Kultur - Konfession - Regionalismus: Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Hans-Christof Kraus [1 ed.] 9783428528295, 9783428128297

Die in diesem Band versammelten Arbeiten des Historikers Heinz Gollwitzer (1917 - 1999) beeindrucken den Leser in mehrfa

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Kultur - Konfession - Regionalismus: Gesammelte Aufsätze. Hrsg. von Hans-Christof Kraus [1 ed.]
 9783428528295, 9783428128297

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Historische Forschungen Band 88 HEINZ GOLLWITZER

Kultur – Konfession – Regionalismus Gesammelte Aufsätze

Herausgegeben von Hans-Christof Kraus

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

HEINZ GOLLWITZER

Kultur – Konfession – Regionalismus

Historische Forschungen Band 88

HEINZ GOLLWITZER

Kultur – Konfession – Regionalismus Gesammelte Aufsätze

Herausgegeben von Hans-Christof Kraus

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0344-2012 ISBN 978-3-428-12829-7 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Heinz Gollwitzer (1917 – 1999), nach dem Zweiten Weltkrieg akademischer Lehrer an den Universitäten München und Münster, hat ein in thematischer Hinsicht ungewöhnlich breites und beeindruckend umfassendes Lebenswerk hinterlassen. Seine frühe Studie „Europabild und Europagedanke“ (1951) sowie seine monumentale Biographie des bayerischen Königs Ludwig I. (1986) können sicher als seine bekanntesten Bücher gelten, während sein umfangreichstes und wohl auch wichtigstes Werk, die zweibändige „Geschichte des weltpolitischen Denkens“ (1972 – 1982), nicht diejenige Aufmerksamkeit gefunden hat, die es eigentlich verdient hätte. Gollwitzers (wie er sie selbst nannte) bewusstseinsgeschichtliche Untersuchungen zum neuzeitlichen europäisch-nordamerikanischen Diskurs über Formen und Strukturen einer möglichen Ordnung oder auch Unordnung des Globus kamen, wie es scheint, zur falschen Zeit; die in den 1970er und 1980er Jahren zu konstatierende Vorherrschaft der Sozialgeschichte innerhalb der Geschichtswissenschaft ließ sein Werk nicht recht zur Geltung kommen, und die ihm hierfür eigentlich gebührende Anerkennung blieb ihm versagt. Sein zweites geplantes Hauptwerk, eine Geschichte des politischen Protestantismus in europäisch-nordamerikanisch vergleichender Perspektive, hat er trotz umfangreicher Vorarbeiten nicht mehr geschrieben. Immerhin publizierte er, anknüpfend an einen Vortrag in der Düsseldorfer Akademie der Wissenschaften, im Jahr 1981 einige „Vorüberlegungen zu einer Geschichte des politischen Protestantismus nach dem konfessionellen Zeitalter“, die in gewisser Weise das Herzstück des vorliegenden Sammelbandes ausmachen. Dieser Band versammelt Gollwitzers sehr verstreut publizierte kleinere Arbeiten zu den Themen Kultur und Wissenschaft, Konfession und Regionalismus. Diese Studien beeindrucken den Leser gleich in mehrfacher Hinsicht: Das betrifft zum einen ihren interdisziplinären und vergleichenden Ansatz, der etwa den Historismus nicht nur geistes-, sondern eben auch sozialgeschichtlich verortet, der kunstgeschichtliche Fragestellungen nicht nur immanent auf das einzelne Kunstwerk bezogen erörtert, sondern in den öffentlichen Raum einer vergangenen Epoche zu stellen bestrebt ist, der wissenschaftliche Debatten vor dem Hintergrund zeitgenössischer politisch-konfessioneller Frontstellungen aufhellt und der schließlich ein so vielschichtiges Problem wie beispielsweise den politischen Protestantismus nicht in nationalgeschichtlicher, sondern international vergleichender Perspektive zu rekonstruieren bemüht ist. Und zum anderen zeichnen sich Gollwitzers Arbeiten durch eine erstaunliche, nachgerade stupende Kenntnis seltenster und entlegenster, gedruckter wie auch ungedruckter Quellen aus, die er im Rahmen seiner Fragestellungen ans Licht zu ziehen und in nicht selten überraschender Wendung neu zu

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Vorwort

deuten versteht. Er gehörte gerade nicht zu den Wissenschaftlern, die eine Aufsehen erregende, auf den ersten Blick interessant erscheinende These in den Raum stellen – und diese anschließend nicht wirklich belegen können. Gollwitzers Thesen dagegen sind in jedem Fall überzeugend belegt – ob es sich nun darum handelt, die konfessions- und religionspolitischen Hintergründe bestimmter außenpolitischer Konzeptionen nachvollziehbar zu machen, oder ob es um ein neues Verständnis des politischen „Ghibellinismus“ im 19. Jahrhundert geht. Manche seiner Themen, Thesen und Fragestellungen – etwa das von ihm vor mehr als vier Jahrzehnten, im Jahr 1964 erstmals entworfene Konzept der „politischen Landschaft“ – beginnen, wie neueste Forschungsarbeiten zeigen, erst in der Gegenwart ihre eigentliche Wirkung zu entfalten. Alle der eben genannten Gesichtspunkte rechtfertigen wohl die vorliegende Neuedition dieser Aufsätze, die zwischen 1948 und 1992 erstmals, z. T. an sehr entlegener Stelle, veröffentlicht worden sind. Der Abdruck erfolgt in der Regel genau nach der Vorlage des Erstdrucks; allerdings wurden offensichtliche Druckfehler und Irrtümer, etwa die falsche Schreibung von Autorennamen, stillschweigend beseitigt. Für einen der Texte (den Beitrag für die Festschrift Bußmann von 1979) lag dem Herausgeber ein von Heinz Gollwitzer eigenhändig korrigierter Sonderdruck vor; selbstverständlich wurden seine Korrekturen sowie eine Ergänzung in den vorliegenden Neuabdruck des Aufsatzes über den politischen Katholizismus im Hohenzollernreich und die Außenpolitik eingearbeitet. – Abschließend ist Dank abzustatten: Zuerst Frau Elisabeth Gollwitzer in München, die auch die Publikation dieses zweiten Sammelbandes mit Aufsätzen ihres verstorbenen Mannes durch einen Druckkostenzuschuss ermöglicht hat, – sodann allen denjenigen, die an der Vorbereitung dieser Edition in verschiedenen Phasen beteiligt waren: Philipp Menger (Stuttgart-Potsdam), Martin Hille (München-Passau) und Marc von Knorring (Passau). Passau, im September 2008

Hans-Christof Kraus

Inhalt I. Kultur und Wissenschaft Der Historiker und die Öffentlichkeit (1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kunst und Öffentlichkeit – Beiträge aus Westfalens Vergangenheit (1980) . . . . . . . . . . . . . .

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Historismus als kultur- und sozialgeschichtliche Bewegung (1982) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert. Eine ideologieund wissenschaftsgeschichtliche Nachlese (1966) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Westfälische Historiker des 19. Jahrhunderts in Österreich, Bayern und der Schweiz (1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

92

Karl Alexander von Müller 1882 – 1964. Ein Nachruf (1967) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134

II. Konfession Vorüberlegungen zu einer Geschichte des politischen Protestantismus nach dem konfessionellen Zeitalter (1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 Deutsche Palästinafahrten des 19. Jahrhunderts als Glaubens- und Bildungserlebnis (1948) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Kirchliche Ökumenizität und weltpolitisches Denken. Deutsche Stimmen aus dem 19. Jahrhundert (1972) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 Bemerkungen zum politischen Katholizismus im bayrischen Vormärz und Nachmärz (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 Der politische Katholizismus im Hohenzollernreich und die Außenpolitik. Variationen zu einem weitläufigen Thema (1979) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266

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Inhalt III. Heimat und Regionalismus

Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19. / 20. Jahrhunderts. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus (1964) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Der kulturgeschichtliche Ort der Heimatbewegung gestern und heute (1975) . . . . . . . . . . . 325

Nachweis der Erstveröffentlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 338

I. Kultur und Wissenschaft

Der Historiker und die Öffentlichkeit I. Zu meinem Thema „Der Historiker und die Öffentlichkeit“ zunächst eine Verständigung über die von mir verwendeten Begriffe und über die Absicht des Vortrags! Unter einem Historiker verstehe ich im folgenden den an einer Hochschule in Lehre und Forschung hauptberuflich tätigen, wissenschaftlich ausgebildeten Fachvertreter. Mit Öffentlichkeit wollen wir in unserem Zusammenhang ein für Geschichte ansprechbares Publikum bezeichnen – Millionen von Menschen gehören nicht dazu –, ein Publikum, dessen Erkenntnisinteresse höchst unterschiedlicher und in der Regel nicht unmittelbar wissenschaftlicher Art ist. Es wäre weiter zu unterscheiden zwischen einer Öffentlichkeit, die sich zur Geltung zu bringen weiß, und einer anderen, die die schweigende Mehrheit bildet und deswegen nur eine passive Rolle spielt. Wie verhalten sich beide, der Historiker und die Öffentlichkeit, zueinander? Wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Welche Fehlauffassungen bestehen hinsichtlich des öffentlichen Wirkens des Historikers beim Publikum wie beim Historiker selbst? Kann man bleibende Öffentlichkeitsfunktionen des Historikers ermitteln? Dies die Fragen, um deren Beantwortung es geht. Das Thema überschneidet sich notwendigerweise mit dem Problemkreis „Relevanz der Geschichte“, aber es deckt sich nicht mit ihm. Der Akzent liegt mehr auf der standespolitischen Position des Hochschullehrers, auf der Art und Weise, wie sich der Historiker als Berufsmensch zur Gesellschaft verhält, verhalten könnte oder sollte. Dabei lasse ich ohne Scheu persönliche Erfahrungen und Optionen einfließen. Am Ende eines Vierteljahrhunderts Berufstätigkeit in Münster glaube ich es verantworten zu können, unmittelbar und mittelbar auch von mir selbst zu sprechen.

II. Blicken wir zunächst vom staatlich bezahlten und gesicherten Geschichtsprofessor unserer Tage zurück auf eine Spielart seiner Vorläufer, den im unmittelbaren Fürstendienst stehenden Historiker des monarchisch-absolutistischen Zeitalters! Aus der Regierungszeit Ludwigs XIV. sind uns die Namen von 58 europäischen Gelehrten, Dichtern und Literaten bekannt, die durch Colbert und den Akademiker Chapelain gewonnen und mit großzügigen Gratifikationen versehen wurden.1 Ihre Aufgabe war, eine Art von politisch-wissenschaftlicher Weltlitera-

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Der Historiker und die Öffentlichkeit

tur zum Ruhm und Vorteil des französischen Königs in Szene zu setzen. Unter den (veröffentlichten und unveröffentlichten) Produkten dieser internationalen Propaganda findet man auch die Beiträge führender deutscher Historiker der damaligen Zeit. Das Experiment blieb in diesem Umfang auf lange Zeit einmalig, aber es hat sich in bescheidenerem Rahmen an vielen Höfen wiederholt. Der im Fürstendienst beschäftigte Historiker tritt der Öffentlichkeit gegenüber als Hofhistoriograph, als politischer Schriftsteller, als Gestalter und Meister des Herrscherlobs in der Nachfolge literarischer mittelalterlicher Vorgänger. Man findet ihn unter den Arrangeuren der monarchischen Selbstdarstellung, als Hofantiquarius, der die Programme von Schaumünzen, von Fest- und Trauerdekorationen bestimmt, und man begegnet ihm, wie er mehr oder minder glaubwürdig im Zeichen dynastischer Familienpolitik das genealogische Prestige seines Brotgebers dokumentiert. Relativ modern nimmt sich die publizistisch-zeitgeschichtliche Tätigkeit dieser Gattung von Historikern aus, wenn sie die politischen Ambitionen ihrer Herren durch eine Art von Weißbüchern unterstützten. Der sogenannte Kanzleienstreit des 17. Jahrhunderts,2 die Veröffentlichung erbeuteter Geheimakten beider Parteien aus den Anfängen des Dreißigjährigen Krieges, wurde von gelehrten Publizisten ausgetragen, die man nach den damaligen Begriffen auch als Historiker einstufen durfte. In einer Ära rechtsförmiger Politik spielte sich die Präsentation urkundlicher Beweise für den besseren Rechtsstandpunkt der eigenen Partei oder die Aufdeckung von Fälschungen der Gegner als Appell an die Öffentlichkeit ab. Ausläufer solcher Historikerleistungen sind auch noch in einem bereits konstitutionellen, Staat und Nation vor der Dynastie in den Vordergrund rückenden Zeitalter zu registrieren. Wenn es dem Rechtshistoriker Georg Beseler auf dem Frankfurter Germanistentag 1846 vor einem urteilsfähigen Publikum gelang, die Behauptungen und Voraussetzungen einer dänischen Staatsschrift in der Schleswig-Holsteinischen Frage historisch zu widerlegen,3 so bedeutete dies einen Sieg der Auffassung des Deutschen Bundes, einen Sieg, der in der europäischen Öffentlichkeit Beachtung fand und zählte. Der Historiker im höfischen Dienst gewann gelegentlich Zutritt zu den arcana imperii, aber man hat ihn damals und später nur sehr selten als Fürstenberater zu den politischen Entscheidungsprozessen zugezogen, und das ganz zu Recht, weil es ihm an Information über die unmittelbaren politischen Konstellationen und an Geschäftserfahrung meistens fehlte. Wenn ein bereits verunsicherter Monarch des 19. Jahrhunderts das Gespräch mit dem Historiker suchte, geschah es mitunter nicht nur um der Vergangenheit, sondern auch um der Gegenwarts- und Zukunftsdiagnose willen. Dies war der Fall bei der von König Maximilian II. von Bayern an 1 Vgl. G. Cohn, Ludwig XIV. als Beschützer der Gelehrten, in: Historische Zeitschrift 23 (1870), S. 1 – 16. 2 Vgl. R. Koser, Der Kanzleienstreit, Halle 1874 und F. H. Schubert, Ludwig Camerarius, Kallmünz 1955, S. 108 – 143. 3 Verhandlungen der Germanisten zu Frankfurt a. Main am 24., 25. und 26. IX. 1846, Frankfurt a. M. 1847, S. 18 – 32 u. 43 – 50.

Der Historiker und die Öffentlichkeit

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Ranke 1854 ergangenen Einladung, aus der die Vortragsfolge „Epochen der neueren Geschichte“ hervorgegangen ist.4 Maximilian II. war gewiß ein ungewöhnlich wissensdurstiger und bildungsgläubiger Herrscher. Angesichts revolutionärer Ereignisse beschäftigte ihn aber auch die Frage, welche politischen Chancen sich zu seiner Zeit und künftighin für das Königtum noch ausrechnen ließen. Ranke verstand es, ihn zu beruhigen, doch war nach Veröffentlichung der Vorträge dem Publikum wohl mehr mit ihrem historischen als ihrem politologischen Inhalt gedient.

III. Mit oder ohne Anlehnung an regierende Häuser traten seit dem Zeitalter der Reformation Historiker hervor, die im Gegensatz zum primär höfisch orientierten Gelehrten in der konfessionellen Polemik und Apologetik den Hauptzweck ihrer Tätigkeit sahen, sich durch entschiedene Stellungnahme im Streit der Religionsparteien profilierten und durch ihre Beweisführung das Publikum auf ihre Seite zu ziehen suchten: der Historiker als Missionar eines Glaubensbekenntnisses. Wenn diese Kategorie einem Säkularisierungsprozeß unterlag, hatte es die Öffentlichkeit mit dem Typus des Historikers als ideologischem Wortführer, als profaniertem Theologen zu tun; diese Spielart blüht und gedeiht bis zum heutigen Tage. Von den historiographischen Exponenten von Aufklärung und Gegenaufklärung über diejenigen von Konservatismus und Liberalismus bis zu den Historikern im Dienst der im 20. Jahrhundert dominierenden Richtungen verstanden und verstehen sich ungezählte Fachvertreter als Prediger von Weltanschauungen. Daß Geschichtsschreibung in allen weltanschaulichen und politischen Lagern Meinungen gebildet, daß sie Überzeugungen begründet und bestärkt hat, ist eine Tatsache, die sie wohl in erster Linie zum Öffentlichkeitsfaktor machte und macht. Die Frage ist nur, wie der Historiker auf solchen Wegen den Wissenschaftscharakter seines Faches zu behaupten vermag. Die Theorie der Geschichtswissenschaft hat freilich längst Erklärungen und Rechtfertigungen dafür beigebracht, daß das Auftreten von Historikern als Parteimänner unvermeidlich sei. Sie sagt uns viel Tröstliches über das Komplementärverhältnis von Parteilichkeit und Objektivität, Perspektivität und Objektivität, und daß beide sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig bedingen.5 Immerhin – das Gefühl dafür, daß der Pluralismus von Wahrheitsangeboten und Absolutheitsansprüchen eine Aporie darstellt, sollte nicht verloren gehen und Anlaß zur Selbstkritik geben.

4 Vgl. Th. Schieder, Einleitung zu: Th. Schieder und H. Berding (Hg.), Über die Epochen der neueren Geschichte, München und Wien 1971, S. 7 – 39. 5 Vgl. H. Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, Basel – Stuttgart 1977, S. 18 f. und R. Koselleck u. a. (Hg.), Objektivität und Parteilichkeit, München 1977.

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Der Historiker und die Öffentlichkeit

IV. Parteimänner waren und sind, betrachtet unter dem Gesichtspunkt der internationalen Konkurrenz der Staaten, selbstverständlich auch solche Historiker, die sich weniger auf ideologisch-gesellschaftspolitische Positionen verlegen, sondern sich als Interessenwahrer ihrer Nationen interpretieren. Wenn wir uns bei der Gruppe der Nationalhistoriker etwas länger aufhalten, so deswegen, weil sie in Verbindung mit der Bildungsidee des Historismus ganz offensichtlich das bisher größte Maß an Öffentlichkeitswirkung erzielt hat. Der Grund für solche Resonanzerweiterung ist darin zu suchen, daß der Begriff der politisierten Nation in besonderem Maße auf die Französische Revolution zurückzuführen ist, deren demokratische Errungenschaften für das Zustandekommen einer größeren und mächtigeren Öffentlichkeit als je zuvor sorgten. Die intensive publizistische Tätigkeit der meisten namhaften Historiker des 19. Jahrhunderts zeigt, wie sehr bei ihnen Beruf und nationalpädagogischer Auftrag ineinander übergingen. Wenn es der Historiker seither verstand, die nationalen Emotionen seines Publikums zu wecken, konnte er auf entsprechenden Zuwachs an Ansehen und Einfluß rechnen. Einige Beispiele mögen kritisch erläutern, wie dieser Einfluß beschaffen war. Als es 1871 in der Adreßdebatte des ersten deutschen Reichstags um die Erörterung einer künftigen Politik des Hohenzollernreiches ging, nahm die Diskussion bei den Gedankengängen zeitgenössischer Historiker ganz beträchtliche Anleihen auf.6 Der mediävistische Historikerstreit der fünfziger und sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts um die Bedeutung der mittelalterlichen Kaiserpolitik war unter einem großen Teil der Parlamentarier nicht nur als bekannt vorauszusetzen, sondern die Geschichtsschreiber lieferten darüber hinaus gewissermaßen die Denkmuster und den roten Faden für eine Debatte von politischem Rang. Noch achtundzwanzig Jahre später verglich Wilhelm II. den von Tirpitz und Bülow getragenen Übergang zur deutschen Weltpolitik mit dem Wandel der Politik von Heinrich I. zu Otto I., dessen Linie er für sich in Anspruch nahm.7 Es verhielt sich in diesem Zusammenhang übrigens keineswegs so, als hätte erst die Öffentlichkeit geschichtliches Erkenntnisgut vergröbert. Die Historiker selbst sind es gewesen, die von Anfang an aus politischem Engagement fragwürdige Analogieschlüsse produzierten und zur Legitimation ihrer nationalen Hoffnungen höchst sanguinisch mit dem historischen Material umgingen. Als die Stunde der Wahrheit schlug, stellte sich heraus, wie fehlerhaft ihre Konstruktionen angelegt waren. Ging man – irrigerweise – davon aus, der Historiker habe nicht nur das Woher, sondern auch das Wohin im Griffe, er wisse um die geschichtlichen Gesetze des Werdens und Vergehens und sei daher imstande, der Nation den rechten Weg zu 6 Vgl. H. Gollwitzer, Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert. Eine ideologie- und wissenschaftsgeschichtliche Nachlese, in: Dauer und Wandel der Geschichte. Festgabe für Kurt v. Raumer, hrsg. v. R. Vierhaus und M. Botzenhart, Münster 1966, S. 484 – 492; in diesem Band S. 67 – 91. 7 P. Winzen, Bülows Weltmachtkonzept, Boppard 1977, S. 62.

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weisen, so mußte er allerdings eine unvergleichliche Position in der Öffentlichkeit gewinnen. Er war auf den Podest des vaterländischen Propheten gestellt. Man lese einmal nach, wie enthusiastisch sich Bülow und Tirpitz in diesem Sinn über Treitschke geäußert haben!8 In den Hörsaal dieses Mannes strömten nicht nur die beruflich motivierten Geschichtsstudenten, sondern Tausende anderer junger Männer, die den Herold der nationalen Idee vernehmen und sich politisch von ihm inspirieren lassen wollten. Der Historiker als Seher hatte es zwar mit der Konkurrenz anderer mit wissenschaftlichem Anspruch auftretender Visionäre zu tun, nicht zuletzt solchen aus dem philosophischen Fach,9 freier Schriftsteller sowohl als „amtlich beglaubigter Kathederpropheten“. Aber mit dem vermeintlichen Vorsprung des Empirikers und seinem auf jeden Fall vorhandenen Plus an Anschaulichkeit ausgerüstet, konnte sich der Historiker in der Gunst der Öffentlichkeit gut behaupten, einer Öffentlichkeit, die allerdings Wünsche und Forderungen an ihn herantrug, denen er wissenschaftlich kaum gerecht zu werden vermochte. Auch nach dem Ersten Weltkrieg hielt die Öffentlichkeit in der nationalen Dimension für den Historiker Aufgaben von wissenschaftlich-politischer Ambivalenz bereit. Dies gilt selbstverständlich für alle Völker, aber wir begnügen uns hier mit dem deutschen Beispiel und erinnern vor allem an den von vielen Fachvertretern mit großem Eifer geführten Kampf gegen die Behauptung von der Alleinschuld Deutschlands am Ersten Weltkrieg, eine Kampagne, der nicht zuletzt wegen der Mitwirkung ausländischer Fach- und Bundesgenossen Erfolg in der Weltöffentlichkeit nicht abzusprechen war. Bevor wir zu der Epoche nach 1945 übergehen, noch eine Bemerkung allgemeiner Art. Ein Verhältnis des Historikers zur Öffentlichkeit wird in der Regel schon dadurch hergestellt, daß bisher kaum ein Staat und ein politisches System ohne ein von ihnen als eigentümlich empfundenes Geschichtsbild ausgekommen sind und dem Historiker nahelegen, ihren geschichtlichen Legitimationsbedürfnissen Rechnung zu tragen. Wohl dem Historiker, dessen persönliche Überzeugung mit dem offiziellen Kurs des für ihn zuständigen Systems übereinstimmt! Der in unserer Zeit liegende Beschleunigungskoeffizient hat es allerdings mit sich gebracht, daß in einem Historikerleben sehr unterschiedliche offizielle Kurse nacheinander verantwortet werden sollten, es sei denn, der Historiker hätte sich dem auf die eine oder andere Weise widersetzt oder entzogen. Jedenfalls ist, soweit die wissenschaftliche Unabhängigkeit und die persönliche Aufrichtigkeit des Historikers tangiert werden, zumindest potentiell stets für Konflikte in seinem Verhältnis zur Öffentlichkeit gesorgt.

Ebda., S. 25 – 35. Im Zusammenhang der hier angesprochenen Ära des Hohenzollernreichs verweise ich besonders auf die Wirksamkeit des Philosophen E. v. Hartmann. Vgl. H. Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens, Bd. II, Göttingen 1982, S. 218 – 222. 8 9

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V. Unverdrossen wie eh und je wandte sich die Öffentlichkeit auch nach dem Zweiten Weltkrieg in aktuell-politischen und Zukunftsfragen an die Geschichtswissenschaft, deren seit Jahrhunderten auf diesem Gebiet begangene Mißgriffe allerdings nur für den zu überblicken sind, der sich mit ihrer Wissenschaftsgeschichte bekannt gemacht hat. Und mit dieser sich beschäftigt zu haben, ist vom Nichtfachmann schwerlich zu verlangen. Aus den Öffentlichkeitseinsätzen, die man seit 1945 von den Historikern erwartete, ragt ihr zeitgeschichtlicher Beitrag zur sogenannten „reeducation“ des deutschen Volkes heraus. Daß die Jahre von 1933 – 45 und ihre Vorgeschichte einen wichtigen Gegenstand historischen Interesses darstellten und darstellen, kann keinem Zweifel unterliegen. Auch ließ sich die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus tatsächlich nur über das Medium der Geschichte betreiben. Selbstverständlich handelte es sich aber bei dem an die Geschichtswissenschaft ergangenen Auftrag, das Phänomen des Nationalsozialismus in Angriff zu nehmen, nicht um eine normale Forschungsaufgabe, sondern um eine solche, die von vornherein, und zwar mit einem in der westlichen und der östlichen Hälfte Deutschlands grundverschiedenen Mandat verbunden war. Weder hier noch dort ging es lediglich darum festzustellen, „wie es eigentlich gewesen“. Vielmehr sollte der Historiker mithelfen, hier Demokraten im westlichen Sinn, dort Marxisten im Sinne der Sowjetunion zu erziehen. Beschränken wir uns auf die Bundesrepublik. Quantitativ war der Ausstoß an historischer Literatur im Sinne der „reeducation“ enorm, obschon bei der Beeinflussung der Öffentlichkeit den Massenmedien ein weitaus intensiverer Einfluß zugefallen sein und noch zufallen dürfte als der Geschichtswissenschaft. Für die Beiträge der Historiker wie der Massenmedien gilt: Die sogenannte Vergangenheitsbewältigung war ausschließlich auf den Nationalsozialismus und seine tatsächlichen oder vermeintlichen Vorläufer fixiert. Ihr beabsichtigter volkspädagogischer Effekt sollte aber in der Bundesrepublik die Öffentlichkeit nicht nur gegen die kaum zu befürchtende wortwörtliche Wiederholung des Vorgefallenen immunisieren, sondern auch gegen strukturell verwandte, obschon mit konträren ideologischen Vorzeichen versehene totalitäre Erscheinungen. Und in dieser Hinsicht wird man vorerst besser davon Abstand nehmen, von einem Erfolg zu sprechen. In der Geschichte der Bundesrepublik hat man den schwächlichen Versuch unternommen, zur Erinnerung an das Geschehen des 17. Juni 1953 einen Nationalfeiertag ins Leben zu rufen: zum Gedenken an die dramatischen Ereignisse in der DDR finden im Bundestag Sitzungen statt, bei denen in Anwesenheit der höchsten Repräsentanten des Staates hervorragende Männer des akademischen Lebens das Wort ergreifen.10 Unter den betreffenden Sprechern findet sich kein höheres Kontingent als das der Historiker. Dies gibt zu der Vermutung Anlaß, die maßgebenden Politiker gingen davon aus, daß ein Mann mit umfassender historischer Bildung 10

Vgl. Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung.

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auch ein Panorama der Gegenwart entwerfen und für den Zukunftsweg der Nation überzeugungskräftige Impulse beisteuern könne. Liest man die Beiträge der vortragenden Historiker, gewinnt man den Eindruck, daß sie sich, von kleineren Verstößen abgesehen, der prekären Seiten ihres Auftrags voll bewußt waren und sich seiner auf eine Art und Weise entledigten, die man im Englischen „sophisticated“ nennen würde. Andererseits entbehrten ihre Vorträge weithin eines spezifisch historischen Charakters und hätten auch von Männern gleichen Bildungsgrades aus anderen akademischen Disziplinen gehalten werden können, wie dies ja vielfach geschehen ist. Um meine Folge problematischer Beispiele zum Abschluß zu bringen, frage ich, ob womöglich doch auch viele Historiker selbst der Überzeugung huldigen, über verläßliche Kenntnisse zu verfügen, auf Grund deren sich der Nation mit hinreichender Sicherheit der rechte Weg zeigen ließe. Als es 1970 um die Annahme der Ostverträge ging, wurde von einer nicht weit von Münster entfernten Universität eine Resolution verschickt, deren Empfänger in ihrer Eigenschaft als Historiker und Berufsgenossen aufgefordert wurden, sich öffentlich für die Annahme der Verträge zu erklären. Es liegt mir daran, hier nicht mißverstanden zu werden. Die Frage der Zweckmäßigkeit der Ostverträge bleibt im Zusammenhang dieses Vortrags völlig außer Betracht. Ich hätte das Beispiel auch nicht gewählt, wenn die betreffenden Initiatoren ihr Bekenntnis nur als Staatsbürger zu Papier gebracht hätten. Sie haben sich jedoch ausdrücklich als Historiker auf ihre Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit berufen. In einem Begleitschreiben sprachen sie selbst davon, daß die Annahme der Ostverträge im Bundestag auch ohne ihre Aktion über die Bühne gehen würde. War ihr Appell also als historische Entscheidungshilfe für das Parlament irrelevant, so konnte er nur als wissenschaftliches Bekenntnis vor einer Öffentlichkeit beabsichtigt sein, deren Zustimmung gefestigt werden sollte. Der Bekanntheitsgrad der Historiker in der Öffentlichkeit ist allerdings nicht sehr groß; auch ist zu bemerken, daß die inflationäre Tendenz des Resolutionsbetriebs in der Bundesrepublik eine Abwertung dieses Verfahrens zur Folge hat. Wäre also allenfalls noch die Wirkung einer Handreichung und Wegweisung kraft wissenschaftlichen Lehramtes in Betracht zu ziehen. Nun beruht der Erfolg einer sich als wissenschaftlich interpretierenden Kundgebung vor der Öffentlichkeit wohl primär auf der geschlossenen Stellungnahme der Fachvertreter. Nach meiner Schätzung haben etwa die Hälfte der Angeschriebenen nicht unterzeichnet. Ihre Motive mögen gleich denen der Unterzeichner recht unterschiedlicher Art gewesen sein. Die Gelehrten waren sich jedenfalls wieder einmal nicht einig. Aber warum? Vor die Überlegung gestellt, ob sie unterschreiben sollten oder nicht, hatten sie eine gleichzeitige historisch-politische und ethische Güterabwägung vorzunehmen. Und um dies tun zu können, reichten Geschichtswissen und Geschichtskenntnis allein nicht aus. Diese liefern aus sich selbst noch keine allgemein verbindlichen Kriterien und daher auch keinen Konsens.

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VI. Ich breche hier den empirischen Teil meiner Beweisaufnahme ab, die durch unzählige weitere Belege vermehrt werden könnte, und versuche „flankierend“, wie man heute sagt, eine ganz kurze Summe dessen zu ziehen, was die Geschichtstheorie zur Frage der Position des Historikers in der Öffentlichkeit zu sagen hat. Vorwegzunehmen ist allerdings, daß man sich seitens der Geschichtstheoretiker in der Regel mit anderen Aufgaben befaßt und unser Thema nur am Rande berührt oder auch anderen Disziplinen überläßt. Seit den geschichtslogischen und geschichtsphilosophischen Auseinandersetzungen des endenden 19. Jahrhunderts, spätestens aber seit Max Weber, besteht, abgesehen vom Marxismus, weitgehende Übereinstimmung darüber, daß der Historiker der Öffentlichkeit gerade das nicht bieten kann, was sie nur zu gern von ihm vernehmen würde: er verfügt über keine Gesetze, aus denen sich ableiten ließe, wie die Geschichte bisher hätte verlaufen müssen und wie sie sich künftig abspielen werde. Der Historiker als Historiker weiß nicht, wie es weitergehen wird und wie es weitergehen soll. Er kann als Wissenschaftler keine Rezepte und Anweisungen erteilen, auf welche politische Karte man zu setzen habe. Schon gar nicht ist ihm dies auf dem Weg von Analogieschlüssen möglich. Schon im 19. Jahrhundert hat man manchen falschen Propheten im Gewande des Geschichtskenners entlarvt, von dem es dann hieß, er habe alles Vergangene gewußt, alles Gegenwärtige falsch beurteilt und nichts Kommendes vorausgesehen.11 Gestatten Sie mir, dies durch eine weitere theoretische Überlegung zu ergänzen. Es gibt spezifische Historikererkenntnisse, die für den Wissenschaftler aufregend sein mögen, für die Öffentlichkeit aber schlechterdings unbrauchbar sind. Ein Beispiel: überaus häufig stellt der Historiker aus seiner Distanz fest, daß die Intentionen der geschichtlich Handelnden zu Folgen geführt haben, die von ihren Urhebern nie geahnt wurden, ihnen zum Teil unerwünscht gewesen wären, und manchmal das Gegenteil dessen darstellen, was ursprünglich beabsichtigt war. Was nützt es nun, diese Erkenntnis dem politisch aktiven Zeitgenossen vor Augen zu stellen? Man würde äußerstenfalls den Schwung seines Tuns lähmen; in der Regel wird er mit gutem Grund erwidern, daß er sich durch solche Möglichkeiten in der konsequenten Verfolgung seiner Ziele nicht beirren lasse. Ein aus Übervorsicht passiver homo politicus wäre eine contradictio in adjecto. Daher behält man als Historiker solche Einsichten, deren Vermittlung zwecklos wäre, besser für sich. Zuzugeben ist freilich, daß der Schatz an Empirie, den der Historiker anhäuft, weit über die Erfahrungen hinausgeht, die der Einzelne in seinem kurzen Leben sammeln kann. Insofern vermag der Historiker bestimmte Einsichten, die politisch nützlich sein können, mit höherem Maß an Beglaubigung zu formulieren als andere, beispielsweise die Tatsache, daß es bisher in der Geschichte noch keine Stunde Null gegeben hat, oder daß sich das Leben in der Regel als stärker erweist als die Doktrin. Aber nur in den seltensten Fällen werden Hinweise dieser Art konkrete Entscheidungshilfe leisten. 11

Denkwürdigkeiten des Botschafters General v. Schweinitz, Bd. I, Berlin 1927, S. 28.

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Selbstkritische Erwägungen zur Wirkung des Historikers in der Öffentlichkeit erledigen sich für denjenigen, der annimmt, die Geheimnisse des historischen Prozesses ein für allemal entschlüsselt zu haben und infolgedessen eine unüberbietbare Erkenntnisposition einzunehmen, deren dogmatische Präzisierung er fortan als seine Hauptaufgabe betrachtet. Der Preis, mit dem der Verlust der Offenheit der Geschichte und ihres weithin enigmatischen Charakters bezahlt wird, ist hoch. Er besteht in einer Art Höllenstrafe von Langeweile, wie sie einem aus jeder Veröffentlichung entgegengähnt, bei der man a priori weiß, was ihr Resultat sein muß. Wenn eine Parteilichkeit diesen Zuschnitts vertreten wird, verändert sich auch das Verhältnis des Historikers zur Öffentlichkeit. Er wird zum Funktionär, der ein Soll und gegebenenfalls ein Übersoll im Dienst der „guten“, der „allein richtigen“ Sache zu erfüllen hat. Gegenüber einer Funktionärshistorie, die alle Welträtsel längst gelöst hat, halten wir es, um einen Ausdruck Joachim C. Fests zu verwenden, mit der „produktiven Unsicherheit“. Bevor ich nun Überlegungen anstelle, wie ein Vertreter der Geschichtswissenschaft, der sich nicht einbildet, er „könnte was lehren, die Menschen zu bessern und zu bekehren“, auf seine Weise die Relevanz seines Berufes für die Mitmenschen zu bejahen vermag, liegt mir daran, noch eine Anzahl von Umständen aufzuzählen, die – hic et nunc – die Chancen, aber auch die Grenzen seines Wirkens in der Öffentlichkeit umschreiben.

VII. Mancher Außenstehende mag sich die Dinge auch heute noch folgendermaßen zurechtlegen: Der Hochschullehrer der Geschichte vertritt seine Lehre vor einer mehr oder minder großen Zahl von Hörern, die überwiegend den Schuldienst zu ihrem Beruf machen und dort als Multiplikatoren dessen fungieren, was sie auf der Alma Mater vernommen haben. Wenn dem so wäre, wäre die Öffentlichkeitswirkung des Historikers in der Tat gewaltig. Zur Korrektur solcher Vorstellungen ist zunächst zu sagen, daß auch in einer Demokratie westlicher Prägung laufbahnbewußte Lehrer aller Gattungen sehr genau wissen, was die herrschende Richtung und die von den Massenmedien propagierte Meinung von ihnen erwarten. Nicht die Meinung des Hochschullehrers an sich setzt sich durch, sondern nur diejenige, die mit der erfolgreichen Richtung konform geht und deren historische Stunde geschlagen hat. So dürfte es stets gewesen sein. Ferner sind die Studierenden, von denen sehr viele Geschichte übrigens nur im Nebenfach betreiben, heute hundertfach mehr Beeinflussungen innerhalb und außerhalb der Universität ausgesetzt als dies zuzeiten eines Treitschke der Fall war. Zur indirekten Wirkung des Universitätshistorikers im Schulwesen noch folgendes: Jeder wird aus eigener Erfahrung wissen und sich überdies durch Praktiker bestätigen lassen können, daß sich Geschichte als Fach in der Schule von der Universität abnabelt, daß sie dort einen neuen Stellenwert gewinnt und sich zu einer, verglichen mit der Lehrtradition der

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Hochschule, fast selbständigen Größe entwickelt. Eine Kontrolle durch die Universitätshistorie ist technisch nicht möglich; sie wäre auch m. E. grundsätzlich nicht erwünscht; sie wäre absurd. In der Grauzone zwischen Universität und Schule hat sich eine seit mehr als einem halben Jahrhundert existierende, aber erst in den letzten Jahrzehnten zum Durchbruch gelangte Spezialdisziplin etabliert, die der Geschichtsdidaktiker. Ich erwähne diese Zunft deswegen, weil sie die von mir behauptete Diskrepanz zwischen Geschichte auf der Universität und auf der Schule als Rechtfertigungsgrund für ihre Existenz betrachtet. Zitieren wir einen von den Geschichtsdidaktikern besonders geschätzten Theoretiker, Jörn Rüsen: „Die durch die Geschichtswissenschaft realisierte Rationalität im Umgang mit der Geschichte wird durch die Geschichtswissenschaft selbst gar nicht hinreichend öffentlich präsentiert. Jedermann weiß, daß die Geschichtswissenschaft für ihren Erkenntnisfortschritt und die damit verbundene Spezialisierung und Differenzierung der historischen Forschung und der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung den Preis einer zunehmenden Distanz zur vor- und außerwissenschaftlichen Öffentlichkeit bezahlt und daß diese Distanz durch die Geschichtsschreibung selber gar nicht mehr überbrückt werden kann. Diese Überbrückung muß durch eine eigene wissenschaftliche Anstrengung geleistet werden, und die wird von der Geschichtsdidaktik erbracht.“12 Nun erstrecken sich die außeruniversitären Betätigungs- und Beeinflussungsmöglichkeiten des Historikers selbstverständlich auch über die ihm mittelbar noch erreichbare Schulzone hinaus. Seit Jahrhunderten schreiben Historiker Bücher und seit dem 19. Jahrhundert halten sie zahlreiche öffentliche Vorträge und beteiligen sich am Betrieb historischer Vereine. Große Publikumserfolge, bei bestimmten Gattungen sogar ohne jeden Niveauverlust, sind auch heute möglich, und das gleiche gilt für gekonnte, wissenschaftlich vertretbare Popularisierungen. Zur Bücherbzw. Zeitschriftenpublikation wie zu den Vorträgen ist jedoch zu bemerken, daß die Geschichtswissenschaft an ihrem Publikationszwang nahezu erstickt und daß immer mehr Veröffentlichungen für einen immer kleineren Kreis von Spezialisten geschrieben werden. „To publish or to perish“ heißt es in amerikanischen Fachkreisen: „Schreib, oder geh’ zugrunde.“ Auf keinen Fall darf man von der Zahl der Publikationen auf eine sich in gleichem Maße steigernde Aufnahmebereitschaft der Öffentlichkeit schließen. Ich kann allerdings die Problematik der Überproduktion nur konstatieren; Heilmittel weiß ich keine. Ähnliches gilt für das Überangebot an Vorträgen. Wenn im biedermeierlichen Münster vor 1848 in einem der beiden Geschichtsvereine ein gut gelungener Vortrag gehalten wurde, konnte er zum geistigen Ereignis und Stadtgespräch unter der Gebildetenschicht der Provinzialhauptstadt werden. Heute kann es vorkommen, daß an einem Abend gleichzeitig mehrere historische Vorträge an der Universität, in einem der beiden Vereine, an der Volkshochschule, im Franz-Hitze-Haus stattfinden; vielleicht laufen wiederum zur gleichen Zeit im Fernsehen historische Serien, und dieser oder jener möchte 12

J. Rüsen, Geschichte und Öffentlichkeit, in: Geschichtsdidaktik 3 (1978), S. 107.

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noch einen historischen Beitrag im Feuilleton der einen oder anderen großen Tageszeitung lesen, den er sich vorgemerkt hat. Damit kommen wir zu den Massenmedien, die in der Beeinflussung der Öffentlichkeit die traditionellen Formen längst überholt haben. Man muß es nicht als Flucht nach vorne, sondern als ein Einspringen auf die Realitäten ansehen, wenn nun der Historiker seinerseits daran geht, in diesem Bereich Fuß zu fassen. Die meisten von uns haben sich in solchen Experimenten versucht und ihre Erfahrungen mit Massenmedien gesammelt, die in zunehmendem Maße und auf ihre Weise historische Belehrung vermitteln. Die Frage stellt sich, in welchem Ausmaß der Fachhistoriker sich dort zur Geltung bringen und – seine Unabhängigkeit bewahren kann. Daß überregionale Zeitungen einem Historiker sozusagen zur Verfügung stehen und seinen Veröffentlichungswünschen mehr oder minder unbesehen Rechnung tragen, kommt vor, aber nur sehr selten. Häufiger begegnet man Fachvertretern als privilegierten Rezensenten, und manche der Redaktionen besitzen unter ihren Mitgliedern einen Haushistoriker. Der Rundfunk und das ungeheuer einflußreiche Fernsehen sind sehr komplizierte Gebilde, in ihrer personalpolitischen Struktur so festgelegt und mühsam balanciert, daß der von außen kommende Universitätshistoriker nur in dienender Funktion und als Mitwirkender an Programmen in Erscheinung treten kann, die in der Regel andere entworfen haben. Angewiesen ist man nicht auf ihn. Wie für jeden anderen Sektor des öffentlichen Lebens gilt auch für Presse, Funk und Fernsehen: das Sagen haben die Hauptberuflichen. Gastspiele und Anregungen von außerhalb, in diesem Fall seitens des Universitätshistorikers, sind u. U. erwünscht. Aber die Generallinie, die tragende Konzeption, richtiger gesagt, den Tag für Tag zu bewältigenden Kompromiß zwischen den Ansprüchen der gesellschaftlich relevanten Gruppen bestimmen die Macher des Kommunikationswesens. Wer bei den Managern der Massenmedien führend mitwirken will, muß sich ihrer Sache schon mit Haut und Haaren verschreiben. Und dies zu tun, ist in der Regel nicht nach dem Geschmack des Universitätshistorikers. Mit dieser Aufzählung dürfte der Katalog von regulären Beeinflussungsmöglichkeiten der Öffentlichkeit durch den Historiker zwar nicht erschöpft, aber in den Grundzügen beschrieben sein. Unmittelbare Kontakte mit der Politik durch Denkschriften und ähnliches bleiben Ausnahmefälle. Verfolgt man beispielsweise den Anteil der Historiker und ihrer Argumente von den Reichsreformplänen der zwanziger Jahre bis zu den Gebietsreformen der jüngsten Vergangenheit, so hat man ein Zurücktreten der historischen Gesichtspunkte fast bis zu ihrer Nichtexistenz festzustellen. Selbst da, wo es – selten genug – um spezifische Traditionsfragen in der Politik geht, pflegt man Historiker nicht unbedingt zu konsultieren. Beim Zustandekommen des Traditionserlasses für die Bundeswehr zum Beispiel wie bei seiner faktischen Aufhebung hat die Fachhistorie, soviel ich sehe, kaum eine nennenswerte Rolle gespielt. Man täusche sich nicht über die Tragweite des von führenden Männern der Bundesrepublik der Geschichtswissenschaft bekundeten Interesses oder der Tatsache, daß wir unter den Spitzenpolitikern unseres Staates eine Anzahl von gelernten Historikern antreffen. Ein Einrücken von Historikern in Minister-

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und Diplomatenposten ist schon seit den Zeiten Pfeffels, Spittlers, Johannes von Müllers zu verfolgen. Aber heute wie damals verdanken die Betreffenden ihren Aufstieg weniger ihren Leistungen als Historiker als ihrem politischen Talent Von Fall zu Fall möchten sich die Mächtigen des Historikers wohl bedienen, aber ihm über den verfassungsmäßig garantierten Freiraum in Lehre und Forschung hinaus Einflußmöglichkeiten zu verschaffen, ist man aus gutem Grund wenig geneigt. Und wenn sich der Historiker als solcher als politischer Mahner zu Gehör bringt, ist das Echo meist schwach. Dafür noch ein Beispiel: als General de Gaulle 1962 München einen Besuch abstattete, machte ihm die bayerische Staatsregierung einen Stich zum Geschenk, der den Einzug Napoleons I. 1805 in die Landeshauptstadt darstellt. Daraufhin rief ein in Fachkreisen sehr bekannter Mediävist die Verantwortlichen in einem Leserbrief, der in einer großen Münchener Tageszeitung veröffentlicht wurde, wegen Mangels an nationaler Würde zur Ordnung. Von einer Betroffenheit der bayerischen Staatsregierung war nichts zu bemerken. Aber es unterblieb auch jede Resonanz im Publikum: keine Kontroverse, keine weiteren Leserbriefe pro oder contra. Wer weiß schon noch etwas vom Rheinbund oder von Napoleons Einzug in München, wer macht sich die Mühe, das nachzuschlagen, wer nimmt solche alten Geschichten zum Anlaß für Emotionen? Zeitgeschichtliche Ereignisse, deren Zeugen eine große Zahl noch Mitlebender gewesen sind, stoßen wohl auf Interesse, aber wenn fast alle oder längst alle Miterlebenden ausgestorben sind, wird man heute selten innere Anteilnahme an der Vergangenheit evozieren.

VIII. Desillusionierung ist nicht mit Resignation zu verwechseln. So verhält es sich nicht, als wollte ich das Verhältnis zur Öffentlichkeit als motivierenden Faktor aus dem Leben des Historikers und aus seiner Arbeit am liebsten ausschalten. Gewiß, es gibt zahlreiche, vom Historiker her gesehen, private Beweggründe, Geschichte zu treiben. Für meine Person würde ich auch dann forschende Streifzüge durch die Vergangenheit unternehmen, wenn diese Beschäftigung keinerlei gesellschaftliche Relevanz aufweisen würde. Die Freude am Gegenstand, an einer dem künstlerischen Gestalten ähnlichen Tätigkeit, am schöpferischen Umgang mit Geschichte, würde mir und Gleichgesinnten auf jeden Fall verbleiben. Aber dieser Gesichtspunkt bleibt hier ausgeklammert. Unser Thema spricht von Öffentlichkeit, und einen Gewinn für die Öffentlichkeit darf sich auch der Historiker von seiner Arbeit versprechen, der eine ganze Anzahl von gängigen Berufsrechtfertigungen ins Reich der Illusionen verbannt hat und sich über die Bescheidenheit seines Wirkungskreises klar geworden ist. Nüchterne Bestandsaufnahme wird ihn nur um so besser befähigen, zu erkennen, wie er der Öffentlichkeit dienen kann, und was in dieser Hinsicht zu erreichen ist. Kein Zugang zur Öffentlichkeit, der erfolgversprechend erscheint, sollte auch seitens des Historikers ungenutzt bleiben, der um seine Unabhängigkeit besorgt ist, der es nicht darauf anlegt, seinen Platz als Wellenreiter

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auf der Woge des wechselnden Zeitgeschmacks einzunehmen, der die Geschichtswissenschaft als verstehendes und erklärendes Ernstnehmen der Vergangenheit und nicht als Mittel zum Zweck der Gesellschaftsveränderung oder auch der Gesellschaftskonservierung betreibt. Er muß sich freilich Rechenschaft darüber ablegen, wen er allenfalls erreicht und wieviel bestenfalls von seiner Lehre hängen bleibt, wo tatsächlich Aufnahmebereitschaft für ihn vorhanden ist, wer in der Öffentlichkeit als Gesprächspartner in Frage kommt. Wenn sich der Historiker auf Grund solcher Gewissenserforschung und Ortsbestimmung zurechtgefunden hat, wird es ihm leichter fallen, richtige Maßstäbe für seinen Umgang mit der Öffentlichkeit zu entwickeln und anzuwenden. Diese Maßstäbe betreffen einmal das Wie der Vermittlung. U. a. wird er davon absehen, Dinge an die Öffentlichkeit als aktuell zu verkaufen, bei denen es schlechterdings nichts zu aktualisieren gibt. Nichts Komischeres als ein Historiker, der seinen Gegenstand nicht da beläßt, wo er im geschichtlichen Koordinatensystem hingehört, sondern ihn an den Haaren auf die Bühne der Aktualität zerrt. Demgegenüber ist es nicht zu beanstanden und sogar zu fordern, daß der Fachhistoriker im Umgang mit einer breiten Öffentlichkeit sich einer plausiblen und modernen Sprache bedient. Vor ein nicht fachkundiges Publikum hinzutreten und in einer esoterischen Expertensprache zu reden, ist Arroganz oder Weltfremdheit. Vor allem muß der Historiker der Öffentlichkeit reinen Wein darüber einschenken, was seine Wissenschaft leisten kann und was nicht. Wenn Jürgen Kocka darüber nachdenkt, „was die Geschichte und möglicherweise allein die Geschichte konkret beitragen kann, wenn es darum geht, vernünftige Weisen des menschlichen Zusammenlebens zu entwerfen, zu erarbeiten oder auch zu bewahren . . .“,13 so faßt er offensichtlich Anwendungen geschichtswissenschaftlicher Erkenntnis als möglich ins Auge, mit denen der Historiker als Historiker überfordert wäre. Das kann er nicht leisten. Zunächst schon aus dem einfachen Grund, weil die Geschichtskenntnis der meisten Menschen nicht entfernt ausreicht, um darauf eine haltbare Lebenskonzeption aufzubauen. Und zum anderen wird die Weise des menschlichen Zusammenlebens so sehr durch lebensweltliche Erfahrung, durch Erziehung bzw. deren Fehlen, durch die Notwendigkeiten des Heute und Morgen wie durch Zukunftserwartungen bestimmt, daß für Rückgriffe auf die Geschichte in der Lebenspraxis wenig Zeit und Raum übrigbleibt. Schließlich besteht über die Kriterien vernünftigen Zusammenlebens unter den Menschen keineswegs Einigkeit. Was Kocka der Geschichte zuschreibt, leistet allenfalls eine von ihr transportierte Weltanschauung. So oder so – Geschichtswissenschaft als politische Sozialisation betreiben, läuft am Ende doch nur auf Indoktrinierung hinaus und verlangt vom Historiker überdies Qualitäten, die er meistens gar nicht besitzt. Wie sagt doch Max Weber in seinem Vortrag über Wissenschaft als Beruf so schön und richtig: „Kommilitonen und Kommilitoninnen! Sie kommen mit diesen An13 J. Kocka, Gesellschaftliche Funktion der Geschichtswissenschaft, in: W. Oelmüller (Hg.), Wozu noch Geschichte?, München 1977, S. 21.

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sprüchen an unsere Führerqualitäten in die Vorlesungen zu uns und sagen sich vorher nicht: daß von hundert Professoren mindestens neunundneunzig nicht nur keine Football-Meister des Lebens sind, sondern überhaupt nicht ,Führer‘ in Angelegenheiten der Lebensführung zu sein in Anspruch nehmen und nehmen dürfen. Bedenken Sie: es hängt der Wert des Menschen ja nicht davon ab, ob er Führerqualitäten besitzt. Und jedenfalls sind es nicht die Qualitäten, die jemanden zu einem ausgezeichneten Gelehrten und akademischen Lehrer machen, die ihn zum Führer auf dem Gebiet der praktischen Lebensorientierung oder, spezieller der Politik machen. Es ist der reine Zufall, wenn jemand auch diese Qualität besitzt, und sehr bedenklich ist es, wenn jeder, der auf dem Katheder steht, sich vor die Zumutung gestellt fühlt, sie in Anspruch zu nehmen. Noch bedenklicher, wenn es jedem akademischen Lehrer überlassen bleibt, sich im Hörsaal als Führer aufzuspielen. Denn die, welche sich am meisten dafür halten, sind es oft am wenigsten. Und vor allem: ob sie es sind oder nicht, dafür bietet die Situation auf dem Katheder schlechterdings keine Möglichkeit der Bewährung.“14 Firmenehrlichkeit ist also im Umgang des Historikers mit der Öffentlichkeit in erster Linie zu fordern, Firmenehrlichkeit u. a. auch in der Hinsicht, daß der Historiker zugibt, als Historiker über den Sinn der Geschichte nicht Bescheid zu wissen und nicht in der Lage zu sein, Geschichte zu bewältigen, jedenfalls nicht so, wie man das Wort „Bewältigung der Geschichte“ seit einigen Jahrzehnten versteht. Wenn bewältigen soviel wie rationalen und moralischen Abstand gewinnen heißt, um von der Geschichte nicht mehr bedrückt und geängstigt zu werden, dann ist zwar zuzugeben, daß man die rationale Analyse der Geschichte so weit treiben muß, wie immer und irgend möglich. Es bleibt jedoch immer noch soviel an Irrationalität und Unberechenbarkeit, auch soviel an unerklärlich Furchtbarem im Spiel, daß wohl keiner sich rühmen darf, die Vergangenheit bewältigt zu haben. Bleibt der Historiker ehrlich sich selbst gegenüber, muß er auch zugeben, daß die meisten Menschen eh und je mit einem Minimum an Geschichtskenntnissen ausgekommen sind und das Leben trotzdem recht und schlecht bestanden haben; ob sie es mit etwas mehr Wissen über Geschichte besser bestünden, wage ich zu bezweifeln. Umgekehrt bedarf der Historiker, namentlich der Neuhistoriker, durchaus der Inspiration durch die Gegenwart, denn sein gestaltendes Verhältnis zur Geschichte ist jeweils zeitgebunden, und je mehr er sich bemüht, mit seiner Zeit auf vertrautem Fuß zu stehen, um so mehr wird ihm das für einen zeitgemäßen Umgang mit der Geschichte zugute kommen. Der Historiker ist mindestens im gleichen Maße der Gegenwart bedürftig wie diese seiner. Die Maßstäbe, die es im Umgang mit der Öffentlichkeit zu finden gilt, beziehen sich nicht nur auf das „Wie“ der Vermittlung, sondern auch auf didaktische Zielvorstellungen. Ohne damit einen ganz unangebrachten und von mir nie vertretenen 14 M. Weber, Wissenschaft als Beruf, in: derselbe, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. J. Winckelmann, Tübingen 31968, S. 606.

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Gegensatz zum Politischen provozieren zu wollen, scheint uns für die Öffentlichkeit mehr herauszuspringen, wenn man die Historikeraufgabe als Bildungsaufgabe im Sinne des Formens an der inneren Gestalt des Menschen und seines historischen Bewußtseins statt als weltverbessernden, emanzipatorischen Aktivismus auffaßt. Emanzipation muß ja einmal auslaufen und zu einem Abschluß kommen, aber Bildung ist eine Aufgabe, die sich mit jedem neuen Leben neu stellt. Historische Bildung setzt auf jeden Fall solide Wissensvermittlung und methodische Schulung voraus. Auf einer höheren Ebene sollte historische Bildung dann, statt der Frage nachzugehen „was sollen wir tun?“ versuchen, zur Beantwortung einer anderen Frage beizutragen „was bin ich und wer sind wir?“ Der Alltag erlaubt dem Menschen meist kein weites Ausgreifen. Hier ist der Geschichtswissenschaft die Aufgabe der Erfahrungs- und Horizonterweiterung gestellt. Wenn man den Historiker trotz der auch bei ihm erforderlichen Fachausbildung und Spezialisierung mit gutem Grund einen professionellen Dilettanten genannt hat, so liegt in dieser Eigenschaft auch die Chance, eine Anti-Position zum Fachidiotentum zu beziehen und auf dem Boden seiner Wissenschaft eine Begegnung und Interaktion der verschiedensten Lebensbereiche herbeizuführen. Durch das Medium der Geschichte werden die Erfahrungen unseres Privatlebens auf ein Niveau mit größerem Ausblick gehoben, und die Generalisierung unserer Wahrnehmungen, nach der es uns verlangt, erhält erst dann ihre volle Sanktionierung, wenn sie auch historisch fundiert ist. Goethe meint es als Forderung an den Gebildeten, nicht an jedermann, wenn er sagt: „Wer nicht von dreitausend Jahren sich weiß Rechenschaft zu geben, bleibt im Dunkel, unerfahren, muß von Tag zu Tag leben.“ Rechenschaft heißt selbstverständlich nicht nur Kenntnisse anhäufen, sondern auch Zusammenhänge feststellen und anthropologischen Gewinn aus dem Umgang mit der Vergangenheit ziehen. Anthropologischer Gewinn ergibt sich, wenn man staunt über das Bewunderungswürdige und Großartige an der Geschichte, wenn man andererseits lernt mit ihren banalen wie ihren grausamen und entsetzlichen Seiten zu leben und wenn man sich schließlich mit ihrer schlechthinnigen Unberechenbarkeit auf eine würdige Weise abfindet. Erst über die Geschichte finden wir voll zu unserer Identität. Erst im Umgang mit der Überlieferung und ihren Institutionen gelangen wir zur Entfaltung unserer Gaben und Möglichkeiten. Was für Exemplare demgegenüber aus einer Gesinnung hervorgehen, die sich auf die „große Weigerung“ gegenüber der Tradition kapriziert hat, müßte jeder nicht völlig Weltfremde längst erkannt haben. Einer Öffentlichkeit, die sich ihrer Identität gewisser und sicherer wäre, als es derzeit bei uns der Fall ist, wäre schon Gutes erwiesen, wenn man sie im Sinne solcher Erkenntnisse unterrichten und aufklären würde. Um es auf einen Nenner zu bringen: Die gesellschaftliche Relevanz der Tätigkeit des Historikers wie aller Vertreter der Geisteswissenschaften besteht darin, das Gegenteil von dem zu tun, was der kleine Moritz für gesellschaftlich relevant hält. Ich scheue mich nicht, unter solchen Aspekten der Öffentlichkeitsarbeit des Historikers den Ausdruck „Lebensqualität“ in den Mund zu nehmen. Man stelle sich nur einen Augenblick vor, wie armselig unsere Welt ohne historische Bezüge wäre.

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In dieser Hinsicht Verluste zu verhüten, Reichtümer zu bewahren und neue Schätze zu erschließen, Geschichte als menschheitlichen Besitz aufzufassen und menschlichen Besitzstand zu erhalten und zu hegen – wenn es dem Historiker gelingt, solche Dienste zu leisten, hat er sich um die Öffentlichkeit ein Verdienst erworben. Wenn nun der Historiker, der weder Guru noch Animateur sein will, der die Gloriole des großen Emanzipators verschmäht und es sich versagt, als Agent des Weltgeistes zu figurieren, seine Chancen selbstkritisch mustert, hat er wohl auch das Recht, seinem Publikum zu sagen, daß kein Nürnberger Trichter zur Hand ist, mit dem man die Teilhabe an der Geschichte leicht vermitteln könnte. Historische Bildung erfordert beträchtliche Anstrengungen; auf billige Weise kann man sie nicht erwerben. Geschichtswissenschaft im strengeren Sinn läßt sich vom Publikum nicht analog zur schönen Literatur konsumieren. Abhandlungen über Periodisierungsprobleme oder eine Erörterung über die Frage, ob Gegenreformation als Modernisierungsphänomen zu verstehen sei, erfordern, ganz abgesehen von der Beherrschung theoretischer Prämissen und der Terminologie Wissensvoraussetzungen, die bei Nichtexperten schwerlich vorhanden sein können. Die Öffentlichkeit hat allerdings ein Anrecht darauf, daß mehr oder minder gesicherte Ergebnisse aus dem Laboratorium der Spezialisten ihr auf die eine oder andere Weise verständlich gemacht werden. Dazu ist indessen nicht jeder Fachmann in der Lage. Man darf den Historiker nicht überfordern und kann vom Geschichtswissenschaftler nicht generell verlangen, daß er auch als literarisches Talent, als Meister der Geschichtsschreibung seinen Mann stellt. Das kann der Fall sein, aber dann ist es eher ein Glücksfall als eine durch systematische Ausbildung zu erreichende Fähigkeit. Um so dankbarer sollte der Historiker dafür sein, daß es sehr begabte, nicht unmittelbar zur Zunft zählende Schriftsteller gibt, die jene Lücken ausfüllen, die auf Grund einer kaum zu vermeidenden und keineswegs schuldhaften Entwicklung des akademischen Betriebs entstanden sind. Der Historiker sollte solche Männer als Bundesgenossen willkommen heißen und sich ihren Anregungen und ihrer Kritik stellen. Historiker und Öffentlichkeit, Fachmann und Laie – das Verhältnis beider ist schwierig und läßt sich nicht auf eine Formel bringen. Es gibt Fälle, in denen der Historiker sich um seines wissenschaftlichen Seelenheils willen der Öffentlichkeit versagen, es gibt Fälle, in denen er das Gegenteil davon tun muß. Auf jeden Fall sind und bleiben Historiker und Öffentlichkeit aufeinander angewiesen.

Kunst und Öffentlichkeit – Beiträge aus Westfalens Vergangenheit Seit mehreren Jahren ist eine zunehmende Bereitschaft der Öffentlichkeit festzustellen, sich in denkmalpflegerischen und künstlerischen Angelegenheiten zu engagieren, ein Trend, der sich in vielfältiger Form von Vereinsaktivitäten bis zu Bürgerinitiativen äußert und in den Massenkommunikationsmitteln ein lebhaftes Echo findet. Das europäische Denkmalschutzjahr 1975 hat offenbar erheblich zu der Erkenntnis beigetragen, daß Lebensqualität nicht zuletzt von der Ausbildung unseres ästhetischen Sinnes und unserer Fähigkeit abhängt, für das Schöne einzutreten. Weit mehr Menschen als früher sehen ein, daß der Reichtum unseres Daseins durch die Erhaltung unserer kulturellen Substanz auch und gerade in Dingen der Kunst bedingt ist. Eine Mentalität, die sich solchen Gesichtspunkten erschließt, steht und fällt freilich mit dem Vorhandensein eines gewissen Maßes an Bildung und Wohlstand. Rückfall in Unbildung und materielle Not würden die zur Zeit erreichte Sensibilisierung in Fragen der Kunst umgehend reduzieren, wenn nicht einschlafen lassen. Für den Historiker stellt sich die reizvolle, aber schwierige Aufgabe, zu untersuchen, seit wann das Interesse einer breiteren Öffentlichkeit in Kunstfragen feststellbar wird. In einem Vortrag über den kulturgeschichtlichen Ort der Heimatbewegung1 hat der Vf. zu zeigen versucht, daß innerhalb einer Bewegung, die sich zwar über die Jahrzehnte in vielem verändert, als Ganzes aber bis zum heutigen Tag erhalten hat, wichtige Gegenstände umweltschützerischer, kulturerhaltender und kunstpolitischer Natur in einem Prozeß demokratischer Willensbildung thematisiert wurden. Seine Ausführungen konnten nur einen Aspekt unter zahlreichen anderen wahrnehmen, und erschöpfende Antwort auf die Frage nach den Ursprüngen eines organisierten und manifesten Verhältnisses von Kunst und Öffentlichkeit läßt sich bis auf weiteres gewiß noch nicht geben2. Beispielsweise wäre erst noch zusammenfassend zu untersuchen, unter welchen Impulsen die europäischen Kunstvereine zustandegekommen sind, oder wie das Kunstausstellungswesen die öffentliche Diskussion angeregt hat und umgekehrt. Wenn im folgenden dem Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit im Raum und in der Ära der preußischen Provinz Westfalen nachgegangen wird, so bedeutet dies 1 Vgl. H. Gollwitzer, Der kulturgeschichtliche Ort der Heimatbewegung gestern und heute, in: Westfälische Forschungen 27, Münster 1975, S. 12 – 21; in diesem Band S. 325 – 337. 2 Wegen lokalen Bezugs zu Münster und Westfalen sei erwähnt, daß dieses Thema schon Gegenstand einer Kaisergeburtstagsrede des damaligen Münsterschen Rektors gewesen ist: Hermann Ehrenberg, Staat und Kunst, Münster 1918.

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einen Versuch, das fast unermeßliche Thema unter einer anderen, und zwar landesgeschichtlichen Perspektive in Angriff zu nehmen. Vorweg ein paar Worte zu dem Geltungsbereich, den wir in diesem Zusammenhang dem Begriff Öffentlichkeit zumessen. Öffentlichkeit wird in Kunstfragen bis zur Gegenwart vorwiegend durch die Gebildeten hergestellt. Ihre Zahl ist im 19. Jahrhundert einschließlich der Epoche der beiden Weltkriege weitaus geringer gewesen als heute, wenn wir den Besuch höherer Schulen oder der Universität als statistisch überprüfbares, im übrigen sicher in vieler Hinsicht anfechtbares Substrat zugrunde legen. Auch der damit aufgebotene Personenkreis war (und ist) in Dingen der Kunst zu einem erheblichen Teil wenig ansprechbar. Soweit sich jedoch die Zeitgenossen überhaupt zu einschlägigen Themen äußerten und Partei ergriffen, gehörten sie fast ausnahmslos, sehen wir einmal von vielen Künstlern ab, zur Schicht der Gebildeten3, die groß genug war, um literarische, künstlerische, ideologische und politische Gruppierungen hervorzubringen und manchmal Initiativen zu entfalten, die diese vier Kennzeichnungen gleichzeitig in Anspruch nehmen durften. Je intensiver Gruppen von Gebildeten, die nicht zu den ausübenden Künstlern zählten, sich Kunstfragen zuwandten, um so mehr reicherten sie ihren Gegenstand durch nicht unmittelbar kunstbezogene philosophische und weltanschauliche Überlegungen an. Sie brachten auf diese Weise Legierungen von künstlerischen und außerkünstlerischen Elementen zustande, die als problematische Gebilde in die Bewußtseinsgeschichte der Öffentlichkeit eingegangen sind4.

I. Westfalen im Sog der „gotischen Bewegung“ Im 18. Jahrhundert in England bereits ein vielerörtertes Phänomen, auf dem Kontinent damals nur punktuell in Erscheinung tretend, hat die Neogotik im 19. Jahrhundert in ganz Europa und darüber hinaus ein umfangreiches Terrain erobert5. 3 Einzelne wohlhabende Angehörige des gewerblichen Mittelstandes, insbesondere Kaufleute, traten, wie anderswo, so auch in Westfalen zu dieser Gruppe hinzu. Der Kunsthistoriker W. Lübke berichtet, daß er während seiner Forschungen zu dem Werk „Kunst des Mittelalters in Westfalen“ (1853) von dem Kaufmann Schulte, Schwager des Historikers Junkmann und Vater des Historikers Aloys Schulte, wochenlang nicht nur gastlich aufgenommen wurde, sondern daß dieser, der „einen warmen Sinn für alles Schöne und Hohe hatte“, auch „mit herzlicher Teilnahme den Ergebnissen meiner Wanderungen Aug’ und Ohr schenkte“ (W. Lübke, Lebenserinnerungen, Berlin 1891, S. 167). In München hat der Hofbäckermeister Seidl, Vater der Architekten Gabriel und Emanuel von Seidl, Kunstreisen unternommen und bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts Renaissancegegenstände gesammelt. Auf die künstlerische Richtung seiner beiden Architektensöhne ist dies gewiß nicht ohne Einfluß geblieben (vgl. H. Boessl, G. v. Seidl, München 1966, S. 18). 4 Vgl. H. Gollwitzer, Zum Fragenkreis Architekturhistorismus und politische Ideologie, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 42, München 1979, S. 1 – 14. 5 Vgl. als jüngste Veröffentlichungen P. Frankl, The Gothic. Literary Sources and Interpretations through Eight Centuries, Princeton – New York 1960 und G. Germann, Neogotik. Geschichte ihrer Architekturtheorie, Stuttgart 1974. Beginnend mit Charles L. Eastlake, A

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Insbesondere in die Mitte des 19. Jahrhunderts fallen Bestrebungen von neugotisch orientierten Architekten, Gelehrten und Kunstpublizisten, Staatsgrenzen übergreifende Kontakte herzustellen und durch Herausgabe von Fachzeitschriften wie durch Beeinflussung der Tagespresse ein breites Publikum für ihre Sache zu gewinnen. Aus dem Kreise der „Gotiker“ selbst stammt die Bezeichnung „gotische Bewegung“6 für eine internationale Kampagne, der es keineswegs nur um Denkmalpflege und Restauration ging, sondern um nichts Geringeres als die Dominanz eines erneuerten gotischen Stils bei allen künstlerischen und namentlich baulichen Aufgaben, die das Zeitalter stellte. In Deutschland überragt als unermüdlicher Vorkämpfer für eine Kunsterneuerung aus „christlich-germanischem“ Geist der Jurist und spätere Zentrumspolitiker August Reichensperger alle seine Gesinnungsgenossen. Er hat in seinem langen Leben eine erstaunliche publizistische und organisatorische Leistung vollbracht und als Parlamentarier, als Schriftsteller, Forscher und Polemiker, als Herausgeber und Übersetzer, als Kunsterzieher und Kunstpolitiker versucht, die Öffentlichkeit für seine Vorstellungen zu gewinnen. Den Kölner Dombauverein kann man mit Einschränkungen als seine kunstpolitische Hausmacht bezeichnen7. Das „Domblatt“ und das „Organ für christliche Kunst“ dienten ihm als Forum, doch hat er auch häufig in der „Germania“, der protestantisch-konservativen „Kreuzzeitung“ und in anderen Organen bis hin zu den „Bayreuther Blättern“ zur Feder gegriffen. Leider fehlt uns eine nach modernen Gesichtspunkten vorgehende, Reichensperger als Motor einer kunstpolitischen Bewegung würdigende Monographie, die aber ihrerseits auf der sehr materialreichen und stets um Reflexion bemühten zweibändigen Reichensperger-Biographie von Ludwig Pastor aufzubauen hätte. Pastor hat es verstanden, das europäische Panorama der religiös inspirierten Sektion der „gotischen Bewegung“ auszuleuchten. Persönlichkeiten wie Adolphe N. Didron und Graf Charles de Montalembert in Frankreich, A. W. Pugin und Beresford Hope in England, J. A. Thijm in Holland und zahlreiche andere Gestalten aus Belgien und den Niederlanden hat er so in ihrer vaterländischen Wirksamkeit wie in ihren internationalen Beziehungen hervortreten lassen. Diese Persönlichkeiten repräsentieren allerdings schon ein relativ spätes Stadium und überdies innerhalb des europäischen Gotizismus, wie gesagt, nur einen Sektor, der von sehr entschieden römisch-katholischer, anglikanisch-hochkirchlicher und gelegentlich auch protestantisch-orthodoxer Geistigkeit getragen wurde. Daß sich mit der kirchlich-religiösen häufig eine politisch-konservative und restauHistory of the Gothic Revival, London 1872, ließe sich bereits eine Wissenschaftsgeschichte der Erforschung und Bewertung der Neugotik schreiben. 6 Eine offenbar von A. Reichensperger formulierte Wendung, die sich nicht allgemein durchsetzen konnte. Vgl. L. Pastor, August Reichensperger 1808 – 1895 I, Freiburg i. Br. 1899, S. 578: Am 20. VI. 1866 trägt Reichensperger in sein Tagebuch ein: „Wird die begonnene Weltkatastrophe die ,christlich-germanischen‘ Tendenzen zum Siege führen oder ihnen für immer den Garaus machen, so daß die gotische Bewegung nur das letzte Aufflammen des alten Geistes war und ein allgemeines Nivellement sich einstellt?“ 7 Vgl. die einschlägigen Beiträge im Sammelband „Der Kölner Dom. Festschrift zur 700-Jahrfeier 1248 – 1948“, Köln 1948 und im Kölner Domblatt 1948 ff.

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rative Richtung der Gotizisten des 19. Jahrhunderts verband, darf als bekannt vorausgesetzt werden. In ihren englischen Ursprüngen ist die Neugotik jedoch eher das Gegenteil vom künstlerischen Ausdruck konservativer Gesinnung gewesen8, und bis tief in das 19. Jahrhundert wurde sie auf dem Kontinent auch von einer liberalen Romantik getragen. So hat in Frankreich der Dichter und demokratische Pazifist Victor Hugo, einer der Väter der Denkmalschutzbewegung seines Landes, die gotischen Dome durch seinen Roman „Notre-Dame de Paris“ populär gemacht wie kein Zweiter, und der bedeutende Architekt, Restaurator und Kunstgelehrte Viollet-le-Duc entwickelte die Konzeption einer nationalen und rationalen Gotik, die ihm als kostbares Erbe einer in der Intention bereits laizistischen Geistesverfassung seiner Nation im Mittelalter erschien. Auch im vormärzlichen Deutschland und noch 18489 sind in Mitteleuropa liberale Gotiker keine Seltenheit, aber das Übergewicht lag – je länger, je mehr – bei den konfessionell-konservativ orientierten Befürwortern der Gotik. Die Gegner der Neugotiker haben deren Selbstidentifikation mit klerikal-konservativer Gesinnung schließlich als erwiesen angesehen und gegen die als gegeben angenommene Verbindung polemisiert. Reichensperger und seine Anhänger gedachten, die sogenannte christliche (gemeint war neogotische) Kunst „zur Volkssache“ zu machen10. Dieses Ziel wurde im erstrebten Umfang nie erreicht, und selbst da, wo man Erfolge erzielte, gelang es nicht auf den ersten Anhieb. So hat es auch in Westfalen rund ein Jahrzehnt bis nach der Gründung des Kölner Dombauvereins gedauert, ehe sich die „gotische Bewegung“ im kirchlichen Raum ausbreiten konnte. Zweigvereine des Kölner Dombauvereins hatten sich seit 1842 auch in Münster und anderen Städten Westfalens gebildet, doch dürfte sich der anscheinend sehr offiziös strukturierte münstersche Verein, geleitet von dem Landrat Graf Schmiesing und dem Oberbürgermeister von Münstermann, im wesentlichen auf die Ablieferung von Spenden an den Kölner Zentralverein beschränkt haben. Von dem münsterschen Verein, der in seinen ersten Jahren um dreihundert Mitglieder zählte, sind kunstpolitische Bestrebungen, wie sie Reichensperger mit dem Kölner Dombauverein verband, ganz offensichtlich nicht ausgegangen, von den anderen westfälischen Vereinen ganz zu schweigen. Th. Nipperdey hat in einem Aufsatz „Kirche und Nationaldenkmal. Der Kölner Dom in den vierziger Jahren“11 gezeigt, welche vielfältigen geistigen Strömungen 8 Vgl. F. W. Carové, Der Dom von Köln, in: Didaskalia, Frankfurt / M. 1842, Nr. 78, Sp. 4 – 6 und Nr. 79, Sp. 5 f. und J. Venedey, Der Dom zu Köln, Bellevue bei Konstanz 1842. 9 Vgl. B. I. Polasek, Johann Georg Müller. Ein Schweizer Architekt, Dichter und Maler 1822 – 1849, in: 97. Neujahrsblatt, Hg. Historischer Verein des Kantons St. Gallen 1957. 10 A. M. von Steinle, Edward von Steinle und August Reichensperger in ihren gemeinsamen Bestrebungen für die christliche Kunst aus ihren Briefen geschildert, Köln 1890, S. 1. 11 Vgl. Th. Nipperdey, Kirche und Nationaldenkmal. Der Kölner Dom in den vierziger Jahren, in: Staat und Gesellschaft im politischen Wandel (Festschrift Walter Bußmann), Hg. W. Pöls, Stuttgart 1979, S. 175 – 202.

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im Kölner Dombauverein und den ihm verwandten Bestrebungen neben der kirchlich-katholischen Tendenz Platz hatten. Es ist daher nicht zu verwundern, daß die Dombaubewegung anfänglich in Kreisen eines traditionellen Katholizismus neben Zustimmung auch Bedenken hervorrief. Aus der Feder der dichterischen Repräsentantin des bodenständig-westfälischen Katholizismus, Annette von Droste-Hülshoff, stammt ein zeitkritisches Gedicht „Die Stadt und der Dom. Eine Karikatur des Heiligsten“12, das solche Vorbehalte artikuliert. Was die Dichterin über den Wiederaufbau des durch Brand zerstörten Hamburg („Die Stadt“) vorbrachte, kann hier außer Betracht bleiben. Um so mehr gehört in unseren Zusammenhang, was sie den Aktivitäten um den Dombau entgegenhielt13. Gegen den Wiederaufbau des Domes hatte sie zwar nichts einzuwenden, und sie hat ihrem Freunde L. Schücking, der sich in der Schrift „Der Dom zu Köln und seine Vollendung“14 begeistert für die große Sache einsetzte, sogar eine Ballade zur Verfügung gestellt, die er als literarischen Dombaustein seinen Ausführungen einverleibte. Andererseits rechnete die Droste in scharfen Worten mit denjenigen liberalen Schriftstellern ab, voran dem Literaten Friedrich Notter, die „einst den Himmel angebellt“ und sich nun aus ihr dubiosen und verdächtigen Motiven für den Kölner Dom enthusiasmierten; es fehlte auch nicht an Warnungen vor nationalem Größenwahn. Annettes Polemik ruhte wohl auf einer tieferen Schicht, deren Vorhandensein freilich eher zwischen den Zeilen zu erschließen ist. Die Dichterin war ohne Zweifel vom Unbehagen über das Phänomen moderner Propaganda gepackt, das im Falle des Kölner Doms nicht nur von liberalen Nationalisten, sondern auch von den Männern eines politischen Katholizismus in den Dienst ihres Vorhabens gestellt wurde. So nüchtern Annette von Droste-Hülshoff ihre Zugehörigkeit zu einem adelig-ländlichen Lebenskreis beurteilte, so wenig sie diesen überschätzte oder gar glorifizierte, so bedrohlich erschien ihrer Sensibilität das Heraufkommen einer Massenpropaganda, ohne die man sich die Moderne des 19. und 20. Jahrhunderts zwar nicht mehr vorstellen kann, die aber einer in Haus Hülshoff und dem Rüschhaus, im vormärzlichen Münster und auf der Meersburg „georteten“, mit tausend Fäden dem landadeligen Herkommen verbundenen Dichterexistenz ankündigte, was die Stunde geschlagen hatte. In der Kernzone ist ihr leidenschaftlicher Ausbruch in „Die Stadt und der Dom“ religiös geprägt. Sie haßte den ideologischen Rummel, der von sehr verschiedenen Gruppen veranstaltet wurde. Religion gegen Ideologie – auf diesen Nenner läßt sich der Stimmungsgehalt ihres Gedichts bringen. Die Frage, wie es um das Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit im westfälischen Biedermeier stand, wird weitgehend durch Harald Seilers Arbeit „Die An12 A. von Droste-Hülshoff, Sämtliche Werke in 2 Bänden nach dem Text der Originaldrukke und der Handschriften hg. von G. Weydt und W. Woesler, München 1973, S. 9 – 12. 13 Vgl. J. Nettesheim, Die Droste und der Kölner Dombau, in: Jahrbuch der Drostegesellschaft II, Münster 1950, S. 120 – 131 u. Cl. Heselhaus, Die Zeitbilder der Droste, in: ebenda IV, Münster 1962, S. 95 ff. Neuerdings B. Kortländer, Annette von Droste-Hülshoff und die deutsche Literatur. Kenntnis, Beurteilung, Beeinflussung, Münster 1979. 14 L. Schücking, Der Dom zu Köln und seine Vollendung, Köln 1842.

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fänge der Kunstpflege in Westfalen“15 beantwortet, die mehr enthält, als der Obertitel vermuten läßt. Seiler gelangte angesichts des Forschungsstandes der dreißiger Jahre zu einer sehr treffsicheren geistes- und sozialgeschichtlichen Beurteilung der westfälischen Biedermeierzeit. Im vormärzlichen Vereinswesen hat er einen der wichtigsten Zugänge zu ihrem Begriff von Öffentlichkeit erkannt und dargestellt. Auch das Kunstinteresse der Provinz entfaltete sich im Rahmen von Vereinen, erst – noch mit sehr bescheidenem Stellenwert und von historisch-archäologischen Bestrebungen überlagert – innerhalb des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens16, bald darauf aber schon ganz eigenständig im Westfälischen Kunstverein von 183117. Seiler hat die Geschichte dieses Vereins bis in die zweite Jahrhunderthälfte und seine Sonderstellung innerhalb der deutschen Kunstvereinsbewegung ausführlich beschrieben. Im Hinblick auf die „gotische Bewegung“ kirchlicher Orientierung seien nur zwei Gesichtspunkte herausgestellt. Kunstverein wie Altertumsverein und Historischer Verein zu Münster erwiesen sich im Vormärz als charakteristisch biedermeierliche Zusammenschlüsse, staatsloyal durch und durch und andererseits von der Regierung in Berlin und den ihr nachgeordneten Behörden in Westfalen begünstigt und gefördert, Vereine, in denen, selbstverständlich fast ausschließlich auf die Bildungsschicht beschränkt, das einheimische und das preußische (Beamten- und Militär-)Element zusammenwirkten. Die Aktivitäten des Kunstvereins zerfielen in eine kunsthistorische Tendenz (Begründung eines Museums und Anlegung von Sammlungen) und Bestrebungen zur Förderung zeitgenössischer Kunst einschließlich pädagogischer Bemühungen (Errichtung einer Abgußsammlung und einer höheren Zeichenschule). Der Kunstgeschmack der den Verein in seinen ersten Jahrzehnten tragenden Generation läßt sich, dem pluralistischen 19. Jahrhundert entsprechend, nicht auf einen Nenner bringen. Noch war die Position der klassizistischen Richtung nicht überwunden, andererseits machten sich unverkennbar nazarenische Sympathien bemerkbar, erheblich war das Interesse für die Historienmalerei der Düsseldorfer Schule. Vielleicht kann man als hervorstechenden Zug die Anteilnahme an der heimischen Kunstvergangenheit Westfalens bezeichnen, soweit diese die sogenannte „altdeutsche Kunst“ betraf. Unter diesem Begriff faßte man vornehmlich Werke der Malerei des 15. und 16. Jahrhunderts zusammen. Der im Kunstverein auftretende „altdeutsche“ Enthusiasmus hatte allerdings nur sehr wenig mit dem konfessionell orientierten Gotizismus zu tun, wie er in Münster mit bezeichnender Verspätung erst nach 1848 in Erscheinung trat und 15 H. Seiler, Die Anfänge der Kunstpflege in Westfalen (Beiträge zur Wesensforschung des Biedermeier), 6. Sonderheft der Zeitschrift Westfalen, Münster 1937. Seiler sind die folgenden Angaben über den Kunstverein entnommen. Einem bei Seiler abgedruckten Aktenstück verdanke ich auch die Angabe der Mitgliederzahl des Zweigvereins des westfälischen Dombau-Vereins in Münster. 16 Seiler S. 30 f. 17 Der Westfälische Kunstverein war ein von dem 1829 durch W. Schadow gegründeten Kunstverein für die Rheinlande und Westfalen in Düsseldorf unabhängige Gründung, unterhielt aber zu diesem freundschaftliche Beziehungen.

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eindeutig als Seitentrieb der katholischen Erneuerungsbewegung des 19. Jahrhunderts zu charakterisieren ist. Ein erklärter Gegensatz zwischen dem interkonfessionellen Kunstverein und den Bestrebungen der gotischen Bewegung ist, soviel man sieht, nie aufgetreten; man konnte wohl dem Verein angehören und gleichzeitig mit der in der münsterschen Diözese seit der Jahrhundertmitte dominierenden kirchlich-neogotischen Richtung sympathisieren. Aber diese besaß in der Geistlichkeit und der von ihr stark beeinflußten Bevölkerung eine unvergleichlich breitere Basis als die bildungsbeflissenen Honoratiorenvereine der Provinzialhauptstadt. Mehr als eine Vermutung, für die dem Vf. die Beweise fehlen, ist es nicht, wenn er die Überlegung einfließen läßt, ob nicht die innere Distanz zu der trotz Schinkels gotischen Neigungen vorwiegend klassizistischen Selbstmanifestation des Preußentums als einer politischen und geistigen Größe18 die kulturell und künstlerisch Interessierten des betont katholischen Westfalen auf die gotische Bewegung positiv reagieren ließ, die man im Gegensatz zu dem aufgeklärten Staat der Hohenzollern als „altdeutsch“, „reichisch“ und vorreformatorisch empfand. Für die Gebildeteten und Künstler, die als Wortführer und Gestalter der konfessionellen Neugotik hervortraten, bildete das Potential des westfälischen Katholizismus gleichzeitig Experimentierfeld und Resonanzboden. Die Persönlichkeit, die im Zentrum der neuen Kunstbewegung stand, war der Bischof Johann Georg Müller (1847 – 1870)19. Auf Müllers seelsorgerliches und kirchenpolitisches Wirken kann hier nicht eingegangen werden. Allerdings darf man seine Kunstpolitik nicht isoliert von seinen kirchenpolitischen Überzeugungen sehen. Dem Oberhirten, der die Linie einer libertas ecclesiae im Verständnis des 19. Jahrhunderts vertrat, dürfte die neugotische Richtung der kirchlichen Kunst als eine Komplementärerscheinung zur Emanzipation der katholischen Kirche von staatskirchlicher Bevormundung und als Beschwörung einer größeren und besseren kirchlichen Vergangenheit erschienen sein. Müller hatte in Italien seine kunstgeschichtlichen Kenntnisse vertieft und war vor seiner münsterschen Amtszeit mit zwei kunsthistorischen Spezialstudien hervor18 A. Moeller van den Bruck hat in dem seiner Zeit viel gelesenen Buch „Der preußische Stil“ (Breslau 1931) die Neogotik bezeichnenderweise zugunsten des Klassizismus vollständig übergangen. 19 Der Nachlaß ist nach Auskunft des Diözesanarchivs Münster verlorengegangen. An dieser Stelle möchte ich Herrn Diözesanarchivdirektor Dr. Dietrich Graf Merveldt sowie Herrn Diözesanoberarchivrat Dr. Peter Löffler für vielfache Unterstützung meinen Dank aussprechen. Zu Bischof Georg Müller vgl. H. Schroers, Ein vergessener Führer aus der rheinischen Geistesgeschichte des XIX. Jahrhunderts, J. W. Braun, Bonn und Leipzig 1925, passim; A. Schroer, J. G. Müller, Bischof von Münster (1847 – 1870) und sein kirchenpolitischer Kampf im Jahre 1848, in: Unsere Seelsorge 13, 1962, Nr. 5, S. 8 – 11; Chr. Weber, Aufklärung und Orthodoxie am Mittelrhein 1820 – 1850, München, Paderborn, Berlin 1973. Im Diözesanarchiv befindet sich eine schriftliche Hausarbeit von M. Kux, Johann Georg Müller als Bischof von Münster, 1848 – 1870, 1976. Für die Zwecke des vorliegenden Aufsatzes waren diese Arbeiten allerdings unergiebig. Das Material mußte größerenteils aus zeitgenössischen publizistischen Quellen zusammengetragen werden.

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getreten20. Wie sein Wirken für die „christliche Kunst“ als Zeugnis christlich-germanischer Gesinnung religiös und romantisch-patriotisch zugleich interpretiert wurde, geht aus dem Nekrolog eines anonymen Zeitgenossen im „Organ für christliche Kunst“ deutlich hervor: „Jener Geist, der im zweiten Dezennium unseres Jahrhunderts die deutschen Gaue aufweckte, daß sie die schmählichen Ketten der Fremdherrschaft zerbrachen und mit ihnen zugleich auch die Bande des Indifferentismus abschüttelten, der dann in den freigewordenen Herzen der Deutschen die Quelle alles Guten und Schönen mit dem Mosesstabe von neuem öffnete und so in ihnen der christlich-germanischen Kunst, die er aus ihrem dreihundertjährigen Winterschlafe wachgerufen, eine willkommene Aufnahme, einen fruchtbaren Boden bereitete, – jener Geist ist auch an den jungen Priester Johann Georg herangetreten und hat auch in sein Herz die Keime für herrliche Saaten gelegt und ihm die Weihe gegeben, auf daß er ein Priester der deutschen christlichen Kunst würde und daß sich unter seinen segnenden Händen einst die Wiedergeburt der versunkenen nationalen Kunst vom Herzen Westfalens aus für einen Teil von Deutschland vollzöge“21. Unmittelbar nach den Revolutionsjahren 1848 / 49, die auch kirchlich vieles in Bewegung gebracht hatten, setzte Müllers Aktivität auf dem Gebiet der christlichen Kunst ein. An erster Stelle ist des Bischofs Sorge für die Erhaltung und Erneuerung des münsterschen Doms, der Metropolitankirche des Bistums, zu nennen, verbunden mit einer weit überdurchschnittlichen Initiative für kirchliche Neubauten. Während seiner zweiundzwanzigjährigen Amtszeit wurden in der Diözese unter seiner Leitung und unausgesetzten Anteilnahme dreiundsiebzig Kirchen neu erbaut, und an weiteren neunundsechzig Kirchen wurden umfassende Wiederherstellungsarbeiten, teilweise mit Neubauten gekoppelt, vorgenommen. Unter welchen Gesichtspunkten hat man gebaut? Wir zitieren hier nochmals den anonymen Nekrologisten, dessen Ausführungen für sich selbst sprechen: „All diese Neubauten und Renovationen wurden – und jeder, der nur einen Teil unserer Diözese durchreist, kann sich davon überzeugen – in gesundem Geschmacke und in korrektem Stile ausgeführt. Keine Kosten wurden gescheut, um alles in dauerhaftem Materiale und kunstgerechten, wahrhaft edlen Formen zu vollenden. Wenn A. Reichensperger im Jahre 1854 mit Recht den Rat erteilte, die Neubauten solange als nur immer möglich zu verschieben, bis das Übergangsstadium mehr oder minder überwunden wäre, so glauben wir, daß in unserer Diözese unter Johann Georgs Leitung dieser Fehler der Übereilung in der Regel vermieden wurde, daß aber dort, wo der Neubau unabweisbares Bedürfnis geworden, nach dem dermaligen Stande der Kunst das Mögliche geleistet ist. – Was noch besonders den Stil anbetrifft, worin 20 J. G. Müller, Die bildlichen Darstellungen im Sanctuarium der christlichen Kirchen vom 5.–14. Jahrhundert, Trier 1835 und ders., Versuch einer Erklärung der Bildwerke in dem Gewölbe der Kirche des Hl. Mathias bei Trier (Beigabe zur 1. Lieferung der Baudenkmäler zu Trier und seiner Umgebung von C. W. Schmidt), Trier 1836. 21 Fr. W., Doctor Johann Georg Müller, Bischof von Münster, und seine Verdienste um die Kunst, in: Organ für christliche Kunst 20, Köln 1870, S. 101 f.

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diese Kirchen gebaut wurden, so ist es der Stil des großen 13. Jahrhunderts, der germanische oder gotische Stil, und zwar der ,echte und rechte‘, welchem zumeist, wenn nicht durchgehendst, der Vorrang eingeräumt wurde, . . .“22. Was diesem frommen Baueifer an älterem Kunstgut wie an architektonischer Poesie und Stimmungswerten zum Opfer fiel, kann man nur ahnen23 und läßt wohl auch bei denjenigen, die sich um eine positive Würdigung der Kunst des 19. Jahrhunderts bemühen, kaum reine Freude aufkommen. Unser Gegenstand ist jedoch nicht dies, sondern das Verhältnis von Kunst und Öffentlichkeit. Daß die Behauptung alter katholischer Positionen und auch die Wiedergewinnung verlorenen Terrains auf dem Weg über die architektonische Bekundung kirchlichen Lebenswillens in diesen Zusammenhang gehört, ist wohl nicht zu bezweifeln. Und zu dem unbestreitbaren und schmerzlichen Verlust älterer Kunsttradition ist immerhin zu bemerken, daß die Gemeinden heute die Leistungen von damals längst als traditionell empfinden und sich an die neugotischen Kirchen als Gehäuse ihrer kirchlichen Überlieferung gewöhnt haben. Das Bild der westfälischen Architekturlandschaft ist damals zu einem guten Teil neu geprägt worden. Die „gotische Bewegung“ hatte als westfälisches Phänomen rund zwei Generationen Bestand. Erst in die Ära nach Bischof Müller fällt die Tätigkeit der münsterländischen Gotiker Hilger Hertel d. Ä.24 und Wilhelm Rincklake25. Die Kunstförderung durch den Bischof, der bereits als Trierer Generalvikar systematisch kirchliche Kunstpflege betrieben hatte, erschöpfte sich nicht in der Errichtung von Gotteshäusern. Auf ihn gehen der Bau des Diözesanmuseums am Münsterschen Domplatz und des Priesterseminars zurück. Vor Priesteramtskandidaten hielt Müller in seiner Residenz Privatissima über kirchliche Kunst. Er regte ferner zur Sammlung kirchlicher Kunstaltertümer an, die den Grundstock des Diözesanmuseums26 bildeten. Die Bestände des Museums vermehrte er laut testamentarischer Verfügung durch sein Privatmuseum religiöser Kunstgegenstände. Müller ist es auch gewesen, der die Aufstellung von Werken des münsterschen, in Rom tätigen Bildhauers Theodor Achtermann im Paulus-Dom der westfälischen Metropole veranlaßte27. Intensiv förderte Müller die Kirchenmusik und insbesondere den Kirchengesang. An der Herausgabe des münsterschen Diözesangesangbuches wie früher des trierischen hat er eifrig mitgearbeitet. Das von ihm gegründete Collegium Gregorianum konnte sich allerdings nicht behaupten. Müller war es schließlich Fr. W., S. 103. Vgl. Th. Wieschebrink, Was wir verloren haben. Streiflichter auf die Kunstpflege des 19. Jahrhunderts im Münsterland, in: Westfalen 17, 1932, S. 263 f. 24 Vgl. W. J. Neugebauer, Kirchen und Kapellen im Regierungsbezirk Münster aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (Aachener Diss.), Mondorf 1969, S. 244 sowie die dort angegebene Literatur. 25 Vgl. W. J. Neugebauer S. 251 f. und G. Ribbrock, St. Ludgerus in Billerbeck etc. (Bochumer Magisterarbeit) 1974 sowie die dort angegebene Literatur. 26 Vgl. Sonntagsblatt für katholische Christen, Münster, 21 (1862), S. 122. 27 Vgl. P. I. M. Strunk, Wilhelm Achtermann, Vechta 1931. 22 23

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zu verdanken, daß die reiche und international renommierte Musikbibliothek des Abbate Fortunato Santini in Rom durch Vermittlung des aus Coesfeld stammenden Domvikars Bernhard Quante erworben werden konnte und in den Besitz des bischöflichen Stuhls zu Münster überging28. Von der Persönlichkeit des Bischofs ging eine belebende Wirkung auf das Kunstinteresse in der Diözese wie auf die Entfaltungsmöglichkeiten künstlerischer Berufe, z. B. des Kunsthandwerks, aus. Es war wohl kein Zufall, daß ein vorübergehend in Münster sich aufhaltender Prälat den in der Stadt ansässigen, weithin bekannten Goldschmied J. C. Osthues mit der Anfertigung eines gotischen Ciboriums beauftragte, das Papst Pius IX. zum Geschenk gemacht wurde29. Auch nicht ausgeführte Pläne mögen in diesem Zusammenhang Erwähnung finden. Ein Bericht über die Feier zu Ehren der Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens in der Kathedrale zu Münster 1855 enthält einen Hinweis auf die Errichtung einer Denksäule in Rom zu Ehren des kirchengeschichtlichen Ereignisses vom 8. XII. 1854 und schließt mit einer „bescheidenen Anfrage zum weiteren Nachdenken: Wo wäre wohl in Münster der geeignetste Ort, um auch hier, vielleicht in schöner gotischer Form, eine Denksäule zur Ehre Mariens und der unbefleckten Empfängnis zu errichten?“30 Dazu kam es nicht; die Mariensäule auf dem Marienplatz in Münster fällt in eine spätere Zeit. Anderswo in katholischen Landen hat man jedoch solche Denksäulen in größerer Zahl errichtet, von denen die Mariensäule zu Köln Hervorhebung verdient, die von dem neugotischen Architekten Vinzenz Statz geschaffen31 und in einem feierlichen Akt 1858 durch Kardinal Geissel eingeweiht wurde32. Peter Bloch schreibt in dem Aufsatz „Stilzitate und die Logik der Funktion“: „Einziger Denkmaltyp in gotisierenden Formen waren die zahlreichen Mariensäulen, die im Zuge des Dogmas der unbefleckten Empfängnis Mariens 1854 rundum in den katholischen Landstrichen entstanden und in den preußischen Provinzen angesichts der steten Konflikte zwischen Obrigkeit und Klerus durchaus ultramontane, antipreußische Bedeutung gewinnen konnten“33. Daß diese Mariensäulen der einzige Denkmalstyp in gotisierenden Formen gewesen seien, trifft nicht zu. Auch wird man ihre antipreußische Bedeutung während des relativ guten Einvernehmens zwischen Staat und Kirche in den 1850er und sechziger Jahren nicht ohne weiteres 28 R. Ewerhart, Die bischöfliche Santini-Bibliothek, in: Das schöne Münster NF 35, Münster 1962, S. 17 f. 29 Sonntagsblatt 28 (1869), S. 163. 30 Sonntagsblatt 14 (1855), S. 326. 31 Geissel hatte schon 1854 einen Hymnus auf die unbefleckte Jungfrau gedichtet. Abgedr.: Sonntagsblatt 14 (1855), S. 305 f. 32 Sonntagsblatt 17 (1858), S. 615 – 621. Statz war auch der Architekt des der unbefleckten Empfängnis Mariens geweihten Linzer Domes (Vgl. G. Wacha, Wiener Votivkirche und Linzer Dom, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Linz, 1976, S. 149 – 182.) 33 P. Bloch, Stilzitate und die Logik der Funktion, in: Beiträge zum Problem des Stilhistorismus, Hg. W. Hager und M. Knopp, München 1977, S. 160.

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generalisieren dürfen. Tatsächlich kam es jedoch im Anschluß an die Errichtung der (noch erhaltenen, aber in Form eines Brunnens abgewandelten) Mariensäule zu Paderborn zu einem Konflikt, der die Spannung zwischen der katholischen Bevölkerung und ihren Repräsentanten einerseits und dem preußischen Staatsapparat andererseits selbst in dieser Zeitspanne offenkundig machte34. Es ging auf den Paderborner Bischof Konrad Martin, der an der Dogmatisierung der unbefleckten Empfängnis Mariens zu Rom teilgenommen hatte, zurück, daß auch in Paderborn eine Mariensäule Aufstellung fand. Wenn erst 1860 die Grundsteinlegung erfolgen konnte, so hing dies keineswegs mit einem etwa geringeren Eifer der Paderborner Diözesanen zusammen, aus deren Mitte sich schon 1855 ein Denkmalskomitee gebildet hatte, das schließlich durch einen 1857 konstituierten Marienverein unterstützt wurde. Vielmehr scheint die in streng gouvernementalen Händen befindliche Stadtverwaltung, speziell deren Polizeibehörde, Schwierigkeiten gemacht zu haben, die erst im Laufe von zwei Jahren beseitigt werden konnten. U. a. äußerte die Polizeibehörde Besorgnisse, „daß der Kettenplatz durch das Marienwerk dem öffentlichen Verkehr entzogen würde“. Wenn es in einer Pressenotiz des Denkmalskomitees vom 23. VIII. 1860 als Ziel bezeichnet wurde, „unsere Bischofsstadt durch ein bleibendes Denkmal echt katholischer Gesinnung und unseres Festhaltens an dem Mittelpunkt der katholischen Einheit geziert zu sehen“, so mag man aus dieser Formulierung einen etwas defensiven Unterton heraushören. Am 8. XII. 1861 konnte die Weihe der Säule, deren Anlage von dem Diözesanbaumeister Güldenpfennig stammte, während die Immaculata-Figur der Bildhauer Zumbusch geschaffen hatte, durch Bischof Martin vonstatten gehen. Im Jahre darauf bat das Komitee die Stadtverwaltung zur „Erhöhung des Eindruckes der Mariensäule aus der den Kettenplatz umgebenden Lindenallee vier Bäume wegnehmen“ zu dürfen. Da das Gesuch unbeantwortet blieb, griff man zur Selbsthilfe und glaubte sich im Recht, da der Platz dem Bistum gehörte. Die Bäume der Lindenallee – und hier lag ein Rechtsirrtum des Komitees vor – waren allerdings städtisches Eigentum. Die Stadtverwaltung zeigte die Beteiligten, unter ihnen den Kreisgerichtsrat J. F. Schmidt, einen namhaften Repräsentanten des politischen Katholizismus im Paderborner Land35, umgehend an, und es kam zu einem Verfahren, das vier Instanzen durchlief, da die Staatsanwaltschaft unter allen Umständen eine Verurteilung erreichen wollte und wiederholt in die Revision ging. Die Beschuldigten wurden in allen Instanzen freigesprochen, und der Kreisgerichtsrat Schmidt hat den Vorgang, der nicht nur als Delikatesse für Rechtshistoriker aufgefaßt, sondern auch als kultur- und sozialgeschichtlich aufschlußreicher Sachverhalt verstanden werden sollte, unter dem Titel „Vier Lindenbäume und vier Erkenntnisse“ aktenmäßig zusammengefaßt36. Man ist heute vielleicht geneigt, ein solches Verfahren als Kuriosum, 34 Herrn Studiendirektor Dr. Friedrich G. Hohmann, Paderborn, danke ich für wertvolle Hinweise und Übersendung einschlägigen Materials. 35 Vgl. F. G. Hohmann, Die Soester Konferenzen 1864 – 1866, in: Westfälische Zeitschrift 114, 1964, S. 293 – 342 und H. Rempe, Paderborner Gerichtswesen und Juristen im 19. Jahrhundert, Paderborn 1970, S. 113.

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wenn nicht als Groteske anzusehen. Für die in Mitleidenschaft Gezogenen stand damals jedoch mehr auf dem Spiel. Welcher Geist der Enge, der Kleinlichkeit und Gehässigkeit weithin geherrscht haben mag, läßt sich aus der Publikation Schmidts mit Händen greifen. Jedenfalls ist mit Sicherheit anzunehmen, daß man seitens der Stadt und der Staatsanwaltschaft nicht nur eine Ordnungswidrigkeit ahnden, sondern auch politische Gegner treffen wollte. Die von Schmidt zitierten Schlußworte des Verteidigers bedürfen kaum eines Kommentars: „Wir fürchten nicht, daß wir den Angriffen unserer Gegner erliegen werden, denn wir stehen unter dem Schutz der preußischen Gesetze, und – was noch viel besser ist – unter dem Schutz der heiligen Jungfrau“37. Zur Errichtung der Paderborner Mariensäule hatte sich ein eigener Verein gebildet. Auch in Münster sind nach 1848 vereinsmäßige Zusammenschlüsse zustandegekommen, die das Engagement der Öffentlichkeit in Kunstfragen auf kirchlicher Grundlage auszuweiten vermochten. Bischof Müller war auch in dieser Hinsicht aktiv geworden. Ein „Verein für die Verbreitung religiöser Bilder“ existierte ohne sein Zutun. Dagegen stand der Bischof hinter der Gründung eines christlichen Kunstvereins, der sich schon Ende 1852 in Münster konstituiert und dessen Statuten Müller unter dem 14. II. 1853 bestätigt hatte38. Der Verein bildete einen Zweig des Christlichen Kunstvereins Deutschlands, den Reichensperger ins Leben gerufen hatte und dessen Vereinszeitschrift „Organ für christliche Kunst“ dementsprechend auch als Blatt des münsterschen Vereins galt. Reichensperger stand in freundschaftlichen Beziehungen zu Bischof Johann Georg. Er hielt sich wiederholt in Münster auf und wurde dort in Kunstfragen zu Rate gezogen39. Über die weiteren Geschicke des Vereins war nichts in Erfahrung zu bringen. Es ist anzunehmen, daß er sich nicht recht zu entfalten vermochte. Zwar war er als Diözesanverein gedacht, aber er stand und fiel mit dem Interesse, das man ihm in Münster entgegenbrachte. Keineswegs ist zu vermuten, daß mit dem Christlichen Kunstverein eine Gegengründung zum Münsterschen Kunstverein beabsichtigt war, dessen Beziehungen zum Domkapitel wie zu den anderen Mittelpunkten des münsterschen Katholizismus zumindest korrekt, wenn nicht gut gewesen zu sein scheinen40. Für zwei Kunstvereine war die Basis der Provinzialhauptstadt jedoch zu schmal. Mehr Freude als der Kunstverein dürfte dem Bischof der Akademische Dombauverein gemacht haben. Wie erwähnt, gingen von dem münsterschen Zweigverein 36 J. F. Schmidt, Vier Lindenbäume und vier Erkenntnisse oder die Marienensäule zu Paderborn. Ein Beitrag zur Geschichte der Stadt Paderborn und der Criminal-Rechtspflege in Preußen, aktenmäßig dargestellt von . . . , Paderborn 1864. 37 J. F. Schmidt, S. 79. 38 Sonntagsblatt 12 (1853), S. 202 – 204. 39 Bistumsarchiv Münster Domarchiv V, Domkirche 87b. 40 Dies geht aus den Akten des Domarchivs hervor. Im Jahrgang 27 (1868) des Sonntagsblatts wird der Kunstverein ausdrücklich gelobt, weil er Th. Frhr. von Oers bekanntes Gemälde „Fürstin Gallitzin im Kreise ihrer Freunde“ an seine Mitglieder als Vereinsblatt ausgegeben hatte (S. 770).

