Mit seiner Kritik der reinen Vernunft bestätigt und bekräftigt Kant die schon durch Descartes vorgezeichnete Wende in der Erkenntnis­ theorie. Die Ordnung der Wirklichkeit ist nicht in den Dingen schon angelegt, sie wird erst durch die menschlichen Erkenntnisleistungen gestiftet und erschlossen. Wer ein sicheres Wissen von den Erschei­ nungen hat, verfügt über eine Erkenntnis. Kant interessiert sich nun für die spezifische Frage, wie überhaupt eine Erkenntnis zustande kommt. Eine These von Locke übernehmend, spricht Kant von zwei Quellen oder Stämmen der menschlichen Erkenntnis: der Sinnlichkeit und dem Verstand. Aus diesen beiden Quellen wächst eine Erkenntnis erst zusammen. Durch die Sinnlichkeit werden uns Gegenstände gegeben, durch den Verstand werden sie begrifflich gedacht. Kant deutet die sinnlich erfahrbaren Aspekte einer Erscheinung nach empiristischem Vorbild als aposteriorische Materie, als einen rohen Stoff sinnlicher Eindrücke, der in eine Ordnung zu bringen ist. Eine solche Ordnung stiften grundsätzlich Raum und Zeit, die als aprio­ rische Formen der äußeren und inneren Anschauung bestimmt wer­ den. Sinnlichkeit und Verstand, die bei einer Erkenntnis notwendig zusammenarbeiten müssen, werden von dem Analytiker Kant auf gesonderten Wegen in ihrem jeweiligen Eigensein untersucht. Die Ästhetik befasst sich mit den Regeln der Sinnlichkeit, die Logik mit denen des Verstandes. Insgesamt sollen die transzendentalen und empiristischen Anteile der Erkenntnis aufgezeigt, systematisiert und in ihrem Zusammenspiel dargestellt werden. Daraus folgt, dass die Vernunft weiter nichts als die Formen der Erkenntnis, d.h. die Formen der Anschauung, Raum und Zeit, und die Formen des Denkens, die zwölf Kategorien, enthalten kann, und dass ihre Tätigkeit in einer Zusammenfassung (Synthesis) besteht. Die Formen und die Grenzen der Erkenntnis werden von der theoretischen Vernunft selbst bestimmt; sie ist insofern auto­ nom. Ihre Tätigkeit bleibt dennoch auf die Erscheinungen der Welt beschränkt. Erkenntnisse vom Seienden an sich oder, wie Kant auch sagt, vom »Ding an sich« gibt sie uns nicht. Jedoch erlaubt uns die Kritik der praktischen Vernunft von 1788, das An-sich-sein unserer

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Kapitel 7 Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

selbst als vernünftiges Wesen im moralischen Gesetz bestimmen zu können. In der Kritik der reinen Vernunft und in der Kritik der praktischen Vernunft stehen sich damit zwei Welten gegenüber: die Welt der Natur, des Bedingten, und die Welt der Freiheit, des Unbedingten. Diese beiden Welten, zwischen denen bereits Platon eine »Kluft« (chorismos) festgestellt hatte, verlangen Kant zufolge nach einem »Verbindungsmittel«, das er in den beiden Einleitungen seiner Kritik der Urteilskraft von 1790 genauer zu bestimmen versucht.282 Durch eine große Kluft sind also die beiden Gebiete, nämlich das der Naturbegriffe und das der Freiheitsbegriffe, d.h. die empirische und die intelligible Welt, voneinander getrennt. Weil der Naturbegriff keine Erkenntnis des Dinges an sich gibt, sondern nur von dessen Erscheinung, und der Freiheitsbegriff zwar ein Ding an sich vorstellig macht, aber nicht in der Anschauung, folglich keine Erkenntnis davon vermittelt, so kann das Übersinnliche für das Erkenntnisvermögen zwar ein Feld besetzen, aber nur ein solches, in dem die Erkenntnis keinen Boden zu gewinnen vermag. In der dritten Kritik will Kant einen zwischen Natur- und Frei­ heitsbegriff möglichen Übergang in Aussicht stellen. Wenn »der Frei­ heitsbegriff (...) den durch seine Gesetze aufgegebenen Zweck in der Sinnenwelt wirklich machen« soll, muss die Natur auch »so gedacht werden können, daß die Gesetzmäßigkeit ihrer Form wenigstens zur Möglichkeit der in ihr zu bewirkenden Zwecke nach Freiheitsgesetzen zusammenstimme«. Danach muss es für Kant einen »Grund der Einheit« geben, dessen Begriff »den Übergang von der Denkungsart nach Prinzipien der einen (Welt) zu der nach Prinzipien der anderen (Welt) möglich macht«. Dieser Übergang soll von der reflektierenden Urteilskraft hergestellt werden,283 wie Kant darzulegen versucht. Die Urteilskraft steht als Erkenntnisvermögen zwischen dem Verstand und der Vernunft. Sie hat zwar kein eigenes Gebiet für ihre Gesetze, aber Prinzipien, mit denen sie zwischen den Prinzipien des reinen Verstandes und der reinen Vernunft vermitteln kann. Das Prinzip nun, durch das die reflektierende Urteilskraft angeleitet wird, die Natur nicht nur nach dem Gesetz der Kausalität, sondern zugleich nach dem Grundbegriff des Gebietes der Freiheit zu denken, ist die 282 Vgl. I. Kant, Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, nach der Handschrift hrsg. v. G. Lehmann, Hamburg 1977. 283 Vgl. I. Kant, Kritik der Urteilskraft, hrsg. v. K. Vorländer, Hamburg 1974, Einlei­ tung XVIIIf.

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»Zweckmäßigkeit der Natur«. Dieser Begriff stammt nicht aus der Erfahrung, sondern ist apriorisch, d.h. »transzendental«. Er regelt das Nachforschen über die Natur, indem er angibt, wie die Urteilskraft dabei zu verfahren habe. Danach wird die Natur so betrachtet, dass ihr das Prinzip der Zweckmäßigkeit unterstellt werden kann. Dieses Prinzip ist aber kein »konstitutives«, sondern nur ein »regulatives«, also ein Prinzip, das den Gebrauch der Urteilskraft betrifft. Der Begriff der Zweckmäßigkeit hat seine Berechtigung nur im Übergang von der Naturkausalität zur Kausalität aus Freiheit, dem Endzweck. Durch den Begriff der Zweckmäßigkeit soll die Möglichkeit, im Bereich der empirischen Realität nach dem Begriff der Freiheit zu handeln, ver­ ständlich werden – wie Kant meint. Diese Auffassung wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhun­ derts von dem französischen Philosophen Jean-François Lyotard einer sehr genauen und wortwörtlichen Lektüre und Kritik unterzogen, aber auch zu einer neuen Geltung gebracht.284 Lyotard sieht einen gewaltigen »Widerstreit« zwischen den von Kant dargestellten Denk­ vermögen und betrachtet das Erhabene als das Gefühl, das diesen Widerstreit zum Ausdruck bringen kann.285

2.2 Der absolute Idealismus von Hegel Kritisch gegen Kant betritt Georg Wilhelm Friedrich Hegel, ein »ruhiger Verstandesmensch – wie Hölderlin einmal gesagt hat, das Problemfeld, indem er mit seiner Phänomenologie des Geistes (1807) keine statische, sondern eine geschichtliche Auffassung der Philoso­ phie vorstellt, die das »Gewordensein« aller Formationen des Geistes, der Vernunft und des Wissens betont. Die Vernunft ist nicht einfach angeboren oder vorgegeben, sie muss sich erst entfalten und entwi­ ckeln. Dasselbe ist von den Begriffen des Ganzen und des Absoluten zu sagen. Eine entscheidende Stelle aus der Vorrede der Phänomeno­ logie des Geistes lautet: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, dass es wesentlich Resultat, dass es erst 284 Vgl. J.-F. Lyotard, Der Enthusiasmus. Kants Kritik der Geschichte, Wien 1988, S. 31ff. Vgl. auch ders., Regeln und Paradoxa, in: ders., Philosophie und Malerei im Zeitalter ihres Experimentierens, Berlin 1986, S. 102ff. 285 Vgl. J.-F- Lyotard, Die Analytik des Erhabenen. Kant-Lektionen, München 1994.

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am Ende das ist, was es in Wirklichkeit ist.«286 Hegel, der seine Zeit als eine des Umbruchs erlebt, deutet den Prozess der Entwicklung des Ganzen als einen dialektischen; dieser Prozess ist die aus dem ›Widerspruch‹ von Natur und Geist resultierende Bewegung bzw. Triebkraft. ›Entwicklung überhaupt‹ vollzieht sich Hegel zufolge, weil die reine Innerlichkeit des göttlichen Denkens sich in ihr Gegenteil, die Natur, entlässt und weil in der Natur bereits ein schleppendes ›Insichgehen‹ der Äußerlichkeit des göttlichen Geistes stattfindet, obwohl seine eigentliche Rückkehr aus seinem ›Anderssein‹ (Natur) sich erst im Menschen vollzieht. Das Werden des absoluten Geistes entfaltet sich auf einem langen dialektischen Weg von Entäußerung und Aneignung des Geistes, der in der Phänomenologie des Geistes bei der sinnlichen Gewissheit beginnt und beim Erreichen des absoluten Wissens des Geistes um sich selbst und die Welt beendet ist. Sein und Denken sind in dieser Endphase des Absoluten eins. Diese auf dialek­ tische Weise, d.h. über die Schritte der Setzung (Thesis), der Gegen­ setzung (Antithesis) und der »Aufhebung« dieses Widerspruchs auf einer höheren Ebene und in einer tieferen Einheit (Synthesis)287, ausgearbeitete »Versöhnung« stellt die Antwort auf die »Entzweiung« bzw. die »Zerrissenheit des Lebens« dar, die Hegel als das Schlüs­ selproblem seiner Zeit interpretiert. Doch während bei Fichte die Geltung von These und Antithese in der Synthese lediglich partiell »eingeschränkt« wird, werden These und Antithese bei Hegel in der Synthese »aufgehoben«, d.h. in jenem dreifachen Sinn, den dieses Wort in der deutschen Sprache besitzt: also ›beseitigt‹, ›bewahrt‹ und ›hinaufgehoben‹ auf eine höhere Ebene der Entwicklung. Allerdings wird Dialektik bei Hegel nicht nur in einem ›logischen‹ Sinne als eine Form des Denkens vorgestellt, sondern ebenfalls ›ontologisch‹ oder ›metaphysisch‹ gedacht. Das heißt, dass die ›Selbstbewegung des Denkens‹ und die ›Selbstbewegung der Wirklichkeit‹ in der Geschichte ein und denselben Prozess darstellen. Rückblickend auf den Prozess der Herausbildung all seiner Formen und Gestalten in der Weltgeschichte kann sich der absolute Geist als diesen Weg selbst erkennen und ihn damit zugleich rechtfertigen. Der absolute Geist ist eine höhere Einheit, die den subjektiven Geist (Sinnlichkeit, Bewusst­ sein, Moralität) und den objektiven Geist (Recht, Sittlichkeit, Staat) umfasst und damit die Totalität des Geistigen überhaupt ausmacht. 286 287

G. W. F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Frankfurt/M. 1986, S. 24. Hegel selbst verwendet diese Terminologie allerdings nur selten.

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Der absolute Geist offenbart sich in der Geschichte seiner Entste­ hung auf drei jeweils unterschiedlichen Stufen: Kunst (Vorstellung), Religion (Gefühl) und Philosophie (Begriff). Diese drei Stufen des absoluten Geistes stehen nicht in einem gleichberechtigten Verhältnis zueinander. Sie werden unterschieden durch ihre jeweilige spezifische Form, in der sie den absoluten Geist bewusst machen können. Die Kunst, die Stufe der Anschauung, macht das Absolute (die Wahrheit) in sinnlicher Darstellung bzw. Vorstellung bewusst. Die Religion, die Stufe der Gefühle, die immer mit der Kunst, der Darstellung religiöser Inhalte, verknüpft war, stellt das Absolute in der Form der gefühlsmäßigen Vorstellung dar. Die Philosophie schließlich, als höchste Stufe des Bewusstseins vom Absoluten, vereinigt die beiden anderen Bewusstseinsarten endgültig zum absoluten Wissen in der Form des Denkens. Hierin erst kommt der Geist zu seiner Endgestalt, in dem er zum sich wissenden, absoluten (göttlichen) Geist wird. Hegel nennt diesen in seiner Philosophie vollendeten Geist auch das ›Selbstbewusstsein Gottes‹ im Menschen. Das Erkennen der Philosophie wird in dieser Hinsicht zur ›Wissenschaft des Absoluten‹, die die oberste Einheit aller Gegensätze ermittelt, erhoben. Hierin will er zeigen, wie das ›absolute Wissen‹, d.h. das Wissen von der dialektischen Vermittlung aller abstrakten und relativen Gegensätze, konkret etwa in der Logik, der Religions- und Naturphilosophie sowie in den Wissenschaften vom Menschen, also der Rechtsphilosophie und der Kunstphilosophie, und vor allem in der Philosophie der Geschichte entfaltet worden ist. Hegels Philosophie zielt insgesamt darauf ab, den Endzustand einer wahren Totalität zu erreichen, in der Begriff und Gegenstand, Vernunft und Wirklichkeit einander entsprechen und die Bildung des Geistes, die für ihn identisch ist mit dem Gang der Weltgeschichte, absolut vollendet ist. Diese Auffassung von Totalität wurde im 20. Jahrhundert etwa von Adorno einer grundlegenden Kritik unterzogen und sowohl unter den Bedingungen des Faschismus als auch unter denjenigen der modernen Massengesellschaften mit ihren kulturin­ dustriellen Organisationen und Medien als Prinzip blinder Herrschaft bzw. Beherrschung der Massenmenschen entlarvt.288

288 Vgl. Th. W. Adorno, Minima Moralia, Frankfurt/M. 1980, S. 57. Vgl. auch ders., Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1982, S. 161. Vgl. weiterhin zu Adornos Kritik an Hegels Auffassung des festen Begriffs, Ästhetische Theorie, Frankfurt/M. 1981, S. 118f.

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Kapitel 7 Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

2.3 Die transzendentale Phänomenologie von Husserl Als Edmund Husserl mit seinen Logischen Untersuchungen (1900/01) in den Diskurs der Philosophie eintrat, präsentierte er in Anlehnung an seinen Lehrer Franz Brentano eine Theorie der »Intentionalität«, die mit dem damals verbreiteten Psychologismus bricht. Dieser hatte versucht, die Logik zu einem Teil der Psychologie zu machen. Die Psychologie im 19. Jahrhundert ging davon aus, dass das Bewusstsein in den Kausalzusammenhang der Natur integriert sei. Dagegen betrachtet Husserl das Bewusstsein als einen von der Natur unabhängigen, d.h. als eigenständigen und sinnhaft operieren­ den Funktionszusammenhang. Mit dem Begriff der Intentionalität bezeichnete Brentano die Eigenart psychischer Phänomene, auf etwas gerichtet zu sein. Bewusstsein ist insofern immer Bewusstsein von etwas. Husserl konnte seine mit dieser Auffassung entfalteten Grund­ lagen der phänomenologischen Bewusstseinsanalyse allerdings erst in seiner Schrift Idee zu einer reinen Phänomenologie und phänomeno­ logischen Philosophie von 1913 auf die Ebene einer wirklich neuartigen »Transzendentalphilosophie« stellen. Husserl fragt nicht, wie Kant, nach den Bedingungen der Mög­ lichkeit von Erkenntnis, sondern nach der »Sache selbst«, wie sie einem Bewusstsein als Phänomen erscheint, das heißt: wie es kommt, dass wir verstehen, was gesagt wird, wobei er solche Fragen idealer Geltung als genuine Fragen einer Philosophie als ›strenger Wissen­ schaft‹ versteht, was konkret bedeutet, nach den Bedingungen zu fragen, die erfüllt sein müssen, damit wir uns auf Gegenstände zu beziehen in der Lage sehen. Die Grundthese von Husserl lautet, dass die Erfahrung kein chaotisches Datenmaterial ist, sondern immer schon intentional strukturiert und geordnet ist. Die Intentionalitätslehre überwindet den Dualismus, d.h. sie geht weder vom Subjekt noch vom Objekt aus. Die Einheit, nicht die Trennung beider Momente ist grundlegend für Husserl. Er geht von der durchgängigen »Korrelation« zwischen den Vollzügen des Bewusstseins, die sich auf einen Gegenstand beziehen, und dem Gegenstand, wie er in diesen Vollzügen erscheint, aus. Einen Gegenstand wahrzunehmen heißt nicht, dass man Vorstellungen im Kopf hat, die der realen Außenwelt entsprechen oder nicht entspre­ Zur Fortschrittskritik Adornos siehe Horkheimer/Adorno, Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1981.