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des Kölner Dombauvereins anscheinend keine nennenswerten Impulse aus. Doch existierte seit 1849 in Münster ein akademischer Dombauverein, bestehend aus Studierenden und Hochschullehrern der Akademie, Schößling einer im gleichen Jahr von den katholischen Studierenden der Universität Bonn ausgehenden Bewegung41, der in dem konfessionell damals noch völlig geschlossenen Bereich der Akademie ganz anders gedieh als der ältere Bruder von 1842, obschon auch bei dem jüngeren Verein Zeiten der Flaute nicht ausblieben. Bischof Johann Georg nahm lebhaften Anteil an dem akademischen Dombauverein, über dessen Generalversammlungen wir aus publizistischen Quellen gut unterrichtet sind. Die Vorträge, die dort teils von Studierenden, teils von Hochschullehrern und anderen Theologen gehalten wurden, lagen ausnahmslos auf der Linie der Kunstideologie August Reichenspergers und bekundeten, daß die „gotische Bewegung“ damals in Westfalen geradezu als Spezialsektion der katholischen Erneuerungsbewegung des 19. Jahrhunderts anzusehen war. So hieß es in einer Ansprache des damaligen Subregens und später einflußreichen Generalvikars Dr. Giese 1858: „Wir haben nun, so Gott will, für immer eine Zeit hinter uns liegen, in welcher der verpestende Hauch des Unglaubens, einer falschen Philosophie und religiöser Gleichgültigkeit das frische Leben der katholischen Kirche in allen Gebieten infizierte“. Mit der Zeit der Aufklärung sei ein furchtbarer Niedergang der christlichen Kunst verbunden gewesen, den der Redner plastisch schilderte. Anschließend parallelisierte er die innere Erneuerung der katholischen Kirche durch ihre Selbstbesinnung seit der Absetzung von Erzbischof Clemens August und die Erneuerung der christlichen Kunst seit der Wiederaufnahme des katholischen Dombaus zu Köln: „Wie aber von Köln her die Bewegung ausging in alle Teile unseres Vaterlandes und weit über dessen Grenzen hinaus, so geht auch von allen Seiten her dorthin eine Bewegung zurück. Jenes großartige und wunderbar herrliche Gotteshaus, dessen Bau zu unternehmen eine vergangene Zeit groß genug im Glauben und im kirchlichen Leben war, dessen Bau fortzusetzen und zu vollenden aber spätere Jahrhunderte sich zu matt und kraftlos fühlten, soll nun seiner Vollendung zugeführt werden. Und alle deutschen Stämme, welche den Samen der von Köln her ergangenen Glaubensbewegung empfangen haben, wollen dem Himmel hinan ein Denkmal ihrer Dankbarkeit errichten und den Ausbau ein Wahrzeichen werden lassen, welches kommenden Geschlechtern verkünden soll, von welchen Gesinnungen und Gefühlen die Väter erfüllt waren“42. In den Reden der Studierenden wurden die christlichgermanische Kunst und ihre Erneuerung sowie die katholische Bewegung des Zeitalters ebenfalls stets als zwei Erscheinungsformen ein- und desselben Vorgangs betrachtet43. In stets zunehmendem Maße ist diesen Ansprachen auch die „germanische“ und deutsch-nationale Gesinnung der akademischen Jugend zu entnehmen. Der Kölner Dom wurde als Nationaldenkmal apostrophiert, und ein Theologiestudent aus Ruhrort schloß im Februar 1866 seine Ausführungen mit einem Freilig41 42 43

Kölner Domblatt 5. VII. 1849, 3. III. 1850, 21. VII. 1850. Kölner Domblatt 10. X. 1850. Kölner Domblatt 31. I. 1865.

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rath-Zitat: „Germania ist des Westens Königin / Der Kölner Dom auf ihrem Haupt die Krone“44. Die Philosophische Fakultät der Akademie zu Münster hat Bischof Johann Georg und August Reichensperger 1860 wegen ihrer Verdienste um die christliche Kunst gleichzeitig zu Ehrendoktoren promoviert und sich damit vor der Öffentlichkeit ostentativ zu den Bestrebungen beider Männer bekannt45. Was den münsterschen Oberhirten betrifft, ist uns zwar der Text der Promotionsurkunde nicht überliefert. Da die Promotion aber gleichzeitig mit derjenigen Reichenspergers erfolgte, Reichensperger ausdrücklich wegen seiner Verdienste um die Geschichte der christlichen Kunst und Wiederherstellung hervorragender Baudenkmäler der Vorzeit46 geehrt wurde, Ehrungen für theologische Leistungen dagegen in die Zuständigkeit der anderen Fakultät der Akademie gefallen wären, ist mit Gewißheit anzunehmen, daß beide Männer wegen ihrer Verdienste um Kunsterneuerung im Sinne der Neogotik zu Ehrendoktoren ernannt wurden. In Reichenspergers Dankschreiben an den Dekan heißt es: „Zu besonderer Freude gereicht es mir, die solange außer Acht gelassene Sache der christlichen Kunst von den Repräsentanten der Wissenschaft in besondere Obhut genommen zu sehen. Es liegt hierin die sicherste Bürgschaft für deren Wiederaufblühen und Gedeihen zur Ehre desjenigen, in welchem alles echte Wissen und rechte Können seinen Ausgangs- wie seinen Zielpunkt findet“47. Alles in allem dürfen wir die westfälische kirchliche Kunstpolitik im Zeichen der gotischen Bewegung als eine Manifestation konfessionellen Selbstbehauptungs- und Erneuerungswillens auffassen.

II. Interne Spannungen 1. Konservativer Antipurismus Die konfessionelle Neugotik interpretierte sich selbst als Versuch der Rückgewinnung einer Kunst- und Weltanschauungseinheit, wie man sie in der mittelalterlichen Hochgotik verwirklicht glaubte. Tatsächlich handelte es sich um ein selbstgesetztes Ideal, modern ausgedrückt, um eine positive Utopie, keineswegs um eine faktische Repristination. Der Gotizismus des 19. Jahrhunderts führte ohne Zweifel zu bedeutenden Neuschöpfungen, aber was man als christlichen Historismus auslegte, erwies sich in einem doppelten Sinn als ungeschichtlich. Einmal waren seeKölner Domblatt 28. II. 1866. Unterlagen im Universitätsarchiv Münster. 46 Auch das Dankschreiben des Bischofs vom 26. V. 1860 im Universitätsarchiv gibt keine Auskunft über den Grund der Verleihung der Ehrendoktorwürde. 47 A. Reichensperger an den Dekan der Philosophischen Fakultät 27. V. 1860 (Universitätsarchiv Münster). 44 45

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lische Verfassung und Lebensgefühl der Menschen des 19. Jahrhunderts, auch derjenigen, die der gotischen Bewegung anhingen, von denen der gotischen Bauepoche so weit entfernt, daß alle Anknüpfungs- und Annäherungsversuche akademisch und abstrakt ausfallen mußten, auch wenn man noch soviel wußte und konnte. Jede Gegenwart hat ihre Vergangenheitsdimension, aber sie kann ihre Identität nicht schlechthin in der Vergangenheit finden. Nicht minder ungeschichtlich als der ideologisierte Rückgriff war, daß man die willkürliche Festlegung auf eine vergangene Glaubens- und Kunstepoche mit der Charakterisierung der ihr folgenden als Verfall verband. Hypnotisiert von ihrer Utopie verloren die doktrinären Neugotiker ihre Unbefangenheit gegenüber dem historischen Gesamtprozeß. Ein in der Kirchengeschichte des 19. Jahrhunderts namhafter Westfale, der nachmalige Fürstbischof von Breslau und Kardinal Melchior von Diepenbrock, hat anläßlich der Wiedereröffnung des restaurierten Regensburger Domes als Propst des dortigen Kapitels 1831 eine Predigt unter dem Titel „Der Tempelbau Gottes in der Menschheit“48 gehalten, die als klassisches Dokument einer auf kirchlich-architektonische Purifikation ausgehenden und Restauration geradezu als liturgische Reinigung betreibenden Mentalität gelten darf und als solches vor einigen Jahren von Veit Lörs zutreffend interpretiert worden ist. „Was im Laufe mehrerer Jahrhunderte“, heißt es bei Diepenbrock, „ein verirrter Kunstgeschmack darin verunstaltet, was unverständige Prunksucht und kleinliche Eitelkeit Entstellendes hineingebaut, sollte daraus entfernt, das oft schonungslos Verstümmelte und nachlässig Zerbrochene in ursprünglicher Gestalt wieder ergänzt, vom Anfang her unvollendet Gebliebenes möglichst vollendet, und, soweit die Mittel reichten, die reine Urform, wie sie aus dem Geist des sinnigen Baumeisters hervorgegangen, wiederhergestellt werden. Und so ist es geschehen . . . Reinheit des Stiles und Einheit des Raumes, d. h. Entfernung aller fremdartigen Zutaten am Gebäude, und aller Hindernisse, welche der sichtlichen Verbindung der versammelten Gläubigen unter sich und mit dem Priester und dem Altare im Wege standen, also Reinheit des Kirchenbaues und Einheit der Kirchengemeinde, das ist der lohnende Gewinn dieser vierjährigen Unterbrechung, Reinheit und Einheit, zwei auch im Geistigen höchst bedeutungsvolle Worte“. Ein feinsinniger katholisch-konservativer Münsteraner, der Kreisgerichtsrat und spätere Stadtrat Ludwig Ficker49, Bruder des Historikers Julius Ficker, zählte zu denjenigen, die als Zeitgenossen erkannten, in welchem Maß die in Münster nach der Jahrhundertmitte zur Vorherrschaft gelangte gotische Bewegung an ihrem doktrinären Purismus und ihrem defizitären Verhältnis zur Ganzheit des Geschichtlichen litt. Der wohlhabende, völlig unabhängige Großbürger versteifte sich nicht 48 Zit. nach V. Loers, Die Barockaustattung des Regensburger Domes und seine Restauration unter König Ludwig I. von Bayern (1827 – 1839), in: Der Regensburger Dom. Beiträge zu seiner Geschichte, Hg. Georg Schwaiger, Regensburg 1974, S. 256 f. 49 Vgl. O. Hellinghaus (Hg.), Der Kulturkampf in Münster. Aufzeichnungen des Kreisgerichtsrates a. D. Stadtrates Ludwig Ficker (Quellen und Forschungen zur Geschichte der Stadt Münster), Münster 1928.

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auf einen ideologischen Kunststandpunkt, sondern war zufrieden, mit der konkret vorhandenen, an Geschichtlichkeit überquellenden baulichen Schönheit seiner Vaterstadt Münster auf vertrautem Fuße zu stehen, auch und gerade den Denkmalen aus nachgotischer Zeit. Das aus ebenso intensivem wie liebevollem Umgang mit Kunst hervorgehende ästhetische Urteilsvermögen und Verstehen des Augenmenschen Ficker umfaßte auch das Malerische am Stadtbild und das städtebauliche Ensemble, die heimelige Altertümlichkeit des Elternhauses („altes Haus mit hohem Giebel, langen Gängen, weiten Räumen“50), das bunte Jahrmarkttreiben auf dem Send, das farbenfrohe Gepränge der Brandprozession und bischöflicher Jubiläen. Er liebte die Monumentalfigur des hl. Christophorus im Dom, er wußte die Eleganz des Jesuitenstils, die Kunstwelt Italiens wie die großen niederländischen Meister des 17. Jahrhunderts zu schätzen. Ficker hatte es auf dem Höhepunkt seines öffentlichen Wirkens wie seiner kontemplativen Existenz im katholischen Münster, dem er sich innig verbunden fühlte, mit der durch den Namen des Architekten Hilger Hertel gekennzeichneten Vorherrschaft der Neugotik zu tun. Sie fiel mit dem Kulturkampf und seinen Nachwehen zusammen, die Ficker nicht nur mit seinen Sympathien, sondern auch mit Rat und Tat auf seiten seiner Konfessionsgenossen sahen. Er bewahrte aber auch als Parteigänger der katholischen Sache sein Differenzierungsvermögen. Wie er politischen Übertreibungen im eigenen Lager entgegentrat, so hatte er auch seine Vorbehalte gegenüber der Kunstpolitik führender münsterscher Geistlicher wie des Generalvikars Giese oder des Stadtdechanten Kappen51. Nicht daß er schlechthin ein Gegner der Neugotik gewesen wäre! Aber sie kunstpolitisch zu kanonisieren, kam ihm nicht in den Sinn, und überdies bemerkte er mißfällig die Tendenz gotisierender Puristen zur Ungeschichtlichkeit, Pietätlosigkeit und gewalttätigen Vereinheitlichung. Als der Turm von St. Lamberti in Münster wegen Baufälligkeit abgebrochen werden mußte, setzte sich Ficker dafür ein, den neu zu errichtenden dem alten möglichst ähnlich zu gestalten; es lag ein entsprechender Plan des Paderborner Dom- und Diözesanbaumeisters Güldenpfennig vor52. Aber der Stadtdechant Kappen setzte es durch, daß der Plan Hilger Hertels d. Ä., den Turm des Freiburger Münsters als Vorbild zu nehmen, verwirklicht wurde. Ficker hat diese Entscheidung schmerzlich empfunden. Trotzdem spendete er eine große Summe für den Neubau, stiftete das Mittelfenster und veranlaßte seine Mutter, den Hochaltar zu bezahlen. Unter dem Titel „Erinnerungen eines Münsteraners“ hat Ficker im Münsterschen Anzeiger des Jahres 1882 einen formal und im Ton an Friedrich Wilhelm Webers Epos „Dreizehnlinden“ erinnernden Gedichtzyklus veröffentlicht53, der die politischen ÜberzeuHellinghaus, S. 5. Kappen verfaßte anonym „Erinnerungen aus alter und neuer Zeit von einem alten Münsteraner“, Münster 1880, S. 203 ff. aufschlußreiche Stellungnahmen zur Kunst der Zeit. 52 Hellinghaus, S. 27. 53 Teils im Münsterschen Anzeiger selbst, teils in der Beilage zum Münsterschen Anzeiger vom 18. V. 1882 bis 12. VIII. 1882 in loser Folge veröffentlicht. Herrn Dr. A. W. Hüffer danke ich für die Benutzungserlaubnis des einzigen, noch vorhandenen Exemplars der Zeitung. Teile bei Hellinghaus abgedruckt. 50 51

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gungen eines konservativen Katholiken seiner Zeit geradezu idealtypisch zum Ausdruck brachte. Kunstpolitisch ging er jedoch auch in dieser Veröffentlichung seine eigenen Wege. Er zog einen Trennungsstrich zu dem doktrinären neugotischen Purismus und unterzog die äußerst umstrittene Domrestaurierung durch Hertel und seine Mitarbeiter sowie schon früher eingeschlagene Irrwege einer Kritik, die von seinem überlegenen geschichtlichen Standpunkt zeugt. An die Entfernung einer „Grabesgrotte in dem Schmuck der Bergkristalle“ knüpfte er z. B. folgende Betrachtungen: Fallen mußte es dem Eifer Für des Stiles strenge Reinheit Welcher nur vermag zu fassen In dem Einerlei die Einheit. Welcher kühner stets geworden In dem kühnen Unterfangen Rücksichtsloser voranschreitet Als er anfangs ist gegangen. Der nicht rastet, bis des Stiles Strenge Einheit er gerettet Und vom Niederschlag der Zeiten Alle Wände reingeglättet. Wissend nicht und nicht es fühlend, Daß es ziemt der Kathedrale, Die Jahrhunderte zu spiegeln Gleich des Bistums Ahnensaale. Unsere Zeit auch möge schaffen, – Jede Zeit hat ihre Rechte – Doch sie wähne nicht, zu kennen Ganz allein das wahre Echte. Nicht des grauen Altertumes Formen sind allein zu schätzen Unrecht ist es auch, der jüngern Zeiten Rechte zu verletzen. Wird nicht einst die Stunde schlagen, Wo man für den Stil die Streber Nennen wird der Bilderchronik Unseres Domes Totengräber? Wahrlich, in den weiten Räumen Ist für vieles Platz gegeben, Und es kann dort jed’ Jahrhundert Fort in seinen Formen leben. Alle mögen dort entfalten Eigenartig ihre Schwingen Und uns heilig sein, als Glieder In des Domes Jahresringen54.

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Ficker liefert einen Beweis dafür, daß dem Konservativen, dessen Geschichtsbewußtsein Zeiterscheinungen zu relativieren vermag, mitunter weiter vorausschauende Urteile gelingen als demjenigen, der sich von modischen Strömungen gefangennehmen läßt. Schon ein Vierteljahrhundert vor Ficker hatte der abgedankte Bayernkönig Ludwig I. die kraß vorgehende Purifikation des Münchner Domes in einem Blatt der bayerischen Hauptstadt anonym, aber ebenfalls in gebundener Sprache, mit kritischen Herzensergießungen bedacht: Vier Jahrhunderte lang Bestaunte man Kirche und Türme. Nun ist alles verpfuscht, Alles verdorbner Geschmack. ... Interessanter erscheint als die Alt evangelische Botschaft Neuer Predigt Notiz: „Alles wird ganz gotisiert“55.

2. Der Streit um den „Apostelgang“ 1870 wurde im Dom zu Münster der „Apostelgang“ genannte Lettner abgerissen, eine Maßnahme, der erhebliche Auseinandersetzungen vorangingen und folgten. Der münstersche Lettner war einer der bedeutendsten seiner Art im deutschen Sprachgebiet56. Schon in der Spätgotik hatte man die Lettner in den Stifts-, Kathedral- und Klosterkirchen offenbar als eine gewisse Beeinträchtigung des Gottesdienstes aufgefaßt und daher möglichst durchsichtig gestaltet. Im Verlauf der Neuzeit kam es zum Abbruch der meisten Lettner in Europa (ausgenommen Spanien). Eastlake berichtet in seiner „History of the Gothic Revival“ von einer gegen die „rood screens“ gerichteten Bewegung in England57. Hinter dieser Tendenz steckte zweierlei: einmal eine an den Bedürfnissen der Kirchengemeinde ausgerichtete Auffassung des Gottesdienstes, an dem die Gläubigen uneingeschränkt optisch partizipieren sollten, zum anderen ein offenbar moderneres Raumgefühl, das die Zertrennung des Kircheninneren als schwer erträglich empfand. Indessen kam es innerhalb der gotischen Bewegung um die Lettnerfrage zu Konflikten. Den „Ambonoclasten“58, wie er sie nannte, trat der Konvertit und führende englische Gotiker aus dem Geist der katholischen Erneuerungsbewegung A. W. N. PuMünsterscher Anzeiger 15. VII. 1882. Zitiert nach M. Knopp, Die Restaurierung der Münchener Frauenkirche im 19. Jahrhundert, in: Festschrift L. Dussler, München 1972, S. 425. 56 A. W. N. Pugin, A Treatise on Chancel Screens and Rood Lofts. Their Antiquity, Use and Symbolic Signification, London 1851, S. 33 f. Frau Dr. E. Doberer (Wien) bin ich für Auskünfte zum Thema Lettner sehr verbunden. 57 Eastlake, S. 347. 54 55

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gin in einem „Treatise on Chancel Screens und Rood Lofts. Their Antiquity, Use and Symbolic Signification“ (London 1851) entgegen. Mit großer kunstgeschichtlicher Gelehrsamkeit ausgerüstet, verschaffte Pugin seinen Lesern einen Überblick über den noch vorhandenen Bestand an Lettnern in Europa. Indessen wünschte er keineswegs nur zu informieren oder den Nachweis zu führen, daß die Abgrenzung der zum Meßopfer bestimmten Stätte zu den ältesten liturgischen Traditionen der Kirche zähle59. Es ging ihm in seiner sehr polemisch gehaltenen Schrift um mehr, nämlich um eine Abrechnung mit dem, was er für verhängnisvollen Modernismus im Gottesdienst hielt. Er behandelte daher die Lettnerfrage nicht als eine Angelegenheit eines bestimmten Stils oder des architektonischen Details, sondern als Prinzipienfrage des „catholic arrangement“ des Gottesdienstes, der Disziplin und des Glaubens60. Wenn das Meßopfer der höchste Akt der christlichen Religion sei, dann sollte man seiner Meinung nach den Ort, an dem es stattfinde, von den anderen Räumen getrennt halten. Es erschien ihm als eine ganz unkirchliche Neuerung, daß nun die „idea of room-worship and the all-seeing principles“ in den Gottesdienst eindringen. Das Wichtigste an der Messe sei, daß etwas geschehe, nicht, daß dieses Geschehen gehört oder gesehen werde. Im Gegensatz zu dem Hörgottesdienst der Protestanten sei die weitaus größere katholische Gemeinde zu Lob und Anbetung versammelt und konzentriere ihre Gedanken und ihre Absichten auf den am Altar opfernden Priester, obschon er weitab von ihr handle. Pugin wünschte keine vollständige Absperrung des Sanktuariums, sondern „open screens“, aber auf jeden Fall eine deutliche Scheidung. Wer aus der Messe einen Schauvorgang („a sight“) mache, den verglich er mit den Reformatoren des 16. Jahrhunderts, denen es darauf ankam, daß man alles höre. Er verdammte also die Ersetzung des „heiligen Ortes“ durch eine ästhetische Raumkonzeption im Sinne der Moderne: „Room-worship, bei dem alle zuzusehen vermögen, ist das moderne Gehäuse, in dem Neuerer und Neunzehntes-Jahrhundert-Leute jene heiligen Mysterien zur Schau stellen könnten, für die das katholische Altertum jene glorreichen Chöre und Altarräume errichtete, Zeugnisse seiner Frömmigkeit und unserer Degeneration“61. Man vergleiche damit die Ausführungen Diepenbrocks und man wird erkennen, in welcher Variationsbreite die katholische Restauration des 19. Jahrhunderts sich abspielte. Bevor Pugin die Folgerungen aus seiner Übersicht zog, nahm er noch eine Systematisierung der sogenannten Ambonoklasten vor, unter denen er kalvinische, heidnische, revolutionäre und moderne unterschied. Daß er die Modernen im eigenen Lager zu suchen hatte, war ihm sehr bewußt, veranlaßte ihn jedoch nicht zur Mäßigung62. 58 Pugin, S. 76 – 99. Unter Ambo versteht man allerdings im allgemeinen nicht den gesamten Lettner, sondern eine vor den Chorschranken erhöht errichtete Lese- und Predigtbühne. Im 13. Jh. lösten Lettner und Kanzel den Ambo ab. 59 Pugin, S. 8. 60 Pugin, S. 1. 61 Pugin, S. 103. 62 Pugin, S. 99: „Indeed, it is probable that, if the development of their real caracter had not proceeded so rapidly, they might have caused some serious mischief to Catholic restaura-

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Pugin zählte zu den Autoritäten August Reichenspergers, dessen Urteil über kirchliche Kunstfragen wiederum, wie wir hörten, in Münster viel galt. Reichensperger hat, als seit Ende der 1850er Jahre – einzelne Anläufe wurden schon früher unternommen – das Münstersche Domkapitel die Niederlegung des „Apostelgangs“ ins Auge faßte63, unterstützt von dem Kölner Experten für kirchliche Kunst, Professor Johann Peter Kreuser, das äußerste getan, um den Lettner zu erhalten. Hauptargument für das Domkapitel bildete die durch Beseitigung des „Apostelgangs“ zu ermöglichende bessere Teilnahme des Kirchenvolkes an den heiligen Handlungen. Zu der vermittelnden Lösung einer Durchbrechung (nicht Beseitigung) neigte Bischof Johann Georg, der vom Domkapitel als „kompetenter Sachkenner“ anerkannt wurde. Unter dem 24. VII. 1861 verfaßte Bischof Müller eine umfangreiche Denkschrift zur Restauration des Domes, die durch Klarheit, Umsicht und Mäßigung anspricht und auch das Domkapitel beeindruckt haben dürfte. Über seine leitenden Gesichtspunkte schrieb Müller: „Die erste und wichtigste dieser Rücksichten betrifft bei einem Gotteshause die Zweckmäßigkeit für den Kultus und für die Teilnahme derer, für welche er bestimmt ist. Die zweite bezieht sich auf die Architektur und empfiehlt möglichstes Festhalten an dem ursprünglichen Plan und Gedanken des Baumeisters. Die dritte Rücksicht wird geboten durch die Pietät gegen das aus der Vorzeit in Beziehung auf Kultus, Disziplin, Kunst usw. Überlieferte“. Dem nach Müller „ersten und wichtigsten“ Erfordernis und der „größeren Erbauung des Volkes“ stand aber der „Apostelgang“ entgegen, dem er überdies eine Beeinträchtigung der architektonischen Wirkung zuschrieb. Andererseits betrachtete er ihn als „bedeutungsvolles Glied in der letzten Entwicklungsperiode der Gotik“ und als „für sich selbst . . . sehr befriedigendes Kunstwerk“. Schon 1849 hatte er mit dem Domkapitel die Frage erörtert, ob man den Apostelgang „versetzen“ solle, war aber in der Folge davon abgekommen und neigte dann mehr der Durchbrechung des Mittelteils der Rückwand zu. „Das ganze Beseitigen des Apostelgangs“ bezeichnete er als „ein zu großes Opfer“. Überdies schien ihm der Apostelgang als Bühne für den Sängerchor unverzichtbar. Die übrigen Veränderungsvorschläge des Bischofs, obschon von erheblichem kunstgeschichtlichen Interesse, müssen hier aus Platzgründen ausgeklammert bleiben. Für Müllers Stellungnahme dürfte seine Verbindung mit August Reichensperger, auch wenn er ihn in der Denkschrift nicht erwähnt, von Belang gewesen sein. Briefe, die Reichensperger mit hoher Wahrscheinlichkeit an den Bischof gerichtet hat, sind mit dem Nachlaß Müllers als vernichtet anzusehen, doch läßt sich die publizistische Begleitmusik verfolgen, die Reichensperger zu den Erwägungen im Schoß des Münsterschen Domkapitels veranstaltete. Z. B. hat er 1864 im Kölner Domblatt die Frage des Lettners in der Liebfrauenkirche zu Brügge mit der Bemerkung tion; but the cloven foot is now so visible, that many are looking out in expectation of the tail, and are already on their guard“. 63 Bistumsarchiv Münster Domarchiv V, Domkirche A 87b, Domkapitelsprotokolle 1858 – 1861. Einzelne Vorstöße gegen den Lettner erfolgten jedoch schon früher. Vgl. Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen, Die Stadt Münster, bearb. von M. Geisberg, Münster 1937, S. 105 f.

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behandelt, er glaube davon um so mehr Notiz nehmen zu müssen, „als es immer etwas Mißliches hat, näher liegende Fälle zu behandeln, indem dabei leicht Personen verletzt werden können, die verkehrte Maßregeln in bester Absicht getroffen haben“64. Reichensperger ließ die gegen den Lettner angeführte gottesdienstliche Beweisführung nicht gelten. Vielmehr zitierte er Pugin, dem zufolge der Lettner zu den „very vitals of Catholic Architecture“65 zählte. Daß Reichensperger in erster Linie das großartige und auf jeden Fall zu erhaltende Kunstwerk vor sich sah, dessen Beseitigung er als Vandalismus empfand, unterliegt keinem Zweifel. Darüber hinaus erfüllte ihn offenbar gleich Pugin Abneigung vor einem mit Zweckmäßigkeitsrücksichten operierenden Modernismus und einer (cum grano salis so zu nennenden) Demokratisierung der gottesdienstlichen Zeremonien. Was Münster betraf, über dessen Lettner das „Schwert an einem Haare“ hänge, hegte er überdies den Verdacht, daß eine Marmorgruppe der Kreuzabnahme Christi, geschaffen von dem westfälischen Künstler Wilhelm Achtermann66, einer eigenartigen Künstlerpersönlichkeit mit einem großen Kreis von Verehrern im damaligen Münster, den Verlust des Lettners gewissermaßen kompensieren solle. Reichensperger hatte Achtermann gegenüber, der in den Augen zahlreicher kirchlich gesinnter Westfalen nahezu als der Idealtyp des christlichen Künstlers galt, Vorbehalte67. Als Bischof Johann Georg Müller 1870 starb, rühmte ihm Reichensperger im Organ für christliche Kunst nach, daß er nicht nur Positives geleistet, sondern auch „manchen Anmutungen widerstand, welche nicht ohne einen gewissen Schein der Berechtigung an ihn gerichtet wurden“68. Ein Jahr später hatte die gleiche Zeitschrift über die „Wegräumung des Apostelgangs im Dom“ zu berichten69. Bischof Johann Georg war kaum gestorben, als das Domkapitel den Abbruch anordnete. Das münstersche Pastoralblatt, das von dem Generalvikar Dr. Giese herausgegeben wurde, rechtfertigte den Abbruch mit den bekannten Gründen und ließ es nicht an einem Seitenhieb gegen „solche Kunstkenner“ fehlen, „welchen die Kunst über alles, auch über die Bestimmung und den Zweck des großen Gotteshauses geht“70. Über den Hergang der Beseitigung wurde im gleichen Aufsatz berichtet: „Um endlich die Frage via facti zu lösen, beschloß das Domkapitel das Werk sorgfältig auseinanderzunehmen und die einzelnen Teile solange reponieren zu lassen, bis sich ein geeigneter Platz zur Wiederaufstellung gefunden haben würde . . . Der Beschluß drang nicht in die Öffentlichkeit und zum Erstaunen der Bewohner unserer Stadt begann man vor vierzehn Tagen mit dem Abbruche. Zu noch größerem Erstaunen erklärte aber das Publikum, als die Kirche zum Heiligen Christfest wieder Kölner Domblatt 31. X. 1864. Pugin, S. 6. 66 Vgl. Anm. 24. 67 Reichensperger in Organ für christliche Kunst 20 (Köln 1870) Heft 12, S. 141; ebenso für das Folgende. 68 Organ für christliche Kunst 20 (Köln 1870) Heft 12, S. 141. 69 Organ für christliche Kunst 21 (Köln 1871) Heft 2, S. 22 f. 70 Pastoralblatt (Hg. Dr. Giese) VIII, Münster 1870, S. 140. 64 65

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geöffnet wurde, welch erhebende Wirkung das freigelegte Innere des Domes und namentlich der Anblick des Chorraums machte. Jeder Widerspruch verstummte“. Der letzte Satz traf nicht zu. Reichensperger, der eine Zeitlang aus Zorn den Boden Münsters nicht mehr betreten wollte71, hat beispielsweise in seiner Biographie Pugins72 heftigste Angriffe gegen die Entfernung des Lettners gerichtet. Wenn er den Münsterschen Lettner als ein „dem Vandalismus der Wiedertäufer wie durch ein halbes Wunder“ entgangenes Kunstwerk bezeichnete73, so war das Wort gefallen, mit dem er wohl indirekt die Maßnahme des münsterschen Domkapitels zu kritisieren wünschte. Reichensperger stand nicht allein. 1882 ging der aus Münster gebürtige Düsseldorfer Kunstmaler Heinrich Deiters mit den „sogenannten Restaurationsarbeiten im Dom zu Münster“ ins Gericht und verband damit in seiner Broschüre „Restauration und Vandalismus“74 scharfe Kritik an manchem, was sich der puristische Gotizismus der Provinzialhauptstadt geleistet hatte. Er sprach von Fällen des groben Vandalismus wie dem Abbruch des Kaiserdoms zu Goslar 1819 und stellte dann diesem Wüten als zwar weniger plumpe, im Endeffekt jedoch wohl gleich verhängnisvolle Spielart das „Purifikationsfieber“ zur Seite, das man auch als einen Vandalismus bezeichnen könne. Der noch zu erörternde Westfale Wilhelm Lübke, damals schon ein bekannter Gelehrter, hatte 1861 im Zusammenhang mit den Bausünden an der Münchner Marienkirche einen vielbeachteten und verdienstvollen Artikel „Das Restaurationsfieber“ veröffentlicht75, an den sich ein anonymer Aufsatz vom Jahre 1873 im „Münsterschen Anzeiger“ unter dem Titel „Der Dom zu Münster und das Restaurationsfieber unserer Zeit“ anlehnte76. Dort hieß es u. a.: „Dieses Verfahren hätte noch eine Art von Entschuldigung, wenn unsere Zeit ganz erfüllt wäre von der Energie selbsteigener architektonischer Schöpferkraft. Aber wie himmelweit ist unsere Universalität davon entfernt . . . Lassen wir unseren heutigen Puristen freie Hand und freie Börse, so werden sie alle Stilwidrigkeiten in schönster gotischer oder romanischer Uniformität beenden . . . Wir ästhetischen Bettler, die wir bei allen Zeiten und Epochen um Almosen herumziehen, sollten etwas vorsichtiger sein, wenn es gilt, unter den Werken irgendeiner früheren Epoche Tabula rasa zu machen“. Deiters meinte als Sachverständiger, daß eine Kompromißlösung zwischen den gottesdienstlichen Erfordernissen und dem Gebot der Erhaltung wertvollsten Kunstguts wohl hätte gefunden L. Pastor, S. 563. A. Reichensperger, A. W. N. Pugin, Der Neubegründer der christlichen Kunst in England. Zugleich zur Frage der Wiederbelebung der Kunst und des Kunsthandwerks in Deutschland, Freiburg i. Br. 1877. 73 Reichensperger, Pugin S. 40. 74 H. Deiters, Restauration und Vandalismus. Ein populäres Wort zugunsten der Erhaltung ihrer Kunstdenkmäler und über die sogenannten Restaurationsarbeiten in dem Dom zu Münster in Westfalen, Düsseldorf o. J. (1882). Vgl. dazu Deutsche Bauzeitung 1. IX. 1883, S. 417. 75 W. Lübke, Das Restaurationsfieber, in: Sonntagsbeilage zur Allgemeinen Zeitung vom 22. XII. 1861 (Nr. 356). 76 Nochmals abgedruckt im Münsterschen Anzeiger vom 22. VII. 1882. 71 72

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werden können77. Als liebender Sohn seiner Vaterstadt berichtete er von den Gefühlen, die ihn bei der Beseitigung des Apostelgangs überkamen78. Seine skeptischen Bemerkungen über die Motive der Restauratoren waren vielleicht nicht unangebracht: „Ich kann den Gedanken nicht abweisen, daß oft nicht die Notwendigkeit oder die Herstellung der Schönheit das Motiv der sogenannten Restauration bildet, sondern subjektive Einfälle und daraus resultierende Aufträge“79. Elf Jahre nach Deiters hat der Kunsthistoriker W. Effmann die Frage der Entfernung des „Apostelgangs“, über dessen fernere Schicksale der Band V der „Bau- und Kunstdenkmäler von Westfalen“ berichtet80, in sehr ausgewogener Weise behandelt81. Für unser Thema Kunst und Öffentlichkeit ist es von Interesse, daß Deiters darauf hinweisen konnte, er habe seine Meinung zunächst nur privatim geäußert, allerdings „häufig und eingehend“. Er fügte im Hinblick auf seine Veröffentlichung hinzu: „Erst von außen wurde ich, und zwar von vielen Seiten, dazu veranlaßt“82. Auch Effmann hielt es für erwiesen, daß die Gefühle eines großen Teils der Bürgerschaft Münsters „verletzt“ worden seien83. Abschließend zu dem Konflikt um den Apostelgang sei daher nochmals Ludwig Ficker zitiert: „Auch der Wunderbau des Lettners Ist erlegen dem Geschicke, Und es schweifen durch die Vierung Frei zum Chore jetzt die Blicke. Weiter ist es nun geworden In dem mächtigen Gebäude, Prächtiger ist’s einst gewesen, Als noch stand die schöne Scheide“84.

III. Ein westfälischer Renaissancist Wie sich in der „gotischen Bewegung“ die künstlerische und die ideologische Komponente nicht voneinander trennen lassen, so ist auch die kunstgeschichtliche Richtung der Neorenaissance ohne ihren weltanschaulichen Kontext nicht voll zu verstehen85. Wie es, zwar nie ausschließlich, aber im Laufe der Zeit doch mehr Deiters, S. 10. Deiters, S. 7. 79 Deiters, S. 10. 80 Bau und Kunstdenkmäler von Westfalen, Die Stadt Münster 5, S. 104 – 106, 110, 112. 81 W. Effmann, Der ehemalige Lettner (Apostelgang) im Dom zu Münster, in: Aus Westfalens Vergangenheit. Beiträge zur politischen, Kultur- und Kunstgeschichte Westfalens, Münster 1893, S. 110 – 128. 82 Deiters, S. 18. 83 Effmann, S. 123. 84 Münsterscher Anzeiger 15. VII. 1882 (abgedruckt Hellinghaus, S. 395). 85 Vgl. Gollwitzer, Zum Fragenkreis etc., S. 9 ff. 77 78

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und mehr eine kirchlich-konservative Gesinnung war, die die Neogotik ideologisch trug, so verbündete sich die Neorenaissance zunächst mit dem demokratisch-oppositionellen Jungdeutschtum (Semper!) und später mit dem Nationalliberalismus auf das engste. Was die Neogotiker als antikisch-heidnisch mißbilligten, wurde von den Vertretern dieser Richtung bewußt in antiklerikalem Sinn aufgegriffen. Affinitäten zwischen der Neorenaissance und den kulturkämpferischen Strömungen waren im deutschen Sprachgebiet unzweifelhaft vorhanden; man hat sie auch gelegentlich publizistisch formuliert und erläutert. Eine Zeitlang sah es überdies so aus, als ließe sich die Neorenaissance, speziell ihre Variante Deutschrenaissance, zum Staats- und Nationalstil des jungen Hohenzollernreiches erheben. In den 1890er Jahren ging es damit jedoch schon zu Ende. Zu den wissenschaftlichen und publizistischen Exponenten der Neorenaissance zählte der Westfale Wilhelm Lübke (1827 – 1879)86. Mit seinem Namen verbindet sich ein nicht geringer Teil der in der kunstinteressierten Öffentlichkeit ausgetragenen Konflikte zwischen Gotikern und Renaissancisten. Lübke war keine schöpferische Gelehrtenpersönlichkeit, aber ein ungewöhnlich fleißiger Vermittler und Popularisator mit Gespür für das Aktuelle. Jakob Burckhardt hat ihn als Mitarbeiter offenbar geschätzt, manche sahen zu ihm als Vorbild auf, Alfred Woltmann hat ihm sein Werk „Berlin. Eine Kunstgeschichte seiner Baudenkmäler“ (1872) gewidmet. Zeitgenossen, die sich vom Umfang und Erfolg seines schriftstellerischen Opus blenden ließen, mißverstanden ihn als führenden Kunsthistoriker. Indessen hat er sich mit Publikationen übernommen und in mancherlei Widersprüche verwickelt. Wissenschaftliche Blößen, die er sich bei einer Vielschreiberei von beängstigendem Ausmaß gab, trugen ihm Angriffe auch seitens solcher Sachverständiger ein, die ideologisch keineswegs zu seinen Gegnern zählten87. Seine Verdienste als Sammler und Didaktiker, als Verbreiter von kunsthistorischem Bildungsgut, als Warner vor dem „Restaurationsfieber“ der Zeit und als Hochschullehrer sind jedoch unbestritten. Vielleicht rührte die Erbitterung, mit der Lübke von Reichensperger und seinen Anhängern bekämpft wurde, u. a. davon her, daß man anfänglich Anlaß zu der Meinung zu haben glaubte, Lübke sei nicht nur auf Grund seiner westfälisch-katholischen Herkunft, sondern auch seiner Überzeugungen einer der ihren. Überdies hatte er sich in jungen Jahren in mehreren Schreiben um die Protektion Reichenspergers beworben und Anfang der 1850er Jahre an Reichenspergers und Baudris „Organ für christliche Kunst“ mitgearbeitet. Als um die Mitte der 1850er Jahre Lübkes Diskrepanz zur Kölner Schule deutlich wurde, schrieb Reichensperger im „Organ für christliche Kunst“: „Wir bedauern aufrichtig, Herrn Lübke in dieser Richtung begegnen zu müssen. Schon bald nach Gründung des Organs erfreuten 86 Vgl. W. Lübke, Lebenserinnerungen, Berlin 1891 u. L. Rohling, Wilhelm Lübke (1826 – 1893), in: Westfälische Lebensbilder VI, Münster 1957, S. 147 – 165. 87 Vgl. u. a. H. Riegel, Dem Herrn W. Lübke etc. in Stuttgart. Offener Brief, Hannover 1874 und L. Pfau, Zur Charakteristik des Herrn Lübke, Stuttgart 1884.

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wir uns seiner tätigen Mitwirkung und durften wir voraussetzen, daß ein tieferes Studium der mittelalterlichen Kunstwerke ihn auch nicht den Geist würde verkennen lassen, der dieselben hervorgerufen“88. Lübke hatte als Bonner Student den später in Breslau als Historiker tätigen Westfalen Wilhelm Junkmann89 kennengelernt, dessen Andenken er lebenslang hochhielt90. Als Lübke Anfang der fünfziger Jahre Junkmann als Landtagsabgeordnetem in Berlin wieder begegnete, ermunterte ihn dieser, ein Werk über die mittelalterliche Kunst in Westfalen zu schreiben. Das Buch, das aus dieser Anregung hervorging, Ergebnis intensivster, auf meist zu Fuß unternommenen Kunstwanderungen entstandener Studien und für seine Zeit eine hervorragende Leistung, kam unter tatkräftiger Unterstützung seitens der westfälischen Bischöfe Johann Georg Müller und Franziskus Drepper zustande. Obwohl es sich am Vorbilde der Pommerschen Kunstgeschichte Kuglers ausrichtete, galt es seinerseits bald auch außerhalb Westfalens als exemplarisch91. Lübke scheint ursprünglich die Absicht gehabt zu haben, das Werk dem münsterschen Bischof zu widmen92. Jedenfalls hat er sich in der Einleitung wärmstens für die erfahrene Hilfe bedankt93. Eine aufmerksame Lektüre der „Kunst des Mittelalters in Westfalen“ läßt den Schluß zu, daß Lübke bei aller Hochachtung vor der mittelalterlichen Gotik der „gotischen Bewegung“ seiner Zeit auf keinen Fall zuzurechnen war. Während die spätromantisch gestimmten und kirchlich orientierten zeitgenössischen Gotiker die sakrale Kunst des Mittelalters primär als ein Frömmigkeitsphänomen deuteten und erst in zweiter Linie die germanische und deutsche Komponente hervorhoben, steht bei Lübke im Zeichen eines Nationalbewußtseins, das vom Historismus und Realismus geprägt war, die Frage des Verhältnisses von nationaler Eigentümlichkeit und christlicher Universalität im Vordergrund. Er ließ erkennen, daß ihm jene ganz besonders am Herzen lag. Und nicht nur dies! Parallel zu der rationalen und nationalen Gotikinterpretation liberaldemokratischer Franzosen wie Thierry und Viollet-le-Duc beschäftigte ihn ein Gesichtspunkt, der dem deutschen religiösen Gotizismus des 19. Jahrhunderts recht fern lag: er würdigte den Kathedralenbau des Mittelalters als Leistung bürgerlicher Tüchtigkeit und Zeugnis bürgerlichen Selbstbewußtseins94. Es ist jedoch nicht nötig, die einschlägigen Textstellen aus seinem wissenschaftlichen Erstlingswerk zu strapazieren, da wir aus der Autobiographie Organ für christliche Kunst 6, Köln 1851, S. 168. Vgl. J. Nettesheim, Wilhelm Junkmann. Der Dichter, Lehrer, Politiker, Historiker 1811 – 1886, Münster 1969. 90 Lübke, Lebenserinnerungen, S. 123. 91 H. Holland, Dr. Joachim Sighart, in: ADB 34, Leipzig 1892, S. 246. 92 Lübke, Lebenserinnerungen, S. 176 und anonym (Vf. A. Reichensperger), Reichensperger-Janssen und der Kunsthistoriker Professor Doctor Wilhelm Lübke, in: Frankfurter zeitgemäße Broschüren (Hg. J. M. Raich) NF. Frankfurt / M. / Luzern 1891, S. 4 f. 93 W. Lübke, Die mittelalterliche Kunst in Westfalen. Nach den vorhandenen Denkmälern dargestellt, Leipzig 1853, S. V. 94 Lübke, Die mittelalterliche Kunst S. 12, 21, 23, 24. 88 89

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des Kunsthistorikers ohnehin mit Sicherheit wissen, daß er schon zur Zeit der Abfassung dieses Buches weltanschaulich in einem ganz anderen Lager stand als demjenigen, das der Gotik einen Ausschließlichkeitsanspruch zuerkennen wollte und für Neogotik als zeitgemäßen Stil stritt. Lübkes Herkunft aus einem Lehrerhaus spielte in diesem Zusammenhang eine Rolle. Der Konflikt zwischen dem Volksschullehrer und dem die Schulaufsicht ausübenden, ihm vorgesetzten Geistlichen ist ein bekannter Sachverhalt aus der Bildungs- und Sozialgeschichte des 19. Jahrhunderts. Lübkes Vater, kirchlich völlig korrekt, hatte in dieser Hinsicht bedrückende Erfahrungen gesammelt95, und der jugendliche Sohn hat daraus noch sehr viel weitergehende Konsequenzen gezogen als der kirchlich loyale und vorsichtigere Senior. Schon als Gymnasiast veröffentlichte Wilhelm Lübke anonym polemische Broschüren gegen einen Dortmunder Geistlichen, und was der Burschenschaftler über seine Bildungserlebnisse sowie seinen vorwiegenden Umgang in Bonn und Berlin berichtet, beweist vollends, daß er schon früh in jene nationalliberal-antiultramontane Welt hineinwuchs, deren Mentalität in der öffentlichen Meinung der Anfangsjahrzehnte des Bismarckreichs dominieren sollte. Es war nicht erst die (in seinem Fall erst 1858 zustandegekommene) obligate Italienreise des Kunstgelehrten, die Lübke für die Renaissance enthusiasmierte, auch nicht die schon vor 1848 gemachte Bekanntschaft mit Jakob Burckhardt in Berlin, aus der, Lübkes Worten zufolge, eine Freundschaft fürs Leben wurde96. Ohne Zweifel erleichterte ihm auch seine gegnerische Einstellung zur konfessionellen Vorstellungswelt Reichenspergers die Hinwendung zu einer von den Neogotikern als untragbar empfundenen Richtung. Dies bedeutete nicht, daß er von nun an die Gotik selbst verworfen hätte. Vielmehr zollte er ihr wie jeder anderen Epoche der Kunst volle Gerechtigkeit. Beispielsweise hat er die Entfernung des „Apostelgangs“ in Münster lebhaft beklagt97. Was er bekämpfte, war der Versuch, einen Absolutheitscharakter der Gotik zu postulieren. Den Leistungen der Neugotik gegenüber verhielt er sich distanziert, aber nicht intolerant. Er schätzte Stracks Babelsberger Schloß98, Zwirner hat er anerkannt und die Neogotik für den zeitgenössischen Kirchenbau nicht abgelehnt. Im ganzen spielte das Pro und Contra um die Neogotik in seinem Schaffen jedoch nur eine Nebenrolle. Als seine Aufgabe hat er es wohl angesehen, für seinen Teil an der Entdeckung der Renaissance für das deutsche Publikum mitzuarbeiten. Dabei zeigte es sich allerdings, daß auch Lübke nicht umhin konnte, seine Kunstgelehrsamkeit wie seine Kunstpublizistik ideologisch zu befrachten. Liberaldemokratisches Pathos war ihm längst vor Ausbruch des „offiziellen“ preußischen Kulturkampfes eigen, und in einer deutsch-nationalen und antiultramontanen Gesinnung fand er die Mitte seiner Weltanschauung. 95 Lübke hat seinen Lebenserinnerungen die Memoiren seines Vaters vorangestellt, ein überaus interessantes Zeugnis zur Sozialgeschichte des deutschen Volksschullehrerstandes. 96 Lübke, Lebenserinnerungen, S. 139. 97 Lübke, Geschichte der deutschen Renaissance II, Stuttgart 1873, S. 894. 98 Lübke, Lebenserinnerungen, S. 218.

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Anonym hat Lübke 1855 eine Kunstbetrachtung „Dresden in architektonischer Beziehung“ veröffentlicht99, in der Renaissance und Barock und als ihm zeitgenössische Künstlerpersönlichkeiten G. Semper sowie die Bildhauer Rietschel und Hähnel positiv gewürdigt wurden. Alle späteren Publikationen, die ihn mit den doktrinären Gotikern in Konflikt bringen mußten, hat er mit seinem Namen gekennzeichnet. Als Zeugnisse seiner ideologischen Einstellung sind hervorzuheben seine „Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart dargestellt“ (1. Aufl. 1855, 6. Aufl. 1884) und die „Geschichte der deutschen Renaissance“ (1. Aufl. 1872, 3. Aufl. 1914 von Albrecht Haupt bearbeitet und neu herausgegeben), die durch nicht wenige Kontroversen in Form von Zeitungs- und Zeitschriftenaufsätzen ergänzt wurden. Es soll hier nicht auf den fachlich-kunsthistorischen, sondern nur auf den weltanschaulichen Aspekt der Stellungnahmen Lübkes eingegangen werden, die heftige Auseinandersetzungen in der deutschen Öffentlichkeit seiner Zeit reflektieren. Die Kritik an den Neogotikern beschränkte sich bei ihm in der Regel nicht auf ästhetische und praktische Gesichtspunkte, sondern suchte stets zur ideologischen Zitadelle im Verteidigungssystem der Doktrinäre vorzudringen. So schrieb er: „Uns aber will es scheinen, als ob der gotische Stil weder, wie jene meinen, der natürlichste, noch der nationalste, noch der für unser Klima und unsere Verhältnisse passendste sei. . . Je höher uns dieser Stil als historische Erscheinungsform steht, um so weniger halten wir seine Wiedereinführung für möglich. Sie kann als Ergebnis willkürlicher Forcierung ebensogut wieder für eine Weile auftauchen, wie die Parteiführer einer gewissen Richtung des heutigen Katholizismus sich als die geistigen Erben des dreizehnten Jahrhunderts ansehen und ihre Anschauung für identisch mit jener Zeit halten . . . Ein schlimmes Zeichen wäre es aber für den modernen Katholizismus, wenn er nicht aus seinem eigenen inneren Wesen eine entsprechende Kunstform hervorzubringen vermöchte“100. Der Ton gegen seine Widersacher hat im Laufe der Zeit an Schärfe zugenommen. So spricht er z. B. 1864 von dem „phrasenhaften Anpreisen der alleinseligmachenden Kunst des Mittelalters, wie es von Herrn Reichensperger und Co. schon seit einer Reihe von Jahren am Rheine getrieben wird . . .“101. Lübke war bemüht, die Kunstgeschichte und insbesondere die Architekturgeschichte in die allgemeine Geistesgeschichte und selbst in die politische Geschichte einzubetten. Dabei übernahm er, der nie originell gewesen ist, das gesamte Instrumentarium, aber auch die Klischees liberaler Geschichtsauffassung des 19. Jahrhunderts, speziell diejenigen kleindeutscher und nationalliberaler Observanz. Wie schon in dem Buch über die mittelalterliche Kunst Westfalens ist es wiederum das Bürgertum, das er als die schöpferische Potenz der Renaissance apostrophiert. Er nahm gegen die Habsburger und für die ihnen opponierenden deutschen Fürsten Stellung, er glaubte eine Erschöpfung der christlichen Spiritualität gleichzeitig mit Veröffentlicht in Zeitschrift für Bauwesen V, Berlin 1855, Sp. 40 – 46. W. Lübke, Geschichte der Architektur etc., Leipzig 1855, S. 379. 101 Zitiert nach Organ für christliche Kunst 14, Köln 1864, S. 276. 99

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derjenigen der künstlerischen Kraft des späteren Mittelalters konstatieren zu können, er behandelte Reformation und Protestantismus positiv und achtungsvoll, während er Gegenreformation und Jesuitenorden im ganzen verurteilte. Rückhaltlos galt seine Begeisterung dem Humanismus und der Renaissance, die sich in seiner Vorstellungswelt im kulturkämpferischen Liberalismus der siebziger Jahre spiegelten: „Die deutsche Nation, die neuerdings so hohe Ehre errungen und sich die lange schmerzlich entbehrte Einigkeit und geschlossene Macht nach außen endlich erkämpft hat, möge dieses künstlerische Spiegelbild aus einer Zeit, die ebenfalls durch große Kämpfe um Erneuerung des gesamten Lebens bewegt ward, freundlich hinnehmen“102. Die Anknüpfung an die Renaissance sollte sich jedoch, das war Lübkes Wunsch und Wille, nicht in einem vagen Enthusiasmus erschöpfen, sondern auch aktualisieren lassen. Im Vorwort zur 2. Aufl. seiner „Geschichte der Renaissance in Deutschland“ empfahl er die inzwischen in Deutschland sehr zu Ansehen gelangte Richtung historistischer Deutschrenaissance103 nachdrücklich und gab der Hoffnung Ausdruck, es könnte „unser nationales Wesen“ in ihr „einen erwünschten Ausdruck“ gewinnen. Lübke hat also nicht nur als Kunstgelehrter die Erforschung der Renaissance betrieben, sondern ist in den Geisteskämpfen seiner Zeit, dezidiert Partei ergreifend, als einer der Protagonisten des Renaissancismus hervorgetreten. Für das vorübergehend starke, wenn auch nie zur Alleinherrschaft führende Vordringen der Deutschrenaissance im historistischen Kunstbetrieb des Hohenzollernreiches hat Lübke zusammen mit dem Münchener Verleger Georg Hirth und dem ebenfalls in München wirkenden Kunstkritiker und Schriftsteller Friedrich Pecht wohl den wirksamsten theoretisch-ideologischen Beitrag geleistet. Seine Gegner, an ihrer Spitze Reichensperger und der Historiker Johannes Janssen, wußten, warum sie sich auf Lübke eingeschossen hatten. Ihr Kampf galt nicht so sehr dem Kunsthistoriker, der es ihnen oft genug leicht gemacht hat, ihm Fehler, Schwächen und Platitüden nachzuweisen, sondern wohl noch mehr einer Zentralfigur unter den Popularisatoren des ideologischen Renaissancismus. Dreieinhalb Jahrzehnte hat sich der Federkrieg zwischen Reichensperger und Lübke hingezogen, gipfelnd in der erbarmungslosen anonymen Broschüre des 83jährigen Reichensperger „Reichensperger-Janssen und der Kunsthistoriker Professor Doctor Wilhelm Lübke“104, in der der streitbare Rheinländer freilich weit über das Ziel hinausschoß und sich mehrfach in peinlich anmutender Weise verrannte. Die Kontroversen Lübkes mit den Repräsentanten der gotischen Bewegung sind als kunstgeschichtliche Begleitmusik zum Kulturkampf zu verstehen, den man nicht auf den preußischen Schauplatz der Bismarckzeit verengen, sondern als ein W. Lübke, Geschichte der Renaissance I, Stuttgart 1873, Vorwort. Zu den Kunsttendenzen nach 1870 vgl. W. Frhr. von Löhneysen, Der Einfluß der Reichsgründung von 1871 auf Kunst und Kunstgeschmack in Deutschland, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte XII, 1960, S. 17 – 44. 104 Vgl. Anm. 92. 102 103

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europäisches Jahrhundertphänomen erkennen sollte. Als Reichensperger seine Kampfschrift von 1891 veröffentlichte, hatten der Kulturkampf und die von ihm geprägten Varianten des Katholizismus und des Liberalismus ihren Höhepunkt überschritten. Das gleiche gilt parallel dazu für Neogotik und Neorenaissance. Das „Stilkarussell“ (Schumacher) drehte sich weiter. Im Bereich des historistischen katholischen Kirchenbaus, in dem die Gotik nie die Alleinherrschaft hatte ausüben können, konnten sich Neorenaissance, Neobarock und Heimatkunst mehr und mehr durchsetzen, noch bevor die Kunst des 20. Jahrhunderts ihren Siegeszug angetreten hat. In der Profanbaukunst des deutschen Reiches ging es seit den neunziger Jahren umgekehrt mit der ebenfalls nie uneingeschränkten Vorherrschaft der Neorenaissance dem Ende zu. Die Diskussion von Kunstfragen in der Öffentlichkeit hatte sich selbstverständlich nie auf Stilprobleme beschränkt, und mit dem Ablauf des 19. Jahrhunderts wuchs sie in neue Dimensionen hinein. Um im „Raum Westfalen“ zu bleiben: Am Wirken bedeutender Mäzene und Pioniere einer künstlerischen Erneuerungsbewegung wie es Osthaus in Hagen105 oder die aus Dortmund gebürtige, in den Niederlanden heimisch gewordene Frau KroellerMüller106 gewesen sind, läßt sich beispielhaft verfolgen, welche neuen Themen eine neue Zeit auch im Kontaktbereich von Kunst und Öffentlichkeit aufwarf. Da auch die Kunstepochen nicht „im Gänsemarsch“ aufeinander folgen107, sondern sich überlagern und verzahnen, so hatte auch das 20. Jahrhundert noch mit den Ausläufern und Folgeerscheinungen des Historismus zu tun, den wir als vielschichtige Größe begreifen. Z. B. sind Denkmalpflege und Restaurationswesen nach romantischen Anfängen noch stärker durch historische Impulse ausgebaut worden, und gerade die mit der Erhaltung oder Wiederherstellung geschichtlicher Bauten verbundenen Erwägungen machten einen erheblichen Teil der Kunstdebatten im öffentlichen Leben schon des Kaiserreiches aus. Im letzten Jahrzehnt vor Ausbruch des I. Weltkriegs sind wiederum in Westfalen diesbezügliche Vorgänge zu registrieren, die für die zunehmende Relevanz der öffentlichen Meinung und Veränderungen im Kulturbewußtsein wie im künstlerischen Geschmack der Zeit Zeugnis ablegen. Wir erwähnen die Bemühungen des Freiherrn von Kerckerink zur Borg, die zur Erhaltung der Observantenkirche und der Lotharinger-Kapelle108 führten, und die weit über die Provinz Westfalen hinaus Aufsehen erregenden Auseinandersetzungen um den Wiederaufbau der Burg Altena109. Der Streit um Altena kommt an Bedeutung für die Geschichte der Denkmalpflege und die Kunstgeschichte ins105 Vgl. H. Hesse-Frielinghaus und andere, Karl Ernst Osthaus. Leben und Werk, Recklinghausen 1971. 106 Vgl. Van Deventer, Aus Liebe zur Kunst. Das Kroeller-Müller-Museum, Köln 1958. 107 W. Pinder, Das Problem der Generation in der Kunstgeschichte Europas, Berlin 1926, S. 24. 108 Vgl. K. Gruna, Die alten Kirchen Münsters: St. Ludgeri und die Observantenkirche, in: Das schöne Münster 32, Münster 1962, S. 26 f. 109 Vgl. F. Krins, Landrat Dr. Fritz Thomée als Förderer der Heimatarbeit, in: Der Märker 11, 1962, S. 188 – 195, und meine demnächst in der „Westfälischen Zeitschrift“ erscheinende Arbeit über die Restauration der Burg Altena.

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gesamt den vorhergegangenen Kontroversen um Wiederaufbau oder Konservierung der Heidelberger Schloßruine zwar nicht gleich, aber er nimmt im gleichen Zusammenhang doch einen ebenfalls bemerkenswerten Rang ein, und politische Implikationen, die im Falle Heidelberg fehlen, sorgten für zusätzliches Öffentlichkeitsinteresse. Die im Vorstehenden behandelten öffentlichen Erörterungen künstlerischer Fragen haben nur einige Vorgänge aus dem Gesamtkomplex herausgehoben, den sie keineswegs erschöpfend behandeln konnten. Als Beiträge zur Geistesgeschichte Westfalens dürften diese Forschungen jedoch einen Einblick gewährt haben, wie lebhaft künstlerische Fragen auch in der sogenannten Provinz aufgegriffen und mit den jeweils aktuellen Strömungen in Verbindung gebracht worden sind.

Historismus als kultur- und sozialgeschichtliche Bewegung* Der Historische Verein Münster feiert heuer sein 150jähriges Bestehen. Ich nehme dies zum Anlaß, über den geistigen und gesellschaftlichen Prozeß zu sprechen, in dessen Zusammenhang der Verein gehört. Acht Jahre vor seiner Gründung war der Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, ein Jahr zuvor der Westfälische Kunstverein ins Leben getreten. Ein Zufall kann diese Ballung kaum gewesen sein. Nicht erst heute, etwa in Bernd Mütters opus eximium über die Geschichtswissenschaft in Münster1, verortet man diese Vereinsbildungen in der Ära des Historismus. Schon als der Altertumsverein 1824 in Paderborn das Licht der Welt erblickte, versuchte dies auf seine, auf eine restaurative Weise der Hofgerichtsadvokat Dr. Sommer zu tun. Er sagte: „Die großen Ereignisse der letzten zwölf Jahre haben uns erzogen, sie haben der Gegenwart die Andacht für die Geschichte der Vergangenheit mit der Ehrfurcht für das geschichtlich Begründete wiedergegeben. Es ist eine innige Liebe für die Geschichte des Mittelalters erwacht. Wenn sonst ein ekler Rationalismus die Wissenschaft verseichtete . . . so ist nun alles mit einem historischen Element tangiert. Der Theolog glaubt und ehrt wieder die Geschichte der Offenbarungen und Dogmen. Bei den Juristen hat sich eine eigene Schule, die historische, gebildet. Wenn früher im Raume weniger Jahre einige hundert Naturrechte erschienen, so wird jetzt um so mehr anerkannt, daß das eigentliche Recht sich geschichtlich entwickele, nicht aber . . . gemacht werden könne. Jene neuerwachte Liebe zur Geschichte hat denn auch unseren Verein herbeigeführt“.2 Wir sehen heute den Historismus erheblich anders. Aber der gebildete Zeitgenosse von 1824, der versucht hat, die geistige Situation seiner Zeit zusammenzufassen, hat damals immerhin eines erkannt: den Historismus als eine allgemeine, verschiedenste Disziplinen und Tätigkeitsfelder übergreifende Bildungsbewegung. Über den Historismus als Gegenstand der Geschichtstheorie und der Historiographie existiert bereits eine außerordentlich umfangreiche Literatur. Diese zu vermehren, ist nicht meine Absicht. Es geht mir heute statt dessen um folgendes: * Nur unwesentlich veränderter und ergänzter Vortrag aus Anlaß des 150jährigen Bestehens des Historischen Vereins Münster (von 1832). Die spezifische Vortragsform wurde beibehalten. Dem selektiven Charakter der Ausführungen entsprechen die Belege. 1 Bernd Mütter, Die Geschichtswissenschaft in Münster zwischen Aufklärung und Historismus, Münster 1980. 2 Harald Seiler, Die Anfänge der Kunstpflege in Westfalen, Münster 1937, S. 28.

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1. Ich beschreibe, mit welchem Historismusbegriff ich zu operieren gedenke; 2. ich skizziere den Historismus als wissenschaftliches Expansionsphänomen, das die akademische Welt revolutioniert hat; 3. mein Spezialthema: Wie hat der Historismus aus der akademischen Sphäre in die Öffentlichkeit übergegriffen, und wie hat er sich dort zu einem sozial- und kulturgeschichtlichen Faktor entwickelt? 4. Ich versuche, den Historismus als geschichtliches Phänomen zu deuten.

I. Zum Historismusbegriff Wir verstehen unter Historismus eine breite, internationale Bildungsbewegung mit führendem Anteil deutscher Geschichtsdenker. Sie setzt nach überwiegender, wenn auch nicht einhelliger Meinung im 18. Jahrhundert ein, findet ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert, hielt und hält aber auch im 20. noch stattliche Positionen. Es handelt sich nicht um eine selbständige Philosophie, sondern um eine Bildungsidee und eine Wissenschaftsgesinnung mit Anlehnung an verschiedene philosophische Richtungen; man kann sogar von einer Bildungs- und Wissenschaftsrevolution sprechen. Wenn man das an sich Unmögliche riskiert und versucht, den Historismus auf einen Nenner zu bringen, müßte man wohl sagen: man nahm die Geschichte ernster als je zuvor, und die Beschäftigung mit der Vergangenheit ging in ein zunehmend reflektierteres Stadium über. Seitens der intellektuellen Avantgarde des Zeitalters setzte man sich der Geschichte gegenüber nicht mehr aufs hohe Roß und verteilte nicht mehr, von einem statisch-naturrechtlichen Standpunkt ausgehend, Zensuren. Man überwand die Methode, die Vergangenheit als Steinbruch für moralisch ermutigende oder abschreckende oder für politische Beispiele zu verwenden. Der Historismus lehrte – und dies war ein außerordentliches Novum menschlicher Erkenntnis –, daß jeder vergangenen Epoche spezifische Würde und Bedeutung zukomme. Andererseits bildete Geschichte für den Historismus gerade nicht mehr hingenommene Tradition, sondern einen zu problematisierenden Bestandteil im geistigen Haushalt der Menschheit hic et nunc. Wenn zeitgenössische Historiker die für den Historismus auslösende Funktion der Großen Französischen Revolution hervorheben, so ist dem insoweit zuzustimmen, als diese einen tiefen Bruch mit der Selbstverständlichkeit der Tradition herbeiführte und diesbezügliche Denkprozesse im eigenen Lager wie in dem der Gegner mobilisierte. In ihrem Verhalten zur Vergangenheit war die Französische Revolution jedoch geballte Aufklärung und durch und durch ahistorisch. Man wird gut daran tun, den Historismus nicht an ein Ereignis zu binden, sondern ihn in den Entstehungsvorgang der modernen Welt, in die sogenannte Sattelzeit, einzubetten. Erst lange nach der Genesis des Historismus hat sein Selbstverständnis dazu geführt, die Zentralbegriffe zu formulieren, die das neue Verhältnis zur Geschichte über referierende Simplizität, über

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die pragmatische Methode und über naiv pädagogisierende Impulse hinaushoben: das auf den einzelnen wie auf Kollektive wie auf Zeitalter anzuwendende Individualitätsprinzip und die genetische Betrachtungsweise, die man seinerzeit beide in dialektischer Einheit sehen zu können vermeinte. In Abgrenzung zu den Naturwissenschaften und zum Positivismus hat man später die Kategorie des Verstehens hervorgehoben und dem nomothetischen ein idiographisches Verfahren entgegengestellt. Aber dies alles wurde erst seit Ende des 19. Jahrhunderts von einer fortgeschritteneren Theorie der Geschichte, einer ausgereifteren, heute auch schon zu einem guten Teil wiederum überholten Historik zutage gefördert. Der Frühhistorismus hat sich mit den Naturwissenschaften eher auf gemeinsamen Pfaden als in Distanz zu ihnen gesehen. Verwendet man den Begriff Frühhistorismus, so ist damit schon gesagt, daß man das Gesamtphänomen periodisiert und in mehrere Phasen unterteilt hat. Im folgenden wird jedoch stets vom Historismus als einem Ganzen ausgegangen. Der Historismus als einer der zahlreichen Ismen der modernen Welt verband sich mit mehreren philosophischen Positionen vom Idealismus über den Positivismus bis zum Marxismus. Marxistische Geschichtstheoretiker unserer Tage nennen den wissenschaftlichen Historismus, den sie als solchen selbstverständlich ausschließlich für sich in Anspruch nehmen, „das wichtigste methodologische Prinzip aller marxistischen Gesellschaftswissenschaften“3. Der Offenheit des Historismus für unterschiedliche geschichtsphilosophische Verankerungen und Bündnisse entsprach eine beträchtliche politische Variationsbreite. Die meisten Repräsentanten des Historismus fühlten sich als politische Erzieher ihrer Nation und haben ihre wissenschaftlichen durch publizistische Leistungen ergänzt und bereichert. Ganz unzutreffend ist es, den Historismus nur als intellektuelles Feigenblatt für Bestrebungen der Gegenrevolution und Restauration auszugeben. Es gab kaum eine politische Richtung, mit der sich der Historismus nicht amalgamieren konnte. Seit den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts kann man eine Krise des Historismus diagnostizieren, die lange vorhielt und mit der sich die geisteswissenschaftliche Forschung intensiv auseinandergesetzt hat. Wer gesundheitliche oder seelische Krisen übersteht, trägt in der Regel für sein Leben einen Gewinn davon. Wir sind der Meinung, daß die Krise des Historismus der Geschichtswissenschaft heilsam war und den Historismus selbst in seiner „wissenschaftstheoretischen und kulturellen Substanz“4 nicht geschädigt hat. Die Krise des Historismus ist jedoch nicht der Gegenstand oder der zeitliche Rahmen unseres Vortrags. Noch weniger haben wir es mit der Frage zu tun, was denn die Ära des Posthistorismus charakterisiere oder ob wir vielleicht in die Phase einer linken Regeneration des Historismus eingetreten seien. Wir beschäftigen uns vielmehr mit dem Heldenzeitalter des Historismus, ein Begriff, den wir allerdings nicht ganz ohne Ironie gebrauchen. Wenn Kritik 3 Artikel „Historismus“, in: Sachwörterbuch der Geschichte Deutschlands und der deutschen Arbeiterbewegung I, Berlin 1969, S. 793. 4 Hermann Lübbe, Geschichtsbegriff und Geschichtsinteresse, Basel u. a. 1977, S. 9.

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und Ironie, wie meistens, so auch hier am Platze sind, so wollen wir uns doch nicht die Einsicht verdunkeln lassen, daß der Historismus eine großartige wissenschaftliche Offensive darstellt und als Phänomen der Differenzierung und Bereicherung unseres Daseins zu gelten hat.

II. Der Historismus auf seinem Eroberungszug durch die akademische Welt Die Welt der Bildung läßt sich nicht aus dem gesellschaftlichen Prozeß herauslösen, und die Wissenschaften zumal sind auch organisierte Größen, soziale Gruppierungen, „vested interests“, deren Auseinandersetzungen am deutlichsten auf der Universität zu verfolgen sind. In mehreren Fakultäten der europäischen Universität spielt sich im 19. Jahrhundert ein Triumphzug des Historismus ab. Sprechen wir zunächst von der Geschichtswissenschaft selbst. Nachdem diese längst vor dem Historismus die Hilfswissenschaften vervollkommnet hatte, hat sie die bezeichnenderweise so genannte philologisch-kritische Methode aus dem Bereich der alten Sprachen entlehnt und ist dadurch zu einer gesicherten Behandlung ihrer Quellen gelangt. Umgekehrt hat die Altertumskunde sich mittels der historischen Denkweise vom antiquarischen Betrieb ihres Faches befreit und die ältere Geschichte als eine der mittleren und neueren Geschichte theoretisch konforme Disziplin eingerichtet5. Erst verhältnismäßig spät getrennt marschierend, aber stets vereint schlagend, haben die drei Heerhaufen der alten, mittleren und neueren Geschichte dann im Zeichen des Historismus innerhalb der Philosophischen Fakultäten eine wohletablierte, ja weithin führende Stellung eingenommen. Vor dem 19. Jahrhundert hatte die Geschichtswissenschaft mehr oder weniger bei der Jurisprudenz, der Ethik, der Rhetorik, der Poetik und anderen Fächern hospitiert. Bis zum heutigen Tag hat sich die Geschichte an den Universitäten unausgesetzt arbeitsteilig differenziert. Während Teilgebiete wie Osteuropäische Geschichte, Sozialgeschichte oder Landesgeschichte im Gesamtverband der akademischen Historie verblieben, haben sich andere Fächer wie Literaturgeschichte oder Kunstgeschichte verselbständigt und in systematischer Richtung profiliert. Man spricht jedoch heute noch weit häufiger von Literatur- und Kunstgeschichte als von Literatur- und Kunstwissenschaft. Wieder andere Disziplinen wie die modernen oder die außereuropäischen Philologien haben durch den Historismus eine tiefgreifende Umwandlung erfahren, und der Aufschwung der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft wäre ohne ihn nicht denkbar. Auch die Philosophie konnte sich der Invasion des Historismus nicht widersetzen. Wie konträr Hegel zu Ranke und dessen Verbündeten stand, ist bekannt. Im5 Vgl. Ulrich Muhlack, Zum Verhältnis von klassischer Philologie und Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert, in: H. Flashar u. a. (Hg.), Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, Göttingen 1979, S. 225 – 239.

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merhin hat auch er, obschon unter antihistoristischen Vorzeichen, sich ein Leben lang mit der Entfaltung des als geschichtlich begriffenen Geistes befaßt, und die Auseinandersetzungen eines Schopenhauer oder Nietzsche mit der Historie beweisen, daß ihnen Geschichte als die große Herausforderung ihrer Zeit entgegentrat. Mit gutem Grund hat man gesagt, daß das System der sogenannten Geisteswissenschaften erst durch den Historismus begründet und gefestigt worden ist. Auf dem Gebiet der Rechtswissenschaften hat Friedrich Karl von Savigny, mit dessen Namen sich der Begriff der historischen Rechtsschule6 primär verbindet und dem Jurisprudenz in erster Linie Rechtsgeschichte bedeutete, seiner Zeit zwar den Beruf zum Neubau eines Rechtssystems und zur Kodifikation bestritten, aber dabei blieb es nicht. Später hat die germanistische Richtung der historischen Rechtsschule unter Führung eines Georg Beseler und seiner Nachfolger stark in die Rechtspraxis eingegriffen und so den Versuch unternommen, vom Boden des Historismus aus das öffentliche Leben zu gestalten. Jahrzehnte nach Savignys Programmschrift, aber noch vor der Jahrhundertmitte ist der Nationalökonom Wilhelm Roscher mit einem „Grundriß zu Vorlesungen über die Staatswissenschaft nach geschichtlicher Methode“ hervorgetreten. Roscher, der sich ausdrücklich auf Savigny berief, wurde zum Begründer der älteren historischen Schule der Volkswirtschaftslehre, der im letzten Drittel des Jahrhunderts eine jüngere folgen sollte7. Es ist hier nicht der Ort, über die Leistungen und die Defizite dieser beiden Gruppierungen zu sprechen. Sie haben niemals unbestritten das gesamte Feld ihrer Disziplin beherrscht, aber mächtige Richtungen begründet und der Physiognomie ihres Faches unverkennbare Züge eingeprägt. Ein letztes Beispiel: die Theologie. Von ihr ist zu sagen, daß sich aus bekannten Gründen ihr katholischer Zweig erfolgreicher gegen den Historismus zur Wehr gesetzt hat als der protestantische. Aber auch im katholischen Bereich wird im Positionsgewinn der Kirchengeschichte, etwa in der auf entschiedene Rekonfessionalisierung hinauslaufenden „Symbolik“ Johann Adam Möhlers deutlich, wie sich dort der Anspruch des Geschichtlichen zur Geltung zu bringen wußte. Ebenso begegnet man in der europäischen Neuscholastik einer theologisch-historisch geprägten Denkrichtung. Als die Zentralgestalt der deutschen katholischen Theologie im 19. Jahrhundert darf man wohl Ignaz von Döllinger bezeichnen, und dieser ist in erster Linie Kirchenhistoriker gewesen. Beschäftigt man sich mit dem Phänomen 6 Vgl. Hans Thieme, Historische Rechtsschule, in: Handwörterbuch zur Deutschen Rechtsgeschichte II, S. 170 ff.; Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, Tübingen 41963; Franz Wieacker, Wandlungen im Bilde der historischen Rechtsschule, Göttingen 1967; Hans-Peter Harstick, Historische Schule, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie III (Hrsg. J. Ritter), Basel u. a. 1974, S. 1137 – 1141. 7 Vgl. Carl Brinckmann, Historische Schule, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften 1956, S. 121 – 126; Gottfried Eisermann, Die Grundlagen des Historismus in der deutschen Nationalökonomie, Stuttgart 1956; Günther Schmölders, Geschichte der Volkswirtschaftslehre, Hamburg 61972; ders., Historische Schule, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften IV, Tübingen u. a. 1978, S. 69 – 73.

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des Altkatholizismus, so gewinnt man, bei aller Berücksichtigung auch der anderen Faktoren, gelegentlich den Eindruck, es habe sich nicht zuletzt um eine Art Kirchenhistorikerrevolution auf katholischem Terrain gehandelt. In der protestantischen Theologie häufen sich Namen, die mittels der Historie versuchten, eine neue, positive Interpretation des Christentums zu ermöglichen: Ferdinand Christian Baur, Albrecht Ritschl, Adolf von Harnack, Ernst Troeltsch, um nur die Wirkungsmächtigsten aufzuführen. Von der Einführung der historischkritischen Methode in der alt- und neutestamentlichen Wissenschaft (beider Konfessionen übrigens) bis zu den innerdisziplinären Erfolgen der Formgeschichte und der religionsgeschichtlichen Schule erst des 20. Jahrhunderts läßt sich der Beweis führen, in welcher Variationsbreite die historische Tendenz die Theologie befruchtend, nach Meinung anderer allerdings destruierend, durchdrungen hat. Da wir keine Apologie des Historismus betreiben, sondern seine Problematik stets mitbedenken, sei auch die Meinung eines der radikalsten Köpfe der protestantischen Theologie des 19. Jahrhunderts, des Nietzschefreundes Franz Overbeck, nicht verschwiegen: die zeitgenössische Theologie huldige „dem fast unbegreiflichen Wahne . . . daß sie des Christentums auf historischem Wege wieder gewisser werden könne“8. Der Umgang mit Kirchengeschichte konnte in der Tat für die offizielle Kirche auch unerwünschte Folgen haben. Dies hatte sich schon im Fall der „Unpartheiischen Kirchen- und Ketzerhistorie“ Gottfried Arnolds (1699 / 1700) gezeigt. Im Zeichen des Historismus kam es zu noch eklatanteren Vorgängen. Um nochmals den leidenschaftlichen Christentumshistoriker Overbeck anzuführen, der freilich eine Extremposition hielt und am Ende seines Lebens gewahr wurde, daß er als Theologe seinen Beruf verfehlt hatte, so ging dieser davon aus, daß Geschichte mit Vergänglichkeit identisch sei. Historie könne daher, meinte er, niemals Verteidigung, sondern nur Kritik und Destruktion des Christentums bedeuten: „Das für menschliche Betrachtungsweise klarste Symptom davon, daß es mit der Religion zu Ende geht, ist, daß sie zur Zeit unter uns ganz Historie, ganz historisch geworden ist“9. Darüber zu diskutieren, liegt außerhalb der im Rahmen dieses Vortrags gestellten Aufgabe. Es ging nur darum, in einem Rundblick über die Universitätslandschaft einen Eindruck von der Dynamik des Historismus zu vermitteln. Wir wenden uns nun unserem eigentlichen Thema, der Frage zu, ob und in welchem Maße dieser intellektuell-akademische Prozeß mit dem Alltag der Gesellschaft korrespondierte.

Franz Overbeck, Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie, Leipzig 21903, S. 36. 9 Zitiert nach Arnold Pfeiffer, Franz Overbecks Kritik des Christentums, Göttingen 1975, S. 66. 8

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III. Historismus und die Gestaltung des öffentlichen Lebens Wenn wir die Projektion des Historismus aus dem engeren akademischen in den weiteren soziokulturellen Bereich verfolgen, fällt unser Blick zuerst auf den Stein gewordenen Historismus der Architektur als das anschaulichste Beispiel von allen10. Wir fassen diese hier als pars pro toto für den gesamten Kunsthistorismus ins Auge. Noch sind massenhaft Schöpfungen aus dem Bauwesen des 19. Jahrhunderts vorhanden, Bauten in neoromanischen, neogotischen, Neorenaissance- und anderen Stilen bzw. deren Mischungen. Das Alte, das vermeintlich Alte, tritt also dem kunstgeschichtlich nicht Versierten heutigen Tages überwiegend aus zweiter Hand, als Produkt des Historismus, in den Gesichtskreis. Nur beim kleineren Teil des überkommenen historischen Bestandes ist es angebracht, den Begriff Baukunst zu verwenden. Mehrheitlich handelt es sich um Gebrauchsarchitektur, um Massenfertigung aus Baubüros, nach Schablone und Vorlagen aufgeführt und gekennzeichnet durch einen oft schreienden Kontrast zwischen Fassade und Innenraum. Aber das ist nicht unser Thema. Wir fragen vielmehr: Wie kommt es zu der Überwältigung der Architektur durch den Historismus? Dabei sehen wir davon ab, daß geistesgeschichtlich anders zu taxierende Spielarten von Architektur-Historismus schon lange vor 1800 eine bedeutende Rolle gespielt haben. Entscheidend war wohl, daß sich die Baubedürfnisse eines durch die industrielle Revolution bestimmten Zeitalters grundlegend vermehrt und vor allem verändert hatten. Adäquate Lösungen gelangen nur in Teilbereichen. Bis zum Jahrhundertende und oft noch darüber hinaus bestand eine Diskrepanz zwischen der Mentalität von Bauherren und Baumeistern einerseits und den Erfordernissen einer neuen Zeit andererseits. In dieser Verlegenheit rief man die Kunstgeschichte zur Hilfe. Die Wissenschaft sollte einen intellektuellen Notstand durch Rückgriff auf das bewährte Alte überbrücken. Man zeigt in der heutigen Kunstwissenschaft sehr viel mehr Verständnis für den Historismus als noch vor zwanzig oder dreißig Jahren. Die Architekturrichtung der PostModerne verhält sich dem Historismus gegenüber ziemlich unbefangen; man kultiviert sogar neohistorische Trends. Aber dies soll uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß historistisches Bauen im 19. Jahrhundert doch das Stigma einer Verlegenheitslösung trug, wie dies schon zahlreiche Zeitgenossen ausgesprochen haben. Jeder weiß, daß das Lebensgefühl der (beispielsweise) hinter neogotischen Fassaden hausenden und arbeitenden Menschen nicht mehr mittelalterlich gewesen ist. Nicht nur in der Theorie also, sondern auch in der soziokulturellen Realität sah man sich mit der Problematik des Historismus konfrontiert. Verweilen wir noch einen Augenblick in der Welt unserer Städte! Durch sie führen Straßen, die man mit Ziffern voneinander unterscheiden könnte. Manchen10 Vgl. Michael Brix und Monika Steinhauser, „Geschichte allein ist zeitgemäß“, Lahngießen 1978; Heinz Gollwitzer, Zum Fragenkreis Architekturhistorismus und politische Ideologie, in: Zeitschr. f. Kunstgeschichte 42 (1979), S. 1 – 14; Wolfgang Hardtwig, Kunst im Revolutionszeitalter. Historismus in der Kunst und der Historismusbegriff der Kunstwissenschaft, in: Archiv für Kulturgeschichte 61 (1979), S. 154 – 190.

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orts ist das geschehen, aber in der Regel hat sich der Historismus nicht nur bei der Bebauung, sondern auch durch Namengebung bemerkbar gemacht. Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts hing die Benennung der Straßen und Plätze primär mit topographischen und sozioökonomischen, nicht zuletzt mit kirchlichen Gegebenheiten der Gemeinden zusammen. Ausfallstraßen hat man nach anderen städtischen Zentren benannt. Die Expansion der Bautätigkeit im 19. Jahrhundert machte es jedoch erforderlich, nach weiteren Namen für die zahlreichen neuen Straßen zu suchen. Daß man sich dabei primär auf die Geschichte bezog, ist ein weiterer Beweis für die kultur- und sozialgeschichtliche Dominanz des Historismus. Es blieb nicht bei der Benennung von Straßen. Zahlreichen Gebäuden, die Staat und Gemeinden errichteten, Schulen, Krankenhäusern, Heimen, Kasernen hat man Namen aus der vaterländisch-dynastischen Geschichte gegeben. Im protestantischen Bereich erstreckte sich dieser Brauch auch auf die Kirchenbauten. Die gehäufte Errichtung von Martin-Luther-Kirchen, Gustaf-Adolf-Kirchen, Paul-Gerhardt-Kirchen ist erst seit der Epoche des Historismus erfolgt und selbstverständlich nicht ohne dessen Einwirkung zustandegekommen. Im Zusammenhang der historischen Namengebung spielte die monarchische Propaganda, ein Ergebnis der seit der Französischen Revolution die regierenden Dynastien beherrschenden Defensivmentalität, eine erhebliche Rolle. Vorher hatten die Fürsten dergleichen nicht nötig. Ein Herrscher um 1700 hätte es wahrscheinlich für unter seiner Würde befunden, wenn man ein Schulhaus nach ihm hätte benennen wollen. Im 19. / 20. Jahrhundert ging man sogar dazu über, ausgestorbene Dynastien, etwa die Askanier in Brandenburg oder die Agilolfinger in Bayern, mittels Benennungen öffentlicher Gebäude zu beschwören. Die Bevölkerung ließ diese Lebensäußerungen des Historismus über sich ergehen und blieb alles in allem, wie uns scheint, unberührt. Und so verhält es sich bis zum heutigen Tag. In jeder deutschen Großstadt finden sich Ensembles von Straßennamen, die heute keiner, der bei der Namengebung mitzusprechen hat, vorschlagen würde. Wenn jedoch niemand daran denkt, diese Namen, abgesehen von unumgänglichen Veränderungen, durch andere zu ersetzen, so nicht nur, weil es verwaltungstechnischen Aufwand und finanzielle Ausgaben erfordern würde. Ausschlaggebend ist, daß diese Namen als solche die Bevölkerung ziemlich gleichgültig lassen und nur eine geographische Orientierungsfunktion erfüllen. Der volkspädagogische Impuls des Historismus führte in diesem Falle offensichtlich in eine Sackgasse. In enger Verbindung mit dem Historismus der Bauten und der Straßennamen steht der Denkmalskult des 19. / 20. Jahrhunderts. Denkmäler hatte es schon lange vorher, schon in der Antike gegeben. Das Problem liegt im Durchbruch zum Massenhaften, in der Ausweitung des Denkmalwesens, denn es waren im 19. Jahrhundert ja längst nicht mehr nur die Herrscher, sondern auch die führenden Gestalten des Geisteslebens, die Erfinder, die Denker, aber auch andere Menschen im Dienste der Öffentlichkeit, deren Gedächtnis wachgehalten werden sollte. Wenn es nicht zu Statuen reichte, hat man immerhin Tafeln befestigt. Es zählt zu den Verdiensten der Fritz-Thyssen-Stiftung, daß sie in ihre Förderung der Erforschung des 19. Jahr-

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hunderts auch das Denkmalswesen einbezogen hat11. Inzwischen ist von Historikern mehrfach der Komplex des Nationaldenkmals abgehandelt worden12, auch dies ein vor der Französischen Revolution kaum vorstellbares Phänomen, das gleichzeitig dem Nationalbewußtsein und dem Historismus zuzuschreiben ist. Als einer der ersten hat 1939 Franz Schnabel dem Denkmalskult des 19. Jahrhunderts einen geistvollen Aufsatz „Die Denkmalskunst und der Geist des 19. Jahrhunderts“13 gewidmet und darin auch Bezug genommen auf die schon vor weit mehr als hundert Jahren beginnende, mit dem österreichischen Publizisten Ferdinand Kürnberger einsetzende, sehr lebhafte Denkmalskritik. Ebenso unermeßlich wie auf dem Feld der Kunst sind die Wirkungsweisen des Historismus auf dem der schönen Literatur14. Historischer Roman und historisches Drama stehen dabei im Vordergrund. Beide Gattungen existieren heute noch, und sie existierten schon vor dem Historismus. Was nun das Spezifische etwa am historischen Roman des Historismus sei, ist zum Gegenstand lebhafter literaturtheoretischer Auseinandersetzungen geworden. Nachdem Georg Lukács mit einem stimulierenden Beitrag zur Erörterung des Problems aus marxistischer Sicht vorangegangen war, diskutiert man seit etwa fünfzehn Jahren auch in der nichtkommunistischen Welt den Komplex unter zeitgemäßen Gesichtspunkten. Wie immer man die Gattung definiert – an Kritik an der historischen Belletristik hat es von Anfang an nicht gefehlt, und zwar nicht nur an so extremen Erscheinungen wie den Professorenromanen eines Felix Dahn oder Georg Ebers oder am Bühnenstil der Meininger, dessen innovatorische Qualität auf dem Gebiet der Regiekunst indessen heute anerkannt wird. Unbehagen hat es noch in jüngster Vergangenheit Literaturhistorikern bereitet, daß im historischen Roman die aristotelische Antithetik von Poesie und Historiographie zugunsten einer Unterwerfung von Kunst und Literatur unter geschichtswissenschaftliche Gesichtspunkte im Geiste des scientifischen Zeitalters aufgegeben worden sei. Dem steht allerdings entgegen, daß Repräsentanten der Geschichtswissenschaft wie Ranke oder Thierry zu Walter Scott, dem Begründer 11 Vgl. Hans Ernst Mittig / Volker Plagemann, Denkmäler im 19. Jahrhundert, München 1972. 12 Vgl. Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert, in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie, Göttingen 1976, S. 133 f.; ders., Kirche und Nationaldenkmal. Der Kölner Dom in den 40er Jahren, in: Staat und Gesellschaft im politischen Wandel (Festschrift f. Walter Bussmann), Stuttgart 1979, S. 175 – 202; Ludger Kerssen, Das Interesse am Mittelalter im deutschen Nationaldenkmal, Berlin 1975. 13 In: Franz Schnabel, Abhandlungen und Aufsätze 1914 – 1965, Freiburg u. a. 1970, S. 134 – 150. 14 Vgl. O. Kraus, Der Professorenroman, Heilbronn 1884, Georg Lukács, Probleme des Realismus: 3. Der historische Roman, Neuwied 1965 (1. Aufl. 1956, entstanden 1936 / 37); Wolfgang Iser / Fritz Schalk, Dargestellte Geschichte in der europäischen Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt am Main 1970; Thomas Hahn, Die Gastspiele des Meininger Hoftheaters im Urteil der Zeitgenossen usw., Köln 1970; Hartmut Eggert, Studien zur Wirkungsgeschichte des deutschen historischen Romans 1850 – 1875, Frankfurt am Main 1971; Hans V. Geppert, Der „andere“ historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung, Tübingen 1976; John Osborne, Die Meininger. Texte zur Rezeption, Tübingen 1980.

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des historischen Romans und seinem ersten Theoretiker, als zu einem großen Meister aufgeblickt haben. Und wenn wir uns in das literarische Werk der führenden Repräsentanten des historischen Romans vertiefen, in die Schöpfungen eines Victor Hugo, eines Tolstoi, eines Fontane, auch eines Gustav Freytag, so wird man kaum behaupten wollen, daß die Annäherung an den geschichtswissenschaftlichen Standard ihrer Qualität Abbruch getan habe. Wir wären ärmer ohne diese Leistungen. Noch kaum erforscht scheint zu sein, wie sich der Historismus in der Literatur auch außerhalb des geschichtlichen Romans und des geschichtlichen Dramas niedergeschlagen hat. Schließlich beweist die eben erfolgte Aufzählung von Autorennamen, daß es sich beim Historismus nicht um einen deutschen Sonderweg handelt, sondern um ein europäisches Phänomen. Das ließe sich auch auf allen anderen von mir bisher aufgeführten Sektoren des öffentlichen Lebens nachweisen. Einen weiteren Aspekt des Sozialhistorismus gewährt die im 19. Jahrhundert angebrochene und bis zum heutigen Tag anhaltende Hausse an Jubiläen und Gedenktagen, und zwar sowohl politischer Gedenktage wie sehr zahlreicher Orts-, Geschäfts- und Firmenjubiläen, früher auch Regimentsjubiläen, oft mit der Herausgabe von Festschriften verbunden. Vereinzelt beging man schon früher Gedenktage historischer Ereignisse. Im 17. Jahrhundert wurden, großenteils auf obrigkeitliche Anordnung, Reformationsjubiläen gefeiert, und in einzelnen Fällen hat man, allerdings nicht in Münster selbst, bereits im 18. Jahrhundert des Westfälischen Friedens gedacht. Als Massenphänomen bricht sich das Jubiläumswesen aber erst im 19. Jahrhundert Bahn. Stadtgründungsfeiern z. B., mit aufwendigen historischen Festzügen verknüpft, sind – in Deutschland jedenfalls – vor dem 19. Jahrhundert offensichtlich noch nicht üblich gewesen. Die Ermittlung einer Stadtgründungsurkunde durch Berufshistoriker allein hätte wohl noch nicht ausgereicht, um einen städtischen Magistrat zur Veranstaltung von Gründungsfeiern zu veranlassen. Es mußte beim Rat der Stadt wie bei einem erheblichen Teil der Bevölkerung eine Mentalität entstanden sein, die freudige Beteiligung an einer Stadtgründungsfeier mit Sicherheit erwarten ließ. Erst eine Intensivierung des historischen Bewußtseins bewirkte das Zustandekommen einer solchen Besinnung. Ahnenforschung und die mit ihr verbundene Gründung von Familienverbänden gehören ebenfalls in unseren Zusammenhang. Durch den von der nationalsozialistischen Regierung geforderten Ahnennachweis ist dieser Sektor geschichtlicher Betätigung und Organisation etwas ins Zwielicht geraten und zurückgegangen. Die Begeisterung für Familienforschung als einer nicht mehr auf regierende Häuser und Aristokratie beschränkten Genealogie war jedoch längst vor dem Nationalsozialismus aufgetreten, schlug ungezählte Menschen in ihren Bann und hat zur Popularisierung des Geschichtsbewußtseins insgesamt erheblich beigetragen, mitunter geradezu die Züge eines gehobenen intellektuellen Volkssports angenommen. Die Zahl derer, die Jahre hindurch ihre Freizeit mit Ahnenforschung füllten und die Nerven mancher Archivare und Geistlicher als Verwalter von Pfarrbüchern Belastungsproben unterzogen, nahm seit dem 19. Jahrhundert stetig

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zu. Die Gestalt des Ahnenforschers ist in die Literatur eingegangen; ich erinnere an Romane August Sperls und Ernst von Salomons. Es geschah im Klima des Historismus, daß zusätzlich zu den seit langem bestehenden Fideikommissen und Familienstiftungen seit dem 19. Jahrhundert in adeligen wie bürgerlichen Kreisen viele neue Familienverbände entstanden15. Auch heute noch blühen Hunderte und Aberhunderte von solchen Vereinen, zum Teil durch Interesse an Stiftungen, zum Teil durch spezifische, historisch orientierte Geselligkeit zusammengehalten. Ihr Integrationspotential ist nicht unbeträchtlich. Sie unter der Sammelbezeichnung „Öffentlichkeitshistorismus“ zu registrieren, ist wohl statthaft, obschon ihre Vereinsexistenz großenteils mehr esoterischer Art ist und Millionen von Zeitgenossen keine Ahnung davon haben, daß es Zusammenschlüsse dieser Art überhaupt gibt. Eine bleibende Leistung des Historismus besteht in der Vermittlung von Impulsen zum Museums- und Ausstellungswesen, einem weiten Feld, auf dem sich Initiativen von oben und unten, seitens der Regierungen und seitens des gebildeten Bürgertums, begegneten. Mochte man auch sonst politisch konträre Positionen vertreten – in der Bildungssphäre machte sich die gemeinsame Mentalität des Historismus bemerkbar. Die Geschichte der Museumsgründungen läßt sich weithin mit der des Historismus synchronisieren16. Historismus war im Spiel, wenn sich damals der Architektur die Aufgabe stellte, Bauten zu schaffen, „die mehr waren als ein Bilderdepot“. Tatsächlich ist es gelungen, Museen als Kunstwerke für Kunstwerke zu errichten, und zwar für Kunstwerke der Vergangenheit, nicht nur Kunstausstellungshallen, die eine eigene Gattung bildeten. Man hat den Typus des Kunstmuseums als Integration von Architektur und Wandmalerei beschrieben und dabei nicht zuletzt an die Historienmalerei des Zeitalters gedacht, die als wissenschaftlicher Gegenstand der Kunstgeschichtsforschung von heute mehr bedeutet als noch vor dreißig oder fünfzig Jahren. Daß die Öffentlichkeitsfunktion der Museen der Bildungsidee des Historismus entsprach, ist offensichtlich. 15 Aufschlußreich berichtet ein Mitglied der Familie von Maltza(h)n in seinen Erinnerungen über die Gründung des Familienvereins 1862 und bemerkt dazu u. a. folgendes: „Ein Zusammenhang der verschiedenen Glieder unserer Familie . . . fehlte uns völlig, wie das auch bei den meisten Adelsfamilien östlich der Elbe der Fall war. Über die Geschichte ihrer Familie, ihre eigene Abstammung und Verwandtschaft wußten die wenigsten Maltzahns Bescheid, über den Großvater oder allenfalls den Eltervater hinaus wußte keiner, von wem er abstammte. Infolgedessen fehlte auch das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit und der Pflicht des Eintretens für einander völlig. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts regte sich in Norddeutschland und namentlich in Preußen, von Friedrich Wilhelm IV. begünstigt und gefördert, in den Familien des Uradels der Familiensinn und führte zur Begründung von Familienverbänden“ (Maltza(h)nscher Familienverein (Hrsg.), Die Maltza(h)n 1194 – 1945. Der Lebensweg einer ostelbischen Adelsfamilie, Köln 1979, S. 209). 16 Vgl. Volker Plagemann, Das deutsche Kunstmuseum 1790 – 1870, München 1967; Barbara Mundt, Das deutsche Kunstgewerbemuseum, München 1974; Bernward Deneke / Rainer Kahsnitz, Das kunst- und kulturgeschichtliche Museum im 19. Jahrhundert, München 1977; Walter Grasskamp, Museumsgründer und Museumsstürmer. Zur Sozialgeschichte des Kunstmuseums, München 1981.

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Neben die Kunstmuseen im engeren Sinn traten im Laufe des 19. Jahrhunderts die thematisch sehr breit angelegten kulturhistorischen Museen vom Typus des Albert-und-Viktoria-Museums in London, denen man nicht nur eine Bildungsaufgabe, sondern auch eine nationalpädagogische Funktion beimaß. Eine von der Staatsführung betriebene Nationalpädagogik wußte sich der Strömung des Historismus zu bedienen. Dies gilt nicht nur für den Geschichtsunterricht und die Schulgeschichtsbücher. Die Historienmalerei z. B., die gewiß auf ein ehrwürdigeres Alter als der Historismus zurückblicken konnte, erfuhr gerade durch die nationalpädagogische Tendenz eine erhebliche Aufwertung. Der monetäre Historismus schließlich verfügte über eine Jahrtausende alte Vorgeschichte der Prägung von Münzen mit Herrscherbildnissen, von Kleinoden, Medaillen und Plaketten, auf denen nicht selten historische Ereignisse festgehalten waren. Erst im Historismus erlebte man jedoch den Versuch, geschichtliche Vorgänge systematisch auf Münzen festzuhalten und solche Prägungen als Geschichtstaler in nationalpädagogischer Absicht zum Bestandteil laufender Währungen zu machen17. Noch weit mehr als die Münze hat sich dann die Briefmarke einem staatlich gelenkten Historismus erschlossen, und so ist es bis zum heutigen Tag geblieben. Obwohl noch zahlreiche andere Sparten des öffentlichen Lebens auf ihre Historismusbezogenheit zu untersuchen wären, möchte ich diesen Überblick mit einigen Bemerkungen zum historischen Vereinswesen beenden und so den Kreis schließen, denn vom 150jährigen Jubiläum des Historischen Vereins Münster sind wir ausgegangen. Die historischen Vereine bildeten im Vereinswesen des 19. Jahrhunderts zwar nur einen Sektor unter anderen, aber ihre zeittypische Bedeutung ist um so höher zu veranschlagen18. Charakteristisch für das 19. Jahrhundert ist, daß Geschichtsbegeisterung zahlreiche Menschen aus dem Honoratioren- und Gebildetenmilieu vereinen konnte und daß bei dieser Gelegenheit sich wissenschaftliche Praktiker des Faches Geschichte mit Amateuren, Experten mit Liebhabern zusammenfanden. Die fachlichen Leistungen dieser Vereine verdienen allen Respekt. Manche heutigen Institutionen, darunter die Monumenta Germaniae Historica, sind ursprünglich in Form eines Vereins organisiert gewesen. Die Aktivitäten der Vereine waren nicht auf das Vortragswesen begrenzt. Sie trugen und tragen, heute oft unter erheblichen finanziellen Schwierigkeiten, ein noch blühendes Zeitschriftenwesen und leisteten vielfältige Mittlerdienste zwischen Wissenschaft und Publikum. Man kann sie als Lobby und als Resonanzboden der historischen Sache in der Öffentlichkeit bezeichnen. In der Erkenntnis, daß Unbegrenztheit der historischen Thematik auch ein Schwächemoment sein kann, haben sich die meisten hi17 Vgl. Kurt Jaeger, Die Münzprägungen der deutschen Staaten vom Ausgang des alten Reiches bis zur Einführung der Reichswährung, V, Basel 1968, S. 26 ff. 18 Vgl. Johannes Müller, Die wissenschaftlichen Vereine und Gesellschaften Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert, Hildesheim 1965 (Nachdruck; 1. Aufl. 1887); Hermann Heimpel, Organisationsformen historischer Forschung, in: HZ 189 (1959), S. 139 – 222; Thomas Nipperdey, Verein als soziale Struktur im späten 18. u. frühen 19. Jahrhundert. Eine Fallstudie zur Modernisierung, in: ders., Gesellschaft etc., S. 174 – 205.

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storischen Vereine auf regionale Geschichtspflege konzentriert. Dazu trat eine fast unübersehbare Zahl von historischen Spezialvereinen für die unterschiedlichsten Gebiete, von der historischen Waffenkunde bis zur Post- oder Eisenbahngeschichte, und in der Regel mit Fachzeitschriften ausgestattet. Der Historische Verein Münster von 1832 ist den territorial oder sachlich spezialisierten Vereinen gegenüber zum Ausnahmefall geworden. Früher identifizierte man den Zweck der Historischen Vereine seitens ihrer Mitglieder wie der weiteren Öffentlichkeit keineswegs ausschließlich mit wissenschaftlicher Betätigung. Vielmehr schrieb man ihnen darüber hinaus eine patriotisch-integrierende Wirkung zu, wie denn der Historismus des 19. Jahrhunderts insgesamt engstens mit der vaterländischen Bewegung des Zeitalters verbunden war. Beide spendeten sich gegenseitig wertvolle Impulse. Aber noch mehr: Dynamik und Struktur beider legen die Frage nahe, ob nicht die Erscheinungen des Historismus und des Nationalismus aus einer gemeinsamen Wurzel hervorgegangen sind. Darauf komme ich noch zurück. Zuvor ist freilich der Überlegung Raum zu geben, welche gesellschaftspolitischen Akzente die Historischen Vereine setzten bzw. welche man ihnen setzte und ob ihr historischer Patriotismus eher konservativen oder eher progressiven Charakter trug. Wir kennen den Fall, daß die Initiative zur Gründung Historischer Vereine von Regierungsseite ausging, und alles in allem kann man sagen, daß in Deutschland die Historischen Vereine amtlich wohl gelitten waren. Von Regierungsseite nahm man in der Restaurationszeit, aber auch noch lange Zeit später, an, daß Menschen mit Interesse für die Vergangenheit Verständnis für das Herkömmliche und Überlieferte aufbrächten und eher als andere geneigt seien, das gute Alte zu bewahren. Mit anderen Worten, man schrieb den Historischen Vereinen zuversichtlich eine konservative Funktion zu, und was die Historischen Vereine in Münster und Westfalen betrifft, so haben sie diese Erwartung im Ganzen auch nicht enttäuscht. Nicht von ungefähr war gerade unser Historischer Verein von 1832 Jahrzehnte hindurch der bevorzugte intellektuelle und gesellschaftliche Tummelplatz von Bürokratie und Offizierskorps Münsters. Gleichwohl darf man den Vereinshistorismus nicht einseitig auf konservative Gesinnung festlegen. Zuzugeben ist: da eine zarte Verwandtschaft zwischen Erkennen und Lieben besteht, sind es häufig konservative Temperamente, die sich mit der Vergangenheit beschäftigen. Aber zwingend ist diese Verbindung nicht. Zur Erkenntnis gehört nicht nur Liebe, sondern auch Kritik. Zumal der wissenschaftliche Umgang mit Geschichte steht und fällt mit Kritik, und zwar Kritik nicht nur an den geschichtlichen Quellen und ihrer Überlieferung, sondern auch Kritik an den überlieferten Zuständen. Insofern haben sich von jeher auch Progressive aller Schattierungen, Liberale und Sozialisten der Geschichte bedient, um ihren Standpunkt zu rechtfertigen. Wir kennen Historische Vereine, die sich in ihrer politischen Grundhaltung von Anfang an als progressiv interpretierten. Die historisch-politischen Gesellschaften im aristokratischen Stadtstaat Zürich des 18. Jahrhunderts haben nicht nur einen sogenannten antiquarischen Patriotismus kultiviert, sondern auch über Gründe und Lehrsätze einer „wahren philosophischen Politik“ diskutiert und

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auf solchen Wegen Kritik an den politischen Verhältnissen Zürichs geübt19. Noch 1819 wurde eine historische Vereinigung Zürichs mit dem unschuldigen Namen „Antiquarische Gesellschaft“ zum Forum von Kritik an den Karlsbader Beschlüssen, die im benachbarten Deutschen Bund die innere Politik zu reglementieren suchten. In Westfalen war im „Altertumsverein“ durchaus Platz für antigouvernementale, antipreußische Vorbehalte, und der Gründer des Historischen Vereins von 1832, Wilhelm Heinrich Grauert, ist alles andere als ein Verfechter vormärzlicher Reaktion gewesen. Ich wiederhole jedoch, daß im Deutschen Bund und später im Kaiserreich der Typus des gouvernementalen und staatsloyalen historischen Vereins die Regel bildete. Soweit ein zwangsläufig nur selektiver Überblick über sozial- und kulturgeschichtliche Ausstrahlungen des Historismus!

IV. Deutungsversuche Ziehen wir aus dem bisher Ausgeführten ein Fazit, so dürfen wir sagen: der Historismus ist heute historisch geworden. Und zwar historisch in solchem Maße, daß man ihn nicht mehr als aktuelle Herausforderung oder als zu überwindendes Prinzip empfindet, sondern als abgeschlossene Größe. Und das heißt wiederum, daß man ihn nicht mehr einseitig abwertet, sondern mit einer gewissen liebevollen Zuwendung behandelt und als geschichtliches Phänomen ernst nimmt. Ich erinnere nochmals an das im ganzen, wie mir scheint, geglückte Unternehmen der ThyssenStiftung zur Erforschung des 19. Jahrhunderts. Aus seinen wertvollen Bänden spricht bei aller Unterschiedlichkeit der Autoren und ihrer Positionen durchweg ein früher nicht vorhandenes Bemühen um den Historismus und ein neues Verstehen des Historismus, sicherstes Zeichen dafür, daß der Historismus der Geschichte angehört. Der Historiker darf sich der schwierigen Aufgabe nicht entziehen, große geschichtliche Erscheinungen zu interpretieren. D. h., er soll nach ihren Ursachen und nach der Bedeutung forschen, die ihnen innerhalb ihrer Epoche und für spätere Zeiten zukam. Mit einer griffigen Formel ist dies freilich nicht abzutun. Gestatten Sie mir, ein paar Gesichtspunkte zur Klärung dieser Fragen beizusteuern. 1. In das 1. Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts fällt in Deutschland, soviel man weiß, der erste und bis auf weiteres damals noch nicht durchgedrungene Versuch eines von theologischen Vorstellungen völlig unabhängigen Programms für den Geschichtsunterricht20. Gemeint war selbstverständlich der Geschichtsunterricht an höheren Schulen. Für die sogenannten einfachen Menschen hat sich auch damals noch das meiste, was ihnen als Tradition im Leben begegnete, in der kirchlichen 19 Vgl. Kurt Büchi, Historisch-politische Gesellschaften in Zürich 1730 – 1831, Zürich 1963. 20 Vgl. Ernst Weymar, Das Selbstverständnis der Deutschen. Ein Bericht über den Geist des Geschichtsunterrichts der höheren Schulen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1961, S. 101.