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chen. Vielmehr zeichnet sich jede Wahrnehmung stets durch einen vermeinenden Sach- und Weltbezug aus. Die intentional strukturierte Erfahrung des Bewusstseins kann in zweifacher Weise erforscht werden: Unter Ausschaltung aller Vormeinungen kann man in noeti­ scher Hinsicht die Erfahrungsweisen des Bewusstseins und in noema­ tischer Hinsicht die Gegebenheitsweisen des Gegenstandes näher untersuchen. Der Gegenstand wird damit zum »Phänomen«, das sich beschreiben lässt. Eine solche Beschreibung unter Ausschaltung aller Vormeinungen nennt Husserl »phänomenologische Reduktion«, die zu einer »eidetischen« weiterentwickelt werden kann und damit schließlich wieder zu einer Ideenschau wird, die sich auf das Allge­ meine oder das Wesen der Sache richtet. Husserl wollte mit seiner ständig weiterentwickelten Suche nach einem letzten Grund aller Gewissheit eine neuartige Transzendentalphilosophie begründen, die er letzten Endes jedoch nur ansatzweise ausbilden konnte. Husserls ›Phänomenologie‹, die von ihm insofern nicht als ›Tatsachenwissenschaft‹ sondern vielmehr als ›Wesenswissenschaft‹ begründet worden ist, versteht sich insgesamt als eine letztbegründete Universalphilosophie, die auf die ersten und letzten Quellen aller Sinnbildungen zurückgeht, um schließlich die Entstehung jeglichen Sinns und jeglicher Bedeutung aufzuweisen. Dabei wird die ›natürli­ che Erkenntniseinstellung‹, wie er sagt, in der sogenannten Epoche ›außer Aktion gesetzt‹ bzw. ›eingeklammert‹, um sich durch deskrip­ tive Aufhellung zur Sphäre des »reinen Bewußtseins« vorzuarbeiten, die auf strengen »letztgeklärten« Grundlangen ruht, wobei er letztlich vom ontologischen Vorrang der geistigen Welt gegenüber der natu­ ralistischen ausging.289 Husserl kann aber aufgrund seines eigenen ›Gefangenbleibens‹ in der ›transzendentalen Subjektivität‹ die damit ungewollt zugespitzte aporetische Struktur im Spannungsfeld von Transzendentalem und Empirischem nicht mehr überwinden. Damit fällt das philosophische Denken Husserls letztendlich auf die Ebene von Descartes zurück, der mit seiner Reduktion aller Gewissheit bzw. Wahrheit auf die res cogitans das Problem des Zusammenwirkens von Körper und Seele, die sich ihm zufolge substantiell unterscheiden, nicht mehr lösen konnte und ihm daher auch die Welt letztlich

Vgl. E. Husserl, Die Konstitution der geistigen Welt, hrsg. u. eingeleitet v. M. Sommer, Hamburg 1984, Kapitel 3.

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nicht mehr zugänglich bzw. verständlich werden kann.290 Husserls Annahme, dass die Welt durch Akte eines reinen Ich konstituiert sei, ist weder für Heidegger noch für Merleau-Ponty haltbar. Dennoch versucht es Elisabeth Ströker noch einmal in ihrer Einleitung zu einer Neuausgabe der Cartesianischen Meditationen in den 1970er Jahren deutlich zu machen, dass Husserl zwar von einer ›transzendentalen Wir-Gemeinschaft‹ als »Urstätte« aller Sinnstiftung und Sinnkonsti­ tution ausgeht, allerdings sei diese vollständig auf die ›transzenden­ tale Subjektivität‹ reduzierbar.291 Sie erkennt jedoch nicht, dass es am Ende damit weder für die fremde Außenwelt noch für den leiblichen Anderen einen überzeugenden eigenen phänomenologischen Beweisgrund geben kann.

3. Die modernen Kritiker der philosophischen Moderne Die philosophische Aufklärung hatte geglaubt, die Menschen dazu führen zu können, ihr Leben nach den Gesetzen der Vernunft zu gestalten. Voltaire, Rousseau und Condorcet nahmen den Kampf gegen Dogmatismus auf und traten konsequent für die Freiheit des Menschen und die kulturelle als auch soziale Vervollkommnung der Gesellschaft ein. Ihre Hoffnung auf einen unbegrenzten Fortschritt von Vernunft und Freiheit, die sich konstituierend auf die gesamte Moderne auswirkte, wird jedoch im 19. Jahrhundert bereits stark angezweifelt. Friedrich Nietzsche, Sigmund Freud und Theodor W. Adorno sind Denker, die die Ideale der Aufklärung aber nicht einfach leugnen, sondern als »ambivalent« einschätzen und daher gleicher­ maßen verteidigen und kritisieren. Die Kulturkritik Nietzsches gründet auf einer Zurückweisung der abendländischen Metaphysik, die die Vielfalt des Lebens gewaltsam der Einheit der Vernunft unterordnet. Das Ziel seiner polemischen Angriffe in seiner Götzen-Dämmerung ist der metaphysisch-morali­ sche »Dualismus«, der die Geschichte der Philosophie und Kultur seit Platon beherrscht. In dem berühmten kurzen Kapitel »Wie die ›wahre

Vgl. E. Husserl, Cartesianische Meditationen. Eine Einführung in die Phänomeno­ logie, hrsg. u. eingeleitet v. E. Ströker, Hamburg 1977. 291 Vgl. ebd. S. XXVIII.

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Welt‹ endlich zur Fabel wurde«292 wird der verhängnisvolle Irrtum der Trennung einer wahren von einer scheinbaren Welt aufgewiesen und in seinen platonischen, christlichen, kantischen und positivisti­ schen Phasen rekonstruiert. Insgesamt ist die abendländische Kultur für Nietzsche der »Ausdruck einer Rache am Leben«. Sie beginnt mit dem »Problem Sokrates«, dessen »pöbelhafte« Dialektik auf eine »Degenerirten-Idiosynkrasie« hinauslaufen würde. Daher führt Nietzsche sowohl die sokratische Dialektik als auch die durch die christliche Moral betriebene »Zähmung der Bestie Mensch« auf »Ver­ fall-Instinkte« der abendländischen Kultur zurück. Über diese Dia­ gnose hätte sich Nietzsche mit Freud einigen können. Auf die Frage, was die Menschen vom Leben fordern, wäre Nietzsche sicherlich mit Freuds Antwort einverstanden gewesen. In seinem Werk Das Unbe­ hagen in der Kultur sagt Freud: »Es ist, wie man merkt, einfach das Programm des Lustprinzips, das den Lebenszweck setzt.«293 Dieses Programm liegt aber »im Hader mit der ganzen Welt«, die auf Zwang und Triebverzicht basiert. Freud hält das Sexualleben des modernen Kulturmenschen für schwer geschädigt. Für ihn macht es heute mitun­ ter den Eindruck einer evolutionär in Rückbildung befindlichen Funk­ tion. Das bedeutet für den Kulturmenschen, dass Kulturfortschritt nur gegen Glückspreisgabe zu haben ist. Der Urmensch, also der archaische Mensch der Steinzeit, hatte es noch besser, wie Freud fest­ stellt, weil er Triebeinschränkungen noch nicht in dem Maße wie der moderne Kulturmensch gekannt hat: Da letzterer die Forderungen an eine beglückende Lebensordnung jedoch höchst unzureichend erfülle, weil sein Kultur bildender Triebverzicht, der zwar für Gewaltverzicht stehen solle, aber ursprünglich in einem Gewaltakt durchgesetzt worden war und daher ein ›Schuldbewusstsein‹ entstehen ließ, das als psychische Disposition auch in den modernen Individuen fortbesteht und immer wieder schmerzhaft erinnert wird. Um diesem zu ent­ kommen, müsse der Mensch dringend epochemachende Änderungen seiner Kultur durchsetzen. Sonst würde die menschliche Gattung auf einen archaischen Naturzustand zurückfallen und untergehen. Die traditionelle, auf Triebverzicht basierende Kultur verursacht Freud zufolge also ein ›Unbehagen‹, das sich in körperlichen und seelischen Krankheitserscheinungen äußere und immer mehr auf einen ambiva­ 292 F. Nietzsche, Götzen-Dämmerung, in: Sämtliche Werke, Bd. 6, hrsg. v. Colli u. Montinari, München, Berlin 1988, S. 80–81. 293 S. Freud, Abriß der Psychoanalyse. Das Unbehagen in der Kultur, Frankfurt/M. 1980, S. 74.

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lenten Normalzustand des Menschen regrediere, in dem die sexuelle Beziehung nur auf Grund einer ehelichen Bindung zwischen Mann und Frau gestattet sei und »die Sexualität als selbständige Lustquelle« jedenfalls nicht bejaht werde. In dieser Situation stellt Adorno die Frage, ob das Ziel einer emanzipierten Gesellschaft überhaupt noch erreicht werden kann. Ein dialektisches Fortschrittsmodell, wie Hegel es vertritt, lehnt Adorno entschieden ab. In seinen Schriften zeigt er vielmehr die ständige, nicht mehr aufzuhebende Verschränkung von Mündigkeit und Abhängigkeit, von Fortschritt und Niedergang oder – um es dialektisch auszudrücken – von Thesis und Antithesis auf. Die Hegel zugleich verpflichtete und widersprechende Philosophie Adornos entfaltet eine dialektische Denkbewegung, die, beispiels­ weise in seinen Minima Moralia oder Negative Dialektik betitelten Werken, am Ende nicht, wie bei Hegel selber, zu einem positiven Sys­ temabschluss führt, sondern fragmentarisch und unabgeschlossen bleibt.

4. Die Debatte Moderne versus Postmoderne Seit den frühen 1970er Jahren wird in der Architektur, Literatur, Malerei und seit den 1980er Jahren auch in der Philosophie unter dem Stichwort »Moderne versus Postmoderne« eine kontroverse Debatte ausgetragen. In dieser Auseinandersetzung geht es einerseits – in praktischer Hinsicht – um eine postmoderne Abrechnung mit den rationalen Vorstellungen der Moderne, die nicht hielten, was sie versprochen hatten, andererseits – in theoretischer Hinsicht – um die Frage der Einheit oder Vielheit der Vernunft, der Gesellschaft und der Wirklichkeit. Die rationale Welterklärung der Moderne sollte in einem geschlossenen System von einem ersten Prinzip her erfolgen. Diesem Grundzug der frühen Moderne, der von Descartes bis Leibniz konstatiert wurde, wird nicht erst in der Postmoderne die radikale Ablehnung eines Denkens von einem ersten Prinzip aus sozusagen dialektisch entgegengestellt, sondern auch schon in der Moderne zu Anfang des letzten Jahrhunderts sowie in dessen zweiter Hälfte. Wie bereits Max Weber von einem nicht mehr synthetisierbaren Pluralismus und Widerstreit letzter Sinngebungen in der okziden­ talen Gesellschaft ausgegangen ist, gibt es auch für Jean-François Lyotard keine »großen Erzählungen« mehr »wie die Dialektik des

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4. Die Debatte Moderne versus Postmoderne

Geistes (Hegel), die Hermeneutik des Sinns (Heidegger), die Eman­ zipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts (Marx)«.294 Der Anspruch der Vernunft auf eine einzige Wahrheit, der erstmals im griechischen Logos erhoben worden war, wurde damit in Frage gestellt und musste grundsätzlich überdacht werden. Diese Problematik, die schon die gesamte Philosophiegeschichte durchzogen und Philoso­ phen wie Platon, Kant, Hegel, Nietzsche und Adorno beschäftigt hatte, wurde in den 1990er Jahren häufig im Ausgang von Ludwig Wittgenstein untersucht, für den sich das soziale Leben als ein legiti­ mationsloses Ensemble von Zügen in Sprachspielen darstellt. Nachdem Wittgenstein in seiner Frühphase dem logischen Posi­ tivismus nahegestanden hatte, formulierte er in seinem Spätwerk eine Theorie der »Sprachspiele«, die den Zusammenhang von Spre­ chen und Handeln, der durch öffentliche Regeln strukturiert und in gemeinsame Lebensformen integriert ist, betont. Für Wittgenstein gibt es eine Pluralität geregelter Sprachspiele, die durch kein einheit­ liches Wesen ausgezeichnet sind und daher in keiner metaphysischen Totalität aufgehen können, wohl aber durch ein »Netz von Ähnlich­ keiten« aufeinander verweisen. Wie zwischen den Angehörigen einer Familie verschiedene Ähnlichkeiten wie Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang oder Temperament vorhanden sind, so soll es auch in der Vielheit von Sprachspielen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten geben. Bei Wittgenstein tritt allerdings an die Stelle der »Konjunktion von Merkmalen«, die das traditionelle essentialistische Sprachver­ ständnis ausmacht, die »Disjunktion von Merkmalen«. Nach dieser Auffassung kann und will er die Einheit der Sprachspiele nicht mehr mit dem Begriff eines einheitlichen Wesens, sondern nur noch mit Hilfe eines komplizierten Netzes von Ähnlichkeiten zwischen den Sprachspielen herstellen. Sprache besteht für Wittgenstein aus einer Vielheit von zugleich ineinander greifenden und unterschiedlichsten Sprachspielen. Vielheit darf also nicht als reine Heterogenität ausge­ legt werden, weil es ihm stets um die Aufklärung von sprachlichen Missverständnissen und damit um die exakte Begrenzung des Sagba­ ren als Sprachspielmannigfaltigkeit geht. Durch die unterschiedliche Einschätzung dieser von Wittgenstein aufgezeigten Pluralität bestim­ men sich nun die Positionen der Moderne und Postmoderne.295

294 295

J.-F. Lyotard, Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Wien 1986, S. 13. Vgl. W. Welsch, Vernunft, Frankfurt/M. 1996, Kapitel über Wittgenstein.

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Kapitel 7 Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

Jürgen Habermas versteht sich selbst als einen Vertreter der Moderne, für den in dieser Epoche die bannende Kraft des Heiligen durch die bindende Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche ersetzt worden ist und der Kants »Projekt der Aufklärung« kritisch korrigie­ rend fortsetzen will, denn Kant habe in seiner Kritik der Vernunft, so der Vorwurf von Habermas, die ›Vernunftmomente‹ bloß auseinander dividiert bzw. voneinander getrennt. Von Kant ausgehend müsse die Vernunft daher wieder in ihrer Einheit aufgezeigt werden. Das Haber­ masʼsche »Projekt der Aufklärung« nimmt nun an, dass die Moderne, die durch ein Auseinandertreten der substantiellen Vernunft in die drei Bereiche des Wahren (Wissenschaft), des Guten (Moral und Recht) und des Schönen (Kunst) gekennzeichnet ist, aus sich selbst heraus den rationalen Zusammenhalt dieser Bereiche, also die Ein­ heit, in der Handlung argumentativer Begründung garantieren kann. Die 1981 erschienene Theorie des kommunikativen Handelns entwirft ein umfassendes Modell der Vernunft, in dem sowohl die Ausdifferen­ zierung der drei unterschiedlichen sprachlichen Weltbezüge, die seit der Neuzeit zu beobachten ist, als auch der Horizont einer vorinter­ pretierten Lebenswelt zu einer sinnvollen Einheit zusammengefasst werden: »Allein das kommunikative Handlungsmodell setzt Sprache als ein Medium unverkürzter Verständigung voraus, wobei sich Spre­ cher und Hörer aus dem Horizont ihrer vorinterpretierten Lebenswelt gleichzeitig auf etwas in der objektiven, sozialen und subjektiven Welt beziehen, um gemeinsame Situationsdefinitionen auszuhandeln.«296 Ausgehend von einer »Einheit der vernünftigen Rede«, die die Gel­ tungsansprüche der drei unterschiedlichen sprachlichen Weltbezüge umfasst, soll sich außerdem die Möglichkeit eines Rückflusses von wissenschaftlichen, moralischen und kulturellen Potentialen aus den seit der Neuzeit aus der Lebenswelt ausdifferenzierten Expertenkultu­ ren für eine vernünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse ergeben. Die durch Jean-François Lyotard vertretene Postmoderne betrachtet hingegen alle Einheitsbildungen als metaphysische Illusio­ nen. Der Mensch stellt nicht mehr das Zentrum der Welt dar, die Sprache ist kein Instrument zur Erschließung der Wirklichkeit, sie ist vielmehr in eine »Vielheit von Sprachordnungen« auseinander getre­ ten, die nicht in eine übergeordnete Einheit oder universale Metaspra­ che aufgehoben werden kann. Die Zersetzung der substantiellen 296 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt/M. 1981, S. 142.