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Sphäre zusammengeballt. Das war nicht Geschichte um der Geschichte, sondern Geschichte um der Religion willen, aber es handelte sich faktisch um einen recht stattlichen Fundus an Überlieferungen, an dem selbst der analphabetische Teil der Bevölkerung seinen Anteil hatte. Wie nun die Aufklärung zunehmend weltliche Bildung einem wachsenden Personenkreis anbot, so speziell der Historismus in wachsendem Umfang Profangeschichte. Und Jahrzehnt für Jahrzehnt ist dann eben doch immer breiteren Bevölkerungskreisen dasjenige weltlich-geschichtliche Bildungsgut nahegebracht worden, das man in Schul- und Lesebüchern vermittelte und für das man Ruhmeshallen und eine Walhalla erbaute. In dieser Sicht ist der Historismus nicht als Gegenbewegung gegen die Aufklärung, sondern als ihre Fortsetzung, allerdings ihre sublimierende und verfeinernde Fortsetzung aufzufassen und als Teilerscheinung des großen und allgemeinen Säkularisierungsprozesses der geistigen Welt. 2. Parallel dazu erweist sich der Historismus als zugehörig zu dem großen Demokratisierungsprozeß, der, ausgelöst durch die Französische Revolution, sich seit dem endenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart immer unaufhaltsamer in Europa ausgebreitet hat, der „Fundamentalpolitisierung“, um es mit einem Ausdruck Karl Mannheims zu sagen. Über Traditionen zu verfügen, war, abgesehen von dem für sich stehenden Traditionsschatz der Kirche, ursprünglich das Privileg der Vornehmen. Wer einmal in der Hofkirche in Innsbruck die Traditionsatmosphäre in sich aufgenommen hat, die von den „Eisernen Mandern“ entlang dem Kenotaph Kaiser Maximilians I. ausgeht, hat einen Begriff von der Geschichtsauffassung, aber auch der Geschichtspflege an einem frühneuzeitlichen Herrscherhof. Und Ahnenbilder als Geschichts- und Kontinuitätssymptom, als Prestigefaktor und Ausdruck des Standesbewußtseins, als Anspruch der Vergangenheit an die Nachfahren findet man zuerst in den Rittersälen der Adelsschlösser. Zuerst hat es den Gotha, das Handbuch adliger Geschlechter, gegeben und erst sehr viel später, den Gotha nachahmend, das bürgerliche Geschlechterbuch. Adlige Familienverbände sind zuerst auf den Plan getreten, bürgerliche folgten. Als Demokratierungssymptom darf man es wohl auch ansehen, wenn die vornehmen hauptstädtischen kulturhistorischen Nationalmuseen ringsum im Lande durch Heimatmuseen ergänzt worden sind. Der Historismus hat also Sperrbezirke um die Tradition aufgebrochen und Geschichte für jedermann oder für möglichst viele zugänglich machen wollen. Selbstverständlich blieb wissenschaftlicher Umgang mit Geschichte auf akademisch ausgewiesene Fachleute beschränkt. Und die Teilhabe an Geschichte stufte sich ebenso selbstverständlich nach dem Bildungsgrad ab. Aber grundsätzlich wurden die Pforten zur Geschichte im Historismus für alle aufgetan, man warb für Geschichte und suchte ihre Kenntnis zu verbreiten. Zieht man eine Bilanz der popularisierten Beschäftigung mit Geschichte, so ist es wohl viel weniger die Erzeugung ästhetischen Wohlgefallens als die Schärfung des kritischen Bewußtseins gewesen, die dabei heraussprang, und kritisches Bewußtsein wird als ein Erfordernis moderndemokratischer Mentalität angesehen.

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3. Ein demokratischer Zug des Historismus wird auch in seinem engen Bündnis mit der Nationalbewegung bei uns wie in anderen Ländern sichtbar. Der Nationalismus kommt, was seit einem Jahrhundert unserem politischen Bewußtsein mehr und mehr entschwunden ist, als politisches Phänomen ursprünglich von links. Die Große Französische Revolution ist sein erfolgreichster Durchbruch gewesen. Keiner der zahlreichen Nationalismen ist bis zum heutigen Tag ohne geschichtlichen Rückgriff und vor allem ohne historische Legendenbildung ausgekommen. Als Phänomene des öffentlichen Lebens waren beide, Nationalismus und Historismus, gleichzeitige Integrationsformen unter gleichen gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. Ihre gegenseitige Beeinflussung war so intensiv, daß im literarischen wie im wissenschaftlichen wie im künstlerischen Bereich eines in das andere überging. Dies wird sinnfällig z. B. im Denkmalswesen und -unwesen. So manifestierte sich der oppositionelle Charakter nationalistischen Selbstbewußtseins bei der Errichtung eines Dante-Denkmals durch die italienische Bevölkerung im österreichischen Trient oder der eines Schiller-Denkmals durch deutschnationale Osterreicher in Wien 1876. Der Text der Spendenaufrufe erwies sich als Symbiose von Nationalismus und Historismus. Schon das Motto des großen Unternehmens der Monumenta Germaniae Historica hatte gelautet: „Sanctus patriae amor dat“. 4. Eine weitere Deutungsvariante bezieht sich auf den Historismus als Symptom der Verwissenschaftlichung. Mit dem 19. Jahrhundert setzt sich eine wissenschaftlich fundierte Weltzivilisation durch. Ihre Wissenschaftlichkeit ist zwar vorwiegend technisch-naturwissenschaftlicher Art, aber sie ist nicht darauf beschränkt, und der Historismus läßt sich von ihr nicht ausnehmen. Ich erwähnte die vom Historismus entfesselte Jubiläumsfreudigkeit des 19., aber auch noch des 20. Jahrhunderts. Dazu benötigte man ein wissenschaftlich gutes Gewissen. Um Städtegründungen zu feiern, brauchte man eine Gründungsurkunde oder jedenfalls eine durch Historiker beglaubigte erste Erwähnung. Auf vage Traditionen ließ man sich im 19. Jahrhundert nicht mehr ein. In dieser Hinsicht war der Öffentlichkeitshistorismus schon damals das Ergebnis eines Verwissenschaftlichungs- und Rationalisierungsprozesses. Beim Architekturhistorismus kann man wohl behaupten, daß die Wissenschaft oft da einsprang, wo sich ein Defizit an zeitgemäßer Originalität zeigte, obschon Historismus und Kreativität auf diesem wie auf anderen Gebieten sich nicht ausschließen mußten. Wissenschaftlich betriebene architekturgeschichtliche Studien waren für die führenden Architekten jedenfalls erforderlich, um im Betrieb historistischen Bauens mithalten zu können. Erst recht gilt dies für die Wissenschaft und Kunst des Restaurierens, die im 19. Jahrhundert aufblühte und sich bis zum heutigen Tag mehr und mehr verfeinert und vervollkommnet hat. Von der Tendenz zur Verwissenschaftlichung beim historischen Roman und auf der Bühne war bereits die Rede. Für die Allgemeinheit fiel ins Gewicht, wenn geschichtswissenschaftliche Kontroversen von Rang ihren Niederschlag in politischen Auseinandersetzungen fan-

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den, wie ich dies an den politischen Transformationen des Sybel-Ficker-Streites an anderer Stelle nachgewiesen habe. Man kann nun freilich sagen, daß die politische Motivation der beteiligten Historiker mindestens ebenso schwer wog wie die historische Inspiration der Politiker, aber hier Prioritäten aufzustellen, wäre identisch mit der Frage, was früher dagewesen sei, die Henne oder das Ei. 5. Schließlich bietet sich die Möglichkeit an, den Historismus als Kompensationsphänomen in einem Zeitalter der Egalisierung und der Vernichtung von Tradition zu verstehen. Franz Schnabel hat es einmal eine schwer deutbare „große Paradoxie“ genannt, „daß in dem gleichen 19. Jahrhundert, in dem mehr als in irgendeinem Zeitalter der uns bekannten Geschichte sonst in langer Zeit Gewordenes und Überkommenes: Sitte, Brauch, Tracht, Gerät, Kunstwerke, ehrwürdige geschichtliche Bauten usw. ohne Bedenken den Bedürfnissen der Gesellschaft geopfert werden, zugleich der ,historische Sinn‘ erwache und sich in den Geisteswissenschaften zu einer Universalität historischen Bewahrens und Vergegenwärtigens entfalte, die ebenfalls ohne Parallele in der Geschichte sei“21. Der verstorbene Münsteraner Philosoph Joachim Ritter hat in einem der bemerkenswertesten Vorträge, die an dieser Universität gehalten worden sind, „Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft“22 versucht, Schnabels Frage zu beantworten. In seiner an Hegel orientierten Denkweise und Sprache unterschied Ritter zunächst zwischen dem historischen Sinn des 19. und 20. Jahrhunderts und dem „natürlichen“ Kontinuitätsgefühl früherer Epochen. Jener sei etwas grundsätzlich Neues und erst im Verlauf einer Bewegung entstanden, in welcher „mit der Ausbreitung ihrer Zivilisation über die Erde überall die gleichen Städte, die gleichen Formen des Arbeitens und Lebens, der Kommunikation, der Bildung“ zutage getreten sind. Ritter nannte dies die „reale Geschichtslosigkeit der Gesellschaft“ und fuhr fort: „In dieser für die moderne Gesellschaft konstitutiven und unaufhebbaren Abstraktheit und Geschichtslosigkeit ist die Zugehörigkeit der Geisteswissenschaften zu ihr begründet. Sie werden auf ihrem Boden ausgebildet, weil die Gesellschaft notwendig eines Organs bedarf, das ihre Geschichtslosigkeit kompensiert und für die geschichtliche und geistige Welt des Menschen offen und gegenwärtig hält, die sie außer sich setzen muß . . . So kann man sagen, daß die Gesellschaft selbst die Geisteswissenschaft als das Organ hervorbringt, das ihre Abstraktheit und Geschichtslosigkeit ausgleichen kann“23. Dieser Ansatz Ritters wurde von Reinhard Koselleck und vor allem Hermann Lübbe ausgebaut und verfeinert. Man könnte das, was Ritter als Aufgabe der Geisteswissenschaften und damit des Historismus nachweist, auch dessen höhere gesellschaftliche Relevanz nennen, im Gegensatz zu dem, was man heute vulgär darunter versteht. In 21 Franz Schnabel, Abdruck aus dem (nicht erschienenen) Bd. 5 der „Deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17. XII. 1957. 22 Joachim Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaft in der modernen Gesellschaft, in: Jahresschrift 1961 der Gesellschaft zur Förderung der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster 1962. 23 Ritter, a. a. O., S. 29 – 34.

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diesem Sinne sagt Ritter von den Geisteswissenschaften: „Sie können daher ihrer gesellschaftlichen Aufgabe überhaupt nur in der Distanz zur Praxis und in der Abschirmung gegenüber allen Versuchen gerecht werden, sie für ihre Zwecke in Anspruch zu nehmen“24.

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Ritter, a. a. O., S. 35 f.

Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert Eine ideologie- und wissenschaftsgeschichtliche Nachlese Der Sybel-Ficker-Streit zählt zu den am besten dokumentierten und am häufigsten interpretierten Kontroversen aus der Wissenschaftsgeschichte unseres Faches. Die einschlägigen Schriften der beiden Hauptkontrahenten sind bequem zugänglich gemacht1, die gelesensten Darstellungen der Historiographie haben das Thema aufgegriffen2, in Dissertationen und anderen Veröffentlichungen wurde der Gang des Pro und Contra um „Nutzen und Nachteil“ der römisch-deutschen Kaiserpolitik vor und nach dem Höhepunkt der Auseinandersetzung verfolgt3, und schließlich hat man dem Gegenstand im akademischen Unterricht viel Aufmerksamkeit zugewandt. Der national- und geschichtspädagogisch exemplarische Charakter der Kontroverse springt in die Augen. Handelte es sich doch nicht um einen beliebigen Gelehrtenstreit, sondern um die Bemühung, ein zentrales Problem der mittelalterlichen Geschichte recht zu verstehen, und dies vor dem Hintergrund von Ereignissen und Entwicklungen, die – nach zeitgenössischer Auffassung – der mittelalterlichen Kaiserpolitik prinzipiell verwandte Fragen zum Inhalt zu haben schienen. Mit anderen Worten: man glaubte aus der historischen Erkenntnis politische Nutzanwendung ableiten zu können. Die enge Verbindung politischer Gesichtspunkte mit wissenschaftlichen bei den Wortführern der beiden sich bekämpfenden Richtungen braucht nicht erst nachträglich ideologiekritisch aufgedeckt zu werden; sie lag von Anfang an offen zutage und wurde von ihren Verfechtern auch bekannt. Ging man von der Auffassung aus, es gebe in ihrem Kern von den Zeitläufen nicht zu verändernde richtige Grundsätze für eine deutsche Politik, so mochten die Positionen Sybels und Fickers, insbesondere diejenige Sybels, zum mindesten methodisch diskutabel erscheinen. Die überwiegende Mehrzahl der deutschen Historiker vertrat 1 Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten Deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich von Sybel und Julius von Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, hrsg. u. eingel. v. F. Schneider, Innsbruck 1941. 2 Vgl. insbesondere H. v. Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, II. Bd., München u. Salzburg 1951, S. 33 – 36 mit Angabe der wichtigsten bis dahin erschienenen Literatur. 3 Hervorzuheben: W. Schieblich, Die Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums in der deutschen Geschichtsschreibung von Leibniz bis Giesebrecht, Bln. 1932; H. Hostenkamp, Die mittelalterliche Kaiserpolitik in der deutschen Historiographie seit von Sybel und Ficker, Berlin 1934; F. Schneider, Die neueren Anschauungen der deutschen Historiker über die deutsche Kaiserpolitik des Mittelalters, Weimar 41940.

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diese Meinung jedoch nicht. In der Widerlegung oder Korrektur der sachlich konträren, nach der Art und Weise ihrer ideologisch-politischen Zeitgebundenheit sich jedoch berührenden Geschichtsanschauungen Sybels und Fickers hat die Geschichtswissenschaft für die Klärung ihrer theoretischen Grundlagen ohne Zweifel hinzugelernt. Während der Gegensatz Großdeutsch – Kleindeutsch, auch im Hinblick auf seine historiographischen Ausstrahlungen, heute seine politische Aktualität eingebüßt hat4, bleibt der Sybel-Ficker-Streit infolgedessen wissenschafts- und ideologiegeschichtlich nach wie vor lehrreich. Der Verfasser meint, das Kapitel „Interpretation der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert“ sei in dieser Dimension noch nicht voll ausgeschöpft. Im Folgenden werden drei Fragen erörtert, die bisher nur am Rande Beachtung gefunden haben, und ihre Beantwortung mag einiges über das Verhältnis von Wissenschaft, Ideologie und Politik vor hundert Jahren aussagen: 1. Hat der Sybel-Ficker-Streit den Rahmen einer gelehrten Auseinandersetzung gesprengt und auf die öffentliche Meinung übergegriffen? 2. Hat die Kontroverse über die mittelalterliche Kaiserpolitik auch bei nichtdeutschen Historikern Widerhall ausgelöst? 3. Sind mit dem Namen Sybel und Ficker tatsächlich die wichtigsten gegensätzlichen Standpunkte markiert oder gibt es noch eine dritte (zu ihrer Zeit vielleicht ausschlaggebende) ideologische Interpretation des Themas?

I. Um zu ermitteln, ob ein von Professoren ausgelöster wissenschaftlicher Streit über die Sphäre der Hörsäle und der akademischen Publikationsorgane hinausdringt und die Öffentlichkeit beeinflußt, hält man sich in der Regel an Tageszeitungen und Zeitschriften. Wir stützen uns hier auf eine andere reichhaltige Quellengattung, die hinsichtlich ihrer Ergiebigkeit für die Geschichte der öffentlichen Meinung bisher noch nicht ausreichend gewürdigt und genutzt wurde, nämlich die Protokolle parlamentarischer Verhandlungen. Zum Sybel-Ficker-Streit beispielsweise enthalten die Stenographischen Berichte über die I. Session des Deutschen Reichstages vom Jahre 1871 an hervorragender Stelle Ausführungen, die den Zusammenhang von Geschichtsauffassung und politischer Überzeugung mit kaum zu überbietender Deutlichkeit beleuchten5. 4 Das letzte Mal, daß der Sybel-Ficker-Streit in einer Synthese von wissenschaftlicher und politischer Anteilnahme gewürdigt wurde, geschah wohl im Zusammenhang der Ausbreitung der gesamtdeutschen Geschichtsauffassung Heinrich von Srbiks und seiner Schule. Nachhutgefechte zwischen den vom Schauplatz der Diskussion abziehenden Vertretern der großdeutschen und denen der kleindeutschen Geschichtsauffassung haben jedoch noch in den ersten Jahren nach Beendigung des II. Weltkriegs stattgefunden. 5 Stenographische Berichte über die Verhandlungen des Deutschen Reichstags. I. Legislaturperiode – I. Session 1871, I. Bd., Berlin 1871, S. 49 – 72. Auf diese Debatten sind als erste

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Es bedarf kaum eines Hinweises, welche programmatische Bedeutung der Adresse zukam, die der erste deutsche Reichstag des Hohenzollernreichs als Antwort auf die Thronrede Wilhelms I. als deutscher Kaiser (gehalten am 21. März 1871) verfaßte und übermittelte. Aus Gründen des Prestiges des jungen Bundesstaatswesens hätten viele Abgeordnete gewünscht, daß eine geschlossene Kundgebung der Parlamentarier zustandegekommen wäre6. Indessen ließ sich über den Wortlaut der Adresse keine Einmütigkeit erzielen. Ursache war hauptsächlich ein Passus, an dem die Mehrheit (Bennigsen und Genossen) unter allen Umständen festzuhalten wünschte, während die Minderheit (Reichensperger, Probst und Genossen) sich nicht zu ihm zu bekennen vermochte, und der folgendermaßen lautete: „Auch Deutschland hat einst, indem die Herrscher den Überlieferungen eines fremdländischen Ursprunges folgten, durch Einmischung in das Leben anderer Nationen die Keime des Verfalles empfangen. Das neue Reich ist dem selbsteigenen Geiste des Volkes entsprungen, welches nur zur Abwehr gerüstet, unwandelbar den Werken des Friedens ergeben ist. In dem Verkehr mit fremden Völkern fordert Deutschland für seine Bürger nicht mehr, als die Achtung, welche Recht und Sitte gewährleisten, und gönnt, unbeirrt durch Abneigung oder Zuneigung, jeder Nation die Wege zur Einigkeit, jedem Staate die beste Form seiner Gestaltung nach eigener Weise zu finden. Die Tage der Einmischung in das innere Leben anderer Völker werden, so hoffen wir, unter keinem Vorwande und in keiner Form wiederkehren“7.

Die ablehnende Stellungnahme des Zentrums war auf dessen Absicht zurückzuführen, gegebenenfalls eine Unterstützung des Heiligen Stuhles durch das neue deutsche Reich in der sogenannten römischen Frage zuwege zu bringen. Dieser Absicht entgegen standen die Sympathien der Nationalliberalen für das ihnen gesinnungsverwandte, neu geeinte und 1866 mit Preußen verbündete italienische Staatswesen, das Bedürfnis, die Nachbarn Deutschlands zu beruhigen und die Erkenntnis, daß man über die problematische Erwerbung Elsaß-Lothringens keinesfalls hinausgehen dürfe. Die Wortführer beider Gruppen hatten allerdings nicht nur die Aktualität der italienisch-vatikanischen Spannungen vor Augen, sondern auch – mehr oder minder andeutungsweise – eingegangen L. Pastor, August Reichensperger 1818 – 1895, Bd. II, Freiburg 1899, S. 16 – 20 sowie H. Oncken, Rudolf von Bennigsen, Bd. II, Stuttgt. und Lpzg. 1910, S. 220 – 228. Knapp, aber das Wesentliche der Auseinandersetzung treffend, erwähnt die Reichstagsdebatte Th. Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln u. Opladen, S. 80 f. Ausführlicher, indessen im wesentlichen nicht unter den für meine Fragestellung maßgebenden Gesichtspunkten behandelt den Gegenstand G. Stoltenberg, Der deutsche Reichstag 1871 – 73, Düsseldorf 1955, S. 39 – 43. Teilabdrucke während der Diskussion gehaltener Reden bei Pastor und Oncken, a. a. O.; ferner bei von Bennigsen, Reden, hrsg. v. W. Schultze und F. Thimme, Bd. I, Halle 1911, S. 269 – 275 sowie Johannes von Miquels Reden, hrsg. v. W. Schultze und F. Thimme, Bd. II, Halle 1912, S. 66 – 70; sehr kurze Abdrucke ohne Kommentar erfolgten durch H. Bartels, Die mittelalterliche Kaiserpolitik im Urteil der neuzeitlichen Geschichtsschreibung (Teubners Quellensammlung) Lpzg. u. Berlin 21930. 6 Stenogr. Berichte, S. 49, 51, 62. 7 Stenogr. Berichte, S. 70.

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den geschichtlichen Zusammenhang und insbesondere die Italienpolitik der römisch-deutschen Kaiser im Mittelalter. Sie sahen die Gegenwarts- wie die Vergangenheitsbezüge des gesamten Komplexes nach ihrer politisch-weltanschaulichen Einstellung entweder von der einen oder der anderen Position im Sybel-Fikker-Streit, und der Verlauf der Debatte läßt keinen Zweifel daran, daß in diesem Fall eine Gelehrtenkontroverse den historischen Rahmen einer politischen Diskussion abgesteckt und diese selbst maßgebend beeinflußt hat. In den Ausführungen, mit denen Bennigsen den Entwurf der Mehrheit begründete – ein Entwurf, dessen umstrittener vierter Absatz an gleichsinnige Sätze der Thronrede Wilhelms I. anknüpfen konnte – werden mehr oder minder die Gedankengänge Heinrich von Sybels paraphrasiert: „Meine Herren, wir können es ja begreiflich finden, daß die Wiederauferstehung eines so mächtigen Deutschlands mit dem Namen von Kaiser und Reich alte Erinnerungen wachruft bei anderen Völkern und in unserem eigenen Volke. Unvergessen ist es bei den übrigen europäischen Völkern, daß dereinst unter dem Namen des deutschen Kaisertums und des deutschen Reichs die Idee einer Universalmonarchie, eines Schutz- und Schirmrechts über alle Völker christlicher Religion bei den mächtigen Herrschern und in dem kriegerischen Volke der deutschen Länder lebendig war durch die Jahrhunderte. Die anderen Völker Europas haben in der Zeit, wo Deutschland stark war, den Druck dieses Bestrebens erfahren, ja wir wollen es nicht verschweigen, es hat Zeiten gegeben, wo die Deutschen in dem Übergriff in das Leben anderer Völker, in der Neigung, sich Macht und Einfluß nicht bloß, sondern auch Länder zu verschaffen, die anderen Nationen und Völkern angehörten, wo die Deutschen in der Zeit der Kraft des mittelalterlichen deutschen Kaisertums der Schrecken Europas gewesen sind . . . Meine Herren, an den Namen von Kaiser und Reich knüpfen sich nicht bloß Erinnerungen so mancher Kriege Deutschlands mit seinen Nachbarn, der Übergriffe, die die deutsche Politik im Mittelalter mit Erfolg auf diesem Gebiet versucht hat, es knüpfen sich vor allem an den Namen von Kaiser und Reich die großen und verhängnisvollen Kämpfe, welche die deutschen Kaiser mit den Rechten und Ansprüchen, die den Nachfolgern der römischen Imperatoren beizuwohnen schienen, mit der römischen Kirche, mit dem Lande Italien geführt haben. Meine Herren, unsere Aufgabe wird es sein, von vornherein darüber bei unserem Volke keine Zweifel zu lassen, daß die ganz überwiegende Mehrzahl, eine überwältigende Mehrheit seiner Vertreter in voller Übereinstimung mit der kaiserlichen Regierung weit entfernt ist, in diese alten, falschen Bahnen deutsch-italienischer und kirchlicher Politik wieder einzulenken . . . Meine Herren, mit dem Namen von Kaiser und Reich tauchen die alten Kämpfe und furchtbaren Gegensätze wieder auf zwischen Kaiser und Papst, die fortdauernden verwüstenden Einfälle, die eine angemessene Folge blühender Geschlechter deutscher Jugend gezwungen hat, ihr Leben zu lassen in den italienischen Gefilden, mit allem Verderben, welches dadurch für das äußere und innere Leben des italienischen wie des deutschen Volkes entstanden ist. Meine Herren, was versucht ist im Mittelalter auf diesem Gebiete der Universalmonarchie, auf diesem Gebiete der gegenseitigen Beherrschung zwischen Staat und Kirche, zwischen Deutschland und Italien, das ist von derartiger verhängnisvoller Bedeutung für Deutschland gewesen, daß die beste Kraft großer Kaiser und eines tüchtigen Volkes erfolglos sich erschöpfte. Selbst die glänzenden Erscheinungen unserer Kaiser, darunter Figuren, die der Zauber des Genies und der Romantik bekleidet, wie der zweite

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Friedrich aus dem Hause der Hohenstaufen, waren zuletzt durch diese Kämpfe, die sie mehr und mehr von den Aufgaben abzogen, die Deutschland gegeben waren, dem deutschen Vaterlande so entfremdet, daß sie fern in Palermo Hof hielten, umgeben von aller Kultur, die Süditalien im Mittelalter bieten konnte, um Deutschland sich nicht kümmerten, in langen Regierungsjahren Deutschland kaum betreten haben und ihren Nachfolgern Deutschland durch den Bürgerkrieg und ewige Fehden verwüstet und zerrissen hinterließen“8.

Der Zentrumsabgeordnete August Reichensperger hat offenbar daran gezweifelt, ob mit geschichtlichen Gegenargumenten im Reichstag des Jahres 1871 ein Eindruck zu erzielen sei. Nicht etwa, daß er nicht für seine Person einen entschiedenen historischen Standpunkt eingenommen hätte, aber aus taktischen Gründen und angesichts einer von der Sybelschen Beweisführung offenbar überzeugten liberalen Mehrheit schien es ihm unvorteilhaft, sich soweit wie Bennigsen auf geschichtliches Gebiet vorzuwagen. Es ist gewiß, daß unter dem Gesichtspunkt der Publikumswirksamkeit Sybel der geschicktere Kontrahent gewesen ist, daß seine vereinfachte, der aktuellen Situation so verdächtig gut angepaßte Darstellung Nichthistorikern eher zusagen mußte und er auf solche Weise zum Schöpfer einer die liberale öffentliche Meinung vorübergehend stark bestimmenden Geschichtsideologie werden konnte. In der Stunde größten Triumphes kleindeutscher Politik, des Sieges über Frankreich und der Begründung eines „evangelischen Kaisertums“ war es andererseits für diejenigen, die in vieler Hinsicht weiterhin dem mittelalterlichen Reichsuniversalismus anhingen und im Zusammenhang damit dem großdeutschen Prinzip den Vorzug vor dem kleindeutschen gaben, „atmosphärisch“ fast ausgeschlossen, die Karten offen auf den Tisch zu legen. Ein reichsuniversalistischgroßdeutsches Bekenntnis in diesem Augenblick wäre – übrigens nicht ohne Grund – als habsburgische Parteinahme ausgelegt worden und hätte angesichts des nur wenige Jahre zurückliegenden Krieges von 1866 und zahlreicher Vorgänge in der Zwischenzeit in den Augen der kleindeutsch gesinnten Majorität ans Landesverräterische gegrenzt. Reichensperger bemühte sich also, den geschichtlichen Aspekt der Dinge aus dem Spiel zu lassen, wenn ihm dies auch nicht durchweg gelang. Daß ihm dessen ungeachtet der Zusammenhang der Reichstagsdiskussion mit dem Gelehrtenstreit fortwährend vor Augen stand – darüber lassen seine Worte keinen Zweifel: „Von dieser Rücksicht geleitet, glaubten meine Freunde und ich, zunächst alle geschichtlichen Rückblicke vermeiden zu müssen, wie wir deren mehrere in dem uns vorliegenden Bennigsenschen Entwurf finden. Diese Tribüne, von welcher aus ich spreche, ist nun einmal kein Professorenkatheder; wir befinden uns in einer politischen Versammlung und nicht in einer Akademie der Wissenschaften9. Geschichte läßt sich nun einmal nicht dekretieren; die Gegensätze in den geschichtlichen Anschauungen werden nicht beseitigt werden, wie groß auch immer die Majorität für diejenige sein mag, welche Sie, meine Herren Stenogr. Berichte, S. 50 f. Sybel hatte die Kontroverse mit einem Vortrag in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften eröffnet. Ein Akademievortrag Löhers über Heinrich I. war vorhergegangen. 8 9

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Mittelalterliche Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert von der Majorität, zu der Ihrigen gemacht haben. Deswegen haben wir alles herausgestrichen, was irgendwie den Stab über unsere Vergangenheit bricht; wir haben nur die Gegenwart und die Zukunft ins Auge gefaßt. Meine Ansicht, um es ganz kurz zu sagen, ist die, daß wir allesamt in unsern Vätern gesündigt haben . . .“10.

Die Nationalliberalen fühlten sich jedoch von der Richtigkeit ihrer Geschichtsauffassung so sehr durchdrungen, daß ihre Sprecher gerade an diesem Punkt wiederholt einhakten. Ihre „ultramontanen“ Gegner sollten genötigt werden, deutlicher Farbe zu bekennen. Daß Reichensperger nur aus taktischen Erwägungen die historische Diskussion vermeiden wollte, war ersichtlich, und eben deswegen führte der Freisinnige Schulze-Delitzsch die Auseinandersetzung neuerdings auf die Grundsatzfrage des Verhältnisses von gegenwärtiger und zukünftiger Politik und der Vergangenheit der Nation zurück: „Solche geschichtliche Rückblicke wurden von dem Herrn Vorredner als etwas rein Theoretisches, als eine Vorlesung bloß, die wenig in einem Parlament zu sagen habe und nicht dahin gehöre, bezeichnet. Ich frage Sie, meine Herren, wie kann denn ein Volk der Ziele seiner Politik, der Gesetze der geschichtlichen Entwicklung, die es von einem bestimmten Ausgangspunkte aus in der Vergangenheit verfolgt hat, und durch welche es nach einer bestimmten Richtung in der Zukunft mit innerer Notwendigkeit hingedrängt wird – wie kann ein Volk seiner ganzen geschichtlichen Bestimmung sich anders bewußt werden als durch geschichtliche Rückblicke? Es existiert ja gar kein anderer Weg, man muß ja in der Vergangenheit die Zukunft sich spiegeln lassen, wenn man sich überhaupt in diesen Dingen klar werden will. Und da tat es gewiß sehr not, wie der erste Adreßentwurf tut, zu sagen: das ist nicht das alte römische Kaisertum deutscher Nation; es ist etwas ganz anderes!“11

Acht Tage vorher, bei Gelegenheit der Friedensfeier vom 22. März 1871, hatte Emanuel Geibel gedichtet: „Die Majestät Des alten Reiches, die zur Weltherrschaft Roms Salböl weihte, ist dahin auf ewig, Und das Begrabne wecken wir nicht auf. Der Kaiser, dem wir heut entgegenjubeln, Der Zollernheld, der Deutschlands Krone trägt, hat anderes Ziel, als seiner Herrschaft Stuhl Auf unterworfnen Völkern aufzurichten. All seine Kraft gehört dem Vaterland“12.

Stenogr. Berichte, S. 51. Stenogr. Berichte, S. 54. 12 E. Geibel, Werke; Vier Teile in einem Band, ausgew. u. hrsg. von Dr. R. Schacht, Lpzg. 1915, S. 405 f. Es handelt sich bei dem Vorstehenden um den letzten der Geibelschen „Heroldsrufe“. Geibel hat allerdings durch seine Verse über Kaiser Rotbart andererseits erheblich zu jenem in der Reichsgründungszeit weitverbreiteten Barbarossa-Mythus beigetragen, der in den Bereich der ghibellinischen Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik gehört und auf den wir noch zurückkommen. 10 11

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Noch mehr im Sinne Sybels ging der Freikonservative Graf Bethusy-Huc ins Detail: „Jeder, der die Geschichte studiert hat, aber wird mir zugeben müssen, daß Heinrich der Löwe, daß Harald von Dänemark neben Friedrich I., neben Friedrich II. von Deutschland eine ebenbürtige, ja, eine überlegene, eine das deutsche Reich zernichtende Macht nur darum entwickeln konnten, weil der deutsche Kaiser die von ihm zu vertretende Politik nicht in, sondern außerhalb Deutschlands trieb. Daß Deutschland auf diesem Wege gemindert wurde, ist unbestreitbar. Die Habsburger, welche nach langer, vielverwüstender Zeit des Interregnums den eben von mir genannten Herrschern folgten, haben nicht zufällig, nicht aus kleinlichem Eigennutz, sondern aus innerer Notwendigkeit eine Hausmacht erstreben müssen, nachdem die Reichsmacht durch die Erstrebung der Weltmacht für alle Zeiten vernichtet und zertrümmert war. Es gab keine deutsche Reichsmacht mehr, sie hätte sich nur bilden können, wenn der Kampf mit Heinrich dem Welfen, wenn der Kampf mit Harald von Dänemark ausgefochten wäre auf die eine oder die andere Weise; ja, meine Herren, ich wage zu behaupten, ein solcher Kampf hätte niemals entstehen können, wenn die Ableitung der besten deutschen Kräfte, des deutschen Mittelpunkts selbst nach Italien nicht einen solchen Kampf erst heraufbeschworen hätte“13.

Unter solchem Druck vermochten die Reichensperger folgenden Zentrumsredner dessen These von der relativen Belanglosigkeit des historischen Aspekts nicht aufrechtzuerhalten. Der Abgeordnete Bischof Freiherr von Ketteler gab vielmehr uneingeschränkt zu, daß hier Geschichtsauffassung gegen Geschichtsauffassung stehe: „Ich verlange nicht eine Geschichtsauffassung, wie wir sie haben, als Ausdruck der Adresse für den deutschen Reichstag; ebenso wenig müssen Sie es uns zumuten, für eine Adresse mit ihrer Geschichtsauffassung stimmen zu sollen; sie machen es uns unmöglich, uns einer solchen Adresse anzuschließen, ohne unsere Anschauungen zu verleugnen“14.

Verhältnismäßig am meisten von seiner Geschichtsauffassung ließ Windthorst durchblicken. An einer entscheidenden Stelle seines Diskussionsbeitrages nannte er schließlich den Namen, der bisher noch nicht gefallen war, aber als die wissenschaftliche Autorität hinter der historischen Anschauung der Front vom Freisinn bis zu den Freikonservativen stand: „Was die Rückblicke auf die Geschichte des Mittelalters und auf die Römerzüge betrifft, so weiche ich in deren Auffassung ganz entschieden von dem Grafen Bethusy ab. Ich kann vieles in diesen Dingen beklagen. Nichtsdestoweniger bin ich aber der Meinung, daß, wenn die Herstellung von ,Kaiser und Reich‘ in der deutschen Bevölkerung einen Anklang fand, die Erinnerungen an jene Zeit, Erinnerungen die im Volke nicht untergehen, es waren, welche das bewirkten, denn aus dem modernen Staate – er entsteht ja erst heute – konnte der Enthusiasmus noch nicht entstehen, besonders dann nicht, wenn er sich so nüchtern ankündigt, wie es in den Verfassungen des deutschen Reiches der Fall ist, in welcher (sic!) von irgend welcher Poesie – von Dingen, die eine Anregung des Gemüts bringen und das ist eine tiefe Saite des deutschen Charakters – gar nicht die Rede ist, sondern 13 14

Stenogr. Berichte, S. 62. Stenogr. Berichte, S. 57.

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Mittelalterliche Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert lediglich von den allermaterialsten Dingen. Deshalb ist es in der Tat unmöglich, einen Satz wie den angegebenen anzunehmen; von dem Herrn Professor Sybel wird derselbe ganz vortrefflich gefunden werden, von mir nicht.“15

Genug der Streiflichter auf eine Reichstagsdebatte von erstrangiger Bedeutung, die in ihren historisch-politischen Dimensionen noch viel reicher ist, als es im Vorstehenden angedeutet werden konnte! Es ist hier nicht zu untersuchen, ob die Abgeordneten des Zentrums geschichtsideologisch etwa nachhaltiger durch die Lektüre Onno Klopps und der „Historisch-Politischen Blätter“ beeinflußt wurden als durch den anspruchsvolleren und differenzierteren Ficker und welche Rolle bei ihren Gegnern die Preußischen Jahrbücher und die „Grenzboten“ als Vermittlungsorgane gespielt haben. Die Frage, ob um 1870 das Geschichtsbild der deutschen Öffentlichkeit von der mittelalterlichen Kaiserpolitik tatsächlich auf einen Dualismus von großdeutscher und kleindeutscher Interpretation zu reduzieren ist, wird uns später beschäftigen. In diesem Abschnitt stand ausschließlich das Verhältnis von wissenschaftlicher Meinungsbildung und politischer Willensbildung zur Debatte. Man kann nicht leugnen, daß die Berliner Adreßdebatte vom 30. März 1871 zu einem guten Teil auch das politische Echo einer seit mehr als zehn Jahren in Gang befindlichen Gelehrtenfehde darstellte. Sie bietet ein eindrucksvolles Beispiel für die Strahlungskraft einer akademischen Kontroverse im Feld der öffentlichen Meinung. II. Bei der Beantwortung der zweiten Frage kann es sich nicht darum handeln, einen Überblick über die Veröffentlichungen über Reich und Kaisertum im Mittelalter zu gewinnen, die aus der Feder ausländischer Forscher stammen. Wir wünschen nur zu erkunden, ob eine „Fernwirkung“ der Kontroverse stattgefunden hat, die, von Giesebrecht wider Willen veranlaßt, in der Auseinandersetzung zwischen Sybel und Ficker ihren Höhepunkt erreichte. Daß man etwa von italienischer Seite kritisch Stellung genommen hätte, mochte naheliegen. Doch scheint man die Diskussionen in Italien lediglich zur Kenntnis genommen zu haben16. Eine Umschau in zeitgenössischen westeuropäischen Publikationsorganen hat nichts Erhebliches zutage gefördert. Dagegen stieß der Verfasser schon vor längerem bei Nachforschungen in ganz anderer Richtung zufällig auf einen Beitrag von tschechischer Seite, der als polemisches Zeugnis eines für seine Nationalität mit wissenschaftlichen Mitteln streitenden Autors verstanden sein will. Die in Frage stehende Abhandlung gibt Auskunft darüber, wie im Zeitalter eines höchst reizbaren Nationalismus die nichtdeutsche Intelligenz in Mitteleuropa auf die Interpretation der mittelalterlichen Kaiserpolitik durch deutsche Gelehrte reagiert hat oder hätte. Unser Stenogr. Berichte, S. 63. Archivio Storico Italiano, 2. Serie, Jg. 9 – 18, 1863, S. 137 ff. u. 3. Serie, Jg. 1 – 12, 1867, S. 236. 15 16

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Gegenstand ist ein 1867 gehaltener Vortrag von Johann Leparˇ „Über die Tendenz von Wilhelm Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit“, veröffentlicht in den Abhandlungen der Kgl. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Prag im Jahre 186817. Der Verfasser, 1827 zu Lipnian in Mähren geboren, zählt nicht zu den namhafteren Vertretern der tschechischen Geschichtswissenschaft im 19. Jahrhundert18, aber er wurde von den führenden Köpfen offenbar als ein Mitstrebender anerkannt; an Kenntnissen und darstellerischem Talent hat es ihm jedenfalls nicht gemangelt. Lepar schlug nach seinen Studien die Laufbahn des höheren Lehramts ein19, die ihn an verschiedene Gymnasien zunächst Mährens führte. Der tüchtige Pädagoge, der hauptsächlich Geschichte und Geographie lehrte, brachte es später zum Gymnasialprofessor am Altstädtischen Gymnasium in Prag, zum Bezirksschulinspektor, Stellvertreter des Vorstands des Prager Bezirksschulrats und schließlich zum Direktor der k. k. Böhmischen Lehrerbildungsanstalt in Prag. Als junger Kandidat war Leparˇ von der definitiven Aufnahme in den Staatsdienst vorübergehend zurückgestellt worden. Als sich die Schulbehörde einige Jahre danach doch für ihn aussprach, erläuterte sie ihre frühere Zurückhaltung 1853 dahingehend, daß die Leparˇ „zur Last gelegten tschechischen Tendenzen sich auf eine vielleicht allzu warme Empfehlung der böhmischen Sprache und Aufmunterung der Schüler, die Prüfung aus der Geschichte in ihr abzulegen, reduzieren dürften. Nachdem ihm ein einziges Mal von seiten des Gymnasialinspektors eine Erinnerung zugekommen ist, hat Lepar Gehorsam geleistet und sich nicht mehr das zuschulden kommen lassen, was die Schulbehörde nur als einen pädagogischen Fehler zu betrachten geneigt war. Die Schulbehörde versicherte übrigens abermals, daß die moralische Haltung dieses Kandidaten sowie dessen politische Grundsätze ohne Bedenken seien. Die im unaufsichtigen Wege aus Prag, wo er sich im Jahre 1848 den Studien widmete, über ihn eingezogene Mitteilungen bezeugen, daß er sich auch zu dieser Zeit vollkommen ruhig verhalten hat“. Anläßlich seiner letzten Beförderung im Jahre 1870 heißt es in der Personalakte: „Sein politisches Verhalten war stets korrekt, über seine Regierungsfreundlichkeit und Loyalität waltet kein Zweifel ob“. Die in den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts im Habsburger Reich zum Durchbruch gelangende liberale Richtung ermöglichte dem Schulmann, was ihm in jungen Jahren versagt geblieben war. Er sah sich nunmehr in der Lage, staatsbürgerliche Loyalität mit seinen nationalpolitischen Überzeugungen zu verbinden und, zumindest als Historiker, ohne Umschweife einen tschechischen 17 J. Leparˇ, Über die Tendenz von W. Giesebrechts Geschichte der deutschen Kaiserzeit (Abhandlungen der Kgl. Böhmischen Gesellschaft der Wissenschaften vom Jahre 1867. VI. Folge, I. Bd., Prag 1868, S. 3 – 24). 18 Vgl. R. G. Plaschka, Von Palacky bis Pekarˇ. Geschichtswissenschaft und Nationalbewußtsein bei den Tschechen, Graz u. Köln 1955. 19 Die biographischen Angaben beruhen auf der Personalakte Leparˇs im Österreichischen Staatsarchiv (Allgemeines Verwaltungsarchiv). Eine Bibliographie der zahlreichen in der österreichischen Nationalbibliothek vorhandenen Veröffentlichungen Leparˇs hat mein Assistent, Herr J. Friedl, zusammengestellt.

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Standpunkt (im Rahmen eines gesamtstaatlich-österreichischen Patriotismus) zu vertreten. In diesem Zusammenhang ist seine Abrechnung mit Giesebrecht zu würdigen. Leparˇ geht als Kritiker recht geschickt vor. Wenn es auch Giesebrecht seinen Gegnern nicht allzu schwer gemacht hat; so vertrat man doch zur Zeit des Erscheinens seines Hauptwerks noch keineswegs die Position, die etwa Eduard Fueter 1911 in seiner Geschichte der neueren Historiographie ihm gegenüber eingenommen hat. Vieles, was wir heute an Giesebrecht wissenschaftlich als indiskutabel empfinden, hat man damals noch ernst genommen. Demgegenüber hat der Polemiker Leparˇ progressive Gesichtspunkte entwickelt, die über Giesebrecht hinausführten. Daß der Schulmann fachlich qualifiziert war, Kritik an Giesebrecht zu üben, läßt sich nicht bezweifeln. Seine freilich mit einer gewissen Selbstgefälligkeit ausgebreiteten Kenntnisse der mittelalterlichen Quellen waren beachtlich; auch zeigte er sich als Leser Niebuhrs, Mommsens, Stengels, Lorenz’, Sybels und vieler anderer deutscher und nichtdeutscher Historiker (darunter Solowjew) gut beschlagen. Daß es ihm um das Verhältnis von Historie und Aktualität zu tun war, gab er schon mit den ersten Sätzen zu: „Wenn es überhaupt interessant ist nachzuforschen, welche Ideen sich einzelne Völker über ihre Vergangenheit und ihren Beruf gebildet haben, so hat diese Forschung desto mehr Anziehendes in sich, wenn sie unsere nächsten Nachbarn betrifft, deren Ansichten auf unser Wohl nicht selten fördernd oder störend einwirkten“20.

Leparˇ sah um so mehr Veranlassung zu einer Widerlegung Giesebrechts, als dessen „Volksbuch“ einen großen Publikumserfolg erzielt hatte, die Meinungen, die „der preußische Herr Professor der Geschichte“ vortrug, weithin Zustimmung fanden und er im Hinblick auf die „Begründung eines nationalen Großstaates“ offenbar „praktische Nebenabsichten“ verfolgte. Mit schlagkräftigen historischen Beispielen suchte Leparˇ einen klaffenden Widerspruch zwischen der von den Deutschen des 19. Jahrhunderts in Anspruch genommenen Innerlichkeit und Gemütstiefe und dem Verhalten deutscher Herrscher, Heerführer und Kriegsscharen im Mittelalter zu erweisen. Besonders empfindlich zeigte er sich, wenn von der Bildungs- und Kulturmission des Kaisertums und des Reiches die Rede war. Es stand für ihn fest, „daß es zu der berüchtigten Mission des Kaisertums der deutschen Nation nicht hauptsächlich gehörte, die kaum gewonnene Kultur zu verbreiten, sondern daß es sich hierbei, wie der aufrichtige Mönch von Corvey unverhüllt erklärte, eigentlich doch nur um Ruhm und um weithin reichende Herrschaft handelte, während die bedrohten und bekriegten Völker um ihre Existenz und um ihre Freiheit fürchteten . . . Herr Giesebrecht behauptet, das sei deutsche Art, die ganze Summe der Bildung in sich aufzunehmen, sie nach der Natur seines Geistes durchzuarbeiten und von den Elementen seines Wesens durchdrungen als Gemeingut der Welt hinzugeben. Wie es sich mit dieser Phrase in Wahrheit verhält, dafür finden sich in dem in Rede stehenden „Volksbuche“, 20

Leparˇ, a. a. O., S. 3; ebenso für das Folgende, soweit nicht anders zitiert.

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auch abgesehen von den Kapiteln über die sogenannte germanische Wanderung und über ihre Folgen und die jahrhundertelangen Nachwirkungen, äußerst frappante Belege“21.

Leparˇ bemühte sich – nicht ohne Erfolg – Giesebrecht fortwährend mit dessen eigenen Aussagen zu widerlegen. Wenn Giesebrecht z. B. lebhaft bedauert, daß Burgund nicht frühzeitig genug unter die Herrschaft der römisch-deutschen Kaiser geriet, aber schon bald darauf zugeben muß, daß der innere Zustand des Reiches zu gewissen Zeiten anarchisch gewesen sei, so läßt sich Leparˇ selbstverständlich den Hinweis auf den Widerspruch zwischen der Vorstellung vom Reich als ordnender Macht und den tatsächlichen Verhältnissen im Reiche nicht entgehen und ebenso rechnet er es Giesebrecht nach, wenn er in moralischer Hinsicht mit zweierlei Maß mißt: „Ich bin nicht gesonnen, die Frage zu erörtern, ob dem Geschichtsschreiber das Recht zusteht, die historischen Begebenheiten vom nationalen Standpunkte aufzufassen oder nicht, aber soviel glaube ich als ausgemacht annehmen zu können, daß kein Historiker mit offenbaren Grundsätzen der allgemeinen Moral Spiel treiben dürfe, und somit namentlich, daß es ihm nicht zustehe, an dieselben Erscheinungen ein doppeltes Maß anzulegen, je nachdem nämlich dieselben bei seiner oder bei einer fremden Nation anzutreffen sind. Eine Bevorzugung irgendwelcher Nation immer ohne objektiven Grund ist der Wissenschaft unwürdig. Und somit wenn jemand die Plünderung polnischer Kirchen durch die Böhmen während des Kriegszugs Brˇetislaws ,diebischer Lust‘ zuschreibt, und dagegen in schonender Weise von ,Beutezügen‘ des Regensburger Bischofs Gebhard nach Ungarn spricht, den man bloß für einen ,unruhigen‘ Oheim des Kaisers . . . oder nur für einen ,streitlustigen‘ und ,gewalttätigen Herrn‘ ausgibt: von dem können wir mit vollem Befug sagen, daß ihm der nötige Sinn für Gerechtigkeit und Geschichtsschreibung abgeht“22.

Leparˇ bringt sein Mißbehagen darüber zum Ausdruck, wenn Giesebrecht es besonders hoch und positiv veranschlagt, daß die „ruhmreichen Kämpfe gegen die auswärtigen Feinde“ den Bestand des Reiches gesichert und die Einheit des deutschen Volkes erst hergestellt hätten: „Kurz, ohne Bekriegung und Unterjochung fremder Völker wären die Deutschen nach Herrn Giesebrechts Darstellung niemals Deutsche geworden. Wir können hierbei nur in die vortrefflichen Worte des Verfassers einstimmen: ,Nie sollten wir dessen uneingedenk sein‘“23.

Und es scheint ihm auf derselben Linie zu liegen, wenn Giesebrecht den Kampf der Kaiser gegen das Papsttum ebenfalls als Mittel zum Zweck auslegt: „Nun wissen wir es also, wozu der Heiland der Kirche ihr Oberhaupt gab; nach Herrn Giesebrecht ist der päpstliche Stuhl nur ein Mittel zur Befestigung der deutschen Königsherrschaft“24.

21 22 23 24

Leparˇ, a. a. O., S. 8 und 18. Leparˇ, a. a. O., S. 12 f. Leparˇ, a. a. O., S. 8. Leparˇ, a. a. O., S. 7; vgl. auch S. 11.

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Leparˇ hat die Naivität, die Phrasen und die wissenschaftlichen Schwächen Giesebrechts durchschaut. Im Verlauf der Polemik zeichnen sich bei ihm darüber hinaus Ansätze gereifteren historischen Verstehens ab, wie sie zu seiner Zeit nicht allgemein verbreitet waren. Zum Beispiel übt er Kritik an der Vorstellung von der Unveränderlichkeit von Nationaleigenschaften, und er meint, wenn sich diese seine Auffassung durchsetzte, so „würde der deutsche Historiker alsdann desto leichter zur wahren Erkenntnis des ,deutschen Wesens‘ gelangen und gestehen, das ,deutsche Wesen‘ habe ebenso seine Geschichte, wie alles unter dem Monde, d. h. es sei ebenso veränderlich wie das Wesen einer jeden anderen Nationalität; demnach habe es Zeiten gegeben, wo das ,deutsche Wesen‘ kulturvernichtend aufgetreten ist, und es habe dagegen auch Zeiten gegeben, wo die deutsche Nation kulturfördernd in die Geschicke anderer Völker eingegriffen; in beiden Fällen habe sich die Wirkung bald mehr bald minder einseitig geoffenbart, und ebenso habe das ,deutsche Wesen‘ auch in der Gegenwart wie seine gewissen Licht-, so auch seine gewissen Schattenseiten. Diese Erkenntnis würde die Nachbarn der Deutschen dem deutschen Sinnen und Trachten näher rücken und nicht etwa eine eingebildete, sondern eine wirkliche Basis zur Entwicklung einer fröhlichen und humanen Zukunft bereiten“25.

Schließlich wirft er die indirekte Frage auf, ob es berechtigt sei, gewisse Seiten „der allgemeinen Humanität“ ausschließlich für eine Nation in Anspruch zu nehmen. Leider hat Leparˇ viel zu sehr in polemischer Absicht geschrieben, um solche Vorsätze durchzuhalten. Sobald nämlich von Handlungen und Haltungen moralisch negativer Art die Rede ist, neigt er doch dazu, das, was Ausdruck eines allgemeinen Gesittungszustandes der Vergangenheit gewesen, allein der deutschen Nation zuzuschreiben. Nicht immer versteht er es, das Mittelalter mit seinen eigenen Maßstäben zu messen: es spricht z. B. nicht für eine adäquate Auffassung mittelalterlichen Geistes, wenn er bei dem „Merseburger Annalisten“ die gleiche Auffassung wie bei Wilhelm Giesebrecht konstatiert. Sehr gegen die Absicht des Verfassers liefert Leparˇs Abhandlung einen Beweis dafür, wie sehr die Verzerrung der Geschichte aus patriotischen Motiven nicht nur bei seinen deutschen Zeitgenossen, sondern auch bei seinen tschechischen Landsleuten, ja in ganz Europa damals verbreitet war. Voll verständlich wird Leparˇs rüder und ätzender Ton26, wird, wie schon angedeutet, der ganze Beitrag erst, wenn man die politische und die wissenschaftspolitische Situation in Böhmen während der sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts würdigt. Als der Beitrag in den „Abhandlungen“ veröffentlicht wurde, hatten die nationalitätenpolitischen Spannungen in Böhmen einen ihrer Höhepunkte erreicht. Die seit einem knappen Jahrzehnt in Gang gekommene Konstitutionalisierung des Leparˇ, a. a. O., S. 24. Der „preußische Seligmacher“ Giesebrecht wird „Hofhistorikern orientalischer Despoten als Vorbild“ hingestellt; es ist die Rede vom „winselnden Eifer Professors Höflers“, der anderswo als „mystischer Verfasser“ apostrophiert wird und wiederum im Hinblick auf Giesebrecht spricht L. von „logischen Purzelbäumen“ (a. a. O., S. 9, 15, 20, 22). 25 26

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habsburgischen Staatswesens ermöglichte den Volksgruppen die legale Betätigung ihrer Bestrebungen, die vordem durch eine gesamtstaatlich eingestellte Bürokratie unterdrückt worden waren27. Es zeigte sich der Januskopf liberaler und demokratischer Errungenschaften: was als Entsprechung der politischen Mündigkeit der Bevölkerung unumgänglich und prinzipiell richtig war, konnte gleichzeitig als Instrument der Massenleidenschaften dienen. Den Auseinandersetzungen auf politischem Gebiet liefen wissenschaftliche Fehden und eine wissenschaftsorganisatorische Aktivität parallel, die im Zeichen volkstumspolitischer Kampfstimmung standen. Das deutsche Element in Böhmen empfand seine bisherige Rückständigkeit auf dem Gebiet der Geschichtsforschung schmerzlich, und 1862 kam es zur Gründung des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen28. Führender Historiker dieses Vereins war Jahre hindurch der streitbare bayerische Schwabe Constantin von Höfler29. Zwischen ihm und dem Altmeister der tschechisch-böhmischen Geschichtsschreibung Franz Palacky sowie der Gefolgschaft beider entbrannte ein Gelehrtenstreit von äußerster Heftigkeit, der tief in die Privatsphäre hineinreichte und eine unüberbrückbare Kluft zwischen beiden Lagern aufriß30. Vor diesem Hintergrund verstehen wir den Beitrag Leparˇs als Parteinahme für eine politisch-wissenschaftliche Richtung innerhalb der böhmischen Historiker, als Versuch, nicht nur wissenschaftliche Schwächen, sondern auch die gefährlichen Absichten eines nationalpolitischen Gegners aufzudecken, kurz als Mittel zum Zweck. Angesichts der zentralen Bedeutung, die dem Nationalen damals zukam, war von dem Angehörigen einer westslawischen Nation wohl kaum eine andere als eine kritisch aktualisierende Stellungnahme zu den deutschen Betrachtungen über die mittelalterliche Kaiserpolitik zu erwarten. Daß sich der Angriff Leparˇs weder gegen Sybel noch gegen Ficker richtete, die beide die mittelalterliche deutsche Ostbewegung positiv hervorhoben und von denen es Ficker nicht an Bekundungen eines europäischen Sendungsbewußtseins der 27 Vgl. A. Bachmann, C. von Höfler (Mitt. des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen, 36. Jg., 1897 / 1898) S. 397: „Erst der klaffende Riß, der sich seit dem Aufleben des konstitutionellen Staates zwischen den Deutschen und Tschechen in Böhmen und dem ganzen Reiche endlich nun ganz unverhüllt darstellte . . . brachte die Lockerung und schließlich den Abbruch der persönlichen Beziehungen“. 28 G. Pirchan, Der Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen im Wandel der Zeitgeschichte (Mitteilungen des Vereins für Geschichte der Deutschen in Böhmen, 61. Jg., 1923, S. 69 – 116); auch für das Folgende. 29 Über Höfler vgl. Srbik, a. a. O., II, S. 95 – 97 und die dort angegebene Literatur. 30 Noch 1862 hatte ein Angehöriger der älteren deutsch-böhmischen Generation den Antrag gestellt, Palacky sowie seine beiden engsten Mitarbeiter Erben und Tomek als Ehrenmitglieder in den neuen Verein aufzunehmen. Der Zeitgeist widersprach der Erfüllung dieses Wunsches. Höhepunkte der Auseinandersetzung zwischen Höfler und Palacky bildeten Höflers Monographie „Magister Johannes Hus“ etc. 1864, mehrere folgende Schriften wie seine Programmreden von 1865 und 1867 einerseits, Palackys Kritik an Höflers „Hus“ und seine Schrift „Zur böhmischen Geschichtsschreibung“ 1871 andererseits. Dazu kam die Polemik der beiderseitigen Anhängerschaft. (Vgl. Pirchan, a. a. O., passim, Bachmann, a. a. O., S. 401 ff. und F. Palacky, Zur böhmischen Geschichtsschreibung Prag 1871, S. 161 – 216).

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auch über Nichtdeutsche gebietenden deutschen Nation hatte fehlen lassen, sondern gegen Wilhelm Giesebrecht, mag uns als Ausgangspunkt für die Überlegungen des dritten Abschnitts dienen. III. Der dritte Problemkreis soll nur zum geringeren Teil durch Heranziehung von Veröffentlichungen historischer Fachvertreter erschlossen werden; wir bevorzugen absichtlich die Geschichtspublizistik, die ideologisch-populären Abwandlungen geschichtswissenschaftlicher Arbeit, die Ergebnisse historisch-politischer Gesinnungsbildung außerhalb der Fachwelt. Die Lektüre des Berichts über die Reichstagssitzung vom 30. März 1871 läßt den Eindruck entstehen, als ob die Beurteilung des mittelalterlichen Kaisertums innerhalb der nationalliberalen Intelligenz Deutschlands einheitlich im Sinn der Sybelschen Geschichtsauffassung gewesen sei. Der Historiker Ottokar Lorenz, der die Übertragung der Sybelschen Auffassungen auf das Hohenzollernreich von 1871 mit Recht als doktrinär ablehnte, glaubte angesichts des „literarischen Hexensabbats . . . den Herr von Sybel ins Leben gerufen“, feststellen zu können: „Von diesem Augenblicke an, wo in der Literatur, selbst in der populären, das deutsche Kaisertum von den preußisch gerichteten Politikern als etwas Abgetanes, Fremdes, Antinationales, in vielem Betracht höchst Schädliches erkannt war, gab es kaum einen Schüler und Schulmeister, der nicht mündlich und schriftlich versicherte, daß es kaum etwas Unglücklicheres und Widerwärtigeres in unserer deutschen Vergangenheit gegeben habe, als das Kaisertum von Karl d. Gr. bis Otto, Heinrich, Friedrich und bis an das glückliche Ende desselben unter Franz II.“31. In der Publizistik hat vor anderen Gustav Freytag die Vorbehalte der norddeutschen und speziell der preußischen Intelligenz gegen die Erneuerung der Kaiserwürde vor und nach der Versailler Proklamation zum Ausdruck gebracht und dabei auch auf seiner Meinung nach unerfreuliche historische Erinnerungen hingewiesen, die mit dem Kaisertitel untrennbar verbunden seien: „Von Pfaffen eingerichtet, durch Pfaffen geweiht und verpfuscht, war sie (die Kaiserwürde, d. Vf.) ein Gebilde des falschesten und verhängnisvollsten Idealismus, welcher je Fürsten und Völkern den Sinn verstört, das Leben verdorben hat. Schwer hat unsere Nation die innerlich unwahre Idee gebüßt, Jahrhunderte der Schmach und des politischen Verfalls sind aus ihr hervorgegangen“32. Gustav Freytag durfte gewiß für sich in Anspruch neh31 O. Lorenz, Kaiser Wilhelm und die Begründung des Reiches 1866 – 1871, Jena 1902, S. 32. Der Widerhall in historischen Betrachtungen gerade nichtfachmännischer Persönlichkeiten ist vielfach festzustellen. Aufschlußreich in dieser Hinsicht z. B. das Buch des Gouverneurs von Deutsch-Südwestafrika Th. Leutwein, Elf Jahre Gouverneur in Deutsch-Südwestafrika, Berlin 31908, S. 240. 32 So in dem Aufsatz „Neues und altes Kaiserzeremoniell“ in der Zeitschrift „Im Neuen Reich“ 1871; zit. nach: G. Freytag, Der Kronprinz und die deutsche Kaiserkrone, Lpzg. 1889, S. 118.

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men, für eine mächtige Gruppe zu sprechen, doch wäre es verfehlt, das Geschichtsbild auch nur der kleindeutsch-preußisch eingestellten Kreise auf die „gothaische Geschichtsauffassung“ festzulegen, um hier den Ausdruck Onno Klopps zu verwenden33. Wie das „gothaische“ Geschichtsbild von anderen historischen Sehweisen gekreuzt und schließlich von ihnen überlagert werden konnte, beweist u. a. Denken und Handeln des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, des nachmaligen Kaisers Friedrich III. Der Kronprinz kannte die Sybelsche Theorie34, und er stand unter dem Einfluß Gustav Freytags. Die Einwirkung von dieser Seite war so stark, daß der Thronerbe, als der Krieg von 1870 / 71 die Frage der Begründung eines deutschen Kaisertums aktuell werden ließ, anfänglich Abneigung gegen den Kaisertitel bekundete. Bismarck hat sich in charakteristischer Weise über die Einstellung des Kronprinzen und deren Beweggründe ausgelassen35. Der von Bismarck unfreundlich apostrophierte Gustav Freytag ist es gewesen, der als einer der ersten seinen Zeitgenossen über einige der Motive Aufschluß gegeben hat, die den Kronprinzen bewogen, schließlich doch den Kaisertitel anzustreben36. Die Sinnesänderung Friedrich Wilhelms ging nicht etwa von historischem Umdenken, sondern von politischen Einsichten aus. Er erkannte den Symbolwert und die integrierende Kraft der Kaiserwürde, und es fehlte ihm nicht an Verständnis dafür, daß die Weltgeltung eines künftigen geeinten deutschen Reiches im Hinblick auf eine machtpolitische Rivalität der Imperien durch die Errichtung eines Kaisertums unterstrichen würde. Daß es den deutschen Bundesfürsten leichter fiel, sich einem Kaiser als einem König unterzuordnen, hat der Thronerbe in einem fortgeschrittenen Stadium seiner Überlegungen nicht mehr verkannt. Kaum eine Rolle spielte in seiner Vorstellungswelt die Möglichkeit, daß die Strahlungskraft einer deutschen Kaiserwürde die noch nicht ausgestorbene reichspatriotische Tradition verwandeln und erneuern könnte und bis zu einem gewissen Grade selbst die großdeutschkatholischen Schichten erreichen würde; faktisch fielen gerade unter solchen Vorzeichen dem neuen Kaisertum manche moralischen Eroberungen zu37. Wie immer es mit der politischen Begründung der Annahme des Kaisertitels stand, die Schaffung einer deutschen Kaiserwürde nötigte geradezu, allen Abmahnungen Freytags entgegen, an die mittelalterliche Reichstradition anzuknüpfen, und es konnte kaum ausbleiben, daß das Kaisertum auch des Römischen Reiches Deut33 O. Klopp, Die gothaische Auffassung der deutschen Geschichte und der Nationalverein, Hannover 1862. 34 Kaiser Friedrich III., Tagebücher von 1840 – 1866, Leipzig 1929, S. 123: Eintragung vom 6. I. 1862: „Abends zu den Eltern, wo Meyer Sybels neueste politische Broschüre über das deutsche Kaisertum vortrug“. Bezeichnend, daß der Kronprinz die Schrift Sybels als „ politische Broschüre“ auffaßte. 35 O. von Bismarck, Gesammelte Werke XV, Berlin 21932, S. 324 f. 36 G. Freytag, a. a. O., S. 22 f. und 26 f. 37 Vgl. J. Janssens Briefe, hrsg. von L. Frhr. von Pastor, Bd. 1, Freiburg 1920, S. 413: Janssens Gedicht zur Begrüßung Kaiser Wilhelms I.

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scher Nation von daher wieder eine Aufwertung erfuhr. Der Kronprinz hat, einmal für die neue Lösung eingenommen, nachdrücklich die mittelalterliche Kaiserüberlieferung gepflegt38. Die Stellungnahme des Kronprinzen und seine Distanzierung von den Auffassungen Gustav Freytags sowohl wie von den Vorschlägen des Oberzeremonienmeisters Grafen Stillfried verraten ein gewisses Maß an Selbständigkeit und Unabhängigkeit. Gleichwohl steht der Kronprinz mit seiner Hinwendung zur mittelalterlichen Kaiserüberlieferung in seiner norddeutsch-protestantischen Umgebung nicht allein; auch haben die Ereignisse von 1870 / 71 nicht etwa plötzlich die Wiederanknüpfung an diese Tradition ermöglicht, wenn auch damals das Bedürfnis nach historischer Sinngebung, ausgelöst durch die erregenden militärisch-politischen Vorgänge, dahin zielende Tendenzen außerordentlich verstärkt und aktualisiert hat. Obschon im politischen Alltag weithin die Loyalität gegenüber dem heimatlichen Staatswesen und seinem Souverän im Vordergrund stand, gilt für das gesamte 19. Jahrhundert, was J. G. Droysen im Vorwort zum I. Band seiner „Geschichte der preußischen Politik“ 1858 geschrieben und sehr bewußt in der zweiten Auflage 1868 wiederholt hat: „In der Sehnsucht der Nation blieb der ghibellinische Gedanke“39. Dieser Ghibellinismus, den wir trotz seiner ebenfalls positiven Anknüpfung an die mittelalterliche Kaiserpolitik vom katholisch-großdeutschen Universalismus unterscheiden und in seiner Anfangsphase hauptsächlich in Norddeutschland lokalisieren, hat verschiedenartige Wurzeln: Wiederbelebung der Erinnerung an das mittelalterliche Kaisertum durch die Romantik, deutschnationale Begeisterung der Freiheitskriege, burschenschaftliche und ihnen verwandte Konzeptionen der Geschichte und der Zukunft Deutschlands, nationalstaatlicher Unitarismus, der die Vielstaaterei zu überwinden hoffte. Politisch bedeutete „Ghibellinismus“ im Sinn des 19. Jahrhunderts Parteinahme für die Einigung Deutschlands durch die Hohenzollern als Bekenntnis zu einer antiultramontanen Sendung des neuen Kaisertums, mitunter aber auch zu einem imperialen Ausgreifen im Gegensatz zum national38 Vgl. Kaiser Friedrich III., Kriegstagebuch 1870 – 1871, Berlin / Leipzig 1926, S. 260: „Ich verlange aber gerade jene uralte Krönungskrone, weil sie recht eigentlich das Attribut der deutschen Kaiserwürde ist und stets auf Porträts und Statuen dargestellt wurde“. Über die Aktion des Kronprinzen, die eine Überführung der Reichskleinodien nach Berlin bezweckte, vgl. Schieder, a. a. O., S. 154 – 163. Der Kronprinz veranlaßte die Aufstellung des Goslarer Stuhles bei der Eröffnung des ersten Deutschen Reichstags, ein Akt, der den Widerspruch Gustav Freytags in seinem bereits erwähnten Aufsatz herausforderte. Schließlich erwähnt Freytag, wenn auch ohne Bestimmtheit, daß Friedrich Wilhelm noch bei der Übernahme der Kaiserwürde daran gedacht habe, durch die hinter den Namen Friedrich zu setzende Bezifferung die Verbindung mit dem alten Kaisertum hervorzuheben: „Wenigstens war in schmerzvoller Zeit noch einmal von einer IV die Rede, welche hinter der ersten Unterschrift des neuen Kaisers gestanden haben soll und der Erinnerung an Kaiser Friedrich III., den Vater Maximilians I., ihren Ursprung verdankt“ (a. a. O., S. 31). 39 J. G. Droysen, Geschichte der preußischen Politik, Bd. 1, Lpzg. 21868, S. 14. – Vgl. zu Droysens Ghibellinismus F. Meinecke, J. G. Droysen. Sein Briefwechsel und seine Geschichtsschreibung (HZ 141,1930, S. 273 ff.).

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staatlichen „Definitismus“ der Gothaer. Historisch inspirierte sich diese Richtung an den Höhepunkten der mittelalterlichen Kaiserpolitik40. Recht willkürlich vergegenwärtigte eine historisierende Publizistik den Zeitgenossen das Bild des mittelalterlichen Kaisertums, sehr eigenwillig politisierte man den Kaisergedanken. Am Anfang und am Ende der Reichsgründungsepoche von 1848 bis 1871 bildete die Vorstellung einer „Wiedererrichtung“ des Kaisertums das historisch-ideologische, irrationale, enthusiasmierende Pendant zu den verfassungspolitischen, nationalpolitischen, machtpolitischen Aufgaben, die der Epoche gestellt waren. Auf einem Relief an Theodor Fischers Bismarckturm am Starnberger See findet man Karl d. Gr., Otto d. Gr. und Friedrich Barbarossa. An einer Gedenkstätte für den Gründer des kleindeutschen Reiches dokumentiert sich so die Inanspruchnahme der „ghibellinischen“ Überlieferung durch das Selbstverständnis des kaiserlichen Nationalstaates von 1871. Allem Widerwillen realpolitisch und aufgeklärt denkender Zeitgenossen gegen die „mystische“ Seite der Kaiserwürde zum Trotz ließ sich die deutsch-imperiale Tendenz des 19. Jahrhunderts von der (unwissenschaftlich interpretierten) Kaisertradition des Mittelalters nicht trennen. Ein popularhistorisch, literarisch und künstlerisch geprägtes Traditionsbewußtsein hielt an dem Begriff der „alten Kaiserherrlichkeit“ fest und wollte sich die Erinnerung an den staufischen und andere Höhepunkte der deutschen Geschichte durch professorale Kritik nicht trüben lassen. In der öffentlichen Meinung stand, soweit man überhaupt historische und politische Erwägungen zu verknüpfen vermochte, der Befürwortung einer (Sybel zufolge schon im Mittelalter möglichen) nationalen Konzentration und Selbstbeschränkung ein ghibellinisches Engagement für die kaiserliche Machtentfaltung unter den Ottonen, Saliern und Staufern gegenüber. Es sei daran erinnert, daß Sybels Angriff von 1859 nicht nur den großdeutsch-universalistischen, katholischen Gegnern seiner Konzeption galt, sondern zunächst nicht minder dem protestantisch-preußischen Ghibellinismus eines Giesebrecht. Ein wissenschaftlicher Gegner Sybels, der Adjutant Maximilians II. von Bayern, von Spruner, überbrachte Giesebrecht persönlich den Ruf auf den Münchener Lehrstuhl für Geschichte, den der König an ihn hatte ergehen lassen. Nationalpolitische, wissenschaftspolitische und geschichtsideologische Motive haben sich bei der Ablösung Sybels durch Giesebrecht in eigenartiger Weise durchdrungen. Geht man davon aus, daß durch Literatur und Kunst breitere Kreise angesprochen werden als durch gelehrte Polemik, so mögen die folgenden Hinweise einige Belege dafür erbringen, welche Hilfe der antigothaischen Auffassung des mittelalterlichen Kaisertums auf dem Weg der Anschaulichkeit, über Poesie und Malerei, zuströmten. Die Dichtungen Rückerts, Schenkendorfs, Hoffmanns von Fallersleben, Freiligraths, Pfizers und zahlreicher anderer, die Kaisergeschichte, Kaisersage und Kaiserprophetie des Mittelalters behandelten, dürfen bei den Zeitgenossen Sybels und Freytags als bekannt vorausgesetzt werden. Die Anknüpfung an das mittelalterliche Kaisertum wurde von manchen Angehörigen einer jüngeren Gene40

Vgl. Schieblich, a. a. O., S. 100 – 145.

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ration fortgesetzt. Welche Rolle in diesem Zusammenhang der Kyffhäuser-Mythos spielte, ist von A. Timm dargestellt worden41. Zu der politischen Lyrik um Kaiser Friedrich Rotbart tritt die literaturgeschichtliche Gattung der Hohenstaufendramen, wie sie Raupach, Waiblinger, Immermann, Grabbe, Greif und zahlreiche andere teils geplant und entworfen, teils geschrieben haben. Abgesehen von dem gelegentlich auf der Bühne gewagten „Heinrich VI.“ Grabbes liest diese oft in nationalpädagogischer Absicht42 verfaßten Stücke heute niemand mehr; was man kennt, sind allein die Verdikte der literaturgeschichtlichen Kompilationen. Es geht hier selbstverständlich nicht um die ästhetische Würdigung der Dramen, sondern um ihren für den Zeitgeist dokumentarischen Charakter: angesichts ihrer ungewöhnlichen Verbreitung43 müssen sie einer starken Richtung im Zeitgeschmack, ja einem Zeitbedürfnis entsprochen haben. Und wie die Droysensche Konzeption des Ghibellinismus bis in die Jahre des Zweiten Weltkriegs vereinzelt wieder aufgegriffen werden konnte44, wie Stefan George und eine von ihm beeinflußte Geschichtsschreibung hochgemut zu ghibellinischem Pathos gelangten45, so begegnen wir bis in die jüngste Vergangenheit Nachfahren der deutschen Kaisertragödien aus dem 19. Jahrhundert, darunter Dietrich Eckarts „Deutsche Historie in vier Vorgängen: Heinrich der Hohenstaufe“ (1915) und E. G. Kolbenheyers „Gregor und Heinrich“ (1934). Von einer ghibellinischen Grundhaltung läßt sich auch bei Paul Ernsts Epos „Das Kaiserbuch“ (1923 – 1928) sprechen. Es bedarf keines Kommentars, welche bemerkenswerten ideengeschichtlichen Zusammenhänge zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert die zuletzt genannten Namen erkennen lassen. Gleich der Literatur hat die Historienmalerei des 19. Jahrhunderts mit Vorliebe Themen aus dem Bereich des mittelalterlichen Kaisertums aufgegriffen. Wenn der Freiherr vom Stein durch Julius Schnorr von Carolsfeld den Tod Friedrich Barbarossas im Saleph46 und Moritz August von Bethmann-Hollweg auf Schloß Rheineck durch Begas Kompositionen aus der Geschichte Heinrichs IV. malen ließen47, so mag man dies noch auf den (freilich recht groben) Nenner einer sogenannten romantischen Geschichtsauffassung bringen. Im Meinungsaustausch mit Stein auch in Fragen patriotischer Kunst stand Ludwig I. von Bayern, der die A. Timm, Der Kyffhäuser im deutschen Geschichtsbild, Göttingen o. J. W. Schulte, Ch. D. Grabbes Hohenstaufen-Dramen auf ihre literarischen Quellen und Vorbilder geprüft, Münstersche Diss., Münster 1917, S. 33: Raupach an Friedrich von Raumer 28. I. 1830: „. . . weil ich schon damals den Glauben hegte, es sei das wünschenswerteste Ziel, ja recht eigentlich die Aufgabe des deutschen Dichters, Deutschland mit der Geschichte wieder zu vereinigen und zu versöhnen“. 43 Vgl. Schulte, a. a. O., S. 32 – 39. 44 Vgl. O. Westphal, Das Reich, Stuttgt. 1943, S. 10. 45 Vgl. Stefan George, Zeitgedichte. Der Siebente Ring. Berlin 31914, S. 22 f. und E. Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Bln. 1928, Vorbemerkung und S. 632. 46 Vgl. G. Eimer, Caspar David Friedrich und die Gotik, Hamburg 1963, S. 48 f. und Taf. XVI. 47 F. Fischer, Moritz August von Bethmann-Hollweg und der Protestantismus, Berlin 1938, S. 154. 41 42

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Aufstellung der Büsten deutscher Kaiser in der Walhalla veranlaßte48 und wiederum Schnorr von Carolsfeld mit den Kaiserzyklen im Königsbau der Münchener Residenz beauftragte49. Indessen nicht nur die Spätromantik, auch der historische Realismus hat in der Malerei das Thema mittelalterliche Kaiserpolitik und speziell das der Taten und Leiden der deutschen Kaiser in Italien aufgegriffen. Nahezu zur gleichen Zeit als Sybel in München die mittelalterliche Italienpolitik ihres Nimbus zu entkleiden suchte und die berühmte Kontroverse auslöste, ließ König Maximilian II. von Bayern, dessen Vorfahren Sybel in der Akademierede von 1859 für seine Alternative einer „besseren“ deutschen Politik im Mittelalter etwas gewaltsam in Anspruch genommen hatte50, in einem uns heute befremdlich erscheinenden Ausmaß ganze Galerien von Historiengemälden errichten, in denen die gothaische Geschichtsauffassung keinerlei Niederschlag, dafür jedoch die mittelalterliche Kaiserpolitik um so positivere Berücksichtigung fand. In der Gemäldesammlung des Maximilianeums in München sah man Friedrich Kaulbach, Eduard Schwoiser, Philipp Foltz, Anton von Ramberg und A. Krehling mit Historienbildern vertreten, die von der Krönung Karls d. Gr. bis zu derjenigen Ludwigs d. Bayern in Rom bekannte in Italien vor sich gegangene Szenen der mittelalterlichen Geschichte des römisch-deutschen Kaisertums festhielten51. Und unter den noch zahlreicheren (143!) Wandbildern des Bayerischen Nationalmuseums52, die sich ausschließlich mit der bayerischen Geschichte befaßten, fehlten nicht solche Gemälde, die den Anteil der Wittelsbacher, sehr im Unterschied zu dem, was Sybel hatte glauben machen wollen, an den staufischen Italienzügen hervorhoben. Der schon genannte Feind Sybels, Carl von Spruner, bayerischer Offizier, Geograph und Historiker, hat 1868 seine geschichtlichen Erläuterungen zu den Bildern dieser nach Versailler Vorbild errichteten „vaterländischen Geschichtsgalerie“53 in einem Buch zusammengefaßt, in dem u. a. Barbarossa als „nächst dem großen Karl der Lieblingsheld des deutschen Volkes, der Träger seiner Größe und Herrlichkeit“ bezeichnet wird54. Von späteren ghibellinisch geprägten künstlerischen Bemühungen um die mittelalterliche Kaiserpolitik erwähnen wir als Beispiel die Bilder, mit denen der Professor für Historienmalerei an der Düsseldorfer 48 Vgl. Walhalla’s Genossen, geschildert durch König Ludwig den Ersten von Bayern, den Gründer Walhalla’s, Mchn. 1848, passim. 49 Vgl. H. W. Singer, Julius Schnorr von Carolsfeld, Bielefeld und Lpzg. 1911, S. 92 – 98. 50 Schneider, Universalstaat oder Nationalstaat, S. 18. 51 Maximilianeum, Verzeichnis der Gemälde und Statuten, München o. J., S. 9. 52 Im ursprünglichen Bau des Bayerischen Nationalmuseums an der Maximilianstraße in München (heute Völkerkunde-Museum) angebracht. Heute ist ein Teil der Gemälde zerstört, die erhaltenen sind hinter einer Rupfenverspannung verschwunden. 53 A. Hahn, Der Maximilian-Stil (100 Jahre Maximilianeum 1852 – 1952, Festschrift, hrsg. v. H. Gollwitzer, München 1953), S. 137. 54 Die Wandbilder des Bayerischen Nationalmuseums historisch erläutert von C. von Spruner, München 1868, S. 29. Selbst aus dem offiziösen Sprunerschen Werk geht hervor, wie kritisch schon die Zeitgenossen der vaterländischen Geschichtsgalerie gegenüber als einem künstlerischen Unternehmen eingestellt waren.

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Akademie Hermann Wislicenus 1879 / 96 die restaurierte Kaiserpfalz zu Goslar ausschmückte: dort wurden Höhepunkte der Reichspolitik in Italien und Darstellungen aus der Barbarossasage ähnlich mit der Neugründung des deutschen Reiches unter Wilhelm I. in Beziehung gesetzt55 wie bei dem Denkmal auf dem Kyffhäuser. Bezeichnend, daß die den Sybelianern so anstößige Hofhaltung Friedrichs II. in Palermo als Motiv der Historienmalerei im Münchener Maximilianeum sowohl wie in der Goslarer Kaiserpfalz auftaucht! Wir untersuchen hier nicht die Vorstellungen der Künstler selbst, sondern denken mehr an die Absichten der Auftraggeber und die Aufnahmebereitschaft des Publikums. Dabei sind gewiß die historisch-literarischen Ausstrahlungen der Hohenstaufengeschichtsschreibung Friedrich von Raumers in Betracht zu ziehen und bis zum Ende der Historienmalerei eine gewisse „opernhafte“56 Auffassung der Geschichte, die mit einem so oder so orientierten wissenschaftlich bestimmten Geschichtsbild zunächst nichts zu tun hat. Darüber hinaus darf man jedoch bei den Auftraggebern und ihren Ratgebern das Vorhaben politisch-historischer Bildung und das Vorhandensein von geschichtlichen Auswahlmaßstäben als feststehend voraussetzen. Daß sie sich von der Sybel-Freytagschen Richtung nicht beirren ließen, einem breiteren Publikum weiterhin heroische Szenen aus der mittelalterlichen Kaiserpolitik in Italien vorzuführen, sollte beachtet werden. Nur scheinbar empfiehlt es sich, die Münchener Massenproduktion an Historienbildern während und nach der Jahrhundertmitte aus unserer Erörterung auszuklammern, da ihre Urheber anfänglich dem großdeutsch-Fickerschen Geschichtsbild auf jeden Fall näher standen als dem gegenteiligen und der Begriff des „Ghibellinischen“ im 19. Jahrhundert zunächst die Bejahung der preußischen Vormachtstellung in Deutschland in sich schloß. Mit dem Ghibellinismus verband sich von seinem Ursprung an das Verlangen, über die nationalstaatliche Selbstgenügsamkeit hinauszukommen, und je mehr der Reichspatriotismus der Hohenzollernära sich mit einer weltpolitischen Tendenz vereinte, umso eher traten frühere innerdeutsche historisch-politische Kontroversen in den Hintergrund. J. Jung, der Biograph Fickers, hat diesen Übergang von der kleindeutschen zur imperialistischen Phase der deutschen Politik sarkastisch geschildert: „Heinrich I. (der kleindeutsche Musterkönig) hat sich nicht bloß in bezug auf das Kaisertum eines Besseren belehren lassen, sondern er treibt . . . jetzt auch Kolonialpolitik im großen Stil, führt Kriege in China und Südwestafrika, geht also viel weiter als die Ottonen und der Kaiser Friedrich der Rotbart, ohne daß die seit Bismarcks Erfolgen sehr zahm gewordene Historiographie etwas dagegen einzuwenden wagte, obwohl die ganze 55 Goslar am Harz . . . Führer durch Goslar und Umgebung, Goslar 81962, S. 38 – 40. Vgl. ferner W. Frhr. v. Löhneysen, Der Einfluß der Reichsgründung auf Kunst und Kunstgeschmack in Deutschland (ZRGG Bd. XII Köln 1960) S. 28 und ders. S. 38 „Und nachdem schon mehrere romanische Kirchen in Berlin errichtet worden waren, ließ Kaiser Wilhelm II. noch 1891 die Kaiser Wilhelm-Gedächtniskirche nach dem Muster der Marienkirche zu Gelnhausen bauen, um Hohenzollern und Staufenkaiser sinnbildlich für Deutschland zu vereinen“. 56 E. Fueter, Geschichte der neueren Historiographie, München u. Berlin 1911, S. 378.

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Existenzbasis der Nation dadurch verrückt wurde“57. Jung unterlag einem Mißverständnis, wenn er die ursprüngliche Geschichtsideologie des Hohenzollernreichs einseitig auf die kleindeutsch-gothaische Konzeption festlegen zu können und den Gang der Außenpolitik des wilhelminischen Deutschland dann als Abfall von der ursprünglichen Position deuten zu müssen glaubte. Nicht erst seit dem weltpolitischen Ausgreifen unter dem neuen Kurs ließ man sich wieder vom Vorbild der Italienfahrten römisch-deutscher Kaiser inspirieren. Die ghibellinische Auffassung der mittelalterlichen Vergangenheit war nicht nur nie in Vergessenheit geraten, sie hatte auch lange vor der imperialistischen Wendung der deutschen Politik eine gewisse Aktualisierung erfahren. Um der in der Reichsgründungszeit sich abspielenden Politisierung und Ideologisierung des überkommenen Bilds mittelalterlicher Kaiserpolitik innezuwerden, müssen wir nochmals auf die bereits vorgenommene Begriffsbestimmung des „Ghibellinischen“ zurückkommen. Es scheint heute in Vergessenheit geraten zu sein, daß „ghibellinisch“ in den siebziger und achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts ein Schlagwort oder auch ein politischer terminus technicus und synonym gewesen ist mit antiultramontaner Haltung auf der Grundlage der Bejahung des hohenzollernschen Kaisertums. Hatte die großdeutsch-katholische Partei das mittelalterliche Kaisertum im Sinne der Zuordnung von Kaisertum und Papsttum beschworen, so stützten sich ihre Gegner auf die zahlreichen Beispiele schwerer Auseinandersetzungen zwischen beiden Mächten. Während nun die Gothaer darauf hinwiesen, daß diese unheilvollen Kämpfe aus einer von Grund auf verfehlten Politik der römisch-deutschen Kaiser hervorgegangen seien, neigte die ghibellinische Richtung dazu, die Kaiser des Mittelalters als die Vorkämpfer eines deutschen oder germanischen gegen ein römisch-romanisches Weltprinzip zu feiern. Eine solche Sicht der Dinge fügte sich trefflich zu der Kulturkampfstimmung unmittelbar nach Gründung des Hohenzollernreichs. Andeutungen einer ghibellinisch-antiultramontanen Richtung lassen sich schon während der Kölner Wirren feststellen. In seinem Sendschreiben an Joseph Goerres vom Jahre 1838 hat zum Beispiel Heinrich Leo den historischen Antagonismus solchermaßen interpretiert und wiederbelebt58. Sieben Jahre später hat Wolfgang Menzel mit Bezugnahme auch auf die damaligen Auseinandersetzungen über die Kaiserpolitik des Mittelalters geschrieben: „Aber auch in der Wissenschaft gibt es kaum ein neutrales Terrain mehr. Welches scheint mehr zur Neutralität geeignet als die historische Forschung? Aber auch sie hat sich schon in eine ghibellinische und 57 J. Jung, Julius Ficker, lnnsbruck 1907, S. VIII f. Hostenkamp, der Jung zitiert, hat sehr richtig den Zusammenhang zwischen der deutschen Wendung zur Weltpolitik und dem neuen Verstehen der mittelalterlichen Kaiserpolitik hervorgehoben (a. a. O., S. 27 f.) 58 H. Leo, Sendschreiben an Joseph Goerres, Halle 1838, S. 5: „. . . so wird doch nichts übrig bleiben, selbst wenn man persönlich sich nicht dazu getrieben fühlte, als die Feder zu ergreifen, und ihrem Kriegsruf: ,Hie Welf! Hie Welf‘ mit gleicher Frische, wenn auch mit geringerer Waffenerfahrung, ein: ,Hie Weibling! Hie Weibling!‘ zu entgegnen“. Vgl. auch ebd. S. 15.

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guelfische geteilt“59. Der romantischen, christlich-konservativen Sicht des Ghibellinismus folgte um die Jahrhundertmitte eine modernere, liberal-protestantische Deutung, deren Inhalt Ferdinand Gregorovius 1848 in einem Aufsatz in der „Neuen Königsberger Zeitung“ mit charakteristischen Worten zusammengefaßt hat: „Das ganze Mittelalter hindurch reiften die Geschicke Europas in Italien, und wir Deutsche haben sie ausgesät. Karls d. Gr. Kaisertum, die Idee des Staates, war unsere Tat. In schweren Kämpfen haben wir sie endlich gegen das hierarchische Papsttum durchgefochten, und mit unzähligen Opfern haben wir den großen Satz erstritten, daß das Reich Gottes von dieser Welt sei, daß der Staat die Berechtigung seiner Existenz nicht in demütigem Glauben an das mystische Kreuz der Erlösung und an den Krummstab, sondern in der göttlichen Kraft der Arbeit und des Gedankens habe. Um die Menschheit von der Pfaffenlüge zu befreien und sie mündig zu sprechen, geschah es, daß der deutsche Heinrich auf dem Schloßhofe zu Canossa im Büßerhemd stand, daß die großen Schwabenkaiser in Italien untergingen, daß der Jüngling Konradin in Neapel auf dem Blutgerüste fiel. Welch ein anderes Volk kann solche welthistorischen Größen aufweisen als das deutsche, welches das Volk der Reformation ist, des Geistes und seiner ewigen Selbstbefreiung“60. Mit größter Breitenwirkung wurde der ghibellinische Standpunkt dann seit der Gründung des Bismarckreiches vorgetragen. Inmitten der von uns behandelten Adreßdebatte klingt er an, wenn der Abgeordnete Völk, an sich einer der Befürworter des Nichtinterventionsprinzips, eine umfassende Auseinandersetzung zweier feindlicher Standpunkte prophezeit: „Ich habe offen gesagt, es werde die nächste Zukunft einen Kampf des germanischen Geistes gegen die Knechtschaft des Romanentums zu ringen haben . . .“61. Daß Bismarck, dessen historisch-politische Sympathien als Jüngling (bezeichnenderweise freilich nur bis zum Aufstieg des Hauses Brandenburg seit dem Dreißigjährigen Krieg) den deutschen Kaisern galten62, in einer seiner berühmtesten Reden auf Canossa anspielte63, stellt eine der ungezählten Bekundungen eines im Sinne des 19. Jahrhunderts zeitgemäßen Ghibellinismus dar. Bald nach der Ausrufung des preußisch-deutschen Kaisertums in Versailles wurde auf einer Tagung des Vereins für die Geschichte der Deutschen in Böhmen die Gründung des Hohenzollernschen Reiches, wie folgt, interpretiert: „Der neuerstandene deutsche Kaiser in Berlin – das ist der Deutschen Rache für Canossa“64. Und in der Schweiz hat der Präsident des Ständerates, der freisinnige aargauische Staatsmann und Mitbegründer der altkatholischen Kirche seines Landes Augustin Keller 1871 und 1872 unter Hinweis auf die ghibellinische Tradition seiner Hoff59 W. Menzel, In Sachen der Kirche, Stgt. u. Tbg. 1845, S. 17 f. Menzel hatte wohl C. Höfler und seine Gegner im Auge. 60 J. Hoenig, Ferdinand Gregorovius, Stuttgt. 1943, S. 333 f. 61 Stenogr. Berichte, S. 59. 62 Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. XV, Berlin 1932, S. 5. 63 Bismarck, Gesammelte Werke, Bd. XI, Berlin 21929, S. 217. 64 Pirchan, a. a. O., S. 115.

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nung Ausdruck gegeben, daß nun „unter den Fittichen des neuen Reichsadlers die deutsche Wissenschaft ihre Römerschlachten für die Freiheit des Geistes und der Vernunft ewiges Recht schlage“65. Auf der Grundlage eines solchen Ghibellinismus fanden sich die antiultramontanen Kreise Norddeutschlands und die gleichgesinnte süddeutsche Intelligenz. Viele von Haus aus katholisch-großdeutsche Angehörige z. B. der bayerischen bürokratisch-akademischen Führungsschicht huldigten gerade in den Jahrzehnten vor und nach der Reichsgründung einem entschiedenen Antiultramontanismus, empfanden Sympathie für die altkatholische, antijesuitische Strömung oder stellten sich gar an deren Spitze. Der schon genannte C. von Spruner z. B. hat ursprünglich als Großdeutscher der gothaischen Richtung Widerstand geleistet, und seine Ernennung zum Adjutanten König Maximilians II. hat man in München als einen Sieg der altbayerischen Partei ausgelegt. Sein Kommentar zu der „Vaterländischen Geschichtsgalerie“ des Bayerischen Nationalmuseums von 1868 enthält, nicht etwa im Gegensatz dazu, sondern entsprechend den damaligen Verhältnissen in Bayern und namentlich in München, schärfste Kritik am sogenannten Ultramontanismus, und seine Betrachtungen zu dem Bild von Spieß „Heinrich der Löwe besiegt den Aufstand der Römer während der Krönung Friedrichs I. in der Peterskirche 1155“ versah er mit entsprechenden Bemerkungen über die zeitgenössischen Spannungen zwischen dem italienischen Königtum und dem Papsttum. Als General a. D. veröffentlichte Spruner 1876 anonym „Jamben eines greisen Ghibellinen“, die ein glühendes Bekenntnis zum neuen Reich mit preußischer Spitze auf der ideologischen Grundlage liberalen Christentums und des Antiultramontanismus enthielten66. Genug der Beispiele für eine ghibellinische Geschichtsgesinnung, wie sie noch K. Hampe bekundet, wenn er seine vielgelesene deutsche Kaisergeschichte im Zeitalter der Salier und Staufer mit einem auch von Ranke hervorgehobenen entschieden prokaiserlichen und antipäpstlichen Lutherzitat aus der Schrift „An den christlichen Adel deutscher Nation“ schließt67! Sie könnten noch in erheblicher Zahl vermehrt werden. Die Frage, um die es im dritten Abschnitt ging, läßt sich wohl folgendermaßen zusammenfassend beantworten: Vor dem Hintergrund der kleindeutsch-nationalstaatlichen Einigungsbestrebungen und auf der Basis einer „Realpolitik“ im Verständnis der Jahrhundertmitte konnte die Sybelsche Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik vorübergehend innerhalb der dem Nationalverein zugewandten deutschen Intelligenz eine ausschlaggebende Stellung gewinnen. Daß Realpolitik sich in der Regel selbst als 65 A. Keller, Augustin Keller 1805 – 1883, Aarau 1922, S. 416, 434. Vgl. ferner E. Vischer, Die deutsche Reichsgründung von 1871 im Urteil schweizerischer Zeitgenossen (Schweizerische Zschr. f. Gesch., 1. Jg., 1951), S. 455. Den Hinweis auf Keller verdanke ich Herrn Staatsarchivar Dr. E. Vischer, Glarus. 66 (C. v. Spruner), Jamben eines greisen Ghibellinen, Bonn 1876, S. 183 – 186: „Das neue Kaisertum“. 1882 folgte noch ein Bändchen „Aus der Mappe des greisen Ghibellinen“. 67 K. Hampe, Deutsche Kaisergeschichte in der Zeit der Salier und Staufen, Heidelberg 10 1949, S. 322.

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Ideologie setzt oder verborgenen ideologischen Antrieben folgt, wird man auch in diesem Zusammenhang behaupten dürfen. Es spricht viel dafür, daß hinter der „gothaischen“ nationalstaatlichen Selbstbeschränkung und ihren historischen Rückprojektionen das Ideal einer „Heiligen Allianz der Völker“ steht, eines friedlichen Vereins der zur Selbstbestimmung und staatlicher Konsolidierung gelangten Nationen. Wenn er solche Gedanken vertrat, konnte Sybel auch den Beifall des Tschechen Johann Leparˇ finden68. Es ist allerdings daran zu erinnern, daß die „gothaische“ Intelligenz den westslawischen Nationen weder historisch noch politisch das Gleiche zubilligte wie denen Nord-, West- und Südeuropas. Sybel rühmte es an Heinrich I., daß er „nach Osten der kriegerischen Kraft und Kolonisationslust des Volkes ein weites und ergiebiges Feld eröffnete“69. Offensichtlich haben die Nationalliberalen nur die von ihnen als gleichberechtigte Kulturnationen qualifizierten Völker in ihre Konzeption eines Europa der freien Nationen aufgenommen, ganz abgesehen davon, daß sie als Realpolitiker es sich nicht leisten konnten und wollten, von sich aus die Polenfrage aufzurollen. Was den Westslawen vorenthalten blieb, gewährte man um so freigebiger den Italienern. Der personellen, politischen und ideologischen Verbundenheit der deutschen mit der italienischen Nationalbewegung konnte es nur zugute kommen, wenn deutscherseits eine „Vergangenheitsbewältigung“ im Sinne der Verurteilung der römisch-deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters erfolgte. Denn in der popularhistorisch bestimmten öffentlichen Meinung des damaligen Italien hatte sich ohne Zweifel das mittelalterliche Kaisertum mit dem der Habsburger des 19. Jahrhunderts amalgamiert70. Bei Ficker, dem es um die Aufrechterhaltung des österreichischen Einflusses auch auf der ApenninenHalbinsel ging, finden sich im Gegensatz zu der gothaischen Richtung bezeichnenderweise negative Urteile über die Italiener des Mittelalters und der Neuzeit. Der gothaischen Sicht unserer mittelalterlichen Vergangenheit stand eine großdeutsch-katholisch-universalistische Konzeption gegenüber, aber nicht nur diese allein. Wir glauben nachgewiesen zu haben, daß es unrichtig war, wenn man, wie L. Pastor in seiner Biographie August Reichenspergers, die „nationalliberale Geschichtsauffassung“ mit den Meinungen Sybels und Freytags schlechthin in eins setzte. Im kleindeutschen Lager selbst behauptete sich die ghibellinische Gegenpartei und setzte sich schließlich mehr und mehr durch. Wilhelm von Giesebrecht mag als ihr (unpolemischer) Repräsentant gelten; seine „Geschichte der deutschen Kaiserzeit“ wie Ferdinand Gregorovius’ „Geschichte der Stadt Rom im Mittelalter“ mit ihrer „nationalpolitisch-ghibellinischen Ideenwelt“71 präsentierten sich 68 Lepar ˇ, a. a. O., S. 15; ebd. (S. 23) auch zustimmender Hinweis auf „Herrn von Sybels Mahnruf, sich in die natürlichen Grenzen einzuschließen“. 69 Universalstaat oder Nationalstaat, S. 189. 70 Charakteristisch die Ausfälle Carduccis gegen den römischen Adel und seine genealogischen Beziehungen zu römisch-deutschen Kaisern in dem Gedicht „La Consulta Araldica“ (G. Carducci, Giambi ed Epodi. Rime Nuove, Verona 1952, S. 33). Diesen Hinweis verdanke ich Herrn Professor A. Wandruszka, Köln. 71 Hoenig, a. a. O., S. 334.

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zur gleichen Zeit als die überzeugendsten Bucherfolge der deutschen Historie, da Sybel und Freytag so zahlreiche Angehörige der liberalen Intelligenz für ihren Standpunkt einzunehmen vermochten. Die Sympathie für die das Papsttum bekämpfenden Kaiser ist am besten als protestantischer Ghibellinismus zu bezeichnen, dem süddeutsch-katholische Bundesgenossen jederzeit willkommen waren, sobald sie dem „Ultramontanismus“ abschworen und sich für die Hohenzollern – „der Zoller ist der rechte Stauf“ – als die Ghibellinen des 19. Jahrhunderts erklärten. Gewissen Parallelen dieses Ghibellinismus mit den kämpferisch-protestantischen Zügen im Geschichtsbild des gleichzeitigen britischen Imperialismus wäre nachzugehen. Eine (sehr summarische) Periodisierung innerhalb der ghibellinischen Richtung ist möglich: während der Kulturkampfzeit erweist sich die antiultramontane Komponente als stärker, späterhin die machtpolitisch-expansive. Schließlich darf man das Nebeneinander von gothaischer und ghibellinischer Geschichtsauffassung als symptomatisch für die dem Hohenzollernreich immanente Dialektik von nationalstaatlicher und imperialer Politik ansehen. Den wissenschaftlich eingestellten Leser mag das Vorstehende wie ein einziges historisches Maskenspiel anmuten. Doch ist dem eine Überlegung praktisch-politischer Art entgegenzuhalten. Die adäquate, richtige, wissenschaftlich zuverlässige und erschöpfende Wiedergabe eines umfangreicheren geschichtlichen Sachverhalts ist ihrer Natur nach in der Regel so kompliziert, daß mit ihrer Aneignung durch ein größeres Publikum nicht zu rechnen ist. Was die öffentliche Meinung und politische Handlungen und Entscheidungen zu beeinflussen vermag, sind historische Vereinfachungen und ideologische Interpretationen der Vergangenheit, die ebenso willkürliche wie wirkungsvolle Auswahl von Fakten und deren pädagogisch-propagandistische „Verwertung“. Bisher wenigstens läßt sich die Geschichtswirksamkeit des Geschichtsbewußtseins fast nur auf dem Umweg über ideologische Metamorphosen nachweisen. Ob eine zunehmende Entideologisierung und Verwissenschaftlichung der Welt eines Tages doch der Geschichtswissenschaft als solcher jenen Beitrag zur politischen Meinungs- und Willensbildung ermöglicht, der ihr bis zur Stunde versagt geblieben ist? Vielleicht! Aber noch sind kaum Anzeichen einer solchen Entwicklung zu erkennen.

Westfälische Historiker des 19. Jahrhunderts in Österreich, Bayern und der Schweiz Die Mobilität unseres Daseins und die internationale Kommunikation sind so überwältigende Mächte geworden, daß heute die entscheidende geistige Prägung eines Menschen durch sein landschaftlich-heimatliches Milieu kaum mehr angenommen werden kann. Im 19. Jahrhundert, von früheren Zeiten ganz zu schweigen, verhielt es sich noch anders, und wer daran geht, die intellektuelle Physiognomie von Einzelpersönlichkeiten oder Gruppen aus dieser Epoche nachzuzeichnen, wird gut daran tun, unter anderem auch den regionalen Gesichtspunkt zu berücksichtigen1. Die folgenden Ausführungen stellen den Versuch dar, ein Kapitel landschaftlich orientierter Gelehrtengeschichte zu schreiben. Seine Besonderheit liegt darin, daß es sich zwar im wesentlichen außerhalb Westfalens abgespielt hat, in seinem Verlauf jedoch durch westfälische Ursprünge und Ausgangssituationen bestimmt blieb. Einmal soll ein Beitrag zur Geistes- und Bildungsgeschichte des westfälischen Raumes geleistet werden, die bisher noch nicht zusammenfassend behandelt werden konnte, obschon beachtliche Anläufe vorliegen. Zum anderen geht es darum, über eine verhältnismäßig leicht überschaubare Berufsgruppe Einblicke auch in die politische Vorstellungswelt Westfalens im 19. Jahrhundert zu gewinnen. Das biographische Interesse, das wir an den Lebensläufen westfälischer Historiker nehmen, ist also kein unmittelbar personengeschichtliches, sondern wir möchten im Besonderen das Allgemeine erkennen, möchten die geistig-soziale Struktur des gebildeten Westfalen einer vergangenen Epoche besser verstehen lernen. Um dies zu erreichen, könnte man unter dem Motto „Der Mann und sein Werk“ das Opus der in Frage stehenden Historiker fachwissenschaftlich analysieren. Es ist selbstverständlich, daß man von der gelehrten Leistung dieser Männer nicht absehen kann, doch steht für unsere Zwecke ein anderes Verfahren im Vordergrund: wir bemühen uns, geistige Entwicklung, gesellschaftliche Position und politisches Engagement wechselseitig zu erhellen. Nicht eine am Gang der Theorien oder der Forschungsleistung sich ausrichtende Wissenschaftsgeschichte, sondern sozialhistorisch orientierte Gelehrtengeschichte wird im folgenden betrieben. Wünscht man Aussagen über die Stellung einer Intelligenzschicht im und zum öffentlichen Leben zu erhal1 Zum Begriff der historisch-politischen Landschaft vgl. H. Gollwitzer, Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19. / 20. Jahrhunderts. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus (Land und Volk, Herrschaft und Staat in der Geschichte und Geschichtsforschung Bayerns. Hrsg. K. Bosl, München 1964, S. 523 bis 552) u. K.-G. Faber, Was ist eine Geschichtslandschaft? (Festschrift Ludwig Petry, I, Wiesbaden 1968, S. 1 – 28).

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ten, so eignen sich Historiker dazu als Probanden wohl besonders. Bei ihnen darf man schon von Berufs wegen ein gesteigertes Maß an Reflexion über gesellschaftlich-politische Verhältnisse voraussetzen. Wir beschränken uns auf Geschichtsschreiber, die Söhne der in der preußischen Provinz Westfalen aufgegangenen geistlichen Fürstentümer und daher Katholiken waren2. Es zeigt sich bei der Mehrheit von ihnen, daß die Konfession ursprünglich und in der Regel ihren geistigen Horizont und ihre Bildungsorientierung ausschlaggebend mitbestimmte und gleichzeitig auf der gesellschaftlich-politischen Ebene als integrierender Faktor ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein erzeugte. Und wenn diese Gelehrten, was sich bei einer Anzahl von ihnen zutrug, mit ihrer Kirche in Kollision gerieten, so entstand daraus ein ihre Lebensmitte treffender und gefährdender Konflikt. Ausgelöst wurden solche Konflikte u. a. von der Verkündung des Infallibilitätsdogmas im Jahre 1870 und den damit zusammenhängenden Ereignissen. Vorher sahen sich die katholischen Gebildeten Westfalens jedoch weniger durch innerkirchliche Konflikte als durch Spannungen in Mitleidenschaft gezogen, die zwischen ihnen und dem Königreich Preußen bestanden, das sich in seinen maßgebenden Repräsentanten als protestantisches Staatswesen verstand. Auch zu diesem Sachverhalt sind einige Bemerkungen vorauszuschicken. Von einer einheitlichen Linie der Behandlung der katholischen Kirche und der katholischen Bevölkerung durch die preußischen Regierungen des 19. / 20. Jahrhunderts läßt sich nicht sprechen. Die Dinge sahen z. B. unter Friedrich Wilhelm IV. anders aus als unter Friedrich Wilhelm III., und selbst zur Regierungszeit dieses Hohenzollern machte es wiederum einen erheblichen Unterschied aus, ob ein Minister Schuckmann oder ein Minister Altenstein in den kirchlich-konfessionellen Angelegenheiten zu bestimmen hatte. Wie sich die Situation während des Kulturkampfes zuspitzte, darf als bekannt vorausgesetzt werden, weniger die Tatsache, daß die preußische Verfassung von 1850 Grundlagen für ein friedlich-positives Verhältnis von Kirche und Staat gelegt hatte und daß später, unter Wilhelm II., die Richtung zum Ausgleich mit nicht unbeträchtlichem Erfolg wieder eingeschlagen wurde. Schließlich ergaben sich ganz verschiedenartige Perspektiven, wenn konfessionelle Fragen in die Ära des sogenannten omnipotenten Beamtenstaates fielen 2 In zwei Fällen finden Historiker aus der nächsten Nachbarschaft der preußischen Provinz Erwähnung, nämlich Franz Kampers, geb. 1868 zu Oesede bei Osnabrück, der seine Studien in Münster begann und in Finke und später (zu München) in Grauert seine wichtigsten Lehrer gefunden hat, und A. Gottlob, geb. 1857 zu Volkmarsen (Regierungsbezirk Kassel), der in Warburg absolvierte und ebenfalls ein Semester in Münster verbrachte. Die Aufnahme beider geht nicht etwa auf Stammesgesichtspunkte zurück, sondern nur auf die Tatsache, daß sie im Westfälischen zur Schule gingen und zu studieren begannen und so in den entscheidenden Entwicklungsjahren ganz dem westfälisch-katholischen Raum zuzuordnen sind. Nicht genannt wurde der in Meppen 1868 geborene und in Papenburg und Osnabrück aufgewachsene Karl Brandi. Er empfand zwar Westfalen als seine engere Heimat, gehörte aber trotz katholischer Konfession geistig zu einer anderen Welt als die im folgenden behandelte Gruppe. (Vgl. G. Schnath, Karl Brandi [Niedersächsische Lebensbilder VI, Hildesheim 1969, S. 1 – 48]).

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oder in die Epoche, in der die Zentrumspartei mehr und mehr Einfluß auszuüben vermochte. Berücksichtigt man diese Unterschiede, so bleibt doch noch die Frage offen, ob sich nicht hinter den veränderlichen Auffassungen bei Hofe und der wechselnden Praxis der Ministerien eine kontinuierliche preußisch-protestantische Staatstradition ermitteln läßt, der sich das relativ homogene politische Establishment des Landes verpflichtet fühlte. Eine solche Tradition existierte, und es handelte sich dabei um keine singuläre Erscheinung. In einer Zone zwischen dem Staatspatriotismus und den modernen politischen Weltanschauungen hielten sich im 19. Jahrhundert noch konfessionell-politische Traditionen, denen man eine Art staatsideologischer Funktion beilegte. In dialektischer Weise sublimierten sie das Politische ins Kirchlich-Religiöse und nützten das Kirchlich-Religiöse zur Konsolidierung des Politischen. Protestantische wie katholische Staatsideologien konnten im übrigen konservativ oder progressiv interpretiert werden. Artikel 16 der Bundesakte hatte zwar allen Angehörigen der christlichen Konfessionen im Deutschen Bund Freiheit der Ausübung ihres religiösen Bekenntnisses zugesichert, aber dies bedeutete nicht, daß nicht weiterhin hier der evangelische, dort der katholische Charakter eines Staatswesens mit politischen und administrativen Mitteln aufrecht erhalten wurde. Wie der preußische Kultusminister Altenstein das Verhältnis des Staates zu den beiden großen Konfessionen sah, geht aus einer seiner Denkschriften vom Jahre 1819 hervor: „Der preußische Staat ist ein evangelischer Staat und hat über ein Drittel katholische Untertanen. Das Verhältnis ist schwierig. Es stellt sich richtig dar, wenn die Regierung für die evangelische Kirche sorgt mit Liebe, für die katholische Kirche sorgt nach Pflicht. Die evangelische Kirche muß begünstigt werden, die katholische Kirche soll nicht zurückgesetzt werden und es wird für ihr Bestes pflichtgemäß gesorgt“3. Das hieß zwar, daß der Kultusminister nach den Worten eines den kirchlichen Standpunkt vertretenden zeitgenössischen Historikers „entschlossen eine Politik angemessenen Spielraums für die katholische Kirche gegen die kleinlichen Reglementierungswünsche der Absolutisten“ vertrat4, aber es hing schließlich alles an der ministeriellen Auslegung des Begriffs „angemessen“, und daß der Protestantismus seitens der Obrigkeit als das eigentlich staatstragende Element angesehen wurde, ist den Worten Altensteins eindeutig zu entnehmen. Alles in allem kann man davon ausgehen, daß der Führungsschicht des Königreichs bis zum Ende der Monarchie die preußisch-protestantischen Traditionen und, je kaiserlich-reichischer man später wurde, der Begriff des evangelischen Kaisertums viel bedeuteten und man sich in der Praxis davon weitgehend bestimmen ließ. Hervorzuheben ist, daß es sich bei dieser Einstellung Preußens nicht um eine Ausnahme handelte, sondern um bei den meisten europäischen Staaten des 19. Jahrhunderts und darüber hinaus mehr oder minder festzustellende, mit der jeweili3 E. Müsebeck, Das preußische Kultusministerium vor hundert Jahren, Stuttgart u. Berlin 1918, S. 281. 4 W. Lipgens, Ferdinand August Graf Spiegel und das Verhältnis von Kirche und Staat 1789 – 1835, I, Münster 1965, S. 233.

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gen konfessionellen Überlieferung und dem staatskirchlichen Prinzip zusammenhängende Regierungsmaximen; Preußen fiel keineswegs aus dem Rahmen der damaligen Konfessionspolitik und in vielen Fällen sahen sich bekenntnismäßige Minderheiten in einer ungünstigeren Lage als im Hohenzollernstaat. Man darf allerdings die Stellung des katholischen Elements in Preußen nicht nur unter dem Gesichtspunkt der offiziellen Staatspolitik und der vom Staat ergriffenen Maßnahmen sehen. Die Schicksale einer konfessionellen Minorität hängen nicht zuletzt von der durch sie selbst entfalteten Initiative und Aktivität und von der Art und Weise ab, wie sie für die Konkurrenz mit anderen geistigen und gesellschaftlichen Mächten im öffentlichen Leben gerüstet ist. Sie hängen des weiteren ab von ihrem Verhältnis zum Zeitgeist, von der Anpassungsfähigkeit der von ihr aufgestellten Werteskala und des von ihr entwickelten Bildungssystems an den jeweils erreichten Stand des Geisteslebens und der sozialökonomischen Situation. Gerade in Konfliktfällen wird man zu untersuchen haben, ob etwa die in der Gruppenmentalität angelegten mit den von außen bereiteten Schwierigkeiten korrespondieren. Unzutreffend wäre es schließlich, das katholische Westfalen des 19. Jahrhunderts gesinnungsmäßig als eine schlechterdings geschlossene Größe oder gar als einen monolithischen Block anzusehen. Gerade an den in diesem Zeitraum im Lande wirkenden Historikern läßt sich nachweisen, wie stark auch Aufklärung, idealistischer Neuhumanismus, Historismus der Möserschen Richtung und nationaler Liberalismus in die Bildungsschicht eingedrungen waren. Und die kontinuierlich überwiegende konservativ-katholische Tradition weist ihrerseits eine große Variationsbreite auf und gelangte von Phase zu Phase zu jeweils neuen Schwerpunktbildungen. Die Beschäftigung mit katholischen Historikern Westfalens im 19. Jahrhundert wirft die Frage auf, wie es sich bei diesen Gelehrten mit den akademischen Berufschancen im Königreich Preußen verhielt. Läßt man die Universitäten und Akademien des preußischen Staates Revue passieren, so ergibt sich, daß dem preußischen Staat daran lag, ein gewisses, allerdings nicht eben hohes Soll zugunsten der katholischen Landesteile zu erfüllen und auf jeden Fall die geordnete akademische Ausbildung des Nachwuchses an Geistlichen und ebenso das im konfessionellen Rahmen konzipierte Studium der Gymnasiallehrer zu gewährleisten. In Münster, dessen Fürstenbergische Universität aufgelöst worden war, hatte man seit 1818 eine aus zwei Fakultäten bestehende theologisch-philosophische, faktisch zunächst ausschließlich katholische höhere Lehranstalt für Westfalen errichtet5, desgleichen im selben Jahr in Braunsberg für das Ermland und andere katholische Gebiete im 5 Vgl A. Pieper, Die alte Universität Münster 1773 – 1818, Münster 1902; K. Spannagel, Westfälische Wilhelms-Universität Münster i. W., in: Das akademische Deutschland, hrsg. v. M. Doeberl u. a. I, 1930 S. 343 – 348; A. Eitel, Von der alten zur neuen Universität, Münster 1954, und E. Hegel, Geschichte der katholisch-theologischen Fakultät Münster 1773 – 1964, I, Münster 1966. Zur Geschichte der Geschichtswissenschaft an der Universität Münster ist eine Dissertation meines Schülers B. Mütter in Bearbeitung.

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Osten der Monarchie6. In Bonn und Breslau existierten katholisch-theologische Fakultäten, und innerhalb der philosophischen Fakultäten waren dort erst de facto, später auch de jure je ein philosophischer und ein historischer Lehrstuhl Katholiken vorbehalten7. Als Münster zur Universität erhoben wurde, hat man diese Regelung in der Weise übernommen, daß für beide Konfessionen je ein philosophischer und ein historischer Lehrstuhl reserviert bleiben sollten. Erst durch die Universitätsverfassung vom Jahre 1970 ist dieser Bestandteil der früheren Satzung, offenbar ohne daß er zu diesem Zeitpunkt von irgendeiner Seite noch verteidigt worden wäre, eliminiert worden. Welche Auseinandersetzungen die Einrichtung eines katholischen Geschichtslehrstuhls in der unter preußischer Regie stehenden Universität Straßburg im Jahre 1901 hervorrief („Fall Spahn“), ist bekannt8. An den Universitäten Königsberg, Halle, Greifswald, Berlin, zu denen 1864 / 66 noch Kiel, Marburg und Göttingen kamen, bestanden für katholische Gelehrte lange Zeit nur geringe Aussichten, zumindest in den als politisch-weltanschaulich relevant geltenden Fächern der Philosophie und Geschichte. Bei einigen Hochschulen haben bis tief ins 19. Jahrhundert hinein die Statuten vorgesehen, daß der Inhaber einer Professur protestantischen Bekenntnisses sein mußte9. Seit Abbau des 6 Vgl. E. Brachvogel, Braunsberg, Akademie, in: LThK II, 21958, Sp. 656 f.; E. Maschke, Braunsberg, in: RGG I, 31957, Sp. 1388 – 1390; J. Bender, Geschichte der philosophischen und theologischen Studien in Ermland, Braunsberg 1868; B. Stasiewski, Die geistesgeschichtliche Stellung der katholischen Akademie Braunsberg 1568 – 1945, in: Arbeitsgemeinschaft f. Forschung des Landes NRW, Wissenschaftliche Abhandlungen, Bd. 30, Opladen-Köln 1963, S. 41 – 58. 7 Vgl. H. J. Floß, Denkschrift über die Parität an der Universität Bonn mit einem Hinblick auf Breslau und die übrigen preußischen Hochschulen. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Universitäten im 19. Jahrhundert. Mit Beilagen, Freiburg 1862; W. Lossen, Der Anteil der Katholiken am akademischen Lehramt in Preußen, Köln 1901 (mit Hinweisen auf die ältere Literatur); F. v. Bezold, Geschichte der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität, Bonn 1920 S. 395 f.; G. May, Die mit Katholiken zu besetzenden Professuren an der Universität Breslau von 1811 – 1945 (ZRGS Kan., 54. Bd., Weimar 1968, S. 200 – 268); 150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818 – 1968. Bonner Gelehrte. Beiträge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Geschichtswissenschaften, Bonn 1968. 8 Vgl. K. Rossmann, Wissenschaft, Ethik und Politik, Heidelberg 1949; R. Morsey, Zwei Denkschriften zum Fall Martin Spahn (1901) (Archiv für Kulturgeschichte 38, 1956, S. 244 ff.); P. E. Hübinger, Das Historische Seminar der Rheinischen Friedrich-WilhelmsUniversität zu Bonn, Bonn 1963 S. 193 f. 9 Aus Anlaß dieses Aufsatzes veranstaltete ich in den Archiven ehemals preußischer Universitäten in der BRD und der DDR eine Umfrage betr. statutenmäßige Festlegung der Konfessionszugehörigkeit bei Besetzung von Professuren und insbesondere die Wahrnehmung von Lehrstühlen der Geschichte durch Nichtprotestanten. Von Interesse war in diesem Zusammenhang selbstverständlich nur die Fortdauer des konfessionellen Prinzips während des 19. und 20. Jahrhunderts. Die daraufhin unternommenen Nachforschungen waren mit erheblichen technischen und gelegentlich auch mit Schwierigkeiten anderer Art verbunden, wurden jedoch mit großem Entgegenkommen angestellt. Es ist mir ein Bedürfnis, an dieser Stelle allen an den Nachforschungen Beteiligten meinen aufrichtigen Dank auszusprechen. Das Ergebnis läßt sich, wie folgt, zusammenfassen:

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1. Zu den Universitäten Bonn, Breslau und Münster vgl. die in diesem Aufsatz bereits gemachten Angaben. 2. Universität Berlin: „Statuten, die die konfessionelle Besetzung von Lehrstühlen auch außerhalb der theologischen Fakultät regelten, konnten nicht ermittelt werden“ (Schreiben des Archivs der Humboldt-Universität vom 2. II. 1971 an den Vf.). 3. Universität Halle-Wittenberg: § 4 der Statuten von 1854 sah vor, entsprechend dem Stiftungscharakter nur Lehrer und Beamte evangelischer Konfession anzustellen. Nach MinisterErlaß vom 30. XII. 1885 sollte dieser Paragraph, „soweit tunlich“, auch auf die Anstellung von Assistenten Anwendung finden. „De jure blieb dieser Zustand erhalten bis zum Inkrafttreten des Statuts der hiesigen Universität vom 15. VII 1930.“ Doch erfolgte 1921 in der philosophischen Fakultät die Berufung eines katholischen Ordinarius (Schreiben des Archivs der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg an den Vf. vom 12. II. 1971 mit Auszügen aus den Statuten). Vgl. ferner W. Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle, I, Berlin 1894, S. 74. Unberücksichtigt blieb bei der Auskunft die Ernennung Rachfahls zum a. o. Professor in Halle 1898. 4. Universität Königsberg: G. v. Seile, Geschichte der Albertus-Universität zu Königsberg in Preußen, Königsberg 1944, S. 226 ist zu entnehmen, daß einschlägige konfessionelle Statuten bestanden. Andererseits war König Friedrich Wilhelm III. Anfang des 19. Jahrhunderts nicht abgeneigt, sich bei der Bewerbung des katholischen Historikers v. Baczko über die Bestimmungen hinwegzusetzen, und der Universitäts-Kurator v. Auerswald, der aus anderen Gründen von einer Berufung Baczkos abriet, erklärte, es sei in diesem Zusammenhang „seine katholische Konfession unerheblich“. Vgl. ferner Seile, a. a. O., S. 201 f. über die Pläne zur Errichtung einer katholischen Fakultät in Königsberg (mit Quellen- und Literaturangaben). Zum konfessionellen Aspekt der Berufung Rachfahls als Ordinarius nach Königsberg vgl. A. O. Meyer, Felix Rachfahl (Zschr. d. Ges. f. Schleswig-Holstein. Gesch. 55, Kiel 1926, S. III). 5. Greifswald: Statutenmäßig keine Festlegung, aber faktisch kamen offensichtlich für philosophische Lehrstühle nur Protestanten in Frage. (Schreiben des Universitätsarchivs der Ernst-Moritz-Arndt-Universität an den Vf. vom 7. VI. 1971). 6. Göttingen: „An der Universität in Göttingen war niemals statutarisch oder sonst normativ festgelegt, daß die Professoren protestanischen Bekenntnisses sein mußten“ (Schreiben des Universitätsarchivs Göttingen an den Vf. vom 26. I. 1971). Ein katholischer Historiker vor Brandi konnte indessen nicht nachgewiesen werden. 7. Marburg: „Soweit bisher festzustellen war, ist das Statut von 1653 trotz der inzwischen de facto eingetretenen Veränderungen nicht aufgehoben worden. Es wurde erst durch das neue Statut ersetzt, das 1885 durch den König von Preußen als Rechtsnachfolger erlassen wurde und in dem die älteren Statuten mit allen ergänzenden und abändernden Vorschriften außer Kraft gesetzt wurden. Nach § 2 wurden die von dem Stifter und seinen Nachfolgern, insbesondere dem Erneuerer der Universität, Landgraf Wilhelm VI., erteilten Privilegien und Freiheiten, ,in so weit, als dieselben noch bestehen und mit der gegenwärtigen Staatseinrichtung vereinbar sind‘, bestätigt. Dieser Satz bezieht sich also direkt auf das Statut von 1653, wobei die einschlägigen Bestimmungen des Titels 4 offensichtlich als nicht mehr bestehend zu betrachten waren“ (Schreiben des Hessischen Staatsarchivs Marburg an den Vf. vom 14. IV. 1971). Das Marburger Schreiben zählt einzelne Ausnahmen auf, die man in Marburg vor der preußischen Zeit gemacht hat. Katholische Historiker waren davon jedoch nicht betroffen. 8. Kiel: Nach Auskunft von Herrn Kollegen Karl Jordan, Kiel (Schreiben vom 21. II. 1972) „war die Universität bei ihrer Gründung im Jahre 1665 naturgemäß auf das evangelisch-lutherische Bekenntnis festgelegt, wenn dies auch in den ältesten Universitäts- und Fakultätsstatuten nicht ausdrücklich vermerkt ist“. Als erster Katholik scheint sich Rachfahl an der Philosophischen Fakultät in Kiel habilitiert zu haben. 1909 wurde er nach Kiel als Ordinarius berufen. Über (milde) Einwände gegen eine Berufung Aloys Schultes auf ein Kieler Extraordinariat vgl. K. Jordan, Holder-Egger und der Plan seiner Berufung nach Kiel (Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters, 17. Jg., Köln-Graz 1961, S. 542, Anm. 11 und 13).

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Kulturkampfes trat eine allmähliche Veränderung der Verhältnisse ein, und es finden sich auch an den sogenannten protestantischen Universitäten Preußens schon Jahrzehnte vor dem Fall der Monarchie katholische Historiker, allerdings anscheinend nur solche, die von ihrer Konfessionszugehörigkeit wenig Aufhebens machten10. Die Konfessionalisierung bestimmter Lehrstühle an den philosophischen Fakultäten preußischer Universitäten, die auf einer völlig anderen Rechtslage beruhte als die spätere Einrichtung von Konkordatsprofessuren in Bayern und Baden, konnte sich als zweischneidiges Schwert erweisen. Sie garantierte zwar einen gewissen konfessionellen Besitzstand, ließ sich aber auch in der Weise auslegen, als ob in den betreffenden Fächern weitergehende personelle Ansprüche nicht erhoben werden sollten. Ganz abgesehen von der Problematik der konfessionellen Festlegung nichttheologischer Disziplinen ließ sich eine die Befähigung ohne Rücksicht auf die Konfession in den Vordergrund stellende und gerade durch die Eliminierung des konfessionellen Gesichtspunkts keiner Konfession mehr Unrecht tuende Berufungspolitik besser praktizieren, wenn man nicht gebunden war. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß von einer tatsächlich paritätischen Politik Preußens nicht die Rede sein konnte. Was durch Untersuchungen auf dem Gebiet der Verwaltungspolitik nachgewiesen wurde11, trifft nicht minder für die Bildungspolitik und insbesondere für das Hochschulwesen zu, zumal die Akademien zu Münster und Braunsberg trotz Promotions- und Habilitationsrecht nicht als gleichwertig mit den Universitäten des Staates anzusehen waren. Es sei jedoch wiederholt, daß in der Ara Wilhelms II. manches auf eine bevorstehende grundsätzliche Änderung in konfessionspolitischer Hinsicht, auch auf dem Gebiet der Verwaltung und der akademischen Welt, hindeutete. Was unser spezielles Thema betrifft, so ist zunächst festzustellen, daß aus der katholischen Bevölkerung Westfalens im 19. Jahrhundert eine ganz beträchtliche Anzahl von Historikern hervorgegangen ist. Nicht wenige von ihnen haben sich zeitweise oder lebenslang an preußischen Akademien oder Universitäten etabliert. Unter denjenigen, die außer Landes gingen und die im folgenden zu behandeln sind, befand sich nur einer, von dem man behaupten kann, daß die preußische Regierung seiner akademischen Laufbahn im eigenen Lande einen Riegel vorgeschoben hat. Und da geschah es nachweislich nicht aus konfessionellen, sondern aus politischen Gründen: Franz Löher hatte sich 1848 / 49 als entschiedener Demokrat 10 Als Beispiele wären anzuführen P. Scheffer-Boichorst, 1890 – 1902 Ordinarius in Berlin, K. Brandi, 1897 a. o. Prof. in Marburg, 1902 – 1946 o. Prof. in Göttingen oder F. Rachfahl, Extraordinarius und Ordinarius an mehreren preußischen und nichtpreußischen Universitäten. 11 Vgl. A. Grunenberg, Das Religionsbekenntnis der Beamten in Preußen I (Die höheren staatlichen Beamten) Berlin 1914; A. Klein, Die Kölner Regierungspräsidenten 1816 – 1966, in: 150 Jahre Regierungsbezirk Köln, Berlin 1966, S. 62 – 121; ders., Die Personalpolitik der Hohenzollernmonarchie bei der Kölner Regierung, Düsseldorf 1967; D. Wegmann, Die leitenden staatlichen Verwaltungsbeamten der Provinz Westfalen 1815 – 1918, Münster 1969.

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in Berlin mißliebig gemacht12. Bei der Mehrzahl der übrigen Historiker lagen Rufe und Angebote von seiten der preußischen Regierung vor, und einige sind auch nach Preußen zurückgekehrt. So sehr man hervorheben muß, daß die Chancen katholischer Historiker in Preußen geringer waren als die ihrer nichtkatholischen Fachgenossen, so läßt sich andererseits von der hier behandelten Gruppe im allgemeinen nicht behaupten, daß sie die berufliche Aussichtslosigkeit schlechthin genötigt hätte, außer Landes zu gehen. Eher war es ihre Abneigung gegen das preußische System, die es ihnen nahelegte, Gelegenheiten wahrzunehmen, die sich ihnen außerhalb Preußens anboten. In dem Oppositionskomplex, der hier zutage tritt, durchdrangen sich konfessionelle, landschaftlich-historische, reichspatriotische und national- und verfassungspolitische Motive. Der Exodus mehrerer westfälischer Historiker muß überdies im Zusammenhang mit anderen Emigrationsvorgängen aus der Provinz gesehen werden. Für sich steht die Massenansiedlung von preußischen Wehrpflichtigen aus dem ehemaligen Niederstift Münster in der Provinz Drente (Niederlande). Es handelte sich dabei durchweg um junge Leute aus kleinen Verhältnissen, die sich dem ihnen lästigen Militärdienst entziehen wollten und nicht daran dachten, dies ideologisch zu verbrämen13. Eindeutig politischideologisch war hingegen die Tendenz westfälischer Adeliger, die Provinz anläßlich der Ereignisse von 1837, 1866 oder im Zusammenhang mit dem Kulturkampf zu verlassen und sich in Bayern oder Österreich anzukaufen oder in nichtpreußische Dienste zu treten14. Auch bei einigen namhaften bürgerlichen Familien des Landes ist es aus den gleichen Motiven zur Abwanderung aus Westfalen gekommen. I. Österreich Franz Bernard von Bucholtz (1790 – 1838) Reichspatriotischer Traditionalismus und katholisches Bekenntnis haben dem österreichischen Kaiserstaat bis tief in das 19. Jahrhundert hinein die Sympathien vieler Westfalen erhalten, und dies gilt auch für eine Anzahl westfälischer Histori12 Zu F. Löher verweise ich auf die demnächst erscheinende, von mir veranlaßte Münstersche Dissertation von K. Hüser, Franz v. Löher (1818 – 1892), 1969. 13 Vgl. H. J. Prakke, Deining in Drenthe, Assen 41969, S. 98 f. Bei der hier in Betracht kommenden Gruppe handelte es sich allerdings um ehemalige Bewohner zunächst des Königreichs, dann der Provinz Hannover. 14 Im Nachlaß Ludwigs I. von Bayern im Geheimen Hausarchiv München finden sich Hinweise auf die Absichten westfälischen Adels, sich auf Grund der Ereignisse von 1837 in Bayern anzukaufen. Als Vorläufer ist Werner Freiherr von Haxthausen zu erwähnen, der 1833 die Salzburg bei Bad Neustadt in Franken erwarb (W. Schulte, Westfälische Köpfe, Münster 1963, S. 108). Über diesbezügliche Erwägungen der Brüder Mallinckrodt und einiger ihrer Standesgenossen 1866 vgl. H. Müller, Der deutsche politische Katholizismus in der Entscheidung des Jahres 1866 (Blätter zur pfälzischen Kirchengeschichte und religiösen Volkskunde 33, 1966 S. 62). Anders O. Pfülf, Hermann v. Mallinckrodt, Freiburg 1899, S. 367 f.

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ker. Der erste westfälische Geschichtsschreiber, der in österreichische Dienste trat, war kein Hochschullehrer, sondern ein erst in der Bundestagskanzlei und später in der Wiener Staatskanzlei beschäftigter Beamter und Publizist. Franz Bernard von Bucholtz15 entstammte einer reichen bürgerlichen Gutsbesitzerfamille des Münsterlandes, deren Hauptsitz das landtagsfähige Gut Welbergen gewesen ist. 1817 erreichte es Bucholtz, in den österreichischen Ritterstand erhoben zu werden; doch hatten er und seine Mutter sich schon längere Zeit vorher des Adelstitels bedient. Bucholtz war Patenkind der Fürstin Gallitzin und des Ministers und Generalvikars Franz Freiherr von Fürstenberg; sein Vater Franz Kaspar Bucholtz zählte zu den Mitgliedern der „Familia Sacra“16. Der junge Bucholtz ist noch von Ausstrahlungen des in seine Spätphase eingetretenen Gallitzinkreises erreicht worden; nachweisbar hat Graf Friedrich Leopold Stolberg Einfluß auf ihn ausgeübt. Bestimmender noch als die unpolitische Geistigkeit des Gallitzinkreises dürfte sich auf ihn die landschaftlich-konfessionell orientierte Defensivhaltung ausgewirkt haben, die angesichts der Französischen Revolution, der Veränderung der deutschen Landkarte durch die napoleonischen Kriege und infolge der Säkularisation und Desorganisation der Kirche die Kreise, in denen er sich bewegte, ergriffen hatte. Die im deutschen Ancien régime verwurzelte Oppositionsstimmung des Bucholtzschen Milieus gewann ihre über den regional-westfälischen Bereich hinausgehenden Dimensionen durch ihre Verbindung mit dem europäischen Katholizismus und ihre Einbettung in eine romantisierende, historisch-nationale, reichische, antinapoleonische, aber auch antipreußische Strömung. Nach Studienjahren in Münster und Göttingen trat Bucholtz 1813 in österreichische Dienste. Ein Neffe Stolbergs, der dänische Gesandte am österreichischen Hof, Graf Christian Günther Bernstorff, ebnete ihm in Wien viele Wege. Der junge Bucholtz wünschte in größere Verhältnisse einzutreten, als sie ihm das heimische Westfalen bieten konnte, das damals überdies unter französischer Herrschaft stand. Seine deutschpatriotische Einstellung ließ bei ihm den Gedanken, sich mit dem französischen System zu arrangieren, gar nicht aufkommen. Gab es in dieser Hinsicht von vornherein weder Zweifel noch Schwanken, so hatte der junge Westfale, der 1814 wieder preußischer Untertan geworden war, doch ernsthaft die Alternative zu erwägen, ob er eine Laufbahn in preußischen oder in österreichischen Diensten einschlagen sollte. Ob es nicht das Richtige wäre, sich dem Freiherrn vom Stein zur Verfügung zu stellen, hat sich Bucholtz, der Umgang mit dem preußischen Reformer hatte und in Wien in Humboldts Haus verkehrte, tatsächlich kurze Zeit überlegt. Aber seine konfessionelle und seine reichspatriotische Orientierung, beides unlöslich verbunden mit der hochstiftisch-münsterländischen Umwelt, die ihn geprägt hatte, ließen ihn bald 15 P. Franken, Franz B. von Bucholtz bis zu seiner Übersiedlung nach Wien, Bonner Diss., Düsseldorf 1932, und J. G. Gf. v. Merveldt, Franz Bernhard Ritter von Bucholtz. Leben und Wirken im Mannesalter (1818 – 1838), Münstersche Diss. (masch.schriftlich) 1955. 16 Vgl. E. Reinhard, Franz Caspar Bucholtz. Der Gönner Hamanns (Auf roter Erde, 13. Jg., Münster 1954, Nr. 9, S. 70 f. und 10, S. 79 f.); ders., Die münsterische „Familia sacra“, Münster 1953, P. Brachin, Le cercle de Münster (1779 – 1806) et la pensée religieuse de F. L. Stolberg, Lyon, Paris 1952.

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endgültig für Österreich optieren, obschon dessen josefinische Staatswirklichkeit mehr Ähnlichkeiten mit der preußischen aufwies als mit den Wunschvorstellungen von Kaisertum und christlich-ständischer Ordnung, denen Bucholtz anhing. Wenn Bucholtz’ Mutter, eine geborene von Detten, ihrem Sohn anläßlich des 1813 erfolgten Wiedereinzugs preußischer Truppen in Münster schrieb: „Den lieben Österreichern würde man ganz anders entgegenjubeln . . .“ oder wenn es in einem anderen ihrer Briefe hieß: „Preußen zu dienen ist unmöglich, weder als Katholik noch als Münsteraner . . .“17, so geben diese Worte deutlich einer Mentalität Ausdruck, die im Münsterland damals verbreitet war und die der junge Bucholtz, der sich noch während seiner preußischen Staatszugehörigkeit der preußischen Militärdienstpflicht entzog, ohne Zweifel teilte. Bucholtz begann seine amtliche Tätigkeit an der Präsidialkanzlei des Frankfurter Bundestages, seit Ende 1815 als enger Mitarbeiter des ihm befreundeten Friedrich Schlegel18. Waren nun schon die Frankfurter Wirkungsmöglichkeiten Schlegels sehr gering, so kann man erst recht die politische Potenz seines Adlatus gleich Null setzen. Dagegen spielte der junge Legationscommis innerhalb der katholischen Bewegung Deutschlands eine gewisse Rolle als Verbindungsmann zwischen den Kreisen in Frankfurt, Münster und Wien. Daneben setzte er unbefangen seine Beziehungen zu Stein fort, mit dem er sich offen aussprach und demgegenüber er auch den Plan einer katholischen Universität in Preußen entwickelte, dem Stein nicht prinzipiell ablehnend gegenübergestanden zu haben scheint. Es ging auf Stein zurück, daß Ende 1816 ein Angebot des aus Münster stammenden Staatsrats Schmedding an Bucholtz erfolgte, eine Professur an der Universität Breslau oder an einer anderen preußischen Universität oder Akademie anzunehmen. Schmedding sprach in diesem Zusammenhang dem Landsmann gegenüber auch von Münster: „Das Los unserer vaterländischen Akademie ist noch unentschieden; jedoch besteht die Hoffnung, sie ganz oder teilweise in veredelter Form erhalten zu sehen“19. Bucholtz stand damals noch die diplomatische Karriere vor Augen. Als er sich ein Jahr später in den Sturz Schlegels verwikkelt sah, hat er – vorübergehend – seinerseits an Bewerbung um eine akademische Unterbringung in Preußen gedacht. Indessen verblieb er im österreichischen Staatsdienst, in dem er freilich über eine sehr bescheidene Rolle nie hinausgelangte. Nicht unerheblich waren jedoch die Dienste publizistischer und redaktioneller Art, die Bucholtz dem Kaiserstaat erwies. Ein Zusammenhang zwischen seinen politischen Veröffentlichungen und seinen Arbeiten als außerhalb der Zunft stehender Historiker läßt sich unschwer herstellen. Geschichte war von Jugend an Bucholtz’ Lieblingsstudium, und während seiner Frankfurter Zeit begann er, zunächst als Übersetzer, dann auch als Sammler, Darsteller und Planer sich aktiv dieser Wissenschaft zuzuwenden. Sein Interesse gehörte anfänglich der mittelalterlichen Geschichte, und das Ergebnis dieser PeriFranken, a. a. O., S. 50. Vgl. J. Bleyer, Friedrich Schlegel am Bundestage in Frankfurt. 1815 – 1818, München 1913. 19 Franken, a. a. O., S. 87. 17 18

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ode ist eine unter dem Titel „Lambertus von Aschaffenburg, Geschichte der Deutschen“ erschienene Übersetzung des Lambert von Hersfeld „nebst Bruchstücken aus Chroniken und einer Einleitung zur Kenntnis des deutschen Mittelalters und Kaisertums“ (Frankfurt a. M. 1819). Während seiner Wiener Amtsperiode wandte er sich der neueren Geschichte zu, und es ist gewiß kein Zufall, daß er sich Ferdinand I. und dessen Politik zum Hauptgegenstand seiner Forschungen wählte. Erlaubte es ihm dieses Thema doch, zur Reformation und zu allen die Neuzeit bestimmenden Ereignissen und Strömungen Stellung zu nehmen und als Mitstreiter der katholischen Erneuerungsbewegung des 19. Jahrhunderts im Zeichen einer sich wieder schärfer ausprägenden Konfessionalisierung die gegenreformatorische Überlieferung innerhalb des katholischen Geschichtsbilds mit neuen Konturen zu versehen. Bucholtz ist auf keinem Gebiet über mediokre Leistungen hinausgelangt. Doch nötigt die Art und Weise, wie er sich schließlich auf ein neunbändiges Lebenswerk, die Geschichte Ferdinands I., konzentriert hat, Respekt ab20. Wissenschaftlich längst überholt und schon zur Zeit seines Erscheinens keineswegs ein beispielhaftes Werk, ist Bucholtz’ Opus magnum doch ein wissenschaftsgeschichtlich und geistesgeschichtlich aufschlußreiches Zeugnis. Bucholtz, den man den Historiker des Hofbauerkreises genannt hat, hat insbesondere in der Einleitung, die er dem ersten Band der Biographie vorausschickte, eine Zusammenfassung dessen in Angriff genommen, was man als die historische Grundauffassung des konservativen deutschen Katholizismus der Restaurationszeit ansehen darf. Wenn man die Pränumerandenliste21 studiert, aus der man weniger auf den Leserkreis als auf den Sympathisantenkreis des Autors Schlüsse ziehen kann, so spiegeln sich in ihr nochmals Wien und Münster als Gravitationspunkte in der Bucholtzschen Lebensbahn, obschon die westfälische Komponente inzwischen erheblich zurückgetreten und namentlich der westfälische Adel als Subskribentenkategorie nur mehr mit zwei Namen in Erscheinung getreten war. Lebenslang ist Bucholtz Mittelsmann zwischen den Kreisen katholischer Tradition und Erneuerung in Wien und Münster geblieben. Die Historiker, die wir im Folgenden zu behandeln haben, zählen zur akademisch-professoralen Repräsentanz ihres Faches.

Wilhelm Heinrich Grauert (1804 – 1852) In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts standen dem allenfalls auftretenden und von politisch-konfessionellen Sympathien eingegebenen Wunsch eines westfälischen Historikers, sich im Habsburgerreich beruflich niederzulassen, stets die dortigen wenig attraktiven akademischen Verhältnisse im Wege. Die Universitäten des Metternichschen Österreich waren in solchem Maße der Gängelung, Reglementierung und Bevormundung preisgegeben, daß ein Ausländer, dem an Lehrund Meinungsfreiheit gelegen war, es kaum über sich brachte, sich einem solchen 20 21

F. B. v. Bucholtz, Geschichte der Regierung Ferdinands I., 9 Bde., Wien 1831 / 38. Bucholtz, a. a. O., I S. III – VI.

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Joch freiwillig zu unterwerfen. Ein Umschwung im österreichischen Hochschulwesen erfolgte erst durch die Reformen und die Berufungspolitik des konservativen Grafen Thun22, und damit eröffnete sich auch den westfälisch-katholischen Historikern ein neuer Ausblick. Die erste Berufung eines nichtösterreichischen Historikers an die Universität Wien erreichte alsbald den ersten Inhaber eines Lehrstuhls für Geschichte an der Akademie in Münster: Wilhelm Heinrich Grauert23. Grauert, in Amsterdam geboren, aber einer sauerländischen Familie entstammend, hatte in Bonn studiert und dort das Vertrauen Niebuhrs gewonnen, der seinen Schüler auf alle nur erdenkliche Weise förderte. Dem Meister der philologisch-kritischen Erforschung der römischen Geschichte verdankte Grauert eine Privatdozentur in Bonn, und auf Fürsprache Niebuhrs ging es zurück, daß das Ministerium Altenstein in Münster eine neue Lehrkanzel für alte Literatur und Geschichte einrichtete, die Grauert 1824 als Extraordinarius bestieg. Grauert, der anfänglich nur in der alten Geschichte gearbeitet hatte, wandte sich in Münster daneben auch der neueren Geschichte zu. In Münster ist sein Hauptwerk „Königin Christine von Schweden und ihr Hof“ (Bonn 1837 / 42) entstanden, ein tüchtiges, aber ohne archivalische Quellenforschung fertiggestelltes Werk. In Grauert schlug eine stark pädagogische Ader. Er ist seinen Lehrverpflichtungen offensichtlich aus innerster Neigung nachgegangen. Bewußt und nachdrücklich hat er seine Lehrtätigkeit auf die Ausbildung künftiger Gymnasiallehrer ausgerichtet. Auf Grauerts Initiative ist 1839 der Rheinisch-Westfälische Schulmännerverein zustande gekommen, und schon sieben Jahre vorher hatte Grauert den Historischen Verein zu Münster ins Leben gerufen, der neben dem und keineswegs gegen den Altertumsverein, dessen (allerdings passives) Mitglied Grauert ebenfalls gewesen ist, bis zum heutigen Tag Bestand hat und dessen Aufgabe schon sein Begründer nicht in der landesgeschichtlichen Forschung, sondern, wie Bernd Mütter schreibt, in der Verbindung der „oberen Gesellschaftsschichten der Stadt mit den Vertretern der historischen Disziplin an der Akademie“ sah. Im Zeichen des heraufziehenden Historismus erwies sich die Erörterung geschichtlicher Fragen damals offensichtlich als geeignet, um auf dem Boden einer mehr und mehr historisch bestimmten Bildungssphäre geistig integrativ zu wirken und einen gesellschaftlichen Zusammenschluß beruflich sehr unterschiedlich tätiger Menschen herbeizuführen. Grauert sehnte sich allerdings nach einem größeren Wirkungskreis, als ihn die münstersche Akademie bieten konnte, und es ist mit aller Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß er einen Ruf an eine preußische Universität jederzeit angenommen hätte. Dem stand jedoch seine Konfessionszugehörigkeit im Wege, wie dies schon in Kiel der Fall gewesen war, wo ihn Niebuhr gerne untergebracht hätte. Gleichwohl hat Grauert Münster 22 Vgl. H. Lentze, Die Universitätsreform des Ministers Grafen Leo Thun-Hohenstein (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse, Sitzungsberichte, 239. Bd., 2. Abhandlung, Wien 1962). 23 H. v. Srbik, Ein Schüler Niebuhrs: Wilhelm Heinrich Grauert (Sitzungsberichte der ksl. Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse, 176. Bd., 4. Abhandlung, Wien 1914, S. 1 – 63). Auch für Grauert sei nochmals auf die bevorstehende Diss. B. Mütters verwiesen.

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nicht etwa aus Gründen eines akuten Konflikts oder auch nur allgemeiner Unzufriedenheit mit den preußischen Verhältnissen Anfang 1850 verlassen. Ihm ging es allein um die Ausweitung seiner fachlichen Möglichkeiten. In Wien hat er umgehend die Reform des dortigen Geschichtsstudiums in die Hand genommen und das Historische Seminar der Wiener Universität begründet. In Münster hatte er nur innerhalb des Philologisch-pädagogischen Seminars den akademischen Unterricht der Geschichte ausbauen können, doch waren seinem Eifer und seiner Energie auch in diesem Rahmen Erfolge beschieden. Sein früher Tod am 10. I. 1852 beendete jäh eine sicher mit großen Hoffnungen begonnene Tätigkeit. Grauert bekannte sich stets zu seiner Kirche, und er hielt sich selbst mit gutem Grund für einen westfälischen Patrioten24. Trotzdem war er atypisch, wenn man von der damals zu Preußen mehr oder minder in ideologischem Widerspruch stehenden und daher von der Hohenzollernmonarchie wegstrebenden westfälischen Historikergruppe als einem Ganzen ausgeht. Grauerts deutschnationale, konstitutionelle, liberal-konservative Auffassungen im Politischen haben diese Sonderstellung allerdings noch nicht begründet, wie sie ihm ja auch innerhalb des münsterschen Establishment nicht im Wege standen. Was zwischen ihm und den Männern wie Ficker und Junckmann Fremdheit schuf, war die Tatsache, daß Grauert von einer älteren, neuhumanistisch-klassizistischen Wissenschaftsrichtung bestimmt war und lebenslang bestimmt blieb. Diese Einstellung ließ ihn in Münster wie in Wien harmonisch mit klassischen Philologen zusammenarbeiten, aber sie isolierte ihn, der der antiken Geschichte und speziell der athenischen Poliswelt kanonische Geltung beimaß und geradezu die Unterordnung der Geschichte unter die Philologie, nicht die Kooperation beider, vertrat, von Richtungen, die noch vor der Mitte des 19. Jahrhunderts zu dominieren begannen. Grauert fehlte – sein Enkel Srbik hat dieses Fehlen als ein Merkmal der altliberalen Schule der Historiographie hervorgehoben – die „romantische Wärme für das deutsche Kaisertum und die universale Kirche des Mittelalters als höhere Einheit des Abendlandes“25. Eben diese romantische Wärme aber charakterisierte die Grauert folgende Generation westfälischer Historiker.

24 Vgl. W. H. Grauert, Historisch-philologische Analekten, Münster 1833, S. V: „Es ist auffallend, daß in gewissen Gegenden Deutschlands alle aus Westfalen stammenden literarischen Produkte in Büchern und Literaturzeitungen entweder aufs unbilligste getadelt oder gänzlich ignoriert werden, manchen unbedeutenden Schriften aus Gegenden, die einmal im Rufe wissenschaftlicher Kultur stehen, ungebührliches Lob zuteil wird. Es sollte doch jetzt endlich das alte Vorurteil gegen Westfalen schwinden: denn kein Unbefangener und Kundiger wird verkennen, daß Westfalen jetzt auf einer viel höheren Stufe steht als noch vor einigen Dezennien; daß ein wissenschaftliches Streben in ihm lebt und wissenschaftliche Anstalten in ihm blühen, wodurch es in dem gebildeten Deutschland eine sehr würdige Rolle einnimmt.“ 25 H. v. Srbik, Geist und Geschichte vom deutschen Humanismus bis zur Gegenwart, I, München und Salzburg 1950, S. 342.

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Julius von Ficker (1826 – 1902) Der berühmteste westfälische Geschichtsschreiber des 19. Jahrhunderts, Julius Ficker, der lange Jahrzehnte in Österreich lehrte, gehörte einer jüngeren Generation als Grauert an. Was wir seiner wohldokumentierten Biographie26 entnehmen können, ist im Gegensatz zum Denken und Tun Grauerts repräsentativ für die historisch-ideologischen und politisch-konfessionellen Motive einer größeren Gruppe seiner landsmännischen Zeit- und Berufsgenossen. Wir wiederholen: bei Ficker wie bei allen anderen hier zu behandelnden Historikerpersönlichkeiten geht es uns nicht primär um die meist schon ausführlich gewürdigte fachwissenschaftliche Leistung, sondern um seine Position im Rahmen einer sozial- und regionalhistorisch zu betreibenden politischen Gelehrtengeschichte. Ficker stammte von beiden Elternteilen aus angesehenen Arztfamilien. Durch die zweite Ehe seiner Mutter mit dem reichen Vizepräsidenten am münsterschen Oberlandesgericht und letzten Bürgermeister der fürstbischöflichen Stadt Münster, Franz Scheffer-Boichorst, trat Ficker in eine Schicht ein, aus der neben SchefferBoichorst Namen wie Schücking, Vagedes, Druffel, Forckenbeck, Duesberg und Freusberg hervorragen und die man mit guten Gründen als eine Beamtenaristokratie bezeichnen kann. Diese Familien waren ausnahmslos katholisch, und es wird z. B. von Fickers Mutter, der Frau Präsidentin, berichtet, sie habe jungen Paaren, die eine Mischehe eingegangen waren und ihr ihre Aufwartung machten, ihr Mißfallen deutlich zu verstehen gegeben. Politisch sah sich die Gruppe jedoch schon durch die Berufsstellung ihrer Häupter veranlaßt, dem preußischen Staat gegenüber eine peinlich korrekte Haltung einzunehmen. Die preußische Regierung bemühte sich ihrerseits mit einem gewissen Erfolg, z. B. durch Nobilitierung, den einflußreichen Kreis für sich zu gewinnen. Auch einige Vertreter des ritterschaftlichen Adels haben sich früh und bewußt auf die preußische Seite gestellt27. Im Hause Scheffer-Boichorst war man jedenfalls in jeder Hinsicht, auch über die Kölner Wirren hinaus, staatsloyal gesonnen. Generationskonflikte wurden damals von seiten der Jugend nicht in den heute üblichen Formen ausgetragen. Trotzdem ließ sich bei dem wohlerzogenen und dem Elternhaus eng verbundenen jungen Ficker alsbald nicht übersehen, daß ihn der Zeitgeist auf andere Bahnen führte, als diejenigen seiner Eltern es waren. Seine Altersgruppe war in ihrer Jugend spätromantischen Anschauungen aufgeschlossen und zugetan. Die mächtige Zeitströmung des Historismus kam hinzu. So spielte im Denken des jungen Ficker die westfälisch-heimatliche Komponente eine beträchtliche Rolle. Sie schuf Distanz zu dem als protestantisch-rationalistisch empfundenen preußischen Staatswesen. Seine Verbundenheit mit der westdeutschen Geschichtslandschaft, sein Bedauern darüber, daß die Gravitationszentren der ReichsJ. Jung, Julius Ficker (1826 – 1902), Innsbruck 1907; auch für das Folgende. Vgl. G. Mees, Schorlemer-Alst und der westfälische Bauernverein etc., Münstersche Diss. (masch.schriftlich) 1956, S. 38 f. mit weiteren Literaturangaben. 26 27

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politik aus dem geschichtserfüllten Westen in die „koloniale“ Welt des deutschen Südostens und Nordostens übertragen worden waren, geht deutlich aus dem Vorwort zu seinem Buch „Engelbert der Heilige“ hervor, das er als Bonner Privatdozent verfaßt hat: „An den Ufern des Rheins lag einst die Kraft des deutschen Reichs, die Herrlichkeit der deutschen Kirche; von ihr, als der mächtigsten Pulsader, strömte das Leben aus in die einzelnen Glieder des weiten Gebietes, das unsere Könige und Kaiser beherrschten; dort in den großen Erzstühlen des Westens lagen die Schwerpunkte des staatlichen wie des kirchlichen Lebens der deutschen Nation, solange diese noch übermächtig war unter den Völkern des Abendlandes“28. Wir entnehmen diesem und anderen Zeugnissen, daß neben der großdeutschen, reichischen, habsburgischen Position auch die landschaftliche Bindung Fikkers als konstitutiv für seine Geschichtsauffassung zu bewerten ist. Freilich war Ficker nicht der Mann, sich in den Schmollwinkel einer sich mehr oder minder bewußt isolierenden Provinzialgeschichte zurückzuziehen. In dem eben zitierten Vorwort heißt es vielmehr: „Aber wahres Leben wird die Provinzialgeschichte immer nur durch die Verbindung mit der Reichsgeschichte erhalten können. So naheliegend und anerkennenswert das Streben ist, die Vorzeit des engeren Kreises der Heimat zu durchforschen, so gern ich eingestehe, daß das mir selbst erst Vorliebe für Geschichte überhaupt erweckte und mich endlich zur ausschließlichen Beschäftigung mit derselben bestimmte, so mag ich doch nicht die Ansicht teilen, daß die Provinzialgeschichte Wert und Vollendung sich selbst finden könne“29. Wenn es Ficker um Einordnung der Landesgeschichte in die Reichsgeschichte ging, so bedeutete dies Verankerung seines historischen Interesses im Mittelalter und eine nicht zu verkennende Abkehr von der ihm mißfälligen deutschen Staatengeschichte der Neuzeit. Die als großartig empfundene Kaiserzeit war seine Welt, und schon der Bonner Student Ficker mußte in der „altprotestantischen“ Geschichtsauffassung Dahlmanns mit Luther, Gustav Adolf, Friedrich d. Gr. als Helden auf der deutschen Geschichtsbühne wie in den modernen kleindeutsch-liberalen Konzeptionen das ihm feindliche Prinzip erkennen. Aufgabe wissenschaftsgeschichtlicher Untersuchung ist es u. a., neben den Bildungs- und Erkenntnismotiven die politisch-gesellschaftlichen Beweggründe herauszuarbeiten, die einen Gelehrten in eine bestimmte Forschungsrichtung führen. Die deutsche Mediävistik des 19. Jahrhunderts weist unter ihren Vertretern Persönlichkeiten auf, die die aufsteigenden und schließlich siegreichen Tendenzen ihrer Zeit bejahten, und solche, die im Lager der nationalpolitischen Opposition gegen eine preußisch-kleindeutsche Lösung standen. Für Ficker hat es kaum einen Zweifel gegeben, wo er seinen Platz zu suchen hatte. Das Sommersemester 1848 sah Ficker in Berlin. Während die Radikalen für den konservativen Westfalen, der mit anderen Landsleuten als Mitglied der Studentenwehr im Berliner Schloß auf Wache zog und entschlossen war, es gegen alle An28

J. Ficker, Engelbert d. Heilige, Erzbischof von Köln und Reichsverweser, Köln 1853,

S. 1. 29

Ficker, a. a. O. S. IV f.

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griffe zu verteidigen, als Gesinnungsgenossen ohnehin nicht in Frage kamen, erschien ihm ein anderer Teil seiner Kommilitonen als zu preußisch. In einem Brief an die Mutter beteuerte er, daß sich seine „Hoffnungen und Wünsche . . . nur aufs Gesamtwohl des großen deutschen Vaterlandes und die möglichst selbständige Entwicklung des westfälischen Stamms in ihm und mit ihm richten. Preußens Zukunft liegt mir ferner; ich glaube, daß die Zeit nicht mehr so weit liegt, wo Münster nur noch von Frankfurt, nicht von Berlin sein Heil erwarten wird“30. Man gelangt zu einem adäquaten Verständnis Fickers, wenn man die in diesen Sätzen zutage tretende Verbindung von politisch relevantem Heimatbewußtsein und großdeutschem Patriotismus im Zusammenhang mit der Forschungsrichtung des Gelehrten sieht, mit reichsgeschichtlich orientierter Mediävistik und Landesgeschichte. Die politisch-historische Stimmung seiner Generation hat ihn auf sein Arbeitsfeld geführt, das wiederum Impulse gebend und bestärkend auf seine Einstellung zum öffentlichen Leben zurückwirkte. Und aufs ganze gesehen, wird man die Bekenntnisse des Jahres 1848 als die Basis einer lebenslang eingehaltenen politisch-wissenschaftlichen Grundrichtung ansehen dürfen, nur daß zwar nicht seine Anhänglichkeit an Westfalen, wohl aber seine Hoffnungen auf selbständige Entwicklung der Heimatprovinz während des halben Jahrhunderts seiner Innsbrucker Wirksamkeit wohl dahingeschwunden sind. Auch ist es denkbar, daß ihm später die Problematik eines zunächst naiv akzeptierten, vermeintlich noch politische Realität und Aktualität beinhaltenden Stammesbegriffs aufgegangen ist. Von seinem Freund Wilhelm Junckmann31, der sich den Beinamen „Reichsprophet“ erworben hatte, ermuntert, hielt sich Ficker 1848 / 49 in Frankfurt auf und hoffte auf den Sieg der „deutschen Sache“. Als er im Frühjahr 1849 zu Fuß nach Münster zurückwanderte, fand er bei der Bevölkerung in Westfalen „fast überall . . . entschieden deutsche und kaiserliche Gesinnung“ und nur die „Grafschaft Mark schwarz-weiß gestimmt, wenigstens in den Städten“32. Fickers engsten Umgang in diesen Jahren bildeten zwei Berufs- und Gesinnungsgenossen: Junckmann, der später in Breslau ein Ordinariat versah, und Karl Adolf Cornelius, der durch verwandtschaftliche Beziehungen mit Westfalen verbunden war und damals als Privatdozent in Münster wirkte. Wenn man die „reichische“ und die landschaftliche Komponente im Denken Fickers und dieser seiner Freunde hervorhebt, ist es unerläßlich zu fragen, in welchem Maße die Konfession sein politisches Denken mitbestimmte. Ficker stand fest in der katholischen Tradition. Wie es im innersten, dem religiösen Bezirk dieses Katholizismus bei ihm aussah, ist schwer zu sagen. Manches spricht dafür, daß er nach Schwankungen in jüngeren Jahren schließlich einen nüchternen Standpunkt einnahm. Aber von Anfang an lehnte er es ab, sich als konfessioneller Parteigänger und Heißsporn zu betätigen. Nicht so sehr der aktuell-konfessionspoliti30 31 32

Jung, a. a. O. S. 65. Vgl. J. Nettesheim, Wilhelm Junckmann, Münster 1969. Jung, a. a. O. S. 69.

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sche als der historische Aspekt bestimmten seine Haltung als Katholik. Er war in den Katholizismus hineingeboren wie in sein Deutschtum und sein Westfalentum, und es ist kaum vorstellbar, daß er als konservativer Mensch aus diesem Lebenskreis sich je hätte entfernen können. Wenn Ficker als Katholiken ein Umstand polemisch werden ließ, dann die Argumentationsweise der kleindeutsch-protestantischen Geschichtsschreibung. So heißt es 1849 in einem von ihm verfaßten Artikel „Deutschlands Einheit und die Ultramontanen“ für die „Rheinische Volkshalle“: er sei kein Freund konfessioneller Streitigkeiten, „wenn aber der Protestantismus sich mit der Geschichte seines Wirkens für Deutschland durch Preußen breit macht, da kann es doch nicht schaden, daran zu erinnern, was der Katholizismus getan, als er Reichskirche war“. Als Ficker feststellen mußte, daß man in der „Volkshalle“ seinen Artikel in übler Weise verändert hatte, lautete sein Kommentar: „diese . . . Parteimenschen ohne Einsicht sind fürchterlich; im Getreibe des Tages lasse ich mir den schroffen Parteistandpunkt gefallen; aber in der Geschichte mag ich ihn nicht und sollte ich dereinst als ultramontaner Historiker verschrien sein, so hoffe ich, daß es nur daher rühren wird, daß die Protestanten die deutsche Geschichte in ihrem Interesse bisher gepachtet zu haben schienen und eine unparteiische Geschichtsforschung natürlich viele ihrer Täuschungen aufdecken muß“33. Ficker war finanziell unabhängig, wünschte jedoch nicht Privatgelehrter zu bleiben, sondern die Universitätslaufbahn einzuschlagen, die er als Privatdozent in Bonn begann. Nach dem bisher Gesagten wird es nicht überraschen, daß Ficker einem Ruf an eine der reorganisierten Hochschulen Österreichs nicht abgeneigt sein konnte. Allerdings verhielt es sich nicht so, als ob dem Katholiken Ficker in Preußen der Aufstieg versperrt geblieben wäre. Die Familie Scheffer-Boichorst stand dem preußischen Staat loyal gegenüber und durfte wiederum mit gutem Grund von dessen Seite Begünstigung erwarten. Als Kontaktstelle zwischen dem preußischen Staat und wissenschaftlichen Talenten aus der katholischen Bevölkerung Preußens ist in diesem Zusammenhang die „Katholische Abteilung“ im preußischen Kultusministerium zu nennen, die eine Art institutionalisierter Interessenvertretung der Katholiken bildete und in ihrer personellen Zusammensetzung sich eine Zeitlang wie ein westfälischer Brückenkopf in Berlin ausnahm34. Als Ficker in den Gesichtskreis der Abteilung trat, stand an ihrer Spitze der Geheime Rat Aulike, gebürtig aus Münster und mit einer Tochter der alten Münsterländischen Familie von Zurmühlen verheiratet. Als Hilfsarbeiter und später als Rat stand ihm der Arnsberger Wilhelm Ulrich zur Seite, der, mit einer Schwester Fickers verehelicht, über Familienrückhalt an einer angesehenen Gelehrten- und Beamtensippe gebot. In der „Katholischen Abteilung“ wünschte man Fickers Talent für die katholische Bildungsschicht Preußens zu bewahren und ihn daher im Lande zu halten. Ein Jahr nachdem Ficker nach Innsbruck übergesiedelt war, erreichte ihn ein Ruf auf ein Jung, a. a. O. S. 76; auch für das Folgende. Vgl. V. Conzenius, Briefe Aulikes an Döllinger. Ein Beitrag zur Geschichte der „katholischen Abteilung“ im preußischen Kultusministerium, Rom, Freiburg, Wien 1968; dort auch Angaben über die ältere Literatur. 33 34

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Bonner Ordinariat, die dortige „katholische Professur“, neben der drei „protestantische“ eingerichtet waren. Außer der Bonner Fakultät hatte bei diesem Ruf selbstverständlich die „Katholische Abteilung“ ihre Hand im Spiel. Die früher Ficker gegenüber ausgesprochene Vermutung, man werde einen aus dem „Vaterland“ fortgegangenen Gelehrten kaum aus Österreich nach Preußen zurückrufen, war damit widerlegt. Aber Ficker konnte sich nicht entschließen, die erst angetretene Innsbrucker Professur aufzugeben. Seine wissenschaftlich-politischen Überzeugungen dürften bei dem Entschluß, Österreich treu zu bleiben, keine geringe Rolle gespielt haben. Fachlich wie politisch hätte der österreichische Unterrichtsminister Graf Thun im Hinblick auf die Erneuerung des österreichischen Hochschulwesens und die Stärkung der habsburgischen Staatsidee keinen glücklicheren Griff tun können, als den Westfalen Ficker zu berufen. Ficker nahm unter den deutschen Mediävisten des 19. Jahrhunderts und insbesondere unter den Verfassungshistorikern als Forscher einen hervorragenden Platz ein, er begründete in Innsbruck eine angesehene Schule und er hat sich in bemerkenswertem Ausmaß für die Hochschuladministration und die Universitätspolitik zur Verfügung gestellt. Bis 1866 ist er als überzeugter Parteigänger der großdeutschen Sache hervorgetreten. Er wehrte sich mit allen Kräften gegen die Gleichsetzung von Deutschtum und Preußentum, und er hätte die Einsetzung eines schwarz-weißen Kaisertums für ein Verhängnis angesehen. Um so mehr fühlte er sich dem schwarz-gelben Kaisertum in großdeutscher Gesinnung verbunden. Viele Jahre zählte er zu den Vertretern des politisierten Schützenwesens seiner Zeit, und am ersten deutschen Bundesschießen zu Frankfurt am Main 1862, einer durchaus politischen Veranstaltung, auf der die Gegensätze der beiden deutschen nationalpolitischen Richtungen aufeinanderstießen, hat er als überzeugter Großdeutscher teilgenommen. Als Leutnant der Innsbrucker Studentenkompanie der Tiroler Landesverteidigung zog er 1866 gegen Italien zu Felde. Zu einem Politikum ersten Ranges wuchs sich Fickers Stellungnahme zur Politik des mittelalterlichen deutschen Kaisertums in seiner berühmten Kontroverse mit Sybel aus, über die eine ganze Literatur existiert35. Die vor dem Hintergrund des Krieges von 1859 zu sehende Polemik um die deutsche Kaiserpolitik des Mittelalters hatte als „wissenschaftlicher Bürgerkrieg“ (Dove) innerhalb der Ranke-Schule, als Angriff Sybels auf Giesebrecht, begonnen. Erst das Hervortreten Fickers führte jedoch so recht zur nationalpolitischen Ausweitung der Kontroverse, und man darf den westfälischen Mediävisten in Innsbruck mit gutem Grund den ersten geschichtswissenschaftlichen Wortführer der Sache Österreichs im Endkampf um die Lösung der deutschen Frage nennen. Zur Präzisierung der Auffassungen Fickers ist an dieser Stelle zu wiederholen, daß sein katholischer Universalismus 35 Vgl. Universalstaat oder Nationalstaat. Macht und Ende des Ersten deutschen Reiches. Die Streitschriften von Heinrich von Sybel und Julius Ficker zur deutschen Kaiserpolitik des Mittelalters, hrsg. u. eingel. von F. Schneider, Innsbruck 1941. – F. Schneider, Die neueren Anschauungen der deutschen Historiker über die Kaiserpolitik des Mittelalters, Weimar 6 1943.

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nicht identisch war mit der Strömung, die man im 19. Jahrhundert als Ultramontanismus bezeichnete. Ficker war nicht der Mann eines politischen Katholizismus im Stil seiner Zeit. Die Identität von entschieden katholischer und österreichischhabsburgischer Politik wurde von anderen Gelehrten überzeugender vertreten, so von einem Verwandten Fickers, Dr. Ludwig Arndts (seit 1871 Arndts von Arnesberg), der, früher in München tätig, von 1855 – 1874 als Lehrer der Rechtswissenschaft an der Universität Wien wirkte. Arndts stand in engen Beziehungen zu einer in den dreißiger und vierziger Jahren an der Universität München wirkenden Gruppe von Gelehrten, die sich großenteils nicht aus Altbayern zusammensetzten und die wegen ihrer Stellungnahme in der Lola Montez-Affäre 1847 amtsenthoben oder strafversetzt wurden. Einige von ihnen, Juristen und Historiker, darunter Ernst Freiherr von Moy, Konstantin Höfler und George Phillips, hat Graf Thun nach Österreich berufen. Bei diesen Männern verband sich habsburgisch-großdeutsche Gesinnung mit politisch-konservativem Katholizismus zu einer lückenlosen Einheit; nicht so bei Ficker, der mit den Genannten 1848 einigen Umgang gehabt hat, sich jedoch später von ihnen fernhielt. Wenn Ficker in Innsbruck unter die Liberalen gerechnet wurde, so bezog sich dies einmal darauf, daß er auf dem Boden des Verfassungsstaates stand, zum anderen auf seine kirchenpolitischen Auffassungen. Die Beziehungen zu Westfalen, wo er sich auch als Innsbrucker Professor wiederholt aufgehalten hat, blieben eng. Mit Rat und Tat hat er, der weiterhin die münsterschen Lokalblätter hielt, die historische Forschung in Westfalen unterstützt; er hat in Tirol viel westfälischen Besuch erhalten und manche Westfalen zu seinen Schülern gezählt. Seine Hilfe wurde ebenso hochklerikalen wie antiklerikalen Landsleuten zuteil. Schließlich hat sich Ficker dem Grafen Thun als Vertrauensmann für die bei Berufungen aus dem nichtösterreichischen Deutschland notwendigen Verhandlungen zur Verfügung gestellt. Dabei lenkte er die Aufmerksamkeit, wie kaum anders zu erwarten, vor allem auf Westfalen und das Rheinland und beschränkte sich nicht nur auf den Hochschullehrernachwuchs, sondern zog auch tüchtige westfälische Gymnasiallehrer nach Österreich36. Bismarcks deutsche Politik und deren Ergebnisse hat Ficker verurteilt, doch vermied er es nach 1866, von Innsbruck her eine spezifisch antipreußische Politik oder Wissenschaftspolitik zu betreiben. 1893 wählte die Preußische Akademie der Wissenschaften ihn zum korrespondierenden Mitglied, 1897 erhielt er den Orden „Pour le Mérite“. Über der Endphase von Fickers Wirken liegt eine versöhnliche Stimmung.

36 Jung, a. a. O. S. 277 ff.; bemerkenswert, daß aber auch zwei Gymnasiallehrer, die aus Münster stammenden Brüder Goebel, nach kurzer Zeit wieder nach Preußen zurückkehrten.

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Johann Friedrich von Schulte (1827 – 1914) Der zu Winterberg geborene Johann Friedrich Schulte37 war zwar vom Fach Jurist und Kanonist, er vertrat jedoch in Verbindung damit nicht nur lange Jahre die deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte, über die er ein Lehrbuch herausgebracht hat, sondern darüber hinaus ist sein umfangreiches wissenschaftlich-publizistisches Lebenswerk so sehr historisch geprägt, daß es sich rechtfertigen läßt, Schulte der von uns behandelten Historikergruppe zuzurechnen. Schultes Hauptwerk war eine „Geschichte“ (Sperrung vom Vf.) der Quellen und Literatur des kanonischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart“ (1875). Was Herkunft und gesellschaftliche Position Schultes betrifft, weisen sie, abgesehen von der Vermögenslage seiner Eltern, große Ähnlichkeit mit derjenigen Fikkers auf. Auch Schultes Vater war Arzt. Und wie die zweite Ehe der Mutter Ficker den Sohn in Verbindung mit einem patrizisch-beamtenaristokratischen Milieu gebracht hatte, so hat der Bruder der Mutter Schultes, der Rechtslehrer und hessische Staatsmann J. Th. B. von Linde (1797 – 1870), Sohn eines Briloner Advokaten, dem Neffen den Weg in das katholische Establishment seiner Zeit geebnet. Linde war ursprünglich preußischer Patriot. Die auf konfessionelle Gründe zurückzuführende Aussichtslosigkeit seiner akademischen Ambitionen hat ihn, dem allerdings kritisch zu benützenden Zeugnis des Neffen Schulte zufolge, zum Gegner Preußens gemacht; auch ein Angebot Altensteins vom Jahre 1831, als Staatsrat in das preußische Kultusministerium einzutreten, hat ihn nicht mehr locken oder versöhnen können. 1823 an die Universität Gießen berufen, machte Linde eine glänzende Karriere. Schon als Achtunddreißigjährigem wurde ihm die Stelle eines Geh. Regierungsrates im Ministerium des Inneren und der Justiz in Darmstadt zuteil. Das Mitglied der Ersten Kammer Hessens und des Frankfurter Parlaments betätigte sich seit 1850 am Bundestag offiziell im Dienste deutscher Kleinfürsten, de facto noch mehr als inoffizieller Vertrauensmann Österreichs. Der fähige Jurist zählte zu den entschieden antipreußischen Parteigängern des politischen Katholizismus streng konservativer Observanz. Über Schultes Werdegang sind wir durch ihn selbst gut unterrichtet. Bildungsstruktur und Gesinnung des jungen Schulte haben wir uns ähnlich derjenigen Fikkers vorzustellen, allerdings mit dem Unterschied, daß Schulte, eine aktivere Natur, ein politischeres Temperament und von gröberem Zuschnitt als Ficker, in kirchenpolitischen Fragen erst sehr viel entschiedener die Sache Roms zu der seinigen machte, um dann später um so vehementer die Partei des Altkatholizismus zu ergreifen, während Ficker sich in dieser Hinsicht völlig zurückhielt. Der vierzehnjährige Schulte jubelte 1841 dem amtsenthobenen Kölner Erzbischof Clemens August zu Droste-Vischering zu, als dieser durch Brilon kam. Während seiner Berliner Studienzeit erfreute sich Schulte der wärmsten Förderung durch den Direktor der katholischen Abteilung, Aulike. Er verkehrte mit den Räten dieser Abteilung, 37

Vgl. J. F. Schulte, Lebenserinnerungen, 3 Bde., Gießen 1908 / 09; auch für das Folgende.

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mit katholischen Geistlichen und Abgeordneten aus Westfalen und der Rheinprovinz, namentlich den Brüdern Reichensperger, doch fehlte es auch nicht an Umgang mit anderen Kreisen. Nach kurzer Tätigkeit in der Praxis habilitierte sich Schulte für Kirchenrecht an der Universität Bonn. Wenn Schulte, was sich häufiger ergab, von Bonn nach Köln kam, war er, durch den Onkel Linde empfohlen, regelmäßiger Gast des Erzbischofs Geißel, als dessen Vertrauensmann er später vielfach bezeichnet worden ist. Noch kein Jahr nach der Habilitation erreichte Schulte 1854 Thuns Ruf an die Universität Prag. In die Jahre 1853 / 54 fällt ein Unternehmen, das erkennen läßt, wo wir damals die Mitte der Überzeugungen und Erwartungen Schultes zu suchen haben. Zusammen mit einem Vetter Fickers, dem in Münster beschäftigten Auscultator August Krahé, dem damals ebenfalls dort tätigen und nachmals bekannten Historiker Johannes Janssen, Verfasser einer „Geschichte des deutschen Volkes seit dem Ausgang des Mittelalters“, dem Sekretär des Bischofs von Münster, Johann Heinrich Bange, und schließlich dem münsterschen Bischof Johann Georg Müller selbst erörterte Schulte den Plan, eine päpstliche Freiwilligenarmee zur Verteidigung des Patrimonium Petri ins Leben zu rufen. Solche Projekte lagen damals, unmittelbar vor der Beseitigung des Kirchenstaates, in der Luft, und der Gedanke einer internationalen päpstlichen Truppe wurde wenig später tatsächlich von französischer Seite verwirklicht38. August Krahé war der geistige Vater und Initiator des Vorhabens. Während Ficker bei aller Schützenmentalität und Wehrfreudigkeit im Geiste des 19. Jahrhunderts für die Pläne seines Vetters offenbar nichts übrig hatte39, stürzte sich Schulte mit Feuereifer in die Vorbereitungen, die ihn mit hervorragenden Persönlichkeiten des deutschen Katholizismus, insbesondere den wichtigsten Mitgliedern des Episkopats, bekannt machten und schließlich nach Rom führten. Schulte hat seine Erfahrungen auch in dieser Sache ausführlich beschrieben. Bei aller Vorsicht, die gegenüber der Einseitigkeit und Parteilichkeit geboten ist, mit der er aus der Rückschau eines enttäuschten Mannes geschrieben hat, ist sein Bericht für die Geschichte des politischen Katholizismus im 19. Jahrhundert doch sehr aufschlußreich. Nicht zuletzt ist es konfessionsgeschichtlich lehrreich, zu vergleichen, wie verschiedene Aspekte ein und derselben Sache sich aus der westfälischen Sicht, aus Wien und aus Rom ergaben. In Prag entfaltete Schulte fast zwei Jahrzehnte eine glänzende Wirksamkeit als akademischer Lehrer. Als Gelehrter erfreute er sich hohen Ansehens. Hochschulpolitisch rückte er seit 1855 zusammen mit Ficker und Höfler in diejenige einflußreiche Beraterstellung bei dem Unterrichtsminister Grafen Thun, die bis dahin Jarcke und Phillips eingenommen hatten40. Schulte bezeichnete sich als warmen Freund des Konkordats zwischen Österreich und dem Heiligen Stuhl von 38 Vgl. J. Schmidlin, Papstgeschichte der neuesten Zeit, II, München 1934, S. 75 (mit Literaturangaben). 39 Jung, a. a. O. S. 201. 40 Vgl. Lentze, a. a. O. S. 265 – 281.

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185541, von dem er sich die Entfaltung der römisch-katholischen Kirche in innerer und äußerer Freiheit erhoffte. Es ist bekannt, wie heftig sich die liberale öffentliche Meinung im Deutschen Bund gegen das österreichische Konkordat wandte, und heute wird kaum jemand bezweifeln, daß es sich um einen angesichts der damaligen gesellschaftlichen und staatlichen Verhältnisse anachronistischen Versuch handelte, auf dem Umweg über die Stärkung der kirchlichen Macht, insbesondere derjenigen der Bischöfe, das herrschende System in Österreich zu stabilisieren. Schulte, der, mit dem Titel eines Konsistorialrats versehen, als einziger Laie in ganz Österreich Mitglied des Prager geistlichen Ehegerichts war, einer im Vollzug des Artikels X des Konkordats gebildeten Einrichtung, erkannte im Laufe der Jahre, daß sich die Koppelung der libertas ecclesiae im Verständnis des 19. Jahrhunderts mit dem Wiener Neoabsolutismus für beide Teile als ungünstig erwies. Dazu kam, daß sich in mehreren Punkten die Undurchführbarkeit des Konkordats herausstellte. Mit dieser Einsicht verband sich ein in die sechziger Jahre zu datierender Gesinnungswandel Schultes, der ihn schließlich beruflich zur Rückkehr nach Preußen und kirchlich zum Bruch mit Rom führte. Schultes geistiger Mutterboden und Ausgangspunkt war ohne Zweifel der Katholizismus, in den er während seiner westfälischen Jugendzeit hineingewachsen war: er bildete die heimische, traditionelle, vertraute, von seinesgleichen getragene und geführte, spirituell verankerte Organisation der Gesellschaft, während der preußische Staat, bei aller äußerlichen Loyalität, die man ihm zukommen ließ, als harte, fremde, wenig freundliche Potenz empfunden wurde. Die Dynamik des preußischen Staates hatte natürlicherweise eine gewisse antiregionale Tendenz, die der junge Schulte wie der junge Ficker als bewußte Westfalen schmerzlich empfanden. Demgegenüber fand sich die westfälisch-landschaftliche Welt in der heimatlichen Diözese einer Kirche eingebunden, die Weltkirche war und von ihren gebildeten Gläubigen als Vorwegnahme einer idealeren Menschheitsorganisation aufgefaßt werden konnte. Es war für den überzeugten Katholiken selbstverständlich, daß er seine Kirche gegen staatskirchliche Einengung verteidigte. Antistaatskirchliche Gesinnung, ursprünglich aus preußischen Eindrücken geformt, war sicher im Spiel, wenn Schulte sich in Österreich der josefinischen Tradition entgegenstellte und das Konkordat von 1855 als Bruch mit dieser Überlieferung begrüßte. Die als selbstverständlich vorauszusetzende reichspatriotisch-großdeutsche Gesinnung Schultes und der gleichaltrigen akademischen Generation Westfalens vertrug sich mit dem katholischen Universalismus vorzüglich. Krisen konnten jedoch nicht ausbleiben, wenn das hochgestimmte deutsche Nationalbewußtsein dieser Männer Anlaß zu dem Verdacht zu haben glaubte, die Weltkirche und der Heilige Stuhl zumal würden von romanischem, undeutschem Geist mit Beschlag belegt. Mit dem nationalen Protest verband sich der modern-wissenschaftliche. Nicht nur der protestantische Liberalismus, auch eine Gruppe innerhalb der katholischen Theologen- und Laienwelt operierte seit der Mitte des 19. Jahrhunderts mit den Begriffen der Gei41

Schulte, a. a. O. I, S. 148.

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stesfreiheit, der wissenschaftlichen Unabhängigkeit und der nationalen Selbstachtung gegen den kurialen Kurs ihrer Epoche. Dieser von Gelehrten geführten Gruppe, als deren Haupt der Münchener Stiftspropst J. I. von Döllinger in die Geschichte eingegangen ist, hat sich Schulte, der ungeachtet dessen bis 1871 Mitglied des Prager geistlichen Ehegerichts und bis zu seinem Bruch mit der offiziellen Kirche Vertrauensmann des Erzbischofs Fürst Schwarzenberg geblieben war, eng angeschlossen. Schulte selbst gibt an, „daß ihm Vorfälle auf der katholischen Generalversammlung zu Aachen 1862 die Augen über das, was die jesuitische Richtung in Deutschland beabsichtigte, geöffnet hätten“42. Seit dem Vaticanum zählte er zu den entschiedensten Bekämpfern der von Rom eingeschlagenen Richtung. Er war nur konsequent, wenn er 1873 einen Ruf für deutsches und Kirchenrecht an die Universität Bonn annahm, als nationalliberaler Reichstagsabgeordneter in Berlin tätig wurde und bis zu seinem Lebensabend sich für die Sache der Altkatholiken einsetzte. Eine Betrachtung zur Gelehrtengeschichte, die den politischen und kirchenpolitischen, den landschafts- und konfessionsgeschichtlichen Gesichtspunkt in den Vordergrund stellt, kann an der enormen Bedeutung des Altkatholizismus für die katholische Intelligenz des 19. Jahrhunderts nicht vorübergehen. Die gebildeten Katholiken haben die Ereignisse um das Vaticanum ebensosehr aufgewühlt wie der Kampf um die Vorherrschaft in Deutschland und die kleindeutsche Einigung im Krieg mit Frankreich 1870 / 71. Die Intensität, mit der viele von ihnen diese Krise durchlitten haben, beweist, wie sehr sie ihrer Kirche zugetan waren und in welchem Maße die kirchliche Zugehörigkeit ursprünglich ihre gesellschaftlichpolitische Orientierung bestimmt hatte. Wo mit der römisch-katholischen Kirche gebrochen wurde, war eine um so leidenschaftlichere Hinwendung zum nationalen Gedanken und zum hohenzollernschen Kaiserreich in der Regel die Folge. Der aus Exkommunikation oder Austritt aus der Kirche resultierende Integrationsverlust, durch Anschluß an die altkatholische Kirchen- und Gemeindebildung nur unzulänglich wettgemacht, wurde durch Aktivität politischer und ideologischer Art kompensiert. Schultes Anschluß an die Partei der Reichsgründung und des Kulturkampfes, die Nationalliberalen, ist dafür ein aufschlußreiches und keineswegs das einzige Beispiel.

II. Bayern König Ludwig I. von Bayern hatte den Ehrgeiz, sich zum Protektor der katholischen Sache in Deutschland zu machen und damit das Ansehen seines Staates und seiner Dynastie innerhalb des Deutschen Bundes und darüber hinaus zu heben. Auf ihn geht die Restauration des Klosterwesens in Bayern zurück, und an der Beilegung der Kölner Wirren hat er sich maßgebend beteiligt. Die Universitäten 42

Schulte, a. a. O. I, S. 260.

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seines Landes, obschon vieles an ihnen auszusetzen war, bedurften nicht wie diejenigen Österreichs erst der Angleichung an den damaligen Stand wissenschaftlicher Ausbildung. Wenn es in Bayern unter Ludwig I. zur Berufung auswärtiger Gelehrter kam, so war das Motiv des Monarchen, im Gegensatz zur bayerischen Hochschulpolitik unter der Regierung seines Vorgängers, weithin in dem Bestreben zu suchen, die katholisch-konservative Richtung im Lande zu stärken. Diesem Ziel dienten z. B. die Berufungen der Rheinländer Joseph Görres, Ernst von Lasaulx und Hermann Müller und der Westfalen Martin Theodor Heinrich Contzen und Ludwig (v.) Arndts. Eine ganze Gruppe westfälischer Historiker hat sich in München erst nach der Zeit Ludwigs I. und im Zeichen einer veränderten politisch-ideologischen Konstellation im Königreich Bayern niedergelassen.

Franz (von) Löher (1818 – 1892) Franz von Löher, ursprünglich Jurist, unterschied sich nach Milieu und Werdegang erheblich von Ficker und Schulte43. Der Paderborner Metzgermeisterssohn, der zeitlebens seine westfälische Herkunft betonte und sein politisches Verhalten als westfälisch interpretierte, war als Student in Halle unter den Einfluß des Juristen und Danteforschers Karl Witte geraten, mit dem ihn eine lebenslange Freundschaft verband. Löher hat sich allerdings nie der hochkonservativen Linie Wittes angeschlossen. Ohne je preußenfeindlich zu werden, blieb ihm die unbedingte preußische Loyalität des Älteren fremd. An den Dichter Paul Heyse hat Löher später einmal geschrieben: „Sie sind in der Hoheit des preußischen Bewußtseins erzogen, ich als Westfale, d. h. tausendmal eher als Deutscher, nicht einmal als bloßer Preuße“. Andererseits hat seine Hallesche Zeit dem Paderborner, der sich als junges Semester vom Kirchenglauben gelöst hatte, preußische Staatlichkeit und Bildungswelt im Hause Wittes und im Umgang mit Männern wie Pernice, Leo, Toluck in einer Weise nahegebracht, wie dies bei Ficker und Schulte weder der Berliner noch der Bonner Aufenthalt bewirkt hatten. Noch nachdrücklicher dürfte Löher der in Wittes Dantekreis blühende Ghibellinismus beeindruckt haben, den er im Sinne alldeutscher und frühimperialistischer Gedankengänge modernisierte. Der in seiner Vaterstadt den juristischen Vorbereitungsdienst absolvierende Löher, der Zeit für rechtshistorische Untersuchungen und publizistische Arbeiten fand, deutete die Vorgänge seiner Epoche im letzten als Auseinandersetzung des Germanentums mit dem Romanentum und dem Slawentum. Um den Sieg der germanischen Welt zu gewährleisten, bedurfte es nicht nur seiner, sondern auch sehr vieler deutscher Zeitgenossen Meinung nach der möglichsten Stärkung der europäischen Mitte, der Wiederaufrichtung eines starken deutschen Reiches. 43 Die Zitate aus der in Anm. 12 erwähnten ungedruckten Diss. von K. Hüser, dem ich an dieser Stelle für die diesbezügliche Erlaubnis danke.

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Was Ficker und Schulte nicht im Traum eingefallen wäre, der abenteuerlustige junge Referendar fuhr nach Nordamerika, suchte dort, dilettantisch genug, seine Landsleute politisch zu aktivieren, um das deutsche Element in der amerikanischen Umgebung voranzubringen, und wertete mit schnellfertiger Feder seine Eindrücke publizistisch und gewinnbringend aus. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland haben die Ereignisse der Jahre 1848 / 49 Löhers Leben eine neue Wendung gegeben. Der geborene Journalist rief für den Verleger Crüwell in Paderborn im April 1848 die „Westfälische Zeitung“ als progressives Organ ins Leben und übernahm ihre Leitung. In der ersten Nummer der Zeitung hieß es: „Westfalen hatte im deutschen Reich seine Stärke und Blüte, möge es auch unwandelbar darauf hinarbeiten, daß das deutsche Reich wahrhaft wiederhergestellt werde und nicht wieder die Zersplitterung durch die Eigensucht und Unbotmäßigkeit so vieler Stämme und Regierungen eintreten“44. Löher betätigte sich als Mitbegründer und Präsident des Paderborner Volksvereins, und schließlich als einer der Akteure des demokratischen westfälischen Kongresses vom 18. – 19. XI. 1848 in Münster. Das wiedererstarkte preußische System ließ ihn deswegen verhaften, und er mußte über zwei Monate im münsterschen Zuchthaus verbringen. Die Paderborner wählten den Sohn ihrer Stadt unterdessen zum Mitglied der Zweiten Kammer Preußens und im Jahre darauf zu ihrem Stadtverordnetenvorsteher. 1851 haben ihn die Geschworenen in einem wegen der münsterschen Vorfälle gegen ihn angestrengten Prozeß freigesprochen. Wie schon vorher durch Zusammenwirken von Regierung und Magistrat seiner kommunalpolitischen Tätigkeit ein Ende bereitet wurde, so hat man ihn trotz des Freispruches aus dem Staatsdienst entlassen. Witte und Pernice, die Halleschen Gönner Löhers, sorgten dafür, daß er sich daraufhin in Göttingen habilitieren konnte, doch bildete die Göttinger Privatdozentur keine Existenzgrundlage. Karl Witte bemühte sich unentwegt um eine Versorgung des Freundes; u. a. wurden über den Westfalen Ludwig Arndts Fäden nach Österreich gesponnen. Bevor sich jedoch die Verleihung einer Grazer juristischen Professur und damit die Berufung eines weiteren Westfalen nach Österreich hatte verwirklichen lassen, war Löher zum literarischen und wissenschaftlichen Sekretär König Maximilians II. von Bayern und zum Honorarprofessor an der juristischen Fakultät der Universität München ernannt worden – angesichts der gelehrten und der poetischen Neigungen des Königs sowie seiner weit gespannten wissenschaftlichen und kulturpolitischen Vorhaben eine interessante und bis zu einem gewissen Grade einflußreiche Stelle, wenn dieser Einfluß auch vielfach überschätzt wurde und Löher ihn mit nicht wenigen Konkurrenten zu teilen hatte. Nach dem Sturz des Vorgängers Löhers, des politisch eindeutig festgelegten Wilhelm von Doenniges, war es nicht leicht, die von allen Seiten mißtrauisch beobachtete Sekretärsstelle zu besetzen. Der in Aussicht genommene Kandidat durfte kein Gothaer sein, aber auch ein unbedingter Parteigänger Österreichs wäre nicht am Platze gewesen. Darüber hinaus wurde gefordert: „Er sollte ein Jurist, nicht zu 44

Westfälische Zeitung Nr. 1 (zitiert nach Hüser).

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alt, nicht zu jung, Katholik, nicht ultramontan, doch sittlich religiös, keiner bayerischen Koterie angehörig sein“. Der Göttinger Physiologe Rudolf Wagner wies Maximilian II. auf Löher hin und vertrat die Meinung, daß dieser den Anforderungen des Monarchen in erheblichem Maße entspreche. Dies war auch ohne Zweifel der Fall. Daß sich Löher bis zum Tode Maximilians II. in dessen Gunst zu behaupten wußte, war, abgesehen von seiner Vielseitigkeit und Begabung, sicher auch eine bemerkenswerte taktische Leistung. Er hat es überdies verstanden, seine Stellung auszubauen und den Übergang in ein gesichertes Amt zu erreichen. Nachdem er schon vorher in die Bayerische Akademie der Wissenschaften gewählt und zum Mitglied der Historischen Kommission bei dieser Akademie ernannt worden war, hat der König 1859 veranlaßt, daß für seinen Sekretär ein neuer Lehrstuhl „für allgemeine Literaturgeschichte, dann der Länder- und Völkerkunde“ errichtet wurde. Schließlich bewarb er sich 1863 um das Amt des Reichsarchivdirektors, das ihm noch zu Lebzeiten Maximilians II. zugesprochen und nach dessen Tod offiziell übertragen wurde. Fast ein Vierteljahrhundert stand er an der Spitze dieser Behörde, jedoch noch vor Vollendung seines fünfundzwanzigjährigen Dienstjubiläums zwang ihn der Minister des Inneren, in den Ruhestand zu treten. Der Grund für Löhers Sturz war, daß er zu dienstfertig, beamtenrechtlich nicht ganz korrekt und dabei keineswegs selbstlos problematische Aufträge des geisteskranken, inzwischen ums Leben gekommenen Königs Ludwig II. ausgeführt hatte. Das Ganze war eine ziemlich belanglose Affäre, deren Aufdeckung man benützte, um die minder wichtige Figur Löhers zu opfern und so größeren Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen. Nachdem bisher ungünstige Beurteilungen das Andenken an diesen in mancher Hinsicht atypischen Vertreter Westfalens verdunkelt haben, ist durch die Hüsersche Arbeit ein gerechtes und gültiges Lebensbild zustandegekommen. Das menschlich Umstrittene an Löher ist damit nicht aus dem Wege geräumt. Vor allem bleibt an vielen seiner Handlungen und Leistungen der Charakter des Dilettantischen und geringer Qualität haften. Als Historiker war er nicht vom Fach, und eben dies hat ihn die Zunft spüren lassen. Gleichwohl verdankt ihm die Geschichtswissenschaft manches. Seine Tätigkeit als Vorstand des Reichsarchivs sowie die Gründung und Leitung der „Archivalischen Zeitschrift“ sind auf jeden Fall als verdienstvoll zu bezeichnen; auch sein Wirken für die Historische Kommission trug Früchte. Aus der Vielschreiberei45 Löhers ragen einige Veröffentlichungen heraus, in denen zwar heute niemand mehr wissenschaftliche Belehrung sucht und die schon zur Zeit ihres Erscheinens strengen Ansprüchen nicht genügten, die jedoch wissenschaftsgeschichtlich und zeitgeschichtlich von Interesse sind. Löher war ein begabter Popularisator; er zählte zum Typ des Wissenschaftsjournalisten, der leicht aufnimmt, rasch und gefällig formuliert und geschickt vereinfachend vermittelt. Für die geistigen Strömungen seiner Zeit können wir aus seinen Publikationen weit mehr entnehmen als aus dem Opus mancher Männer mit schwer gerüsteter Gelehr45 Hüsers (noch nicht ganz vollständige) Bibliographie enthält 639 Nummern von Veröffentlichungen Löhers.

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samkeit. Dies gilt, um nur ein Beispiel von vielen zu nennen, nicht zuletzt für seine Stellungnahme in den Auseinandersetzungen um die historisch-politische Wertung der deutschen Kaiserpolitik im Mittelalter46. Es ist nicht allgemein bekannt, daß dem Akademievortrag Sybels vom 28. XI. 1859, der die berühmte Kontroverse auslöste, eine akademische Festrede Löhers am gleichen Ort, aus gleichem Anlaß und über das gleiche Thema vorhergegangen war. Löhers Ausführungen vom 28. XI. 1857 über „Die deutsche Politik König Heinrichs I.“ lassen sich Argumente sowohl für die Sybelsche wie für die Fickersche Richtung entnehmen. Vielleicht weniger die wissenschaftlichen Schwächen des Vortrags als das Fehlen einer polemischen Tendenz und des resonanzverstärkenden politischen Hintergrunds, wie er im Jahre 1859 vorhanden war, haben den Vortrag des von der engeren Fachwelt ohnehin nie ganz anerkannten Löher nicht zu einer breiteren Wirkung gelangen lassen. Es ist auch kaum anzunehmen, daß er sie in der Situation des Jahres 1857 speziell mit diesen Ausführungen überhaupt gesucht hätte. Als dann der Historikerkonflikt ausgebrochen war, hat Löher allerdings mit Recht darauf hingewiesen, daß er es gewesen sei, der mit dem „öffentlichen Meinungsaustausch“ begonnen habe. Er hat sich im Laufe der Gelehrtenfehde hinter Ficker und dezidiert gegen Sybel gestellt. Wenn man jedoch seine Position genauer analysiert, stellt man fest, daß er sich auch mit Fickers Standpunkt nicht voll identifizieren konnte. Löher erscheint uns vielmehr als Repräsentant der im 19. Jahrhundert weit verbreiteten ghibellinischen Richtung, in die ihn u. a. sein auf den Umgang mit Witte zurückgehender Danteenthusiasmus geführt haben mag. Ghibellinismus bedeutete in der Beurteilung der mittelalterlichen deutschen Kaiserpolitik zunächst einmal Ablehnung des „Gothaischen“, ausschließlich nationaldeutschen (obwohl die Ostexpansion voll bejahenden) Standpunkts Sybels und seiner Anhänger47. Von Ficker und seiner Schule trennte die „Ghibellinen“ ihre eher imperialistische als universalistische Auffassung und ihr scharfer Gegensatz zum Papsttum. Sie bejahten die mittelalterliche Kaiserpolitik einmal, weil sie diese, wiederum stark modernisierend und damit verfälschend, als antiultramontan und antiklerikal interpretierten, zum anderen, weil sie ihnen in einem den tatsächlichen mittelalterlichen Verhältnissen keineswegs entsprechenden Maße als großartiger Fall deutscher Macht- und Weltpolitik erschien. An zahlreichen Stellen des Löherschen Œuvre läßt sich diese Gesinnung im Zusammenhang mit seinen Urteilen über unsere mittelalterliche Geschichte belegen. Mit seinen Veröffentlichungen und Stellungnahmen repräsentierte und verstärkte Löher eine breite, mächtige und wichtige Strömung innerhalb des deutschen Geschichtsbewußtseins seiner Zeit. 46 Vgl. H. Gollwitzer, Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert (Dauer und Wandel der Geschichte, Festgabe für Kurt v. Raumer, Münster 1966 S. 483 – 512). 47 Zur marxistischen Deutung der Kontroverse vgl. G. Koch, Der Streit zwischen Sybel und Ficker und die Einschätzung der mittelalterlichen Kaiserpolitik in der modernen Historiographie (J. Streisand [Hrsg.], Die deutsche Geschichtswissenschaft von Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichseinigung von oben, Berlin 1963 S. 311 – 336).

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Hüser hat darauf aufmerksam gemacht, daß die drei Hauptrichtungen in der Beurteilung der mittelalterlichen deutschen Kaiserpolitik jeweils Westfalen oder Westfalenabkömmlinge als ihre wichtigsten und führenden oder im Falle Löher immerhin bemerkenswerten Repräsentanten aufzuweisen hatten. Der in Düsseldorf geborene Sybel stammte aus einer alten Soester Pastoren- und Scholarchenfamilie und stand dem in Münster verwurzelten Katholiken und Reichspatrioten Ficker nicht nur als Gothaer und Nationalliberaler, sondern auch als Erbe der preußisch-protestantischen Tradition Westfalens gegenüber. Sybels Vater, ein Jurist, der erst wenige Jahre vor der Geburt seines Sohnes von Hamm ins Rheinland versetzt worden war, blieb der Soester Heimat eng verbunden, und das gleiche gilt für den Sohn und Historiker48. Bei Löher wird man immer den Qualitätsunterschied zu Ficker und Sybel im Auge behalten müssen. Überdies ist Löher nicht etwa der anerkannte Meister und Führer seiner, der ghibellinischen Richtung gewesen, die zwar eine weit verbreitete und schließlich die einflußreichste von allen war, aber kein so markantes Haupt wie die kleindeutsche und großdeutsche Interpretation gefunden hat. Gleich Ficker und Sybel kennzeichnet Löher eine lebenslange Verbundenheit mit Westfalen. Nicht an seine preußischen Mitbürger, sondern an die Westfalen wandte er sich im Jahre 1848, in dem er eine „Westfälische Zeitung“ gründete und an dem westfälischen Demokratenkongreß in Münster teilnahm. Doch hat er vieles an Preußen unvoreingenommen gewürdigt, und die Staatszugehörigkeit Westfalens wog für ihn schwer genug, um ihn von einer österreichischen Parteinahme abzuhalten. Nicht zum großdeutschen, zum gesamtdeutschen Denken hatte ihn die politisch-regionale Tradition geführt, und in diesem Rahmen sprach er sich für eine Führung der erneuerten Nation eher durch Berlin als durch Wien aus. Seit 1866, erst recht seit 1870 hat er dann die kleindeutsche Lösung wohl uneingeschränkt bejaht. Wie sehr Löher von Westfalen her dachte, zeigte sich in vielen seiner Reden und Veröffentlichungen. Groß ist die Zahl der Stellen, in denen er sich als Westfale apostrophierte. Gerne wählte er Stoffe aus der Geschichte seiner engeren Heimat. Mit seinem „General Sporck“ (Göttingen 1854; 4 Auflagen), Löhers Worten zufolge einem „von den vielen Westfalen, welche in der Heimat nicht gedeihen konnten“, gelang ihm ein schöner literarischer Erfolg. Auch nach dem Weggang aus Westfalen blieb Löher dessen geschichtlicher Welt verbunden. Im Zeichen des Kulturkampfes und des Antiultramontanismus erschien 1874 seine „Geschichte des Kampfes um Paderborn 1597 – 1604“, die wiederum mehr als Zeitdokument denn als überzeugende wissenschaftliche Leistung von Interesse ist. Westfälischen Fachgenossen, z. B. Hermann Hüffer49, war er bei archivalischen Forschungen gerne behilflich, und angehende Historiker westfälischer Herkunft durften in München seiner Förderung und Gunst gewiß sein. Dies gilt 48 49

Vgl. W. Schulte, a. a. O. S. 328 ff. Vgl. H. Häffer, Lebenserinnerungen, hrsg. v. E. Sieper, Bln. 1912, passim.

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insbesondere für den zu Pritzwalk in der Prignitz gebürtigen, aber einer westfälischen Familie entstammenden Hermann (v.) Grauert, dem Löher den Eintritt in den Archivdienst ermöglichte50. Grauert hat dann seinerseits den Westfalen Franz Kampers gefördert. Westfälische Jünger der Geschichtswissenschaft, die es seit den sechziger Jahren nach München zog, sahen sich nicht allein auf die Gunst des Reichsarchivdirektors v. Löher angewiesen. Auch der Ordinarius für Geschichte an der Universität München, Karl Adolf Cornelius51, verfügte über zahlreiche westfälische Beziehungen und zeigte sich gerne bereit, Studierenden aus Westfalen den Zugang zur akademischen Laufbahn zu öffnen. Cornelius war in Koblenz im Hause eines Verwandten, des aus Soest gebürtigen Theodor Brüggemann, aufgewachsen, damals Mitglied der Regierung und des Provinzialschulkollegiums, später Vortragender Rat im Ministerium der geistlichen Angelegenheiten zu Berlin, ein der preußischen Regierung loyal gegenüberstehender hoher Beamter von beträchtlichem Einfluß. 1850 hatte Cornelius an der Akademie der Provinzialhauptstadt mit einer Arbeit über den Münsterschen Aufruhr promoviert; Ficker war bei der Verteidigung der Thesen sein Opponent. Der vor seiner Münchner Zeit in Breslau und Bonn tätige Historiker stand dem radikalen Flügel der politisch-kirchenpolitischen katholischen Bewegung kritisch gegenüber und zählte später zu den entschiedensten Altkatholiken in München. Andererseits waren ihm spezifisch borussische Sympathien fremd – in seiner Münchner Akademieabhandlung über Kurfürst Moritz v. Sachsen (1867) glaubte man Anspielungen auf Bismarck zu erkennen –, und seine politische Einstellung mag man alles in allem als katholisch-deutschpatriotisch beschreiben. Auf Cornelius geht im Rahmen der von der Münchner Historischen Kommission besorgten Editionen das Unternehmen der „Wittelsbacher Korrespondenzen“ zurück52, dessen jüngere Reihe er leitete, während Sybel die ältere pfälzische Reihe und Löher die älteren bayerischen Korrespondenzen übernahm. Ein Zufall ist es vermutlich nicht, daß Sybels erster Mitarbeiter aus dem Fürstentum Lippe-Detmold stammte, während Cornelius und Löher hochstiftisch-westfälische und rheinische Helfer bevorzugten, von denen uns im folgenden August von Druffel und Felix Stieve beschäftigen sollen.

50 G. v. Hertling, Erinnerungen aus meinem Leben II, Kempten / München 1920 S. 87 f. – Zu Franz Kampers vgl. H. Pruckner, Franz Kampers: HJb., 49. Jg., 1929, S. 472 – 475. 51 Zu Cornelius vgl. J. Friedrich, Gedächtnisrede auf Karl Adolf v. Cornelius, München 1904 und W. Götz, Karl Adolf Cornelius (W. Götz, Historiker in meiner Zeit, Köln-Graz 1957 S. 187 – 197). 52 Vgl. M. Spindler, Wittelsbacher Korrespondenzen (Die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1858 – 1958, Göttingen 1958 S. 166 – 180)

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August von Druffel (1841 – 1891) Aus der westfälischen Beamtenaristokratie stammte August von Druffel53, dessen Großvater54 in der fürstbischöflichen Zeit die Stellung eines Geheimen Staatsreferendars eingenommen hatte. 1804 war die Familie in den Reichsadel und in den preußischen Adelsstand erhoben worden. Nach dem Tod des Vaters, der zuletzt als Landgerichtspräsident in Aachen tätig gewesen war, zog die Familie Druffel – auch die Mutter war eine geborene Münsteranerin – in das stattliche Familienanwesen an der Rothenburg, und August von Druffel besuchte bis zum Abitur das Paulinum. Nach einem Anfangssemester an der Akademie in Münster, das offenbar nicht allzu ergiebig verlief, zog er zu seinem Landsmann Ficker nach Innsbruck, wo er sich indessen hauptsächlich mit der Gründung des Corps Rhaetia beschäftigt zu haben scheint. Seine Ausbildung als Historiker suchte und erhielt er nicht bei Ficker, sondern bei Waitz in Göttingen. Nach Abschluß seiner Dissertation über Heinrich IV., die bleibende Vorzüge und Schwächen ihres Verfassers – scharfsinnige Kritik, aber Schwerfälligkeit der Darstellung – erkennen ließ, trat er als wissenschaftlicher Hilfsarbeiter bei der Historischen Kommission in München ein. 1873 – 1880 erschienen unter dem Titel „Beiträge zur Reichsgeschichte“ im Rahmen der „Briefe und Akten zur Geschichte des 16. Jahrhunderts mit besonderer Rücksicht auf Bayerns Fürstenhaus“ drei Editionsbände, die die Zeit von 1546 bis 1552 umfaßten. Ein vierter Band wurde nach dem Tod Druffels, ergänzt und bearbeitet, von Karl Brandi veröffentlicht. Belastende Erfahrungen, die mit ausschließlicher Editionstätigkeit nicht selten verbunden sind, blieben dem gründlich, aber langsam arbeitenden Druffel nicht erspart. Er vermochte sein Interesse nicht auf die Dauer mit gleichbleibender Intensität dem langfristigen Vorhaben zuzuwenden, zu dem er sich verpflichtet hatte. Die Arbeit an einem Editionsunternehmen wird zur Qual, wenn sie nicht mehr von Hingabe und Anteilnahme getragen ist. Druffels Neigungen gehörten mehr und mehr der Geschichte des Tridentiner Konzils, doch sah er keine Möglichkeit, sich dem ursprünglichen Auftrag zu entziehen. Überdies mußte er, der seit 1877 als Privatdozent und seit 1884 als Honorarprofessor an der Universität München wirkte, erkennen, „daß die Gewöhnung an Detailforschung und kritische Untersuchung jedes auftauchenden Zweifels für den Kathedervortrag eher ein Hindernis als eine Förderung bildet“ (Lossen). Er scheint es als Dozent schwer gehabt zu haben. Beim Ausbruch des Krieges von 1866 hatte Druffel als geborener Preuße gegen das Adoptivvaterland Bayern zu Felde zu ziehen. Die Sympathien des Unteroffiziers der Reserve im westfälischen Infanterieregiment Nr. 13 galten anfänglich gleich denen vieler seiner katholischen Landsleute Österreich und den Mittelstaaten. Erleichtert wurde seine Situation jedoch dadurch, daß ihm der Militärdienst an 53 M. Lossen, August von Druffel (Beilage zur Allgemeinen Zeitung Nr. 6 – 8 v. 8., 9. u. 11. I. 1892). 54 A. Frhr. Hartlieb v. Wallthor, Johann Gerhard v. Druffel (Westfälische Lebensbilder, hrsg. v. W. Steffens und K. Zuhorn, Bd. VIII, Münster 1959).

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sich Vergnügen bereitete. Schon als Einjährig-Freiwilliger beim zweiten Garderegiment zu Fuß in Berlin fühlte er sich ungemein wohl. Im Siebziger Krieg hat er sich als Offizier in einem westfälischen Regiment hervorragend bewährt. Als er am 16. Juli 1871 im Gefolge des deutschen Kronprinzen mit vielen anderen preußischen Offizieren am festlichen Einzug der heimkehrenden bayerischen Truppen teilnahm, reichte ihm sein ebenfalls in München tätiger Historikerfreund Max Lossen in der damals üblichen pathetisch-enthusiastischen Weise einen Lorbeerkranz aufs Pferd. Die Ereignisse von 1870 / 71 dürften Druffel ganz zum Anhänger des Bismarckschen Reiches gemacht haben. Dies läßt sich indirekt auch aus seiner kirchlichen und kirchenpolitischen Einstellung schließen, da reichsdeutsche Katholiken, die sich im Streit um das Vaticanum und in der Kulturkampfzeit den Altkatholiken zuwandten und dem sogenannten Ultramontanismus den Kampf ansagten, sich in der Regel auch mit dem neuen schwarz-weiß-roten Staatswesen identifizieren. Druffel ist die Abkehr von der angestammten Kirche nicht leicht gefallen. Der im Grunde genommen auch kirchlich konservative Mann war in einer streng katholischen Familie aufgewachsen, seine beiden Schwestern waren in den Sacré Coeur eingetreten, Jesuiten zählten zum Umgang der Familie, der Oberin der Elisabethinerinnen in Luxemburg, Clementine von Lasaulx, einer Vertrauten seiner Mutter, blieb Druffel auch nach dem Bruch mit seiner Kirche verbunden. Dem stand allerdings in München der Verkehr in einem Gelehrtenkreis gegenüber, zu dem die Vorkämpfer gegen das Vaticanum, Döllinger und Friedrich, zählten und dessen Mitglieder aus der Historikergilde, voran Cornelius und Moriz Ritter, sich mit aller Entschiedenheit für die altkatholische Sache engagierten. Ausschlaggebend waren jedoch wohl weniger die Einflüsse seiner Umgebung als persönliche Überzeugungen und schmerzlich empfundene private Erlebnisse, die ihn verhältnismäßig spät auch den formellen Anschluß an die altkatholische Gemeinschaft suchen ließen. Seine Akademierede von 1879 über Ignatius von Loyola an der Römischen Kurie spiegelt in ihrer Schärfe die Leidenschaftlichkeit wider, die Druffel über den kirchlich-religiösen Zeitfragen erfaßt hatte. Für die Geschichte der Hochschulpolitik und der allgemeinen Kulturpolitik ist es aufschlußreich zu verfolgen, wie sich die kirchliche Entscheidung Druffels auf seine akademische Laufbahn auswirkte. Als Druffel für Berufungen heranstand, war der Höhepunkt des Kulturkampfes überschritten und die Regierungen suchten wieder zu einem Modus vivendi mit der römisch-katholischen Kirche zu gelangen. 1882 schlug man Druffel für ein Prager Ordinariat der Geschichte vor. Daß er vom Wiener Ministerium abgelehnt wurde, führte man allgemein auf seine kirchliche Einstellung zurück, nicht auf den vorgeschützten Grund, er habe 1866 Waffen gegen Österreich getragen. Als 1884 in München die Nachfolge von Giesebrecht und Cornelius zur Debatte stand, schloß der Kultusminister von Lutz einen Kompromiß mit der Zentrumsmehrheit im Landtag: der liberale Katholik Heigel und der kirchliche Katholik Grauert wurden die neuen Lehrstuhlinhaber. Druffel wurde mit einer Honorarprofessur abgespeist. 1888 schlug die Philosophische Fakultät der Aka-

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demie Münster den Westfalen Druffel zum Ordinarius der Geschichte vor. Schon zwölf Jahre vorher war davon die Rede, Druffel oder Felix Stieve nach Münster zu holen. Soweit die preußische Regierung in der Kulturkampfzeit und unmittelbar danach Stellen von Belang an Katholiken vergab, zeigte es sich jedoch, daß man sogenannte Staatskatholiken, d. h. solche Katholiken, die in der römisch-katholischen Kirche verblieben, aber ihre Loyalität dem preußischen Staat gegenüber betonten, vor Altkatholiken bevorzugte, die formell mit Rom gebrochen hatten und deren Einstellung daher zu unangenehmen Konflikten führen konnte. Die münstersche Professur wurde überdies 1889 mit dem Nichtkatholiken Georg Heinrich Kaufmann besetzt. Felix Stieve (1845 – 1898) Vier Jahre jünger als Druffel war der in Münster geborene Felix Stieve, der ebenfalls in den sechziger Jahren in den Kreis der Münchener Historiker eintrat55. Der Vater, Direktor des Paulinums zu Münster, wurde, als Stieve sieben Jahre alt war, als Regierungs- und Schulrat nach Breslau versetzt. Wenn nun auch der junge Stieve in Schlesien aufwuchs, so blieben doch die westfälischen Beziehungen eng. Im Hause Stieve – der Vater wurde später als Vortragender Rat nach Berlin in die „Katholische Abteilung“ des preußischen Kultusministeriums berufen – herrschte romantisch-patriotischer Geist, eingebettet in den Universalismus der römisch-katholischen Kirche. Das, was in der Sprache der Zeit als Ultramontanismus bezeichnet wurde, wünschte man bei Stieves nicht mit katholischem Universalismus zu identifizieren, ja man sah es als eine vorübergehende Krankheitserscheinung an. Der Breslauer Freundeskreis des Hauses Stieve setzte sich großenteils aus solchen Mitgliedern des Domkapitels und der Universität zusammen, die später in Konflikt mit der kurialen Richtung ihrer Kirche gerieten oder sich dem Altkatholizismus zuwandten. Erwähnung verdient auch, daß ein westfälischer Verwandter Stieves, der Gießener Theologe Lutterbeck, in Auseinandersetzungen mit dem Bischof von Mainz geriet und schließlich in die Philosophische Fakultät seiner Universität übertrat56. Ohne Zweifel befand sich das Haus Stieve in voller Übereinstimmung mit dem Westfalen auf dem Breslauer Erzbischofsstuhl, Kardinal Melchior Freiherr von Diepenbrock, der ein scharfer Gegner der damals sogenannten jesuitischen Richtung gewesen ist. Und wie Diepenbrock, der Mitkämpfer der Befreiungskriege, seine Loyalität gegenüber dem Hohenzollernhaus und dem preußischen Staat hervorhob, so trat bei Friedrich Stieve zum katholischen und vaterländischen Impuls das Ethos des preußischen Staatsbeamten hinzu und prägte auch den Sohn, obschon dieser nicht in den preußischen Dienst eingetreten ist. Von seinen akademischen Lehrern scheint auf Felix Stieve Droysen den stärksten Eindruck gemacht zu haben, doch, so heißt es in einem Nachruf, „ließ es wohl der Unterschied 55 56

Vgl. K. Mayr, Felix Stieve (ADB 54, 1908 S. 524 – 534). F. Stieve, Abhandlungen, Vorträge und Reden, Lpzg. 1900 S. 377.