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4. Die Debatte Moderne versus Postmoderne

Vernunft soll gleichwohl zu neuen philosophischen Experimenten herausfordern. Ganz anders als bei Habermas, für den die Philosophie ein »Platzhalter« der Einheit ist297, muss die Philosophie bei Lyotard »als eine besondere Art und Weise, sich Problemen zu nähern, die nicht auf etwas anderes reduzierbar ist«298, verstanden werden. Eine solche Philosophie ist nicht mehr bereit, »große umfassende Systeme hervorzubringen«, um der Menschheit »die großen Ziele«, die sie angeblich braucht, vermitteln zu können. Sie ist vielmehr davon überzeugt, dass die Philosophie in ihrem Status als Metaphysik untergegangen ist, und dass es nun darum geht, auszumessen, wie weit die »Zerstreuung der Philosophie« reicht – um sie wiederaufzu­ finden, besonders in den Bereichen, aus denen sie nach Habermas ausgeschlossen werden soll. Die Sprache besteht für Lyotard aus Inseln von Sätzen, »die ungleichartigen Ordnungen angehören, so daß es unmöglich ist, einen Satz aus einer Ordnung (einen deskriptiven Satz zum Beispiel) in einen Satz einer anderen Ordnung (einen evaluativen oder prä­ skriptiven Satz) zu übersetzen.« Lyotard beharrt damit auf der Tren­ nung von Sein und Sollen, ohne allerdings die Ansichten von Hume und Kant bloß zu wiederholen. Von Hume und Kant unterscheidet sich Lyotard einerseits dadurch, dass er im Gefolge der neueren Sprach­ philosophie von Wittgenstein und Kripke argumentiert, andererseits gibt es für ihn nicht nur zwei Reiche oder Welten, sondern prinzipiell viele mögliche Ordnungen der Sprache. Lyotard geht selbst über Wittgenstein noch hinaus, der zwar auf eine Verbundenheit bzw. suggerierte Zusammengehörigkeit der Sprachspiele beharrte – aber wir haben es bei ihm nur mit einer ›Kette von Ähnlichkeiten‹ und nicht mehr mit einem ›Wesensbegriff‹ zu tun. Lyotards Konzeption der Vielheit ist dagegen tatsächlich als ›radikale Heterogenität‹ aus­ zulegen: »Die Sprache ist ohne Einheit, es gibt nur Sprachinseln, jede wird von einer anderen Ordnung beherrscht, keine kann in eine andere übersetzt werden.«299 Jede dieser Ordnungen und der darin auftauchenden Sätze gehorcht stets bestimmten Zielen oder Zwecken. Die Satzordnungen der deskriptiven und präskriptiven Sätze verfolgen jeweils völlig unterschiedliche Zwecke. Aufgrund dieser »Inkommensurabilität zwischen den Satzordnungen« lassen 297 Vgl. J. Habermas, Die Philosophie als Platzhalter und Interpret, in: ders., Moral­ bewußtsein und Kommunikatives Handeln, Frankfurt/M. 1983, S. 9ff. 298 J.-F. Lyotard, Immaterialität und Postmoderne, Berlin 1985, S. 20. 299 J.-F. Lyotard, Grabmal des Intellektuellen, Graz und Wien 1985, S. 70.

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Kapitel 7 Philosophie als zweite Schiene in der kulturellen Moderne

sich Sein (Deskription) und Sollen (Präskription) nicht ineinander übersetzen. Jeder Ansatz zur Übersetzung fällt nach Lyotards Auffas­ sung entweder in die Metaphysik der Gesamtordnung zurück oder führt zu Widerstreitigkeiten, die nicht mehr aufzuheben sind. Sein Hauptwerk Der Widerstreit will ausdrücklich Zeugnis ablegen von diesen nicht mehr aufhebbaren Widerstreitigkeiten, denn all diese zeugen von der Erhabenheit der Vernunft. Die Debatte über Moderne versus Postmoderne ist noch nicht entschieden worden. Sie kann auch nicht mehr in einem direkten Dialog zwischen Habermas und Lyotard ausgetragen werden, denn Lyotard ist 1998 gestorben. Da der persönliche Dialog nicht zustande gekommen war, wollte Manfred Frank noch zu Lebzeiten Lyotards ein sogenanntes »Geistergespräch« zwischen beiden konstruieren, welches sich im Ergebnis jedoch durch eine unerträgliche Einseitigkeit zugunsten der Position von Habermas auszeichnet.300 Nach meiner Meinung kann dieser Versuch wegen seiner einseitigen Parteinahme nicht akzeptiert werden. Meine These lautet insofern: Die Debatte Moderne versus Postmoderne, die in der Philosophie der 1980er Jahre ihre gegensätzlichen Konturen erhalten hat, konnte bisher noch nicht entschieden werden. Sie muss transformiert werden in eine neue Debatte, die sich auch wieder mit einem grundlegenden Gegensatz beschäftigen wird. Insofern stünde diese Debatte wieder in einer Linie mit den großen Debatten der Antike (Idealismus versus Realismus), der Neuzeit (Rationalismus versus Empirismus) und der Moderne (Moderne versus Postmoderne) und würde die genannte Linie in die Zukunft verlängern, vielleicht mit einer Debatte um Realität versus Virtualität oder einer anderen, heute noch nicht vorhersehbaren.

Vgl. M. Frank, Die Grenzen der Verständigung. Ein Geistergespräch zwischen Lyotard und Habermas, Frankfurt/M. 1988.

300

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Kapitel 8 Die kulturelle Moderne – Der Nexus von Einheit und Vielheit

Auch 200 Jahre nach Hegel ist die geistige Situation der Zeit durch den Gegensatz geprägt, d.h. durch die ›Tatsache wechselseitiger Aus­ schließung und Einschließung zugleich‹. Das gilt für alle Weltbezüge des Menschen. Es ließen sich dazu alle möglichen Beispiele anführen. Sie können sowohl aus den Bereichen von Kunst und Kultur als auch aus den Gebieten von Politik und Ökonomie entnommen werden. Während etwa die neoliberalistischen Theoretiker der Wirtschafts­ wissenschaften die These vertreten, dass Markt stets vor Politik kommt, vertreten konservative Vertreter die Theorie, dass die Poli­ tik stets vor dem Markt anzusetzen sei, weil der marktwirtschaftli­ che Wettbewerb beispielsweise in Deutschland (und das gilt mehr oder weniger für die gesamte westliche Welt) sich den politischen Rahmenbedingungen anzupassen hat. Doch hieran entzündet sich heute die Kritik einer jüngeren Generation von Vertretern der Wirt­ schaftsethik.301 Sie behaupten, dass sich weder die These »Markt vor Politik« noch »Politik vor Markt« eindeutig verteidigen und moralisch rechtfertigen lasse. Stattdessen wollen sie an der These »Politik und Markt« arbeiten. Sie stellen diese These nicht nur auf, weil transna­ tionale Unternehmen derzeit tatsächlich schon großen Einfluss auf die politischen Rahmenbedingungen ausüben, sondern weil Konzern­ leitungen, die heute in der Regel global handeln und entscheiden müssen, die treibenden Kräfte der Globalisierung sind. Der sich hier vollziehende Prozess des Ausgleichs bringt die ›Idee der Umkehr‹ als ein Programm hervor, das eine kosmopolitische Perspektive eröffnet, ohne die nationale und kulturelle Differenz der Völker zu verdunkeln und ohne die Logik des ökonomischen Gewinns einseitig zu verab­ 301 A. G. Scherer und A. Löhr, Verantwortungsvolle Unternehmensführung im Zeit­ alter der Globalisierung – Einige kritische Bemerkungen zu den Perspektiven einer liberalen Weltwirtschaft, in: B. N. Kumar, M. Osterloh, G. Schreyögg (Hg.), Unter­ nehmensethik und die Transformation des Wettbewerbs, Stuttgart 1999, S. 261–289.