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in den konfessionellen Auffassungen nicht zu einer Annäherung des jungen Studenten an den gefeierten Lehrer kommen“. Erst in München, das er damals als „Hochburg des freien Katholizismus“ ansah, fand Felix Stieve in Karl Adolf Cornelius, der in Breslau Hausfreund bei seinen Eltern gewesen war, den ihm zusagenden Lehrer und im Kreis der Historischen Kommission ein ihn ausfüllendes Betätigungsfeld. Bis 1870 blieb Felix Stieve seiner Kirche unverbrüchlich zugetan. Als Student hatte er an der Gründung katholischer Verbindungen teilgenommen, auf Archivreisen hielt er sich, dem väterlichen Rat entsprechend, an die Gesellschaft katholischer Geistlicher, und politisch wünschte er die katholisch-großdeutsche Lösung der deutschen Frage durch Österreich. Wie bei vielen seiner Zeit- und Glaubensgenossen führten die Jahre 1870 / 71 eine Änderung seiner Einstellung herbei. Stieve hat fortan das neue Reich, für das sein Bruder gefallen war, voll und ganz, ja mit Leidenschaft, bejaht. Der deutsche Liberalismus der Epoche, der längst nicht mehr ausschließlich abstrakt verfassungspolitisch, sondern national argumentierte und die Weltgeschichte weithin als Kampf zwischen Germanentum, Romanentum und Slawentum auffaßte, glaubte im Papsttum und im cäsaristischen Prinzip Napoleons III. zwei gegen die germanische Welt vereinte Mächte zu sehen. Der Sturz Napoleons III. und der Verlust der Selbständigkeit des Kirchenstaates galten als weltgeschichtliche Niederlagen des „romanischen Prinzips“. Ganz ähnlich beurteilte man diese Vorgänge in englischen Kreisen um Carlyle, Friedrich Max Müller, Kingsley und Froude. Auch die im Geiste ihrer Zeit national-katholische Generation Felix Stieves konnte sich solchen Gedankengängen nicht ganz verschließen. In ihrem Denken lief die zeitgeschichtliche Diagnose auf untergründige Zusammenhänge zwischen der Proklamation des Unfehlbarkeitsdogmas und einer napoleonisch-französischen Hegemonialtendenz, zwischen Kurialismus und bonapartistischem Imperialismus hinaus. Im Gegensatz zu früher vermeinten Stieve und seine Freunde nun in Ultramontanismus und Papalismus doch das Wesen der römischkatholischen Kirche sehen zu müssen und sie zogen daraus früher oder später die ihnen gewiß nicht leicht fallende Konsequenz, sich der altkatholischen Gemeinschaft anzuschließen. Stieve hat allerdings ein Vierteljahrhundert später den Altkatholizismus als „edlen Irrtum“ bezeichnet57. Er blieb zwar für seine Person in der altkatholischen Gemeinde, bereitete aber den Übertritt seiner Familie zur protestantischen Kirche vor. Würde es sich bei der altkatholischen Wendung Stieves um die private Angelegenheit eines Einzelgängers handeln, wäre es nicht angebracht, diesem Vorgang in einer historischen Abhandlung, die über das Individuell-Biographische hinausgelangen will, besondere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Aber es ging eben um mehr, nämlich um die politisch-religiösen Probleme einer ganzen Generation, deren gebildete und gesellschaftlich arriviertere Vertreter das überwältigende Bedürfnis empfanden, mit dem Zeitgeist konform zu gehen. Die Reaktion deutsch-katho57

Stieve, Bedeutung und Zukunft des Altkatholizismus (Abhandlungen etc. S. 343 – 354).

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lischer intellektueller Kreise auf das Vaticanum blieb bekanntlich keineswegs auf München beschränkt, wo J. I. Döllinger als führender theologischer Repräsentant sich der Kurie widersetzt hatte. In Wien und Prag, Bonn, Münster und Breslau spielten sich ähnliche Vorgänge ab wie in München. Wenn wir von der Bewegung innerhalb der Geistlichkeit absehen und uns ausschließlich auf in Westfalen geborene oder aus Westfalen stammende katholische Historiker beschränken, die sich von altkatholischen Strömungen ergreifen ließen, so lassen sich Männern wie Druffel und Stieve der aus Wickede (Kreis Soest) gebürtige Franz Wilhelm Kampschulte58 hinzufügen, ferner Moriz Ritter59, dessen Eltern aus Medebach (Kreis Brilon) stammten, und Max Lossen, dessen Vorfahren ursprünglich in der Lippstädter Gegend ansässig waren60. Eine Generation jünger als die Genannten war der Kettelerbiograph Fritz Vigener61 (1879 – 1925), lange Zeit Mitherausgeber der Historischen Zeitschrift, ein vorzüglicher Kenner der Geschichte des modernen Katholizismus. Der in Biebrich Gebürtige, dessen Vater als Apotheker aus Attendorn zugezogen war, trennte sich ebenfalls von seiner Kirche, doch kam für ihn die altkatholische Lösung, die er bereits als historisches Phänomen in wissenschaftlicher Distanz sah, schon nicht mehr in Betracht. Zwar nahm er nicht wenige Motive der altkatholisch gewordenen Gelehrtengeneration auf, aber nach Denkstruktur, Methode und Stil erweisen sich seine Publikationen einer jüngeren Epoche zugehörig. Die Aufgaben, die sich Stieve als Mitarbeiter bei der Historischen Kommission in München stellten, wiesen ihm den Weg ins konfessionelle Zeitalter, und dies verstand der Historiker als Aufforderung, auch und gerade in der wissenschaftlichen Arbeit über alle konfessionellen Vorurteile hinauszugelangen. 1870 erschien eine Monographie über „Die Reichsstadt Kaufbeuren und die bayerische Restaurationspolitik“. 1875 habilitierte er sich mit dem Karl Adolf Cornelius gewidmeten Band eines Werks über den Ursprung des Dreißigjährigen Krieges 1607 – 1619, der den „Kampf um Donauwörth im Zusammenhang der Reichsgeschichte“ darstellte. Als Hauptwerk erschienen 1878 – 1883 zwei Bände einer Aktendokumentation über die Politik Bayerns 1591 – 1607, die nach dem damaligen Stand der Editionstechnik methodisch und quellenkritisch ein vorzügliches Niveau aufwiesen. Der Auffassung und Behandlung des Gegenstands nach zeigte sich bei Stieve durchweg das Bestreben, die parteinehmende konfessionelle Betrachtungsweise der Vorgänge völlig zu überwinden. Es verhält sich keineswegs so, daß Stieve nun gewissermaßen von Tilly zu Gustav Adolf übergegangen wäre. Die Art und Weise z. B., wie er Gustav Adolf behandelte, fand sogar die Zustimmung des entschieden kirchlich gebliebenen Johannes Janssen62. Auch hat Stieve seine Herkunft nie verleugnet. 58 Vgl. K. Repgen, F. W. Kampschulte 1831 – 1872 (150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität, a. a. O. S. 129 – 154). 59 Vgl. W. Goetz, a. a. O. S. 198 – 223. 60 Vgl. Stieve, a. a. O. S. 389 – 407. 61 Vgl. F. Meinecke, Fritz Vigener (HZ 132, 1925 S. 277 – 288). 62 Janssens Briefe, hrsg. v. Ludwig Freiherr v. Pastor, II, Freiburg i. Br. 1970 S. 212 f.

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Noch kurz vor seinem Tod hat er dem ihm gesinnungsverwandten ehemaligen katholischen Geistlichen Carl Jentsch recht gegeben, als dieser die „ultramontane“ Bewegung unter den preußischen Katholiken als deren Kampf „um politische und soziale Emanzipation“ bezeichnete. Freilich, eben darin zeigte sich, daß er nicht mehr konfessionelle, sondern politisch-gesellschaftliche Beurteilungsmaßstäbe anlegte. Und Stieve hätte nicht ein Mann seiner Epoche sein müssen, hätte er nicht, wie damals allgemein, seine Kriterien immer ausschließlicher dem nationalen Überzeugungsgut der damaligen Gelehrtengeneration entnommen. Je nachdem, was die innere Einheit der deutschen Nation und die äußere Stärke des Reiches förderte oder beeinträchtigte, setzte er positive oder negative Akzente. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht, wie Stieve in der Besprechung des von seinem Freund Max Lossen verfaßten Buches „Der Kölnische Krieg“ die Ergebnisse der konfessionspolitischen Entscheidung des 16. Jahrhunderts in Westdeutschland zusammenfaßte, indem er einerseits bedauerte, daß der Sieg der Gegenreformation den Ausgangspunkt für den Ultramontanismus des 19. Jahrhunderts bilde, andererseits der Erhaltung des kölnischen Kurfürstentums doch eine reichspolitische und damit in seinen Augen national positive Seite abzugewinnen verstand63. Stieve war wie Löher auf dem ghibellinischen Standpunkt im Verständnis des 19. Jahrhunderts angelangt, den ein anderer Westfale, der schon genannte, mit Stieve annähernd gleichaltrige Paul Scheffer-Boichorst bereits in seiner Erstlingsarbeit „Friedrich I. letzter Streit mit der Kurie“ (1866) vertreten hatte64. Man muß Druffel und Stieve in ihrer Münchener beruflich-gesellschaftlichen Existenz zusammensehen mit einer Anzahl ihnen durchweg freundschaftlich verbundener Fachgenossen, die geborene Rheinländer (und des öfteren westfälischer Abkunft) gewesen sind oder ihrer landschaftlichen Zugehörigkeit nach als nichtpreußische Westfalen zu bezeichnen waren, wie der aus Bavenhausen (Fürstentum Lippe) gebürtige August Kluckhohn. Faßt man diesen Kreis näher ins Auge, so ergibt sich, daß das westfälisch-rheinische Element im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an Universität, Technischer Hochschule und Reichsarchiv der bayerischen Landeshauptstadt wie an der Akademie der Wissenschaften, deren langjähriger Sekretär Max Lossen gewesen ist, und vor allem in der Historischen Kommission eine nicht zu übersehende Position einnahm. Im Gegensatz zu den schweren Spannungen, die zu Beginn des Jahrhunderts zwischen den Altbayern und den durch Montgelas von auswärts berufenen Gelehrten und um die Jahrhundertmitte zwischen den „Nordlichtern“ und den Einheimischen aufgetreten waren65, hatte diese Stieve, a. a. O. S. 406. Vgl. E. Dümmler, Gedächtnisrede auf Paul Scheffer-Boichorst (Aus den Abhandlungen der kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin vom Jahre 1902), Berlin 1902, S. 5: „Es ist bezeichnend für den jugendlichen Verfasser, daß er seine Forschungen gerade mit einem Kämpfer gegen die Kurie eröffnete, und zwar vom ghibellinischen, deutsch-patriotischen Standpunkt aus, der ihm vollkommen selbstverständlich erschien, denn, wie er später einmal sagte, jeder, der einen offenen Kopf und ein empfängliches Herz hat, mußte durch tieferes Eindringen in die staufische Zeit in der ghibellinischen Auffassung nur befestigt werden“. 63 64

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Gruppe, wie es scheint, keine nennenswerten Anpassungsschwierigkeiten mehr zu überstehen, und sie hat auch niemals den Groll der Autochthonen auf sich gelenkt. Dies hing zum Teil damit zusammen, daß die westfälisch-rheinische Gruppe, ursprünglich jedenfalls, gleicher Konfession war wie die Bevölkerungsmehrheit des Gastlandes und daß sie dieser infolgedessen, bei aller Verschiedenheit der Mentalität, in ihrem seelisch-geistigen Habitus und hinsichtlich ihres Traditionshorizontes näher stand als ein Thiersch, ein Doenniges, ein Sybel. Die Rheinländer und Westfalen, um die es in diesem Zusammenhang geht, haben sich in Bayern nicht als Missionare gefühlt und sind nicht als solche aufgetreten. Mindestens ebenso wie die Konfessionsgleichheit fiel ins Gewicht, daß seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die verstärkte Beweglichkeit des öffentlichen Lebens die regionalen Besonderheiten immer stärker aufweichte und ausglich. Auf politischem und sozialem Gebiet bildeten sich neue Gegensätze aus, aber diese verliefen quer durch die Zonen einzelstaatlicher und landschaftlicher Eigenständigkeit, die zwar nicht beseitigt, jedoch sehr weitgehend entschärft wurde. Dies traf bis zu einem gewissen Grade auch für die großstädtisch-akademische Sphäre Münchens zu: die westfälischen Historiker sahen sich nach 1870 in die nationalliberale Fraktion der hauptstädtischen Gelehrtenrepublik integriert. Nach allem, was wir ihren Selbstzeugnissen entnehmen können oder über sie wissen, haben sie die spezifische Münchner Atmosphäre sehr geschätzt. Sie entfalteten selbst eine großzügige Geselligkeit und verkehrten in Zirkeln wie der „Gesellschaft der Zwanglosen“66, einem charakteristischen Produkt bürgerlicher Vereinskultur des 19. Jahrhunderts, die Bayern und Nichtbayern unter vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich liberalen Vorzeichen zusammenschloß. Der zeitgenössischen Erlebnissphäre noch voll teilhaftig, hat keiner die Umwelt der Münchner Historikerschaft in den 1890er Jahren und insbesondere ihrer westfälischen und rheinischen Mitglieder anziehender geschildert als Walter Goetz in seinen autobiographischen Aufzeichnungen67. Es ist zu vermuten, daß die rheinisch-westfälische Gruppe sensibel genug war, um die Kontraste zwischen dem bayrischen Lokalkolorit Münchens und seiner metropolitanen Urbanität historisch verstehend als ästhetischen und intellektuellen Reiz zu genießen.

65 Vgl. H. Loewe, Friedrich Thiersch, ein Humanistenleben, München und Berlin 1925 S. 294 – 324 u. M. Doeberl, Entwicklungsgeschichte Bayerns II, München 1912 S. 425 f. u. III, München 1931 S. 295. Eine landschaftlich abgeschlossene Gruppierung der ideologischen und politischen Strömungen hat es in München nie gegeben, auch nicht auf konservativer Seite. Der Eos- wie der Goerreskreis und die hinter dem Ministerium Abel stehenden Kräfte wiesen erhebliche nichtbayerische, insbesondere westdeutsche Beteiligung auf. Bayern und Österreicher findet man wiederum innerhalb der Aufklärungspartei und der liberalen Kreise. Bei dem Altkatholikenkreis Münchens ist von regionaler Exklusivität nicht entfernt die Rede. 66 Vgl. (M. Lossen) 50 Jahre der zwanglosen Gesellschaft, München 1887. 67 W. Goetz in: Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hrsg. v. S. Steinberg, I, Lpzg. 1925 S. 129 – 168. Wieder abgedruckt in W. Goetz, a. a. O. S. 1 – 87. – Goetz war in erster Ehe mit einer Tochter Moriz Ritters verheiratet, die er früh verlor.

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Da die Fragestellung dieses Aufsatzes auf die politische Prägekraft des Landschaftlich-Historischen hinausläuft, sei kurz formuliert, was in dieser Hinsicht das westfälische Spezifikum einer Historikergeneration ausmachte, die einen gemeinsamen Weg von romantischer zu realistischer Wissenschaftlichkeit, vom römischen zum Altkatholizismus, vom habsburgisch orientierten Großdeutschtum zum Hohenzollernreich gegangen ist. Es bestand darin, daß sie als katholisch-reichspatriotisch empfindende Westfalen stiftischer Herkunft bei aller Loyalität vor 1870 / 71 Vorbehalte gegenüber der preußischen Staatlichkeit zu machen hatte; ihr Herz gehörte einem zukünftigen deutschen Reich. Je reichischer und kaiserlicher ihnen später der Bismarcksche Nationalstaat vorkam, um so begeisterter stellten sie sich ihm zur Verfügung. Als der Historiker Ludwig Quidde 1894 eine Broschüre „ Caligula“ wider Wilhelm II. schrieb, stellte sich Felix Stieve an die Spitze der überwiegenden Mehrheit des Münchner Historikerkreises, die Quiddes Vorhaben scharf verurteilte68. Wie sich die westfälischen Historiker vordem als Deutsche in Preußen gefühlt hatten, so nach ihrer Niederlassung in München als Deutsche in Bayern. Sie hatten stets über die schwarz-weißen Grenzpfähle hinausgeblickt. Selbstverständlich bedeutete ihre Übersiedlung in die bayrische Landeshauptstadt keine Option für die weiß-blaue Staatstradition. Ihr Patriotismus behielt etwas Schwebendes und Fließendes, bis der neue Nationalstaat von 1871 gegründet war.

III. Schweiz-Fribourg Die Geschichte des Exodus westfälischer Historiker aus Preußen im 19. Jahrhundert hat noch einen Epilog. Zu Fribourg war 1889 auf kantonalen Beschluß eine katholisch-internationale Universität errichtet worden69, die von interessierten Kreisen auch außerhalb der Schweiz, insbesondere vom deutschen und polnischen katholischen Adel, kräftig unterstützt wurde. Es sei erwähnt, daß u. a. der spätere Kardinal Graf Galen und zwei seiner Brüder in Fribourg studierten. Der Schweizer Nationalrat Dr. Decurtins, ein vielgenannter Sozialpolitiker, bereiste 1889 Deutschland, um Gelehrte für die neue Universität zu gewinnen. Eine größere Anzahl jüngerer Dozenten, die sich aus verschiedenen Gründen im Reich keine besonderen Chancen ausrechnen konnten, entschlossen sich, dem Ruf Folge zu leisten, darunter ein später international berühmter Gelehrter, der Sprachforscher Wilhelm Streitberg70. Als Historiker vom Fach zählte zu dieser Gruppe der Westfale Adolf Goetz, a. a. O. S. 26. – U.-F. Taube, Ludwig Quidde, Kallmünz 1963, passim. Zur Geschichte der Universität Fribourg vgl. Die Universität Freiburg, Basel 21939; Universitas Friburgensis Helvetiorum, Fribourg 1954; K. Fry, Kaspar Decurtins: Der Löwe von Truns, 2 Bde., Zürich 1949 – 52; W. Schönenberger, Unsere katholische Universität (Civitas 4, 1948 / 49 S. 77 – 85); O. Vasella, Georges Python (Civitas 4, 1948 / 49 S. 473 – 85); ders., Die Universität Freiburg und der schweizerische Katholizismus (Civitas 5, 1949 / 50, S. 133 – 139). 70 Vgl. B. Porzig, Wilhelm Streitberg (Biographisches Jahrbuch für Altertumskunde 48, 1928 S. 63 f.). 68 69

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Gottlob, geb. 1857 zu Volkmarsen71, der während der 80er Jahre in Italien Archivstudien getrieben hatte. Seine Ergebnisse legte er, ein Spezialist für Kirchengeschichte und Kirchenrecht des späten Mittelalters, später in seinen Untersuchungen über die Servitientaxe im 13. Jahrhundert und über Kreuzablaß und Almosenablaß72 vor. Er habilitierte sich 1891 in Fribourg und wurde dort 1895 zum a. o. Professor für Wirtschaftsgeschichte und historische Nationalökonomie ernannt. Gottlob stand im Schatten des temperamentvollen und menschlich sehr originellen Germanisten Franz Jostes73, geb. 1858 zu Glandorf, dessen Leistungen man mit gleichem Recht der Kulturgeschichtsschreibung wie der (von ihm primär historisch aufgefaßten) Philologie und Literaturwissenschaft zuordnen kann. Jostes wie Gottlob entstammten einer anderen Schicht als die dem Großbürgertum und dem höheren Beamtenstand zuzurechnenden Männer vom Schlage Fikkers, Schultes, Druffels und Stieves. Sie waren aus ländlichen und kleinbürgerlichen Familien hervorgegangen und blieben diesem Milieu, der Welt der kleinen Leute, die zusammen mit dem Klerus und dem Adel den Kulturkampf durchgestanden haben, zeitlebens verbunden. Die inneren Konflikte, die eine sozial und intellektuell weltläufigere Schicht mit sich auszumachen hatte, sind Männern wie Jostes und Gottlob oder auch dem aus gleicher sozialer Umwelt hervorgegangenen Heinrich Finke74 aus Krechting wohl nicht erspart geblieben, aber sie nahmen bei diesen Akademikern der ersten Generation, die in der volkstümlichen westfälischkatholischen Tradition noch stark verwurzelt waren, nicht die gleiche Schärfe an wie bei der innerhalb des gebildeten Mittelstandes elitären Altkatholikengruppe. Es bedeutet eine Bereicherung der Gelehrtengeschichte, wenn sie über die Esoterik des akademisch-beamtenhaften Milieus hinausführt und Ausblicke in andere gesellschaftliche Zonen eröffnet. Hinter Persönlichkeiten wie Jostes, Gottlob und Finke tritt für den Sozialhistoriker die „Provinz“ ins Blickfeld, die Masse der Zentrumswähler, die sich mehr von der kirchlichen als von der staatlichen Fassung des öffentlichen Lebens angezogen fühlte. Die Zahl der Aufstiegsfamillen aus dieser bäuerlich-kleinbürgerlichen Welt war groß, und ihre Söhne sah man teils als Geistliche, teils in weltlichen Berufen bemüht, sozial und bildungsmäßig einen gewissen Nachholbedarf zu befriedigen. Sie führten jene Emanzipation ihres Bevölkerungskreises schrittweise herbei, die nur von innen her zu erreichen war. 71 Die einzigen mir über ihn als Gelehrten zur Verfügung stehenden Quellen waren das Universitätsalbum im Universitätsarchiv Münster sowie der Nachruf von Stutz in ZRG Kanonist. Abt. 20, 1931, S. 722. – Dem Taufbuch der Gemeinde Volkmarsen ist zu entnehmen, daß Gottlobs Vater Sattler gewesen ist. 72 A. Gottlob, Die Servitientaxe im 13. Jahrhundert. Eine Studie zur Geschichte des päpstlichen Gebührenwesens, Stuttgart 1903 (Nachdruck Amsterdam 1962) und ders., Kreuzablaß und Almosenablaß. Eine Studie über die Frühzeit des Ablaßwesens, Stuttgart 1906 (Nachdruck Amsterdam 1965). 73 W. Schulte-Kemminghausen, Franz Jostes (Westfälische Lebensbilder, hrsg. v. Steffens u. Zuhorn, VII, Münster 1959 S. 181 – 198). 74 Heinrich Finke in: Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, I, hrsg. v. S. Steinberg, Lpzg. 1925 S. 91 – 128.

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Ganz abgesehen von ihren schlechten Berufsaussichten in Preußen mochte es Jostes und Gottlob bei der Annahme der Rufe nach Fribourg reizen, sich an einem Experiment zu beteiligen, das im Falle des Gelingens von außerordentlicher Bedeutung für die Entwicklung des katholischen akademischen Lebens werden mußte. Die Dinge ließen sich zunächst gut an, und noch 1889 konnten die Juristische und die Philosophische Fakultät eröffnet werden. Mit Eifer machten sich die Reichsdeutschen ans Werk. Jostes fungierte sogar als Gründungsrektor, eine Position, die sich in der Realität allerdings dürftig genug ausnahm. Im Laufe der folgenden Jahre kam es dann zu wachsenden Unzuträglichkeiten. Diese betrafen die mangelnde finanzielle und sachliche Ausstattung, nationale Mißhelligkeiten zwischen deutschen und nichtdeutschen Gelehrten und vor allem eine gewisse vom Kanton unterstützte Suprematie der die Lehrstühle der Theologischen Fakultät besetzenden Dominikaner innerhalb der Gesamtuniversität. Jostes führte einen der barocken Züge nicht entbehrenden Kampf gegen die Freiburger Vertreter des Ordens. Als die deutschen Gelehrten erkennen mußten, daß sie gegen das dominikanische Element nicht aufkamen, entschlossen sie sich zu einem spektakulären Schritt: mit dem 9. XII. 1897 legten acht reichsdeutsche Professoren ihre Ämter nieder und verließen die Universität, ohne einen Ruf nach auswärts erhalten zu haben. Es folgten Presse- und Broschürenfehden75; in Rom nahm man gegen die deutschen Gelehrten Stellung. Die Lektüre der Schriften zur Freiburger Kontroverse ist auch heute noch wissenschaftsgeschichtlich von Reiz. Nicht nur daß die Art und Weise, wie die Polemik geführt wurde, aufschlußreich für den hochschulpolitischen Argumentationsstil des endenden 19. Jahrhunderts ist! Sie vermittelt auch allgemein gültige Erkenntnisse über die Schwierigkeiten von Universitätsgründungen und nicht zuletzt über die Problematik konfessioneller Universitäten, ein Thema, das zu den wichtigsten in der Geschichte des akademischen Katholizismus im 19. Jahrhundert zählt. Vielleicht darf man den Schritt Jostes’ und seiner Kollegen, der in der deutschen Wissenschaftsgeschichte in Vergessenheit geraten ist und der mit nicht geringen persönlichen Opfern und Risiken verbunden war, als ein Bekenntnis zu dem auslegen, was man heute als Pluralismus der Lehrmeinungen und des Lehrangebots bezeichnet. Für Jostes persönlich ist es charakteristisch, daß ihn seine Erfahrungen mit den Dominikanern von Fribourg nicht zum Antiklerikalen werden ließen; er hat nur später seine Sympathie ostentativ den Franziskanern zugewendet. Jostes konnte in die Akademie Münster zurückkehren, doch dachte man preußischerseits nicht daran, ihn seiner Stellung in Fribourg entsprechend zu versorgen. Er hatte wieder als Privatdozent anzufangen und hat sich dann an Ort und Stelle Schritt für Schritt zum Ordinarius und Geheimen Regierungsrat hin75 Denkschrift der aus dem Verbande der Universität Freiburg in der Schweiz ausscheidenden reichsdeutschen Professoren, München 1898. – Die Universität Freiburg in der Schweiz und ihre Kritiker. Antwort auf die Denkschrift der acht aus dem Verband der Universität ausgeschiedenen Professoren. Hrsg. im Auftrag der Direktion des öffentlichen Unterrichts, Freiburg 1898. – Herr Python und die Universität Freiburg in der Schweiz. Replik der aus dem Verbande der Universität ausgeschiedenen reichsdeutschen Professoren, Mchn. 1899.

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aufgedient. Gottlob hat sich nach langjährigem Dasein als Privatgelehrter 1908 in Münster neu habilitiert und erhielt daraufhin den Professortitel. Seit 1921 wirkte er als Honorarprofessor an der Universität Münster, seit 1927 an der Universität Breslau. Man könnte sich eine großzügigere Regelung der akademischen Unterbringung vorstellen, als sie den Heimkehrern aus Fribourg zuteil wurde. Gleichwohl lassen die Begleitumstände der Rückkehr erkennen, daß der Kulturkampf seit längerem im Abbau begriffen war. Wenn sich der Staat und der katholische Teil der Bevölkerung wieder einander annäherten, so wurde dies nicht zuletzt dadurch erleichtert, daß ein starkes Nationalbewußtsein zunehmend auf Kosten des landschaftlich-konfessionellen Selbstbewußtseins an Raum gewann. Im Gegensatz zu der Generation von Bucholtz und auch noch derjenigen Fickers war dieses Nationalbewußtsein nicht mehr primär retrospektiv, noch wandte es sich unter Überspringung der unmittelbar gegebenen staatlichen Wirklichkeit einem in der Zukunft liegenden besseren und größeren Deutschland zu, sondern es konzentrierte sich realistisch auf das hic et nunc des Hohenzollernreiches. Wie aus den Kontroversschriften anläßlich ihres Weggangs aus der Schweiz hervorgeht, fühlten sich die deutschen Gelehrten an der Universität Fribourg primär als Deutsche, als Reichsdeutsche. Taktlosigkeiten, die ein französisches Mitglied des Lehrkörpers bei Gelegenheit eines Toasts auf den deutschen Kaiser beging, oder gar die Tatsache, daß das Regierungsorgan von Fribourg bei der Aufzählung der Studierenden nach Nationalitäten die Deutschen und die Elsaß-Lothringer gesondert aufführte, erfüllten Jostes und seine Getreuen mit Empörung. Die nationalpolitische Tätigkeit, die Jostes während des I. Weltkriegs entfaltet hat, zeigt vollends, wie rückhaltlos sich dieser Mann auf den Boden des Kaiserreichs gestellt hatte76. Und was für ihn gilt, gilt mehr oder minder für seine ganze Generation, z. B. für zwei so namhafte westfälisch-katholische Historiker wie Heinrich Finke und Alois Schulte77. Finke schreibt in seiner Autobiographie: „Die Siege von 1864, 1866 und 1870 waren so unauslöschlich in die junge Seele geschrieben“78, und er schildert, wie sehr es ihn bedrückt hat, daß durch die Ereignisse des Kulturkampfes ein Keil zwischen patriotisches Empfinden und konfessionelles Bewußtsein getrieben wurde, während er doch unange76 Näheres darüber müßte einer von P. Schöller, Ungedruckte Dissertationen über Westfalen aus den Jahren 1942 – 1947 (Westf. Forschungen 1, 1956 S. 201) erwähnten Doktorarbeit von H. Kowter, Die Westfälische Wilhelms-Universität zu Münster während des Weltkrieges u. der Novemberrevolution (1914 bis 1919), Münster 1944, zu entnehmen sein, die jedoch nicht auffindbar war. – Vgl. F. Jostes, Die Flamen im Kampf um ihre Sprache und ihr Volkstum, Münster 1916. 77 Vgl. Anm. 67 und M. Braubach, Alois Schulte und die rheinische Geschichte, Bonn, 1957; ders., Alois Schulte (Westfälische Lebensbilder, VII, Münster 1959 S. 158 – 180); ders., 150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität, a. a. O. S. 299 – 310; ders., Zwei deutsche Historiker aus Westfalen. Briefe Heinrich Finkes an Alois Schulte (Westf. Zschr. 118, 1968 S. 9 – 113); ders., Zwei deutsche Historiker aus Westfalen (Ein Nachtrag), Westf. Zschr. 120, 1970 S. 239 – 244. 78 Finke, a. a. O. S. 93.

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fochten Katholik und Patriot zu sein wünschte. Finke wie Schulte hatten in ihrer Eigenschaft als katholische Historiker noch Schwierigkeiten, und sie wurden in Konflikte verwickelt. Nur ist es indessen zunehmend weniger eine mißgünstige Obrigkeit als der antiultramontane Teil der öffentlichen Meinung, ihrer Berufskollegen und der parteipolitischen Gruppierungen gewesen, mit denen sie aneinander gerieten. Wie der politische Katholizismus des 19. Jahrhunderts im ganzen als Demokratisierungsphänomen zu beurteilen ist, so unterlag auch der Antiultramontanismus einem durchgängigen Demokratisierungsprozeß. Der Staat als solcher und die ihn repräsentierenden Schichten trieben in Fragen der konfessionellen Minorität und ihrer Behandlung in der Endphase der Monarchie eine entgegenkommendere Politik als früher – gewiß hauptsächlich aus Gründen des Respekts vor der politischen Macht des Zentrums –, und dies erleichterte die Integration der katholischen Intelligenz in das Hohenzollernreich. Als Alois Schulte als Mitarbeiter Paul Scheffer-Boichorsts sich in Straßburg ausbilden konnte, ließ er sich ganz von der Atmosphäre der alten Reichsstadt und von dem politischen Hochgefühl, in wiedergewonnenem Reichsland tätig zu sein, gefangen nehmen. Max Braubach bemerkt dazu: „Wie er mit dem Lehrer und dem Gefährten durch dies Land am Oberrhein zog, hat ihn vor allem eine Begeisterung für Nation und Reich ergriffen, die alle bösen Erinnerungen der Kulturkampfzeit über den Zauber des rheinischen Symbols deutscher Einheit und Größe vergessen ließ: bis an das Ende seiner Tage ist sie um ihn lebendig geblieben“79. Schon ein flüchtiger Überblick über Schultes wie Finkes wissenschaftliches Lebenswerk läßt erkennen, wie stark der vaterländische Impuls beider daran beteiligt gewesen ist. Schließlich vertiefte sich mit der Zustimmung zu Kaiser und Reich auch das Vertrauensverhältnis des ehemals hochstiftischen Westfalen zum preußischen Staat, sobald der Kulturkampf im wesentlichen abgeklungen war (ganz schwand die Erinnerung daran allerdings nie). Abgesehen von der Macht der Gewohnheit, die bei über hundertjähriger Zugehörigkeit zu einem Staatswesen beträchtlich in Anschlag zu bringen ist, abgesehen auch von den nicht zu unterschätzenden Loyalitätsbeziehungen, die der Militärdienst begründete, lassen sich in Westfalen nicht wenige Symptome einer auch inneren Zuwendung zur preußischen Monarchie feststellen80. Das Verhalten Westfalens in der Zerreißprobe der Jahre 1918 / 19 und nicht zuletzt die Loyalität, die Brüning und andere westfälische Politiker und Staatsmänner nicht nur dem Staate Preußen, sondern sogar der Hohenzollerndynastie gegenüber bewiesen haben81, lassen Rückschlüsse auf den Grad der Integration ziehen, der innerhalb der Provinz erreicht worden war. Braubach, Westfälische Lebensbilder, S. 162. Dies wurde durch die preußische Personalpolitik der wilhelminischen Ära erleichtert. Die Wiedererrichtung der Universität Münster und der Kaiserbesuch in Münster 1907 haben ebenfalls dazu beigetragen, das Verhältnis zu verbessern. Das Echo auf seiten der Provinz Westfalen zeigt sich z. B. in der Benennung von Straßen, von Gaststätten (Kaiser-FriedrichHalle), von Vereinen (SC Preußen Münster). 81 H. Brüning, Memoiren, Stuttgart 1970, passim. 79 80

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Damit haben wir aber bereits die Grenzen eines Zeitraums überschritten, den wir durch die französische Revolution und den I. Weltkrieg als Anfangs- und Endpunkt abgesteckt haben. In seinem Verlauf haben wir ein Stück Gelehrtengeschichte verfolgt, dessen landschaftliche Bezogenheit durch die auswärtige Lehrtätigkeit der in Betracht kommenden Gelehrten nur um so deutlicher hervorgehoben werden sollte.

Karl Alexander von Müller 1882 – 1964 Ein Nachruf Am 13. Dezember 1964 verschied der em. Professor für Bayerische und Deutsche Geschichte an der Universität München Karl Alexander von Müller. Er wurde auf dem von ihm Jahre zuvor liebevoll beschriebenen Egerner Friedhof beigesetzt, der nicht nur der im engeren Sinne einheimischen Bevölkerung als Ruhestätte dient, sondern seit geraumer Zeit auch von Angehörigen des Adels und des Großbürgertums, von höheren Beamten und namhaften Persönlichkeiten des kulturellen Lebens, die sich am Tegernsee niedergelassen haben, als Beisetzungsort bevorzugt wird. In jener historischen Gruppierung und Geschlossenheit, wie sie dem Besucher des Dorffriedhofs entgegentritt, besteht die Oberschicht, von der man dort manchen repräsentativen Namen antrifft, längst nicht mehr. Müller, geboren 20. XII. 1882 zu München, gehörte durch Herkunft, berufliche Stellung und Umgang dieser Welt noch an. Sein Vater wie sein Großvater mütterlicherseits zählten zu den Spitzen der bayerischen Bürokratie. Der Vater Ludwig August (Ritter v.) Müller, Kabinettsekretär König Ludwigs II., Polizeipräsident von München und bayerischer Kultusminister, wurde seiner staatsmännischen Laufbahn durch frühen Tod entrissen. Der älteste Sohn, der nach dem Besuch des unter den hauptstädtischen höheren Lehranstalten für gesellschaftlich am vornehmsten angesehenen Wilhelms-Gymnasiums als Stipendiat der Maximilaneumsstiftung zunächst Jus studierte, hatte ursprünglich die diplomatische Laufbahn im Sinn; noch als Student war er anfänglich entschlossen, in die Fußstapfen seines Vaters zu treten, dessen Gestalt ihm fordernd vor Augen stand. In seiner Autobiographie hat Müller geschildert, wie es kam, daß er nach einem mit Auszeichnung bestandenen juristischen Examen zur Geschichtswissenschaft überwechselte. Sein Entschluß war das Ergebnis einer gesundheitlichen und seelischen Krise, die ihm die Einsicht vermittelte, er sei zur vita activa nicht geschaffen. Nach kurzem Schwanken zwischen Geschichte und Literaturgeschichte wählte er jene. Dies bedeutete nach Müllers Auffassung einmal, daß er das Umfassendere dem Spezielleren vorzog, zum anderen, daß er, frühere Ambitionen nicht verleugnend und gefühlsmäßig wohl noch an ihnen hängend, innerhalb der geisteswissenschaftlichen Sphäre die Kontaktstelle zum „harten Element des Staates“, zum Politischen suchte. Wie ist der politische Horizont des jungen Müller zu beschreiben? Die Staatlichkeit der bayerischen Monarchie hat man, zumal bei einem Menschen aus seinem Milieu, als das zunächst Gegebene und als eine noch starke Potenz in Anschlag zu bringen. Aber sie füllte bei weitem nicht mehr den gesamten politi-

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schen Alltag aus, geschweige denn, daß sie auf politische Höhepunkte zu führen vermochte. Als das eigentlich Bewegende, Großartige und Zukunftsvolle erschien Müller, wie fast allen bürgerlichen Angehörigen seiner Generation, das Deutsche Kaiserreich, das Macht- und Weltpolitik zu treiben imstande war. Der deutsche Nationalstaat, der zu Beginn unseres Jahrhunderts noch als eine relativ junge Größe erlebt werden konnte, wuchs zur Zeit von Müllers Kindheit und Jugend in die imperialistische Dimension hinein. Die Themenkreise „föderativer deutscher Nationalstaat“ und „Große Politik“, diese ausschließlich als „Realpolitik“ aufgefaßt, bildeten fortan den Rahmen, innerhalb dessen sich Müllers Arbeit zu einem großen Teil abspielte, soweit er seine Interessen auf das geschichtliche Gebiet konzentrierte. Die Wendung zum Geschichtsstudium darf u. a. als eine Form der Bejahung der deutschen Politik seiner Epoche aufgefaßt werden, obgleich ihm deren unerfreuliche und gefährliche Seiten schon früh auffielen. Die Zustimmung zum Hohenzollernreich konnte von sehr unterschiedlicher Ausgangslage erfolgen und bei sehr verschiedenem politischen Temperament. Müllers Grundhaltung zum Politischen war von Jugend an konservativ. Schon den Gymnasiasten hatte die Burenbegeisterung des deutschen Volkes nicht ergriffen, weil sie seinen – die Sachlage in diesem Fall allerdings mißverstehenden – konservativen Instinkten zuwiderlief; er stand innerlich auf seiten der Engländer. Und mehr als fünfzig Jahre später bemerkte er dazu: „Tatsächlich trat hier wohl, gegenüber allem Anempfundenen oder Angedachten, eine tiefe, vielleicht ererbte Grundeinstellung ans Licht: ich stand mit meinem Gefühl von Natur auf Seite der staatlichen Autorität und Notwendigkeit, wohl auch der des aristokratischen Herrentums gegen demokratische Tugend: ich war immer für Themistokles gewesen und nicht für Aristides, für Sulla und nicht für Marius . . .“. Noch in die Zeit seines Jura-Studiums fiel ein Studienaufenthalt in Oxford, von dem Müller lebenslang zehrte und dem er eine brillante Darstellung gewidmet hat. Wilhelm II. hatte ihn als einen der ersten fünf deutschen Cecil-Rhodes-Stipendiaten ausgewählt, eine Gunst, deren Bedeutung man angesichts der heute selbstverständlichen internationalen Mobilität der Studierenden für die damalige Situation kaum hoch genug einschätzen kann. Das Oxforder Jahr 1903 / 04 wog in seinem Leben um so schwerer, als Müller sonst eine ungewöhnliche Seßhaftigkeit charakterisierte. Ein noch lebender Studiengenosse bezeugt, wie der Cecil-Rhodes-Stipendiat über sich und binnenländische Enge hinausgewachsen vom Oriel College in das Münchener Maximilianeum zurückkehrte, den Gleichaltrigen überlegen und gereifter erscheinend. Mit der ungeheuren Erlebnisintensität, deren ein junger Mensch fähig ist, hat Müller das englische Jahr in sich aufgesogen, das ihm den Anstoß zu lebenslanger Beschäftigung mit Gegenständen der britischen Geschichte gab. Die ästhetisch-impressionistische wie die historische Komponente seiner Neigungen und ein genuines Verständnis für akademische Institutionen und Atmosphäre zeichneten sich schon bei dem Jura-Studenten deutlich ab, der vor der großartigen Szenerie Oxfords Lebenswissen sammelte und seine Empfänglichkeit für die englische Lebensart entdeckte. Ohne außer acht zu lassen, wie jung Müller

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damals war und wie begrenzt die Voraussetzungen gewesen sind, die er mitbrachte, ist es berechtigt, nach seinen politischen Eindrücken zu fragen. Müller genoß den Verkehr mit Angehörigen der Oberschicht eines Weltreiches; sein Menschenhunger und sein Sinn für die Bedeutung der Persönlichkeit in der Geschichte kamen auf ihre Kosten. Auch und gerade in der Universitätsstadt waren der Widerhall englischer Weltpolitik und die Weltweite des Empire allgegenwärtig. Wie viele führende Männer des britischen Imperialismus fühlten sich dem Oxforder Neuidealismus von Balliol College und New College verbunden! Und der Imperialismus ist es gewesen, der im Vordergrund der Wahrnehmungen Müllers stand. Es wäre unsinnig, dem gerade volljährig Gewordenen anzurechnen, daß er das ihn bestrickende Phänomen noch nicht gründlich zu analysieren verstand und mehr am Vordergründigen, am Pathetisch-Machtpolitischen hängenblieb. Auf einem anderen Blatt steht, daß sein Englandbild auch in reiferen Jahren einseitige Perspektiven erkennen läßt. Symptomatisch hierfür das fast gänzliche Zurücktreten des verfassungsund sozialgeschichtlichen Interesses! Der englische Radikalismus, die Fabier, Labour, die breite sozialreformerische Tendenz – dies und vieles andere blieb fast ganz außer Betracht. Müllers wissenschaftliche und publizistische Beschäftigung mit England litt an den Unzulänglichkeiten deutscher Anglophilie (insbesondere der Rechten), deren Problematik sich nicht zuletzt daraus ergab, daß man an die Vorbildlichkeit des Inselreichs für das eigene Vaterland glaubte, ohne den komplexen Charakter britischer Politik voll begriffen zu haben und sich über die Wurzeln ihrer Kraft ganz im klaren zu sein. Nicht zu reden davon, daß sich keine gefühlsbetonte „Philie“ politisch jemals bezahlt gemacht hat! An der Aufrichtigkeit von Müllers Anglophilie kann freilich kein Zweifel bestehen. „Eine Zerstörung Oxfords“, schrieb er in seinen Erinnerungen, „würde mir fast ebenso ans Herz greifen wie die von München oder Bayreuth. Aber in beiden Weltkriegen habe ich geistig gegen England gekämpft und das einzige, was mich dabei vielleicht von anderen unterschied, war, daß ich nie die Kraft dieses Gegners geringschätzte und daß keine politische Gegnerschaft das Gefühl tiefer innerer Verbundenheit überwand“. Fast scheint es, als habe sein beweglicher Geist zum Ausgleich dessen, was ihm fehlte, das Bild einer ihm unerreichbaren Welt entworfen, wenn sich Müller den Themen Imperialismus und Große Politik zuwandte. Persönlich war er das Gegenteil einer imperialistischen Kraftnatur. Die wahren Neigungen des hochsensiblen, durch Krankheiten oft gefährdeten und sich gesundheitlich unausgesetzt bedroht fühlenden, stets in erster Linie mit sich selbst beschäftigten Mannes galten dem „inneren Reich“, der Pflege des Traditionellen und nicht zuletzt dem biedermeierlichen und bukolischen Idyll. Es zählt zu den Verhängnissen dieses Lebens, daß die Zeitumstände, sein Milieu und auch die eigene politische Meinung Müller wiederholt das heroische Wort abnötigten, das er so gut zu formulieren verstand und das seinem Naturell doch ganz zuwiderlief. 1908 wurde Müller, der auf geschichtswissenschaftlichem Gebiet hauptsächlich Karl Theodor von Heigel und Sigmund von Riezler zu Lehrern hatte, mit dem Prädikat „summa cum laude“ zum Dr. phil. promoviert. Von seiner Dissertation „Bay-

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ern im Jahre 1866 und die Berufung des Fürsten Hohenlohe“ (1909) sagte er später, sie spiegle den Widerstreit seiner Gefühle als „bewußter Bayer“ und seines „wachsenden Stolzes, ein Deutscher zu sein“. Seine damaligen Forschungen brachten Müller die Gestalt des dritten deutschen Reichskanzlers nahe, dem er zeitlebens (vorsichtig angedeutete) Sympathie bewahrte. 1931 erschien, von Müller herausgegeben, der dritte Band der Denkwürdigkeiten Hohenlohes, ein Unternehmen, bei dem ihn Forscherglück begünstigte und Neigung zu seinem „Helden“ beflügelte. War die Bewunderung Bismarcks für Müller sozusagen selbstverständlich und beinahe obligat, so stehen hinter der Vorliebe für den süddeutschen Standesherrn wohl viel persönlichere Motive. Zwei Jahre nach seiner Promotion wurde der junge Historiker als Mitarbeiter in die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften aufgenommen. Die ihm zugewiesene Aufgabe, Edition von Akten zur Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, entsprach nicht seinem Temperament und seinen Gaben, und er hat sich, sobald es die Umstände erlaubten, von dieser Tätigkeit abgewandt. Was ihn damals und später weit mehr bewegte, war der Gedanke, eine Biographie von Joseph Görres zu schreiben. Das Vorhaben scheiterte bereits an der Quellenlage. Nur einen Abschnitt aus Görres Leben konnte er zum Gegenstand einer Untersuchung machen, und mit ihr habilitierte sich Müller während des I. Weltkriegs. Wie bei fast allen Gelehrten fehlt es auch auf Müllers wissenschaftlichem Weg nicht an Torsi, an Plänen, die nicht vollendet werden konnten und hinter deren Nichtzustandekommen sich mitunter schmerzliche Erfahrungen verbargen. Man hat, um von chimärischen Wünschen zu schweigen, von Müller die Biographien von Montgelas und von Ludwig I., man hat die Fortsetzung der Bayerischen Geschichte Riezlers von ihm erwartet. Dazu ist es jedoch nicht gekommen. Wenn später die wichtigsten Daten der akademischen Laufbahn Karl Alexander von Müllers festgehalten werden, so sei vorweggenommen, daß ihm Ämter und Würden viel bedeuteten. Und doch würde fehlgreifen, wer seinen Lebensgang primär als eine Professorenkarriere interpretieren wollte. Manches Gelehrtenleben deckt sich fast völlig mit der beruflichen Existenz und der Hingabe an den akademischen Pflichtenkreis. Müllers Persönlichkeitsverwirklichung spielte sich mindestens ebenso intensiv wie in seinem Wirken als Staatsbeamter und Professor auf einer inneren Linie, in der privaten Dimension, ab. Unter anderen Verhältnissen und ohne den Zwang des Broterwerbs hätten ihn literarische Tätigkeit, Umgang mit Dichtung und Musik, Beobachtung des Menschen, Familienleben, Gesellschaft und Geselligkeit wohl vollständig ausgefüllt. Und was das Gesellschaftliche betraf, so war er wiederum zu distanziert und kontemplativ veranlagt, um je darin ganz aufzugehen. Wohl spielten Freundschaften und geselliger Umgang in diesem Leben eine große Rolle – wie viele Menschen von Rang haben seine Wege gekreuzt! –, aber bei aller Warmherzigkeit des Tons wohl weniger unbefangen um ihrer selbst willen, denn aus Lebensneugier und Erlebnishunger und unermüdlicher Suche nach Gegenständen für seine künstlerische Phantasie. Man muß, will man Müller, den Mann einer unverwechselbar schönen Handschrift, recht würdigen, er-

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messen, welcher Anteil der ästhetischen Komponente in seinem Wesen und Tun sowie einer für ihn kennzeichnenden Verbindung von sublimem Genießen und intellektueller Gestaltungsfreude zukommt. Auch sein Verhältnis zu Geschichte und Politik ist in mancher Hinsicht mit ästhetischen Kategorien zu fassen, als Annäherung, ohne sich je ins Getümmel zu stürzen und den gehegten Bezirk der Bildung ernstlich verlassen zu wollen. Wie gern hat er Hohenlohe zitiert: „Hemdsärmeligkeiten sind mir fatal“! Sein Bedürfnis nach Selbstbewahrung, die Mittelbarkeit und Reflektiertheit seiner Anteilnahme am öffentlichen Leben, schlossen es aus, daß er sich in der praktischen Politik rückhaltlos exponierte. Man könnte sich ihn allenfalls vorstellen, wie er Politik von oben her betrieb, etwa als ein aus der höheren Bürokratie hervorgegangener Minister in ruhigeren Zeiten der bayerischen Monarchie, mehr mit den Zügen des Beamten als denen des Staatsmannes ausgestattet. Die Verhältnisse, in die er hineingewachsen war, erlaubten ihm als äußerstes ihm angemessenes politisches Engagement nur publizistische Aktivität. Schon vor 1914 hatte Müller in den „Süddeutschen Monatsheften“ mitgearbeitet. Zu Beginn des I. Weltkriegs trat er in den Redaktionsstab dieser Zeitschrift ein, die von dem vornehmen, idealistisch-bizarren, schwer durchschaubaren, einen tragischen Weg gehenden Paul Nikolaus Cossmann geleitet wurde. Die „Süddeutschen Monatshefte“, ein kulturell-politisches Organ von hohem Niveau und nahezu universeller Thematik, waren weit aufgeschlossener und großzügiger, lebendiger und progressiver als sich heute mancher jüngere Zeitgenosse eine bürgerlich-nationale Zeitschrift vor fünfzig Jahren vorstellen mag. Die Namen der anderen Mitherausgeber, Josef Hofmiller, Hans Pfitzner, Hans Thoma, charakterisieren Richtung und Rang der Hefte, ohne indessen eine ausreichende Vorstellung von dem Panorama zu vermitteln, das sich vor dem Leser auftat. Im Rahmen dieser Zeitschrift begegnet man Müller als historischem Beiträger, aber auch als Politiker sui generis. Er hatte nicht nur eine ihm durch Kurt Riezler übermittelte Aufforderung Bethmann Hollwegs abgelehnt, publizistisch für ihn zu arbeiten und seine Politik der Weltöffentlichkeit darzustellen, er gesellte sich auch den Gegnern des ersten Kriegskanzlers zu. Die Kritik von rechts, das Drängen nach einem zielbewußteren, härteren Kurs läßt sich an den Müllerschen Aufsätzen in den „Süddeutschen Monatsheften“ verfolgen. Der Autor faßte seine Beiträge als Kriegsdienst mit der Feder auf. Er hatte sich freiwillig zum Militär gemeldet, zeigte sich aber den Anforderungen gesundheitlich nicht gewachsen. Da er die damals weitverbreitete Anschauung teilte, daß im Krieg nur eine Tätigkeit gerechtfertigt sei, die unmittelbar oder mittelbar den militärisch-politischen Anstrengungen der Nation zugute komme, hat er 1914 / 18 seine beruflichen Angelegenheiten hinter die Arbeit für das Rote Kreuz und die Kriegspublizistik zurückgestellt, an die man die ihr gemäßen und nicht etwa wissenschaftliche Maßstäbe anzulegen hat. Müller selbst wußte sehr genau zwischen seinen wissenschaftlichen und seinen publizistischen Veröffentlichungen zu unterscheiden. Dem heutigen Betrachter erscheint Müller in seiner Rolle als nationaler Mahner und als Erzieher zur Realpolitik nicht mehr überzeugend. Unabhängig von der Ten-

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denz dessen, was er zu Papier brachte, fragt es sich, ob er tatsächlich eine Konzeption anzubieten hatte. Worin sich unzweifelhaft Talent verrät, ist die Wiedergabe von Stimmungen, die Schilderung von Begebenheiten, sein kompositorisches Geschick als „Rundschauer“. Der geborene Belletrist in ihm zeigte sich stärker als der „Politiker“. Wir glauben es ihm gerne, wenn er – die Äußerung bezieht sich auf eine Situation mitten im Kriege – schreibt: „Gleich Hofmiller hatte ich bereits angefangen, das System der Kriegssonderhefte, an dessen Entstehen ich so eng beteiligt gewesen war, wieder zu bedauern; ich hätte eine Rückkehr zu den alten, vorwiegend kulturell eingestellten ,Süddeutschen‘ vorgezogen“. Müllers Kriegsaufsätze haben das damalige Publikum gepackt. Das ist heute schwer verständlich, und nur der Historiker vermag zu erläutern, warum es so gewesen ist; wie es denn in der augenblicklichen Situation für den Historiker weniger gilt, zu rekapitulieren, warum man dieses und jenes längst als Fehlschluß erkannt hat, als ins Bewußtsein zu rufen, was heute in der Regel nicht mehr begriffen wird oder in Vergessenheit zu geraten scheint oder als bekannt schon nicht mehr vorausgesetzt werden darf. Die Erschütterung durch Niederlage und Revolution schien für kurze Zeit auch in den „Süddeutschen Monatsheften“ Selbstkritik und Neuorientierung auszulösen. Liest man z. B. Müllers „Geschichtliche Randglossen“ im Band 1919 / 20, so ist man überrascht, wie dort von der Todesstunde der Monarchie und des alten Autoritätsstaates gesprochen wird, von der seit Jahrhunderten im Gange befindlichen und unausweichlichen Demokratisierung der Staaten und der Gesellschaft, von dem verhängnisvollen deutschen Fehler, die demokratische Sinngebung des Krieges durch die angelsächsischen Mächte für „phraseologische Draperie um die eigentlichen wirtschaftlichen und allenfalls machtpolitischen, jedenfalls rein materiellen Ziele“ anzusehen, sogar von dem „Widerspruch von Mann und Zeit“ im Leben Bismarcks. In der Folge konzentrierten sich die „Süddeutschen Monatshefte“ jedoch mit der ganzen Leidenschaftlichkeit, die ihren Herausgeber Cossmann und viele seiner Mitarbeiter kennzeichnete, auf die außenpolitische Situation Deutschlands, wie sie durch den Versailler Vertrag vorerst festgelegt war, auf Kriegsschuld- und Dolchstoßfrage, auf die Problematik der Kriegsverbrechen und verwandte Themen. Bei der Heftigkeit, mit der man dort den publizistischen Kampf führte, konnte eine Verengung, konnten Mißgriffe nicht ausbleiben. Daß man die Lage Deutschlands zu verbessern trachtete, war gewiß eine Selbstverständlichkeit. Aber entscheidend mußte ins Gewicht fallen, ob man die weltpolitische Situation richtig einschätzte, und nicht minder war von Belang, wie man sich zu dem neuen republikanischen Staatswesen stellte. Die „Süddeutschen Monatshefte“ fanden zur Weimarer Demokratie kein Verhältnis, wußten aber auch keine brauchbare Alternative anzubieten. Müller, bis 1933 im Herausgeberkollegium, spielte seit etwa 1920, obschon noch eine Reihe von Aufsätzen aus seiner Feder erschien, als Beiträger keine hervorstechende Rolle mehr. Seine publizistische Aktivität kam in den zwanziger Jahren offenbar mehr den „Münchener Neuesten Nachrichten“ zugute, bei denen wiederum Cossmann einige Jahre ein ausschlaggebendes Wort zu sprechen hatte. Aber auch diese Tätigkeit blieb Beiwerk.

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Nach seiner Habilitation im Jahre 1917 begann Müller mit der Venia für Allgemeine und Neuere Deutsche sowie für Bayerische Geschichte seine akademische Laufbahn an der Ludwig-Maximilians-Universität in München; noch im gleichen Jahr folgte die Ernennung des Privatdozenten zum Honorarprofessor. 1923 erhielt er einen Lehrauftrag für historische Politik. Sein beruflicher Schwerpunkt lag indessen zunächst und noch auf lange Jahre in der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, als deren Syndikus er ebenfalls seit 1917 amtierte und zu deren o. Mitglied er 1928 gewählt wurde. Wenn seine Absichten auch auf einen Lehrstuhl gerichtet blieben und er sein Amt als Syndikus der Akademie und der Verwaltung der wissenschaftlichen Sammlungen des Bayerischen Staates stets nur als Übergangslösung und mitunter als zu eng empfunden hat, so hat er sich in dieser Stellung doch in mancher Hinsicht recht wohl befunden. Die Atmosphäre der Akademie als einer der vornehmsten Institutionen der Gelehrtenrepublik sagte ihm zu, und seine rezeptive Natur kostete die große wissenschaftliche Tradition aus, die mit dem schönen, ehrwürdigen Renaissancegebäude an der Münchener Neuhauser Straße verbunden war. Mit beredten Worten hat Müller aus der Rückschau den Glanz gelehrten Ansehens, aber auch die vermögende materielle Stellung dieser Korporation geschildert, die Männer wie Thiersch, Liebig, Döllinger und Pettenkofer zu ihren Präsidenten zählte. Man darf die Vermutung aussprechen, daß schon der junge Syndikus sich die Würde des Akademiepräsidenten als den erstrebenswerten Höhepunkt und Abschluß einer Gelehrtenlaufbahn vorgestellt haben mag. Erst 1928 erfolgte anläßlich seiner Berufung auf das durch den Tod Michael Doeberls freigewordene Ordinariat für Bayerische Landesgeschichte Müllers definitiver Übergang aus der Sphäre des wissenschaftlichen Beamten in diejenige des Hochschullehrers. Man würde der Stellung, die Müller in München kraft seiner (1898 eingerichteten) Professur einnahm, nicht gerecht, wollte man diese ausschließlich nach dem wissenschaftssystematischen Ort der Landesgeschichte als einer historischen Fachrichtung unter zahlreichen anderen charakterisieren. Vor dem Hintergrund der besonderen Verhältnisse Bayerns stellte sie ein Politikum dar, und ihr Inhaber mochte faktisch das (offiziell nicht bestehende) Amt eines Staatshistoriographen wahrnehmen. Jedenfalls erwartete man von dem Vertreter dieser Lehrkanzel manchenorts eher Staatsgeschichte als Landesgeschichte im heute geläufigen Sinn, und nur im Blick auf ein noch reges Staatsbewußtsein ist richtig zu beurteilen, welche Geltung Müllers Ordinariat in der bayerischen Landeshauptstadt zukam. Charakteristisch ist, daß das offizielle München dieser Tage Müller, der im Norden Deutschlands als zu bayerisch angesehen wurde, eher als zu bismarckisch und preußenfreundlich empfand. Der bayerische Kultusminister fragte Müller vor der Berufung, ob er ihm von Mann zu Mann versichern könne, daß er „bayerisch gesinnt und gewillt sei, die Professur in diesem Sinne auszufüllen“. Das Ansehen, das sich Müller in Fachkreisen erworben hatte, wie seine Position als Inhaber des damals einzigen Lehrstuhls für Bayerische Landesgeschichte brachten es mit sich, daß ihm in den zwanziger und den beginnenden dreißiger Jahren wichtige Funktionen innerhalb und außerhalb der akademischen Welt zu-

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wuchsen. 1927 befand er sich unter den Gründern der Kommission für Bayerische Landesgeschichte, deren o. Mitglied er seit 1928 geblieben ist und der er von 1929 bis 1945 als Schriftführer diente. 1928 wählte ihn die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften zu ihrem o. Mitglied und bestellte ihn zu ihrem geschäftsführenden Sekretär; auch diese Aufgabe hat Müller bis 1945 wahrgenommen. 1929 folgte die Wahl zum o. Mitglied der Historischen Reichskommission, 1931 wählte ihn die Gesellschaft für Fränkische Geschichte zu ihrem o. Mitglied. 1929 – 1935 leitete er das neugegründete und anfänglich „völkisch-bajuwarisch“ orientierte Institut zur Erforschung des deutschen Volkstums in Südund Südosteuropa. Die Fülle seiner Ehrenämter und Verpflichtungen ist mit dieser Aufzählung noch keineswegs vollständig wiedergegeben. Im dritten Band seiner Erinnerungen ist Müller ausführlich auf diese seine teils fachlich-berufliche, teils gesellschaftliche Beanspruchung eingegangen, und der Leser mag daraus entnehmen, welch bekannte Persönlichkeit der Historiker in dem München schon der zwanziger Jahre geworden war, abgesehen davon, daß eine rege Vortragstätigkeit im Rundfunk und im Volksbildungswesen Müllers wissenschaftliches und schriftstellerisches Schaffen ergänzte. Es wurde bereits auf einige der von Müller verfaßten Arbeiten hingewiesen. Skizzieren wir im folgenden, zunächst bis zu Müllers Ausscheiden aus dem Amt, kurz sein Œuvre, so steht die Leistung wissenschaftlich-essayistischen Gepräges im Vordergrund. An zweiter Stelle folgt der Typus der Programmschrift und des Problemaufsatzes. Wer an ein gelehrtes Werk nur den Maßstab des „dicken Buches“ oder der schwer befrachteten und hochspezialisierten Untersuchung anlegt, mag dies tun. Unserer Meinung nach würde es eine Verarmung der Historie bedeuten, wollte man sie grundsätzlich von allem essayistisch-künstlerischen Bemühen trennen. In seiner Spätphase hat Müller noch zu einem Vorhaben ganz anderer Art angesetzt und es größtenteils vollendet – vorerst gab er sein Bestes im biographischen Porträt, im Umriß, in der Analyse, in ergreifender und in ansprechender Erzählung. Der Theodor Vischer-Essay von 1912, der „Ältere Pitt“ 1923, „Karl Ludwig Sand“ 1924, die 1925 erschienene Sammlung zum Teil gemeinsam mit Cossmann geschriebener Kriegsaufsätze „Die deutschen Träumer“, die 1926 veröffentlichte Habilitationsschrift „Görres in Straßburg“ und die im gleichen Jahr publizierte Sammlung von Aufsätzen und Vorträgen aus Kriegs- und Nachkriegszeit „Deutsche Geschichte und deutscher Charakter“, schließlich die „Zwölf Historikerprofile“ von 1935 zeigen Müller als Meister der „kleinen Form“. Seine zahlreichen Beiträge für Fachzeitschriften und Akademieabhandlungen, zu Sammelwerken und Festgaben bewegen sich alles in allem im gleichen thematischen Umkreis wie die genannten selbständigen Veröffentlichungen: neuere englische Geschichte vom 17. Jh. bis zur Gegenwart, deutsche und bayerische Geschichte des 19. und 20. Jh.s, Wissenschafts- und Universitätsgeschichte. Alles, was Müller geschrieben hat, zeichnet sich durch Abgewogenheit und Eleganz der Darstellung aus. Erheblichen Umfang nahm seine Tätigkeit als Herausgeber und Mitherausgeber an. Wie dieser Nachruf auch sonst Vollständigkeit nicht anstrebt, so seien

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nur als Beispiele herausgeberischen Wirkens hervorgehoben die mit Erich Marcks veröffentlichte berühmte Reihe weltgeschichtlicher Bildnisse „Meister der Politik“, die „Münchener Historischen Abhandlungen“ (zusammen mit A. O. Meyer und H. Günter) und die Veröffentlichungen des Münchener Südosteuropa-Instituts. Für sich steht Müllers spätere Tätigkeit als Herausgeber der Historischen Zeitschrift. Die deutsche Sprache unterscheidet zwischen Herausgeberschaft und Editionstätigkeit. Editorische Arbeit hat Müller mit der bereits erwähnten Veröffentlichung des dritten Bandes der Hohenloheschen Denkwürdigkeiten und derjenigen einer deutschen Übertragung von Seeleys „Expansion of England“ geleistet. Als Zeugnis für Ruf und Geltung Müllers verdient festgehalten zu werden, daß schon dem Fünfzigjährigen eine Festschrift „Staat und Volkstum“ (Redaktionsausschuß E. Franz, G. Volk, L. Schweizer, A. Sandberger) zugeeignet wurde. Es folgten zum 60. Geburtstag, herausgegeben von K. von Raumer und Th. Schieder, die Festgabe „Stufen und Wandlungen der deutschen Einheit“ und zum 80. „Land und Volk, Herrschaft und Staat in der Geschichte und Geschichtsforschung Bayerns“ (herausgegeben von K. Bosl). Vom Historiker der neueren und neuesten Zeit erwartet man intellektuellen Kontakt zur Politik seiner Gegenwart. Solcher Kontakt wird der wissenschaftlichen Fragestellung und Erkenntnis stets zugute kommen und muß nicht gleichbedeutend sein mit praktischer Betätigung im öffentlichen Leben. Müller hat seine politischen Sympathien und Antipathien nicht verhehlt. Er stand rechts, und damit hing es in erster Linie zusammen, daß zwischen 1924 und 1927 zwar nacheinander die Universitäten Kiel, Köln, Halle und Breslau Müller, fast alle an erster Stelle, auf ihre Berufungslisten setzten, diesem Wunsch von seiten des zuständigen preußischen Ministeriums aber nicht Rechnung getragen wurde. Innerhalb der breiten Variationsskala der Rechten hatte Müller in den letzten Jahren vor der Machtergreifung Hitlers zu einem Nationalkonservativismus betont bayerischer Prägung gefunden. Herzlich, manchmal fast überschwenglich, gleichzeitig jedoch in nobler Weise beträchtliche Kritik übend, charakterisierte E. Marcks anläßlich Müllers 50. Geburtstag in einem siebenseitigen Artikel, der für das damalige konservative Denken höchst bezeichnend ist, die Einstellung des Historikers zu Anfang der dreißiger Jahre: „Es ist ein romantischer Zug darin; er wuchs bis zum Ende des Jahrzehntes durch den steigenden Gegensatz gegen die antiromantischen Gewalten unserer Gegenwart, gegen die westeuropäische Überschwemmung des germanischen Deutschlands, gegen die parlamentarische Demokratie, die Weimarer Verfassung, die Zentralisation, die man Berlin zu nennen pflegt. Diese Auflehnung einer ständischeren, organischeren, völkischeren Ansicht gegen das Werk der deutschen Revolutionäre füllt ja, in steter Zunahme, das innere Leben der zwanziger Jahre in unserem Gesamtvaterlande. Sie ist in Bayern stets in besonderem Sinne lebendig geblieben: elementar-kulturell und staatspolitisch zugleich; der Staat Baiern hat sein Lebensrecht gegen bedrängende Herrschaft des Neuen immer zu wahren gestrebt, und dieser politische Widerstand gegen die Politik von Weimar wird spürbar in die geistige Konstruktion auch des Historikers von Müller hinein. Der Patriot –

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der deutsche, der Deutschland deutsch erhalten will, der baierische, der Baiern deutsch und baierisch erhalten will –, der politische Kämpfer, der Publizist steht innerlich hinter dieser schärferen Durchprägung, dieser kämpferischen Verschärfung seiner Auffassung der baierischen Geschichte.“ Umriß die Antrittsvorlesung von 1917 noch ein fachliches Forschungsprogramm zur bayerischen Geschichte des 19. Jh.s, so war der Grundton des Aufsatzes „Die Bedeutung Bayerns für die geistige Kultur Deutschlands“ in dem von B. Harms herausgegebenen Sammelwerk „Volk und Reich der Deutschen“ (1929), in der Übersicht zur bayerischen Geschichte in dem Sammelband „Dem bayerischen Volke“ (1930), wie in der vielbeachteten Schrift „Das bayerische Problem in der deutschen Geschichte“ (1931) politisch-ideologisch im Sinne des bayerischen Konservativismus gestimmt. E. Marcks, obschon zu recht davon überzeugt, daß Müller von seiner deutsch-nationalen Grundeinstellung nicht abgehen werde, glaubte den Jüngeren doch vor einem zu starken Engagement zugunsten der weiß-blauen Sache warnen zu sollen. Er meinte, Müller sei ehedem dem Bayerischen gegenüber wohl kritischer eingestellt gewesen, er sprach von „baierischen Rätseln“ und wiederholt von „historischer Konstruktion“, er appellierte an den „Bismarckdeutschen“ in Müller und stellte die zur Jahreswende 1932 / 33 inhaltschwere Frage: „Wird die Abwehr und die auf sie gerichtete Konstruktion auch des historischen Verlaufs zurücktreten können vor Neuem, das wir noch nicht sehen?“ Es hat mit einer Parteinahme pro oder contra nichts zu tun, wenn wir meinen, daß unter mehreren für Müller denkbaren politischen und wissenschaftlich-publizistischen Rollen es die seiner Persönlichkeit angemessenste gewesen wäre, im Rahmen einer übergeordneten gesamtdeutschen Orientierung eine spezifisch bayerische, maßvoll konservative Konzeption zu vertreten. Müller hatte es bis 1933 vermieden, sich parteipolitisch festzulegen; die Zugehörigkeit zur Staatspartei in einem totalitären Regime ist mit anderen Maßstäben zu messen als die freie Entscheidung für diese oder jene Gruppe in einer parlamentarischen Demokratie. Ob es Müller angesichts seiner hervorgehobenen Position, der politischen Relevanz seines Faches und der Tatsache, daß er in der „Hauptstadt der Bewegung“ lehrte, nach der nationalsozialistischen Machtübernahme gelungen wäre, eine Stellungnahme zu umgehen, ist zu bezweifeln. Nach den Maßstäben des neuen Systems ließen ihn nicht nur die einstige Freundschaft mit dem Juden Cossmann, sondern auch der probayerische Zungenschlag der letzten Jahre nicht ganz unverdächtig erscheinen. Noch im Geburtstagsartikel K. R. Ganzers im „Völkischen Beobachter“ vom Dezember 1942 suchte der Vf. den Jubilar gegen das Mißverständnis in Schutz zu nehmen, er sei „nur“ ein Mann der bayerischen Historie. Andererseits hatte sich Müller als stets freundlicher und wohlwollender Mentor vieler junger Nationalsozialisten bei diesen einen so vorzüglichen Ruf erworben, daß er beinahe als einer der ihren angesehen wurde. Wie dem auch sei – man wird neben den positionsbedingten Motiven die in der Sache selbst liegenden Beweggründe nicht übersehen dürfen, die Müller veranlaßten, sich neuerdings zu exponieren. Obschon es für einen Mann seiner Art nichts Geringes war, aus der Un-

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verbindlichkeit herauszutreten, hätte er doch wiederum nicht er selbst sein müssen, wenn er nicht seismographisch auf das emotionale Erdbeben reagiert hätte, das Deutschland 1933 erschütterte. Die – an sich richtige – Überzeugung, daß in der deutschen Geschichte der entscheidende Wendepunkt eingetreten sei, bemächtigte sich seiner. Wenn er, der Konservative, der eben noch im Geleitwort zu der in den „Süddeutschen Monatsheften“ erscheinenden Reihe „Wo stehen wir“ Grau in Grau gemalt hatte, glaubte, diese Wendung – dabei freilich über vieles hinwegsehend und vieles sublimierend – hoffnungsvoll und positiv interpretieren zu können, so stand er, auch unter seinen Fachgenossen, bis in die Kriegsjahre hinein, wahrlich nicht allein. An Berührungen mit Männern der NSDAP hatte es seit 1919 nicht gefehlt. Schon der V-Mann Hitler von 1919 war in seinen Gesichtskreis getreten, Göring und Heß hatten in seinem Seminar gesessen. Welchen Eindruck die Ereignisse des 8. / 9. November 1923 auf ihn machten und wie er selbst am Rande dieses Geschehens tätig wurde, hat er in dem kürzlich erschienenen Band „Im Wandel einer Welt“ ausführlich mitgeteilt. Wohl kein anderer deutscher Historiker ist Hitler vor 1933 so häufig persönlich begegnet, wie dies bei Müller in München auf gesellschaftlicher Ebene der Fall gewesen ist. Indessen vermochten ihn bis zur Machtergreifung weder Hitler noch der Schwager Gottfried Feder noch irgendein anderer der zahlreichen in seine Sphäre tretenden Prominenten aus dem völkischen und später nationalsozialistischen Lager für die Sache des Hakenkreuzes zu gewinnen. Alles in allem hat Müller in der Zeit bis zur Machtübernahme wohl, gleich einem großen Teil des nationalen Bürgertums, geschwankt zwischen Widerwillen gegen die Hohlheit und Primitivität einer plebejischen Spielart der Rechten und einer gewissen Faszination durch den Angriffsgeist, den Elan und – die zunehmenden Erfolge der Hitler-Partei. Der Fünfzigjährige konnte sich, nachdem die sogenannte Nationale Revolution ausgebrochen war, nicht mehr gläubig einem Parteiprogramm verschreiben; ohne Zweifel wäre er auch als junger Mann zu skeptisch dazu gewesen. Daß Müller, um mit seinen eigenen Worten zu sprechen, eine „Beute des Nationalsozialismus“ wurde, hat mit ideologischen Motiven herzlich wenig zu tun. Bei seiner Hinwendung zum Nationalsozialismus durchdringen sich persönliche Beweggründe mit solchen, die sich leicht aus dem spezifischen Historikerdenken ergeben können. Wir meinen damit das Bestreben, die geschichtliche Stunde zu erkennen und nicht zu versäumen, dem Geschehen einen großen Sinn zu geben, die Gegenwart aus der Vergangenheit zu deuten. Müllers Beispiel zeigt, welches Risiko in diesem Bemühen steckt. Eine politische Rolle in engerem Sinne zu spielen, lag Müller fern. Dagegen nahm er keinen Anstand, unter dem neuen Regime solche Ämter der Gelehrtenrepublik zu übernehmen, für die er sich disponiert und vielleicht sogar prädestiniert fühlte. Dabei brauchte er selbst kaum Initiative zu entfalten; er wurde umworben und auf den Schild gehoben. Mehrere aus der Gruppe der jungen Aktivisten waren aus seiner Schule hervorgegangen und ihm, soviel man sieht, aufrichtig zugetan. Der jahrelang einflußreichste Mann der deutschen Geschichtswissenschaft im

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Reich Adolf Hitlers, Walter Frank, der sich mit Nachdruck zu Müller als seinem einzigen Lehrer bekannte, mochte es sich wohl so vorgestellt haben: er selbst an der Spitze der „revolutionären“ jungen nationalsozialistischen Historie, aber sanktioniert und prestigemäßig abgesichert durch die Repräsentanten der „positiven“ Richtung der traditionellen Historikerschaft. Verschiedene gedruckt vorliegende Äußerungen Müllers erwecken den Eindruck, daß der Ältere diese Kombination akzeptiert hat. 1935 wurde Müller vom Reichs- und preußischen Minister für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung der Verdun-Preis für sein Buch „Deutsche Geschichte und deutscher Charakter“ verliehen. Im gleichen Jahr erfolgte die Ernennung zum Ehrenmitglied des Reichsinstituts für Geschichte des Neuen Deutschlands: 1936 wurde er dort überdies zum (nominellen) Abteilungsleiter bestellt. Ebenfalls 1935 übernahm er in Nachfolge Friedrich Meineckes die Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift und damit eine Schlüsselstellung innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft. Th. Schieder hat in einem Aufsatz „Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift“ die Phase der Zeitschrift unter Müllers Leitung analysiert und die Absichten des Herausgebers erläutert. Neuerdings hat H. Heiber in dem Buch „Walter Frank und sein Reichsinstitut für Geschichte des Neuen Deutschlands“ minutiös ausgeführt, wie und unter welchen Begleitumständen es zum Wechsel in der Herausgeberschaft der Historischen Zeitschrift gekommen ist, und weitere Beiträge zur Geschichte der Zeitschrift geleistet. In seinem Geleitwort zum 153. Band der Zeitschrift schrieb Müller: „Die deutsche Geschichtswissenschaft kommt nicht mit leeren Händen zum neuen deutschen Staat und seiner Jugend . . . Es ist ein verpflichtendes Erbe, welches die neue Jugend von ihr übernimmt, um es in einer neuen, tief umgewandelten Zeit erwerbend zu besitzen“. Das Studium der Bände von 1936 bis 1944 bestätigt, daß sich Müller an sein Programm, die Kluft zwischen den Generationen zu überbrücken, gehalten hat. Ausgangspunkt war für ihn allerdings die ihn im Jahre 1936 unstreitig erfüllende Auffassung, daß die neue, die junge Generation eine definitive Umwälzung hervorgebracht habe und ihr die Zukunft gehören werde. Als Konservativem und als Historiker von Geblüt lag ihm jedoch aufrichtig daran, nicht nur dieser Meinung Ausdruck zu geben, sondern auch die Verbindung zur (ihm gemäßen) Überlieferung nicht abreißen zu lassen. 1936 berief man Müller auf den Stuhl des Präsidenten der Bayerischen Akademie, den er bis 1944 innehatte. 1939 wurde ihm die Mitgliedschaft der österreichischen, 1942 die der preußischen Akademie der Wissenschaften zuteil. Nach 1945 sind gegen Müller nicht nur wegen zu großer Nachgiebigkeit gegenüber einzelnen Parteidienststellen, sondern auch deswegen Vorwürfe erhoben worden, weil er Ämter übernommen, die ihm nur auf Grund unvertretbarer Maßnahmen oder unerfreulicher Konstellationen der nationalsozialistischen Wissenschaftspolitik zugefallen seien und so mit dem Glanz seiner kultivierten Persönlichkeit dazu beigetragen habe, eine Fassade schönen Scheins vor einem System der Rechtlosigkeit und des Terrors zu errichten. Was den zweiten Teil dieser An-

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klagen betrifft, so würde es zu weit führen, hier das Problem der Kooperation in einem totalitären Regime zu diskutieren. Verschwiegen sei nicht, daß damals mancher froh darüber war, noch einen Mann an dieser oder jener Stelle zu wissen, von dem man nach wie vor Commonsense erwarten durfte, der zu vornehm war, um zu intrigieren, und von dem sich niemand einer rabiaten Handlungsweise zu versehen brauchte. Obschon Parteimitglied geworden, war Müller eben kein Parteimann und, wie schon erwähnt, er durfte gerade in seiner neuen Position eher als Vertreter der traditionell orientierten überwiegenden Mehrheit der deutschen Historikerschaft als der schmalen ideologisch nationalsozialistischen Gruppe gelten. Feinde und Benachteiligte des Regimes erlebten im Gespräch mit ihm wie eh und je eine kollegiale und aufgeschlossene Atmosphäre. Bayerische Geschichte hat Müller auch während der nationalsozialistischen Ära im akademischen Unterricht gepflegt, obwohl dies in der Weise, wie er sie betrieb, sicher nicht erwünscht war. Wer die Gabe der Unterscheidung besaß, brauchte nicht lange, um wahrzunehmen, daß Müller aus einer anderen Welt stammte, als es diejenige war, deren Repräsentanten damals dominierten. Aus dem Briefwechsel Friedrich Meineckes geht hervor, wie Müller in einer prekären Situation die Verbindung mit seinem Vorgänger in der Leitung der „Historischen Zeitschrift“ zu wahren wußte, und es trifft den Sachverhalt, wenn Meinecke Müller zum 60. Geburtstag 1942 schrieb: „Seit dreißig Jahren stehen Sie und ich in einem menschlichen und geistigen Kontakt, der nie gestört worden ist. Ich habe auch meine Ablösung durch Sie in der ,Historischen Zeitschrift‘ immer historisch verstanden als die Wirkung von Mächten, die über unsere Köpfe ihren Weg gingen – die Differenz unseres politischen Denkens kennen wir –, wer weiß, ob sie sich nicht wesentlich zu verringern anschickt. Aber was die Gemeinsamkeit unseres historischen Denkens und Empfindens betrifft, so kommt mir der Gedanke, daß wir mit mehreren anderen Ihrer und meiner Generation zusammen eine Gruppe Gleichstrebender bilden, die ihre angeborenen Anlagen in dieser und gerade in dieser Zeit – ich rechne sie als das letzte halbe Jahrhundert – auszubilden sich gedrängt fühlten“. Was seine Amtsführung betrifft, so ist Müller seinen Obliegenheiten weltmännisch und nach außen hin gelassen, häufig genug lässig, und mit einem ausgeprägten Sinn für Repräsentation nachgekommen. Im Formalen treten bei Müller gelegentlich beamtenhafte Züge hervor. Rückblickend schon auf seine Tätigkeit als Syndikus bemerkte er: „. . . Aber hier wirkte sich doch das väterliche und großväterliche Erbe aus: ich fühlte mich im Aktenwesen vom ersten Tag an wie der Fisch im Wasser . . .“. Inhaltlich läßt sich Müllers Stil der Handhabung von Dienstgeschäften am ehesten dadurch umschreiben, daß man ihn als das Gegenteil von Emsigkeit, Betriebsamkeit und efficiency bezeichnet. In seinem Auftreten beflissen oder auch nur eifrig hat ihn wohl keiner je gesehen. Wenn einzelne Reden oder Geleitworte dem zu widersprechen scheinen, so muß man auch in diesem Fall zwischen Phraseologie aus taktischen Gründen und der Wiedergabe der wahren Überzeugung unterscheiden. Jedenfalls wirkt vieles – nicht alles –, was er zwischen 1933 und 1945 aus offiziellem Anlaß sagte oder schrieb, klischeehafter und un-

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persönlicher als seine vorherigen und seine späteren Äußerungen. Müller war von jeher mehr auf Ausgleich bedacht, als daß er Entwicklungen ausgelöst und in Gang gebracht hätte. Entscheidungen ging er gern aus dem Wege. Abwarten und Treibenlassen entsprach seinem Naturell, und es lag in seiner Passivität wohl mindestens soviel Klugheit als Schwäche. Zumal unter den Gegebenheiten des HitlerReichs in seinem fortgeschrittenen Stadium konnte sich ein Mann vom Schlage Müllers, dem es nicht gegeben war, ein entschiedenes Nein zu sprechen, schließlich nur mehr auf das Temporisieren und das Einigeln verlegen. Als Randbemerkung sei schließlich die Beobachtung gestattet, daß er sich Würden und Funktionen nur so weit übertragen ließ, als er sie „unterm weiß-blauen Himmel“ wahrnehmen konnte. Eine Berufung nach Berlin im Jahre 1933 lehnte er ab, wie er schon dem ersten an ihn ergangenen Ruf (Technische Hochschule Karlsruhe) nicht entsprochen hatte. Er zählte nicht zu jenen abstrakten Begabungen, die sich beliebig verpflanzen lassen, sondern bedurfte zu seiner Entfaltung der herkömmlichen, gewohnten Atmosphäre. Müllers politisch-wissenschaftspolitischer Weg stellt mehr als einen Sonderfall, mehr als ein Einzelschicksal dar. Im Hinblick auf die nationalsozialistische Ära erscheint er uns paradigmatisch für die Geschicke eines großen Teils der nationalkonservativen oder auch (ursprünglich) nationalliberalen deutschen Intelligenz. Schon lange vor dem I. Weltkrieg hatten sich der im Sinne des 19. Jh.s klassische Typus des Konservativen wie der des Liberalen aufgelöst und die verschiedensten Schattierungen nationaler oder imperialistischer Gesinnung traten an ihre Stelle. Unter dem Eindruck von Krieg und Nachkrieg waren die Grenzen zwischen Rechtsradikalismus und gemäßigt Nationalen zuweilen ins Fließen geraten, und in dem Bündnis beider – wenn man so will, in der Harzburger Front – lag eine gewisse Folgerichtigkeit. Beide Gruppen bedienten sich eines ähnlichen Vokabulars, und dies verrät in der Regel Gemeinsamkeiten des Denkens. Gewiß – wer schärfer zusah, konnte bis zuletzt nach Bildung und Erziehung, Gesinnung und Verhalten die echten „Faschisten“ und ihre bürgerlichen Alliierten unterscheiden, auch wenn sich diese der Partei angeschlossen hatten. Moralisch trennte Hitler und seine Führungsclique auf der einen und diese Kreise auf der anderen Seite immer noch eine Welt. Vergegenwärtigt man sich etwa die natürliche Humanität und Liberalität eines Karl Alexander von Müller vor dem Hintergrund dessen, was seit 1933 geschah, so ergibt sich eine schreiende Diskrepanz. Und da Sinn für das Mögliche in der Politik nicht zuletzt mit Moral und Charakter zusammenhängen, bestand auch eine Kluft zwischen der Respektierung der traditionellen Staatskunst, wie sie die Nationalkonservativen vertraten und stets von neuem erhofften, und einer Politik des Abenteuers, die buchstäblich alles auf eine Karte setzte. Schließlich waren die Nationalkonservativen meilenweit entfernt von der Vorstellung, geschweige der Praxis eines perfektionierten totalitären Systems. Bei allen antisemitischen, rassischen, „germanischen“ Velleitäten malte sich auf der konservativen Rechten kaum jemand aus, was eintreten könnte, wenn mit solchen bei ihr ziemlich unverbindlichen Anwandlungen eines Tages blutiger Ernst gemacht würde. Alle diese

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Unterschiede sind festzuhalten und wohl zu beachten. Gemeinsam war indessen beiden, wenn man es auf einen Nenner bringen soll, daß sie die Aufgabe, eine im 20. Jh. zeitgemäße und vernünftige Gesellschaftsordnung herbeizuführen, verfehlten. Sie erkannten nicht, daß zu der freilich nicht zu umgehenden nationalen Selbstbehauptung das Bemühen um eine der Mündigkeit des Menschen angemessene, humane und freiheitliche, mit sozialer Aktivität noch keineswegs erschöpfte oder identische innere Ordnung treten mußte, die vor den Kriterien der Modernität im 20. Jh. bestehen konnte. Nicht als ob man ohne normale Macht- und Interessenpolitik ausgekommen wäre! Unter den Vorzeichen der zwanziger und dreißiger Jahre war der Gedanke der künftigen Wiedergewinnung einer europäischen Großmachtstellung Deutschlands durchaus diskutabel, und die Revision von Versailles bildete im Grundsatz ohnehin das außenpolitische Ziel jeder Regierung der Weimarer Republik. Auch soll hier nichts gegen den Konservativismus als solchen gesagt werden, der vielmehr stets ein notwendiger Bestandteil im Ensemble der politischen Kräfte ist. Allerdings muß sich der Konservativismus von Zeit zu Zeit korrigieren und anpassen, um nicht anachronistisch und hoffnungslos zu werden. Die Konservativen der Weimarer Republik fühlten zu einem nicht geringen Teil die Notwendigkeit einer solchen Anpassung und Wandlung; zum mindesten erkannte man, daß man allein zu schwach war, um zu behaupten, was man zu behaupten, und zu gewinnen, was man zu gewinnen wünschte. Nach einer Zeitspanne des Schwankens hatte die Mehrheit des deutschen nationalkonservativen Bürgertums die unumgängliche Neuorientierung nicht im Sinne der Mäßigung und nach der Mitte hin vollzogen, sondern mehr und mehr in Annäherung an das, was man zusammenfassend das „faschistische“ Experiment nennt. Weithin mißverstand man diese Annäherung als einen Durchbruch zum Zeitgemäßen und Neuen. Erschienen doch Faschismus und Nationalsozialismus in der konservativen Perspektive häufig als revolutionäre, besonders moderne, jugendliche, zukunftsvolle Größen: „Jugend, Jugend, Völkerfrühling!“ Wenn die einflußreichsten Führer der nicht nationalsozialistischen deutschen Rechten aus solcher Fehldeutung der politischen Zukunft zunächst die Unterstützung einer von Hasardeuren geführten Massenbewegung suchten und sich ihr schließlich unterstellten, so spielten bei dieser Entscheidung mittelbar und unmittelbar erhebliche gesellschaftliche und ökonomische Interessen mit. Anders bei der politisch interessierten, aber der praktischen Politik meist fernen Rechtsintelligenz, die überwiegend nur aus Gesinnungsmotiven handelte. Um es ganz einfach zu sagen: man hoffte, wieder zu einem starken, mächtigen Deutschland zu gelangen, und diesem Wunsch ordnete man alle anderen Überlegungen unter. Symptome dessen, was eben ausgeführt wurde, treten neben den individuell bedingten Zügen bei Müller hervor. Sowenig er dem Doktrinären gegenüber anfällig war, so wach war sein Sinn für die Entfaltung politischer Vitalität. Eine Bewegung, die sich schließlich als Fehlschlag und in ihrer ganzen Konzeption als falsch erweist, kann gleichwohl enorme politische Potenz an den Tag legen. Daß dies beim Nationalsozialismus der Fall war, wird man nicht bezweifeln, und daß der ganz und

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gar nicht robuste Müller sich von Kräften anziehen ließ, die, gerade weil seiner Wesensart konträr, von ihm als impetuose Naturgewalten empfunden und gedeutet wurden, ist keine Unbegreiflichkeit, sondern ein psychologisch bekannter Vorgang. In den positiven Stellungnahmen Müllers zum Nationalsozialismus tauchen nicht zufällig wiederholt und betont die Begriffe „Jugend“ und „Revolution“ auf. Der niemals im spezifischen Sinn des Wortes jugendbewegte Gelehrte stand einer Bewegung gegenüber, die ganz überwiegend von jungen und sehr jungen Männern geführt und getragen wurde und sich dementsprechend als politische Jugendbewegung gab. Und vom Machtästhetizismus angetan, reflektierte er über den revolutionären Schwung des Nationalsozialismus, wobei die Frage nach dem objektiv revolutionären oder pseudorevolutionären Charakter des Regimes außer Betracht bleiben kann. Es darf auch die Genugtuung nicht außer acht gelassen werden, die eine Revolution von rechts, die überdies die bestehende Gesellschaftsstruktur nicht wesentlich anzutasten schien, denjenigen bereiten konnte, die die Revolution von 1918 nur mit Widerwillen über sich hatten ergehen lassen. Müller, der jederzeit in der Lage war, den angefangenen Satz eines Gesprächspartners mit dessen eigenen Worten zu Ende zu führen, bewies im Verstehen und Nachempfinden stets eine seiner ausgeprägtesten Fähigkeiten. Mit dieser nicht ungefährlichen Gabe ausgerüstet, sah er sich 1933 dem Außerordentlichen und Irregulären konfrontiert. Zum Vermögen, sich in die Situation und das Denken anderer hineinzuversetzen, trat, wie schon im I. Weltkrieg, das literarisch-künstlerische Bedürfnis, beschreibend mitzugestalten, Stimmungen und das Atmosphärische festzuhalten und zu formulieren. Solche Stimmungen hat er 1914 noch jugendlich und unbekümmert mit einem Kleist-Zitat wiedergegeben: „In Staub mit allen Feinden Brandenburgs!“ Bei Ausbruch des II. Weltkriegs zitierte Müller, vielleicht schon mit einem Unterton von Fatalismus, Hegel: „Der Weltgeist hat das Commandowort zu avancieren gegeben; solchem Commando wird pariert“. Eine banale Interpretation wird hier möglicherweise opportunistische Akkomodation feststellen wollen und die übliche Reaktion auf das Bekanntwerden solcher Zitate ist heute – nicht unverständlicherweise – die der Entrüstung oder des Ridiculisierens. Die Gerechtigkeit, die der Historiker als Berufstugend jeder Vergangenheit und nicht zuletzt einem dahingegangenen Fachgenossen schuldet, gebietet jedoch festzustellen, daß das meiste für die subjektive Ehrlichkeit solcher Aussagen spricht. Müller wollte Empfindungen Ausdruck verleihen, die ihn – und nicht nur ihn allein – im Moment vermutlich tatsächlich erfüllten. Die Hingabe an die eben dominierende Stimmung entsprang bei Müller gewiß mehr seiner Mentalität als einem Kalkül. Das Bestreben, mit seiner Zeit in Übereinstimmung zu leben, war in ihm übermächtig; es bleibe dahingestellt, ob dies eher auf seine Kampfesunlust oder auf positiver zu wertende Antriebe zurückzuführen ist. – Keiner kann dem andern ins Herz sehen und die Motive des Handelns sind vielschichtig. Das Vorhandensein menschlich-allzumenschlicher Antriebe wird man grundsätzlich bei niemandem ausschließen. Aber deswegen braucht man noch nicht auf die Interpretation aus der Perspektive des bekannten Hegelschen Kammerdieners verfallen.

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Die Feier des sechzigsten Geburtstages Müllers im Münchener Künstlerhaus 1942, verbunden mit der Verleihung der Goethe-Medaille für Kunst und Wissenschaft, mochte nach außen hin einen Höhepunkt des Erfolges für den Gelehrten bedeuten, tatsächlich hatte sich jedoch seit geraumer Zeit der Horizont auch für ihn verdüstert, und bald darauf sah er sich in die Katastrophe mit hineingezogen. Schicksalsschläge familiärer Art und sein nicht unverschuldeter Sturz als Präsident der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1944 waren vorhergegangen. Müller hat dem zweiten Band seiner Lebenserinnerungen eine Briefstelle von Hofmannsthal vorausgeschickt: „Ich wußte immer, daß ich meiner ganzen Natur nach Erdbeben sehr schwer ertragen würde – aber was hilft das, man muß sie durchstehen“. Es dürfte dem äußerst sensiblen Mann in der Tat schwerer gefallen sein als manchem anderen, die Last der Ratlosigkeit und Ungewißheit zu ertragen, der Niedergeschlagenheit und des Entsetzens über das, was vorgefallen war. Müller erfuhr nach 1945 zahlreiche Beweise fortdauernder Verbundenheit von Freunden und Schülern, er fand die Kraft zu neuem Schaffen, und auch in seiner letzten Lebensphase sind ihm vielfältige Anerkennung, offizielle Ehrungen und ein von Herzlichkeit und Verehrung gleichermaßen geprägter Widerhall seiner Leser- und Hörergemeinde zuteil geworden. Es fehlte allerdings auch nicht an so oder so motivierter Distanzierung, an Vorwürfen, an versteckten und offenen Angriffen, an Bekundungen der Unversöhnlichkeit. Die Übergangsphase der Entfernung aus dem Beruf und die Beschäftigung in „niederer Arbeit“ sind auch ihm nicht erspart geblieben. Die Bayerische Akademie der Wissenschaften und die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften haben ihn nicht wieder unter ihre Mitglieder aufgenommen. Der Vf., der Müller in den letzten Kriegsjahren als Student näher kennengelernt hat, hatte den Eindruck, daß Müller alles in allem mehr unter den Widrigkeiten der letzten zwanzig Jahre seines Lebens gelitten, als er sich über die auch in dieser Periode in nicht geringem Maße bewiesene Loyalität eines bunt zusammengesetzten Kreises gefreut hat, der die Individualität des ungewöhnlichen Mannes zu schätzen wußte. Ihn, der von einem tiefen Bedürfnis nach Harmonie und Ordnung erfüllt war, der sich selbst als schwierig, verwöhnt, anspruchsvoll und unruhig charakterisiert hat, drückten die nicht vollständige äußere Rehabilitierung, innere Problematik seiner Situation und die Bitterkeit des Lebens insgemein. Um so mehr verdient Anerkennung, wie Müller, der es mit sich selbst nicht leicht hatte, in seinen beiden letzten Jahrzehnten die von innen und außen kommenden Bedrängnisse durch Leistungen seiner Feder niederzuringen wußte. Die erste Veröffentlichung, mit der er nach 1945 unter eigenem Namen wieder hervortrat, setzte die Reihe seiner historischen Essays fort. Sein „Danton“ (1949) ist kein Werk der Forschung sondern aufbauend auf Madelin, Lenôtre und Gaxotte, ein Beispiel jener Gattung, die der Autor lebenslang gepflegt hat; Schilderung, Charakterisierung, Deutung nunmehr in eins zusammengefaßt mit einem Blick, der, wie Müller sagt, „durch die geschichtlichen Erlebnisse unserer Gegenwart . . . bereichert und vielleicht auch freier geworden ist“. Als Gabe an seine Vaterstadt

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München anläßlich der 800-Jahr-Feier ihrer Gründung wollte Müller die Sammlung „Am Rande der Geschichte“ (1957) verstanden wissen, die gleich dem ihr vorhergehenden Band „Unterm weiß-blauen Himmel“ (1952) Kabinettstücke seines Talents enthält, geistreich ins Detail zu gehen, das Vergangene anschaulich zu machen und vom noch so geringfügigen Symptom aus die ganze Szenerie zu erhellen. Die Andacht zum Kleinen, das Bemühen um das Entlegene und scheinbar Nebensächliche, das Entdecken von Schönheiten und Merkwürdigkeiten gerade dort, wo der Blasierte und Voreingenommene nicht hinzublicken vermag, war einer der vornehmen und beglückenden Züge in der Physiognomie Müllers. In diesem Zusammenhang darf ein Hinweis auf das folkloristische Engagement Müllers nicht fehlen. An seinem Freundes- und Bekanntenkreis fällt der große Anteil von Männern auf, die bayerischer Volkstümlichkeit und Volkskunde teils wissenschaftlich, teils künstlerisch produktiv, teils als Liebhaber, teils beruflich zugetan und hingegeben waren: der aus politischen Gründen 1943 hingerichtete Philosoph und Musikwissenschaftler Kurt Huber, der insbesondere das bayerische Volkslied erforschte, der Volkssänger Kiem Pauli, der Zoologe und Mundartdichter Max Dingler, der Literaturkritiker und -interpret Josef Hofmiller oder dessen Vorgesetzter am Rosenheimer Gymnasium, Eduard Stemplinger, der Dichter des „Horaz in der Lederhosn“, der Lindauer Jurist Anselm Feuerbach oder der Bregenzer evangelische Pfarrer und Gründer eines Volkslied-Singkreises Helmut Pommer, um nur die wichtigsten Namen aus einer noch umfangreicheren Schar zu nennen. Müllers Neigung zu all dem, was man zusammenfassend Heimatkultur nennen könnte, spielt in seinem Leben eine ganz außerordentliche Rolle. Über seine „um 1930 beginnende Begegnung mit der Welt des baierisch-alpenländischen Volksliedes und die aus der gleichen Zeit stammenden Lebensfreundschaften mit dem Kiem Pauli und Kurt Huber“ hatte Müller im Rahmen seiner Autobiographie ein eigenes Kapitel geplant. Noch an seinem Lebensabend stand Müller, der stets eine Vorliebe für heimatliche Tracht und Kleidung bekundete, im Mittelpunkt eines um landschaftlich-volkstümliche Kultur bemühten Kreises, gab er die Heimatzeitschrift „Das Tegernseer Tal“ heraus. Eine Studie über Müllers Wirken auf diesem Gebiet, über seine Beziehungen zu literarischer und künstlerischer Folklore und ihrer wissenschaftlichen Pflege wäre erwünscht. Es mag durchaus sein, daß sich mit dieser Richtung des Geschmacks und der geistigen Teilhaberschaft bei Müller, wie bei manchem seiner Gesinnungsgenossen, ein Rückzug vor gewichtigeren und drängenderen Problemen der großstädtisch-technischen Zivilisation unseres Jahrhunderts verband. Auch ist es manchmal beklemmend zu sehen, in welchem Maße Müller, geistesgeschichtlich gesehen ganz und gar auf die romantische Linie festgelegt, gewisse Grundtatsachen der modernen Welt ignorierte, wie sehr er in Verstädterung und Industrialisierung nur negative Größen zu sehen vermochte. Gleichwohl ist der Hohn unangebracht, mit dem ignorante Meinungsmacher die Heimatkulturbewegung überschütten, die als kulturgeschichtliches wie als internationales Phänomen noch keineswegs ausreichend erforscht ist. Wenn irgendwo, wurde im Hause Müller und in seiner Umgebung

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der Beweis erbracht, daß auch die Betätigung des Folkloristischen mit begründetem Anspruch auf höchste Qualität erfolgen kann. Als Höhepunkt nicht nur der Altersphase Müllers, sondern seines gesamten Schaffens, möchte der Vf. dieses Nachrufs die Autobiographie des Gelehrten bezeichnen, von der 1951 der Band „Aus Gärten der Vergangenheit“ (1882 – 1914) und 1954 der Band „Mars und Venus“ (1914 – 1919) erschienen sind. Aus dem Nachlaß hat der Sohn O. A. von Müller 1966 den dritten Band „Im Wandel einer Welt“ herausgegeben, der die Erinnerungen Müllers an die Jahre 1919 – 1932 enthält. Ursprünglich gedachte Müller die Darstellung bis zum sogenannten RöhmPutsch und zum Tod Hindenburgs fortzuführen, aber Alter und Krankheit ließen ihn nicht mehr zum Abschluß des Manuskripts gelangen, das der Herausgeber unverändert und ungekürzt zum Druck gegeben hat. Es ist gewiß bedauerlich, daß man über die Phase von 1932 bis 1945 aus Müllers Sicht nichts mehr erfährt. Er hätte beispielsweise über die 1932 / 33 ein letztes Mal in Betracht gezogene und angestrebte Erhebung Kronprinz Rupprechts zum König und, wenn er sich hätte entschließen können, die Darstellung noch weiterzuführen, über die Geschichtswissenschaft und Wissenschaftspolitik von 1933 bis 1945 oder auch über den Alltag im Hitler-Reich vieles zu sagen gehabt. Immerhin dürfen wir uns freuen, über die ersten fünf Jahrzehnte dieses Lebens, seine Zeit und seine Umwelt unterrichtet zu sein. Müllers Autobiographie ist in erster Linie ein persönliches Dokument und ein literarisches Kunstwerk, literarisch freilich in einem dem Autor angemessenen und ihm zeitgemäßen Stil. Die Frage, ob dort auch der Historiker zu Wort und als Leser zu seinem Recht kommt, kann wohl nicht im Vordergrund stehen. Es müßte genügen, daß der Leser sich dem Werk öffnet und angeregt von dem, was ihm an Lebenswissen und Welterfahrung aus der privaten und der öffentlichen Sphäre dargeboten wird, sich zum Nachdenken bereitfindet und mit dem Autor in ein imaginäres Gespräch eintritt. Trotzdem soll der Gesichtspunkt des historischen „Ertrags“ nicht umgangen werden: der Nachruf erscheint in einer Fachzeitschrift, nicht in einem schöngeistigen Organ, und kein Historiker kommt darüber hinweg, sich über den Quellenwert von Biographie und Autobiographie Rechenschaft abzulegen. Wer Geschichte vorwiegend im Bereich der Haupt- und Staatsaktionen sucht, wird lediglich festzustellen haben, daß Müllers Leben wie das der meisten Historiker sich „am Rande der Geschichte“ abgespielt hat. Wer hingegen zum Verständnis der Geschichte den atmosphärischen Kontext und die Spiegelung der Ereignisse auch außerhalb des offiziellen Bereichs für unerläßlich ansieht, wer das Geschichtliche nicht nur als Folge von Handlungen und Entscheidungen, sondern nicht minder als einen geistig-gesellschaftlichen Prozeß auffaßt, dessen Entfaltung überall erfahren werden kann, und der daher den Begriff des Nebenschauplatzes kaum kennt, wer im Besonderen eines Gelehrten-, Schriftsteller- und Beamtenlebens das Allgemeine zu erkennen imstande ist, dem wird sich der Reichtum der drei Bände auch in der historischen Dimension erschließen. Die Erinnerungen Müllers vermitteln uns ein großartiges Panorama über fünfzig Jahre deutscher und bayerischer Geschichte mit ihren imponierenden Seiten und ihren Schwächen, insbesondere Geistes-, See-

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len- und Lebensgeschichte, dargebracht von einem religiösen, aber nicht klerikalen, bis zum äußersten toleranten und liberalen Konservativen. Freilich – es handelt sich um ein Panorama von einem spezifischen Münchener Blickpunkt und vom Standort einer akademisch-literarischen Oberschicht von gestern. Breite Schichten der Bevölkerung sind kaum in den Gesichtskreis Müllers getreten, weite Bezirke des öffentlichen Lebens sind ihm anscheinend fremd geblieben. Als akademischer Lehrer sah sich Müller bereits dem Massenbetrieb einer großen Universität gegenüber, der in München aus bekannten Gründen krasse Formen annehmen mußte. Abgesehen davon, daß die Universität zur Zeit von Müllers Amtstätigkeit und noch lange später institutionell und materiell nicht ausreichend ausgestattet war, um mit dem Ansturm der großen Zahlen fertig zu werden, war Müller auch nicht der Mann, dem es Freude gemacht hätte, einen perfektionistischen Lehrbetrieb, einen präzis funktionierenden Apparat aufzuziehen. Daß sich aus der Diskrepanz zwischen der Lebensart eines Individualisten und Bildungsaristokraten und der sich wandelnden gesellschaftlichen Struktur und Mentalität des Hochschulpublikums Schwierigkeiten auf didaktischem Gebiet ergaben, liegt auf der Hand. Müller war bei den Studenten wegen seiner Großzügigkeit, seines Entgegenkommens und seiner Freundlichkeit allgemein recht beliebt und verehrt. Wer mit historischem Sinn ausgerüstet und bildungsfreudig gestimmt seine Seminare besuchte, konnte einen anregenden akademischen Unterricht erleben. Diejenigen, die sich nur von bescheidenen Bildungs- aber um so handfesteren Ausbildungsbedürfnissen leiten ließen, kamen bei ihm weniger auf ihre Rechnung. Man konnte von ihm eher indirekt als direkt lernen, und es kam ihm wohl mehr auf Darbietung und Dialog an, als daß er Neigung verspürt hätte, andere Menschen zu belehren und zu bekehren. Sein Lebensprinzip der Unaufdringlichkeit bewahrte er nicht zuletzt in der Universität. Seinen Schülern im engeren Sinn – die Zahl der Doktoranden war bedenklich groß – hat er, der in allem der Gegentypus eines Schulmeisters gewesen ist, viel, wohl zuviel Freiheit gewährt. Im übrigen bedarf der Begriff des akademischen Schülers der Erläuterung. Es gibt Forscher, die den ihnen zugewandten akademischen Nachwuchs in der Handhabung bestimmter Methoden erziehen, ihm festumrissene Aufgaben stellen und seine Aufmerksamkeit auf Gegenstände richten, die sie bis zu einem gewissen Grade monopolisiert haben oder zu monopolisieren wünschen. Die Bezeichnung Schüler trifft in diesem Falle im Vollsinn zu; allerdings sollte man sich selbst bei dieser Schülerkategorie hüten, sie unbesehen und zeitlebens auf ihre Lehrer festzulegen. Der tüchtige Schüler wird eines Tages selber Meister. Müllers Schüler empfingen wertvolle Impulse und durften stets des Zuspruchs gewiß sein; strenge Lehre in der Werkstatt wurde ihnen nicht zuteil. Auch blieben sie, soweit sie die akademische Laufbahn einschlagen wollten, auf sich allein gestellt. Müller gehörte nicht zu denjenigen, die sich eine Schülerschaft als Gefolgschaft heranziehen, um dadurch die eigene Position zu stärken. „Zu dem, was man das Haupt einer akademischen Schule nennt“, schreibt Müller über sich selbst, „war ich meiner Natur nach nicht geschaffen“. Gleichwohl bildete sich, ohne daß von ihm eine Werbung ausgegangen wäre, ganz ungezwungen ein

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Kreis, angezogen von der stilvollen und fast jedermann wohltuenden Art Müllers, nicht durch Interessen, sondern aus Sympathie ihm und unter sich verbunden. Man scheut sich, das zerredete Wort Charme in den Mund zu nehmen. Könnte man es noch unbefangen anwenden, Müller hätte Anspruch darauf. Wo immer er sich befand, er verbreitete durch seine solide Eleganz und ein Ensemble ansprechender Verhaltensweisen Atmosphäre um sich. Müller, der, wie gesagt, durchaus Sinn für den meßbaren und vor der Welt verifizierbaren Lebenserfolg hatte, freute sich, wenn er von beruflichem Aufstieg seiner Schüler hörte, und es bereitete ihm hohe Genugtuung, daß nicht wenige unter ihnen Lehrstühle einnahmen. Die Lebenserinnerungen Müllers erlauben den Schluß, daß ihm pädagogischer Eros nicht fremd war; den Schülern selbst gegenüber trat dieser Zug jedoch wenig in Erscheinung. Freundliche Nüchternheit, gedämpfte Heiterkeit und Distanz bildeten unabdingbare Komponenten der spezifischen Kultiviertheit, die Müller charakterisierte. In dem Kreis um Müller gab es keine Jünger, keine Stilisierung nach dem Vorbild des Meisters; nichts wäre diesem unerwünschter gewesen. Jeder konnte und sollte bleiben, wie und was er war. Als Forscher und Darsteller der Geschichte ist Müller einer eigentümlichen, heute selten gewordenen, ja beinahe dahingeschwundenen Richtung zuzurechnen. Das Wechselverhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und politischer Publizistik wird zwar stets zu den Chancen und Versuchungen des neuzeitlichen Historikers und heute noch mehr des Politikwissenschaftlers gehören; daß sich die Inhalte gewandelt haben, ändert nichts an der strukturellen Kontinuität des Sachverhalts. Patriotische Publizistik bildete indessen nur den einen der Pole, zwischen denen Müllers Schaffen als Geschichtsschreiber oszillierte. Der andere war die Literatur, die Auffassung der Geschichtsschreibung als Kunst und Betätigungsfeld schriftstellerischen Talents. In diesen Bereich fällt die Entfaltung seiner Erzählergabe auch und gerade im Rahmen geschichtswissenschaftlicher Veröffentlichungen, seine Freude an der sprachlichen Nuancierung und der Komposition, die Pflege der essayistischen Form, die bei ihm ein hohes Maß an Vervollkommnung erreichte. Die Leidenschaft der Gestaltung überwog wohl die Lust an der Forschung. Innerhalb der beträchtlichen Variationsbreite der wissenschaftlichen Sprache von der mathematisch-naturwissenschaftlichen Formel bis zur literarisch ernst zu nehmenden Prosa hatte Müller seinen Platz gewählt, und er hat ihn glücklich behauptet. Während die politische Erziehungsaufgabe, die der Publizist auf sich nimmt, Müllers Wesensart nur bedingt entsprach, wirkte er überzeugend, sobald er sich in der „reinen“ Bildungssphäre bewegte. Ob er uns als Verfasser des „Landtagebuchs aus dem Isartal“ oder eines Vorworts zu Alexander Berrsches „Trösterin Musica“ begegnet, als Betreuer einer Edition der Werke Karl Stielers oder im Herausgeberkollegium der Literaturzeitschrift „Corona“, oder wenn die Schüler und Freunde noch in seinen letzten Lebensjahren – Ausklang lebenslangen Umgangs mit Lyrik und zahlreicher eigener Versuche auf diesem Gebiet – ein Gedicht als Neujahrsgruß empfingen – allen diesen Manifestationen eignet schöne Selbstverständlichkeit so sehr, daß sich der Eindruck des Dilettantischen nahezu verflüchtigt, ob-

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schon doch jede Bildung außerhalb der Kernzone fachlicher Kennerschaft aus edlem und bemühtem Dilettantismus besteht. Müller hat nie angestrebt, als Spezialist oder Experte zu gelten. Der Fachvertreter, der zum Fachmenschen wird, stellt das gegenteilige Extrem zu dem dar, was Müller vorschwebte und was er weitgehend zu verwirklichen vermochte: er wünschte die Rolle des schöpferischen und genießenden Kulturmenschen zu übernehmen, seine Persönlichkeit in der Bildungssphäre zu entfalten und ein wissenschaftlich wie musisch erhöhtes Dasein zu führen, das als solches für den kompliziert und verletzlich Veranlagten auch einen Schutzwall gegen die Unbilden der „niederen“ Wirklichkeit bilden sollte. Das Politische, das ihn auf das stärkste bewegte, hat er – wohl mehr oder minder unbewußt – in diese Sphäre einzubeziehen und so zu neutralisieren versucht; erst spät hat er den molochartigen Charakter der Politik seiner Zeit ganz durchschaut. Die Ichbezogenheit und das Selbstbewußtsein des Müllerschen Lebens gehen nicht zuletzt aus der Stellung hervor, die seiner Autobiographie im Gesamtwerk zukommt. Um die ihm gemäße Existenz zu sichern, bedurfte er eines weiten Spielraums und eines Klimas der Unbeengtheit. Die Art und Weise, wie er diesen ihm unentbehrlichen Freiheitsraum zu erhalten suchte, hat manchmal Schaden angerichtet und nicht wenige ihm an sich wohlgesinnte Menschen verärgert; zum mindesten hat man von Unbefangenheit in der Wahl der Mittel gesprochen. Die Geständnisse, die er in dieser Hinsicht im dritten Band seiner Lebenserinnerungen ablegt und der (absichtslos) auftauchende Hinweis auf verwandte Züge bei einem seiner Brüder lassen diese Dinge allerdings in einem anderen Licht erscheinen. Der erztolerante Mann darf, wie wir hoffen, nachträglich selber Nachsicht und Toleranz erwarten. Müller selbst wäre es nie eingefallen, für den Weg, den er für sich und zu sich beschritten hat, Vorbildlichkeit in Anspruch zu nehmen. Die Universität fordert vom Professor heute mehr als Müller ihr zu geben bereit gewesen war. Andererseits lassen uns die Schattenseiten des gegenwärtigen akademischen Großbetriebs, nicht zuletzt das Grassieren einer grotesk-hektischen Vielgeschäftigkeit, nicht ohne Sympathie auf ein Leben wie das Karl Alexander von Müllers blicken. Paul Fridolin Kehr rühmte an Müller mit Recht „eine gewisse souveräne Bonhomie, die allen den Gschaftlhubern gegen den Strich geht“. Niemand kann bezweifeln, daß sich auf der von Müller eingeschlagenen Bahn ein reich angelegtes Leben reich entfaltet hat. Er hat die Physiognomie des geistigen München seit dem I. Weltkrieg mitgeprägt, und er zählte zu den für seine Zeit repräsentativen Gelehrten konservativer Richtung. Will man die nicht geringe Wirkung verstehen, die er auf seine Zeitgenossen ausgeübt hat, so hat man weniger von dem Fachhistoriker und dem Publizisten Müller auszugehen – ein politischer Professor ist er faktisch nie gewesen –, sondern von seiner Gesamtpersönlichkeit. Dem Historiker ist es aufgegeben, nicht nur die Problematik einer Individualität zu analysieren, sondern auch Achtung vor der Individualität zu wahren und andere sie achten zu lehren. Dem Eindringen in die Individualität sind ohnehin Grenzen gesetzt, und wenn der Vf. versucht hat, die Persönlichkeit K. A. von Müllers von der

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einen oder anderen Seite zu beleuchten, so ist er sich der Unzulänglichkeiten seiner Interpretation bewußt. Auf jeden Fall betrachtet er es als einen Gewinn, diesem Manne begegnet zu sein, und er weiß sich darin einig mit einem großen Kreis von Schülern und Freunden des Verstorbenen.

II. Konfession

Vorüberlegungen zu einer Geschichte des politischen Protestantismus nach dem konfessionellen Zeitalter I. Zur Wort- und Begriffsgeschichte* Den Begriff „Politischer Protestantismus“ sucht man in Nachschlagewerken, auch solchen kirchlicher Provenienz, vergeblich. Dies ist indessen noch kein Beweis für die Nichtexistenz der dem Begriff zugrundeliegenden Sachverhalte. In der Publizistik kann man eher fündig werden. Alles in allem muß man sich jedoch mit sporadischen und ganz disparaten Belegen von höchst unterschiedlichem Bedeutungsgehalt zufriedengeben. Wir begegnen der Wendung 1818 in Großbritannien, wo eine Agitationsgruppe für die britische Wahlreform die Organisationsstruktur der Methodisten übernahm und sich deswegen, aber auch aus Bewunderung für die Dynamik des reformatorischen Durchbruchs im 16. Jahrhundert, „Political Protestants“ nannte1. Anderswo hatte man es mit einer Prägung pejorativen Charakters zu tun. Auf dem europäischen Kontinent läßt sich „politischer Protestantismus“, wie es scheint, zuerst in der konfessionellen Polemik des Vormärz nachweisen. Wie damals das katholische Denken den Bruch der kirchlichen Einheit primär auf Reformation und Protestantismus zurückführte, so sah es in der französischen Revolution die definitive Auflösung einer „christlichen Gesellschaft“. Die Französische Revolution als Folge und politische Wiederholung der religiösen Reformation oder auch umgekehrt Protestantismus als ein durch die Revolution politisch am ehesten zu interpretierendes Prinzip – dieser Gedankengang ist der Romantik und der Restauration geläufig, auch der protestantischen Romantik, wie man den Schriften von Novalis entnehmen kann. Novalis identifizierte Demokratie und Protestantismus, und das revolutionäre Frankreich verfocht in seinen Augen einen „weltlichen Protestantismus“2. Es ging wohl auf die romantische Tradition zurück, * In einem Züricher Vortrag unternahm ich 1969 einen ersten Anlauf, um Fragen in den Griff zu bekommen, die sich bei der Beschäftigung mit der Geschichte des politischen Protestantismus stellen. Von der damaligen Konzeption ist nur wenig übriggeblieben. Mit dem vorliegenden Vortrag, der in gekürzter Form gehalten wurde, hoffe ich, ein Stück weitergekommen zu sein. Für klärende Gespräche über den politischen Charakter des nordamerikanischen Protestantismus und diesbezügliche Literaturangaben bin ich dem münsterschen Kirchenhistoriker Robert C. Walton zu Dank verpflichtet. Auch meinem münsterschen Kollegen K.-G. Faber möchte ich für Hinweise danken. 1 Robert F. Wearmouth, Methodism and the Working Class Movements of England 1800 – 1850, Lndn. 1937, 88 ff.

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wenn selbst der die Reformation positiv beurteilende Leopold v. Ranke das Paktieren Franz I. von Frankreich mit den Türken als Bruch des „Systems der lateinischen Christenheit“ auslegte und dem Herrscher daher einen „militärisch-politischen Protestantismus“ unterstellte3. Als Synonym für Demokratie im Sinn der Ideen von 1789 tauchte 1843 in einem kämpferischen katholischen Organ, den Münchener „Historisch-Politischen Blättern“ – gewiß nicht erstmals – „Politischer Protestantismus“ auf4, ein Beitrag zu der bekannten, seinerzeit weit verbreiteten und hier nicht weiter zu diskutierenden Vorstellung, daß die Reformatoren die Großväter der Jakobiner gewesen seien. Es lag nahe, daß der solchermaßen eingeengte und stigmatisierte Begriff „Politischer Protestantismus“ von der Gegenseite aufgegriffen und ins Positive gewendet wurde. Das linke „Bildungsbuch“ des Vormärz, Rotteck-Welckers Staatslexikon, gewiß keine konfessionell evangelische, sondern eine antiklerikale und linksliberale Enzyklopädie mit einem protestantischen und einem katholischen Herausgeber, kannte im umliegenden Wortfeld immerhin den Begriff „Politische Reformation“ und verstand darunter, reichlich oberflächlich, Republikanismus, während man den Katholizismus als monarchisch abstempelte (1840)5. Weitaus häufiger als auf „Politischer Protestantismus“ stößt man in der Publizistik des 19. Jahrhunderts auf die von Hegel stammende Wendung „Protestantisches Prinzip“, und zwar schon bevor der Staatsrechtslehrer und Staatsphilosoph Friedrich Julius Stahl 1853 seine Schrift unter diesem Titel veröffentlichte6. Vom „Protestantischen Prinzip“ ist häufig im Vormärz7 und noch im letzten Drittel des 2 Novalis, Fragmente (Hg. Kamnitzer), Dresden 1929, 493 f. und 709, und ders., Schriften II (Hg. Minor), Jena 1907, 27 und 36 f. 3 Leopold von Ranke, Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation (Hg. P. Joachimsen), München 1925, 29. 4 Historisch-Politische Blätter für das katholische Deutschland (Hg. G. Phillips u. G. Goerres), München 11 (1843), 95. In einem Brief des bayerischen Diplomaten J. F. A. v. Olry taucht die Wendung „politischer Protestantismus“ in diesem Sinne bereits 1822 auf (Heribert Raab, Johann Franz Anton v. Olry und Karl Ludwig v. Haller. Ein Beitrag zur Geschichte der Restauration, in: Festschr. f. Max Spindler zum 75. Geburtstag, Mchn. 1969, 698). 5 Carl v. Rotteck, Artikel Monarchie, in: Staatslexikon (Hg. Rotteck u. Welcker) X, Altona 1840, 665. Ernst Moritz Arndt, Geist der Zeit IV, 1818, 271 f. sprach abschätzig von „politischem Mystizismus“, „politischem Pietismus“ und „politischem Puritanismus“. 6 Georg W. F. Hegel, Die Vernunft in der Geschichte. Einleitung in die Philosophie der Weltgeschichte (Hg. G. Lasson), Leipzig 1917, 103. – Friedrich Julius Stahl, Der Protestantismus als politisches Prinzip, Bln. 1853. 7 Das „Prinzip der Reformation“ nahmen als Losung der deutschen Linken in Anspruch Theodor Echtermeyer und Arnold Ruge, Der Protestantismus und die Romantik. Zur Verständigung über die Zeit und ihre Gegensätze. Ein Manifest, in: Hallische Jahrbücher, Jg. 2, Lpzg. 1839 / 40, 245 ff. Vgl. ferner Theodor Rohmer, Deutschlands Beruf in der Gegenwart und Zukunft, Zürich / Winterthur 1841, 44, sowie das Schlußkapitel „Der Protestantismus als politisches Prin-

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19. Jahrhunderts8 zu hören. Der Inhalt dessen, was man darunter verstehen sollte, variierte allerdings beträchtlich und spiegelte die ganze Bandbreite nichttheologischer Interpretationen des Protestantismus, von der Identifizierung mit Individualismus und politischer Freiheit über die Vorstellung eines konstitutionellen Mittelwegs zwischen Demokratie und Autokratie9 bis zu konservativen Angeboten im Sinne Stahls. Möglicherweise war es zunehmende protestantische Selbstkritik, die dem überaus willkürlichen Umgang mit dieser Wendung ein Ende gesetzt hat. Nach der Wende zum 20. Jahrhundert taucht „Protestantisches Prinzip“ nur mehr selten auf10. Dafür hört man seit der Mitte des 20. Jahrhunderts wieder häufiger vom „Politischen Protestantismus“11, aber keine Rede, daß man schon einen Konsensus über den Inhalt gefunden, daß sich eine Bedeutungsdominante herauskristallisiert hätte. Terminologisch wie sachlich ist nichts festgelegt und alles offen.

zip“ bei Karl Bernhard Hundeshagen, Der deutsche Protestantismus. Seine Vergangenheit und seine heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesamten nationalen Entwicklung beleuchtet von einem deutschen Theologen, Ffm. 1847. Zu Hundeshagen vgl. Thomas Nipperdey, Carl Bernhard Hundeshagen. Ein Beitrag zum Verhältnis von Geschichtsschreibung, Theologie und Politik im Vormärz, in: Festschrift für Hermann Heimpel I, Gött. 1971, 368 – 409. 8 Vgl. Michael Baumgarten, Der Protestantismus als politisches Prinzip im Deutschen Reich, Berlin 1872; Konstantin Roessler, Das Deutsche Reich und die kirchliche Frage, Lpzg. 1876, 362; Constantin Frantz, Die Wiederherstellung Deutschlands, Bln. 1865, 442 und ders., Die Weltpolitik unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland III, Chemnitz 1882, 164: „Etwas weit anderes als die protestantischen Landeskirchen ist der durch die Reformation tatsächlich erweckte und entbundene protestantische Geist, der ebenso über die Jahrhunderte wie über die Länder frei hinwegzieht, sich dadurch erst recht als ein universales Prinzip erweisend. Dieser Geist ist es, wodurch der Protestantismus, trotz seiner partikularistischen Landeskirchen, zu einem großen Weltprinzip geworden ist, und in Kraft dessen eben die protestantische Welt die katholische überflügelt hat“. 9 Diese Auffassung geht im Prinzip auf Hegel zurück; vgl. Reinhart Maurer, Hegels politischer Protestantismus, in: Der Staat 10 (1971), 446 f. Konkretisiert wurde der Gedanke bei Moritz August v. Bethmann Hollweg; vgl. Fritz Fischer, Moritz August v. Bethmann Hollweg und der Protestantismus, Bln. 1937, 229 – 233. 10 Paul Tillich, Protestantisches Prinzip und proletarische Situation, Bonn 1931. 11 Vgl. Heinz Gollwitzer, Graf Carl Giech 1795 – 1863. Eine Studie zur politischen Geschichte des fränkischen Protestantismus in Bayern, in: Zschr. f. Bayer. Landesgeschichte 24 (1961), 102 – 162; Herbert Christ, Der politische Protestantismus in der Weimarer Republik, Bonn 1967; Lutz Winkler, Martin Luther als Bürger und Patriot. Das Reformationsjubiläum von 1817 und der politische Protestantismus des Wartburgfestes, Lübeck / Hbg. 1969; Reinhart Maurer, a. a. O.; Robert M. Bigler, The Rise of Political Protestantism in Nineteenth Century Germany etc., in: Church History 34 (1965), 423 – 444; Friedrich Wilhelm Kantzenbach, Politischer Protestantismus, in: ders., Christentum in der Gesellschaft. Grundlinien der Kirchengeschichte. Reformation und Neuzeit, Hdlbg. 1976, 296 – 322.

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II. Definitionsversuche Bevor wir eine Begriffsbestimmung zur Diskussion stellen, eine Erläuterung zu unserem Ansatz „nach dem konfessionellen Zeitalter“. Der Ausdruck stammt von Ernst Troeltsch. In seiner Schrift „Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt“ heißt es: „Das 16. und 17. Jahrhundert sind nicht mehr Mittelalter, aber sie sind auch nicht Neuzeit; sie sind das konfessionelle Zeitalter der europäischen Geschichte . . .“12. Was bei Troeltsch kulturgeschichtlich gemeint war, wird im folgenden auf die politische Ebene übertragen. Daß im Zeitalter von Reformation und Gegenreformation bzw. katholischer Reform politischer Protestantismus und politischer Katholizismus die Szene beherrschten, versteht sich von selbst. Wir beschäftigen uns nun mit dem politischen Protestantismus nicht in der Phase seiner Selbstverständlichkeit, sondern da, wo er als Politikum fragwürdig geworden ist und mehr und mehr eine neue Qualität gewinnt. Schon bevor die Aufklärung die geistige, aber auch die gesellschaftliche Welt säkularisiert hat, läßt sich spätestens seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ein unaufhaltsames Vordringen nicht mehr konfessionell gebundener Politik beobachten. Ein schwedischer Kirchenhistoriker spricht von der „Auflösung des konfessionspolitischen Zeitalters 1656 – 1660“13. Wir sind der Meinung, daß es sich bei diesem Auflösungsprozeß um einen Vorgang von ungleich längerer Dauer handelte. Aber wer sich historisch überhaupt artikulieren will, muß periodisieren, und wer periodisieren will, benötigt chronologische Zäsuren. In diesem Sinne wählen wir, sachlich und zeitlich nicht weit von dem schwedischen Gelehrten entfernt, den westfälischen Frieden 1648 und die Stuart-Restauration 1660 als ungefähre Anhaltspunkte für das Ende des konfessionellen Zeitalters. Der Friede von Münster und Osnabrück regelte die konfessionellen Verhältnisse im Reich, die Stuart-Restauration setzte den unter Cromwell noch kräftigen Tendenzen ein Ende, eine protestantische Weltpolitik im Sinne der Aufteilung der überseeischen Besitzungen unter Briten und Niederländer14 und eine politisch-protestantische Unionspolitik über ganz Europa hinweg15 zu betreiben. Mehr als einen chronologischen Notbehelf bedeutet allerdings auch diese Zäsur nicht, und wir möchten grundsätzlich nur solchen Periodisierungsversuchen das Wort reden, die durch Einsicht in die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen sensibilisiert sind. Wie es mitten im konfessionellen Zeitalter ausgesprochen säkulare Politik gegeben hat, so bedurfte es andererseits rund eines Jahrhunderts, um den politischen Protestantismus auch nur aus der Zone der Haupt- und Staatsaktionen zu entfernen. Ausläufer des konfessionellen 12 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt, Aalen 1963, 46 (erstmals erschienen 1911). 13 Sven Göransson, Den Europeiska Konfessionspolitikens Upplösing 1654 – 1660, Uppsala / Wiesbaden 1956. 14 Vgl. Samuel R. Gardiner, History of the Commonwealth and Protectorate II, Lndn. 1897, 349 ff., und Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens I, Gött. 1972, 150 – 153. 15 Vgl. Göransson, a. a. O., passim.

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Zeitalters sind bis in unsere Zeit festzustellen. Der Historiker hat zu zeigen, wie sie sich modernisiert haben und direkt oder indirekt politisch qualifizierten. Wenn wir den Begriff „politischer Protestantismus“ für geschichtswissenschaftliche Arbeit operationabel machen wollen, bedarf es nicht nur des Hinweises, daß wir unsere Aufgabe als Profanhistoriker, nicht als Kirchenhistoriker in Angriff nehmen, sondern auch noch einiger Abgrenzungen. Unser Gegenstand ist nicht identisch mit dem primär rechts- und verfassungsgeschichtlichen Komplex Staat und Kirche. Er ist kein Synonym für Kirchenpolitik, sei es Kirchenpolitik des Staates, sei es kirchlicher Gruppen untereinander, sei es kirchlicher Führungsorgane. Technischer, nicht sachlicher Art ist unser Verzicht auf eine Behandlung der politischen Seite protestantischer Missionen in nichtchristlichen Ländern16. Wir sind überzeugt, daß eine künftige Geschichtsschreibung der afro-asiatischen Welt den politischen Konsequenzen der christlichen Mission intensive Beachtung zukommen lassen wird. Die einschlägigen Tatbestände sind jedoch von solcher Weitläufigkeit, daß wir sie zugunsten der für Europa und die USA auftauchenden Fragestellungen ausklammern möchten. Schließlich geht es uns nicht um die Wirkungsgeschichte kirchlicher Lehren in der Politik. Bei alledem handelt es sich freilich mehr um eine Gewichtsverlagerung als um fröhliches Ballastabwerfen. Faktisch kommt Geschichtsschreibung des politischen Protestantismus selbstverständlich nicht ohne intensive Beschäftigung mit dem Verhältnis von Staat und Kirche aus, mit der Kirchenpolitik und mit den staats- und gesellschaftspolitischen Lehren und Anschauungen protestantischer Herkunft. Überdies wäre sie auch als dezidiert profane Wissenschaft verloren ohne die Arbeit der Kirchenhistoriker. Kirchengeschichte – genauer gesagt: Konfessionsgeschichte – bleibt auch für sie das bevorzugte Beobachtungsfeld, aber die Gesichtspunkte und die Beurteilungsmaßstäbe sind profaner und politischer Art. Wenn wir nun unser Verständnis einer Geschichte des politischen Protestantismus positiv umschreiben, können wir diesen nur als Phänomen der politischen Sozialgeschichte interpretieren. Politische und sozialgeschichtliche Aspekte lassen sich bei unserem Gegenstand nicht trennen. Zwei so wichtige protestantische Eliten wie die „Banque Protestante de France“17 oder das nordamerikanische WASPPhänomen18 sind an sich gewiß Erscheinungen der Gesellschaftsgeschichte, aber ihre politischen Implikationen sind offenkundig. 16 Vgl. Karl Hammer, Weltmission und Kolonialismus. Sendungsideen des 19. Jahrhunderts im Konflikt, Mchn. 1978. Eine vorzügliche Einführung in die Gesamtproblematik bietet die noch ungedruckte Habilitationsschrift von Horst Gründer, Christliche Mission und deutscher Imperialismus. Eine politische Geschichte ihrer Beziehungen während der deutschen Kolonialzeit (1884 – 1914) unter besonderer Berücksichtigung Afrikas und Chinas (Münster 1981). 17 So formuliert im Anschluß an Herbert Lüthy, La Banque Protestante en France de la révocation de l’Édit de Nantes à la Révolution, 2 Bde., Paris 1959 / 1961. 18 Vgl. Edward D. Baltzell, The Protestant Establishment. Aristocracy and caste in America, NY. 1964.

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Unser Ausgangspunkt ist eine nach vielen Millionen zählende protestantische Gesellschaft, über Jahrhunderte hinweg, wie die katholische Welt auch, durch mehr oder minder exklusives Konnubium verfestigt, trotz der Aufsplitterung in zahlreiche Konfessionen oder nationale Gruppen und trotz schwerwiegender innerer Rivalitäten von einem gewissen Zusammengehörigkeitsgefühl erfüllt, beruhend auf gemeinsamer Erziehung und Bildung sowie der Internalisierung historischer und aktueller Erfahrungen. Schon das Vorhandensein protestantischer Bevölkerungen als solches ist ein Politikum, an dem sich alle Gruppenmerkmale und sozialpsychologischen Charakteristiken von Überzeugungs- und Schicksalsgemeinschaften feststellen lassen: das „Wir“-Gefühl gegenüber anderen, die Ausbildung von FreundFeind-Verhältnissen, das je nach der Situation unterschiedliche Bedürfnis nach Selbstbehauptung, Anpassung, Expansion. Besondere Aufmerksamkeit verdienen in diesem Zusammenhang das Zustandekommen einer konfessionell orientierten politischen Kultur oder immerhin Subkultur, der Beitrag des politischen Protestantismus zur nationalen Identität seiner Vaterländer und sein Anteil an internationalen Bewegungen emanzipatorischer und pazifistischer Art oder auch an den gegenteiligen Bestrebungen. Die konfessionelle Komponente der Politik ist, namentlich was den Protestantismus betrifft, weithin verdeckt. Es sollte gelingen, sie sichtbar zu machen, ohne sie zu isolieren und ohne die wechselnden Relationen des politischen Protestantismus zu anderen universalgeschichtlichen Faktoren zu übersehen. Vorbildliches ist auf diesem Gebiet und in dieser Richtung von der britischen und nordamerikanischen Protestantismusforschung geleistet worden19, deren Anregungen wir Dank schulden. Im folgenden erörtern wir unterschiedliche Methoden des Zugangs zu unserem Gegenstand und versuchen ihn gleichzeitig etwas mehr zu konkretisieren. 19 Aus einer großen Anzahl von einschlägigen Veröffentlichungen heben wir die folgenden als für unser Thema besonders ergiebig hervor. Britische Autoren: Anthony Armstrong, The Church of England, the Methodists and Society 1700 – 1850, Lndn. 1973; Ernest M. Howse, Saints in Politics. The „Clapham Sect“ and the Growth of Freedom, Lndn. 21960; Daniel Jenkins, The British. Their Identity and their Religion, Lndn. 1975; George I. T. Machin, Politics and Churches in Great Britain 1832 – 1868, Oxford 1977; Edward R. Norman, Church and Society in England 1770 – 1970. A Historical Study, Oxford 1977. Nordamerikanische Autoren: Sidney E. Ahlstrom, A Religious History of the American People, New Haven 1972; Charles H. Anderson, White Protestant Americans: From National Origins to Religious Groups, Englewood Cliffs, NJ. 1970; Baltzell, a. a. O.; Raymond G. Cowherd, The Politics of English Dissent. The Religious Aspects of Liberal and Humanitarian Reform Movements from 1815 – 1848, NY. 1956; Winthrop S. Hudson, American Protestantism, Chicago 1961; ders., Nationalism and Religion in America: Concepts of American Identity and Mission, NY. 1970; Conrad Sherry, God’s New Israel: Religious Interpretations of American Destiny, NY. 1971; Martin E. Marty, Righteous Empire: The Protestant Experience in America, NY. 1970; Edwin S. Gaustad, A Religious History of America, NY. 1966; Alan Heimert, Religion and the American Mind. From the Great Awakening to the Revolution, Cambridge (Mass.) 21968.

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III. Analogien zum politischen Katholizismus? Es bietet sich zunächst der Weg an, analog Untersuchungen zu verfahren, die über politischen Katholizismus angestellt worden sind. Der Begriff „Politischer Katholizismus“ – im übrigen ebenfalls ein noch nicht alter Terminus – ist im Gegensatz zu „Politischer Protestantismus“ sozusagen etabliert und in Nachschlagewerken greifbar20. Man versteht darunter einmal alle politischen Aktivitäten, die von der Kurie oder von Episkopaten und dem Klerus im Verein mit katholischen Laien ausgehen, zum anderen eindeutig an den Belangen der römisch-katholischen Kirche orientiertes politisches Parteiwesen und drittens den sogenannten Verbandskatholizismus. Ein Vergleich der politisch-gesellschaftlichen Sphären von Protestantismus und Katholizismus ergibt eine auffallende Strukturverschiedenheit und nötigt zu dem Schluß, daß man politischen Protestantismus nur mit Zurückhaltung unter Gesichtspunkten behandeln kann, die beim politischen Katholizismus durchaus ergiebig sind: a) Der Katholizismus als institutionalisierte Kirche – den Ausdruck Amtskirche meiden wir, da er in den Massenmedien seit längerem einen pejorativen Beigeschmack angenommen hat – verfügt mit der Kurie über einen politischen Mittelpunkt und mit der päpstlichen Diplomatie über einen Apparat, dem der Protestantismus nichts ähnliches gegenüberzustellen hat. Desgleichen besitzt die Organisation der römisch-katholischen Weltkirche politische Qualitäten, die nur ihr allein zukommen. b) Es gibt oder gab zwar als solche etikettierte protestantische politische Parteien in den drei skandinavischen Staaten, in den Niederlanden, in Nordirland, im Deutschen Reich, im Baltikum, in der Schweiz21. Ausgenommen die wichtige und 20 Vgl. Brockhaus-Encyclopädie Bd. 14, Wiesbaden 1972, 748. Von katholischen Historikern hat anscheinend Franz Schnabel in seiner Dissertation „Der Zusammenschluß des politischen Katholizismus in Deutschland im Jahre 1848“ (Hdlbg. 1910) den Terminus, der ohne Zweifel aus der Polemik des 19. Jahrhunderts stammt, zum ersten Mal wertneutral verwendet. Inzwischen ist es unter katholischen Historikern gang und gäbe geworden, mit der Wendung zu operieren. 21 Zu den evangelischen Parteien im Deutschen Reich vgl. Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich-soziale Bewegung, Berlin 1928 (2. Aufl. 1935); Walter Braun, Evangelische Parteien in historischer Darstellung und sozialwissenschaftlicher Beleuchtung, Mannheim 1939 (ebda. 168 – 189 über evang. Parteien in den Niederlanden und der Schweiz); Günter Opitz, Der Christlich-Soziale Volksdienst. Versuch einer protestantischen Partei in der Weimarer Republik, Düss. 1969 (ebda. 19 – 26: Überblick über „Evangelische Parteien in Europa“). Ferner: Jacob A. de Wilde u. Christiaan Smenk, Het volk ten baat. Geschiedenis van de Anti-Revolutionaire Parteij, Groningen 1949; Isaac Lipschits, De Protestants-Christlijke stroming tot 1940, Deventer 1977; Alfred R. Ziegler, Die evangelisch-sozialen Bewegungen der Schweiz, Zürich 1939; Hermann Bächtold, Gesammelte Schriften (Hg. E. Vischer), Aarau 1939, 434 – 452; Henry Valen und Daniel Katz, Political Parties in Norway. A Community

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einflußreiche Antirevolutionäre Partei der Niederlande, die sich aber kürzlich mit der Katholischen Volkspartei zusammengetan hat, war und ist die Bedeutung dieser konfessionell-protestantischen Parteien, verglichen mit dem Zentrum und den anderen großen katholischen Volksparteien in Europa oder Lateinamerika, sehr gering. Allerdings lassen sich vor der Mitte des 20. Jahrhunderts einflußreiche politische Parteien anführen, denen man unter anderem einen konservativ-protestantischen oder liberal-protestantischen Charakter zuschreiben darf. Aber der konfessionelle Einschlag bei diesen Gruppierungen tritt doch stärker zurück, seine Daseinsäußerungen sind schwächer und eher indirekter Natur. Sehr zutreffend hat in diesem Zusammenhang der konservative Soziologe W. H. Riehl Mitte des 19. Jahrhunderts bemerkt: „Der Protestantismus scheute sich als politische Macht aufzutreten. Trotzdem entwickelte sich eine politische Macht aus demselben“22. c) Dem Verbandskatholizismus steht ein ebenfalls mächtiger Verbandsprotestantismus gegenüber. Der Typus der konfessionspolitischen Pressure Group ist auch protestantischerseits in den Englisch sprechenden Ländern wie auf dem europäischen Kontinent voll ausgeprägt23, weniger jedoch die Gattung der Berufs- und Standesorganisationen auf konfessioneller Grundlage. Christliche Gewerkschaften waren primär katholische Gewerkschaften, katholische Akademikerverbände übertreffen die Potenz ihrer protestantischen Pendants, und schließlich sind Organisationen von der Art des Volksvereins für das katholische Deutschland, der Katholischen Aktion oder des Opus Dei im protestantischen Bereich schlechterdings nicht vorhanden. Umgekehrt waren Vereinigungen wie die Evangelische Allianz (gegr. 1846) oder der YMCA (gegr. 1844) typische Gründungen eines protestantischen Internationalismus angelsächsischer Provenienz und nicht ohne politischen Akzent. Auf einer anderen Ebene erwies sich die Verbindung von konfessionellem Anliegen und Deutschtumsinteresse beim Gustav-Adolf-Verein als charakteristisch protestantische Kombination24, obschon jüngere katholische Parallelorganisationen existierten25. Study, Oslo 1964, 27; Fritz Stricker, Die politischen Parteien der Staaten des Erdballs, Münster 1923, 91 f. und 101 f. 22 Wilhelm H. Riehl, Land und Leute, Stgt. und Bln. 1854, 296. 23 Zu britischen und nordamerikanischen Assoziationen zur Wahrung protestantischer Interessen vgl. Machin, a. a. O., 92 ff. und 190 f.; Ray A. Billington, The Protestand Crusade 1800 – 1860, NY. 1938; Donald L. Kinzer, An Episode in Anti-Catholicism: The American Protective Association, Seattle 1964. Ob (allenfalls) vergleichbare deutsche Organisationen wie der Protestantenverein oder der Evangelische Bund an britische oder amerikanische Vorbilder anknüpften, wäre zu untersuchen. Protestantenverein und Evangelischer Bund haben ihrerseits in evangelischen Gebieten Europas außerhalb des deutschen Reichs Parallelorganisationen aufzuweisen, z. B. in Ungarn oder den Niederlanden. 24 Der Gustav-Adolf-Verein hat zwar auch nichtdeutsche protestantische Gemeinschaften unterstützt (vgl. Paul Kalweit, Der evangelisch-kirchliche Geist im Werk des Gustav-AdolfVereins, in: Evangelische Diaspora und Gustav-Adolf-Verein (Hg. Bruno Geißler), Lpzg. 1930, 199), doch stand die deutsche Diaspora für ihn stets im Vordergrund. Es war während der ersten Jahrzehnte des Vereins gemeinsame Überzeugung seiner Angehörigen, daß die Gu-

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Zu diesen Strukturverschiedenheiten treten Unterschiede in der politischen Zielsetzung und in den Mitteln, sie zu erreichen. Der heuristische Gewinn eines Vergleichs zwischen politischem Protestantismus und politischem Katholizismus ist nicht zu bestreiten, aber ein Analogieverfahren empfiehlt sich kaum.

IV. Gliederung nach protestantischen Konfessionen, nach Nationen und Staaten Geht man die protestantischen Konfessionen und Kirchen unmittelbar an und befragt sie nach ihrem politischen Gehalt, kann dies nicht heißen, daß es möglich wäre, sie unbesehen und insgesamt für das Phänomen des politischen Protestantismus zu vereinnahmen. Sie führen eine spezifisch kirchengeschichtliche Existenz, die sich u. a. mit organisationsgeschichtlichen, frömmigkeitsgeschichtlichen und theologiegeschichtlichen Kategorien umschreiben läßt. Diese Existenz ist gewiß nicht unpolitisch, aber ihre politischen Bezüge sind indirekter und gelegentlicher Art. Eine Verfolgungssituation protestantischer Gruppen z. B. aktualisiert stets die latenten Freund-Feind-Verhältnisse und führt zu unmittelbarer Politisierung. Man hat auf dem Weg ideengeschichtlicher und konfessionssoziologischer Methoden versucht, die gesellschaftliche und politische Physiognomie des Luthertums, des Kalvinismus, des Anglikanismus, des angelsächsischen Nonkonformismus und anderer Gruppen zu erarbeiten26. Wissenschaftsgeschichtlich ist zu bemerken, daß wir es bei diesen Forschungsrichtungen mit Einsichten nicht erst unserer Tage zu tun haben. Erste Ansätze finden sich bereits im Rahmen der Konfessionspolemik des 17. / 18. Jahrhunderts; im 19. Jahrhundert intensiviert sich stav-Adolf-Stiftung auch „dem großen heiligen Gebäude der allgemeinen deutschen Vereinigung“ dienen solle (Reinhard Wittram, Das Nationale als europäisches Problem, Gött. 1954, 126). 25 Deutsch-katholische Organisationen, die das konfessionelle mit dem nationalpolitischen Anliegen verbanden: Ludwig-Missions-Verein (1838); Bonifatius-Verein (1849); St. JosephsMission-Verein (1862 / 63); St. Raphaels-Verein (1871); Reichsverband für die katholischen Auslandsdeutschen (1919). 26 Vgl. u. a. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, 2 Bde., Tübingen 1912; Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (Hg. Johannes Winckelmann) 2 Bde., Mchn. / Hmbg. 21969 und 21972; Georg Wünsch, Der Zusammenbruch des Luthertums als Sozialgestalt, Tübingen 1921; Karl Holl, Aufsätze zur Kirchengeschichte, 3 Bde., Tbgen. 1928; Werner Elert, Morphologie des Luthertums, 2 Bde., München 1931 / 32; Alfred Müller-Armack, Genealogie der Wirtschaftsstile, Stgt. 1944; ders., Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stgt. 1959 mit Anhang „Religionsgeschichtlicher Schematismus für die europäischen Konfessionen im 16. – 18. Jahrhundert“; Franz Borkenau, Luther: Ost und West, in: Drei Abhandlungen zur deutschen Geschichte, Ffm. 1947; Helmut Plessner, Die verspätete Nation, Stgt. 1959. Andeutungen betr. „eine sozialgeschichtliche Alternativhypothese zur Bedeutung des Protestantismus und Katholizismus für die moderne Welt“ bei Wolfgang Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung?, in: Archiv f. Reformationsgeschichte 68 (1977), 239.

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die Tendenz, den politischen Gehalt der Konfessionen zu ermitteln27. Selbst gesetzt den Fall, man könnte die einschlägigen Ergebnisse als erwiesen ansehen, so läßt sich doch die Frage nicht vermeiden, für welchen Zeitraum sie gelten. Die politischen Physiognomien protestantischer Gruppen sind an bestimmte politisch-gesellschaftliche Strukturen ihres Milieus gebunden, und wenn diese zusammenbrechen, haften jene nicht als character indelebilis, sondern sie bleiben mit auf der Strecke. Dies gilt nicht zuletzt für die viel erörterten Größen des lutherischen Konservativismus oder eines anglikanischen Torysmus. Aber nicht nur Veränderungen in der Umgebung der Konfessionen, als exogene Faktoren, haben einen politischen Gestaltwandel herbeigeführt, sondern auch Vorgänge im Schoße der verschiedenen Glaubensgemeinschaften selbst. Es läßt sich dort kaum mehr mit konfessioneller Charakterologie politischer Haltungen operieren, wo sich in Mitteleuropa oder in den USA innerprotestantische Unionen ursprünglich getrennter Bekenntnisse und mit ihnen neue Kirchen gebildet haben. Noch wichtiger scheint uns der innerprotestantische geistesgeschichtliche Prozeß zu sein, der, um wiederum einen Terminus Ernst Troeltschs aufzugreifen28, zum sogenannten Neuprotestantismus geführt hat, einer Gesinnung, die sich als protestantische Anpassung an die moderne und säkulare Welt interpretieren läßt und keine der protestantischen Gruppen unberührt gelassen hat. Dieser Neuprotestantismus brachte Bewußtseinsveränderungen nicht nur auf religiösem und weltanschaulichem, sondern auch auf politischem Gebiet 27 Zu Ansätzen politischer Fragestellung in der konfessionspolemischen Literatur des 17. Jahrhunderts vgl. Jacques-Bénigne Bossuet, Histoire des variations des Églises Protestantes, 2 Bde., Paris 1688, und Louis Maimbourg, Histoire du Luthéranisme, Paris 1680, sowie ders., Histoire du Calvinisme, Paris 1682. Die Tradition setzt sich bis in das 19. Jahrhundert fort: Jaime Balmes, Le Protestantisme comparé au Catholicisme dans ses rapports avec la Civilisation Européenne, 3 Bde., Paris 1842 (urspr. spanisch; später wiederholt ins Deutsche übertr.); Auguste Nicolas, Du Protestantisme et des toutes les Hérésies dans leur rapport avec le Socialisme, 2 Bde., Paris 21869; Wilhelm Hohoff, Protestantismus und Socialismus. Historisch-Politische Studien, Paderborn 1881. Demgegenüber auf protestantischer Seite: Napoléon Roussel, Les nations catholiques et les nations protestants comparées sous le triple rapport du Bien-Être, des Lumières et de la Moralité, 2 Bde., Paris 1854; Émile de Laveley, De l’avenir des peuples catholiques. Étude d’économie sociale, Paris 1875; ders., Le Protestantisme et le Catholicisme dans leurs rapports avec la liberté et la prosperité des peuples, Brüssel 1875. Aus der deutsch-protestantischen kirchengeschichtlichen Literatur des 19. Jahrhunderts hervorzuheben Carl B. Hundeshagen, Calvinismus und staatsbürgerliche Freiheit, Bern 1841 (Neudr. Zollikon / Zürich 1946); Hermann Weingarten, Die Revolutionskirchen Englands, Lpzg. 1868 (bei ihm allerdings nur Ansätze einer politischen Konfessionsbetrachtung); Albert Ritschl, Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Bonn 1884 / 86, und ders., Geschichte des Pietismus in der Reformierten Kirche, Bonn 1886 (geht nicht nur auf die politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten und ihre Wirkungen ein, sondern zeigt auch Verständnis für das Verhältnis von Konfession und politischer Kultur). Bemerkenswerte Feststellungen über den politischen Charakter und politische Konsequenzen von Konfessionen finden sich auch bei nicht wenigen deutschen Profanhistorikern schon des 19. Jhdts. Vgl. Johann Gustav Droysen, Geschichte der preußischen Politik II, 2, Leipzig 21868, 361 f. und 382 f., und Hermann Baumgartens Schrift von 1866 „Der deutsche Liberalismus. Eine Selbstkritik“ (Hg. Adolf M. Birke), Ffm. 1974, 25 f. 28 Ernst Troeltsch, Die Bedeutung etc., 24 – 31.

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mit sich Zu allermeist hat er die von den Konfessionsmorphologen beschriebenen ursprünglichen politischen Verhaltenskomplexe zersetzt. Es weist in die gleiche Richtung, daß die großen protestantischen Verbände in der Regel von Anfang an interprotestantisch-überkonfessionell zusammengesetzt gewesen sind. Schon das politische Gremium des Corpus Evangelicorum am Reichstag des alten Römischen Reiches Deutscher Nation hat Lutheraner und Reformierte umschlossen. Als probates und relativ sicheres Verfahren, mit dem Gegenstand zurechtzukommen, empfiehlt es sich, nach Nationen und Staaten zu gliedern. Im Hinblick auf die politisch prägende Kraft des religiösen Bekenntnisses hat man für Südosteuropa sogar den Begriff „Konfessionsnationalität“ eingeführt29, mit dem wir hier jedoch nicht operieren. Für mehrere europäische Nationen und die USA gilt, daß ihre Identität erst in Verbindung mit dem Protestantismus zustandegekommen ist. Es entsprach durchaus dem Selbstverständnis der Mehrheit der Bevölkerung, wenn ein führender Theologe des 18. Jahrhunderts die Briten „the principal nation of the reformation“ nannte30. Solche Erscheinungen sind ebenso festzuhalten wie die volkstumserhaltende Funktion der Konfession in Diasporagebieten oder die geistige Selbstbehauptung, wenn nicht erst Selbstfindung kleiner Nationalitäten auf religiöser Grundlage. So hat im 19. Jahrhundert dem walisischen Volk in Großbritannien erst die methodistische Erweckungsbewegung sein nationales Selbstbewußtsein wiedergegeben. Gewiß stehen beim konfessionellen Beitrag zur Nations- und Staatsbildung zunächst kulturelle Sachverhalte im Vordergrund wie die Schaffung einer Nationalsprache und einer verbindenden und verbindlichen Tradition und Gesittung. Das politische Nationalbewußtsein konnte sich jedoch erst auf dieser Basis entfalten. Vielfach haben sich Konfession und Nation, Konfession und Staat im Laufe der Geschichte gegenseitig so sehr durchdrungen, daß man gleichzeitig vom konfessionellen Charakter einer Nation (bzw. eines Staates) und dem nationalen Charakter der mit ihr korrespondierenden protestantischen Konfession sprechen durfte. Mit kirchlicher Hilfe konnte staatliche, mit staatlicher Hilfe kirchliche Integration vonstatten gehen, konnten staatlich-dynastisch-konfessionelle Solidarisierungen entstehen, auf die wir gleich zurückkommen. Von geistlicher wie von Laienseite fehlte es nicht an Versuchen, der eigenen Nation zu einem Auserwähltheitsbewußtsein als „God’s chosen People“, als „neues Israel“, als „Redeemer nation“ zu verhelfen. Mit der nachhaltigsten Wirkung ist dies wohl im englischen und amerikanischen Protestantismus geschehen. Die traditionelle Linie ließe sich von Hooker und Milton31 zu Kingsley32, 29 Vgl. Emanuel Turczynski, Konfession und Nation, Düss. 1976, 188 – 258. Als die „quatuor magnas mundi nationes“ hat schon Tommaso Campanella die Weltregionen bezeichnet: ders., Quod reminiscentur (Hg. R. Amerio), Padua 1939, V. 30 Marty, a. a. O., 49. 31 The Works of Richard Hooker, Bd. III, Oxford 1888, 340; The Works of John Milton, Bd. IV (Hg. Frank A. Patterson u. a.), Lndn. 1931. Vgl. Franz Brie, Imperialistische Strömungen in der englischen Literatur, in: Anglia 40 (1916), 1 – 200, und Herbert Schoeffler, Wirkungen der Reformation. Religionssoziologische Folgen für England und Deutschland, Ffm.1960.

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von Bischof Berkeley33 zu Josiah Strong34, dem einflußreichen Verfasser von „Our Country“, ziehen. Der namhafte Historiker Johann Gustav Droysen schrieb 1854, das Jahr 1850 habe „Preußen und die evangelische Kirche in die Defensive“ geworfen35. Ein Staatswesen und der Protestantismus wurden hier in einem Atemzug genannt und nahezu identifiziert. Ebenfalls in den 1850er Jahren hat Bismarck die Existenz Preußens und die Reformation miteinander in Beziehung gesetzt und eine Expansion des Hohenzollernstaates bis dorthin erwogen, „wo das protestantische Bekenntnis aufhört vorzuwiegen“36. Für Hegel war es noch selbstverständlich, daß „eben ein katholischer Staat einen anderen Geist und eine andere Verfassung hat als ein protestantischer“37. Ähnliche Formulierungen wie diejenigen von Droysen und Bismarck sind aus politischem Anlaß auch in Großbritannien, den USA, den Niederlanden und der Schweiz häufig aufgetaucht. Es geht uns hier, wie erwähnt, nicht um die staatskirchliche Verfassung von Glaubensgemeinschaften, sondern um die gegenseitige politische Durchdringung von Staat und Kirche, Dynastie und Kirche. Wenn der britische König bis zu Georg V. in seiner offiziellen Titulatur als Defensor fidei figurierte, wenn in manchen protestantischen Staaten die Thronfolge haus- und staatsrechtlich, in der Regel immerhin faktisch an ein protestantisches Bekenntnis gebunden war38, wenn Marschall Bernadotte, zum König von Schweden gewählt, zum protestantischen Glauben übertreten mußte, wenn Konversionen von Herrschern oder anderen Angehörigen der regierenden Familie zu den aufregendsten Ereignissen der inneren Politik eines Landes zählten, dann haben wir es 32 Zu den zahlreichen einschlägigen Stellen bei Thomas Carlyle und Charles Kingsley vgl. Brie, a. a. O., 70 – 93; auch Ella Juhnke, Charles Kingsley als sozialreformatorischer Schriftssteller, in: Anglia 49 (1925 / 26), 66 f. 33 The Works of George Berkeley (Hg. Alexander C. Fraser) IV, Oxford 1901, 365 f. 34 Josiah Strong, Our Country: Its Possible Future and its Present Crisis, NY. 1885. Vom gleichen Vf.: Expansion under New World Conditions, NY. 1900, und Our World. The New World Religion, Garden City 1915. Zu Strong vgl. Richard Hofstadter, Social Darwinism in American Thought 1860 – 1925, Philadelphia 31945, 153; Hans-Ulrich Wehler, Der Aufstieg des amerikanischen Imperialismus. Studien zur Entwicklung des Imperium Americanum 1865 – 1900, Gött. 1974, 45 – 55, und Paul R. Meyer, The Fear of Cultural Decline: Josiah Strong’s Thought about Reform and Expansion, in: Church History 47 (1973), 396 – 405. 35 Johann Gustav Droysen, Politische Schriften (Hg. F. Gilbert), Mchn. u. Bln. 1933, 335. 1855 meint Theodor Fontane: „Preußen ist der Staat der Zukunft, weil er, solange es einen Protestantismus gibt, immer ,einem tief gefühlten Bedürfnis‘ entsprechen wird . . .“ (Th. Fontane, Aufsätze zur Literatur, Hg. Kurt Schreinert, Mchn. 1963, 225). 36 Otto von Bismarck, Die Gesammelten Werke 1, Bln. 1924, 250, und Hans Rothfels, Bismarckbriefe, Gött. 1955, 247. 37 Georg F. W. Hegel, Vorlesungen über die Geschichtsphilosophie I (Hg. G. Lasson), Lpzg. 1917, 108. 38 In Großbritannien Act of Settlement 1701. – Zur Veränderung der „Protestant Declaration“ des britischen Monarchen 1910 / 11 vgl. Harold Nicolson, King George the Fifth. His Life and his Reign, Lndn. 1967, 223 f.

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mit Indikatoren für staatliche und dynastische Schwerpunktbildung im Rahmen eines politischen Protestantismus zu tun, die der Historiker zu würdigen hat. Wenn der brandenburgische Adler auf dem Orgelprospekt einer Kirche erscheint, wenn Herrschergrabmäler an die Stelle des Hochaltars treten, wenn man Kirchen nach Angehörigen des regierenden Hauses benannte, wenn aus Anlaß eines politischen Gedenktages des Hauses Hohenzollern in Ostpreußen Jubiläumskirchen errichtet wurden, wenn Glasfenster in evangelischen Kirchen süddeutscher Städte Anton von Werners Gemälde der Kaiserproklamation in Versailles oder andere Bezüge auf die deutsch-preußische Geschichte enthalten, so beweist dies, daß im politischen Protestantismus eine Anzahl staatlich-dynastischer Traditionen zu den konstituierenden Größen zählte. In den Beziehungen des politischen Protestantismus zu den verschiedenen Staaten ist davon auszugehen, ob in ihnen die Protestanten als Mehrheit oder als Minderheit vertreten waren. Die Mehrheitsposition verband sich ganz selbstverständlich mit Herrschaft und Exklusivität gegenüber heterokonfessionellen Gruppen, sei es offiziell in Form der Etablierung von Staatsreligion und Staatskirche, sei es inoffiziell wie im Falle des WASP-Elements in den USA. Klassischer Fall der Unterdrückung einer nichtprotestantischen, überdies ethnisch andersartigen Minderheit war die Behandlung des irischen Katholizismus durch die protestantischen Engländer. Überall, wo es die Verhältnisse erlaubten, bemühte man sich, parallel zum Verhalten der katholischen Seite, um die Betonung des konfessionellen Staatscharakters. Noch lange, nachdem Verfassungen des 18. oder 19. Jahrhunderts die Gleichberechtigung der christlichen Glaubensbekenntnisse im Staate proklamiert und gewährleistet hatten, blieb es ein Bestreben zahlreicher Regierender und Regierter, die protestantische Einfärbung des preußischen Staates oder der Mehrheit der Schweizer Kantone oder der Niederlande und nicht zuletzt der USA im Sinne der Aufrechterhaltung politischen Besitzstandes zu bewahren. Als Minorität konnte den Protestanten daran liegen, sich dem Staatsoberhaupt und dem herrschenden politischen System gegenüber durch betonte Loyalität zu legitimieren. Wir verweisen auf die Korrektheit der Hugenotten während der Kämpfe der Fronde gegen die französische Krone im 17. Jahrhundert, ein Verhalten, das teilweise noch über die Revokation des Edikts von Nantes (1685) hinaus anhielt39, oder auf die Einstellung des deutsch-protestantischen Elements im Baltikum gegenüber dem Zaren und dem russischen Staate. Die Loyalität ließ allerdings in der Regel nach, wenn der heterokonfessionelle Staat die Grundrechte der protestantischen Minderheit mißachtete, die Protestanten verfolgte und ihnen als Angehörigen ihrer Konfession die Existenzgrundlage nahm. Soweit sich in Ländern der Verfolgung überhaupt eine protestantische Minderheit halten konnte oder später neu bildete, wird eine Geschichte des politischen 39 Vgl. Guy H. Dodge, The Political Theory of the Huguenots in the Dispersion, NY. 1947; Burdette C. Poland, French Protestantism and the French Revolution, Princeton 1957; Hartmut Kretzer, Calvinismus und französische Monarchie im 17. Jahrhundert etc. Bln. 1975.

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Protestantismus die Frage behandeln, ob die traumatischen Erfahrungen der Verfolgungszeit Konsequenzen für die spätere politische Haltung der in Betracht kommenden Gruppen hatten. Wir glauben die Frage cum grano salis z. B. im Falle des französischen und des österreichischen Protestantismus bejahen zu dürfen. Daß der französische Protestantismus sich der Großen Revolution anschloß und sich später auf die Seite der Dritten Republik gegen die traditionellen Mächte schlug, hatte seine Gründe, ebenso die Tatsache eines antischwarzgelben und antihabsburgischen Trends bei vielen österreichischen Protestanten, die in der Anschlußfreudigkeit der meisten von ihnen während der Ersten Republik ihre Fortsetzung fand. Im Falle des tschechischen und slowakischen Protestantismus ist die Verbindung einer unterdrückten Konfession mit den emanzipatorischen Bestrebungen einer ethnischen Gruppe zu studieren40. Die an sich zweckmäßige Gliederung nach Staaten und Nationen greift nur mehr unzulänglich, wenn man es mit dem Protestantismus als einem internationalen Phänomen mit politischen Konsequenzen zu tun hat; ein solches ist er aber trotz seiner territorialen Abkapselung von Anfang an gewesen. Hierfür einige Belege! Noch nach der Mitte des 17. Jahrhunderts haben in einem Zeitalter relativer staats- und landeskirchlicher Isolierung Konfessionspolitiker am Zustandekommen eines politischen protestantischen Blocks in Europa gearbeitet41; vereinzelt finden sich sogar noch Ansätze zu protestantischen Fürstenallianzen42. Die Aufrechterhaltung des Protestantismus in Großbritannien bildete 1688 bei der Thronbesteigung des Oraniers Wilhelms III. gewiß nicht nur einen Vorwand, eines Herrschers, der Englands Platz „at the head of the Protestant Interest“ sah43. Der vielberufene, obschon umstrittene Begriff eines internationalen „Protestant Interest“ oder einer „Protestant Cause“44 noch nach dem konfessionellen Vgl. Rudolf Rˇicˇ an, das Reich Gottes in den böhmischen Ländern, Stgt. 1957. Vgl. Fritz Arnheim, Frhr. Benedikt Skytta etc., in: Festschrift für Gustav Schmoller, Leipzig 1908, 65 – 99, und Göransson, a. a. O., 332 ff. 42 Vgl. Bernhard Erdmannsdörffer, Georg Graf Friedrich von Waldeck, Bln. 1869, und Manfred Schlenke, England und das friderizianische Preußen 1746 – 1763, Frbg. / Mchn. 1963, 230 – 256. Es kam vor, daß der Text von Eheverträgen unter regierenden Häusern – damals ein Politikum ersten Ranges – noch im 18. Jahrhundert die Formel „zum Besten unserer protestantischen Religion“ enthielt (Wolf von Both und Hans Vogel, Landgraf Wilhelm VIII. von Hessen-Kassel, Mchn. / Bln. 1964, 94). 43 Vgl. Nicolas Japikse, Die Oranier, Mchn. 1939, 265 – 267, und Henry Barbara van der Zee, William and Mary, Lndn. 1973, 471. 44 Der britische Wirtschaftspublizist Malachy Postlethwait (Britain’s Commercial Interest II, London 1757, 507 – 524) hat noch nach der Mitte des 18. Jahrhunderts Betrachtungen über „Protestant Interests“ als Faktor europäischer Blockbildung angestellt, die gewiß auf den Beifall vieler seiner Landsleute rechnen konnten. Über weitere britische Stimmen, die eine internationale Sicherung des „Protestant Interests“ unter britischer Führung im Rahmen des europäischen Gleichgewichts forderten (Charles Davenant!) vgl. Ernst Kaeber, Die Idee des europäischen Gleichgewichts in der publizistischen Literatur vom 16. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, Bln. 1907, 67. 40 41

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Zeitalter existierte unabhängig von der Kabinettspolitik zumindest als Faktor einer protestantisch gefärbten öffentlichen Meinung, und diese fiel als Vehikel internationaler Solidarisierung noch sehr ins Gewicht. Im 17. und 18. Jahrhundert kultivierten die barocke Sozietätsbewegung und der Pietismus eine Internationalität des Protestantismus, die nicht ohne politische Akzente bleiben konnte45. Erörterungen über das politische Schicksal des Protestantismus fanden nicht nur von Land zu Land, sondern häufig auch im Blick auf seine internationalen Zusammenhänge statt46. Im Siebenjährigen Krieg existierten starke britisch-protestantische und schweizerisch-protestantische Sympathien für Friedrich d. Gr., den man als Vorkämpfer der protestantischen Sache auffaßte, ganz zu schweigen von der öffentlichen Meinung im Reich, die im Preußenkönig die protestantische Sache personifiziert sah. „Wir alle“, heißt es in einer viel beachteten Flugschrift gegen Friedrichs Fürstenbund, „können uns der Zeiten noch erinnern, wo fast jeder protestantische Prediger ein Alliierter des Königs von Preußen war, und was hat man auf dem Reichstag nicht schon zur Religionssache gemacht, wenn der König etwas durchsetzen oder verhindern wollte“47. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts hat man umgekehrt in Preußen an höchster Stelle die österreichischen Absichten oder Maßnahmen als Versuche interpretiert, eine katholische Liga zu formieren48. Daß schließlich Bismarck eine katholische Einkreisung des kleindeutschen Kaiserreichs und schon vorher des Norddeutschen Bundes befürchtete49, haben die Historiker zwar erwähnt, aber in der Regel für belanglose Zeugnisse seiner Demagogie oder auch seiner Vorurteile angesehen, statt den zugrundeliegenden Vorstellungskomplex zu analysieren. Gewiß beruhte dieser auf sogenanntem falschen Bewußtsein, aber falsches Bewußtsein ist eben auch ein historischer und politischer Faktor. Im 19. Jahrhundert verbanden sich zunehmende Demokratisierung und Verselbständigung des Weltprotestantismus mit einer ebenso beständig wachsenden Internationalisierung. Den religiösen, theologischen und kirchlichen Richtungen, Vgl. ferner Jacob M. Bowmann, The Protestant Interest in Cromwell’s Foreign Relations, Hdlbg. 1900. Auch die innerprotestantischen kirchlichen Unionsbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts sind kaum ohne politische Hintergedanken und Begleiterscheinungen vonstatten gegangen; vgl. ferner R. Barry Levis, The Failure of the Anglican-Prussian Ecumenical Effort of 1710 / 1714, in: Church History 47 (1978), 381 – 399. 45 Vgl. Carl Hinrichs, Die Idee eines geistigen Mittelpunktes Europas im 17. und 18. Jahrhundert, in: Hauptstadtprobleme in der Geschichte. Festgabe zum 90. Geburtstag Friedrich Meineckes (= Jahrbuch für die Geschichte des deutschen Ostens I), Tbgen. 1952, 91 – 106, und Heinz Gollwitzer, Geschichte des weltpolitischen Denkens I, 166 ff. 46 Berkeley, a. a. O., IV, 356. 47 Vgl. Schenke, a. a. O., 230 – 256, und Eduard Ziehen, Die deutsche Schweizerbegeisterung in den Jahren 1750 – 1815, Ffm. 1922, 96, sowie ders., Friedrich der Große und die Schweiz, Lpzg. 1924. Die Flugschrift gegen den Fürstenbund: Otto Freiherr v. Gemmingen, Über die KöniglichPreußische Assoziation zur Erhaltung des Reichssistems, Teutschland 1785, 7. 48 Kurt Borries, Preußen im Krimkrieg, Stgt. 1930, 381. 49 Eberhard Kolb, Der Kriegsausbruch 1870, Gött. 1970, 28 ff.

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die den nationalen und staatlichen Bereich überschritten, gesellten sich nicht selten politische Tendenzen bei. Dieser internationalen Dimension wird eine Gliederung nach Staaten und Nationen nicht gerecht. Sie kann auch da nicht befriedigen, wo das Verhältnis des Protestantismus zum sozioökonomischen Prozeß untersucht wird, der sich seiner Natur nach nicht an nationale und staatliche Grenzen hält.

V. Institutionelle Sicherungen Die Defizite, die sich bei einer Analyse nach konfessionellen Gruppen, nach Staaten und Nationen ergaben, veranlassen uns, ergänzende Methoden ausfindig zu machen. Der Versuch geht dahin, institutionelle Sicherungen protestantischen Besitzstandes mit politischen Mitteln „von oben her“ zu unterscheiden von politischen Bewegungen im protestantischen Raum „von unten her“. Die institutionelle Bestandssicherung erfolgte größtenteils im 17. und 18. Jahrhundert. Man kann sie also weitgehend mit der länger als ein Jahrhundert sich hinziehenden äußeren Bereinigung des konfessionellen Zeitalters identifizieren. Je mehr der moderne Verfassungs- und Rechtsstaat die Existenz von Kirchen und Konfessionen auf der Basis der Grundrechte garantierte, um so mehr wurden spezielle Einrichtungen und Maßnahmen überflüssig, die diesem Zweck früher in durchaus angemessener Weise gedient hatten. Eine Geschichte des politischen Protestantismus hat aber auch Nachzüglerphänomene älterer Sicherungsprozesse zu beachten. Das gegenseitige Mißtrauen der rivalisierenden Konfessionen war nach der Mitte des 17. Jahrhunderts noch groß und in der Regel berechtigt. Daher bemühte man sich um völkerrechtliche und staatsrechtliche Bürgschaften gegen Beeinträchtigung politischer Chancen. Noch eine große Anzahl von europäischen Verträgen nach 1648 enthielt Schutzbestimmungen konfessioneller Art; als ein für den Protestantismus ungünstiges Beispiel sind die Ryswyker Klauseln von 169750 zu nennen, als günstig die Altranstaedter Konvention von 170751. Noch im 18. Jahrhundert hat man die Frage eines protestantischen Kaisertums immerhin erörtert52. Am deutschen Reichstag standen sich in konfessionellen Angelegenheiten als reichsverfassungsrechtliche Einrichtungen ein Corpus Evangelicorum und ein Corpus Catholicorum bis 1806 gegenüber, und beider Bedeutung ging über das spezifisch Konfessionelle hinaus53. In einzelnen deutschen Reichsstädten waren Ratssitze 50 Bernhard Erdmannsdörffer, Deutsche Geschichte vom Westfälischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrich d. Gr. 1648 – 1740 II, Bln. 1893, 81 – 85, und Heinrich von Srbik, Wien und Versailles 1692 – 1697, Mchn. 1944, 270 – 316. 51 Norbert Conrads, Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707 – 1709, Köln / Wien 1971. 52 Heinz Duchhardt, Protestantisches Kaisertum und altes Reich, Wiesbaden 1977. 53 Vgl. Hans Erich Feine, Zur Verfassungsentwicklung des Heiligen Römisches Reichs seit dem Westfälischen Frieden, in: ZSRG, Germ. Abt. 52 (1932), 65, und Johannes Heckel, Artikel Corpus Evangelicorum, in: RGG I, Tbgen. 31957, Sp. 1873 f.

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und städtische Ämter konfessionell paritätisch aufgeteilt. Neuerungen in der Reichsverfassung, etwa die Einführung neuer Kurwürden, hat man anfänglich primär unter konfessionellen Vorzeichen diskutiert. Der Basler Bürgermeister Wettstein konnte in Münster 1648 die Interessen der Eidgenossenschaft nur auf eine Beauftragung durch die evangelischen Orte gestützt wahrnehmen54. Das von 1598 – 1685 gültige, wenn auch mehr und mehr durchlöcherte Edikt von Nantes hatte der hugenottischen Minorität Frankreichs die Stellung eines Staates im Staate und sogar befestigte Sicherheitsplätze eingeräumt, die sie allerdings schon unter Richelieu verlor55. Im außenpolitischen Denken nicht weniger Briten dürften die Niederlande als protestantischer Brückenkopf im vorwiegend katholischen Westeuropa figuriert haben, und diese wiederum legten Wert darauf, in ihrem Vorfeld ein protestantisches Wesel und andere rechtsrheinisch-klevische Städte als Brückenköpfe und gegen die Bestrebungen des Bischofs von Münster Bentheim als protestantische Grafschaft zu halten56. Ein wirksamer Faktor zur Sicherung des protestantischen Besitzstandes war die Solidarität protestantischer Höfe und anderer protestantischer Obrigkeiten in konfessionellen Angelegenheiten. Die durch Konnubium eng verbundenen Dynastien haben die große Politik zwar so gut wie ausschließlich ohne konfessionelle Rücksichtnahme betrieben, aber dann, wenn ihnen politische Gesichtspunkte Koalitionen untereinander empfahlen, die protestantische Gemeinsamkeit als zugkräftiges Agitationsmittel eingesetzt. Politische und konfessionelle Gesichtspunkte ließen sich kaum mehr trennen, wenn protestantische Mächte auf Grund von Verträgen als Garantieorgane für die Sicherung protestantischer Gruppen in anderen Staaten auftraten57. Ungezählte diplomatische Demarchen, oft mit der Androhung von Repressalien verbunden, sind zugunsten bedrängter protestantischer Minderheiten erfolgt. Noch bekannter sind die Hilfsmaßnahmen, die protestantische Höfe oder Städte oder Schweizer Kantone zugunsten von Glaubensflüchtlingen ergriffen haben. Von politischem Belang war es, daß man zu diesem Zweck gegenseitig Verbindung aufnahm. Kollektivschritte der Vertreter protestantischer Höfe an den Residenzen katholischer Dynastien lassen sich in Einzelfällen noch im 19. Jahrhundert nachweisen58. Es bedeutete viel, wenn Staaten sich dem internationalen Pro54 Julia Gauss, Bürgermeister Wettstein und die europäischen Konfessions- und Machtkämpfe seiner Zeit, in: Schweizer Beiträge zur Allgemeinen Geschichte 4 (1946), 94 – 168, und Herbert Viehl, Die Politik des Baseler Bürgermeisters Wettstein in Münster und Osnabrück 1646 / 47 und die Reichsstände, Mainz 1967. 55 Vgl. Joseph Chambon, Der französische Protestantismus. Sein Weg bis zur Französischen Revolution, Zürich 61948, und Emile G. Léonard, Histoire Générale du protestantisme II, Paris 1961. 56 Vgl. Wilhelm Kohl, Christoph Bernhard von Galen, Münster 1964, 297 ff. 57 Dies gilt insbesondere für Schweden in seiner Eigenschaft als Reichsstand und Unterzeichner des Westfälischen Friedens, der Einsprüche im Falle ungeklärter konfessioneller Verhältnisse ausdrücklich vorsah.

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testantismus als Schutz- und Garantiemächte anboten. Hegel rühmte 1826 in einem Schreiben an den Kultusminister Freiherr v. Altenstein die preußische Regierung, weil sie „ausdrücklich seit langem die erhabene Stellung eingenommen, an der Spitze der evangelischen Staaten Deutschlands zu stehen, und auf welche alle Protestanten immer ihre Augen richten, und in ihr ihre Hauptstütze und festen Haltungspunkt sehen“59. Und ein namhafter schweizer katholischer Publizist bemerkte noch 1877: „Die Interessen der protestantischen Religionspartei sowohl in ihrer Stellung als Ganzes in Europa als in der Stellung als protestantische Minoritäten in katholischen Ländern haben von jeher einen starken und wirksamen Schutz gefunden in der Macht von Preußen und England; eine protestantische Politik hat existiert und existiert fortwährend tätig, selbst aggressiv in Europa“60. Bekundungen monarchischer Solidarität auf konfessioneller Grundlage fehlen selbst im endenden 19. Jahrhundert nicht61, haben zu diesem Zeitpunkt jedoch schon einen anachronistischen Charakter angenommen. Der Historiker hat der Frage nachzugehen, ob und wann Staatsapparate und deren Exponenten an Stelle der Höfe die Sicherung protestantischer Interessen in die Hand nahmen. Auch moderne Demokratien haben, vom Wähler dazu angehalten, Chancensicherung für die eine oder andere Konfession betrieben. Unter diese Kategorie fällt die stillschweigende Reservierung des nordamerikanischen Präsidentenamtes für Protestanten bis zu John F. Kennedy oder, noch gewichtiger, der parteipolitisch sanktionierte Konfessionsproporz, der bis vor nicht allzu langer Zeit in der Bundesrepublik praktiziert wurde und einer wissenschaftlichen Würdigung bedürfte.

58 Z. B. Beistand der protestantischen Höfe von St. James und Berlin für die Waldenser am Turiner Hof noch im 19. Jahrhundert. Über konfessionelle Tendenzen in der preußischen Diplomatie aufschlußreich Johannes Haller, Aus dem Leben des Prinzen Philipp zu Eulenburg-Hertefeld 1924, 383, und Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz (Hg. J. C. G. Röhl) I u. II, Boppard 1976 / 79. Vgl ferner Heinz Gollwitzer, Der politische Katholizismus im Hohenzollernreich und die Außenpolitik, in: Werner Poels (Hg.), Staat und Gesellschaft im politischen Wandel. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt (Festschrift Walter Bußmann), Stgt. 1979, 232 f. Zur katholischen Kritik an der preußischen Diplomatie im Hohenzollernreich vgl. Verhandlungen des Reichstags 12. Legislaturperiode Session 1, 1908, Bd. 233, 11. XII. 1908, S. 6167 (Erzberger contra Eulenburg); Paul Maria Baumgarten, Wanderfahrten, Traunstein 1928, 211; Eugen Jäger, Erinnerungen aus wilhelminischer Zeit, Augsburg 1926. 59 Rudolf Haym, Hegel und seine Zeit, Berlin 1857, 510 f. 60 Philipp Anton Segesser, Sammlung kleiner Schriften I, Bern 1877, 52. 61 Z. B. Demonstration protestantischer Fürstensolidarität durch gemeinsamen Besuch des Eröffnungsgottesdienstes der wiederhergestellten Schloßkirche. Vgl. Karl Werckshagen, Der Protestantismus in seiner Gesamtgeschichte bis zur Gegenwart in Wort und Bild II, Kassel und Reutlingen, o. J., 1199.

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VI. Politische Bewegungen im protestantischen Raum 1. Politische Transformation genuin religiöser Bewegungen In dialektischem Verhältnis zu einer protestantischen Sicherungspolitik von oben standen aus den Gemeinden, aber auch speziell aus der Welt der Gebildeten hervorgehende Bewegungen, die auf ihre Weise in politischen Protestantismus mündeten. Wir wenden uns zunächst (jedenfalls ihrem Selbstverständnis nach) genuin religiösen Richtungen zu, die primär christlicher und kirchlicher Erneuerung dienen wollten, und fragen nach ihrer politischen Dimension. Aus dieser Gattung ragen zwei kirchengeschichtliche Phänomene von universeller Bedeutung heraus: 1. der gesamte britische Nonkonformismus und seine Entfaltung auf amerikanischem Boden, zu ergänzen durch evangelikale Bewegungen innerhalb der anglikanischen Kirche; 2. der kontinentaleuropäische Pietismus und die ihm folgenden Erwekkungsbewegungen. Berührungen zwischen beiden und gegenseitige Förderung haben frühzeitig stattgefunden, und seit dem 19. Jahrhundert ist ihre (von Anfang an zu beobachtende) Internationalisierung und Verschmelzung in vollem Gange. Wenn wir sie als Erscheinungen des politischen Protestantismus studieren, ist vorwegzunehmen, daß man es bei unserem Gegenstand zwar im allgemeinen mit zahlreichen weißen Flecken auf der konfessionsgeschichtlichen Landkarte zu tun hat, im Falle von Dissent, Evangelikalismus, Pietismus und Erweckung man sich jedoch einem embarras de richesse an Forschungsergebnissen konfrontiert sieht. Auf der Suche nach dem roten Faden konzentrieren wir uns auf die folgenden Fragen: Was hat das heutige Geschichtsbewußtsein an Erkenntnissen über den politischen Charakter dieser primär kirchengeschichtlichen Erscheinungen allenfalls (und bestenfalls) rezipiert, und kann man diese Rezeption auf Grund des heutigen Forschungsstandes auf sich beruhen lassen? Es spricht einiges dafür, daß man auch außerhalb der fachlich interessierten und informierten Kreise dem britischen Nonkonformismus und dem aus ihm hervorgegangenen nordamerikanischen Protestantismus als politische Leistung einen beträchtlichen Beitrag zur Entwicklung der modernen Demokratie und der Emanzipation auf verschiedenen Gebieten zuschreibt. Schon in der Kirchengeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts machten Vertreter der Konfessionskunde auf diesen Zusammenhang aufmerksam62. 1896 hat der Staatsrechtslehrer Georg Jellinek in einer Abhandlung über die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte den Anteil des in Nordamerika heimisch gewordenen Kongregationalismus hervorgehoben, damit Aufsehen erregt und eine Diskussion ausgelöst63. Heute finden die abolitionistischen und humanitären Verdienste der sogenannten linken GrupVgl. Anm. 27. Georg Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, Lpzg. 1895 (1927 in 4. Aufl.). Jellinek stützte sich u. a. auf den deutschen Kirchenhistoriker H. Weingarten, den britischen Historiker S. R. Gardiner und den französischen Juristen Ch. Borgeaud. 62 63

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pen des anglo-amerikanischen Protestantismus, voran der Quäker, besonderes Interesse64. Es kann kein Zweifel bestehen, daß Widerspruch gegen die englische Staatskirche zu politischer Opposition und damit zu liberalem und demokratischem Engagement führen konnte und häufig geführt hat, ebenso, daß das Prinzip der christlichen Gemeindeunabhängigkeit und des Covenant strukturell der modernen Demokratie und der Idee der Volkssouveränität verwandt war und dieser vorgearbeitet hat. Ohne religiösen Dissent keine Whigs, keine Liberalen, keine Radikalen und auch keine Labour Party! Unbestritten sind ferner die Verdienste evangelikaler, methodistischer Gruppen und vor allem der Quäker um die Beseitigung des Sklavenhandels und schließlich um die Sklavenemanzipation. Aber eine politische Bestandsaufnahme kann bei diesen Ergebnissen nicht stehen bleiben und muß in das nonkonformistische Panorama noch andere Beobachtungen einbringen. Schon der puritanische Widerstand gegen einen kirchlichen und politischen Absolutismus, der zu seiner Zeit Modernität in Anspruch nehmen durfte und im allgemeinen Aufwind lag, wird heute gelegentlich mit dem Begriff „konservative Revolution“ erläutert65. Ferner haben Kenner des puritanischen Gemeindelebens in Nordamerika dessen theokratischen und oligarchischen Charakter hervorgehoben, und als man über „Glaube und Politik in Pennsylvanien“ forschte, begegnete man dem politischen Konservativismus des Quäkertums66. Was die Sklavenbefreiung betraf, war der nordamerikanische Protestantismus gespalten. Regionale und sektionale Unterschiede komplizierten sein politisches Bild. Per saldo erscheinen uns die meisten protestantischen Denominationen und Bewegungen in den USA, wo Widerstand gegen eine Staatskirche meistenteils gegenstandslos war, als cum grano salis konservative Mächte der nordamerikanischen Gesellschaft, als stabilisierende Elemente einer konservativen Demokratie, auf jeden Fall nach den Begriffen des endenden 20. Jahrhunderts. Dies zur Korrektur landläufiger Vorstellungen! Einer Korrektur umgekehrter Art bedarf der kontinentale Pietismus. Soweit man politische Wirkungen des Pietismus und seiner Folgeerscheinungen wahr nimmt und man ihn nicht auf Enthaltsamkeit von weltlichen Dingen festlegt, dürfte für den geschichtlich Gebildeten hierzulande die Verbindung von Erweckungsbewegung und preußischem Konservativismus oder auch preußischer Reaktion im Vordergrund stehen. Intensive Forschung der letzten Jahrzehnte hat dieses Bild in vierfacher Richtung ergänzt: 64 Beispiel für diesen Trend: Klaus Schmidt, Religion, Versklavung und Befreiung. Von der englischen Reformation bis zur amerikanischen Revolution, Stgt. 1978. 65 Robert C. Walton, Der Begriff der Freiheit in der puritanischen Revolution. Münstersche Antrittsvorlesung 31. X. 1979 (Manuskript). Schon die englische Reformation des 16. Jahrhunderts hat man als „konservative Revolution“ bezeichnet: Geoffrey R. Elton, A Conservative Revolution: The English Reformation and the Law, in: Beihefte zu „Geschichte in Wissenschaft und Unterricht“, Stgt. 1971, 28 f. 66 Hermann Wellenreuther, Glaube und Politik in Pennsylvania 1681 – 1776, Köln / Wien 1972.

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1. Der Pietismus hat den nicht nur von orthodoxer, sondern auch von territorialer Stagnation bedrohten Protestantismus durch Internationalisierung regeneriert und über Staatsgrenzen hinweg eine protestantische Solidarisierung zustandegebracht, die nicht unpolitisch bleiben konnte und Beiträge zum allgemeinen Internationalismus leistete. Das politische Experiment der Heiligen Allianz war als christlicher Utopismus von Einflüssen der Erweckungsbewegung mitgetragen67. 2. Der Pietismus kannte neben der weltflüchtig-quietistischen auch eine weltzugewandt-aktivistische Richtung, deren Anteil an Staats- und Gesellschaftsreform, z. B. in Preußen, Sachsen und in Dänemark, erwiesen ist. Wenn der im Kampf gegen Ständewesen und Orthodoxie sich des Pietismus bedienende preußische Staat im Kontext des 18. Jahrhunderts eine progressive Größe gewesen ist, mag man die politische Funktion des preußischen Pietismus ebenfalls auf diesen Nenner bringen68. 3. Die geistige Welt des frühen deutschen Nationalismus des 18. / 19. Jahrhunderts wird heute unter anderem als Säkularisationsprodukt ursprünglich pietistischer Strömungen interpretiert69. 4. Der Pietismus hat eine gesellschaftliche Mobilisierung durch zunächst religiöse Überwindung ständischer Schranken hervorgerufen, die nicht immer bei reformerischer Kritik, wie im Falle der württembergischen Juristen und Pietisten Johann Jakob und Karl Friedrich von Moser, stehengeblieben ist70. Als Übergang zur demokratischen Aktion ist u. a. die frühe norwegische Bauernemanzipation zu bezeichnen, die unter Leitung des zum Märtyrer seiner Sache gewordenen Pietisten Hans Nielsen Hauge stand71. Darüber hinaus haben die skandinavischen Erweckungs67 Vgl. Franz Büchler, Die geistigen Wurzeln der Heiligen Allianz, Frbg. 1929; Hildegard Schaeder, Dritte Koalition und Heilige Allianz. Tragik eines europäischen Friedensbundes, Stuttgart 1935; Maurice Bourquin, Histoire de la Sainte Alliance, Genf 1954. 68 Zu Pietismus als politisches Phänomen in Deutschland vgl. insbesondere Klaus Deppermann, Der Hallesche Pietismus und der preußische Staat und Friedrich III (I), Göttingen 1961; Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus, Gött. 1971; Hartmut Lehmann, Der Pietismus im alten Reich, in: HZ 214 (1972), 58 – 95; Horst Schlechte, Pietismus und Staatsreform 1762 / 63 in Kursachsen, in: Archivar und Historiker . . . Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner, Berlin 1956, 364 – 382. Neue Forschungsübersichten zum Pietismus: Martin Greschat, Zur neueren Pietismusforschung, in: Jahrbuch des Vereins für westfälische Kirchengeschichte 65 (1972), 220 – 268; Johannes Wallmann, Reformation, Orthodoxie, Pietismus, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 70 (1972), 179 – 200; Martin Brecht, Der Pietismus als Epoche der Neuzeit, in: Verkündigung und Forschung (Beihefte zu „Evangelische Theologie“) 21 (1976), 46 – 81. Vgl. ferner: Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Pietismus, Bielefeld (seit Bd. IV Gött.) 1974 ff. 69 Koppel S. Pinson, Pietism as a Factor in the Rise of German Nationalism, NY. 1934, und Gerhard Kaiser, Pietismus und Patriotismus im literarischen Deutschland, Ffm. 21973. 70 Reinhard Rürup, Johann Jakob Moser. Zwischen Pietismus und Reform, Wiesbaden 1963. 71 Jakob B. Bull, Hans Nielsen Hauge, Kopenhagen 1919, und Andreas Aarflet, Hans Nielsen Hauge. His Life and Message, Minneapolis 1979.

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bewegungen insgesamt, so sehr man ihre traditionalistischen und apolitischen Komponenten zu berücksichtigen hat, mittelbar und als „Vorschule“ (Henningsen), mitunter aber auch direkt den Demokratisierungsprozeß des Nordens gefördert72. Dies gilt nicht zuletzt auch für den freiheitlich-konservativen Grundtvigianismus. Grundtvigs Anhänger haben 1872 im Dänischen Folketing die Partei der vereinigten Linken gebildet. Schließlich trug die Herrnhuter Bewegung des 19. Jahrhunderts im Baltikum nicht wenig zur Verselbständigung der Letten und Esten bei73. Diese Hinweise sollen gewiß nicht das Vorhandensein eines die bestehende Gesellschaftsordnung akzeptierenden, wenn nicht faktisch sanktionierenden konservativen Pietismus in Abrede stellen oder herunterspielen, sie möchten jedoch der Vielgestaltigkeit des politischen Protestantismus auch in der pietistischen Geschichtszone gerecht werden und die religiös-politische Ambivalenz auch dieser kirchengeschichtlichen Provinz beleuchten. Was hier stichwortartig erwähnt werden konnte, ist einem kleinen Kreis von einschlägig interessierten Historikern gewiß längst bekannt. Aber man kann nicht behaupten, daß diese Fakten im allgemeinen Geschichtsbewußtsein nennenswerten Eingang gefunden hätten. Die Beispielkette politischer Transformation ursprünglich religiöser und kirchlicher Bewegungen läßt sich bis zur Gegenwart fortsetzen. Eine innerkirchliche Bewegung in allen christlichen Konfessionen ist der Ökumenismus, der nach einer langen Vorgeschichte einen Höhepunkt im 20. Jahrhundert erreicht hat. Dem politischen Historiker stellt sich die Frage, ob nicht die Mentalität, die dem kirchlichreligiösen Ökumenismus zugrundeliegt, auch einen der Nenner für den Zusammenschluß zu überkonfessionellen christlichen Parteien etwa im Fall der CDU / CSU in Deutschland oder der Verbindung der katholischen mit den kirchlich-protestantischen Parteien in den Niederlanden abgibt.

2. Fusion mit heterogenen Bewegungen Den aus religiöser Wurzel und aus dem kirchlichen Raum hervorgegangenen, wenn auch gelegentlich aus ihm ausgebrochenen Bewegungen, deren Wirkungsgeschichte zum integrierenden Bestandteil des politischen Protestantismus geworden ist, stellen wir nun solche Strömungen gegenüber, die von Herkunft säkularer Natur und auf konfessionelle Bündnisse nicht zwangsläufig angewiesen sind, aber gleichwohl innerhalb des Protestantismus zur Bildung weltlich-geistlicher Synkretismen von politischer Geschichtsmächtigkeit geführt haben. Wir unterscheiden 72 Aufschlußreich für die geistesgeschichtlich-theologischen Grundlagen dieses Prozesses Bernd Henningsen, Die Politik des Einzelnen. Studien zur Genese der skandinavischen Ziviltheologie. Ludwig Holberg, Søren Kierkegaard, M. F. S. Grundtvig, Gött. 1977. 73 Vgl. Guntram Philipp, Die Wirksamkeit der Herrnhuter Bürgergemeinde unter den Esten und Letten zur Zeit der Bauernbefreiung, Köln 1972, und Horst Garve, Konfession und Nationalität. Ein Beitrag zum Verhältnis von Kirche und Gesellschaft in Livland im 19. Jahrhundert, Marburg 1978, 44 – 60.

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idealtypisch – in der Realität finden sich ungezählte Übergänge – protestantischen Konservativismus, Nationalprotestantismus, protestantischen Liberalismus sowie sozialistischen Protestantismus.

a) Protestantischer Konservativismus Die Organisation von Staatskirchen seit der Reformation mußte zu einer engen Verbindung zwischen den Kirchen und den Obrigkeiten führen: wo sich der Protestantismus durchsetzte, ist dies mehrheitlich in Anlehnung an Dynastien, Regierungen oder jedenfalls herrschende Systeme erfolgt. Wir sprechen in diesem Zusammenhang keineswegs nur von Luthertum oder Anglikanismus. Komplementärerscheinung zur politischen Loyalität gegenüber der Obrigkeit war durchweg die Bejahung der vorgefundenen Gesellschaftsordnung. Mit kirchlicher Orthodoxie korrelierte fast immer eine konservative Sozialethik, für die Revolution mehr oder minder als Sünde galt. Beschäftigung mit der Geschichte des protestantischen Konservativismus erstreckt sich also gleichzeitig auf seine politisch und seine gesellschaftlich systemstabilisierende Funktion. Da die gleichen Kirchen, die die ständische Gliederung verteidigten und politisch zwischen oben und unten unterschieden, doch stets für alle, für die gesamte Bevölkerung dagewesen sind, könnte es sein, daß sie Jahrhunderte hindurch im Obrigkeitsstaat die festeste ideologisch-organisatorische Klammer zwischen Regierenden und Regierten, zwischen Ober-, Mittel- und Unterschichten gebildet haben. Dies wäre zu problematisieren und zu untersuchen. Jedenfalls haben die christlichen Bekenntnisse, bevor profane Ideologien die Massen ergriffen, eindeutig die Rolle einer Staatsideologie gespielt74. Für die Forschung ist von besonderem Interesse, wo dieses System nicht mehr funktionierte und warum dies so gewesen ist. Da jede Gesellschaftsordnung sich fortwährend gegen ihre Feinde zu behaupten hat, wäre ferner zu fragen, ob sich etwa im protestantischen Konservativismus eine vorwiegend defensive politische Mentalität entwickelt hat, und wenn ja, welche Situationen entstanden, wenn man versuchte, zur Offensive gegen feindseligen Zeitgeist überzugehen. Ein fesselnder Gegenstand für den Historiker ist es, wenn sich protestantische Konservative wider Willen und wider ihr politisches Temperament genötigt sahen, ihr Einverständnis mit den Herrschenden aufzugeben und zur Opposition überzugehen, weil Machthaber übergeordneten politischen Normen nicht mehr entsprachen, an denen man aus religiösen Motiven glaubte festhalten zu müssen. In obrigkeitlichen Systemen konnte Legitimismus so sehr als religiöse Verpflichtung aufgefaßt werden, daß man sich bei einem nicht mehr als legitim anerkannten Machtwechsel sperrte. Wir erinnern an die anglikanischen Non-jurors75, die dem Vgl. Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution, Stgt. 1967, 407. Non-Jurors: John H. Overton, The Non-Juror, Lndn. 1902, und RGG IV, Tbgen. 31960, Sp. 1509 f. 74 75

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katholischen Hause Stuart die Treue hielten, an die Einstellung Leopold von Gerlachs gegenüber Napoleon III. und der preußischen Politik 186676, an die sogenannten kurhessischen Renitenten, die das Jahr 1866 in Gewissensnöte stürzte77. Als locus classicus konservativ-protestantischen Widerstandes sind nicht wenige geneigt, das Hitlerreich anzusehen, doch stößt man dabei auf gewisse Schwierigkeiten. Soweit der Widerspruch aus dem kirchlichen Raum heraus erfolgte, ging er zuerst auf religiöse und ethische Überzeugungen zurück. Politische Motive waren nachgeordnet. Meist wurde der protestantisch-konservative Widerstand in dieser Sphäre als politischer Widerstand contre coeur betätigt. Und soweit konservative Protestanten aus primär politischen Gründen gegen das NS-Regime Front machten, wäre wiederum zu untersuchen, ob und in welchem Umfang man mit spezifisch protestantischen Komponenten zu rechnen hat. Wer sich als Historiker mit dem protestantischen Konservativismus befaßt, hat dessen Formverwandlungen nachzugehen. Man begegnet auf protestantischem Boden mehreren Varianten des Konservativismus: der Sanktionierung des Obrigkeitssystems, dem Spezialfall eines Kultes der Legitimität und des Gottesgnadentums, wie man ihn von Jakob I. von England78 bis zu Friedrich Wilhelm IV. von Preußen79 verfolgen kann, einer Identifizierung mit dem Staat im hegelschen Sinn80. Im 19. und 20. Jahrhundert machte auch der konservative Protestantismus unumgängliche Konzessionen an die Demokratisierung des politischen Lebens und betätigte sich in Parlamenten und Parteien für seine Sache. Welchen Stellenwert die protestantische Sache innerhalb der britischen, der skandinavischen, der deutschen Konservativen bzw. der Deutschnationalen der Weimarer Republik tatsächlich hatte, müßte freilich erst untersucht werden. Bisher ist dies nur in historischen Randbemerkungen berührt worden. Beschäftigt man sich mit den Formverwandlungen des Konservativismus, wird man schließlich nachzudenken haben, ob man den Begriff auf solche Gruppen erweitern darf, die sich, jedenfalls heute noch, dagegen sträuben würden. Daß der Konservativismus vom Ende des 20. Jahrhunderts wirtschaftliche und gesellschaft76 Vgl. Briefwechsel des Generals Leopold von Gerlach mit dem Bundestagsgesandten Otto von Bismarck, Bln. 1893, und Ernst Ludwig von Gerlach, Von der Revolution zum Norddeutschen Bund I (Tagebuch 1848 – 1860), Gött. 1970 u. II (Briefe, Denkschriften, Aufzeichnungen) (Hg. H. Diwald), Gött. 1970. 77 Bibliographie zur „Hessischen Renitenz“, in: Schrifttum zur Geschichte und geschichtlichen Landeskunde von Hessen (Bearbeiter Karl E. Demandt), Wiesbaden 1965, 202 f. 78 Jakob I., Trew Law of Free Monarchies (1598), in: Charles H. McIlwain (Hg.), The Political Works of James I., Cambridge (Mass.) 1918. Literatur: W. H. Greenleaf, James I and the Divine Right of Kings, in: Political Studies 5 (1957), 36 – 48, und Gerhard A. Ritter, Divine Right und Prärogative der englischen Könige 1603 – 1640, in: HZ 196 (1963), 584 – 625. 79 Vgl. Leopold von Ranke, Aus dem Briefwechsel Friedrich Wilhelms IV. mit Bunsen, Lpzg. 1873, 233 f.; und Karl Haenchen (Hg.), Revolutionsbriefe 1848. Ungedrucktes aus dem Nachlaß König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen, Lpzg. 1930, 375 – 402. 80 Vgl. Reinhart Maurer, a. a. O.

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liche Positionen verteidigt, deren sich im 19. Jahrhundert der Antikonservativismus angenommen hatte, ist kaum zu bestreiten. Wenn man unter Konservativismus in erster Linie die Konservierung eines bestehenden gesellschaftlich-politischen Systems und seine Verteidigung gegen dessen Widersacher versteht, ist nicht einzusehen, warum man konservativen Protestantismus auf die Welt des Monarchismus und des Feudalismus fixieren müßte. Warum denkt man nur an Edmund Burke, an F. J. Stahl, an Groen van Prinsterer oder Abraham Kuyper, wenn man vom protestantischen Konservativismus spricht, und nicht an diejenigen starken Sektionen des nordamerikanischen Protestantismus, die das kapitalistische Gesellschafts- und Wirtschaftssystem und die ihm korrespondierende westliche Demokratie prinzipiell bejahen und sich gegen deren Transformation in Sozialismus zur Wehr setzen? Man müßte indessen noch einen Schritt weiter gehen. Der Kommunismus ist seit über sechzig Jahren eine etablierte Macht. Wir fragen nicht, ob Selbstbehauptung und Überlebensbedürfnisse oder andere Gründe beträchtliche protestantische Gruppen in diesem Machtbereich veranlaßt haben, sich auf den Boden der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung zu stellen, und konstatieren nur, daß sie das System faktisch in der politisch-gesellschaftlichen Dimension konservieren und stabilisieren helfen. Die Verbindung „Thron und Altar“ aktualisiert sich immer wieder aufs neue. Die protestantisch-sozialistischen und die spezifisch protestantisch-marxistischen Gruppen innerhalb der westlichen Welt interpretieren sich selbstverständlich als radikal progressiv. Aber die Verwirklichung dessen, was sie anstreben, hat längst einen Konservativismus sui generis hervorgebracht. Und warum sollte die uralte Erfahrung, daß die Progressiven von heute die Konservativen von morgen werden, plötzlich nicht mehr gelten?

b) Nationalprotestantismus Eine Darstellung des Nationalprotestantismus findet über die vorliegenden Forschungen zur Geschichte der national- und volkskirchlichen Organisationen und Gedankenwelt81 einen guten Einstieg, stets vorausgesetzt, man bleibt sich bewußt, es beim politischen Protestantismus nicht mit einem primär kirchengeschichtlichen Phänomen zu tun zu haben. Der Nationalprotestantismus ist in allen in Betracht kommenden Staaten ein geschichtserfülltes Erbe des konfessionellen Zeitalters. Er gewinnt eine neue Qualität durch die Französische Revolution als Geburtsstunde des politischen Nationalismus. Der konservative Protestantismus hat sich einhundertfünfzig Jahre gegen die Französische Revolution festgelegt und es sich gelegentlich zum Ruhm angerechnet, daß Revolutionen in protestantischen Ländern teils überhaupt nicht stattgefunden haben, teils vermeintlich positiver verlaufen seien als in katholischen Staaten82. Schon Hegel schlug ein Leitmotiv zu diesem Vgl. Alfred Adam, Nationalkirche und Volkskirche im deutschen Pietismus, Gött. 1938. Vgl. Maximilian Graf Yorck zu Wartenburg, Weltgeschichte in Umrissen. Federzeichnungen eines Deutschen. Ein Rückblick am Schluß des 19. Jahrhunderts, Bln. 181917, 317. 81 82

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Gedankengang an83. Tatsächlich hat jedoch der Nationalprotestantismus, meist ohne daß dies seine Vertreter wahrhaben wollten, die Prinzipien der Französischen Revolution rezipiert, namentlich soweit diese die souveräne Nation und ihre Selbstbestimmung in den Mittelpunkt gestellt hat. Gerade die Geschichte des konservativen Protestantismus im 19. / 20. Jahrhundert könnte man als einen Prozeß kontinuierlicher Unterwanderung durch einen Nationalprotestantismus beschreiben. Auch in der ausschließlich politischen Geschichte wandert der Nationalismus bekanntlich zwischen 1789 und 1933 von links nach rechts. Nüchtern betrachtet, war der vielberufene deutschprotestantische patriotische Idealismus der Befreiungskriege eine mit der Französischen Revolution engstens verwandte Strömung, auch wenn seine Exponenten sich vom Ende des 18. Jahrhunderts an als Gegenspieler der von Frankreich ausgehenden Bewegung verstanden. Ihre Gedankenwelt läßt sich von derjenigen der Französischen Revolution schlechterdings nicht trennen; Männer wie Arndt oder Schleiermacher haben als Protestanten mehr gegen Napoleon als gegen die Französische Revolution protestiert84. Einzuräumen ist allerdings, daß es liberale und konservative Spielarten des Nationalprotestantismus gegeben hat, von denen diese sich auf Burke und auf die sogenannte Deutsche Bewegung stützen konnten. Vielleicht kommt man heuristisch voran, wenn man auch innerhalb des Nationalprotestantismus zwischen stärkerer Akzentuierung der Volkssouveränität oder der Volksintegrität unterscheidet. In der Tradition der Volksintegrität ist dem konservativen Nationalprotestantismus im 20. Jahrhundert der Ertrag der Theologie der Schöpfungsordnungen zugute gekommen. Nation und Volk religiös zu sanktionieren, schloß eine ökumenische Gesinnung nicht aus, aber faktisch ließ das Bedürfnis nach Einheit von Konfession und Nation dasjenige nach Zusammengehörigkeit der Christenheit in den Hintergrund treten, sei es, daß man staats- oder volks- oder nationalkirchlichen Bestrebungen huldigte, sei es, daß man organisatorisch wenig interessiert war und das Komplementärverhältnis von Protestantismus und Nation primär in der intellektuellen Sphäre suchte. Der Nationalprotestantismus ist wie der Nationalismus eine internationale Größe und kann wissenschaftlich mit Aussicht auf Erfolg nur komparatistisch in Angriff genommen werden. National begrenzte Monographien liegen in großer Anzahl vor. Was das deutsche Beobachtungsfeld betrifft, sind wir über die pietistischen Wurzeln des Nationalprotestantismus85 ebenso unterrichtet wie über seine Veränderungen von Schleiermacher86 bis zum Bayreuther Kreis87 und zu den Deutschen ChriAufschlußreich zu diesem Komplex Gustav A. Rein, Die Revolution in der Politik Bismarcks, Gött. 1957. 83 Georg F. W. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte (Hg. H. Glockner) XI, Stuttgart 1928, 567: „Denn es ist ein falsches Prinzip, daß . . . eine Revolution ohne Reformation sein könne.“ 84 Vgl. Aus Schleiermachers Leben in Briefen II, Bln. 21860, 76 – 79. 85 Vgl. Anm. 69. 86 Vgl. Johannes Bauer, Schleiermacher als patriotischer Prediger, Gießen 1908, und Wolfgang Trillhaas, Schleiermachers Predigt, Bln. / NY. 1975, 114 – 119.

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sten88. Wir sind im Bilde über die nationalprotestantische Identifizierung mit historischen deutschen Staatswesen wie Preußen oder dem Kaiserreich von 1870, dem sogenannten evangelischen Kaisertum, von dem bei Bismarck und dem Nationalliberalen von Bennigsen im Reichstag die Rede war89, bzw. dem „Heiligen Evangelischen Reich Deutscher Nation“, um die Worte des Hofpredigers Adolf Stoecker zu verwenden90. Wir kennen die Konstruktion eines nationalprotestantischen deutschen Geschichtsbildes und den Versuch, einen Königsweg deutscher Geschichte von Luther und Gustav Adolf über Friedrich d. Gr. bis zu Bismarck anzubieten, der später gelegentlich bis zu Wilhelm II. und Adolf Hitler erweitert wurde91. Wir registrieren es als historische Nationalisierung des Denkens und der Mentalität protestantischer Gruppen, wenn sich der Verein deutscher Studenten, der einen nationalistischen und antisemitischen Protestantismus kultivierte, 1881 am Kyffhäuser zusammenfand92, oder daß sich ein Jahr später die Evangelischen Jünglingsvereine vor dem Hermanns-Denkmal im Teutoburger Wald zur deutschen Sektion des Christlichen Vereins junger Männer zusammenschlossen. Deutschprotestantische und völkische Tendenzen vereinten sich in der österreichischen Losvon-Rom-Bewegung93. Um alle diese Erscheinungen im geschichtlichen Prozeß richtig zu verorten, fehlt es jedoch bisher am Vergleich mit dem Nationalprotestantismus in Großbritannien, den USA, den nordischen Ländern, den Niederlanden 87 Vgl. Winfried Schüler, Der Bayreuther Kreis von seiner Entstehung bis zum Ausgang der Wilhelminischen Ära. Wagnerkult und Kulturreform im Geiste völkischer Weltanschauung, Münster 1971, 268 – 278. 88 Vgl. Kurt Meier, Die deutschen Christen. Bild einer Bewegung im Kirchenkampf des Dritten Reiches, Halle 1965, ders., Der evangelische Kirchenkampf, 3 Bde., Gött. 1976, und Klaus Scholder, Die Kirchen und das Dritte Reich I, Ffm. etc. 1977, 239 – 274. 89 Bismarck, Die gesammelten Werke, Bd. 11, Berlin 21929, 257 f. (Reichstagsrede vom 6.III.1872), und Walther Schulze und Friedrich Thimme (Hg.), Rudolf von Bennigsens Reden, II (1879 – 1901), Halle 1922, 93 f., sowie Hermann Oncken, Rudolf von Bennigsen. Ein deutscher liberaler Politiker nach seinen Briefen und hinterlassenen Papieren., II (1867 – 1902), Stgt. / Lpzg. 1910, 460. Theodor Schieder, Das deutsche Kaiserreich von 1871 als Nationalstaat, Köln / Opladen 1961, 81 f., und Ernst Bammel, Die Reichsgründung und der deutsche Protestantismus, Erlangen 1973. 90 Walter Frank, Hofprediger Adolf Stoecker und die christlich-soziale Bewegung, Hbg. 2 1935, 27 f. Vgl. auch Rein, a. a. O., 231 – 263. 91 Vgl. Max Lenz, Luther und der deutsche Geist, in: ders., Kleine historische Schriften, Mchn. u. Bln. 1920, 17 – 20, und Otto Westphal, Feinde Bismarcks. Geistige Grundlagen der deutschen Opposition, Mchn. / Bln. 1930. Zur Kritik an Westphal vgl. Hajo Holborn, Protestantismus und politische Ideengeschichte, in: HZ 144 (1931), 21 ff. Katholische Kritik am nationalprotestantischen Geschichtsbild: Eugen Jäger, Erinnerungen aus wilhelminischer Zeit, Augsburg 1926, 4 f. 92 Reinhard Wittram, a. a. O., 142. 93 Lothar Albertin, Nationalismus und Protestantismus in der österreichischen Los-vonRom-Bewegung um 1900, Köln 1953.

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oder dem tschechoslowakischen Neo-Hussitismus des 19. und 20. Jahrhunderts. Es fehlt an einer internationalen Typologie, an Studien über die gegenseitige Beeinflussung der nationalprotestantischen Strömungen in den verschiedenen Ländern wie an zusammenfassenden Untersuchungen über nationale Differenzen innerhalb ein und derselben konfessionellen Gruppe. Wir erinnern an die nationalen Spannungen innerhalb der evangelischen Kirchen der baltischen Staaten94 oder der lutherischen Kirche Polens95. Noch nicht ausgeschöpft dürfte die Wirkungsgeschichte der von vaterländischen Gehalten erfüllten volkskirchlichen Strömung des Grundtvigianismus außerhalb Dänemarks sein. Wünschenswert wären ferner vergleichende Forschungen über die konfessionelle Komposition des Geschichtsbilds und die konfessionelle Struktur des Geschichtsbewußtseins. In nicht wenigen Fällen wurde der kirchlich-konfessionelle Faktor nur mehr als Funktion des nationalen Organismus begriffen. Ausgehend vom Nationalbewußtsein hat man schließlich Völkergruppen und Rassen in eine konfessionelle Perspektive gerückt. Die meisten gebildeten evangelischen Nordamerikaner, Briten und Deutschen waren im 19. Jahrhundert davon überzeugt, daß ihre Völker die Erfolgsnationen der Neuzeit seien, mit anderen Worten, daß das protestantische Germanentum einem dekadenten lateinisch-katholischen Romanentum den Rang ein für allemal abgelaufen habe, und in diesem Sinne ist es zur Bildung von Geschichtsideologien gekommen96. Schon Arndt hat den Protestantismus einen „reinen Germanen“ genannt97. In einem jedem Geschichtsstudenten vertrauten Nachschlagewerk, dem Ploetz, lesen wir in der 22. Auflage von 1939 mit Bezug auf den Frieden von Hubertusburg und den gleichzeitigen Abschluß des Friedens von Paris 1763 zwischen England und Frankreich: „Das protestantische Germanentum hat gesiegt“98. Die Hervorhebung der Rasse als Schöpfungsordnung, die Bejahung segregationistischer Rassenpolitik und Pflege eines protestantisch-angelsächsischen Sendungsbewußtseins im Sinne providentieller Sanktionierung der eigenen Rassensuperiorität läßt sich am besten an einflußreichen Richtungen des nordamerikanischen und des britischen Protestantismus studieren99. Der nationalprotestan94 Vgl. Reinhard Wittram, Baltische Kirchengeschichte, Göttingen 1956, 273, 277 f. und 287 – 290. 95 Vgl. Alfred Kleindienst, Der Gedanke der Teilung nach nationalen Gesichtspunkten in der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen zwischen den beiden Weltkriegen, in: Zeitschrift für Ostforschung 13 (1964), 159 – 197; Armin Boyens, Kirchenkampf und Ökumene 1939 – 1945, Mchn. 1973, 33 – 40; Eduard Kneifel, Bischof Dr. Julius Bursche, Vierkirchen 1980. 96 Vgl. Heinz Gollwitzer, Zum politischen Germanismus des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift für Hermann Heimpel I, Gött. 1972, 282 – 356. 97 Ernst Moritz Arndts Schriften für und an seine lieben Deutschen, Bd. 3, Lpzg. 1845, 10. 98 Karl Ploetz, Auszug aus der Geschichte II, Bln. und Lpzg. 221939, 316. Ähnliche Meinungen haben – in weniger pointierter Form – bereits die Zeitgenossen im 18. Jahrhundert vertreten: vgl. Robert C. Walton, Die europäische Kirchengeschichte in der Entwicklung der amerikanischen Kirchen, in: Trutz Rendtorff (Hg.), Europäische Theologie. Versuche einer Ortsbestimmung, Gütersloh 1980, 159.