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Kapitel 8 Die kulturelle Moderne – Der Nexus von Einheit und Vielheit

solutieren. Damit wird die These vertreten, dass die liberalistische Trennung von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft aufzuheben sei. Vor dem Hintergrund des Zusammenhangs von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft entwickeln sie das »Leitbild einer Bürgergesellschaft«, deren Mitglieder stets eigene und öffentliche Belange gleichermaßen vertreten sollen bzw. wollen. Das heißt, dass individuelle Freiheit und kollektive Ordnung nicht mehr zwei unversöhnliche Gegensätze sind, sondern positiv verknüpft werden können und müssen. Die Voraus­ setzung dafür liegt darin, dass die Freiheit zum unternehmerischen Handeln in sozial verträglicher Weise ausgeübt und in dieser Form auch von den Gesellschaften und den Völkern gewünscht wird. Es geht in diesem Beispiel darum, dass in den unternehmerischen Entscheidungen stets politische Interessen berücksichtig werden sol­ len, was heute allerdings mehr Wunsch als Wirklichkeit ist. Sie streben daher an, dass die Unternehmer zu politisch relevanten Akteuren gemacht werden sollten. Das bedeutet, dass die rein pri­ vatwirtschaftliche Rolle überwunden werde und der Unternehmer zu einem Akteur gemacht werden müsse, der stets gleichermaßen ökonomische und politische Verantwortung für sein Handeln über­ nimmt. Um dies durchzusetzen, schlagen Andreas G. Scherer und Albert Löhr radikale Änderungen vor, die auch in der Soziologie von Ulrich Beck und Jürgen Habermas vertreten werden, nämlich die Bildung und Stärkung einer »demokratischen Zivilgesellschaft« jenseits der Nationalstaaten. Ihre politischen Utopien bestehen letzt­ lich also darin, die Nationalstaaten durch eine bessere forma imperii, d.h. die demokratischen Zivilgesellschaften im Westen, zu ersetzen. Scherer und Löhr wollen den Unternehmer hierin einbetten und somit in praktischer Hinsicht umerziehen. Der Unternehmer bzw. die Manager, die ein multinationales Unternehmen leiten, werden von Scherer und Löhr als »Global Player« bezeichnet, die heute noch mehr oder minder verantwortungslos handeln. Es geht beiden nun darum, diesen »Global Player« in einen »Global Citizen« zu verwandeln, der nicht mehr nur ›ökonomisch‹, sondern ebenfalls ›politisch‹ denkt und handelt.302 Er soll somit eine Art politisch-ökonomische Doppelrolle annehmen, die er aber – wie gesagt – nicht aus einer eigensinnig imperativen Machtposition heraus durchboxen kann, sondern ledig­ lich in Form eines bloßen Appells einfordern darf. Dies geschieht 302

Ebd., S. 262, 270, 282.

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Kapitel 8 Die kulturelle Moderne – Der Nexus von Einheit und Vielheit

am besten in einem Gespräch, in dem es dem Akteur gelingt, eine kooperative Atmosphäre zu erzeugen. Bei diesen Alternativen könnte und sollte der interkulturellen Dialogführung eine wesentlich aktivere und politisch verbindlichere Rolle zukommen als bisher, denn Kulturdialoge, die heute auf ein­ zelnen Ebenen stattfinden, könnten deeskalierend wirken, wenn – wie Bernhard Waldenfels gezeigt hat – »im interpersonellen wie im interkulturellen Bereich« nicht mehr mit einem »absolut oder total Fremden«303 gerechnet wird und daher in wachsendem Maße produktive Verschränkungen bzw. Verflechtungen »von Eigenem und Fremden im intra- wie im interkulturellen Bereich«304 entstehen könnten. Sobald davon ausgegangen werden kann, dass das Fremde nicht mehr Unsicherheit und Angst, Chaos und Unverständnis ver­ breitet, ist eine neue Struktur der politischen Bildung bzw. vorurteils­ freien Korrektur des eigenen Selbstverständnisses gegeben, die die Integration von Differenz in die individuelle Gestaltung der eigenen Identität ausdrücklich billigt. Allerdings trifft dies auf mindestens zwei Hindernisse. Eines ist sicherlich das dem Eigenen und Vertrauten entgegenstehende und daher zumindest vorübergehend einen »Kul­ turschock« auslösende »Fremde« zwischen den aus außerordentlich unterschiedlichen Kulturen (wie beispielsweise der islamischen und der europäischen) herstammenden Betroffenen, die sich zunächst höchstwahrscheinlich »wechselseitig für exotisch halten«305 und sich daher erst allmählich aufeinander einstellen können. Das zweite Hindernis besteht in der mangelnden Fähigkeit im Umgang mit den sich neu konstituierenden Konfliktporträts. Durch das »Aufeinander­ einstellen« könnten bisher ungenutzte und erweiterte Perspektiven der interkulturellen Lebensführung geöffnet, in den unterschiedli­ chen Kulturen der Welt verbreitet und die dort noch vorhandenen destruktiven und aggressiven Potenziale weiter entschärft werden. Kulturdialoge können nur dann erfolgreich sein, wenn sie auf gleicher Augenhöhe und ohne weitere Vorbedingungen zwischen den Akteu­ ren verschiedener Kulturen zustande kommen.

303 B. Waldenfels, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 2006, S. 118. 304 Ebd., S. 123. 305 O. Höffe, Ist die Demokratie zukunftsfähig? Über moderne Politik, München 2009, S. 69ff.

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Ob dieses Einfordern in der Praxis letzten Endes wirklich poli­ tisch etwas bewirkt, muss insgesamt noch gezeigt werden. Zugegeben gibt es viele Gründe dafür, dass durch die Intensität des Appells etwas erreicht werden kann; diese Anzeichen, die Zuversicht bedeuten, lassen sich aber in einem bestimmten Punkt auch mit guten Gründen klar bestreiten. Denn die notwendigen Vorüberlegungen zu »Markt und Politik« hinsichtlich des Verhältnisses zur Welt-Gesellschaft des Westens und des Ostens fehlen heute oder kommen bei weitem zu kurz. So müsste noch unbedingt gefragt werden: Kann es eine Weltgesellschaft mit der leitenden Auffassung, »dass sich universalis­ tische Prinzipien widerspruchsfrei und unabhängig von den historisch gewachsenen Ethiken verschiedener Kulturen aus allgemein gültigen Grundsätzen ableiten [lassen] und daher aus sich heraus Geltung für alle beanspruchen könnten«306, überhaupt jemals unter realistischen Bedingungen auf dem Planeten Erde geben? Einen Versuch dazu hat Peter Singer in seinem Buch One World vorgelegt.307 Darin erläutert er, wie sich durch die Anwendung eines einzigen Ansatzes alle durch die Globalisierung verursachten Spannungen überwinden ließen. Dieser Ansatz ist für ihn der Utilitarismus, der verlangt, dass wir stets so handeln, dass dabei das Glück aller Menschen maximiert wird. Aber können die Menschen dieser Bedingung tatsächlich unaus­ gesetzt entsprechen? Kann Singer die Menschheit wahrhaftig für den (westlichen) Utilitarismus begeistern? Ist dieser wirklich allgemein erstrebenswert? Oder läuft nicht doch bereits alles vielmehr von sich aus auf einen »Ausgleich der Kulturen«308 hinaus? Obwohl der ›Ausgleich‹ bei Max Scheler »nicht etwas [ist], was der Mensch sich aussuche, sondern sein unausweichliches Schick­ sal«309, gehe ich hier davon aus, dass es sich umgekehrt verhält, also, dass der Mensch sich für dieses Schicksal bewusst entschei­ den muss, bevor es in dialektischer Hinsicht überhaupt zu seinem unausweichlichen Schicksal werden kann. Das bedeutet, dass wir uns fragen müssen: Unter welchen Bedingungen können und wollen 306 H. Müller, Wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Wege in eine nachhaltige Politik, Frankfurt am Main 2008, S. 68. 307 P. Singer, One World. The Ethics of Globlization, New Haven & London 2002. 308 Max Scheler, Philosophische Weltanschauung, München 1954, S. 89–118. 309 S. Gottlöber, Max Scheler über die Natur und Rolle der Eliten vor der Herausfor­ derung eines Weltalters des Ausgleichs, in: Chr. Gutland / X. Yang / W. Zhang (Hg.), Scheler und das asiatische Denken im Weltalter des Ausgleichs, Nordhausen 2019, S. 73–90, hier S. 83.