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tische, speziell kirchlich-theologische Beitrag des Burentums zur südafrikanischen Apartheidspolitik führt in aktuelle Zusammenhänge; die geschichtliche Wirkung eines protestantisch inspirierten angelsächsischen Rassismus von gestern und vorgestern erreicht er sicher nicht. Die ethnisch-rassischen „Pan-Bewegungen“100 des 19. und 20. Jahrhunderts wie Panslawismus und Pananglismus verfügten jeweils über konkrete konfessionelle Bezüge. Hinsichtlich ihrer Internationalität verglichen ihre Wortführer sie mit den Konfessionen. In Erkenntnis der bestehenden Strukturverwandtschaft hat man etwa den Anglo-Saxonismus als „our universal church in politics“ oder „our secular church“ bezeichnet101. Jedenfalls rückt der Nationalprotestantismus, bezieht man den Rassenstandpunkt in seine Geschichte ein, in universalhistorische Zusammenhänge, aber dies gilt auch für seine sämtlichen anderen Erscheinungsformen. Chronologisch gehört der Nationalprotestantismus in erster Linie dem Zeitalter des Nationalismus und Imperialismus und deren Ausläufern an. Daher war er in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch ein Faktor von erheblichem historischen Gewicht. Daß er sich in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts aus der öffentlichen Diskussion beinahe verflüchtigt hat, ist für den Historiker ein Grund mehr, seinen Spuren nachzugehen.

c) Protestantischer Liberalismus Wenn wir auch den protestantischen Liberalismus unter dem Gesichtspunkt der Einwirkung einer primär a-konfessionellen Bewegung auf den konfessionellen Raum behandeln, so ist doch einzuräumen, daß es wichtige innerkonfessionelle Wurzeln des Phänomens gab. Dazu zählten theologische Richtungen wie der niederländische Arminianismus und der englische Latitudinarianismus, religiöse Gruppenbildungen wie die der Sozinianer, der Mährischen Brüder, der Unitarier und der Quäker, kirchengeschichtliche Leistungen von Einzelpersönlichkeiten wie Roger Williams, Amos Comenius, William Penn. Des Quäkers William Penn amerikanisches Territorium Pennsylvanien, in dem Toleranz, Stimmrecht für alle Bürger, gesetzliche Garantien für die Indianer und Friede mit dieser ethnischen Minderheit gelten sollten, hat man als Modell eines protestantischen Liberalismus bezeichnet102. Hinzu kommt Penns Beitrag zur internationalen Organisation, sein 99 Vgl. Charles A. Anderson, a. a. O.; Frank S. Loescher, The Protestant Church and the negro, New York 1948; Paul Carter, The Decline and Revival of the Social Gospel, NY. 1954, 196 ff.; David M. Reimers, White Protestantism and the Negro, NY. 1965; Marty, a. a. O., passim; W. Edward Osser, Racial Attitudes in Wartime: The Protestant Churches during the Second World War, in: Church History 41 (1972), 337 – 353. 100 Darüber demnächst ausführlicher in Band II meiner „Geschichte des weltpolitischen Denkens“. 101 William T. Stead, The Americanisation of the World, Lndn. 1900, 78. 102 Hugh Barbour, William Penn. Model of the Protestant Liberalism, in: Church History 48 (1979), 156 – 173.

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Projekt einer europäischen Föderation vom Jahre 1693103. Penn war einer der nicht seltenen Fälle der Ambivalenz von homo religiosus und homo politicus. Den innerkonfessionellen Impulsen standen nun bei der Genese eines politischen protestantischen Liberalismus die säkulare Aufklärung, die Französische Revolution und der Liberalismus des 19. Jahrhunderts gegenüber. Wie im Nationalprotestantismus existierten auch im protestantischen Liberalismus der angelsächsischen und der deutschen Zone verständliche Hemmungen, sich mit der Französischen Revolution zu identifizieren. Man verwies auf ihre antichristlichen Bestandteile und ihre jakobinische Phase, die weder mit Liberalismus noch mit rechtsstaatlicher Demokratie mehr etwas zu tun hatte. Demgegenüber beharrten allerdings nicht wenige bewußt protestantische Zeitgenossen des Jahres 1789 und ihre intellektuellen Nachfahren darauf, daß die Grundprinzipien der Französischen Revolution mit christlicher Einstellung vereinbar seien104. Die Begeisterung des elsässischen Pietisten Oberlin105 für die Französische Revolution war die naive, der religionsphilosophische Brückenschlag zwischen Reformation und Französischer Revolution durch den Franzosen Edgar Quinet106 die reflektierte Variante eines politisch-protestantischen Liberalismus, der sich zu den Ideen von 1789 bekannte. Die außerhalb Frankreichs im protestantischen Liberalismus vorhandenen Vorbehalte gegen die Französische Revolution beruhten unter anderem darauf, daß sowohl die britisch-amerikanische wie die deutsche Aufklärung und der deutsche Idealismus (relativ) unabhängig einen solchen Fonds an freiheitlichen Überzeugungen begründet hatten, daß man der fremdnationalen Beiträge entbehren zu können glaubte. Gemeinsam war allen nationalen Schattierungen des liberalen Protestantismus die Auslegung der Reformation als eines Sieges der Gewissens- und Geistesfreiheit, der freien Forschung zumal, und des Individualismus. Ein so verstandenes reformatorisches Erbe konnte sich nicht auf gesinnungsbildende Funktionen in der Privat- oder der Kultursphäre beschränken, sondern es mußte in die gesellschaftliche und die politische Sphäre expandieren. Dies ist der Punkt, an dem eine Geschichte des politischen protestantischen Liberalismus anzusetzen hätte, die die Frage nicht umgehen könnte, ob sein Selbstverständnis sich auf reformatorische Zeugnisse stützen kann, ob es im wesentlichen der Aufklärung entstammt oder welche Rolle etwa in Deutschland Hegels Reformationsbegriff in diesem Zusammenhang spielte. Der liberale politische Protestantismus machte sich alle politischen Forderungen zu eigen, die der allgemeine Liberalismus erhob. Für Großbritannien wird durch die Protestantismus-Forschung des Landes nachgewiesen: Dissenters haben die Vgl. Kurt v. Raumer, Ewiger Frieden, Frbg. u. Mchn. 1953, 89 ff. und 321 ff. Zur katholischen Perspektive dieses Komplexes vgl. Hans Maier, Revolution und Kirche, Mchn. 41975. 105 Vgl. Camille Leenhardt, La Vie de J.-F. Oberlin 1740 – 1826, Paris / Nancy 1911, und W. Heinsius, Johann Friedrich Oberlin und das Steintal, Lohr 1956, 81 – 91. 106 Edgar Quinet, Le Christianisme et la Revolution Française, Paris 1845. 103 104

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Anti-Corn-Law-League, das Disestablishment der Staatskirche, die Wahl- und Parlamentsreform, Sozialreformen und die liberale Schulpolitik nachhaltig unterstützt107. Wenn der spätere preußische Oberpräsident von Vincke 1807 von „Kultur, Sittlichkeit, Freiheit und . . . Protestantismus“108 als seinen Idealen spricht, so spiegelt die von ihm aufgestellte Begriffsverbindung eine Mentalität, die seit dem 18. Jahrhundert die meisten protestantischen Gebildeten über nationale Grenzen hinweg ergriffen hatte und die im 19. Jahrhundert wohl als vorwiegend anzusehen ist. Was Vincke, geistesgeschichtlich gesprochen, mit deutschem Zungenschlag formulierte, lautete zwanzig Jahre später bei einem führenden nordamerikanischen Theologen folgendermaßen: „Unsere volkstümlichen Einrichtungen sind untrennbar mit der protestantischen Christenheit verknüpft. Beide beruhen auf dem gleichen Fundamentalprinzip, der ,absolute freedom of inquiry‘“109. Erforschung des politischen Protestantismus hat davon auszugehen, daß im Zeitalter des Neuprotestantismus die Mehrheit der protestantischen Bevölkerung schließlich Liberalismus und Protestantismus fast identifizierte, daß liberale Theologen und andere Wortführer der liberalen Interpretation der Reformation zustimmten und nichtliberale Theologen große Mühe hatten, die historischen Positionen der Reformation aufrechtzuerhalten. Zu belegen wäre, wie verbreitet die Auffassung war, daß nur auf dem Boden der Reformation Demokratie und freiheitliche Einrichtungen gedeihen könnten. Beklagte man es doch als das politische Grundübel der romanischen Länder, daß bei ihnen keine Reformation stattgefunden hatte110. Nachzuweisen wäre im Zusammenhang des protestantischen Liberalismus schließlich, wie viele Konversionen von Katholiken zum Protestantismus überwiegend aus politisch-ideologischem Protest gegen den sogenannten Ultramontanismus erfolgten111. Cowherd, a. a. O., 89. Ludger Graf von Westphalen, Stein und Vincke, o. O. 1977, 39. 109 Marty, a. a. O., 89. 110 Vgl. Hermann Baumgarten, Die religiöse Entwicklung Spaniens, Straßburg 1875, 8: „Indem sich Spanien ganz und ausschließlich unter die Herrschaft der katholischen Kirche begab, in einem so eminenten Sinne ein katholisches Volk wurde, wie kein anderes, zerstörte es zugleich die Wurzeln seiner sittlichen, geistigen, bürgerlichen und physischen Gesundheit.“ Dies ist der Grundtenor der protestantisch-liberalen Geschichtsschreibung über Spanien von Charles Weiß, L’Espagne depuis le règne de Philippe II etc., Paris 1844 über Hermann Baumgartens Werke zur neueren spanischen Geschichte bis zu den zeitgeschichtlichen Beiträgen Theodor von Bernhardis. Vgl. Friedrich von Bernhardi, Schlußwort zu Theodor von Bernhardi, Aus dem Leben etc. IX (in Spanien und Portugal), Lpzg. 1906, 520: „Wir erkennen, daß es im letzten Grunde der ultramontane katholische Gedanke, der ultramontane Katholizismus war, der Spanien in einen solchen Abgrund der Zerrüttung geführt hat . . .“ 111 Vgl. Pierre Guiral, Prevost-Paradol (1829 – 1870). Pensée et action d’un libéral sous le second empire, Paris 1955, 190 – 208, und Michel Dumoulin, La Correspondance entre Émile de Laveley et Marco Minghetti (1877 – 1886), Brüssel und Rom 1979. 107 108

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Zu den Komplikationen des politischen Protestantismus zählt, daß man im Lager des Liberalismus, der Demokratie und des Populismus häufig Dissenters und Freikirchler mit fundamentalistischen, also religiös durchaus illiberalen Überzeugungen als Kämpfer in vorderster Linie findet112. Im ganzen deckt sich jedoch die Zugehörigkeit zum protestantischen Liberalismus als politischer Größe mit liberalem Reformationsverständnis, liberaler Theologie und liberaler Religiosität. Da die Grenzen des protestantischen Liberalismus stets fließend und ihrer Natur nach insbesondere nach links weit geöffnet waren, stand seiner Zusammenarbeit mit konfessionell nicht mehr gebundenen, ja die Überwindung der Konfessionalität betreibenden Organisationen und dem Beitritt zu ihnen wenig im Wege. Der von dem Schweizer Juristen Johann Kaspar Bluntschli personifizierten Querverbindung von liberalem Protestantenverein und Freimaurerei113 liegt zweifellos ein genereller Sachverhalt zugrunde. Eine Geschichte des politischen Protestantismus dürfte an den protestantisch-freimaurerischen Beziehungen nicht vorbeigehen. Im Falle des Protestantenvereins wären weiterhin von Interesse die Beziehungen zu den Nationalliberalen. Eine polemische Schwerpunktbildung des protestantischen Liberalismus wird in seinem Antiklerikalismus sichtbar. Der Kulturkampf des 19. Jahrhunderts und seine Folgeerscheinungen im 20. Jahrhundert sind als Auseinandersetzung zwischen der römisch-katholischen Kirche und der laizistisch-antiklerikalen und mit ihr verbunden der freisinnig-protestantischen Welt ein universalgeschichtliches Ereignis von solcher Bedeutung, daß die protestantische Beteiligung am Kulturkampf allein schon die Anwendung des Begriffs politischer Protestantismus rechtfertigen würde. Bezeichnenderweise liegt zwar über den Kulturkampf als Konflikt zwischen Staat und Kirche eine immense Literatur vor, über ihn als europäische Schlacht zwischen katholischer Kirche und Freisinn schon sehr viel weniger und noch weniger über die spezifische Stellungnahme des Protestantismus bzw. der evangelischen Kirchen im und zum Kulturkampf: erstaunlich jedoch wohl nur für den, dem sich die Zwiespältigkeit und Unsicherheit des Protestantismus in Sachen der Kulturkampfproblematik nicht erschlossen hat. Untersuchungen, wie sie uns vorschweben, hätten also der Gespaltenheit des Protestantismus in christlich-ökumenische und in antiultramontan-rationalistisch-freisinnige Komponenten nachzugehen. Das bisherige Ausbleiben einer Monographie über Protestantismus und Kulturkampf ist durch diesen Pluralismus protestantischer Tendenzen wohl mitbedingt. Es müßte überdies die weithin übliche Festlegung auf preußischen Kulturkampf überwunden und der Kulturkampf, auch die Beteiligung des Protestantismus an ihm, als internationales Phänomen in Angriff genommen werden114. Allgemein zu Konversionen: Kurt Aland, Über den Glaubenswechsel in der Geschichte des Christentums, Berlin 1961. 112 Vgl. Wayne C. Williams, William Jennings Bryan, NY. 1936, und Marty, a. a. O., 220. 113 Vgl. Gotthold Falk, Johann Caspar Bluntschli, Bad Kissingen, ca. 1960. 114 Vgl. Günter Hollenberg, Englisches Interesse am Kaiserreich, Wiesbaden 1974, 123 f.

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Wie im Liberalismus allgemein, so ist auch im liberalen Protestantismus schon früh eine Spaltung in einen rechten Nationalliberalismus und einen Linksliberalismus bzw. eine eher demokratische als liberale Richtung zu konstatieren. Der Rechtsliberalismus als protestantisches Phänomen ging zu einem guten Teil im Nationalprotestantismus auf. In den USA konnte Rechtfertigung des Liberalismus aus dem protestantischen Lager mit sozial-darwinistischen und rassischen Argumenten arbeiten115. Demgegenüber öffnete sich der protestantische Linksliberalismus einem pazifistischen Internationalismus und humanitären Aktionen der verschiedensten Art, und schließlich wurde der linksliberale fast zur Gänze von einem sozialreformerischen und sozialistischen Protestantismus absorbiert, der allerdings einer eigenen Betrachtung bedarf. „Linksprotestantische“ Gruppen wie die Londoner Unitarier zur Zeit der Nordamerikanischen und Französischen Revolution oder die deutschen Lichtfreunde des Vormärz haben sich als Schrittmacher der politischen Radikaldemokratie ihrer Länder erwiesen, wie die Orthodoxie am rechten Flügel des Protestantismus in der Regel der politischen Reaktion behilflich gewesen ist. Einer Geschichte des politischen Protestantismus wäre aufgegeben zu ermitteln, ob die liberalen Impulse, die aus dem kirchlichen Raum hervorgegangen sind und auf die Politik übergegriffen haben, die stärkere Kraft gewesen sind oder die Liberalisierung des kirchlichen Raums aus politisch-gesellschaftlichen Ursprüngen. Generelle Aussagen darüber vorweg zu machen, empfiehlt sich kaum. Man wird bei der Inangriffnahme dieses Themas überdies zwischen dem amerikanischen und dem europäischen Protestantismus zu unterscheiden haben.

d) Sozialistischer Protestantismus Wer an den Komplex politischer Protestantismus und Sozialismus herangeht, hat sich zunächst um terminologische Klärung zu bemühen, um sich verständlich zu machen. Die Publizistik des 19. Jahrhunderts hat den Begriff christlicher Sozialismus kreiert, der zwar noch nicht ausgestorben, aber für das Verständnis der verwickelten Zusammenhänge eher hinderlich als hilfreich ist. Wir schlagen vor, diesen Terminus historisch einzuhegen, d. h. seine Anwendung auf solche Gruppen zu begrenzen, die sich selbst als christliche Sozialisten deklarierten. Daß früher die Bedeutung von sozial und sozialistisch fließend war, kompliziert die Situation. Der Historiker von heute kommt nicht darum herum, zwischen Sozialprotestantismus und sozialistischem Protestantismus zu unterscheiden und hervorzuheben, daß jener sich nicht auf linke Gruppierungen beschränkte. Es ist häufig vorgekommen, daß sich der soziale Protestantismus mit einer gesellschaftlich und politisch konservativen Tendenz verbunden hat. Dies läßt sich insbesondere von den großen sozialreformerischen Leistungen der britischen Evangelikalen im Zeitalter der indu115

Vgl. Marty, a. a. O., 152 f. u. 189.

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striellen Revolution sagen; sei es der erfolgreiche Kampf der Clapham-Sect und ihrer Nachfolger gegen Sklavenhandel und Sklaverei116, sei es die Sozialarbeit eines Tory wie Lord Shaftesbury in den 1830er Jahren117. Großbritanniens „ christliche Sozialisten“ um die Mitte des 19. Jahrhunderts standen politisch teilweise „rechts“118. Wie loyal Häupter der zunächst als Aufbruch zu gesellschaftlicher Reform verstandenen Inneren Mission in Deutschland, ein Wichern oder ein Bodelschwingh, zur Monarchie und zur Staatsordnung ihrer Zeit standen, ist bekannt119. Das Gleiche gilt für Adolf Stoecker und seine christlich-soziale Bewegung, deren Bedeutung für die Geschichte des deutschen politischen Protestantismus hoch einzuschätzen ist. In der breiten Bewegung des Social Gospel in den USA gab es wohl einen linken Flügel, aber die in der Mitte und auf der Rechten angesiedelten Anhänger machten bei weitem die Mehrheit aus120. Um den Gegensatz bestimmter heutiger zu den bisher erörterten Gruppierungen des politischen Protestantismus deutlich zu machen, böte sich die Bezeichnung Linksprotestantismus an, würde sie nicht einem stetigen Bedeutungswandel unterliegen. Der Terminus selbst ist relativ jung, aber was man damit meint, hat im Laufe der Zeit schon sehr verschiedene Ausprägungen erfahren. In einem präsozialistischen Zeitalter wurden Liberalismus und Demokratie als linksstehend geortet. Mit seiner Charakteristik des Dr. Price und seines Milieus hat Edmund Burke die klassische Beschreibung eines Linksprotestantismus (ohne dieses Wort selbst zu gebrauchen) im Zeitalter der Französischen Revolution geliefert121. Da wir den liberalen politischen Protestantismus, auch in seinen radikaleren Spielarten, bereits als eigene Formation eingeführt haben, können wir ihn nicht nachträglich mit ihm teilweise wesensfremden Gruppen auf den gemeinsamen Nenner eines Linksprotestantismus bringen, dem dann alle Richtungen zuzuordnen wären, die sich selbst als progressiv verstanden. Wir ziehen vor, statt dessen diejenigen Gruppen unmittelbar ins Visier zu nehmen, die, auf dem Boden des Protestantismus verbleibend, eine sozialistische Gesellschaftsordnung anstreben und einen Zusammenhang zwischen ihrer konfessionellen und ihrer politisch-gesellschaftlichen Position suchen. Dem sozialistischen Protestantismus geht es um eine Gesamtveränderung der Gesellschaft. Teilveränderungen der Gesellschaft sind bereits mit jeder erfolgreichen Sozialreform verbunden, auch mit solchen, die von politisch Konservativen in die 116 Vgl. Ernest M. Howse, Saints in Politics. The Clapham Sect and the Growth of Freedom, NY. 1952 (Neudr. 1971); E. R. Norman, Church and Society in England 1770 – 1970, Oxford 1977. 117 Vgl. John L. und Barbara Hammond, Lord Shaftesbury, London 41936 (Neudr. 1969). 118 Vgl. John F. D. Maurice, The Life of Frederick Denison Maurice etc., 2 Bde., Lndn. 1884. 119 Über Bodelschwinghs Rolle bei der Einführung des Sedanfestes vgl. Theodor Schieder, a. a. O., 125 ff. 120 Vgl. Paul Carter, The Decline and Revival of the Social Gospel, NY. 1954. 121 Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France (mit Einführung von A. J. Grier), Lndn. 1910.

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Hand genommen wurden. Der evangelikale britische Abolitionismus wie die Tätigkeit derjenigen amerikanischen protestantischen Gruppen, die sich für die Aufhebung der Sklaverei einsetzten, standen vom Sozialismus in marxistischem Sinn meilenweit entfernt, aber sie haben einen ziffernmäßig beträchtlichen Teil der Gesellschaft erfaßt und dessen Lebensbedingungen grundlegend verändert. Andere Bereiche des sozioökonomischen Prozesses ließen sie jedoch unangetastet. Demgegenüber wünscht der sozialistische Protestantismus den evolutionären oder revolutionären Umbau der gesamten Gesellschaft im Sinne der Erzväter der sozialistischen Lehre. Reform des Bestehenden genügt ihm nicht, schon gar nicht dann, wenn diese Reform eine Revitalisierung der überkommenen Gesellschaftsordnung ermöglichen würde, und er zieht daraus die politischen Konsequenzen. Konkret ergibt sich aus alledem, daß eine Geschichte des sozialistischen Protestantismus die protestantischen Komponenten von Labour, die Begegnungen von Protestantismus und kontinentaleuropäischem Sozialismus und den linken Flügel des nordamerikanischen Social Gospel ins Auge zu fassen hätte. Die derzeitigen oder ehemaligen Missionsgebiete haben wir aus unseren Vorüberlegungen ausgeschlossen, doch sei der Hinweis erlaubt, daß der Weltprotestantismus sich seit geraumer Zeit auch mit den vielfältigen Varianten eines afrikanischen und asiatischen Sozialismus auseinandersetzt. Die Sonderstellung Labours im internationalen Sozialismus beruht nicht nur auf der Distanz zum Marxismus, sondern auch auf der nie abgebrochenen Verbindung zum Dissentertum122. Die auch in England erfolgte starke Entkirchlichung der Arbeitermassen ist kaum Gegenstand einer Geschichte des politischen Protestantismus, wohl aber ist es die Tatsache, daß die Führung und die Ideologie einer zunehmend einflußreichen politischen Partei und der mit ihr verbundenen Gewerkschaften sich nie auf einen antireligiösen oder antikirchlichen Standpunkt eingelassen und nachweisbar mit dem Kongregationalismus und anderen Varianten des Nonkonformismus Kontakte unterhalten haben. Sollte es zutreffen, daß der britische Sozialismus von geringerer Radikalität als der kontinentaleuropäische gewesen ist, wäre weiter zu untersuchen, ob seine gemäßigtere Verfassung mit seinen protestantischen Bindungen zusammenhängt. Man hat es schon – uns erscheint dies fragwürdig – auf Wesleys konservativen Methodismus zurückgeführt, daß die Unterschichten Englands nicht zu einer Massenerhebung parallel zur Französischen Revolution zu bewegen waren123. Von den kontinentaleuropäischen Gebieten mit überwiegend protestantischer Bevölkerung wählen wir, wenn wir von sozialistischem Protestantismus sprechen, 122 Vgl. Franz Linden, Sozialismus und Religion. Konfessionssoziologische Untersuchungen der Labour Party 1929 – 1931, Köln 1932. 123 In der Geschichtswissenschaft anscheinend erstmals erörtert durch Elie Halévy, Histoire du peuple anglais au XIXe siècle I, Paris 1913, 401. Die Halévy-These vom Methodismus als „antidote to Jacobinism“ wurde in der Folge lebhaft diskutiert. Vgl. Norman, a. a. O. und A. Armstrong, a. a. O. sowie Elissa S. Itzkin, The Halévy-Thesis – A Working Hypothesis? Etc., in: Church History 44 (1975), 47 – 56.

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Mitteleuropa aus. Über die Verhältnisse in den Niederlanden und Skandinavien liegt uns nicht genügend Material vor. Im Gegensatz zu Großbritannien war die Distanz des offiziellen Parteisozialismus im Deutschen Reiche zum kirchlichen Protestantismus bis 1933 bzw. 1945 sehr ausgeprägt. Die Tatsache, daß das sozialdemokratische Parteiprogramm die Religion zur Privatsache erklärt hatte, muß durch den Hinweis ergänzt werden, daß eine a-kirchliche oder antikirchliche Haltung des sozialdemokratischen (erst recht des kommunistischen) Funktionärskorps bis 1933 / 45 die Regel bildete. Die Zahl der Dissidenten war erheblich, und auf jeden Fall verfügte das freidenkerische Element124 in der SPD über eine weitaus mächtigere Position als der sogenannte religiöse Sozialismus, dem einflußreiche Parteipolitiker vor 1933 nur in Ausnahmefällen zugerechnet werden können125. Der religiöse Sozialismus, der ganz überwiegend auf protestantischem Boden wuchs, hat in Deutschland wie in der Schweiz nicht wenige markante Vertreter aufzuweisen; nicht alle sozialdemokratischen Parteianhänger unter Theologen und kirchlich gesinnten Laien kann man jedoch dem religiösen Sozialismus zurechnen. Geistesgeschichtlich und in seiner Vorläuferrolle für die Entwicklung nach 1945 ist der religiöse Sozialismus ohne Zweifel von Wichtigkeit. Dazu kommt, daß der linke Flügel des amerikanischen Social Gospel, Reinhold Niebuhr an der Spitze, in seiner (später überwundenen) radikalen Phase mitteleuropäisch-marxistisch, weniger wohl von Labour, beeinflußt gewesen ist. Dies alles ist in einer Geschichte des politischen Protestantismus jedoch von dem tatsächlichen politischen Einfluß zu trennen, und dieser war, verstanden als protestantischer Trend innerhalb des Parteisozialismus, sehr gering. Daß sich diese Feststellung für die Zeit nach 1945 nicht mehr aufrecht erhalten läßt, zählt zu den bemerkenswertesten Erscheinungen in der Geschichte des politischen Protestantismus. Der seit 1945 oder wahrscheinlich schon Jahre vorher heimatlos gewordene deutsche politische Protestantismus hat neue Wege eingeschlagen. Einer davon war die Integrierung eines großen protestantischen Potentials in der SPD. Als Schlüsselfigur ist in diesem Zusammenhang die Persönlichkeit des späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann zu nennen, dessen Gesamtdeutsche Volkspartei zwar nicht reüssierte, aber später als charakteristisch protestantisches Ferment innerhalb der SPD ihre Wirkung tat126. Diese Vorgänge in der Bundesrepublik darf man freilich nicht isoliert sehen. Viel124 Jochen-Christoph Kaiser, Arbeiterbewegung und organisierte Religionskritik. Proletarische Freidenkerverbände in Kaiserreich und Weimarer Republik, Stgt. 1981. 125 So der Reichsjustizminister Gustav Radbruch und der preußische Kultusminister Adolf Grimme. Kirchliche Bindungen: der preußische Innenminister Carl Severing. 126 Vgl. Karl-Ludwig Sommer, Gustav Heinemann und die SPD in den 60er Jahren, Mchn. 1980. Zum religiösen Sozialismus Mitteleuropas vgl. Gerda Soecknick, Religiöser Sozialismus der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung Deutschlands, Jena 1926; Johannes Rathje, Die Welt des freien Protestantismus, Stuttgart 1952; Markus Mattmüller, Leonard Ragaz und der religiöse Sozialismus, 2 Bde., Zollikon / Basel 1957 / 68; Günther Dehn, Die alte Zeit, die vorigen Jahre, München 1962; Arnold Pfeiffer (Hg.), Religiöse Sozialisten, Olten und Frbg. i. Br. 1976.

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mehr muß man sie in den Zusammenhang einer sich als progressiv verstehenden und interpretierenden Politisierungstendenz des kirchlich verfaßten Weltprotestantismus einordnen, deren Erfolge am Handeln seiner Spitzengremien abzulesen sind. Welchen quantitativen Anteil am Weltprotestantismus dessen linke Fraktion einnimmt, wäre zu ermitteln. Jedenfalls hat die hier nur angedeutete Entwicklung seit 1945 kirchlich wie politisch heute schon sehr weitreichende Folgen gezeitigt. Diese sind längst zu einer Komponente der Zeitgeschichte geworden und daher auch zum Bestandteil einer Geschichte des politischen Protestantismus, wie sie uns vorschwebt. Im protestantischen Raum findet man häufig eine Verzahnung sozialistischer und pazifistischer Überzeugungen. Trotzdem empfiehlt es sich, die beiden Komplexe auseinanderzuhalten. Einmal ist die Tradition kriegsdienstverweigernder, radikalpazifistischer Randgruppen des Protestantismus wie der Mennoniten und der Quäker127 weit älter als die des organisierten Sozialismus, zum anderen ist die innerprotestantische ökumenische Bewegung von Anfang an und ohne deswegen ursprünglich sozialistisch zu sein mit pazifistischen Tendenzen gekoppelt gewesen128. Überdies sind die Anhänger des Sozialismus zwar überzeugt, daß nach universeller Verwirklichung ihrer Ziele der Weltfriede gewährleistet sein müßte, doch interpretieren sie sich selbst nicht als Pazifisten, und wo immer es zu primär pazifistischen Bewegungen und Aktivitäten gekommen ist, zeichnen sich diese durch eine autonome Schwerpunktbildung aus, die mit derjenigen der Sozialisten nicht identisch ist. Viel schwieriger als zwischen Sozialismus und Pazifismus ist der gleitenden Übergänge wegen zwischen Sozialismus und Kommunismus zu unterscheiden. Darauf ist im Schlußkapitel noch einzugehen.

VII. Versuche historischer Gliederung Bisher haben wir Gliederungsversuche spezifisch historischer und d. h. periodisierender Art noch nicht unternommen, da sich, abgesehen von dem Ereignis der Reformation selbst, keine deutlichen und allgemein als verbindlich anerkannten Zäsuren als Anhaltspunkte für die Abgrenzung von Epochen anbieten. Bei Größen wie dem politischen Protestantismus, die man als Syndrome kirchen-, kultur- und sozialgeschichtlicher Vorgänge aufzufassen hat, ist es schwierig, Veränderungen durch Periodisierung in den Griff zu bekommen. Langfristiger und zähflüssiger Wandel von Gesinnungs- und Überzeugungsfaktoren überlagert die ereignisgeschichtlichen Markierungen. Im Falle des politischen Protestantismus wäre es aus diesem Grund verfehlt, die Periodisierungen der allgemeinen politischen Geschichte als Raster zu übernehmen. Die geistigen Prozesse, die auch dem politischen Protestantismus primär zugrunde liegen, beanspruchen ihr Eigenrecht den Vgl. Hans-Jürgen Goertz (Hg.), Die Mennoniten, Stuttgart 1971. Vgl. Darril Hudson, The Ecumenical Movement in World Affairs, Lndn. 1969, und Hollenberg, a. a. O., 132 – 146. 127 128

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politischen Prozessen selbst der longue durée gegenüber, von der Tagespolitik ganz zu schweigen. Die Langlebigkeit der geistigen Komponenten jeder Konfession ist so groß, daß man besser von einem Nebeneinander statt von einem Nacheinander der wichtigeren Trends spricht. Dafür ein Beispiel: Bei nur oberflächlicher Kenntnis der Dinge könnte man vielleicht der Meinung sein, daß der Antiromanismus, der von Anfang an den Protestantismus charakterisierte, durch die Aufklärung und das Ereignis der Französischen Revolution abgeschwächt worden sei, da nunmehr eine Gegenfront zum Christentum insgesamt in Erscheinung getreten war. Es gab einzelne Ereignisse, die diese Vermutung zu bekräftigen scheinen; etwa die spontane Fürsorge des englischen Protestantismus für nach England geflohene römisch-katholische Geistliche129, desselben Protestantismus, der seine politische Suprematie als Staatsreligion und seine Privilegien in England und in Irland gegen die einheimischen Katholiken mit Härte zu wahren suchte. Aber aufs ganze gesehen überwog die Rezeption der Aufklärung und damit der Französischen Revolution durch den politischen Protestantismus. Und was den protestantischen Antikatholizismus bzw. Antiultramontanismus betraf, so entfaltete er sich im 19. Jahrhundert zu einer Intensität wie kaum je zuvor. Die antirömische Tendenz der Protestanten war vor dem Durchdringen der Aufklärung konfessionell begrenzt, überschaubar und auf eine feste Anzahl elementarer Überzeugungen beschränkt. Durch Aufnahme aufklärerischer Elemente komplizierte sie sich, und erst im 19. Jahrhundert, also nach der Französischen Revolution, erreichte sie ein Maximum an Reflexion und Ideologisierung. Ein antiaufklärerischer und antirevolutionärer Protestantismus existierte neben dem Antiultramontanismus, nicht nach ihm. Die Französische Revolution wäre daher als Wegmarke für eine allgemeine Umorientierung und als Hilfsmittel der Periodisierung wenig hilfreich; jedenfalls könnte sie als solche nicht alle Bereiche des politischen Weltprotestantismus dekken. Durch die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, durch das ständige Nebenund Übereinander verschiedener historischer Schichten wird eine chronologisch gliedernde Darstellung des politischen Protestantismus, die sich über eine nur referierende Aneinanderreihung des Faktischen erheben möchte, also ganz ungemein erschwert, wenn nicht unmöglich gemacht. Ein realisierbares Verfahren ergäbe sich vielleicht in der Weise, daß man mit heuristischen Antithesen arbeitet und mit ihrer Hilfe den Forschungsgegenstand einzukreisen sucht. Wir nennen als Beispiele, die sich erheblich vermehren ließen, die Antithesen Protest und Ausgleich, staatlich-nationale Integration und Internationalisierung, Reglementierung und Emanzipation. Paradigmatisch skizzieren wir im folgenden die Antithese Protest und Ausgleich. Wenn im Zusammenhang dieses Vortrags öfter von Protestanten als von evangelischen Christen die Rede war130, so einmal deswegen, weil in der politischen Norman a. a. O., 21. Für die sozusagen kirchlich-offiziöse Differenzierung des 19. Jahrhunderts zwischen „evangelisch“ und „protestantisch“ innerhalb des deutschen Protestantismus – in der briti129 130

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Dimension sprachgeschichtlich nachweisbar „protestantisch“ bevorzugt wird, zum anderen, weil in der Artikulation des Protestantismus der Protest von Anfang an eine zentrale Rolle spielte. Protest hat sich im konfessionellen Zeitalter primär gegen Rom gerichtet, aber noch lange danach blieb diese Stoßrichtung erhalten. Wir erinnern an die zahlreichen antikatholischen Assoziationen Großbritanniens im 18. und 19. Jahrhundert und die Orange-Logen und ihre Nachfolgeorganisationen in Nordirland131, an den „Protestantischen Kreuzzug“ der Know Nothings im nordamerikanischen Nativismus und die Aktivität verwandter Organisationen der USA132, an den schweizerischen Antiromanismus133, an den Kulturkampfprotestantismus und Erscheinungen des Nachkulturkampfes im Deutschen Reich, wie den Evangelischen Bund oder die mit ihm korrelierende Los-von-Rom-Bewegung in Österreich134. Wie man von russisch-orthodoxer Seite noch in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dem Deutschen Reich einen antirömischen Protest als geistiges Daseinsprinzip zuschrieb, läßt sich in Dostojewskijs „Tagebuch eines Schriftstellers“ nachlesen135. Noch in der Gegenwart kann man in Nordirland beobachten, schen und nordamerikanischen Welt des Protestantismus verhielt und verhält es sich anders – sehr aufschlußreich Albert Hauck, Vittoria Colonna, Heidelberg 1882 (= Sammlung von Vorträgen für das deutsche Volk, hg. von Wilh. Frommel u. Friedr. Pfaff, Bd. VII, H. 2), 29 – 62, 54 f.: „Aber wenn Vittoria weder die negative Stellung des Protestantismus zum mittelalterlichen Dogma, doch die oppositionelle zur kirchlichen Hierarchie teilte, so ist andererseits keine Frage, daß sie in der Zentrallehre von der Rechtfertigung mit ihm eines Sinnes war. War sie nicht protestantisch, so war sie doch evangelisch gesinnt: beides war damals noch nicht wie jetzt identisch. Und man irrt nicht, wenn man urteilt, daß ihr vornehmstes Interesse nicht bei denen ihr von Jugend auf gewohnten Vorstellungen war, ebensowenig bei den in ihrer Umgebung heimischen Wünschen und Hoffnungen einer Reformation durch die Hierarchie, sondern es lag durchaus in dem in ihren Gedichten immer von neuem wiederholten Gedanken der Rechtfertigung durch den Glauben.“ Zum neuen Sprachgebrauch betr. „evangelisch“ und „protestantisch“ vgl. Walther von Loewenich, Glaube, Kirche. Theologie, Witten 1958, 130 – 150. Zur historischen Entfaltung der Terminologie vgl. Wilhelm Maurer, Evangelisch, in: RGG II, Tbgen. 31958, Sp. 775 f.; ders., Protestantismus, in: Handbuch der theologischen Grundbegriffe II, Mchn. 1963, 372 – 387; ders., Die „Protestantische“ Kirche in Bayern, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 32 (1963), 271 – 295. Im Deutschen ist für jede Art der Verbindung vom Reformatorischen mit dem Politischen „protestantisch“ vorzuziehen. Dies um so mehr, als in der Sprache der Gebildeten „protestantisch“ auch die säkularisierten Spielarten des Reformatorischen umfaßt, einschließlich der Möglichkeit, „ungläubig, aber den Protestantismus als Kriegsahne tragend“ Politik zu treiben. (So Prokesch-Osten 1853 – nur halb zu Recht – über Bismarck: Eduard von Wertheimer, Bismarck im politischen Kampf, Bln. 1930, 34.) 131 Vgl. Mary D. R. Leys, Catholics in England 1559 – 1829, Lndn. 1961, und E. R. Norman, Anti-Catholicism in Victorian England, Lndn. 1968. H. Senior, Orangism in Ireland and Britain, 1795 – 1836, Lndn. 1966; Machin, a. a. O., 92 ff., und Desmond Bowen, The Protestant Crusade in Ireland 1800 – 70, Dublin / Montreal 1978. 132 Vgl. die in Anm. 23 angegebene Literatur, und Walter B. Posey, Religious Strife on the Southern Frontier, Baton Rouge 1965. 133 Vgl. Andreas Lindt, Protestanten und Katholiken im Kulturkampf, Zürich 1963. 134 Vgl. Anm. 93.

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wie eine Gruppe unter antirömischer Firmierung ihren politischen Besitzstand gefährdet glaubt und ihn in militanter Weise aufrechtzuerhalten bestrebt ist – im Falle beider beteiligter konfessioneller Mächte ein Schulbeispiel dafür, wie, gestützt auf alte Traditionen, aber unter gleichzeitiger Entleerung von christlichen Gehalten, ursprünglich kirchlich-religiöse Gruppierungen sich zu machtpolitisch-gesellschaftlichen Größen säkularisiert haben. Dem protestantischen Antiromanismus steht nun schon im konfessionellen Zeitalter eine irenisch-melanchthonische Tendenz gegenüber, und am Ende der konfessionellen Epoche spricht das Instrument des Westfälischen Friedens die Hoffnung auf einen dereinstigen Vergleich der verfeindeten Religionsparteien aus. Erst im dialektischen Prozeß von Protest und Ausgleich wird die ganze Fülle der Möglichkeiten auch eines politischen Protestantismus sichtbar. Nie sind von den Zeiten Leibniz’ bis in das 20. Jahrhundert die Unionsgespräche mit der römisch-katholischen Seite abgerissen, die auch politischen Charakter trugen. Als primär politisch ist im zweiten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Einbeziehung des konservativen kontinentalen Protestantismus in das überkonfessionelle System der Heiligen Allianz zu bezeichnen. In Andeutungen war bereits von möglichen politischen Begleiterscheinungen des im 20. Jahrhundert einflußreicher gewordenen katholisch-evangelischen Ökumenismus die Rede, der ebenfalls zu den Faktoren des Ausgleichs zählt. Vielleicht kann man mit der gebotenen Vorsicht davon sprechen, daß die innerprotestantische Ökumenisierung einen politisch linken, die interkonfessionelle Ökumenisierung als Una-Sancta-Bewegung einen politisch rechten Akzent trägt. Politischer Protest nicht nur gegen Rom, sondern auch gegen die Aufklärung und ihren durchschlagendsten politischen Erfolg, die Französische Revolution! Schon vor 1789 haben sich protestantische Vereinigungen die Bekämpfung der Aufklärung, auch in politischer Hinsicht, zum Ziel gesetzt, so die Deutsche Christentumsgesellschaft Urlspergers136 oder die 1785 gegründete Haager Gesellschaft zur Verteidigung der christlichen Religion. Das von Neuengland ausgehende Second Great Awakening wird u. a. als amerikanisch-protestantische Abwehrreaktion gegen die Französische Revolution gedeutet137. Später hat man den Protest gegen die Französische Revolution namentlich von seiten des europäischen protestantischen Konservativismus betrieben. Aber, wie schon erwähnt, bedeutete es nicht nur kirchen- und theologiegeschichtlich, sondern auch politisch mehr, daß es zu freundlichen Begegnungen zwischen Protestantismus und Aufklärung, Protestantismus und Liberalisierung gekommen ist, die entscheidend am Zustandekommen des Neuprotestantismus mitgewirkt haben. 135 Fedor M. Dostojewskij, Tagebuch eines Schriftstellers (Hg. A. Eliasberg) IV, Mchn. 1963, 116 ff., 256, 261, 354 – 382. 136 Ernst Staehlin, Die Christentumsgesellschaft in der Zeit der Aufklärung und der beginnenden Erweckung etc., Basel 1976, und ders., Die Christentumsgesellschaft in der Zeit von der Erweckung bis zur Gegenwart, Basel 1974. 137 Vgl. Robert C. Walton, Die europäische Kirchengeschichte, 162 f.; ebenda auch über andere nordamerikanisch-protestantische Reaktionen auf die Französische Revolution.

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Protest gegen den Kommunismus: Für eine erdrückende Mehrheit des politischen Protestantismus dürfte sich Antikommunismus zur Zeit der russischen Revolution und noch lange danach als einzig vertretbare politische Haltung von selbst verstanden haben. Mit dieser Selbstverständlichkeit ist es inzwischen vorbei. Zwar ist die Mehrheit des Kirchenvolkes in der westlichen Welt auch heute noch antikommunistisch eingestellt. Ebenso wird Antikommunismus bei einigen kleineren Kirchen und Denominationen, auch bei einigen kirchlichen Föderationen und internationalen Gruppierungen, seitens der Führung wie der Anhängerschaft, noch demonstrativ betont. Für die evangelischen Großkirchen gilt dies indessen nicht mehr. Der im kommunistischen Herrschaftsbereich existierende Protestantismus enthält wohl noch ein beträchtliches nichtkommunistisches Potential, im ganzen ist er zur Sicherung seiner Lebensmöglichkeiten auf Ausgleich mit den kommunistischen Regimen bedacht. Und die protestantischen Kirchen auf westlichem Boden haben es heute allenthalben mit prokommunistischen oder jedenfalls solchen Bestandteilen zu tun, die Antikommunismus als politische Haltung strikt ablehnen. Die Maßregelung des ersten deutschen evangelischen Pfarrers, der der KPD beigetreten ist, Erwin Eckerts, vom Jahre 1931 läßt sich nach 1945 offensichtlich nicht mehr wiederholen138. Für die Erforschung des politischen Protestantismus eröffnet sich gerade auf dem Gebiet der protestantisch-kommunistischen Beziehungen ein weites Feld. Da man es beim Kommunismus mit einem Phänomen zu tun hat, das schon weit über ein halbes Jahrhundert alt ist und infolgedessen in die Kompetenz der Zeitgeschichte fällt, ist es gewiß keine aktualisierende Abschweifung, sondern legitime Betätigung, wenn sich der Historiker mit dem Verhältnis des Kommunismus zu den Konfessionen beschäftigt. In die Zeitgeschichte längst eingegangen ist auch die Politik des Weltkirchenrates, dessen politische Optionen und Aktivitäten einer historischen Beleuchtung bedürften. Soviel zu dem Paradigma Protest und Ausgleich. Als weiteres Verfahren, das diachronisch durchzuführen wäre, empfiehlt es sich möglicherweise, die Periodisierung der neueren Kirchengeschichtsschreibung zu übernehmen, von ihren Ergebnissen auszugehen und diese jeweils aus politischer Perspektive zu durchleuchten. Die meisten der hierbei aufzustellenden Fragenkataloge und die anzuwendenden Kriterien sind in unseren bisherigen Ausführungen bereits enthalten; Vollständigkeit war selbstverständlich nicht möglich. Zu ergänzen ist auf jeden Fall und in jeder Epoche die Frage, ob und in welchem Grade die Masse der Protestanten mit ihrer geistlichen Spitzenrepräsentanz in politischer Hinsicht übereinstimmt. Im zeitgeschichtlichen Rahmen ließe sich dies am Beispiel der Zustimmung oder Nichtzustimmung oder auch der Indifferenz der protestantischen Allgemeinheit hinsichtlich der eben erwähnten Politik des Weltkir138 Vgl. Friedrich-Martin Balzer, Klassengegensätze in der Kirche. Erwin Eckert und der Bund der Religiösen Sozialisten Deutschlands (mit Vorwort v. W. Abendroth), Köln 1973, und Richard Sorg, Marxismus und Protestantismus in Deutschland. Eine religionssoziologisch-sozialgeschichtliche Studie zur Marxismusrezeption in der Evangelischen Kirche 1848 – 1948, Köln 1974.

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chenrates oder politischer Stellungnahmen der Kammer für öffentliche Verantwortung der EKD untersuchen. In diesem Zusammenhang ist der hohe Grad an Säkularisierung bei den Protestanten zu beachten. Die meisten von ihnen nehmen in politischen Fragen auf ihre Konfessionszugehörigkeit keine oder nahezu keine Rücksicht, es sei denn, sie hätten das Empfinden, im öffentlichen Leben als protestantische Gruppe benachteiligt oder angegriffen zu werden. Bei einem gewissen, weithin schon erreichten Maß an Säkularisierung und dem damit meist verbundenen Verlust an historischer Dimension läßt sich sinnvoll wahrscheinlich überhaupt nicht mehr von politischem Protestantismus sprechen. Genauer gesagt und mit den Augen des Historikers betrachtet: Man ist sich der durchaus existenten konfessionellen Schichten im eigenen Denken und Handeln nicht mehr bewußt, und erst recht vermag man nicht mehr die säkularisierten Derivate ursprünglich konfessionellen Verhaltens als solche zu erkennen. Die Aufgabe einer Geschichte des politischen Protestantismus in unserem Zeitraum besteht selbstverständlich primär darin, das Vorhandensein eines beträchtlichen konfessionellen Fundus auch nach dem konfessionellen Zeitalter nachzuweisen. Wenn man auf diesem Wege bis an die Schwelle der Gegenwart gelangt, könnte man darüber hinaus vom historischen Befund ausgehend mehr oder minder verschüttete Komponenten unseres aktuellen politischen Bewußtseins offenlegen.

Deutsche Palästinafahrten des 19. Jahrhunderts als Glaubens- und Bildungserlebnis Eine reiche Literatur berichtet seit Jahrhunderten von dem Bildungserlebnis deutscher Italienfahrten. Auch Reisen nach Griechenland wurden vor und seit der europäischen Bewegung des Philhellenismus in beträchtlicher Zahl unternommen und als ein besonderes Kapitel in dem anziehenden Buch deutsch-neugriechischer Beziehungen beschrieben. Anders steht es mit dem Heiligen Lande in neuerer Zeit. Die kulturgeschichtliche Bedeutung des Morgenlandes für das mittelalterliche Abendland wurde durchaus anerkannt, teilweise sogar überschätzt; mit Kreuzzugsgeschichte war das historische Bewußtsein der Gebildeten fast übersättigt. Seit dem Anbruch der Neuzeit hat man jedoch einen nennenswerten morgenländischen oder gar palästinensischen Einfluß auf die europäische Gesittung nicht mehr gebucht. Palästinareisen, wie sie seit dem Ende der napoleonischen Ära wieder häufiger unternommen wurden, hat der Zeitgeist zumeist nur als Kuriosum oder ExKurs gewertet. Auf der Suche nach Charakteristiken des Europäers im Gegensatz zum Abendländer schreibt E. Rosenstock: „Bei Abendland war durch den unwirklichen, aber unvermeidlichen Drang nach Jerusalem eine geographische Verrenkung zustande gekommen. Diese geographische Verrenkung fällt bei Europa mit einem Schlage fort. Europäer werden heißt für die Kreuzzüge nichts mehr übrig haben.“1 Abendland aber, als Geschichtsraum gedacht, schließt nicht mit einem bestimmten Dezennium oder Säkulum ab, sondern lebt innerhalb des neuzeitlichen Europa und mit ihm weiter, wie wiederum Rosenstock in seinem zu wenig bekannten Versuch einer Klarstellung der Begriffe Abendland und Europa gezeigt hat. Und mit dem Abendland besteht seine morgenländische Komponente fort. Welt und Landschaft der Bibel blieben durch das Wirken von Kirche und Schule im restlichen Gemüt aller Schichten lebendig. Der Einfluß des Alten Testaments auf abendländische Kultur und Lebensführung erreichte seinen Höhepunkt erst im protestantisch-reformierten Christentum, im Israelitismus der Angelsachsen und Niederländer.2 Die kabbalistische Strömung bannte die Blicke ihrer Anhänger nach mystischen Zentren in Palästina, dem Ausgangspunkt eines theosophisch-theokratisch verstandenen Logos.3 Was in des Geistersehers Swedenborg Logen des Neuen Jerusalem noch sinnbildlich, „himmlisch“ zu verstehen war, wurde von der großen Heerschar der Sektierer und Schwärmer, der Chiliasten, Apokalyptiker und pro1 2 3

E. Rodenstock, Europäische Revolutionen, S. 46. Vgl. H. Schöffler, Abendland und Altes Testament, Frankfurt a M. 1941. Vgl. O. Eberz, Die beiden Traditionen in der Theosophie (= Hochland, 17 / I, S. 284 ff.).

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phetisch gestimmten Pietisten je und je ganz konkret genommen. Um zwei bekannte Namen zu nennen: In den frommen Berechnungen des württembergischen Kirchenvaters J. A. Bengel wie in den Geschichten Jung-Stillings spielten auch die diesseitige Stadt Jerusalem und Palästina eine wichtige Rolle. Wo solcher Geist wehte, blieb die Sehnsucht wach, das Heilige Land mit eigenen Augen zu sehen, ein Bedürfnis, das voll der durch Krippen- und Ölbergbilder angeregten Phantasie des gemeinen Mannes katholischer Länder wie auch bei einzelnen Protestanten immer von neuem hervorgerufen wurde. Die „Heilige Land Reiß“ fügte sich nicht schlechter in den Stil barocker Volksfrömmigkeit als in den vorausgegangener Perioden. Selbst während des stärksten Vorwaltens aufklärerischer Strömungen wissen wir von schlicht-gläubigen Pilgerfahrten mit oder ohne literarischen Niederschlag, die davon Zeugnis ablegen, wie in jedem Zeitalter die verschiedenartigsten seelisch-geistigen Strukturen neben- und übereinander bestehen4. Unser Hinweis auf die Kontinuität der Pilgertradition soll nicht verschleiern, daß die Palästinafahrten seit dem Durchdringen der Neuzeit zunächst ständig abgenommen haben. Während aber im 18. Jahrhundert die frommen Reisen in das Heilige Land ihren Tiefstand erreichten, wandte sich mehr und mehr das Interesse säkularen Forschens dem Lande der Bibel zu. Eine Elite englischer und französischer Gelehrter hatte den Boden Palästinas schon betreten und durchackert, bevor Bonapartes ägyptische Expedition stattfand, die viel beitrug, um die Anteilnahme am Orient geradezu zur wissenschaftlich-literarischen Modesache zu machen. Seit Napoleon rückte Palästina wieder in das Blickfeld der Weltpolitik. Die europäische Krise des Jahres 1840, der Krimkrieg und schließlich die Ereignisse seit dem ersten Weltkrieg haben stets von neuem die Augen der Weltöffentlichkeit auf Palästina gelenkt. Napoleons Auftreten in Palästina kennzeichnet aber auch den Höhepunkt aufklärerischen Desinteressements am Heiligen Lande. Zwar erzählt der Korse selbst5, wie seine Soldaten vor Begierde brannten, nach Jerusalem zu kommen, wie einige auf dem Marsche Psalmen und Klagelieder des Jeremias sangen. Im Zelt des Generals las der Mathematiker Monge sogar Abend für Abend aus der Bibel vor. Aber dies geschah nur aus Gründen der Unterhaltung, des wissenschaftlich-topographischen Interesses. Im übrigen war Napoleon peinlich darauf bedacht, die Gefühle der mohammedanischen Bevölkerung nicht zu verletzen. Strategische Rücksichten standen ihm weit höher als das Bedürfnis, die heiligen Stätten zu sehen; „Jerusalem liegt außerhalb meiner Operationslinie“, soll er doppeldeutig geäußert haben6. Und seine Meldung „L’armée de la République est maîtresse de tout le Palestine“7 un4 Als wichtigste Bibliographien zur Palästinaliteratur neuerer Zeit nenne ich hier R. Röhricht, Bibliotheca Geographica Palästinae, Berlin 1890 und P. Thomsen, Systematische Bibliographie der Palästinaliteratur, Leipzig und New York 1908 ff. 5 Napoleons Leben von ihm selbst, übersetzt und herausgegeben v. H. Conrad, Bd. IV2, S. 42, 47 f. 6 Diese Äußerung taucht immer wieder in der Pilgerliteratur auf; einen authentischen Beleg konnte ich aber nicht finden. 7 Napoleon, Correspondance, V, Nr. 4035.

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terscheidet sich in nichts von anderen seiner ebenso militärisch-präzisen wie propagandistisch-monumentalen Verlautbarungen nach europäischen Waffenerfolgen. Doch schon bereitete sich auf solch bewußtes Nichtanknüpfen an die Tradition der Kreuzfahrer die Peripetie vor. Sieben Jahre nach Bonaparte betrat ein Kreuzfahrernachkomme, der Dichter und Politiker A. de Chateaubriand, von romantisch-christlichen Stimmungen durchdrungen, das gelobte Land. „Lorsqu’en 1806 je entrepris le voyage d’outremer, Jerusalem étoit presque oubliée! un siecle antireligieux avoit perdu mémoire du berceau de la religion: comme il ny´ avoit plus de chevaliers, il sembloit qu’il ny´ eut plus de Palestine.“8 So schrieb der Epigone in der Einleitung zu seinem vielgelesenen „Itineraire“. Chateaubriand, weit entfernt von naiver Pilgergesinnung, war ein arbiter elegantiarum in Sachen literarischer Moden und Stimmungen. Sein Beispiel machte Schule. Die vielfach bezeugte, in Schrifttum und Kunst fruchtbar gewordene orientalische Strömung Frankreichs besaß bald in der um sich greifenden palästinensischen Wanderlust einen starken christlichen Seitentrieb, der bei der aristokratischen Gesellschaft der Restauration und nicht minder des Julikönigtums besonderen Anklang fand. Auch Männer der Feder, die christlicher Palästinabegeisterung ferner standen, wurden von dem Sehnen nach dem gelobten Land ergriffen. 1830 / 31 waren Michaud und die frommen Brüder Poujoulat dorthin gezogen, 1832 folgte Lamartine, der mit einer Eskorte von 25 Mann durch Galiläa und Judäa ritt. Der Inhalt seiner „Voyage en Orient“ 1835 trug ihm die Antipathien der katholischen Restauration und sogar den Tadel des Papstes ein. Als „Antilamartine“ erfreute sich dann in kirchlichen Kreisen der Trappist und Palästinapilger Maria Joseph (ursprünglich Ferdinand) Baron von Geramb, einst österreichischer Kammerherr und Offizier, schließlich Mönch zu Latrappe, der sein Reisebuch dem kämpfenden Klerus von Frankreich gewidmet hatte, zeitweise einer gewissen Beliebtheit9. Von späteren Palästinafahrern seien Flaubert und Renan hervorgehoben. Bei den deutschen Romantikern begegnen wir nicht wenigen Geisteswanderern, die im Orient „das höchste Romantische suchen“10. Novalis stellte fest, daß eine „Näherung ans Morgenland durch die neueren politischen Verhältnisse“11 stattfinde, auch an Hinweisen auf wiedererwachende Neigung zum Heiligen Lande fehlte es nicht. Der Brand der Grabeskirche 1808 ließ in Europa aufhorchen. Adam Müller verwandte das Ereignis in den „Elementen der Staatskunst“ zu einem für sein Europabild bezeichnenden Vergleich. In der unversehrt gebliebenen Grabeskapelle sah er sinnbildlich das Fundament der christlichen Religion, während ihm die nieder8 Chateaubriand, Œuvres, 9, I. Abenteuerliche Romantik trieb in den 20er Jahren Königin Caroline von England nach Palästina. Sie stiftete in Jerusalem einen Orden und ernannte zu dessen Großmeister ihren Günstling Bergami (vgl. A. Stern, Geschichte Europas, Bd. 2, S. 427). In diesem Zusammenhang sei auch an Lady Ellenborough erinnert, über die u. a. Graf Schack berichtet. 9 Deutsch: Maria Joseph von Geramb, Pilgerreise nach Jerusalem und auf den Berg Sinai in den Jahren 1831, 1832 und 1833, Aachen 1837. 10 Minor, Friedrich Schlegels prosaische Jugendschriften, Bd. II, S. 362. 11 Novalis, Die Christenheit oder Europa, herausgegeben von Raich, Mainz 1880, S. 176.

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gebrannte große Kirche als das sich über dem Fundament wölbende europäische Staatensystem erschien12. Wenn wir uns im folgenden einigen deutschen Palästinafahrern zuwenden, erheben wir nicht den Anspruch, das Heilige Land als Reiseerlebnis des 19. Jahrhunderts im Gesamt zu erfassen. Nur als Skizze ist dieser Versuch gedacht, aus der Geschichte deutscher Begegnungen mit dem Heiligen Lande einzelne Gestalten und Phasen herauszuarbeiten und etliche Perspektiven aufzuzeigen. Wir beginnen mit einem hochwissenschaftlichen Unternehmen, wenn wir ins 18. Jahrhundert auf Carsten Niebuhr zurückgreifen. Im Rahmen seiner arabischen Expedition, einem glänzenden Auftakt orientalistischer Forschung, tragen die palästinensischen Aufenthalte zwar nur episodischen Charakter. Aber die fast modern anmutende, sachlich-saubere Forschungsgesinnung, die den Kundfahrer und sein Reisewerk durchdrang, wurde im besten Sinn für spätere Unternehmungen epochemachend und rechtfertigt die Aufnahme in unsere Übersicht noch mehr als der formale Grund, daß der 3. Band der Reisebeschreibung, der die Fahrt nach Palästina enthält, erst 1837 veröffentlicht wurde13. Die „gelehrte Sendung nach Arabien“14 ging auf eine Anregung des Göttinger Orientalisten, Hofrat Michaelis, zurück, der zunächst an die unter den damaligen Verhältnissen wohl aussichtslose Reise eines philologischen Einzelgängers zum Zweck der Aufhellung wichtiger alttestamentlicher Fragen gedacht hatte. Wie nun aus der ausschließlich sprachwissenschaftlichen eine vorwiegend naturwissenschaftliche Expedition wurde, wie Abraham Kästner auf den jungen Niebuhr als Reiseteilnehmer verfiel und A. L. Schlözer, der Jahrzehnte von einer Orientfahrt träumte, beiseite stehen mußte, ist uns u. a. in des Sohnes B. G. Niebuhrs reizvoller Biographie „C. Niebuhrs Leben“ ausführlich geschildert. Die Expedition währte von 1766 bis 1767; von den europäischen Teilnehmern blieb Niebuhr der einzige Überlebende. Biblischen Boden hatte er, außer in Ägypten, zunächst nur gelegentlich einer Exkursion nach dem Sinai betreten. Erst auf der vorletzten Etappe der Rückreise, von Haleb aus, suchte er Zypern auf, nahm eine Gelegenheit wahr, nach Jaffa zu fahren, und ging von dort nach Jerusalem. Sein Besuch in Palästina entbehrt jeden schwärmerischen Zug. Welcher Unterschied zwischen der rationalistischen Nüchternheit des Friesen und dem Pathos der rund 20 Jahre vorher unternommenen Reise des M. Stephanus Schultz, „20jährigen reisenden Mitarbeiter bey dem Callenbergischen Instituto Iudaico“ zu Halle, eines gefühlsreichen Pietisten und protestantisch-barocken Dieners am Wort, der in der Bibel lebend und webend den Schauplatz der Offenbarung betrat und trotz umständlicher Aufzeichnung oft wertvoller Nachrichten und Merkwürdigkeiten stets den gelehrten Hebräisten hintanstellt und zuerst erbauen und Gottes Ruhm verkünA. H. Müller, Die Elemente der Staatskunst, herausgegeben von Baxa, Bd. II, S. 166. C. Niebuhrs Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern, 3. Bd., herausgegeben von I. N. Gloyer und J. Olshausen, 1837. – Die beiden ersten Bände waren 1774 und 1778 erschienen. 14 B. G. Niebuhr, C. Niebuhrs Leben, S. 232 (= B. G. Niebuhr, Briefe und Schriften, ausgewählt und eingeleitet von Lorenz, o. J.). 12 13

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digen will15. Niebuhr dagegen wußte Gott wohl Dank für gnädige Behütung auf der Reise (III, 46), aber Palästina als klassisch christlicher Boden wurde ihm nicht im geringsten Anlaß zu religiöser Ergriffenheit. Er sah sich vielmehr bewogen, das Treiben der Religionsparteien an den heiligen Orten einer, allerdings maßvollen, aufklärerischen Kritik zu unterziehen. „Es ist wohl überaus selten, daß noch jetzt ein Laie aus Europa bloß aus Andacht nach Jerusalem reiset“, stellt er fest, und den Fall eines schwedisch-evangelischen Pastors aus Finnland, dessen Pilgerfahrt ein trauriges Ende genommen hatte, verzeichnet er mit mitleidsvoller Anteilnahme (III, 37 u. 39 ff.). Das Verhalten der Mohammedaner den Christen gegenüber findet er im Grunde recht tolerant. „Wäre Jerusalem noch in den Händen der Christen, so möchten diese es den fremden Religionsverwandten, und vornehmlich den Juden vielleicht nicht erlauben, ihren Gottesdienst hier öffentlich zu halten“ (III, 48). Alles in allem erscheint ihm Jerusalem als „geistliches Zollhaus“ (III, 50) und der Traditionsgehalt der Stadt wäre das letzte gewesen, was ihn behindert hätte, in seinen gewissenhaften Beobachtungen, Messungen und Bestimmungen, im fleißigen Sammeln geographischer Fakten fortzufahren. Eine etwas kahle, aber gediegene Wissenschaftlichkeit, wie sie den akademischen Stil Göttingens im 18. Jahrhundert zum Teil kennzeichnet, und protestantisches Pflichtethos – „Gib, daß ich tu mit Fleiß, was mir zu tun gebühret“ –, Initiative und Werktreue hatten in Niebuhr glücklich zusammengefunden und eine achtungswerte Leistung entstehen lassen. Deutsche Reisende, die sich Jahrzehnte später nach dem Orient aufmachten, fühlten sich bewußt als Fortsetzer der Niebuhrschen Überlieferung. So Ulrich Jaspar Seetzen (geb. 1767), der ebenfalls an der Georgia Augusta studiert hatte und dort als Schüler Blumenbachs von dem hochgestimmten geographisch-naturwissenschaftlichen Streben zutiefst ergriffen worden war16. Seetzen war zunächst den Weg eines erfolgreichen Geschäftsmannes und Unternehmers gegangen. Aber ein wahrer Enthusiasmus der Erkenntnisfreude ließ ihn nicht mit bürgerlicher Hantierung zufrieden bleiben. Seine Sehnsucht war der Orient, dem er aber nicht in romantischem Fernweh, sondern in aufklärerischem Forschungsdrang und „entdekkungsgeistiger“ (Jahn) Wißbegierde zustrebte. Umsichtig und lerneifrig traf er seine Vorbereitungen, die Finanzierung des Unternehmens besorgte der Gothaer Hof. 1802 trat Seetzen seine Reise an. Palästina, für Niebuhr ein Abschluß, bildete für ihn eine Durchgangsstation. Schier unüberwindliche Schwierigkeiten stellten sich dem Reisenden schon in Palästina und Syrien in den Weg. Aber mit dem Fanatismus des ganz und gar seiner Sache Verfallenen wußte er sich zu halten, und soweit nur möglich schickte er Pflanzen, Mineralien, Seeprodukte, Manuskripte und Aufzeichnungen nach Gotha. Auch Gedichte ließ er nach Europa gelangen, die in Wielands „Teutschem Merkur“ veröffentlicht wurden. Seine Stimmung im Heiligen 15 Der Leitungen des Höchsten nach seinem Rat auf den Reisen durch Europa, Asia und Afrika fünfter und letzter Teil aus eigener Erfahrung beschrieben; und auf vieler Verlangen dem Druck übergeben von M. Stephanus Schultz, Halle 1775. 16 Vgl. U. J. Seetzens Reisen durch Syrien, Palästina usw., herausgegeben und kommentiert von Prof. Dr. Fr. Kruse, Berlin 1854, Bd. II.

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Lande unterscheidet sich kaum von der anderer Reisephasen. Die historisch-religiösen Zusammenhänge lassen ihn fast kalt. Hier wie anderswo treibt ihn der Stoffhunger junger Wissenschaft, sucht er in leidenschaftlichem Sammlerfleiß alle nur faßbaren digna notatu zusammenzuraffen. Wie bei Niebuhr begegnen uns in buntem Wechsel geographische und völkerkundliche Feststellungen, religionswissenschaftliche und soziologische Bemerkungen, Aufzeichnungen über Vegetation und Tierwelt, landschaftliche und bauliche Merkwürdigkeiten. Er zitiert Büsching, die geographische Autorität der Zeit, und vergleicht eigene Wahrnehmungen mit den Aussagen der Bibel. Die wachsende Anteilnahme an erweiterten philologischen Studien machte sich auch bei Seetzen bemerkbar; namentlich die Zigeunersprache fesselte ihn. Die Vokabulare, die er in seine Aufzeichnungen aufnahm, erinnern in ihrer fragmentarischen Art allerdings an ähnliche Versuche in mittelalterlichen Wallfahrtsbüchern. Gegenüber der Heilsgeschichte und ihren Denkmalen wie dem religiösen Leben der Christen verhält er sich ganz als Aufklärer, und zwar noch schroffer als Niebuhr. Er spricht von den Evangelisten als den „Biographen des Nazareners“ (II, 35), entrüstet sich über den „höllischen Sektengeist der Griechen und Armenier“, ihre „abgeschmackten Vorurteile“ und beklagt, daß bei den Mönchen das „Gebiet des Nachdenkens . . . gänzlich ohne Kultur geblieben sei“. Seine Unterhaltungen mit griechischen Mönchen veranlassen ihn zu Meditationen darüber, wie schwer es dem Menschen falle, alte Vorurteile abzulegen und „das Zerrglas zu zerbrechen, womit diese uns alle Gegenstände, welche die Religion betreffen, betrachten lassen“ (II, 10 f.). Und nicht ohne Genugtuung vermerkt er in seinen Notizen über den frommen Kunstfleiß der Bethlehemiten, aus deren Werkstätten Rosenkränze, Kreuze, Madonnenmilch, Modelle vom Heiligen Grab u. dgl. den Weg nach Europa fanden: „Indessen scheint die fromme Vorliebe der europäischen Katholiken von Jahr zu Jahr sich zu vermindern. Schon liefern Frankreich und Deutschland keine Beiträge mehr und folgen auch Spanien, Portugal und Italien einst ihrem Beispiel, welcher Zeitpunkt vielleicht nicht mehr fern sein dürfte, so hören diese Institute natürlicherweise von selbst auf“ (II, 17). 1807 verließ Seetzen Palästina und ging auf Wunsch Hammer-Purgstalls nach der Landenge von Suez, wo er die Verbindung des Mittelländischen mit dem Roten Meer untersuchte. In Arabien ist der kühne und unbeugsame Forscher verschollen. Geist vom Geiste Niebuhrs und Seetzens durchdrang den Basler Patriziersohn Johann Ludwig Burckhardt (geb. Lausanne 1784). Ebenfalls ein Musensohn der Georgia Augusta, hat er sich nach jahrelanger strengster Vorbereitung in London nach Syrien begeben und von dort, als gelehrter indoarabischer Kaufmann verkleidet, seine ergebnisreichen Streifzüge nach dem Libanon und Hauran, dem peträischen Arabien, der Wüste EI Ty, der Sinaihalbinsel und anderen benachbarten Gegenden durchgeführt. Was die christlichen Pilger ins Heilige Land führte, übte auf den tiefschürfenden Orientalisten wenig Anziehungskraft aus. Der Grund hierfür lag weniger in seinem rationalistischen Denken als in einer „spezialistischen“ wissenschaftlichen Haltung, die man kritisieren kann, aber als unbestechlich und heroisch anerkennen muß. In ausschließlicher, höchst disziplinierter, man möchte sagen

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zölibater Erfüllung eines selbstgewählten Auftrags wurde Burckhardt, erst 33jährig, in Kairo dahingerafft. Seine Forschungen wurden zunächst 1821 von Leake in englischer Sprache, ein Jahr später von dem Hallischen Theologen Gesenius deutsch veröffentlicht17. Allen bisher erwähnten Forschern bedeutete Palästina nicht mehr als einen Nebenschauplatz; nicht so dem katholischen Theologen und Orientalisten Joh. Martin Augustin Scholz (geb. Kapsdorf bei Breslau 1794), der nach Wiener und Freiburger Studienjahren die Förderung Niebuhrs und Altensteins gefunden hatte18. Schon bot man Scholz, der sich 1819 / 20 zu Studienzwecken in Paris aufhielt, im preußischen Kultusministerium eine Professur für Altes Testament an, aber der Gelehrte zog es vor, sich dem Unternehmen des Generalmajors Freiherrn von Minutoli anzuschließen, der im Verein mit mehreren Gelehrten eine Expedition nach der Cyrenaika, Ägypten, Abessinien, Arabien, Chaldäa und Assyrien plante. Minutolis Vorhaben, von widrigen Schicksalen aller Art heimgesucht, scheiterte bereits in Ägypten. Scholz jedoch, eine anima candida, deren kindlicher Harmlosigkeit es später in Bonn gelang, mit den Hermesianern und ihren Gegnern auf gleich gutem Fuß zu stehen, machte sich in wackerer Zuversicht selbständig, schloß sich dem Bischof von Babylon an und reiste mit ihm nach Palästina und Syrien (1821). Der junge Gelehrte hatte ein offenes Auge für die Welt des Orients, als Theologe nahm er besonderen Anteil an allem, was in Palästina Beziehungen zur Wissenschaft des Alten und Neuen Testaments bot. Seine Forschungsergebnisse waren für Bibelkunde und Statistik der katholischen Kirche nicht ohne Belang19. Scholz’ Reisebuch ist ein Brief an die Mutter eingefügt, der die Palästinafahrt des Sohnes als ein christliches Erlebnis, als Pilgerschaft zur Heimat des Heilands schildert (S. 25 f.). Wir haben keinen Grund, an der Aufrichtigkeit dieses Bekenntnisses zu zweifeln, können uns aber nicht verhehlen, daß die literarischen Zeugnisse des Forschers überwiegend ein autonom-wissenschaftliches Interesse zum Ausdruck bringen. In der Diktion bekundet sich die josephinische Schule, die Scholz durchlaufen hat. Klarheit und Übersichtlichkeit waren nicht Scholzens Stärke. Nach seiner Rückkehr erlangte er einen Lehrstuhl in Bonn, enttäuschte aber als Universitätslehrer völlig. Seine 1830 – 1836 vollbrachte Neuausgabe des Neuen Testaments bedeutete infolge quellenkritischer Irrtümer des Editors einen Rückschritt gegenüber dem bis dahin maßgeblichen Werk Griesbachs und rief Constantin von Tischendorf auf den Plan, von dem wir noch hören werden. – In seinem Reisebericht hatte Scholz christenfeindlicher Unruhen im Osmanischen Reich und mo17 J. L. Burckhardts Reisen in Syrien, Palästina und der Gegend des Berges Sinai. Aus dem Englischen. Herausgegeben und mit Anmerkungen begleitet von Dr. Wilhelm Gesenius, Weimar 1824. 18 Vgl. Schrörs, Geschichte der katholisch-theologischen Fakultät zu Bonn, 1818 – 31, Köln 1922, S. 96 f. 19 Als unmittelbarer Niederschlag der Reise kommen in Betracht: J. M. A. Scholz, Reise in die Gegend zwischen Alexandrien und Parätonium usw., Leipzig und Sorau 1822 sowie derselbe, Biblisch-kritische Reise in Frankreich, der Schweiz, Italien, Palästina und im Archipel in den Jahren 1818, 1819, 1820, 1821 nebst einer Geschichte des Textes des Neuen Testaments, 1823; ich zitiere nach dem erstgenannten Werk.

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hammedanischer Ausschreitungen gegen das russische und österreichische Konsulat in Akkon Erwähnung getan (S. 23). 1829 begab sich eine der glanzvollsten Persönlichkeiten der österreichischen Diplomatie, Anton von Prokesch, der im Mittelmeerraum seine größten Erfolge errungen hat, nach Akkon, erwirkte in Verhandlungen mit dem dortigen Pascha Vergünstigungen für die Christen in Palästina und Galiläa und pflanzte im Rahmen einer imposanten militärischen Demonstration eigenhändig die österreichische Flagge auf den Mauern des Konsulats auf. Als ein Meister der Feder hat Prokesch, Seefahrer und Staatsmann, seinen Aufenthalt im Heiligen Lande geschildert und dadurch, wie Zeitgenossen bestätigen, manche Anregung ausgestreut20. So las Prokeschs Palästinawerk 1831 der damals in Wien weilende Philosoph und Philolog Ernst von Lasaulx, und alsbald ergriff den heißblütigen Jüngling ein unbezähmbares Verlangen, ebenfalls nach den heiligen Stätten zu pilgern. Wir dürfen annehmen, daß die Lektüre Prokeschs als zündender Funke in ein durch andere Einflüsse längst vorbereitetes Gemüt fiel. Lasaulx gehörte dem spätromantischen, konfessionell-katholischen Münchner Kreis um seinen Verwandten Görres an. Der „Alte vom Berge“ hatte die Wiederaufnahme frommer Übungen, nicht zuletzt der Wallfahrten, feurig verteidigt, andererseits als romantischer Mythologe den Weg nach dem Orient gewiesen. Ihm, dem „geistigen Führer des romantischen Zuges nach der mythischen Heimat im Osten“21 hat Lasaulx als einem der ersten seinen Plan unterbreitet. Die Palästinareise bildete den Abschluß der Studien- und Wanderjahre Lasaulx’. Er zog aus als klassischer Philologe und Erkunder mythologischer wie sprachwissenschaftlicher Zusammenhänge im Dienst einer orientalisch-okzidentalischen Altertumskunde. Schwerer noch fiel bei Lasaulx – und er ist in unserer Übersicht der erste, von dem man es getrost behaupten kann – der religiöse Gesichtspunkt ins Gewicht. Christlich-romantischer Enthusiasmus hatte ihn ergriffen und ließ ihn mit unerschütterlicher Hartnäckigkeit die nicht wenigen und nicht geringen Hindernisse überwinden, die sich ihm in den Weg stellten22. „Jerusalem wird mir immer lieber in meiner Seele, ich sehe schon die Zinnen der heiligen Stadt im Glanze der Abendsonne vor meinem trunkenen Auge liegen und das Herz frohlockt in meiner Brust . . . ich muß dahin und werde alles Menschenmögliche aufbieten und versuchen“ (S. 36 f.), lesen wir in einem seiner Briefe. Und an anderer Stelle: „Darum, weil, was immer die Philologen schwatzen mögen, das Heil nicht von den Griechen kommt, bleibe ich nicht hier, sondern werde morgen oder übermorgen weiterziehen zu der trauernden Witwe am Jordan“ (aus Griechenland, S. 64). Wir betrachten es als eine schöne Fügung, daß dem Gläubigen auch das erbetene Wunder nicht versagt blieb. Nicht nur, daß er in Italien die persönliche Bekanntschaft Prokeschs machte, auch die schier ausweglos erscheinenden finanziellen Schwierigkeiten wurden durch einen reichen jungen 20 Prokesch, Reise in das Heilige Land, Wien 1831; trotz meiner anhaltenden Bemühungen ist es mir bisher nicht gelungen, des Buches habhaft zu werden. 21 Schroeter-Bäumler, Der Mythus von Orient und Okzident, S. XCIX. 22 Vgl. R. Stölzle, E. von Lasaulx, Münster 1904, S. 22 ff.; ich zitiere nach Stölzle.

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Franzosen, den Lasaulx zufällig kennengelernt hatte, behoben. August 1833 konnte L. endlich seine seit zwei Jahren gehegten und vorbereiteten Pläne zur Ausführung bringen; über zwei Monate weilte er im Heiligen Lande, bewußt an alte christliche Pilgertradition anknüpfend. Wenn uns seine Reisebriefe und ein späterer Bericht auch nur ein bruchstückhaftes Bild seiner Eindrücke vermitteln, so scheint es uns doch, daß L. aus echter religiöser Begeisterung mit einem selten geschlossenen und fruchtbaren Erleben begnadet wurde, voller Augenpracht und geistigem Gehalt. In der Vorrede zu seinem „Neuen Versuch einer alten auf die Wahrheit der Tatsachen gegründeten Philosophie der Geschichte“, München 1856, einer heute fast verschollenen, aber seinerzeit aufmerksam beachteten, u. a. von J. Burckhardt geschätzten Schrift, hat er mehr als 20 Jahre später bekannt, daß nicht wenige der entscheidenden Gedankengänge seines Buches auf Wanderungen in Jerusalem gewonnen und gestaltet worden seien. Die Schönheit der L.schen Sprache, inbrünstig und leuchtend, bald feinsinnig-malerisch, bald weihevoll, erhöht den Genuß, den uns die Lektüre seiner Briefe bereitet. Hören wir ihn selbst: „Donnerstags, am 5. IX. 1833, um 6 Uhr morgens, erblickte Dein unwürdiger Sohn Ernst die Zinnen der Friedensstadt, sie war ganz von einem lichtgrauen Nebelschleier umflossen und über ihr hing eine schwere Wetterwolke, von den ersten Strahlen der Morgensonne durchbrochen; es war, wie wenn „ein Zorngericht Gottes die Tochter Zions umwölkte“ (Jerem., Klagelieder 3, 1). Zu weinen bin ich hierher gegangen und heiße Tränen und ein kalter Schauer meines Herzens waren der erste, wolle Gott nicht der einzige Tribut, den ich seiner und seines Sohnes Liebe darbrachte. Ich ließ mein Pferd dem Führer und schritt langsam und wie ein Träumender zwischen den verschleierten Landfrauen, die Trauben und Feldfrüchte zur Stadt trugen, durch das Pilgertor“ (S. 70 ff.). Die Lieblingsvorstellung des christlichen Humanisten vom ëüãïò óðåñìáôéêïò nimmt auch Ernst von Lasaulx, den Kenner der klassischen Welt und Bekenner des Kreuzes, gefangen; an den heiligen Stätten, die ihm „jene große Tatsache der Auferstehung Christi, wodurch die ganze Geschichte Licht und transzendentes Leben erhält“ (S. 72), ins Leben rufen, zitiert er Pindar: ‘Ôß äÝ ôéò; ôß ä’ ïj ôéò; óκé@ò iíáρ eíWρùðïò. 6ëë’ Uôáí áhãëá äéüóäïôïò fëWç, ëáìðρNí ϕÝããïò fðåóôéí 6íäρµí κáM ìåßëé÷ïò á9þí\23. Und er fügt hinzu: „Daß ich beim Grabe Christi der Verse eines griechischen Dichters gedenke, wird dir wohl nicht anstößig sein; nennen ihn ja selbst heilige Propheten ,der Völker Panier, und der Heiden Trost, auf den sie hofften‘ (1. Mose 49, 10; Jesaias 11, 10; Haggai 2, 8)“ (S. 72). Heftige fiebrige Anfälle und die in Palästina grassierende Pest zwangen L. zu vorzeitiger Abreise. Der Abschied von Jerusalem bereitete ihm zwiespältige Gefühle. Er kleidet seine Empfindungen meist in das Gewand biblischer Zitate ein, aber als ganz eigene und übermächtige Grundstimmung dringt eine tiefe Traurigkeit durch. Lasaulx, dem Mann des Restaurationszeitalters, kommt gleichzeitig erschütternd die Diskrepanz zwischen den Begriffen Christenheit und Europa zum Bewußtsein. Die Gleichgültigkeit der 23

Pindar, Pythien, Bd. VIII, 135 ff.

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offiziellen europäischen Diplomatie und Regierungskreise gegenüber den Schicksalen des Heiligen Landes empört ihn. Die Idee der abendländischen Christenheit, meint er, müßte in ihrem Vollgehalt für die „Seiltänzererfindung des europäischen Gleichgewichts“ und die „Zivilisation“ einen „ständigen lästigen Vorwurf“ bedeuten (S. 78). In den neugegründeten „Historisch-Politischen Blättern“, dem vornehmsten Organ des konservativen süddeutschen Katholizismus, hat er nach seiner Rückkehr diese Auffassung kämpferisch vertreten. An Pauli Mahnung zur „Steuer für die Heiligen von Athen“ erinnernd, rief er zu einer Sammlung für die Mönche zu Jerusalem auf und unterließ es nicht, Anklagen gegen die Mächtigen Europas zu schleudern, denen er die Schuld beimaß, daß damals noch Dantes Wort „La terra, che l’Soldan corregge“ von der Wiege des Christentums galt. Seitdem standen die „Historisch-Politischen Blätter“ in der ersten Reihe, wenn es sich darum handelte, die Anteilnahme am Heiligen Lande wachzuhalten, und sie sind darin nicht erfolglos geblieben. Dem katholischen folgte drei Jahre später der protestantische Romantiker: der fromme Arzt und Naturforscher Gotthilf Heinrich Schubert, ebenfalls in München ansässig und dort Mittelpunkt eines irenisch-pietistischen, dabei weltoffenen und hochgebildeten Kreises erweckter Glieder der evangelischen Gemeinde. Das dreibändige Werk über seine Fahrt ins Morgenland, der protestantischen Königin Bayerns gewidmet, ist literarisch neben Fallmerayer und Naumann vielleicht die wertvollste Erscheinung im deutschen Palästinaschrifttum innerhalb der von uns behandelten Epoche24. In einem Vorwort „Wohin willst Du?“ beschreibt Schubert mit Dichterhand die Ursprünge seiner Fernsehnsucht, seines diesseitig-jenseitigen Wandertriebs. Das Heimweh des Knaben und die Begierde des Jünglings, das Land des Aufgangs der Geschichte des Menschengeschlechts kennenzulernen, überhöhten sich in dem Entschluß der Mannesjahre: „Ich will mich aufmachen nach der Stätte des Aufgangs und der Geburt, nicht des Lebens des Einzelnen, sondern des Lebens aller, damit ich beim Sammeln der Gewürzkräuter, wenigstens in der lebendigen Erinnerung an das, was hier geschehen, die Kräfte des Sehens mit eigenen Augen, des Berührens mit eigenen Händen erfahre“ (I, 33). Das Bedürfnis eines historisch gestimmten Zeitalters nach geschichtlicher Sättigung seiner religiösen Vorstellungswelt und das bei Schubert allerdings in sublimster Weise vorhandene Verlangen der Gläubigen nach Greifbarkeit und Bestätigung verbinden sich bei dem trotz aller Kultur des Unsichtbaren dem Anschaulichen zugewandten Naturforscher. Inmitten einer kleinen Reisegesellschaft, darunter der spätere verdiente Palästinaforscher J. R. von Roth, der Sohn des Münchener Oberkonsistorialpräsidenten, brach Schubert 1836 von Bayerns Hauptstadt auf. Von Wien ging es auf der Donau zum Schwarzen Meer, und nach längerem Verweilen in Konstantinopel führte der Weg nach Smyrna und schließlich ins Land der Pharaonen. Hatte die Donaufahrt Erinnerungen an Türkennot und Kreuzfahrer heraufbeschworen, so traten den christlich-biedermeierlichen Wallfahrern auf kleinasiatischem Boden wie auf den Mittelmeerinseln Bilder aus dem Ordensrittertum, 24 Dr. G. H. von Schubert, Reise in das Morgenland in den Jahren 1836 und 1837, Erlangen 1838 / 39.

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aus klassischer und altchristlicher Zeit einprägsam vor Auge und Seele. Schuberts ausgedehnter Aufenthalt in Ägypten legt die Frage nahe, ob ihm nach der Überfülle empfangener Eindrücke noch Kraft genug blieb, Gemüt und Sinne für Palästina als den vorgesehenen Höhepunkt der Pilgerfahrt frisch und offenzuhalten. Aus den Zeugnissen zahlreicher Besucher geht, teils unumwunden, teils zwischen den Zeilen hervor, daß ihnen Palästina nach dem Erleben großartigerer und geschlossenerer Kulturstätten und Landstriche ärmlich, ja befremdend vorkam. Anders verhält es sich bei dem Bibelchristen Schubert. Unbeschadet aller universalen Aufgeschlossenheit ruhte in seinem Begriff des Morgenlandes das Kanaan der Heiligen Schrift als Mitte; davon blieb der Charakter seiner Reise bestimmt, und daher auch die Einheitlichkeit seines Berichts. Die ltinera vieler anderer, gerade wissenschaftlicher Palästinafahrer gleichen in peinlicher Weise einem umgestülpten Zettelkasten, bilden ein Gewirr ethnologischer und kirchengeschichtlicher, geographischer und politischer Notizen. „Die Teile halt’ ich in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band.“ Der Naturforscher Schubert, im Vollbesitz humanistischer Bildung, war noch in der Lage, die Vielheit des Wissens zu bändigen und zu vereinen. Von der ebenso gelehrten wie lebendigen Schilderung von Fauna und Flora bis zu den meist auf Hammer und Wilken beruhenden „historischen Nachweisungen“ erstreckt sich seine Aufnahmefähigkeit, seine geistige Arbeit und das anmutige Kunstwerk der Reisebeschreibung, alles zusammengehalten durch seine herzliche und weitherzige, milde und stimmungsreiche Religiosität. Natur- und Heilsgeschichte veranlaßten Schubert, von Kairo nach Suez die südliche Karawanenstraße über Bessatin einzuschlagen; der Weg am südlichen Abhang des Makkatam bot ihm ein „höheres naturhistorisches Interesse“ und, was noch schwerer wog: sein Freund, der Palästinageograph Karl von Raumer, hatte diese Route als die wahrscheinlichere des Zuges der Heere Israels durch die Wüste angenommen (II, 229). Der Aufenthalt der Pilger im Katharinenkloster auf dem Sinai wurde zu einem Idyll christlicher Naturfreude und Kontemplation: „Beim Eintritt in den Garten (des Klosters, d. Verf.) . . . wandelte mich ein Gefühl an, desgleichen ich niemals sonst in meinem Leben empfunden hatte. Ich möchte dasselbe mit einem Vorgeschmack jener Wonne vergleichen, welche einst solche Seelen erwartet, die aus des Lebens Angst und Mühe, die aus dem schmerzensvollen Kampfe der letzten siebenten Trübsal auf einmal eintreten dürfen in den seligen Frieden des Paradieses. Der Frühling ergoß soeben über dieses hochgelegene Tal die ganze Fülle seiner Kräfte. Die Pfirsichbäume und Mandeln hatten den Boden mit den schon abfallenden Blättern ihrer Blüten bedeckt und jeder Windhauch schüttelte einen neuen Blüthenregen aus ihren Zweigen herab, während die Aprikosenbäume noch mit dem jugendlichen Rot fest umgürtet stunden, die Blüten der Kirschen soeben sich öffneten, die Birnen aber und Äpfel noch schlummernd in der Wiege der grossen, weissen Knospen lagen“ (II, 30 f.). Friedensseligkeit atmet die Schilderung des Sonntags Lätare auf dem Sinai: „Der zackige Gipfel des Horebs und der Huthberg des Moses hatten das liebe Morgenlicht angezogen wie ein Gewand: Laute aus der Kirche, die uns wie Gesang klangen, tönten in unseren Herzen wieder, wir gingen

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hinab und wohnten dem Gottesdienst der guten Väter bei. . . . Die andern Morgenstunden des schönen Sonntags brachten wir still und selig vergnügt, mit dem Buch der Bücher in unserer Hand im Garten zu; lasen da das Evangelium des heutigen Sonntags und dann von neuem und im Zusammenhange jene Kapitel in den Büchern Mosis, welche von den Wunderthaten Gottes reden, deren Zeugen einst dieser Horeb und Sinai, so wie Wüste und Meer gewesen“ (II, 339 f.). Es hat etwas Anziehendes, wie das Reiseerlebnis des romantischen Mystikers vom Sinai bis Syrien in eine anscheinend unverzwungene Harmonisierung von Natur und Gnade eingebettet ist. Was sich bei Schubert als geschwisterliches Verhältnis von Wissen und Glauben zu frommer Einheit fügt, trieb allerdings andere in die Sackgasse einer unzulänglichen, naturwissenschaftlich argumentierenden Apologetik. Nachdem die Reisenden Ostern 1837 in dem mit tiefer Freude begrüßten Jerusalem verbracht hatten, folgten Ausflüge in die Umgebung, insbesondere nach Bethlehem, zum Toten Meer und nach Santa Saba, dazwischen neue Aufenthalte in der Heiligen Stadt. Mitte April machten sie sich nach Sichem und Nazareth auf, von dort ging es durch Galiläa nach Damaskus und Beirut. Ende der 30er Jahre begann Palästina wieder mehr und mehr in das Programm des internationalen, namentlich angelsächsischen Reiseverkehrs einbezogen zu werden. Unter Touristen und Weltbummlern aller Nationalitäten ist der gelehrte Schubert ein Pilgersmann. Er lebt im Rhythmus des Kirchenjahrs und aus dem Geist der Lutherbibel, Ölberg und Sinai, das Heilige Grab und der Weg nach Damaskus entlocken ihm Verse und Melodien des evangelischen Gesangbuchs, namentlich des „seligen“ Gerhard Terstegen. Andererseits bedient er sich der Ausdrucksmittel orientalischer Bildersprache. Hier und in vielen anderen Zügen zeigt sich Schubert nach Sinnesart und Tonart seinem verehrten Lehrer Herder verwandt. So gewährt uns seine Wallfahrt das Schauspiel einer Begegnung von deutscher Frömmigkeit und Morgenland auf dem theatrum biblicum. Die Heimreise Schuberts erfolgte über Patmos und die Hauptstadt Griechenlands, in der er als christlicher Humanist Vergleiche zwischen Jerusalem und Athen zog: „Die Geschichte der alten Welt zeigt uns vornehmlich zwei Punkte und Städte der Erde, an denen die beiden Bewegungen, jene von göttlicher und die von menschlicher Art, recht sichtbarlich in das geistige Wesen der Menschennatur eingriffen; der eine dieser Punkte ist Jerusalem, der andere ist Athen. Jerusalem ist die Hauptstadt der Offenbarungen Gottes und dieses Vorrecht kann ihr auch im entferntesten nicht durch irgendeine andere Stadt der Erde streitig gemacht werden; . . . dort ist die Sonne aufgegangen, zu deren Strahl der Pflanzenkeim sich hinausdrängt. Bei Athen zwar ist der Vorrang, der ihr über die vielen andern Glanzpunkte von verwandter Art gebühret, welche in der Geschichte der Völker erschienen, kein so ungeteilter und unbestrittener, aber dennoch ist und bleibt er ein entschiedener . . . (es sei) das Vorrecht und die Bestimmung Athens von anderen Städten der Erde gewesen, eine Vorhalle zu werden, durch welche das menschliche Erkennen und künstliche Vermögen, wenn es nur redlich dem bewegenden Zuge treu bleibet, sich annahet dem Erkennen und Neues schaffenden Vermögen einer göttlichen Weisheit“ (III, 472 f.). Hier wie in anderen Äußerungen

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zeigt sich der Protestant Schubert mehr einem erasmischen als streng reformatorischem Christentum verpflichtet. Die orientalische Krise des Jahres 1840 führte Palästina stärker denn je seit den Tagen Napoleons in das Blickfeld Europas. Gedankengänge, wie wir sie bei Lasaulx kennengelernt haben, griffen um sich. Der zur Reorganisation der türkischen Armee abkommandierte preußische Major H. von Moltke träumte damals von einem christlichen Fürstentum Palästina mit einem unbeschränkten, aber toleranten deutschen Herrscher an der Spitze, von der „moralischen Genugtuung“, die das „christliche Europa . . . in der Befreiung des hlg. Grabes erlangen würde“. Aus einem vereinten Vorgehen der Mächte zur Lösung der aus der Schwäche des Osmanischen Reiches entstandenen Wirren könnte, so hoffte er, eine allgemeine Friedensorganisation hervorgehen, und es war die Palästinafrage, die ihn – damals – zu dem Satze veranlaßte: „Wir bekennen uns offen zu der vielfach verspotteten Idee eines allgemeinen europäischen Friedens.“25 Der wachsenden Bedeutung des Landes gemäß wurde 1843 als erster offizieller deutscher Vertreter der preußische Konsul Schultz nach Jerusalem entsandt, ein vorzüglicher Kenner der orientalischen Sprachen und bald ein ebenso kundiger Bibelarchäologe wie liebenswürdiger Cicerone gelehrter Gäste. Großes Aufsehen erregte in den 40er Jahren die Gründung des anglo-preußischen Bistums zu St. Jakob in Jerusalem, eine Schöpfung der hochkirchlichen Strömung am Hofe Friedrich Wilhelms IV., eines der eigenartigsten kirchengeschichtlichen Ereignisse des 19. Jahrhunderts. Wenn Fallmerayer recht unterrichtet ist26, so hat die Idee der Errichtung des Bistums erstmals einen merkwürdigen Außenseiter ergriffen, den abenteuerlichen Missionar Joseph Wolff27. Um 1795 in einem fränkischen Dorf als Sohn eines Rabbiners geboren, wurde er Anhänger Sailers, konvertierte zu Emaus in Prag, verkehrte im Wiener Hofbauerkreis und in der Schweiz mit Frau von Krüdener, Madame de Staël, Pestalozzi und Zschokke und trat 1817 in das Collegium der Propaganda in Rom ein, das er aber bald wieder verließ, um nach einem kurzen Zwischenspiel in einem Schweizer Liguorianerkloster in England Methodist zu werden. Nach orientalistischen Studien machte er sich 1821 als „Apostel unseres Herrn Jesu Christi für Palästina, Persien, Bochara und Balkh“ auf den Weg und durchstreifte auf mehreren Reisen predigend, missionierend und auf der Suche nach den 10 Stämmen Israels ganz Asien und Abessinien. Ungezählt die Strapazen und Leiden, die Ideen und Phantasien des „protest. Franz Xaver“, der sich schließlich mit einer Frau aus englischem Adel vermählte und in der anglikanischen Kirche seine religiöse und soziale Heimat fand. Er hat als erster Missionar den Juden zu Jerusalem das Evangelium gepredigt und mit der Judenmission blieb das Werk des protestantischen Bistums eng verknüpft. Sein erster Inhaber war der aus Breslau gebürtige, in England zum Christentum bekehrte Israelit Alexander, sein NachH. von Moltke, Gesammelte Werke, Bd. II, S. 284, 286. J. Ph. Fallmerayer, Gesammelte Werke, herausgegeben von Thomas, Bd. III, S. 219. 27 Vgl. Fr. Babinger, Joseph Wolff usw. (= Lebensläufe aus Franken, I, S. 519 ff.) Zur Entstehung des anglikanischen Bistums in Jerusalem vgl. Nippold, Bunsen, Bd. II, 206 f. 25 26

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folger der Deutschschweizer Gobat. Bunsen, dessen geistiger Welt die Schöpfung wie nur etwas entsprach, und der die schwierigen Verhandlungen in London führte, ist selbst nicht in Palästina gewesen, wohl aber sein Mitarbeiter H. Abeken, später als „diplomatische Häckselmaschine“ Bismarcks berühmt. Er hatte sich 1842 Lepsius’ ägyptischer Expedition angeschlossen, auf der Rückreise hielt er sich mehrere Monate im Heiligen Lande auf. Offensichtlich war er dazu ausersehen, als halboffizieller Beobachter Berlin über die Verhältnisse des Bistums zu berichten, für das er drei Jahre zuvor publizistisch in die Schranken getreten war. Die von seiner Gattin veröffentlichten Briefe zeigen Abeken aufgeschlossen für alle geschichtlichen Erinnerungen und landschaftlich-baulichen Schönheiten, vor allem aber als einen betont evangelischen Christen, der empört aus dem „Greuel der Verwüstung“ in der Grabeskirche zu dem kleinen protestantischen Gotteshaus auf dem Berge Zion flüchtete: „Da fühlte sich mehr als je der Segen christlicher Gemeinschaft in der Anbetung im Geiste und in der Wahrheit.“28 Der Absolutheit der christlichen Botschaft gewiß ist Abeken in Jerusalem tief in die religiöse wie die nationale Seite der Judenfrage eingedrungen, doch mag er sich hinsichtlich der Fortschritte der Judenbekehrungen zu rosigen Hoffnungen hingegeben haben und – was auch später an ihm getadelt wurde – eine gewisse Neigung zur Schönfärberei konnte er auch in Jerusalem nicht unterdrücken. 1851 veröffentlichte Abeken eine Schrift „Babylon und Jerusalem“, die sich gegen die Roman(viel)schreiberin Gräfin Ida Hahn-Hahn richtete. An ihren „Orientalischen Briefen“, 3 Bänden von insgesamt 1135 Druckseiten, hatte Fallmerayer 1845 eine fürchterliche Hinrichtung vollzogen29. Wer die sprühend boshafte Kritik des Fragmentisten gelesen hat, kann es sich ersparen, zu den Briefen der echten „Reisendinn“ (ihr eigener Ausdruck) selbst zu greifen und mag mit ihrem Zuchtmeister wünschen „gegen Unzucht und Proletariat des Bücherschreibens Junten niederzusetzen und dem ungeschlachten Treiben ein Ziel zu stecken“. In zwei weiteren, mit morgenländischen Titeln geschmückten Büchern der Gräfin, der als pilgernder Unterhaltungsschriftsteller 1841 schon Hackländer vorangegangen war, ist im wesentlichen von ihrer Konversion und nur beiläufig vom Heiligen Lande die Rede. Und nicht gegen die Pilgerin, sondern gegen die Konvertitin richten sich Abekens Ausführungen. Während hohe und kirchliche Politik das weltgeschichtliche Land am Mittelmeer umspielten, gab es nach wie vor Einzelgänger und Gruppen, die, von endzeitlichen Strömungen gepackt, ins gelobte Land zogen. Mit Sympathie hatte Schubert, gleich Burckhardt, von frommen Israeliten gesprochen, die im Vertrauen auf prophetische Verheißungen ins Land ihrer Väter gewandert waren und in der freundnachbarlichen Gesinnung des dem Alten Testament verpflichteten Protestanten zog er Vergleiche zwischen altgläubigem Judentum und liberal-modernem Judaismus, der den religiösen Messianismus durch die Hoffnung auf eine politisch28 29

H. Abeken, Ein stilles Leben in bewegter Zeit, Berlin 1898, S. 121. Fallmerayer (wie Anm. 26), S. 57 ff.

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nationalistische Erneuerung ersetze30. Ein Schubert in manchen Stücken verwandter Glaubensphilosoph, Eschenmayer, hat auch für die Christenheit wiederum die eschatologische Richtung nach Palästina gewiesen. In dem religiös von jeher bewegten Württemberg vernahm man die Posaune des Gerichts, und nicht wenige Pietisten pilgerten – am bekanntesten wurde das Unternehmen der Templer – in Auswanderungsgemeinschaften mit Kind und Kegel nach dem angekündigten Schauplatz des Weltendes. Selma Lagerlöfs ergreifendes Buch „Jerusalem“ hat nicht nur den schwedischen Sektierern, sondern dem inbrünstigen Palästinaverlangen des ganzen neueren Schwärmertums ein Denkmal gesetzt. Nicht nur die Mengen der Pilger, auch die Zahl der gelehrten Untersuchungen und Beschreibungen des Heiligen Landes wuchs von Jahr zu Jahr. Die wissenschaftliche Durchdringung aller Lebensgebiete und Daseinsmächte, die das 19. Jahrhundert kennzeichnet, hat sich im religiösen Bezirk vielleicht am nachhaltigsten ausgewirkt. In internationalem Wetteifer haben palästinensische Topographie, christliche Archäologie und philologische Bibelkunde auf dem Boden des Heiligen Landes teils um Sicherung und Gewißheit von Glaubensinhalten gerungen, teils in gewollt wertfreier Autonomie des Forschens der Sichtung und Klärung, der Kritik und Epuration gedient. Denken wir der Pioniere deutscher Zunge der Palästinawissenschaft, so ist neben dem Österreicher Russegger, einem namhaften Montanisten und Geologen, der im Auftrag der ägyptischen Regierung 1836 / 39 das Heilige Land durchforschte, vor allem der Schweizer Arzt und Politiker, Volksschriftsteller und Mundartforscher Titus Tobler (1806 – 1877) zu nennen, der sich mit Akribie und ungeheurem Fleiß, „gleichsam mit dem Grimm einer Beißzange“31, jahrzehntelang der systematischen Durchdringung palästinischer Landeskunde und Ortsgeschichte widmete. J. N. Sepp schildert launig seine erste Begegnung mit dem merkwürdigen Mann, die Weihnachten 1845 in einem Gewölbe des Klosters zu Bethlehem stattfand: „Ich kniete vor dem Altare der Geburt Christi mit nie gefühlten Empfindungen, als ein Mann mir zur Linken mit Meßschnur und Zollstab die Maße an der Treppe herabnahm: man konnte denken, damit die heilige Grotte ihm bis zum nächsten Besuche nicht ausgetauscht würde – es war der wakkere Tobler.“32 – Unter den Erinnerungen theologischer Forscher sticht C. Tischendorfs Reisebeschreibung33 hervor. Der glückliche Finder des Codex Sinaiticus und bekannte Herausgeber des Neuen Testaments schreibt in einem Brief an seinen Bruder: „Wie anders muß das Studium der Bibel gelingen, hab ich das hlg. Land mit seinen Denkmalen und seinen Menschen ins lebendige Auge gefaßt. Die Geschichte hat keinen Schauplatz, der großartiger wäre als das Morgenland. . . . Das will gesehen, geprüft, erfaßt sein. Auch für meine manuskriptlichen Forschungen fehlt mir die Hoffnung nicht. Von dort hat Europa seine Reichtümer, manche Klöster haben noch heute ihre Winkel. Niemand suchte neuerdings so bestimmt 30 31 32 33

Schubert (wie Anm. 24), Bd. II, S. 465 ff. und 554 ff. Alban Stolz, Besuch bei Sem, Ham und Japhet, 10. Aufl., 1913, S. 201. J. N. Sepp, Jerusalem und das Heilige Land, Schaffhausen 1863, S. XIII. C. Tischendorf, Reise in den Orient, Leipzig 1846.

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wie ich; auch hab ich Mißtrauen gelernt an denen, die gearbeitet vor mir. Fände sich aber in der Tat nichts, so läßt sich dann mit Nachdruck weiterbauen auf dem, was wir haben. Bliebe ich ohne Heimkehr, nun so weiß ich’s: ich ging unter in einem redlichen Streben. Der Krieger muß bleiben auf dem Schlachtfeld. Du kennst mein Schlachtfeld“ (I, 19 f.). Das klingt nach jugendhaftem Tatendrang und wohl etwas „studentenhaft“, wie wiederum Fallmerayer in einem seiner glänzenden kritischen Essays festgestellt hat. Seite für Seite des Tischendorfschen Reisebuchs tritt uns eine emsige, in ihrem Element sich tummelnde Gelehrtenpersönlichkeit entgegen. Da wird unaufhörlich geprüft und verglichen, „nach Terrainstudien und nach der Tradition“ erwiesen und behauptet, beigepflichtet und abgelehnt, hohe heimische Beziehungen weltlicher und geistlicher Art werden berührt, Autoritäten bemüht, bestätigt oder verworfen. Und dies überaus gewandt und vergnügt, mit großer sprachlicher Flüssigkeit vorgetragen, für einen Mann seines Standes fast zu glatt und elegant, zu leicht und obenhin. Seine Arbeit am Text der Heiligen Schrift, deren bisherigen Ausgaben nach seiner Auffassung ein „historisches Unrecht, gleichsam eine 300-jährige Erbsünde anhaftete“, stellt er in den Dienst der gesamten Kirche, insbesondere der evangelischen Christenheit; es gilt ihm, „das Bollwerk der Theologie gegen die Angriffe zweifelnder Wissenschaft, das heilige, unzerstörbare Fundament unseres Glaubens“ zu sichern (II, 163 f.). Als ein Mann, der das Interesse der Gesamtheit für seine Sache erhalten will, wandelt Tischendorf vorsichtig ausgleichend eine theologische Mittellinie. Angesichts der „Glaubenszumutungen in Jerusalem“ tritt er allerdings etwas mehr als üblich aus seiner Zurückhaltung heraus. – Daß Tischendorf kein weltfremder Gelehrter ist, beweist er u. a. in seinen grundgescheiten, kirchenpolitischen Ausführungen. Über das protestantische Bistum zu Jerusalem ist kaum je klarer und besonnener geschrieben worden. Allenthalben trifft T.s Kritik ins Schwarze. Wie hübsch, wenn er über den ganz Jerusalem befremdenden Einzug des Bischofs Alexander mit Gattin und Kinderschar urteilt: Das hieß „allerdings mit dem Protestantismus ins Haus fallen“! Gleichzeitig gelangt er zu einem Lieblingsthema der christlichen Welt seiner Zeit, der Befreiung der heiligen Stätten von der Türkenherrschaft. Tischendorf weiß, wie erstrebenswert dieses Ziel dem romantischen Herrscher Preußens erschien; er zählt sich aber auch selbst alle Schwierigkeiten auf, die, der politischen und geistigen Struktur des zeitgenössischen Europa zufolge, seinen Wünschen entgegenstanden. Und doch kann er nicht ablassen von der Vorstellung einer Bundesstadt oder Freien Stadt Jerusalem unter dem Schutz der christlichen Mächte und er knüpft daran hoffnungsvolle Ausblicke auf Vordringen und Ausbreitung des Christentums. „In Jerusalem gälte es eine neue Einheit des Christentums; wie zerstreute Herden fänden sich dort die Völker zusammen; dort erklänge das Evangelium eines großen Kirchenfriedens“ (II, 142 f.). Auf der Grundlage eines so kühn geschauten christlichen Universalismus gedeiht aber nicht minder Tischendorfs ausgeprägtes evangelisch-heimisches Sonderbewußtsein, verbunden mit kräftigem deutsch-protestantischem Patriotismus, der sich schon bei dem Bistum von St. Jakob weidlich über die demütigende Unterordnung des deutschen Elements geärgert hat. Wie fremd

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uns heute Pathos und Stimmungsgehalt solcher nationalchristlichen Denkweise geworden sind, empfinden wir, wenn wir Tischendorf auf die Höhen von Nazareth begleiten und ihn dort seinen Gefühlen Ausdruck geben hören: „Hier dachte der Erlöser, wenn er die Fluten hinüber zum Abendland sah, gewiß oft auch deiner, du geliebtes Deutschland. Und er dachte, weil er’s wußte, daß du berufen wärst, einst wie ein heiliger Rächer der Wahrheit gegen die Lüge zu kämpfen und zu bluten. Daß du dem Glauben des Römerbriefs im deutschen Herzen ein Bollwerk gründen würdest, wenn er geschwunden aus den Palästen der Sieben-Hügel-Stadt. Ständest du selber hier und hörtest mit mir, daß dir das Wort entgegenklingt: Halte was du hast, daß niemand deine Krone raube!“ (II, 201). Obschon heute als Textkritiker nicht mehr anerkannt, dünkt uns Tischendorf eine moderne und sachliche Persönlichkeit, verglichen mit einem anderen zeitgenössischen Palästinaforscher, dem bayrischen Original J. N. Sepp. Zuweilen will es uns scheinen, als ob in dem urwüchsigen Tölzer Polyhistor und Politiker der, wie Friedrich Schlegel sagt, „polemisch-barbarische“ Wissenschaftsstil des Barock fröhliche Urständ feiern wollte. Ein beängstigendes Vielwissen und eine rücksichtslose Zitierwut verbinden sich bei ihm mit dem Hang zu reißerischer Aufmachung und theatralischen Effekten. Auf 1647 Seiten führt uns sein erstes Palästinabuch34 in einen Wirbel gewagter Etymologien, Assoziationen und Hypothesen; dazwischen lesen wir herzhafte Anekdoten, poetische Ergüsse, gelehrte Exkurse und Anweisungen für Reisende. Stets sind persönliche Verhältnisse in einem nicht geringen Geltungsbedürfnis mit dem Sachlichen vermengt, das Entlegendste ist gerade recht, um damit paradieren zu können. Sepp gerät von den heiligen Gräbern Palästinas über die lydischen Hügelgräber bis zum Grabe Mozarts, von der Heiligen Eiche zu Mambre bis zum Kalten Baum bei Vohenstrauß in der Oberpfalz (I, 262 u. I, 507). Neben der dramatischen Schilderung seines Bades im Jordan und den Flußabenteuern anderer Pilgrime werden wir nicht einmal mit einer Aufzählung solcher Personen verschont, die mit Jordanwasser getauft wurden, wobei er vom Erzherzog Leopold bis zu seinem eigenen mit gewöhnlichem Wasser getauften Sohn Peter Parcival gelangt. U. a. werden Berechnungen über die Gesamtsumme der durch türkische Gewalthaber an den lateinischen Mönchen verübten Erpressungen, verglichen mit den Lebenshaltungskosten der Konventualen und dem Aufwand europäischer Gesandtschaftsposten, in gewissenhafter Ausführlichkeit aufgestellt. – Schon in sehr jungen Jahren hatte Sepp das brennende Verlangen empfunden, nach Palästina aufzubrechen. Daß er sich an Schuberts Reise nicht beteiligen konnte, war ihm ein großer Schmerz. Als er dann mit einem fünfbändigen „Leben Jesu“ gegen D. Friedrich Strauß in die Schranken trat, ergab sich für ihn 1845 / 46 die Gelegenheit, ins Heilige Land zu fahren und umfangreiche Untersuchungen anzustellen. Nach Bayern zurückgekehrt, suchte er als Angehöriger des Görreskreises und streitbarer Vertreter der katholischen Restauration für die Errichtung deutsch-katholischer Stützpunkte in Palästina sowie eines österreichisch-bayrischen Konsulats in Jerusa34 Vgl. Anm. 32; als weitere Veröffentlichung über das Heilige Land folgte: Neue, hochwichtige Entdeckungen auf der zweiten Palästinafahrt, München 1896.