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wir einen solchen Ausgleich herstellen? Wie können wir diese Bedin­ gungen erfüllen? Und was sind dafür die Bedingungen? Allerdings darf in diesem Kontext »Ausgleich« nicht mit ›Kompensation‹ oder ›Ersatz‹ für einen Mangel oder mit ›Angleichung‹ der Kulturen, die manche etwa mit »Amerikanisierung«310 synonym setzen, oder mit ›Gegenleistung‹ verwechselt werden. An dieser Stelle wird bzw. muss darunter verstanden werden: ›Herstellung eines Gleichgewichts‹, ›Balance‹, ›Mitte‹, ›Vermittlung‹ – zum ersten im Westen selbst (etwa zwischen USA und Europa), zum zweiten zwischen Westen und Nicht-Westen (beispielsweise zwischen Europa und Afrika) und zum dritten zwischen Westen und Osten (also in erster Linie zwischen USA und China). Der große Gegensatz (grob vereinfacht) zwischen Westen (modern) und Islamismus (anti-modern) sollte nicht verges­ sen werden. Mit dem Ausgleich der beiden genannten großen und mächtigen Kulturkreise ist möglicherweise ein Minimalkonsens hinsichtlich der Wertvorstellungen zwischen den verschiedenen Völkern, Nationen und Religionen zu erreichen und dieser könnte dem demokratischen Pluralismus, der die Koexistenz von verschiedenen Interessen und Lebensstilen in den unterschiedlichen Gesellschaften billigt, eine greifbare Chance geben. Während dies alles im Osten auf den Fun­ damenten von Kommunismus, Konfuzianismus und Autoritarismus gestellt und darauf möglich gemacht bzw. in Einklang gebracht werden muss, sollte im Westen konkret eine »liberale Zivilgesellschaft« vorausgesetzt werden, die »einen stark normativen Gehalt« besitzt. Ein solcher Gehalt kann aber nicht auf ewig festgeschrieben werden, wie Paul Ginsborg betont, sondern »sein Charakter« muss »von einer Generation zur anderen neu bestimmt« werden. Zur gegenwärtigen Generation hat sich Ginsborg folgendermaßen geäußert: »Aus heuti­ ger Sicht lassen sich der Zivilgesellschaft eine Reihe ehrgeiziger Ziele übertragen: Sie soll für die Aufteilung statt für die Konzentration von Macht sorgen, soll friedliche Mittel anstelle von Gewalt aufzeigen, die Gleichstellung der Geschlechter und soziale Gerechtigkeit för­ dern, horizontale statt vertikale Solidarität gewährleisten, Debatten und eigenständige Meinungen an die Stelle von Konformismus und Gehorsam setzen.«311 Unter der Voraussetzung dieser ›ehrgeizigen S. Tönnies, Die Menschenrechtsidee. Ein abendländisches Exportgut, Wiesbaden 2011, S. 201ff. 311 P. Ginsborg, Wie Demokratie leben, Berlin 2008, S. 47–48.

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Ziele‹ könnte dann auch, wie ich es in Anlehnung an Habermas ausdrücken möchte, die motivationale Konsolidierung ausschließlich zweckrationalen Handelns in der westlichen Weltwirtschaft aufgebro­ chen und die posttraditionale Stufe des moralischen Bewusstseins allgemein betreten werden. Das Problem der Korruption, sowohl im westlichen als auch nicht-westlichen Kontext, würde davon sicherlich nicht unberührt bleiben. Zu dieser veränderten Verfassung nicht nur westlicher Kulturen hat sich der Philosoph Wolfgang Welsch ab 1992 auch mit Hinweis auf Max Scheler in den vergangenen Jahrzehnten wiederholt geäu­ ßert.312 Er meint, dass nicht nur die Kulturen seit den 1990er Jahren durch die globale Zirkulation »hybrid« werden, sondern auch der einzelne Mensch, der traditionelle Werte und weitere Elemente seines Ursprungs in sich trägt und zugleich neue gesellschaftliche Strukturen annimmt, einen hybriden Charakter bewusst in sich zulässt, indem er beides in seiner Identität vereint. Das Resultat einer solchen Entwicklung wäre eine Weltgesellschaft, deren Akzent aber weder auf einer weltumspannenden Einheitskultur (d.h. parteilich gefasst nach der monophilosophischen Losung: Universalismus – nicht Par­ tikularismus) liegt, noch auf einem »ethischen Pluralismus«: »Der ethische Pluralist zieht die Vielfalt der Einheit, den moralischen Dissens dem moralischen Konsens, die Heterogenität der Normen und Moralen der Homogenität einer Standardmoral vor, und zwar ohne die Erwartung, dass sich aus den Antithesen am Ende eine Synthese, aus dem Diskurs ein Konsens, aus der Spannung zwischen den Gegensätzen eine letztliche Harmonie ergibt.«313 Wenn der ethische Pluralist sich alternativlos (d.h. einseitig, somit parteiisch) dem ethischen Monisten entgegenstellt, um ihn zu widerlegen und zu überwinden, ist in Wirklichkeit nichts gewonnen.314 Die hier zugrundeliegende Dialektik ist die des andauernden »Entweder-oder« als ultima ratio und kostet einen circulus vitiosus, einen Teufelskreis, der in eine Abwärtsspirale führt, in der sich die auf die beiden 312 W. Welsch, Transkulturalität – Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen, in: Information Philosophie, Heft 2, 1992, S. 5–20. 313 D. Birnbacher, Der ethische Pluralismus – ein gangbarer Weg?, in: G. Ernst (Hg.), Moralischer Relativismus, Paderborn 2009, S. 257–273, hier S. 258. 314 K. Berr und H. Friesen, Monistische Wirtschaftsethik und pluralistische Ethik, in: H. Friesen und M. Wolf (Hg.), Ökonomische Moral oder moralische Ökonomie? Posi­ tionen zu den Grundlagen der Wirtschaftsethik, Freiburg/München 2014, S. 87–133, hier S. 123ff.

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Extreme Monismus und Pluralismus berufenden Akteure gegenseitig immer weiter anfechten und letztlich völlig in Frage stellen. Dagegen kann der bewusst nicht eindimensional denkende und handelnde Akteur, der dabei in der Zweiten Moderne bzw. Postmoderne auf ein Deliberationsrecht rekurrieren kann, weder das Einheits- und Identitätsdenken des Monismus und Universalismus noch den Plu­ ralismus und Relativismus von Wissensformen, Handlungsmustern und ästhetischen Idealen aufgeben. Denn: »Auch ein Einheits- und Identitätssystem macht nur Sinn, wenn es eine Vielheit zu syntheti­ sieren und zu systematisieren gibt.«315 Umgekehrt gilt: dass der Pluralismus gleichermaßen von seinem Anderen abhängig ist. Insofern ist auch der »ethische Pluralismus« noch nicht der Weisheit letzter Schluss. Dieser wäre mit einer Eman­ zipation aller Kulturen und auf diese Weise mit deren grundlegender und irreduzibler Vielfalt erst dann gelungen, wenn dadurch die öko­ nomischen und sozialen Ungleichgewichte nicht weiter vergrößert, sondern ganz im Gegenteil verkleinert würden. Das heißt: Keine Viel­ heit ohne Einheit bzw. keine Einheit ohne Vielheit. Und keine Seite darf (einseitig) begünstigt oder festgeschrieben werden. Würde das dennoch geschehen, hätte man ganz klar einen unmoralischen oder pathologischen Fall vorliegen: »[S]tur, manisch das Eine verfolgend, verschlingt die losgelassene Dynamik alles andere. Indem sie das Viele reduziert, potentiell dem beherrschenden Subjekt gleichmacht und dem, was ihm an gesellschaftlichen Instanzen entspricht, verkehrt Dynamik sich selbst ins Immergleiche, in Statik.«316 Aufgrund dieser (unveränderlich) gegebenen Struktur unserer menschlichen Vernunft wird daher sowohl die Weltgeschichte der Menschheit einerseits als auch die Entwicklung jedes individuellen Denkens andererseits stets (d.h. unendlich) »von der Vielheit an die Einheit und von der Einheit an die Vielheit gewiesen«317 werden. Das war schon immer so und wird glücklicherweise so auch bleiben. Aber welche Dialektik verlangen wir nun hier genau? Wir brauchen keine losge­ lassene Dynamik, auch keine totale Statik. Wir brauchen ebenfalls keine Dynamik, die sich absolut in Statik verkehrt. Wir benötigen K. Gloy, Grundlagen der Gegenwartsphilosophie, Paderborn 2006, S. 161. Th. W. Adorno, Über Statik und Dynamik als soziologische Kategorien, in: ders., Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt am Main 1975, S. 43. 317 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, auf der Grundlage des Textes der zweiten Auflage Leipzig 1907 bei Dunker & Humblot, Köln 2009, S. 119.

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dagegen gewiss Statik und Dynamik und zugleich weder Statik noch Dynamik, weil wir weder allein über das Eine noch bloß über das Viele verfügen können, sondern stets das Eine und das Viele nötig haben. So sieht es auch Adorno, der hierin über Hegel hinausgeht, obwohl nach seiner Ansicht Hegel selbst bereits ›die Priorität der Synthesis eingeschränkt‹ hätte: »Fraglos hat Hegel, gegen Kant, die Priorität der Synthesis eingeschränkt: er erkannte Vielheit und Einheit, beide bei Kant schon nebeneinander Kategorien, nach dem Muster der Platonischen Spätdialoge als Momente, deren keines ohne das andere sei. Gleichwohl ist Hegel, wie Kant und die gesamte Tradition, auch Platon, parteiisch für die Einheit.«318 Was Adorno in dieser Textstelle mit uns von Hegel unterscheidet ist, dass er unter allen Umständen nicht mehr streng ›parteiisch für die Einheit‹ auftritt und agiert. Infol­ gedessen wollen wir ebenfalls ihren Gegensatz, d.h. im Grunde die »Zwei« und ihre wechselseitige Entwicklung und Ergänzung zwischen dem Vielen und dem Einen. Aber was sollen diese sinnbildlichen Ausdrücke nun konkret bedeuten? Dies möchte ich versuchen, noch zu erklären, wobei es sicherlich über eine weitere Annäherung nicht hinausgehen kann. Eine vom Interesse des Pluralismus entbundene »einheitliche Weltgesellschaft«, die die historisch sich entfaltete Vielheit der Kul­ turen unabwendbar auslöscht, kann nicht das Ziel der menschlichen Geschichte sein, ebenso wenig wie die »Naturbeherrschung«, die ohne Zweifel den »Anfang des Menschseins«319 darstellt, »auch des Menschseins Ziel« sein kann bzw. sein darf. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno hatten das so ähnlich in ihrer Dialektik der Auf­ klärung bereits in den 1940er Jahren beschrieben. Dennoch schlagen alle Kulturen unserer Erde heute »den gleichen durch die naturwissen­ schaftlich-technische Dynamik der Expansion bestimmten Weg«320 ein. Diese frühe Einsicht von 1974, die wir Jean Améry zu verdanken haben und die in gewisser Hinsicht von Horkheimer und Adorno vorgedacht worden ist, galt noch genauso im Jahre 2008, wie uns hier eröffnet wird: »Aus dem ursprünglichen Vorhaben, sich der Natur zu unterwerfen, um sie nutzen zu können (›Wissen ist Macht‹), erwuchs Th. W. Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt am Main 1982, S. 160. J. Améry, Die heutige Industriegesellschaft und die »Lebensqualität« als Problem der Gesellschaftsentwicklung, in: Universitas. Zeitschrift für interdisziplinäre Wissen­ schaft, 29, 1974, S. 165–170, hier S. 170. 320 Ebd. 318

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die Möglichkeit, die Natur zu unterwerfen, um sie auszubeuten. Wir sind vom frühen Weg des Erfolges mit vielen Fortschritten abgekommen und befinden uns auf einem Irrweg der Gefährdung mit unübersehbaren Risiken. Die größte Gefahr geht dabei von dem unerschütterlichen Glauben der überwiegenden Mehrheit der Politi­ ker und Wirtschaftsführer an ein unbegrenztes Wirtschaftswachstum aus, das im Zusammenspiel mit grenzenlosen technologischen Inno­ vationen Antworten auf alle Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft geben werde.«321 Ich argumentiere deswegen folgendermaßen: In der konfron­ tierenden Obliegenheit dieses amphibolischen Gegensatzes bzw. Widerspruchs von unbegrenztem Wirtschaftswachstum und techno­ logischer Innovation versus Dialektik der Aufklärung und des Fort­ schritts darf es kein Entweder-oder geben! – Oder, um es in anderen Worten mit Habermas zu betonen: Die ›Einheit der Vernunft‹ darf die ›Vielheit ihrer Stimmen‹ nicht aufheben und auch nicht unterdrücken, ebenso wenig darf die Vielheit der vernünftigen Stimmen ihre Einheit diskreditieren. Es geht hier konkret darum, den kontradiktorischen Widerspruch in einen komplementären Gegensatz umzugestalten. Abstrakt formuliert gilt hierbei nach dem dialektischen Denkspruch: nicht Entweder-oder als ultima ratio, sondern sowohl Partikularismus als auch Universalismus, sowohl Besonderes als auch Allgemeines, aber in Form der gesellschaftlichen Institutionalisierung eines kom­ plementären Gegensatzes von Einheit und Vielheit, Natur und Kultur, Individuum und Gesellschaft, Fortschritt und Rückschritt, Konsens und Dissens, Armut und Reichtum etc., denn die eine Seite ist in diesen Kontexten stets mit der anderen vermittelt. Das hier bewe­ gende Prinzip ist aber weder »alternativ« noch »pendelrhythmisch«, wie Walter Hueck es sieht322, strukturiert bzw. organisiert, sondern »disjunktiv-konjunktiv«, wie Adorno gezeigt hat. Der ontologische Grundsachverhalt ist zwar von Hueck, Simmel, Scheler, Adorno u.a. dialektisch zum Ausdruck gebracht worden, aber nur von den drei Letztgenannten wird dabei »kritische Vermittlung« der Extreme323 großgeschrieben. Adorno sagt es am pointiertesten: »Auch die Anti­ H. Müller, Wie kann eine neue Weltordnung aussehen? Wege in eine nachhaltige Politik, Frankfurt am Main 2008, S. 11. 322 W. Hueck, Die Philosophie des Sowohl-als-auch. Entwurf einer pendelrhythmischen Weltanschauung, Darmstadt 1925. 323 Th. W. Adorno, Einführung in die Dialektik, Berlin 2015, S. 290ff. 321

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Kapitel 8 Die kulturelle Moderne – Der Nexus von Einheit und Vielheit

these von Allgemeinem und Besonderem ist notwendig sowohl wie trügend. Keines von beiden ist ohne das andere, das Besondere nur als Bestimmtes und insofern allgemein, das Allgemeine nur als Bestim­ mung von Besonderem und insofern besonders. Beide sind und sind nicht. Das ist eines der stärksten Motive nicht-idealistischer Dialek­ tik.«324 Die Frage, die sich sodann beispielsweise auf dem Feld der konkreten Praxis stellt, lautet: Kann die seit ewigen Zeiten bekannte Entzweiung zwischen Armut und Reichtum überhaupt überwunden werden? Wie oben bereits am Beispiel von Relativismus und Univer­ salismus gezeigt, könnte mit Simmel geantwortet werden, gewiss nicht, da »jede der Seiten zu ihrem Bestande die andere voraussetzt: keine von beiden würde einen sachlich ausdenkbaren Sinn […] besitzen, wenn nicht die andere ihr als ihr ›Gegenentwurf‹ gegen­ überstände. So entsteht hier – und ebenso in unzähligen anderen Gegensatzpaaren – die eigentümliche Schwierigkeit: daß ein Unbe­ dingtes bedingt wird, und zwar durch ein anderes Unbedingtes, das seinerseits wieder von jenem abhängt.«325 Das heißt: Der Gegensatz von Armut und Reichtum kann nicht endgültig aufgehoben, aber er könnte und sollte entschärft werden. Wir haben es hier mit dem onto­ logischen Grundsachverhalt einer unendlich-endlichen Entzweiung zu tun, oder anders formuliert, mit einer Schere von Arm und Reich, die sich heute zwar immer weiter öffnet, die aber auch wiederum geschlossen werden könnte und sollte. Diese Dialektik von Öffnung und Schließung scheint als gesellschaftlicher Entwicklungsprozess von Gegensatzpaaren insgesamt tatsächlich unaufhebbar zu sein.326 Dies aber würde bedeuten, dass die Schere zwischen Arm und Reich sich nicht unvermeidlich immer weiter öffnen muss, oder: dass der Wohlstand der Reichen des Nordens nicht länger auf Kosten der Armen des Südens erhalten werden darf. Im Gegenteil: Die extremen Ungleichgewichte müssten unweigerlich wieder abgebaut werden, denn das normative Ideal besteht im Ausgleich, der jedoch, wie es von Adorno oben bereits als ›stärkstes Motiv nicht-idealistischer Dialek­ Th. W. Adorno, Philosophie und Gesellschaft. Fünf Essays, Stuttgart 1984, S. 92. G. Simmel, Philosophie des Geldes, auf der Grundlage des Textes der zweiten Auf­ lage Leipzig 1907 bei Dunker & Humblot, Köln 2009, S. 121. 326 K. Berr und H. Friesen, Monistische Wirtschaftsethik und pluralistische Ethik, in: H. Friesen und M. Wolf (Hg.), Ökonomische Moral oder moralische Ökonomie? Posi­ tionen zu den Grundlagen der Wirtschaftsethik, Freiburg/München 2014, S. 87–133, hier S. 123ff. 324 325

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Kapitel 8 Die kulturelle Moderne – Der Nexus von Einheit und Vielheit

tik‹ betont wurde, duplizitär, d.h. zugleich konvergent und divergent zu denken ist. Der Nexus von Armut und Reichtum, Besonderem und Allgemeinem, Einheit und Vielfalt ist jeweils dialektisch. Das sollte man wissen, wenn man sich in Zusammenhängen befindet, die veränderlich sind und insofern durch und durch dynamisch.

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