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lem mit dem Leibarzt Mehemet Alis, dem Bayern Dr. Franz Pruner-Bei, als Vorstand zu wirken. Ob er wirklich als „katholischer Bunsen“ von hohen und höchsten bayrischen Stellen mit halboffiziellen Aufträgen versehen war, entzieht sich unserer Kenntnis. Der politische Umschwung in Bayern 1847 / 48 vereitelte jedenfalls sein Vorhaben. Sepps erstes Palästinabuch erschien mit erheblicher Verspätung erst in den 60er Jahren. Ein Teil des stets deutsch-patriotischen Görreskreises hatte sich damals in freiheitlich-wissenschaftlichem, antikurialistischem Sinn entwickelt. Manche Zeilen Sepps legen davon Zeugnis ab. Es wäre wissenswert, wieweit die besondere Färbung des Buches schon für die Gesinnung des Palästinafahrers von 1845 zutrifft, ob er sich damals schon, wie später im Pilgerbuch, als ein mittelalterlicher, vorkonfessioneller Katholik fühlte (I, XVIII). Sepp ist gewiß ein Mann, der hart an der Grenze zur docta charlataneria steht. Aber man kann nicht bestreiten, daß unter dem Wust seines Wissensballastes manche treffliche Beobachtung enthalten ist. Wie fein, wenn er Palästina einem vergilbten, verwischten, von fremder Hand immer wieder neu beschriebenen Palimpsest vergleicht! (I, X u. 23). Was er, wohl auf Vogüé gestützt, über den Ursprung der christlichen Kirchenbaukunst in Palästina vorbringt, mutet in manchen Stücken wie ein Vorspiel zu bekannten neueren Auseinandersetzungen an (I, XVI, 48, 303, 365, 677). Schließlich weiß er bei aller weitschweifig-antiquarischen Sammellust großzügige religionsgeschichtliche und völkerkundliche Linien und Vergleiche zu ziehen. Sepp nimmt alle großen Gesichtspunkte der mit Palästina zusammenhängenden Menschheitsgeschichte wahr: Jerusalem als Weltstadt des Mosaismus, Christentums und Islams, die Symbolik der Fabel von den drei Ringen, das Abendland und seine Wechselbeziehungen zur Geschichte Palästinas. Aber die Formlosigkeit des Autors ist zu abstoßend und seine besten Erkenntnisse sind zu staubbedeckt, als daß sie den Leser gefangennehmen könnten. Wie anders bei dem großen Essayisten J. Ph. Fallmerayer, der erstmalig 1832 als Reisebegleiter des russischen Generals Grafen Ostermann-Tolstoi Palästina besuchte, im Winter 1847 / 48 nochmals längere Zeit dort verweilte und seiner Zeit in meisterlicher Prosa davon Bericht gab35! „Die Kolchislust, sie war schon lange weggebraust, und die gelben Tinten der pontischen Ranunkel, der lilafarbige Blütenstrauß des immergrünen Rhododendron, einst unsere Seligkeit, haben in der trüben Atmosphäre des Occidents ihren Schmelz abgestreift. ,Selbst Ruine‘ – ich fühlte es – konnte ich nur noch einsam unter Ruinen wandelnd glücklich sein. Aber nicht die Trümmer von No-Amun oder Baalbek, nicht die Waldeinsamkeit auf Hagion-Oros und ihr Schattenflor, nein die Ruinen von Jerusalem und ihre großen Erinnerungen mußten mein Labsal sein. Jerusalem ist die Stadt der Trauer, die unsere Seele reinigt, die Stadt der süßen Qual, für die man keinen Namen hat. Und warum soll ich es nicht gestehen; der letzte Zug aus dem sprudelnden Lebensquell, aus dem Eimer der Freude, der Kraft und des Tatendrangs habe ich auf Zion eingeschlürft und eine lange, lange Nacht der Trübsal, der Not, der verwelkten Energie und der Hoffnungslosigkeit ist der lieblichen 35 Vgl. J. Ph. Fallmerayer, Gesammelte Werke, herausgegeben von Thomas, Leipzig 1861; insbesondere Bd. 1.

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Abendstille und dem vergoldeten Purpurstreif des blauen Himmels von Jerusalem gefolgt“ (I, 113 f.). Das ist die Stimmung, die den Fragmentisten in Jerusalem umfängt. Wohl möglich, daß in der Rückschau der erst 1851 veröffentlichten 4 Kabinettstücke „Vier Wochen in Jerusalem“ der um einige Jahre zurückliegende letzte Aufenthalt teils verklärt, teils in das „Zechgelage“ von „Einsamkeit mit Düstersinn und Melancholie“ (I, 114) einbezogen wurde, in dem Fallmerayer während der Jahre nach seiner Katastrophe 1849 das Gleichnis seines Lebens sah. Im Frühjahr 1848 hatte Fallmerayer in Syrien die Kunde von der Märzrevolution und fast gleichzeitig die Berufung auf den Lehrstuhl des verstorbenen Görres erhalten. Er eilte nach München und eilte in ein Verhängnis, als das sich seine Teilnahme an der Freiheitsbewegung des Jahres 1848 erwies. Wir vermuten allerdings, daß auch ohne diesen post-festum-Hintergrund derselbe Grundzug einer tiefen, wissenden Traurigkeit, der sich in vielen anderen der Fallmerayerschen Arbeiten offenbart und das kaum überraschende Gegenstück zu einem im Vordergrund sich abspielenden Feuerwerk von Geist und Eleganz bildet, das Palästinaerleben des Forschers durchdrungen hätte. „Das Erbteil verstandesgesunder und strebender Naturen, soviel ist schon lange ausgemacht, war von jeher Langeweile, Traurigkeit und Gram“ (I, 113), heißt es in dem bereits zitierten Essay. Die Geißel der Langeweile fürchtet er mehr als andere Übel. Er weiß, daß über Jerusalem nur mehr wenig Neues zu berichten ist, und nichts scheut er als Mann von Geschmack so sehr, als seine Leser zu ermüden. Der weltgeschichtlichen Rolle Jerusalems war er selbst schon vielfach nachgegangen. So verfällt er schließlich darauf, nachdem er zwei Kapitel lang mit amüsantester Reiseplauderei unterhalten und Semilasso gleichsam im Vorbeigehen die Palme literarischen Ruhms aus den Händen genommen hat, neue Seiten am „Naturgemälde der hlg. Stadt“ hervorzuheben, ein „Landschafts-Daguerretyp von Palästina zu zeichnen“ (I, 115, 119) und dies mit aller jener glühenden Anschaulichkeit, die ihm wie nur einem zu Gebote stand. Den 4 bezaubernden Reisefragmenten hat Fallmerayer weitere kritisch-aphoristische Studien folgen lassen, er hat überdies eine Reihe von Erscheinungen der Palästinaliteratur auf Herz und Nieren geprüft und die Ergebnisse seiner Untersuchung in einer Form veröffentlicht, die den Feinschmeckern im Publikum, weniger allerdings den betroffenen Autoren einen erlesenen Genuß bereitet haben muß. Was uns an Fallmerayer absonderlich fesselt, ist die seelische Situation des Weltkinds, eines deutschen Voltairianers in der Heiligen Stadt, das Gegenüber des Skeptikers und der Heilsgeschichte. Die Praxis der Kirchen in Jerusalem ist auch den gläubigsten Pilgern als Ärgernis erschienen und es wundert uns daher nicht, daß der scharfsichtige Spötter aus Tirol es nicht vermeiden kann noch mag, von dem „Kapitalstock“ zu sprechen, „von dem die verschiedenen Religionsparteien ihre Nahrung ziehen“ (I, 142), von unechten „Welterlösungsinstrumenten“ (I, 140), von Rosenkränzen, die man mit „Grabesduft und Rosenwasser geschwängert in die Christenheit versendet, wo diese Rosenkränze dem glücklichen Besitzer in heftigen Gemüthsbewegungen viel Trost gewähren, von besonders großem Nutzen aber erwiesenermaßen wider revolutionäres Gelüste . . . sind“ (I, 142). Fallmerayers jungdeutsch-blasphemische

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Anwandlungen lassen ihn aber nicht zu albern-armseligem Aufkläricht herabsinken. Der Hochgebildete spürt wohl den Ernst und das Gewicht einer auch durch manch unwürdiges Treiben noch keineswegs ad absurdum geführten Sache. Er weiß – und seine in Palästina geführten Tagebücher, etwa die Eintragung auf dem Karmel bezeugen es – um die Sehnsucht nach dem Glaubenkönnen. Und wo er gelegentlich seine Skepsis begründet, tritt es zutage, daß er den Fundamentalfragen nicht ausgewichen ist. Wir sind unterdessen in das 6. Dezennium des Jahrhunderts eingetreten. Mit Macht gibt sich die modern-technische Entwicklung, der Einfluß großer organisatorischer Zusammenschlüsse kund. Der Reiz individuellen Erlebens wird weitgehend durch kollektive Veranstaltungen gemindert. Nach französischem Vorbild entstehen auch auf deutschem Boden Pilgervereinigungen. Nach und nach erscheinen periodische Zeitschriften und Bibliographien für die Kenner und Freunde des Heiligen Landes. Aufgaben, die erst von einzelnen Forschern umrissen wurden, gehen weithin in die Obhut und gemeinschaftliche Ausführung wissenschaftlicher Institute über. Unternehmungen kirchlicher Erziehung und Wohltätigkeit breiten sich über das Land aus. Palästina selbst wird neuerdings in das Spiel der europäischen Nationen um die Macht hineingezogen. In der Vorgeschichte des Krimkrieges spielt das Heilige Land keine geringe Rolle. Parallel zum Imperialismus der Staaten oder im Bunde mit ihm erfolgte die konfessionspolitische Expansion. Wir erwähnten bereits den anglikanischen Vorstoß; schon lange vorher hatten amerikanische Missionen ihre Tätigkeit in Palästina aufgenommen. 1847 ernannte Rom den Mgr. Valerga zum Patriarchen von Jerusalem, und von Rußland her drängte mit Wucht das griechisch-orthodoxe Element an den Jordan. Der Irenismus des Jahrhundertbeginns und die pax Christiana der Heiligen Allianz waren wieder einem harten Konfessionalismus gewichen. Den nationalistischen Zerfall der europäischen Staatengesellschaft begleiteten zum Teil ein Nationalisierungsprozeß der Konfessionen und andere Aufsplitterungsvorgänge innerhalb der Christenheit. Wie milde und versöhnlich war noch der Protestant Schubert gestimmt! Tischendorf hatte schon bewußter eine reformatorische Haltung herausgekehrt. Der Direktor der Leipziger Mission, Karl Graul, berichtet als ein entschiedener Bekenntnislutheraner über seinen Palästinaaufenthalt36. Er besuchte vor seiner Abfahrt das „deutsche Zion“, die Wartburg (I, 4), er übte als Lutheraner Kritik am reformierten Grundcharakter der amerikanischen Missionen, das anglo-preußische Bistum zu Jerusalem gibt ihm Veranlassung, sich nicht nur gegen die inferiore Rolle des Deutschtums, sondern auch gegen „Protestantische Aftervereinigung“ mit Schärfe zu wenden. Und doch ergreift ihn angesichts der neuen protestantischen Kirche auf Zion ein freudiges Gefühl darüber, „dass in der Stadt, von wo der schöne Glanz über die Welt hinein ausgebrochen ist, nicht mehr 36 K. Graul, Reise nach Ostindien über Palästina und Ägypten von Juli 1849 bis April 1853, Leipzig 1854. – Über Graul vgl. die nahezu vollständige Bibliographie im Luth. Missionsjahrbuch 1936, S. 145 ff., W. Birnbaum, Die freien Organisationen, 1939 und P. Fleisch, Zersplitterung und Einigungsversuche usw. (= Luthertum, 1944, Heft 1 – 6, S. 9 ff.).

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bloß jene allzu trüben Lichter der Kirchen brennen, denen der Herr den Leuchter schon seit langer Zeit mehr oder minder umgestoßen hat“ (I, 126 ff.). Mit einem jungen Maroniten führt Graul über der aufgeschlagenen Bibel theologische Disputationen, aber er gibt sich – auch in anderer Hinsicht zeigt er sich als durchaus weltoffener, kluger und praktischer Mann – über die Aussichten der christlichen Mission unter den Mohammedanern keinen Illusionen hin. Die Bedeutung seines gewandten, aber mit Wissenschaft überladenen Reisebuches liegt wesentlich auf missionsgeschichtlichem Gebiet. Hier sieht er, ein Missionsstratege, in großen Linien und entwirft uns ein bewegtes tableau des oft menschlich-allzumenschlichen, aber auch aus dem Leben der modernen Welt nicht wegzudenkenden Wetteifers der Konfessionen. Graul, nicht nur als Theologe hochgebildet, verband mit bekenntnismäßiger Ausrichtung eine für seine Zeit erstaunliche Aufgeschlossenheit gegenüber der geschichtlich-sozialen Eigenart der nichtchristlichen Welt. Sein Verständnis für das Kreatürliche und Wachstümliche der außereuropäischen Volkstümer wirkte auf den Missionsfeldern bahnbrechend. Andererseits enthält gerade der palästinensisch-syrische Abschnitt seines Buches Belege, daß er von jener Missionsmentalität, die „alles Europäische bewußt in den Tod geben“ will, noch eine gute Strecke Wegs entfernt war. Konfessionelle Polemik enthält in reichlichem Maß auch das Pilgerbuch des schwäbischen Dekans Schiferle aus Gundremmingen an der Donau, das uns für manche damals landläufige, kirchlich approbierte Reisebeschreibung typisch erscheint37. Den etwas provinziellen Zuschnitt seiner Schreibweise verkannte der Verfasser nicht, er hat bewußt als Landpfarrer die Feder in die Hand genommen. Lehrhaft-pastoral wird von dem Land berichtet, „wo auch im Winter am meistens blauen, reinen Himmel eine warme Sonne strahlt, wo Palmen rauschen, milde Winde wehen, Schwalben zwitschern und von grünen Bäumen Orangen gold-gelb und lockend niederschauen“ (I, III ff.). Seine Reiseerlebnisse zu Papier zu bringen, erscheint ihm gleichsam als geistlich-seelsorgerliche Pflicht, und treuherzig kündet er gleich zu Anfang den guten Zweck seines Tuns an, etikettiert er seine Wallfahrt „als Tugendmittel und geistliche Exerzitien“ (1,6). Die Darstellung atmet ganz den Geist der Historischpolitischen Blätter, die sich nach wie vor eifrig um das Heilige Land bemühten. Seinen großdeutschen Patriotismus vergißt Schiferle auch im Orient nicht; gleich anderen Pilgern stimmt es ihn ärgerlich, daß sein Reisepaß in Alexandrien auf dem preußischen Konsulat hinterlegt wurde. Er fühlt sich weit mehr der „ersten deutschen Großmacht“ Österreich verbunden. Seine besondere Abneigung gilt nicht nur den kontinentalen Protestanten und ihren rationalistischen Irrwegen – Männer von der Art Schuberts und andere „sanftmütige“, gläubige evangelische Christen nimmt er ausdrücklich aus –, sondern auch den Anglikanern und ihren beweibten Bischöfen; in einer sehr ungerechtfertigten Anspielung wird von der „Päpstin Viktoria“ gesprochen. Stets zu Sträußen und Späßen aufgelegt, Schiferle in seiner geistigen Haltung engstens benachbart, an Ursprünglichkeit der Empfin37 J. Schiferle, Zweite Pilgerreise nach Jerusalem und Rom in den Jahren 1856 und 1857, Augsburg 1858.

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dung und Kraft des Ausdrucks ihm aber weit überlegen ist der katholische Volksschriftsteller und Geistliche Alban Stolz38, der sich 1855 an einer vom österreichischen St. Severinusverein veranstalteten Pilgerfahrt beteiligte, sich aber keineswegs in die Schablone des frommen Fremdenverkehrs und seines vorschriftsmäßigen Besichtigungs- und Stimmungsschematismus einspannen ließ. Der Außenseiter, der Stolz zeitlebens und -wirkens geblieben ist, gibt auch in Palästina unverächtliche Proben seiner rücksichtslosen, oft skurrilen Beurteilung von Welt und Menschen. Wie ein Abraham a Santa Clara redivivus mutet uns der absonderliche Mann zuweilen an. Innerer Reichtum und Häßlichkeit, heller Blick und arge Geschmacklosigkeiten, borniert-kleinbürgerliche Anschauungen und psychologischer Scharfsinn, massive Schmähungen gegen alles Unverstandene und echte Vertiefung in das, was er leidenschaftlich erfaßt und erkannt – so tritt uns der alemannische Paradoxist entgegen. Eigenartig, wie hier ein unverfälschter, zu spät gekommener Barockmensch in unvermeidlichen Kontrast zum 19. Jahrhundert gerät! Gegenreformatorischer Stil durchdringt, was er immer tut und denkt. Bei ihm wirkt es nicht verkünstelt, wenn er seinen Aufenthalt zu Jerusalem in einen liturgischen Rahmen einspannt und schließlich den Weg vom klassisch-antiken Land „der Christen, Palästina, nach Rom weist, wo der goldene Wein, der aus dem Rebstock des hlg. Landes geflossen, aufbewahrt und in der Eucharistie gespendet wird“ (S. 427). Sein Pilgerbuch „Besuch bei Sem, Ham und Japhet“, das 1856 erstmals erschien, fand starke Verbreitung und erlebte 1913 seine 10. Auflage. Es ist im katholischen Lesepublikum, wie mir scheint, erst durch das Werk des späteren Bischofs von Rottenburg, Paul Keppler, „Wanderfahrten und Wallfahrten im Orient“, verdrängt worden, das den Geschmack und die Bedürfnisse der christlichen Welt um die Jahrhundertwende virtuos zu treffen wußte. Wie ausgewogen und diplomatisch im Vergleich zu dem Freiburger Professor! Alle Ecken und Kanten werden tunlich abgeschliffen, kirchliche Korrektheit und Weltoffenheit haben sich hier gefunden. Das Zeitalter des Kulturkampfes ist im Abflauen. Der Tübinger Professor gehört schon zu den „Reichskatholiken“, mit Selbstverständlichkeit hält er sich in Konstantinopel im Hause des deutschen Botschafters von Radowitz als Gast auf. Stets befleißigt er sich wohlwollender Objektivität nach allen Seiten, nicht zufällig wird gelegentlich gegen Stolz und Sepp Stellung genommen (S. 106). In gepflegter Beredsamkeit begründet er seine Pilgerfahrt: „Wir wollen nicht geistiger sein als der Gottessohn selber, der im Fleisch erschien und auf dem materiellen Boden der Welt lebte, wirkte und starb. Wir wollen es als kostbare Gabe von oben betrachten und benutzen, wenn es uns vergönnt wird, mit leiblichen Augen den irdischen Schauplatz der hlg. Geschichte zu sehen. Sie hat auf diesem Boden unaustilgliche Züge und einen unverlierbaren Duft zurückgelassen. Diese Züge aufmerksam zu betrachten, diesen Duft einzuatmen, freuen wir uns und wir hoffen davon Stärkung und Förderung des Glaubens, des Glaubenslebens, des Glaubensforschens“ (S. 6). Dabei unterläßt er es nicht, den berühmten Vers des cherubinischen Wandersmannes zu umschreiben: „Wär’ Christus 38

Ich zitiere nach Alban Stolz, Besuch (wie Anm. 31).

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tausendmal in Bethlehem geboren und nicht in dir, du wärest doch verloren.“ Überflüssig zu erwähnen, daß Keppler nirgends von dem Weg der kirchlichen Lehre abweicht; aber seine Art zu erleben und zu schreiben, setzt immerhin ein Maß von christlichem Kulturoptimismus voraus, wie es heute mancherorts schon wieder als historisch empfunden wird. Neben den geistlichen Palästinafahrern wuchs auch die Zahl der weltlichen zur Legion an, und es hält schwer, aus den Wolff, Ziegler, Gonzenbach, Furrer und ihren Genossen die rechte Auswahl zu treffen. Moritz Busch, von seiner Tätigkeit bei Bismarck bekannt, ein Mann, der etwas vom literarischen Piraten an sich hatte, unternahm im Sold des österreichischen Lloyd 1859 eine Reise in die Levante und nach Ägypten; neben dem von den Auftraggebern verlangten Werbe- und Reisebuch gedieh ihm auf dieser Fahrt auch die Beschreibung einer „Wallfahrt nach Jerusalem“ mit dem Untertitel „Bilder ohne Heiligenschein“, 1861. Schon wurde Palästina durch den modernen Tourismus zu einem Land herabgewürdigt, das „man gesehen haben mußte“. 1858 durchstreifte Schliemann Palästina39, 1882 hielt sich Gregorovius dort auf und erlebte gewissermaßen einen Epilog zu seiner „Athenais“40. Zwei Zeitschriftenaufsätze, die der Geschichtsschreiber der Stadt Rom über die palästinensische Episode verfaßte, haben leider nicht einmal in seinen „Kleinen Schriften“ Aufnahme gefunden. Dreimal weilte der reiche mecklenburgische Reisegraf, Dichter und Übersetzer von Schack im Heiligen Lande. In seiner redseligen und etwas selbstgefälligen Art hat er genugsam darüber berichtet41. Schack war erstmals 1839 als vornehmer Globetrotter durch Jerusalem gekommen, 1848 begleitete er den Reichsgesandten der Frankfurter Regierung, Fürsten Chlodwig Hohenlohe, der damals von einer Inbesitznahme mittelmeerischer Inseln und einer Lösung der orientalischen Frage durch Deutschland träumte und seine Mission zu einem Abstecher nach Palästina benützt hatte42. Der gräfliche Ästhet gab sich anderen Eindrücken hin. Nachdem er im Kloster des Karmel mit Mißvergnügen „die spitzfindigen Werke des Thomas von Aquino“ durchblättert und dabei „einen Schwindel im Kopf“ verspürt hatte, als wäre ihm Hegels Phänomenologie des Geistes in die Hand geraten, freute er sich um so mehr am Anblick der „Rosse mit schönen arabischen Sätteln und Schaufelbügeln“ vor dem Tor des Klosters und dem bunten Bild der fröhlichen Reisegesellschaft, die sich ausgiebig mit Pistolen und Gewehren bewaffnete. Es wurde stets von Räubern und Raubüberfällen gemunkelt: „Dergleichen gibt solchen Expeditionen einen Anschein abenteuervoller Romantik, der nicht zu verschmähen ist“ (I, 282). In Jerusalem vertraute Schack seinen Aufzeichnungen religiöse Herzensergießungen an, Grundgedanken eines vulgärliberalen, dogmenlosen Christentums, deren Formulierung, wie immer man zum Inhalt stehen mag, wenig anspricht. Ein drittes Mal zog Schack im Gefolge H. Schliemann, Selbstbiographie, Leipzig 1939, S. 32. Vgl. J. Hönig, Ferdinand Gregorovius, Stuttgart 1944, S. 399 f. 41 Fr. Graf von Schack, Ein halbes Jahrhundert, Bde. I und II, Stuttgart und Leipzig 1888. 42 Fürst Chlodwig Hohenlohe, Denkwürdigkeiten, Bd. I, herausgegeben von E. Curtius, S. 53 f. 39 40

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seines „Lehensherrn“, des Großherzogs von Mecklenburg, 1872 nach Palästina. Diesmal konnte er vor allem die außerordentliche Resonanz der Ereignisse von 1870 / 71 im Orient zur Kenntnis nehmen und in einem etwas wohlfeilen Patriotismus vom jungen Ruhm des Bismarckschen Reichs zehren. Die Machtstellung des Kaiserreichs gab selbst manchem der von Jahrzehnt zu Jahrzehnt neuen Illusionen sich hingebenden lateinischen Christen frischen Auftrieb, und ein griechischer Priester gab Schack gegenüber sogar der Erwartung Ausdruck, Deutschland möchte vom Heiligen Land Besitz ergreifen. Schack bemerkte dazu, bezeichnend genug: „Ich will mich nicht in den Rat der Mächtigen eindrängen, gestehe jedoch, im möchte noch erleben, daß der Beherrscher des deutschen Reiches in die Fußtapfen der beiden großen Hohenstaufen tritt, um seine Fahne in Palästina aufzupflanzen, aber das Land nicht in blutigem Krieg zu verheeren, sondern dort das Reich der Zivilisation und Toleranz nach dem Sinne Nathans des Weisen zu gründen.“ Das ist bereits jene nach J. Burckhardts Wort „siegesdeutsch angestrichene“ Gesinnung, ghibellinische Romantik, noch verbunden mit klassisch-deutscher Bildungstradition, nationalliberale Weltanschauung auf dem Weg zum Imperialismus. Entfaltung imperialen Glanzes wie nie zuvor auf einer Palästinareise wurde anläßlich Wilhelms II. Aufenthalt im Heiligen Lande 1898 gezeigt, dem säkularen Abschluß einer beträchtlichen Anzahl von Fürstenfahrten. Die mehr kulturhistorisch reizvollen als in der politischen Geschichte bedeutsamen oder nur an ihrem Rande sich abspielenden palästinensischen Abstecher europäischer Souveräne und Prinzen – Sepp hat die namhaftesten aufgezeichnet – könnten ein eigenes Kapitel füllen. Als erster deutscher Fürst unseres Zeitraums hat 1838 der Biedermeierherzog Maximilian in Bayern, in seiner Heimat als Sänger und Poet, Zitherspieler und Meister der höheren Reitkunst bekannt, den Boden des gelobten Landes betreten43. Wie er als Verfasser historischer Novellen auf den romantischen Spuren Tiecks und Viktor Hugos wandelte, so sind auch seine „Wanderungen nach dem Orient“ (1839) mit altertümlichen Ornamenten behangen, angefangen von dem Ankauf einiger Negersklaven auf dem Markt zu Kairo, die nach des Herzogs Rückkehr in der Münchner Frauenkirche feierlich vom Erzbischof getauft wurden, bis zur Teilnahme an alten Bräuchen in Jerusalem, wo sich Maximilian mit dem Schwert Gottfrieds von Bouillon umgürtete und zum Ritter vom Heiligen Grab geschlagen ward. Durch die Pest, die wieder einmal in Palästina grassierte und in der Umgebung des Herzogs Opfer forderte, nahm die Fahrt ein böses und vorzeitiges Ende. Von geringem Belang war der Ausflug, den Kaiser Franz Joseph I. von Österreich, derjenige europäische Souverän, der noch den Titel eines „Königs von Jerusalem“ führte, auf seiner Reise zur Einweihung des Suezkanals unternahm. Beust und Andrassy haben den hohen Herrn begleitet und beide wissen über nichts zu berichten, was irgendwie aus dem Rahmen gefallen wäre44. Die sich stets gleichbleibende, fast unpersönliche, alles Exzentrische verschmähende Art des Monarchen trat auch in der konventionellen Gestaltung der Palästinafahrt zutage, 43 44

Vgl. Lebensläufe aus Franken, I, 316 f. Vgl. vor allem Beust, Aus drei Vierteljahrhunderten, Bd. II, 286 ff.

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namentlich in der vornehm-pflichtgetreuen Beobachtung aller herkömmlichen Formen christlicher Pilgerschaft. Er küßte den Boden beim Anblick Jerusalems, stieg, am Stadttor angekommen, vom Pferde, ließ sich am Jordan einige Flaschen mit Taufwasser füllen u. dgl. mehr. Andrassy nahm im Jordan ein Bad und schrieb darüber scherzhaft nach Wien, er habe gehört, wer im Jordan bade, könne Wunder tun. „Meine Heimat kann das brauchen“, fügte der Nationalist hinzu45. Coelum haud animum mutant, qui trans mare currunt. Der nämliche Reisezweck wie den Herrscher Österreich-Ungarns führte 1869 den preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm in das Heilige Land; was er darüber in seinen Tagebüchern aufzeichnete, sticht kaum von den üblichen Berichten ab. Auffallend ist höchstens, wie sehr die Beobachtungen des Thronfolgers von militärischen Bezügen und Vergleichen durchwirkt sind. Freudig stellt er fest, daß Präsentieren und Hurra eines nach Jerusalem vorausgeschickten Kommandos von Seesoldaten „gewiß der erste preußische Militärgruß dieser Art an der hlg. Stadt“ gewesen sei46. Um die Palästinareise seines Sohnes, Wilhelms II., hat sich eine umfangreiche Literatur gesponnen. Will man die vielbesprochene Fahrt recht beurteilen, so darf man nicht von vornherein an dem der Reise vom Kaiser und seinen verantwortlichen Ratgebern beigelegten offiziellen Charakter vorübergehen. Der Kaiser gab sich in Jerusalem bewußt als Christ, als evangelischer Christ47. Äußerer Anlaß seines Kommens war die Einweihung der evangelischen Erlöserkirche, vor deren Altar er, der Summepiskopus der größten deutschen Landeskirche, eine religiöse Ansprache hielt und sich zum christlichen Geist des Hauses Hohenzollern bekannte. Auch bei zahlreichen anderen Verlautbarungen des Monarchen stand das evangelische Glaubenszeugnis im Vordergrund. Die Anwesenheit preußischer Johanniter in Ordenstracht und zahlreicher protestantischer Geistlicher, von den Auslandspfarrern und den auf der „Asia“ von Deutschland gekommenen Pastoren bis zu den Männern des Oberkirchenrats und dem Oberhofprediger Dryander, unterstrich die kirchliche Note dieser Tage. Es ist nicht zu bezweifeln, daß in dem letzten deutschen Kaiser unter allem bombastischen Schwulst, aller Oberflächlichkeit und Brüchigkeit noch echte christliche Substanz vorhanden war. Von einem Gaukelspiel zu reden, wäre verfehlt, auch wenn auf Grund der an „Nicky“ in bekannter Forschheit und bekannter allzu großer Offenheit geschriebenen Zeilen48 der christliche Erlebnisgehalt von der christlichen Demonstration zu subtrahieren wäre. Andererseits konnte die Orientreise nicht aus den allgemeinen Tendenzen der wilhelminischen Politik herausgelöst, nicht als private christliche Episode dem imperialistischen Wettbewerb der europäischen Nationen entzogen werden. Daher auch das widerspruchsvolle und gerade deswegen so durch und durch wilhelminische Gepräge des palästinensischen AufE. C. Conte Corti, Elisabeth, die seltsame Frau, Salzburg 1934, S. 223. Kaiser Friedrichs Tagebücher, herausgegeben von Margaretha von Poschinger, Berlin 1902, S. 68. 47 Naumann, Asia3, Berlin 1900, S. 71. 48 Briefe Wilhelms II. an den Zaren 1894 – 1914, herausgegeben von W. Goetz, Berlin 1920, S. 63 ff. 45 46

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enthalts, der grelle Stil der Veranstaltungen, das kaiserliche Gepränge der Aufmachung. Nie und nimmer ließ es sich vereinen, in der Stadt des Erlösers eine Huldigung des christlichen Abendlandes in aller Form darzubringen und gleichzeitig in Wort und Tat eine überschwengliche Freundschaft zum Sultan zu bekunden. Ein gutes Verhältnis zur Pforte und christliche Manifestationen, jedes für sich und zu seiner Zeit, war längst europäischer Usus geworden. Aber beides zusammen – das schlug jeder Tradition ins Gesicht. Und wenn beim Eintritt des mit „heller Glanzkleidung“ angetanen Imperators in die Erlöserkirche ein Bläserchor der Marine den Choral „Tochter Zions freue dich“ erklingen ließ, so erinnern wir uns, daß dieselbe Marine als Zankapfel in die damaligen weltpolitischen Auseinandersetzungen geworfen war. Wieviel Ungereimtheiten, wieviel Unechtes ließe sich noch anfügen! Aber hier hat Bülows maliziöse, in ihrer Art höchst unerfreuliche Schilderung49 sich schon übergenug verbreitet und mehr als viele Worte spricht vielleicht die von dem Kanzler mit offenkundiger Bosheit in seine „Denkwürdigkeiten“ aufgenommene peinliche Photographie, die den Kaiser hoch zu Roß im Zeltlager vor Jerusalem zeigt, und von Wilhelms II. Hand die Unterschrift trägt: „Das Feld muß er behalten“. Die Schwächen des kaiserlichen Aufenthalts in Palästina hat schließlich in blutigem Hohn die Kritik Frank Wedekinds getroffen, dessen Simplizissimusgedicht „Im hlg. Land“ die Wellen der Erregung hoch gehen ließ50. Das unbarmherzige Poem und dessen Aufnahme im Publikum zeigte, wie überdrüssig man weithin des wilhelminischen Stils schon geworden war. Unter den zahlreichen Deutschen, die anläßlich der Kaisertage 1898 nach Palästina fuhren, befand sich einer der hochsinnigsten und feinsinnigsten Politiker und Bildungsmenschen des Reiches, Friedrich Naumann. In seinem merkwürdigen ReiFürst Bülow, Denkwürdigkeiten, Bd. I, S. 253 ff. Frank Wedekind, Gesammelte Werke, München und Leipzig 1919, 8. Bd., S. 122 f. – Ich gebe hier die erste und die letzte Strophe des Gedichts wieder: Der König David steigt aus seinem Grabe Greift nach der Harfe, schlägt die Augen ein Und preist den Herrn, daß er die Ehre habe Dem Herrn der Völker einen Psalm zu weih’n. Wie einst zu Abisags von Sunem Tagen Hört wieder man ihn wild die Saiten schlagen Indes sein hehres Preis- und Siegeslied Wie Sturmesbrausen nach dem Meere zieht. Der Menschheit Durst nach Taten läßt sich stillen, Doch nach Bewund’rung ist ihr Durst enorm. Der du ihr beide Durste zu erfüllen Vermagst, sei’s in der Tropenuniform, Sei es in Seemannstracht, im Purpurkleide, Im Rokokokostüm aus starrer Seide, Sei es im Jagdrock oder Sportgewand, Willkommen seist du Fürst im Heiligen Land! Ludwig Thoma berichtet in seinen Erinnerungen ausführlich von den Weiterungen, die das Gedicht zur Folge hatte. 49 50

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sebuch „Asia“ hat er in vollendetem sprachlichen Können Perlenschnüre von Aphorismen aneinandergereiht, tiefe Gedanken und leuchtende von Künstleraugen gesehene Bilder, das Offenste und Lauterste, was ein liberaler Theologe und Kulturpolitiker um die Jahrhundertwende zu sagen hatte51. Der Kaiser und Naumann zu gleicher Zeit in Palästina: Welcher Kontrast, aber auch welche Verquickungen! Naumann hatte einen wachen Blick für das Gefährliche, das Taktlose und Abgeschmackte in Gebärde und Ansprüchen Wilhelms II. Anknüpfungen an Friedrich Wilhelm IV. machten auf den klarblickenden Beobachter einen fatalen Eindruck, und sehr behutsam deutet er anläßlich der Aufstellung der kaiserlichen Zelte inmitten des Pantheons von Baalbeck an, welchen Gefährdungen der Hohenzoller und sein Reim durch des Kaisers überhitzte und aufgeregte Phantasie ausgesetzt waren: Der Cäsar von Berlin unter den Ruinen Heliogabals (S. 38, 72)! Aber die Kritik verschwindet vor all den Projekten und Perspektiven, die der bunte Bilderbogen des Orients auch in Naumanns schöpferischer, sauberer, allen sensationellen Effekten abholden, alle Nuancen künstlerisch beherrschenden Phantasie auslöst. Da ist neben theologischen und religionsgeschichtlichen Reflexionen mitten im Heiligen Lande von der sozialen Frage die Rede, von der deutschen Flotte und der in seinen Augen bestehenden Notwendigkeit antienglischer Politik und nicht zuletzt von Deutschlands Stellung zum Großherrn und im Orient. Wenn Naumann zeitgemäße Fehlauffassungen teilt, wer kann ihm daraus einen Vorwurf machen? Wenn wir aber Naumanns Meinungen als solche beiseite lassen, es bleibt doch der Eindruck, daß es, so richtig und glänzend vieles formuliert ist, allenthalben an letzter Verbindlichkeit und zwingender Eindringlichkeit fehlt. Der politische Pastor Naumann ist mehr ein homo theoreticus als ein Mann der Macht und der Staatsraison, und soweit er diese vertritt fehlt ihm doch das Persönlich-Überzeugende. Am Ende legt der Idealist in die gröber gesponnenen Sachverhalte der Politik doch mehr hinein, als ihnen zukam. Er teilt das tragische Schicksal jener Edlen, die aus innerer Vornehmheit alles, auch das Unhaltbare zum besten kehren müssen. Mehr als Naumanns Ausflüge in die große Politik fesselt uns sein Glaubens- und Bildungsthema Palästina. Die noch immer führende Rolle der Geschichte im Geistesleben seiner Zeit, nicht zuletzt in der Theologie, diktierte Naumann ihre Fragen. Während ihn religionsgeschichtliche Betrachtungen nur vereinzelt an das Absolutheitsproblem heranführen, bedrängt ihn um so mehr das Verhältnis zwischen dem historischen Jesus und dem lebendigen Christus. Nicht im Sinne Lagardes, aber als bewußt modernem Christen wird ihm in Palästina der Zwiespalt zwischen der orientalischen Grundlage und der herkömmlichen deutschen Gestalt seines Glaubens schmerzlich nahegebracht. Schon zu Beginn seiner Reise hatte sich Naumann gesagt: „Was uns Jesus ist, steht uns fest, ganz abgesehen von allem Augenschein des Heiligen Landes. Wir erwarten nicht . . . neue Aufklärungen für unser inneres Leben zu gewinnen“ (S. 46). Palästina hat ihm trotzdem bedeutende Anregungen vermittelt, aber sie waren eher negativer Natur. Nicht nur, daß ihm Jerusalem „charakterlos“ und die Omarmoschee im Vergleich zur Grabeskirche als die „wohltuendere“ Kultus51

Fr. Naumann, Asia3, Berlin 1900.

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stätte erschien (S. 62, 64), daß er sich veranlaßt sah, Martin Luther zu zitieren: „Hin ist hin, jetzt haben sie den Türken“ (S. 67), noch mehr als dies: die ganze Reise bedeutete für den mit aller modernen Problematik beladenen Christen Naumann eine Anfechtung. Und so lautet die Klärung, die er fand: „Wir sahen uns genötigt, in unserem Inneren eine ganz scharfe Scheidung vorzunehmen zwischen den vergangenen Tatsachen unseres Glaubens einerseits und dem heutigen Jerusalem andererseits. Beides geht sich nichts an. Nur so können wir den Aufenthalt an diesem Ort ertragen“ (S. 67). Und rückschauend äußert er: „Wir sind Protestanten, wir haben keine hindernde Tradition. Als Protestanten sind wir Suchende, die auch das als Gnade Gottes ansehen, wenn er ihnen einiges zerbricht, woran sie gehangen haben“ (S. 103). In einem besonderen Christusverständnis, fernab aller traditionellen Geleise, zieht er sein Fazit: „Wir haben Jesus, wir behalten ihn. Die Schwierigkeiten, die darin liegen, daß er ein Fremdling aus einer vergangenen Völkerwelt ist, müssen wir überwinden. Hinter Jesus gibt es keine neue Religion wieder, sondern nur religiösen Verfall. Er war das Ende der Volksreligionen, so gut wie Buddha für Indien und China. Zwischen Jesus und Buddha schob sich Muhamed. Nur diese drei kämpfen im Grunde den Religionskampf der Weltgeschichte. Unsere Stellung in diesem Kampfe ist festgelegt. . . . Wir wollen, wenn es nötig ist, das Heilige Grab den Türken lassen, aber von der heiligen Seele Jesu wollen wir nicht aufhören zu zehren“ (S. 120). Wir müssen es uns versagen, den deutschen Palästinafahrten bis auf unsere Tage nachzugehen. Nur den geistigen Raum des 19. Jahrhunderts zu durchmessen hatten wir uns vorgenommen. Wollen wir eine Summe ziehen, so glauben wir Palästina als ein selbständiges Kapitel in die neuere deutsche Bildungsgeschichte nicht einfügen zu dürfen, auch nicht in die Glaubensgeschichte. Nach dem Verlust des hebräischen Grundcharakters hat Palästina eine eigenständige Kultur nicht mehr hervorgebracht, sein Boden trägt keine Denkmale, die man als palästinensisch im selben Sinn bezeichnen könnte, wie die Akropolis griechisch und die Via Appia römisch ist. Als Schauplatz des Alten Testaments und der christlichen Offenbarung bleibt das „Gelobte Land“ im Bereich der mittelmeerischen Weltreligionen stets hervorgehoben. Aber Christentum und Judentum haben sich so sehr zu ökumenischen Gebilden gewandelt, daß sich der weitaus wichtigere Teil ihrer Weltwirksamkeit außerhalb ihres ältesten Traditionsbezirks abspielt. Deutsche Pilger des 19. Jahrhunderts nach Palästina begleiten, heißt also kein Neuland entdecken, keine bisher unerforschten Quellgebiete unserer religiösen oder profanen Bildung betreten. Andererseits werden uns mancherlei Aufschlüsse über geistesgeschichtliche Wandlungen in Deutschland selbst gewährt, und als deren Spiegelbild haben wir hier einige Phasen palästinensischen Reiseerlebens aufgezeichnet.

Kirchliche Ökumenizität und weltpolitisches Denken Deutsche Stimmen aus dem 19. Jahrhundert Auch von dem Ausgreifen der ökumenischen Bewegung seit dem Ende des II. Weltkriegs gehen auf die Geschichtsforschung jene aktuellen Impulse aus, die an sich wissenschaftlich legitim und, wie sich immer wieder gezeigt hat, fruchtbar sind. Die historische Selbstreflexion des Ökumenismus hat zwar schon früher eingesetzt, aber erst in unserer Gegenwart, so scheint es, geht man erstmals daran, seinen historischen Hintergrund systematisch auszuleuchten. Es wird nicht nur „Ökumenische Kirchengeschichte“ geschrieben1, sondern es liegt auch als (freilich sehr summarisches) Sammelwerk bereits eine „Geschichte der Ökumenischen Bewegung“ vor2. Daneben ist eine lebhafte Einzelforschung im Gange, aus der ich die Arbeiten von E. Benz3, H. J. Schoeps und seiner Schule4, F. W. Kantzenbach5 und H. Graßl6 hervorhebe. Es versteht sich von selbst, daß der Ökumenismus in erster Linie als kirchengeschichtliches, als inner- bzw. interkirchliches und theologisches Phänomen behandelt wird, doch bietet er auch dem Profanhistoriker unter allgemein geistesgeschichtlichen wie gesellschaftlichen und politischen Gesichtspunkten aufschlußreiche Aspekte. Zu einer Auslotung der politischen Dimensionen des Ökumenismus fühlt man sich um so mehr herausgefordert, da die Kirchen stärker als früher 1 Vgl. K. S. Latourette, A History of the Expansion of Christianity, 7 Bde., NY. / Lndn. 1937 – 45. – Ökumenische Kirchengeschichte, Hrg. R. Kottje u. B. Moeller, I, Mchn. 1971. 2 R. Rouse / St. Ch. Neill, Geschichte der ökumenischen Bewegung (1517 – 1948), 2 Bde., Gött. 1957 / 8. 3 E. Benz, Kirchengeschichte in ökumenischer Sicht (Ökumenische Studien 111, Hrg. E. Benz), Leiden / Köln 1961. Dieser programmatischen Studie stehen zahlreiche Forschungen über abendländisch-ostkirchliche, insbesondere reformatorisch-ostkirchliche Beziehungen, über die Heilige Allianz und andere ökumenische Themen aus Benz’ Feder gegenüber. 4 Vgl. die in ZRGG IV (1952) sowie die neuerdings in „Das andere Preußen“, Berlin 31964 und in „Studien zur unbekannten Religions- und Geistesgeschichte“, Gött. 1964 veröffentlichten Arbeiten Schoeps’. Von Schoeps angeregt ist die Arbeit von M. P. Fleischer, Katholische und lutherische Ireniker, Gött. 1968. 5 F. W. Kantzenbach, Johann Michael Sailer und der ökumenische Gedanke, Nürnberg 1955. 6 H. Graßl, Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765 – 1785, München 1968 sowie ders., Ökumenisches Bayern. Katholische Unionsprojekte und ihre Wirkungen im 18. und 19. Jahrhundert (Festschrift für Max Spindler zum 75. Geburtstag, Mchn. 1969, S. 529 – 552).

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ihren politischen Charakter und ihre politische Verantwortlichkeit betonen7. Wissenschaftliche Beschäftigung mit den politischen Erscheinungsformen des Ökumenismus muß sich mit dessen Trägerinnen, den Kirchen und Konfessionen, als Mächten auseinandersetzen, deren Strukturen und Verhalten mittels „weltlicher“ Maßstäbe, insbesondere denen der Geschichtswissenschaft, der Politikwissenschaft und der Soziologie, beschrieben werden können. Dabei fällt auf, daß auch in der Sphäre des Ökumenismus politische Bindungen und Abhängigkeiten der Kirchen zwar im Hinblick auf die Vergangenheit im wesentlichen aufgedeckt, hinsichtlich der Gegenwart jedoch weniger intensiv untersucht werden8. Abgesehen von den menschlich-allzu-menschlichen, auf der Hand liegenden Beweggründen für diesen Sachverhalt, gibt es für ihn auch eine wissenschaftlich-methodische Begründung: Der Ökumenismus könnte als politisches Gebilde erst dann überzeugend dargestellt werden, wenn man vorher einen hinreichend deutlichen Begriff des politischen Konfessionalismus gewonnen hätte. Soviel indessen monographisch erarbeitet worden ist und so wertvoll das Instrumentarium ist, das uns die Religionssoziologie für die Zwecke der Erforschung des politischen Konfessionalismus an die Hand gegeben hat –, weder die Konfessionskunde noch die Kirchengeschichte noch die politische Geschichte haben dem politischen Katholizismus, dem politischen Protestantismus und der politischen Orthodoxie bisher solche Konturen zu geben verstanden, daß über sie eine wissenschaftliche communis opinio zustandegekommen wäre. Kirchliche Ökumenizität korrespondiert strukturell mit „weltlicher“ Internationalität, christliche Ökumene mit der im Entstehen begriffenen Weltgesellschaft9. Es könnte sich so verhalten, daß Gebilde wie Weltkatholizismus und Weltprotestantismus der Ökumene in ähnlicher Weise vorhergehen, wie die Panbewegungen, Imperialismen und ideologisch-gesellschaftlichen Weltfronten der „Organisation der Welt“10. Jedenfalls hat man im Lager der Weltfriedensbewegung trotz der latenten Spannungen zwischen christlicher Universalität und laizistisch-humanitärer Internationalität die Vorgänge auf dem Felde der ökumenischen Bewegung „Stärker als früher“: damit sind vor allem die protestantischen Kirchen gemeint. Hervorhebung verdient wegen der Inangriffnahme dieser Fragestellung H. Asmussen, Rom, Wittenberg, Moskau am Vorabend des Konzils, Stuttgart 1961. – Unter anderen Gesichtspunkten schreibt D. Hudson über „Oekumene und Politik“, Stgt. etc. 1970. – Wichtig R. Spennemann, Die Oekumenische Bewegung und der Kommunismus in Rußland, Heidelberger (masch.schriftl.) Diss. 1970. Zum Standpunkt des Linksprotestantismus in ökumenischen Fragen vgl. J. Bopp, Unterwegs zur Weltgesellschaft, Stgt. 1971. 9 Die Polarität der Kirche und der künftigen Weltgesellschaft behandelt ein Vortrag C. F. von Weizsäckers, Die Aufgaben der Kirche in der kommenden Weltgesellschaft (Aktuelle Gespräche 3, 1970, S. 1 – 6). Im Titel und in den Ausführungen seiner in Anm. 8 zitierten Schrift verwendet auch J. Bopp den Begriff „Weltgesellschaft“, doch wird deren Relation zur kirchlichen Ökumene anders als bei Weizsäcker bestimmt. 10 Ich verwende den Titel eines berühmt gewordenen Beitrags von W. Schücking zur Festschrift P. Laband, Tübingen 1908, S. 333 – 416; als selbständige Schrift erschienen: Lpzg. 1909. Unter „Organisation der Welt“ ist die „internationale Organisation“, der Zusammenschluß der Menschheit in Form eines Völkerbundes gemeint. 7 8

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registriert und als eine der eigenen Richtung gleichläufige Tendenz empfunden. Auch hat man wissenschaftliche Überlegungen über die religiösen Grundlagen des Internationalismus angestellt11. Im folgenden wollen wir aus der ökumenischen Ideengeschichte zwei Stellungnahmen erörtern, die bisher kaum gewürdigt worden sind. Sie stammen aus dem 19. Jahrhundert, das man häufig und gewiß nicht ohne Grund kirchengeschichtlich unter dem Vorzeichen der Rekonfessionalisierung einerseits und der Entkirchlichung andererseits zu sehen sich angewöhnt hat, das aber an Zeugnissen irenischer Bestrebungen reicher ist, als dies unser Geschichtsbewußtsein festzuhalten vermochte, und das auf dem Gebiet der kirchlichen Organisation und der missionarischen Expansion eine außerordentliche Aktivität aufweist. Der eine Beitrag stammt von einem Manne, der nicht nur einen außerkonfessionellen, sondern auch einen nichtchristlichen Standpunkt einnahm, während der andere Autor zwar als überkonfessionell, aber durchaus als Christ zu gelten wünschte, faktisch jedoch mindestens ebensosehr auf dem Boden der deutschen idealistischen Philosophie als auf dem der eigentlich christlichen Tradition gestanden hat. Möglicherweise ist es gerade ihre Distanz zu den damals mehr im Vordergrund befindlichen theologischen und kirchlichen Fragen, ihre außerkirchliche Position, gewesen, die es ihnen ermöglichte und nahelegte, die Rolle der Kirchen in der Weltgesellschaft ihrer Epoche unter profanen Gesichtspunkten zu studieren. Beide waren Publizisten, und was sie von der Masse ihrer Kollegen, die sich meist ganz überwiegend den nationalpolitischen Problemen ihrer Zeit hingaben, abhob, ist ihre weltpolitische Orientierung. Das Denken in weltpolitischen Kategorien führte zu einem analogen Verfahren bei der Behandlung kirchlicher Gegenstände und schließlich zur Formulierung eines ökumenischen Standpunktes. Der philosophische und erkenntnistheoretische Weg, auf dem sie dazu gelangten, ein ökumenisches Programm aufzustellen, ist nicht auf einen Nenner zu bringen. Anschauung und Erfahrung durchdringen sich auf komplizierte Weise mit der spekulativ-konstruierenden Tradition der deutschen Philosophie einerseits und mit starken Neigungen zu den realistischen Strömungen ihrer Zeit andererseits.

I. Der Politiker und Publizist Julius Froebel (1805 – 1893), zuerst Großdeutscher, später im Dienste des Bismarckreiches, entstammte einem rationalistischen thüringischen Pfarrhaus12. Er bescheinigte sich selbst, von Kindheit an eine „verstandesmäßige Auffassung religiöser Angelegenheiten“13 gehabt zu haben. Um die Mitte der fünfziger Jahre hat er einer sozialdarwinistischen Lebensanschauung gehul11 12 13

Vgl. M. Bentwich, The religious foundations of lnternationalism, London 1959. J. Froebel, Ein Lebenslauf, 2 Bde., Stgt. 1891. Froebel, a. a. O., I, S. 4.

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digt14. Im hohen Alter schloß er eine zweibändige Autobiographie mit „Meine Weltansicht“ betitelten monistischen Bekenntnissen15. In diesem Zusammenhang prophezeite er – ohne sie näher zu beschreiben – eine kommende neue Religion. Gegen die Religion an sich hat sich Froebel niemals gewandt. In seinem beachtenswerten staatswissenschaftlichen Hauptwerk „Theorie der Politik als Ergebnis einer erneuerten Prüfung demokratischer Lehrmeinungen“16 warf sich Froebel vielmehr zum Verteidiger der Religion auf, allerdings nicht auf dem Boden christlicher Theologie, sondern mit Argumenten religionsphilosophischer Art im Geiste „natürlicher“ Religion. Wenn wir im folgenden die Ausführungen Froebels in seiner „Theorie der Politik“ für unsere Zwecke zugrunde legen, so deswegen, weil der Rationalist und Pragmatiker, dessen religiöse Auffassungen kaum als originell zu bezeichnen sind, konstruktive Phantasie hinsichtlich der politisch-gesellschaftlichen Aspekte von Religion und Kirche besaß. Der weltpolitische Denker und passionierte Außenpolitiker Froebel gelangte bei seinen Überlegungen schließlich in den ökumenischen Bereich; den Ausgangspunkt hierfür bildeten Betrachtungen über das Verhältnis von Staat und Kirche. Den Dualismus von Staat und Kirche, wie er sich im Gegensatz zu Byzanz in der abendländischen Christenheit des Mittelalters entwickelt hatte, hielt Froebel zwar nicht für ideal, aber prinzipielle Richtigkeit mochte er ihm nicht absprechen. Verglichen mit dem Zustand der lateinischen Kirche in ihren Anfängen und in ihrer Blütezeit, erschien ihm der konfessionspolitische Prozeß seit der Reformation als Verfall, als Übergang zu „Einseitigkeiten“. Das scharf pointierende Resümee seines Nachdenkens über das Verhältnis von Konfession und Staat lautete: „Wir haben gesehen, daß im Luthertume die Kirche als Staatsanstalt, im folgerichtigen Calvinismus der Staat als Kirchenanstalt, im Zarentum der Staat selbst als Kirche, im Jesuitismus aber die Kirche als Staat gedacht ist.“17 Mit äußerstem Nachdruck wandte er sich gegen die Landes- und Staatskirchen, die er als „Widerspruch in sich selbst“ ansah, da „die Aufgabe der Kirche eine internationale“ sei18. „Die Berechtigung ihrer Unabhängigkeit vom Staat“, schreibt Froebel, „liegt in ihrem kosmopolitischen, universellen und in diesem Sinne exterritorialen Charakter.“19 Während Froebel den Universalstaat als geradezu unsittlich abtut und sich die politische Seite des „Menschheitsorganismus“ nur in Form einer „gegliederten Staatengesellschaft“ vorstellen kann, verficht er für dessen sittlich-ideale, religiöse Seite die Form einer universellen Kirche20, die nur in voller Unabhängigkeit vom Staate ihrer Aufgabe gerecht werden könne. Die zu seiner Zeit mehrfach geäußerte Froebel, a. a. O., I, S. 302 – 304. Froebel, a. a. O., II, S. 693 – 700. 16 J. Froebel, Theorie der Politik als Ergebnis einer erneuerten Prüfung demokratischer Lehrmeinungen, 2 Bde., Wien 1861 / 64. 17 Froebel, Theorie, I, S. 137. 18 Froebel, Theorie, I, S. 131. 19 Froebel, Theorie, I, S. 130. 20 Froebel, Theorie, I, S. 139 u. 328. 14 15

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Ansicht, der Staat müsse die Kirche ablösen und ihre kulturelle sowie humanitäre und erzieherische Tätigkeit übernehmen, war genau das Gegenteil dessen, was Froebel meinte. Froebel hielt es für möglich, daß der Wetteifer verschiedener Kirchen am ehesten dem Menschheitsziel entgegen führe. Aber er war nicht nur zu sehr politischer Praktiker, um an einer Verflüchtigung des Einheitsbegriffs ins rein Spirituelle Geschmack zu finden, er benötigte für seine Theorie auch die konkrete Universalität der Kirche als Gegenstück zum konkreten Pluralismus der Staatenwelt. So schwebte ihm, wenn er sehr bewußt nur von der Kirche sprach, eine weltumspannende Organisation vor, und er sprach ausdrücklich von Zentralisation und Mission als unerläßlichen kirchlichen Funktionen21. Blieb in der Politik der Staatenpluralismus Froebels letztes Wort, obschon er Blockbildungen mehrerer Staaten und Nationen als zeitgemäße Lösungen durchaus in Betracht zog, so wünschte er die menschheitliche, über die nationalstaatlichen Begrenzungen weit hinausgehende Dimension der Kirchen auf universalistisch-föderative Weise zu verwirklichen. Froebel hatte sich zunächst bemüht, die politische und die sittlich-religiöse Welt zu trennen. Er wurde jedoch alsbald gewahr, daß auch die menschheitsumspannende Kirche ihrerseits eo ipso ein Politikum bilden mußte, und er konnte nicht umhin, im zweiten Teil seiner „Theorie der Politik“ die Weltkirche als einen Faktor innerhalb der Weltpolitik zu behandeln. Zwischen dem Erscheinen des ersten und des zweiten Bandes seiner „Theorie“ hatte Froebel Constantin Frantz’ „Kritik aller Parteien“ (Bln. 1862) gelesen. Er bekannte sich auf kirchenpolitischem Gebiet zu den Anregungen, die er von Frantz empfangen hatte22. Es war auch zu persönlichen Begegnungen zwischen den beiden Männern gekommen. Froebel zollte dem Scharfsinn des geistreichen Einzelgängers Hochachtung, aber eine politische Zusammenarbeit ließ sich auch in der Zeit weitgehender Übereinstimmung ihrer Ansichten nicht verwirklichen. „Wir hegten“, schreibt Froebel in seinem „Lebenslauf“, „bei unserer publizistischen Wirksamkeit verschiedene Hintergedanken . . .“23. Was die ökumenischen und weltpolitischen Auffassungen von Frantz und Froebel betrifft, so darf man, unter Außerachtlassung der kaum beantwortbaren Frage der Priorität, Frantz gewiß ein Plus an gedanklicher Potenz und Fundierung zuschreiben. Trotzdem bleibt auch der Beitrag, den Froebel geleistet hat, beachtlich. Ein eigenes Kapitel hat Froebel im zweiten Band der „Theorie“ dem Gegenstand „Die Weltpolitik und die völkerrechtliche Aufgabe der Kirche“ gewidmet. Er hob nochmals hervor, für wie untergeordnet er die Spaltungen kirchlicher Gemeinschaften ansehe, und betonte, daß es nicht die Orthodoxie, sondern die „Katholizität oder Universalität“ sei, „was der Kirche ihre eigentliche Stellung im Organismus der Menschheit“ gebe24. Er wollte geradezu einen Gegensatz zwischen Ortho21 22 23 24

Froebel, Theorie, I, S. 140. Froebel, Theorie, II, S. 365 ff. Froebel, Ein Lebenslauf, II, S. 67 f. Froebel, Theorie, II, S. 368.

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doxie und Katholizität sehen, da jene sein Ziel, die kirchliche Bundesgenossenschaft, verstelle. Es bedeutete für Froebel als Protestanten des 19. Jahrhunderts keinen geringen Schritt, daß er in einem solchen allgemeinen Kirchenbunde ohne weiteres der römisch-katholischen Kirche die Hegemonie zusprach und sie unumwunden als die „Trägerin der wahren Kirchenidee“ bezeichnete25. Im ersten Teil der „Theorie“ hatte er sich sogar unverhüllt für die Erhaltung des Kirchenstaates im Interesse der Unabhängigkeit der Kirche ausgesprochen26. Seine völlige Indifferenz gegenüber Lehrfragen ermöglichte ihm also in organisatorischer Hinsicht eine ungewöhnliche Unbefangenheit. Die Gleichgültigkeit in theologischen Fragen hätte sich jedoch, wenn er je genötigt gewesen wäre, praktische Vorschläge zur engeren Verbindung der Kirchen zu unterbreiten, sehr bald als Schwächemoment herausgestellt. Froebel hatte zur Kenntnis genommen, daß die Heilige Allianz auf ihre Weise schon darangegangen war, das ökumenische Prinzip in die große Politik einzuführen. Die Richtung der Heiligen Allianz war es freilich gerade nicht, die der Demokrat Froebel einzuschlagen wünschte. Von den liberalen Ansätzen im Ursprungsstadium dieses Systems wußte er sicher nichts. Er sah die Heilige Allianz so wie die gesamte europäische Linke seiner Zeit. Und in kirchlicher Hinsicht vermutete er hinter ihr nichts anderes als eine unheilige Verbindung von kirchlicher Korrektheit und religiöser Gleichgültigkeit27. Sich selbst und seinen zahlreichen Gesinnungsgenossen schrieb er eher eine Kombination von kirchlicher Indifferenz und religiösem Interesse zu, einem religiösen Interesse allerdings, das von den „Bedürfnissen eines ausgebildeten Zeitgeistes“ ausging und am Kirchentum seiner Zeit keine Befriedigung zu finden vermochte. Damit stellte sich nun freilich die Frage, was Froebel denn als den religiösen Inhalt des von ihm bejahten und geförderten ökumenischen Kirchentums ansah, was er als dessen Betätigungsfeld betrachtete und was er unter dem Begriff einer „völkerrechtlichen Aufgabe der Kirche“ verstand. 25 Froebel, Theorie, II, S. 369: „Diese Kirche mag dann nebenbei sich für die alleinige orthodoxe halten; sie wird aber wohltun, anderen das nämliche Recht einzuräumen, darüber den Streit zu vermeiden, und statt dieses Streites, durch große Leistungen, – Leistungen welche sich an dem Entwicklungsgange der Zeit beteiligen, statt sich ihm zu widersetzen –, in einem allgemeinen Kirchenbunde sich die Hegemonie zu sichern.“ 26 Froebel, Theorie, I, S. 141: „Wollen wir uns nun die Kirche ihrer Idee nach, die Kirche wie sie sein soll, vorstellen, so geht aus allem bisherigen hervor, daß ihre Leitung nicht unter dem Einflusse des Staates überhaupt oder eines bestimmten einzelnen Staates stehen darf, also unerläßlich von irgendeinem neutralen Gebiete, sei es auch noch so klein, ausgehen muß, und daß die Neutralität dieses Gebietes und die Unabhängigkeit der Kirche selbst unter dem Schutze aller Staaten der gebildeten Welt stehen sollte. Dies ist das Ziel für die äußere Weltstellung der Kirche.“ 27 Froebel, Theorie, II, S. 370: „Dem polizeilichen Kirchentume, in welchem sich österreichische Ultramontane, preußische Kreuzzeitungsjunker und russische Cäsareopapisten intermittierend zusammengefunden, kommt es auf das Glaubensbekenntnis und selbst auf das besondere kirchliche System wenig an, vorausgesetzt, daß nur geglaubt, respektiert und gehorcht wird. Die Heilige Allianz war aus diesem dreifachen Stoffe gemacht.“

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Um es vorwegzunehmen, Froebels Auskünfte bleiben vage. Wenn er von der „Einheit des Menschengeschlechts als Kulturaufgabe“ spricht und deren Lösung der Kirche vorbehalten wissen will, erwartet man unwillkürlich weitere Erläuterungen. Ganz und gar nicht überzeugt Froebels Satz: „Was Schiller in seiner ,Ästhetischen Erziehung des Menschengeschlechts‘ sich als höchste Aufgabe gedacht, das ist einerlei mit der ewigen Aufgabe der Kirche.“28 Zu grell ist der Kontrast zwischen der von Froebel vertretenen Realität und Schillers „Reich des schönen Scheins“, zwischen der von Froebel gewünschten Organisation einer sichtbaren Weltkirche und Schillers säkularisiert pietistischer Vorstellung, daß der „Staat des schönen Scheins“ als Sehnsucht in „jeder feingestimmten Seele“, faktisch aber nur „wie die reine Kirche und die reine Republik in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln“ zu finden sei29. Froebel kam zwar von der Sprache und der Gedankenwelt des deutschen Idealismus nie völlig los, aber glaubhafter wirkte er, wenn er im Sinne des zeitgenössischen Realismus argumentierte und sich an praktischen Lebenserfahrungen orientierte. Seiner ganzen Art sagten die Eindrücke seiner amerikanischen Jahre sehr zu, und die Eigentümlichkeiten des amerikanischen Christentums schienen ihm den Weg für eine Erneuerung der Christenheit insgemein zu bahnen, eine Erneuerung, die sich ganz auf das Praktische konzentrieren und damit von allen Streitigkeiten wegführen sollte. Lange bevor die Begriffe des „Amerikanismus“ im Sinne des Pater Hecker oder des „Social Gospel“ geprägt wurden, empfahl Froebel das „arbeitende Christentum“30, d. h. eine in sozialer Aktivität sich bewährende Frömmigkeit. Die Kirche, meinte Froebel, regeneriere sich dadurch, daß sie sich „zur Seele der praktischen Bewegung“ mache, der Technik ihre „höheren Antriebe“ vermittle und der „Richtung des Zeitgeistes folge“31. Man darf diese Auffassungen Froebels, parallel zur Zeitströmung der Realpolitik wie zum Realismus in Kunst und Literatur und in Anlehnung an Froebels Bekenntnis zum „Realismus unserer Zeit“32, als einen spezifischen Zugang des Realismus des 19. Jahrhunderts zu Religiosität und Kirchlichkeit charakterisieren. Die Gefahren, die der Kirche aus einer solchen Allianz mit dem Zeitgeist erwachsen mußten, traten für Froebel in den Hintergrund. Die Fragen, ob nicht auch außerkirchliche Kräfte und Institutionen soziale und humanitäre Aktivität ebensogut wie die Kirche entfalten könnten und ob nicht ein vom Zeitgeist und den wechselnden sozialen Bedürfnissen unabhängiger transzendenter Sachverhalt das Mysterium, das A und Froebel, Theorie, I, S. 139. Schillers Werke, Nationalausgabe, Bd. 20, Weimar 1962, S. 412. 30 Froebel, Theorie, II, S. 372: „Der Realismus unserer Zeit ist nicht das betende, aber er ist das arbeitende Christentum; gewiß in seiner Ausschließlichkeit einseitig, aber nicht minder einseitig als jene weltverachtende Andacht, in welcher ein Teil der Größe früherer Jahrhunderte bestanden hat.“ Ferner: „Der viel verschrieene Materialismus Amerikas, für welchen das ,improvement‘ erster Glaubensartikel und erste Vorschrift der Sittenlehre ist, stellt dieses arbeitende Christentum in höherer Entwicklung dar als es irgendwo sonst vorhanden ist.“ 31 Froebel, Theorie, II, S. 372 f. 32 Froebel, Theorie, II, S. 372. 28 29

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O, der Kirche ausmache, haben ihn gewiß nicht erreicht, geschweige denn beschäftigt. Andererseits gewann er durch – sit venia verbo! – Enttheologisierung und Entdogmatisierung die Basis für einen in seinem Sinne funktionierenden Weltkirchenbund, der den „gesellschaftlichen Bau des Menschengeschlechts“ vollenden sollte. Froebel stellt sich die kirchliche civitas maxima als die sittliche Instanz der Weltpolitik vor. Er forderte gemeinsame Aktionen aller Kirchen und Sekten „zur Verurteilung des Sklavenhandels, zur Verteidigung der Sache unterdrückter Völker, zur Beratung von Mitteln zur Abschaffung der Menschenopfer, zur Verdammung völkerrechtlicher Gewalttat und Wortbrüchigkeit, zur geistigen und moralischen Unterstützung großer und allgemeiner Kulturaufgaben“33. Einige Zeitgenossen Froebels sind in dieser Hinsicht noch weitergegangen. Während Froebel zwar von einer völkerrechtlichen Aufgabe sprach, praktisch aber nur moralische Aktivität vorschlug, haben andere sich der Position des Heiligen Stuhles im mittelalterlichen Jus gentium erinnert und den Mangel an einer obersten Autorität in den internationalen Beziehungen dadurch zu heben versucht, daß sie dem Papsttum praktische völkerrechtliche Aufgaben übertragen wollten. Diesbezügliche Vorschläge stammten selbstverständlich in erster Linie von katholischer Seite, aber auch ein protestantischer Außenseiter wie David Urquhart hat – im Jahre 1870 – einen „Appell d’un Protestant au Pape pour le rétablissement du droit des Nations“ veröffentlicht. Nach Lage der Dinge mußte dieser Appell eine Kuriosität bleiben34.

II. Wie Froebel hat auch Constantin Frantz (1817 – 1891), ebenfalls Pfarrerssohn und ein publizistischer Außenseiter des 19. Jahrhunderts, seine Beiträge zum Problem der Ökumenizität in weltpolitische Betrachtungen eingebunden. In seiner bereits erwähnten Schrift „Kritik aller Parteien“ leiten seine diesbezüglichen Ausführungen zu dem Kapitel über Föderalismus als innen- und außenpolitisches Prinzip über35, und die weitläufigsten Auseinandersetzungen mit dem Thema finden sich gewiß nicht zufällig in dem Werk „Weltpolitik“ (1882)36. Wiederholt hat auch Frantz betont, daß er sich nicht mit den inneren Angelegenheiten der Kirchen beschäftige und er diese nur „nach ihrer politischen und völkerrechtlichen Seite“ erörtern wolle: „Wir treiben hier keine Theologie, es handelt sich für uns nur um die politischen und die sozialen Wirkungen, welche Religion und Kirche unstreitig ausüben“37. Im folgenden werden die beiden genannten Veröffentlichungen zuFroebel, Theorie, II, S. 373 f. Vgl. J. Ter Meulen, Der Gedanke der Internationalen Organisation in seiner Entwicklung, II, Den Haag 1929, S. 359 ff. 35 C. Frantz, Kritik aller Parteien, Bln. 1862, S. 240 – 319. 36 C. Frantz, Die Weltpolitik unter besonderer Bezugnahme auf Deutschland, Chemnitz 1882. Zugrunde gelegt wird der Neudruck Osnabrück 1966. 37 Frantz, Kritik, S. 219 u. Weltpolitik, III, S. 131. 33 34

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grunde gelegt, obwohl sie zwanzig Jahre auseinander liegen. Frantz hat auf dem Feld der Kirchenpolitik seine Meinungen in dieser Zeit nicht im geringsten verändert. Constantin Frantz verfügte über mehr innere Affinität zum theologischen Bereich als Froebel. Bei ihm ist von den „Tatsachen der Offenbarung“ die Rede – ein Begriff, den Froebel nicht kennt –, und er unterscheidet folgerichtig zwischen natürlicher Religion oder Mythologie einerseits und der von einer transzendenten Macht selbst ausgehenden Offenbarungsreligion andererseits38. Die Offenbarung, die „das göttliche Urbild im Menschen wieder herstellen sollte und wollte“39, ist ihm Mittelpunkt der Religionsgeschichte40. Er spricht von der durch die coena domini symbolisierten Gegenwart des Göttlichen in der menschlichen Gemeinschaft und bezeichnet die Kommunion als den „allerkonzentriertesten Ausdruck des großen und allgemeinen Bundes, in welchem das ganze Menschengeschlecht durch den Bund mit Gott sich einig fühlen soll“41. Wenn er Kant und Fichte auch für ein praktisch-moralisches Christentum in Anspruch nimmt, so fügt er dem doch die Bemerkung hinzu, daß beiden der Glaubensinhalt des Christentums verschlossen geblieben sei. Fragmente einer christlich getönten, der Geschichtstheologie sich annähernden Geschichtsphilosophie, die im Gesamtwerk von Frantz sichtbar werden, verstärken den Eindruck der überkonfessionellen, aber dem spezifisch Christlichen gegenüber positiven Einstellung ihres Verfassers. Allerdings zeigt sich gerade auf dem Feld der Universalgeschichte bei Frantz auch eine gegenläufige Tendenz, die im Zusammenhang unseres Themas von besonderer Wichtigkeit ist. Die Offenbarung ragt zwar nach seiner Auffassung in die geschichtliche Welt hinein, andererseits trennt er verhältnismäßig scharf zwischen dem transzendenten Gottesreich und dem Reich der Geschichte. Auf die Kirchen übertragen, bedeutete dieser Standpunkt, daß nach einer verbreiteten reformatorischen Auffassung zwischen einer unsichtbaren Kirche, deren Wesen die Gemeinschaft der Gläubigen ausmache, und den sichtbaren Kirchen zu unterscheiden sei, die er als historische Ausformungen des christlichen Prinzips ansah und die er keineswegs als göttliche Stiftungen anerkannte. Da nun aber das Geschichtliche der Bereich des Vergänglichen und des Veränderlichen sei, erlaubte ihm dieser Standpunkt, an Lehre, Recht und Verfassung der Kirchen nicht minder als am Verhalten der kirchlichen Repräsentanten schärfste Kritik zu üben und eine sehr weitgehende Reform und Revision des bestehenden kirchlichen Zustandes der Christenheit zu fordern. Der Weg zur Ökumene, den Frantz beschritt, führte über die Relativierung der Konfessionen, über die Bekämpfung ihrer extremen Erscheinungsformen, des Ultramontanismus und der protestantischen Orthodoxie. Frantz wehrte sich gegen 38 39 40 41

Frantz, Weltpolitik, III, S. 120 f. u. 144. Frantz, Kritik, S. 179. Frantz, Kritik, S. 191. Frantz, Kritik, S. 177 f.

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den Vorwurf der Indifferenz und gegen die Befürchtung, daß die Gläubigen bei einem Durchdringen seiner Auffassungen in grenzenlosem Subjektivismus versinken müßten42. Nicht eine Amalgamierung strebte er an, „worin jede Kirche einen Teil ihrer Eigentümlichkeit aufzugeben hätte, um dadurch ein mittleres herzustellen“43, sondern die erhaltende, aber auch fortbildende Wahrnehmung des katholischen wie des protestantischen Wesens als aufeinander angewiesener Prinzipien (der Autorität und der Freiheit) im Rahmen der ewigen christlichen Idee und schließlich die Überwindung und „Aufhebung“ ihrer Einseitigkeiten durch eine höhere Synthese44. Frantz bekannte sich als Schüler Schellings: „Verschweigen wollen wir aber nicht, daß wir die Schellingschen Ideen von dem petrinischen, paulinischen und johanneischen Prinzip der Kirche für richtig halten, und daß es eben das johanneische Prinzip ist, von welchem wir die zukünftige Entwicklung der Kirche erwarten, nachdem das petrinische und paulinische Prinzip in der katholischen und protestantischen Orthodoxie ihren Ausdruck und ihren Abschluß gefunden haben.“45 Wir haben Frantz’ religionsphilosophische Voraussetzungen und insbesondere seine Negierung des konfessionellen Standpunktes erörtert, um den Grundriß zu verdeutlichen, auf dem das Kirchenwesen der Zukunft seiner Meinung nach errichtet werden müßte, ein Kirchenwesen, das bewirken sollte, daß das Christentum in der Weltpolitik wieder ernst genommen würde. Frantz strebte zwecks organisatorischer Verwirklichung seiner Vorstellungen nicht die Wiedervereinigung der Kirchen oder gar eine Einheitskirche an. Vielmehr schwebte ihm, in Analogie zu seiner weltpolitischen Idee eines allgemeinen Völkerbunds, ein allgemeiner Kirchenbund vor. Frantz’ politisches Denken stand – in ausgesprochen doktrinärer Weise – unter dem Zeichen des Föderalismus. Auch in seinen kirchenpolitischen Entwürfen machte er in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Ausgehend von einer Theologie des Bundes Gottes mit den Menschen (Föderaltheologie) bezeichnete er „das föderative Prinzip [als] auch schon an und für sich selbst ein christliches und mit dem Christentum von vornherein gegeben“46. Von einem föderativen Zusammenschluß der christlichen Kirchen erwartete er also, daß die berechtigten Eigentümlichkeiten der einzelnen Konfessionen gewahrt blieben, andererseits eine gegenseitige Befruchtung stattfinde. In diesem Rahmen vermochte Frantz dann, gleich Froebel, ganz unbefangen einerseits der römisch-katholischen Kirche den religiösen und Frantz, Kritik, S. 227 u. Weltpolitik, III, S. 134. Frantz, Kritik, S. 219. 44 Frantz, Weltpolitik, III, S. 189. 45 Frantz, Kritik, S. 228. Vergeblich hat Frantz in dem dreibändigen Werk „Schellings positive Philosophie“ (Köthen 1879 / 80) seinen Zeitgenossen das System seines Lehrers nahezubringen versucht. Zur Wirkungsgeschichte Schellings vgl. P. Honigsheim, Schelling als Sozialphilosoph und seine Auswirkungen in Deutschland (Kölner Zeitschrift für Soziologie 6, 1953 / 54, S. 606 – 616) u. ders., Schelling und seine Stellung in der Geschichte der Völkerannäherung (Die Friedenswarte 52, 1953 / 55, S. 244 – 253). 46 Frantz, Weltpolitik, III, S. 192. 42 43

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historischen Primat zuzusprechen und sie „als den Kern der ganzen Kirche“47 zu bezeichnen, andererseits über die Überlegenheit des Protestantismus als modernes Weltprinzip und die Überwältigung der katholischen durch die protestantischen Völker zu meditieren48. Den Vorteil, der sich für die protestantischen und griechisch-orthodoxen Denominationen aus einer weltkirchlichen Föderation ergeben müsse, sah Frantz nicht zuletzt in der Loslösung der nicht römisch-katholischen Gemeinschaften aus drückender staatskirchlicher Abhängigkeit. Die politischen und sozialen Aufgaben des Christentums glaubte er, der Staatsomnipotenz und etatistischen Zentralismus unentwegt bekämpfte, nur durch völlige Unabhängigkeit der einzelnen Kirchen und der kirchlichen Föderation gewährleistet. Zur Unabhängigkeit müsse, so meinte er, die Universalität der Kirche hinzutreten, die nicht nur von der Religion geglaubt, sondern auch von der Vernunft postuliert werde49. Unabhängigkeit und Universalität sind ihm die Formprinzipien einer ökumenisch verfaßten Christenheit, innerhalb deren – wie er, sich Schelling nähernd, sagt – nicht mehr Staatsreligion, aber eine um so wirksamere öffentliche Religion praktiziert werden könnte50. Einem öffentlichkeitspotenten Christentum wies Frantz nun folgende Mission in der Weltpolitik zu: 1. In überkonfessioneller Universalität kann das Christentum die Menschen über nationale Antipathien und staatliche Rivalitäten „hinwegheben“51 und entgegen dem grassierenden Nationalismus die Zusammengehörigkeit der gesamten Menschheit symbolisieren. „Daß eine nur auf religiösen Überzeugungen ruhende Macht bestehe, die, weit über die Grenzen der Staaten hinausreichend, nach allgemeiner Geltung strebt und darum sehr wesentlich dazu dienen kann, die Rivalität der Staaten zu temperieren, und gegenüber der ganz unvermeidlich immer partikularistischen Politik die einheitliche Bestimmung des Menschengeschlechts zur Anschauung und, soviel an ihr liegt, zur Geltung zu bringen –, das ist keineswegs ein die menschliche Vernunft abstoßender, sondern im Gegenteil sehr anziehender Gedanke“ heißt es in der „Kritik aller Parteien“52. 2. Als ideale Weltmacht könnte die ökumenisch föderierte Kirche ein bedeutendes Gegengewicht gegen Imperialismus und Militarismus bilden53. So sehr sich Frantz gegen Priestermacht und römisches System ausspricht, er anerkennt schon bei der römisch-katholischen Kirche, wie sie zu seiner Zeit bestand, die „relative Berechtigung“ der Priestermacht, und zwar deswegen, weil sie sich der Militär47 48 49 50 51 52 53

Frantz, Kritik, S. 220 f. Frantz, Weltpolitik, III, S. 159 – 167. Frantz, Kritik, S. 193. Frantz, Weltpolitik, III, S. 175. Frantz, Weltpolitik, III, S. 136 f. Frantz, Kritik, S. 191 f. Frantz, Kritik, S. 202.

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macht und der Geldmacht zwangsläufig entgegensetzen müsse54. Desgleichen bilde sie einen Damm gegen „dynastischen und aristokratischen Hochmut“55. Um wieviel mehr müsse eine Weltföderation der Kirchen in der Lage sein, als selbständige moralische Kraft gegen diese Erscheinungen aufzutreten. 3. Als ökumenische Weltmacht könnte sich das Christentum aus der Verquikkung von kirchlicher Hierarchie und Feudalismus lösen und die Legitimierung einer reformbedürftigen Gesellschaftsordnung, die „Sanktionierung eines allgemeinen Herrschafts- und Drucksystems aufgeben“56. Klar sei dem Christentum die Aufgabe einer gründlichen Sozialreform vorgezeichnet, aber praktisches Christentum und christlich-soziale Tendenz, beide im Grundsatz von ihm bejaht, müßten Velleitäten bleiben, „solange nicht ,christlich-international‘ hinzukommt“57. 4. Als höchste „profane“ Mission betrachtete Frantz den Weltfriedensauftrag und die völkerrechtliche Rolle, die nur eine ökumenische Kirche mit Aussicht auf Erfolg übernehmen könne. Von ihr erwartete er jenen Konsensus der christlichen Überzeugungen, der allein das Völkerrecht stütze. Die „zu einer wirklichen Aktivität gelangte allgemeine Kirche“58 werde sich unumgänglich selbst zum obersten völkerrechtlichen Institut entwickeln, zum moralischen Völkertribunal, von dem Frantz z. B. zuverlässigen Schutz der kleinen Staaten erhoffte59. Bei aller Sympathie für eine bündische Organisation der christlichen Völker zog Frantz diejenige Heilige Allianz vor, die seiner Meinung nach schon in der Idee der Kirche begründet sei und heilige Allianzen von der Art des Monarchenbündnisses aus dem Jahre 1815 überflüssig mache, sobald man die organisatorische Lösung erreicht habe: „Ja, wie ganz anders wäre es, wenn eine kirchliche Föderation bestände, wodurch die allgemeine Kirche als eine wirkliche und wirksame Macht zur Existenz gelangte! Dann wäre sie selbst die civitas maxima in optima forma. Und hörte sie etwa um deswillen auf, eine civitas dei zu sein, die sie zu sein vorgibt? Wir sehen nicht, wie das eine dem anderen widerspräche. Oder gehört es nicht allerdings zum Beruf der Kirche, den Frieden zu befördern, und zwar den Landfrieden wie den Weltfrieden, da doch das Christentum selbst mit der Verkündigung in die Welt trat: Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden“60. Zusammenfassend wird man die Absichten von Frantz dahingehend auslegen dürfen, daß er eine Verchristlichung der Politik im Auge hatte. Die ökumenische Lösung des Konfessionsproblems sollte ausschlaggebend mithelfen, das Großmachtsystem und das exklusive „heidnische“ Nationalitätssystem zu überwinden. Als im Gegensatz zu seiner Zeit stehender, damals gänzlich „unmoderner“ deut54 55 56 57 58 59 60

Frantz, Weltpolitik, III, S. 179 f. Frantz, Weltpolitik, III, S. 184. Frantz, Weltpolitik, III, S. 125 f. Frantz, Weltpolitik, III, S. 93 – 106. Frantz, Kritik, S. 212. Frantz, Kritik, S. 208 u. 215 ff. Frantz, Kritik, S. 217.

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scher Patriot sui generis suchte er zur Verwirklichung dieses Wunschtraums, Deutschland eine besondere Aufgabe zuzuweisen: „Mit der christlichen Weltansicht ist auch der Föderalismus und die Weltpolitik gegeben, es besteht hier ein untrennbarer Zusammenhang. Und nur im Hinblick darauf ist auch die besondere Aufgabe Deutschlands recht zu verstehen, welche darum sich ebenso als eine überstaatliche und übernationale wie als eine überkonfessionelle darstellt. Dahingegen charakterisiert sich die Richtung, in welche wir durch die Ereignisse von 1866 gerieten, zuvorderst gerade dadurch, daß sie offenbar auf die Gestaltung Deutschlands zu einem bloßen Staatskörper und Nationalkörper hinzielt. Und in religiöser Hinsicht ferner verrät dieser neue politische Körper keineswegs ein Streben nach dem überkonfessionellen Standpunkt, sondern, insoweit er nicht tatsächlich von spezifisch protestantischen Tendenzen ergriffen ist, zielt seine Verfassung grundsätzlich vielmehr dahin: der Religion überhaupt allen Einfluß auf das öffentliche Leben zu benehmen“61. Allerdings war es nicht Deutschland allein, das Frantz als Motor einer christlichen Weltpolitik ausersehen hatte. Ihm schwebte vielmehr eine große germanische Allianz vor, und dies um so mehr, als er den Begriff „germanisch“ beinahe mit dem Föderativprinzip identifizierte: „Will man überhaupt von „christlich-germanischen“ Prinzipien sprechen, so sage ich demnach: eben der Föderalismus, und sonst nichts weiter, ist das christlich-germanische Prinzip“62. Mit der Vorstellung einer „germanischen Allianz“, die England und alle germanischen Staaten des Kontinents umfassen sollte, erweist sich Frantz von den zu seiner Zeit ideologisch so mächtigen und weit verbreiteten „Pan“-Bewegungen und ihrer Doktrin, daß Weltgeschichte und Weltpolitik ausschlaggebend und in letzter Instanz von den kollektiven Größen des slawischen, romanischen und germanischen Elements bestimmt seien, ergriffen, liefert jedoch gleichzeitig den Beweis, daß diese „Pan“-Bewegungen keineswegs ausschließlich auf die sozialdarwinistische Konzeption von Rassenkämpfen zurückzuführen sind, sondern eher kosmopolitischen Ursprungs waren und bis tief ins 19. Jahrhundert diesen Charakter beibehalten haben. Immerhin – wie so mancher andere „Idealpolitiker“ hat auch Frantz gelegentlich verborgene machiavellistische Neigungen erkennen lassen, und zwar gerade im Zusammenhang seiner weit ausgreifenden ökumenischen Pläne. Wir meinen damit weniger seine Überzeugung, daß die kirchliche Föderation sich an die große germanische Föderation anschließen müsse. Zu sehr war er davon überzeugt, daß „allein in den germanischen Völkern der föderative Trieb vorherrscht, nicht aber in den romanischen, in welchen vielmehr die Zentralisation vorherrscht“. Und er fügte hinzu: „Auch scheinen dies die großen Päpste des Mittelalters sehr wohl gefühlt zu haben, indem sie in dem deutschen Reiche die vornehmste Stütze der Kirche erkannten. Darum mußte es auch gerade der Hierarchie selbst am 61 62

Frantz, Weltpolitik, III, S. 194 f. Frantz, Weltpolitik, III, S. 194.

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allernachteiligsten werden, daß sie dieses Reich so geschwächt und zerrüttet hatte“63. Machtpolitische Hintergedanken verraten sich jedoch bei Frantz’ Überlegung, daß eine solche germanische Allianz nur den Protestantismus und den Katholizismus, nicht aber die orientalische Kirche repräsentiere. Er riet brüsk, auf die russisch-orthodoxe Kirche, die ja ganz im Staate aufgegangen sei, zu verzichten und andererseits den Einfluß Englands im Orient zu nutzen, um die griechisch-orthodoxe Kirche im osmanischen Reich Rußland abspenstig zu machen und zu der ökumenischen Föderation herüberzuziehen. Dieses abenteuerliche Vorhaben war seiner Meinung nach gleichzeitig „das wichtigste Mittel . . . um den russischen Einfluß im Orient zu beschränken“64. Frantz’ Fazit im Jahre 1862: „Käme also solcherweise die kirchliche Föderation zur Ausführung, so würde einerseits der Katholizismus sich alsbald von dem Imperialismus ablösen können, welchem dann nur seine Soldaten übrigblieben, während andererseits Rußland, seines Einflusses im Orient beraubt, sich lediglich auf seine eigenen inneren Kräfte angewiesen sähe, dahingegen die germanische Föderation, welche die politische Stütze der kirchlichen Föderation wäre, von derselben dafür auch eine sehr wirksame Unterstützung zu erwarten hätte. Dann würde man ja sehen, was Frankreich und Rußland noch ausrichten könnten. Sie würden sich sehr bescheiden in ihre Grenzen zurückziehen müssen, um der germanischen Föderation desto mehr Raum zu gewähren“65. Es bedarf kaum eines Kommentars, welche Schwächen in diesen Darlegungen enthalten sind! III. Im Vorstehenden sollte nicht nur der weltpolitische Gehalt ökumenischer Konzeptionen ermittelt und auf deren Verbindung mit Kombinationen aus dem Bereich der internationalen Politik hingewiesen werden. Es war darüber hinaus deutlich zu machen, daß man die ökumenische Idee nicht nur innerkirchlich und von seiten der berufenen Repräsentanten der Konfessionen erörtert hat, sondern auch Beiträge „von außen“ beigesteuert wurden, in denen naheliegenderweise der gesellschaftlich-politische Aspekt des Ökumenismus im Vordergrund stand. So sehr nun der Ausgangspunkt in den beiden hier zur Darstellung gebrachten Fällen ein nichttheologischer und nichtreligiöser gewesen ist, so positiv standen doch Froebel wie Frantz (und dieser sogar enthusiasmiert) zu der ökumenischen Idee als solcher. Es sei nach dem liberaldemokratischen Realisten Julius Froebel und dem freiheitlich-konservativen, quer zu seiner Zeit liegenden Constantin Frantz abschließend noch kurz auf einen weiteren heute vergessenen liberalen Realpolitiker des Frantz, Kritik, S. 312. Frantz, Kritik, S. 312 f. 65 Frantz, Kritik, S. 312 f. Unter Imperialismus ist in diesem Zusammenhang dem damaligen Sprachgebrauch zufolge der Caesarismus Napoleons III. zu verstehen. 63 64

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19. Jahrhunderts hingewiesen, auf Wilhelm Kiesselbach (1824 – 1872)66, der ebenfalls dazu neigte, die kirchliche Frage in ökumenischer Reichweite zu sehen, das Hauptgewicht jedoch nicht auf den weltpolitischen, sondern den gesellschaftspolitischen Charakter der Kirche legte. Der Wirtschaftsjournalist und Wirtschaftspolitiker, Wirtschaftshistoriker und Privatdozent der Volkswirtschaftslehre, Redakteur und Mitarbeiter angesehener deutscher Zeitungen und Zeitschriften war ein Sohn des liberalen Protestantismus. Er hatte sich der Welt der christlichen Symbole und Dogmen entfremdet und auf den Boden der materialistischen Philosophie gestellt. Dem Protestantismus als einer gesellschaftlich-historischen Größe fühlte er sich indessen nach wie vor verbunden. Mit Argumenten, die an Max Webers bekannte Thesen erinnern, – die Vorgeschichte der Theorie Webers über den Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus ist noch nicht geschrieben! – interpretierte er den Bereich der reformatorischen Konfessionen als die Basis der Moderne, und da er sich rückhaltlos zu einer so verstandenen Modernität bekannte, bekämpfte er den politischen Klerikalismus und den Papalismus als politisches Prinzip. Mit Schärfe wandte er sich gegen das österreichische Konkordat von 1855, und in einer damals geschriebenen, aber erst 1859 veröffentlichten Broschüre „Rom und die Nationen“ charakterisierte er den modernen Nationalstaat als Ergebnis des Bündnisses von Krone und Bürgertum, sprach von der grundsätzlichen Gegnerschaft zwischen Papstherrschaft und Bürgertum und meinte, daß ein von übermächtiger Geistlichkeit beherrschtes Land keinen gesunden dritten Stand aufkommen lasse. Solche Überzeugungen teilte Kiesselbach mit ungezählten Zeit- und Gesinnungsgenossen, und es wäre kaum angebracht, ihn deswegen eigens zu erwähnen. Bemerkenswerter erscheint jedoch, daß er sich in einem Aufsatz „Die sozialkulturliche Aufgabe der Kirche in der Gegenwart“67 nicht nur als homo religiosus entpuppte, sondern auch als Verteidiger der Kirche, allerdings einer umzugestaltenden Kirche. Als Parteigänger der realistischen Epoche unserer Geistesgeschichte unternahm er es, gegen die Verdikte einer abstrakt philosophischen Einstellung das religiöse Bedürfnis ethnologisch und psychologisch neu zu begründen. Er begnügte sich indessen nicht mit einer wissenschaftlichen Rechtfertigung der Religiosität. Sein eigentliches Thema war die Sozialpolitik. Für die „wissenschaftliche Erfassung des gesellschaftlichen Lebens“ prägte er das (von der akademischen Welt nicht rezipierte) Kunstwort Sozialistik, und er hoffte, daß diese Lehre den Sozialismus sublimieren und auf eine höhere Ebene heben werde, wie Chemie und Astronomie die Alchemie und Astrologie abgelöst hätten. Die sozialen Seiten religiösen Lebens ließen sich aber – seinen damals gewonnenen Überzeugungen nach – nur in kirchlicher Form zur Darstellung bringen, und so schrieb er mit der Beweis66 Vgl. A. Kiesselbach, Der Bremer Dr. phil. Wilhelm Kiesselbach als Vorkämpfer für den deutschen Einheitsgedanken 1848 – 1864 (Bremisches Jb. 39, 1940, S. 11 – 62). 67 Erstmals erschienen in Deutsche Vierteljahresschrift 24, 1861, S. 40 – 94. Wiederabgedruckt in W. Kiesselbach, Socialpolitische Studien, Stgt. 1862, S. 355 – 409, aus denen zitiert wird.

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führung „historischer Sozialistik“ eine Apologie der Kirche als „des religiösen Gesellschaftsverbandes der Menschen“68. Der Staat möge, forderte der Liberale Kiesselbach, die Kirche ebenso aus seiner Vormundschaft entlassen, wie er nach und nach die Wirtschaft freisetze. Aus freier gesellschaftlicher Initiative werde dann eine neue Kirche hervorgehen. Die Aufgaben, die er dieser stellte, vermochte er allerdings nur vage zu formulieren. So entschieden er seine historischen Erkenntnisse über die Bedeutung der Kirchengeschichte für die Kulturentwicklung aussprach, so problematisch blieb, was er zur Begründung der weltgeschichtlichen Gegenwarts- und Zukunftsmission der Kirche beizubringen hatte. Daß Kiesselbach seinen Aufsatz in einer Sammlung sozialpolitischer Studien veröffentlichte, zeigt, wo der Schwerpunkt seines Interesses zu suchen ist. Für die ökumenische Komponente seiner primär soziologischen Sehweise läßt sich zunächst anführen, daß er ausschließlich von der Kirche sprach. Er dachte nicht daran, die neuen, „gesünderen“ Formen kirchlichen Lebens, deren Ausbildung lange Zeit beanspruchen würde, allein vom Protestantismus her zu entwikkeln. Noch mehr fällt ins Gewicht, daß er am Christentum die Eigenschaft als menschheitsumspannende Religion hervorhob. Und im Hinblick auf die künftige christliche Kirche mußte er dem katholischen Standpunkt, soweit er „den ursprünglichen Gedanken einer in sich einigen Religion und einer auch äußerlich einigen religiös-gesellschaftlichen Gliederung der Menschheit“ aufrechterhielt, gegenüber dem protestantischen Prinzip, „daß die kirchliche Organisation einen Teil des Staatsorganismus bilden müsse“69, den Vorzug geben. Während in der machtpolitischen Staatenwelt die nationale Gliederung auch für Kiesselbach eine definitive Lösung darstellte, blieb im kirchlichen weltweiten Gesellschaftsverband das von ihm als unentbehrlich betrachtete universalistische Prinzip erhalten. Ein Beweis von vielen für die Tatsache, daß auch die Anhänger der realpolitischen Schule Deutschlands, der wir Kiesselbach zurechnen dürfen, nicht schlechthin mit der sozialdarwinistischen Richtung zu identifizieren sind, sondern menschheitliche Gesichtspunkte noch durchaus wahrgenommen und hochgehalten haben. Kiesselbach war, wie fast alle Männer seiner Generation, nationalpolitisch auf das stärkste engagiert; mit Recht hat ihn sein Biograph einen „Vorkämpfer für den deutschen Einheitsgedanken“ genannt. Kirchenpolitisch ist er jedoch ökumenisch orientiert und erwartet von einer Weltkirche inmitten der durch nationale Auseinandersetzungen bestimmten Machtpolitik die Wahrung des höheren Prinzips einer menschheitlichen Weltpolitik.

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Kiesselbach, Socialpolitische Studien, S. 373. Kiesselbach, a. a. O., S. 370.

Bemerkungen zum politischen Katholizismus im bayrischen Vormärz und Nachmärz Der deutsche politische Katholizismus des 19. / 20. Jahrhunderts zählt zu den besterforschten Gegenständen unserer Vergangenheit. Dies gilt in erster Linie von der Geschichte des Zentrums und verwandter Parteien einschließlich ihrer Vorgeschichte sowie vom gesamten Verbandskatholizismus. Daß die „Katholische Bewegung“ über beides noch hinausgreift, ist Gemeingut des historischen Wissens derjenigen, die sich auf diesem Gebiet spezialisiert haben. Man hat die profangeschichtlichen wie die kirchen- und konfessionsgeschichtlichen Aspekte des Phänomens gründlich untersucht und das Verhältnis zwischen der römisch-katholischen Kirche und einer ihrer Natur nach überwiegend aus Laien bestehenden Bewegung sowie den Anteil des politischen Katholizismus an den Versuchen zur Lösung der Sozialen Frage ausgiebig beleuchtet. Die inneren Spannungen zwischen konservativen und progressiven Kräften hat man vielfach thematisiert, desgleichen die Tendenzen im politischen Katholizismus, sich vom Zeitgeist zu distanzieren oder sich anzupassen, Kompromisse oder Synthesen zu finden. Ergänzungsbedürftig erscheinen am ehesten Erforschung und Darstellung der Internationalität der Bewegung. Die Vorbildlichkeit einzelner nationaler Manifestationen des politischen Katholizismus (etwa in Irland, Belgien, Frankreich) für andere Länder, das Staatsgrenzen übergreifende publizistische Netz, die Entstehung und Funktion internationaler Schwerpunkte und Kommunikationszentren – all dies ist der Geschichtswissenschaft gewiß nicht unbekannt geblieben, fordert jedoch zu noch weiteren Überlegungen heraus. Es geht in der nationalen wie der internationalen und nicht minder der mit sehr konsolidierten Ergebnissen ausgestatteten regionalen Dimension konfessionsgeschichtlicher Forschung keineswegs nur um die Ermittlung neuer Fakten oder Sachverhalte. Eine nicht geringere Rolle spielt, daß der Zeitenwandel stets zu neuen Perspektiven führt und an sich Bekanntes von Mal zu Mal unter neuen Fragestellungen angegangen wird und neuen Interpretationen unterliegt1. Im folgenden werden am Beispiel des bayrischen Vor- und Nachmärz einige bisher weniger beachtete Gesichtspunkte behandelt und an teils nicht sehr bekanntem, teils unbe1 Als Beispiele verdienen im Zusammenhang dieses Aufsatzes Hervorhebung die von Graf und Blessing angestellten Überlegungen zur Politisierung des religiösen Bewußtseins (Friedrich Wilhelm Graf, Die Politisierung des religiösen Bewußtseins. Die bürgerlichen Religionsparteien im deutschen Vormärz. Das Beispiel des Deutsch-Katholizismus, Stuttgart 1978; Werner K. Blessing, Staat und Kirche in der Gesellschaft. Institutionelle Autorität und mentaler Wandel in Bayern während des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1982).

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kanntem Material erläutert. Der Ausdruck „Nachmärz“ ist wenig geläufig, bietet sich jedoch als zweckmäßiger terminus technicus für die Reaktionsperiode der 1850er Jahre an, die sich in vieler Hinsicht als modifizierte Neuauflage der restaurativen und andererseits ähnlich verunsicherten 1840er Jahre abgespielt hat. Der „Nachmärz“ umfaßt nach unseren Vorstellungen die Periode von der Niederwerfung der Revolution 1849 bis zum Jahr 1859, in dem in Preußen wie in Bayern eine „Neue Ära“ anbrach und der italienische Krieg des Habsburgerstaates zur österreichischen Reformära seit 1860 überleitete. Belege für „Nachmärz“ finden sich in der zeitgenössischen Literatur z. B. bei dem liberalen bayrischen Schriftsteller Ludwig Steub2. Zur Einleitung des folgenden eine Art Faustskizze des politischen Katholizismus im Königreich Bayern bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts! In den Anfängen des jungen Königreichs läßt sich politischer Katholizismus – andeutungsweise – in der Opposition antiaufklärerischer Geistlicher gegen das System Montgelas ausfindig machen. Repräsentanten dieser Gruppe hatten schon in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts untereinander Kontakte aufgenommen. Ein streitbarer Gesinnungsgenosse, der Pfarrer an der Münchner Heilig Geist-Kirche, Josef Klein, pflegte enge Beziehungen zu dem bei Hofe nicht unangefochtenen Religionslehrer und geistlichen Erzieher des Kronprinzen Ludwig und einiger seiner Geschwister, Josef Anton Sambuga, dessen Einfluß auf seinen ältesten Zögling hoch einzuschätzen ist3. Politischen Charakter mag man dem 1814 gegründeten, um die Feldersche Literaturzeitung gesammelten Verein, den später so genannten „Konföderierten“4, insofern zuschreiben, als die Organisation eines kirchen- und kulturpolitisch zum Widerstand gegen das herrschende System neigenden Kreises schon als solche ein Politikum darstellte und einige Mitglieder auf dem ersten bayerischen Landtag 1819 eine Rolle spielten. Voraussetzungen, daß sich auch in Bayern und namentlich in München eine (von ihren Gegnern so bezeichnete) „Kongregation“ bildete, ergaben sich wirksam erst seit der Thronbesteigung König Ludwigs I. Gesellschaftlich lassen sich an diesem Phänomen zwei gegenseitig enge Beziehungen unterhaltende Gruppierungen unterscheiden. Einmal ein Zirkel von Gelehrten und Publizisten, der erst als Eoskreis, später als Görreskreis in die Geistesgeschichte Bayerns eingegangen ist, unter den deutschen Zentren der katholischen Erneuerungsbewegung nach dem Wiener Hofbauer- und Széchenyi-Kreis den ersten Platz einnimmt und in München bald zu politischem Einfluß gelangte. In den Historisch-Politischen Blättern, dem seit 1838 erscheinenden Organ des Görres-Kreises, manifestierte sich der politische Wille einer offen2 Ludwig Steub, Altbayrische Culturbilder, Leipzig 1869, S. 42. Steub hat diese Wendung schon 1849 in einem Beitrag für die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ zu Papier gebracht. 3 Vgl. Max Spindler, Joseph Anton Sambuga und die Jugendentwicklung Ludwigs I., Münchner Diss., Aichach 1927. 4 August Hagen, Franz Karl Felder (1766 – 1818) und seine Literaturzeitung für katholische Religionslehrer, in: Theologische Quartalschrift, 128, 1948, S. 28 – 70; 161 – 200; 324 – 342.

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siv vorgehenden „Münchner Schule“. Erst allmählich traten ihnen Tagesblätter ähnlicher Farbe von sehr unterschiedlicher Lebensdauer zur Seite. Der Münchner Intellektuellenkreis um das Haus an der Schönfeldstraße hätte den bedeutenden Terraingewinn des bayrischen politischen Katholizismus seit den 1830er Jahren allein nicht bewerkstelligen können, wäre ihm nicht die Unterstützung durch eine „Coterie“ von Aristokraten, hohen Beamten und Diplomaten zuteil geworden, die, ziffernmäßig nur eine kleine Minderheit, zwar nicht ausschließlich, aber weitgehend das Ohr des Königs hatte und dadurch vieles bewirken konnte. Aus diesem Kreis ragt der ursprünglich liberale und religiös indifferente Bürokrat Karl von Abel heraus, ein überaus fähiger Verwaltungsfachmann und Politiker, der 1837 bis 1847 an der Spitze des Innenministeriums stand und im Zusammenwirken vor allem mit dem Bischof, späteren Erzbischof und Kardinal Grafen Reisach eine Erneuerung des bayerischen Episkopats herbeiführte. Abel hat darüber hinaus viel für eine katholische Orientierung von Staat und Gesellschaft unternommen. Zentralperson in Bayern blieb allerdings auch während der Ära Abel König Ludwig I., der sich zwar lebenslang ebenfalls um eine religiöskirchliche Regeneration bemühte und während seiner Regierung ein Zusammenwirken von Thron und Altar in jeder Hinsicht förderte, jedoch sehr mißtrauisch reagierte, wenn ihm die Kronrechte und sein autokratisches System gefährdet erschienen. Auch Abel und die katholische Bewegung Bayerns bekamen nach wenigen Jahren scheinbar ungetrübter Kooperation mit dem Monarchen dessen Widerstand gegen (wie er sich ausdrückte) „ultrakirchliche“ Bestrebungen zu spüren. Überdies sahen nicht nur des Ministers liberale Widersacher, sondern auch manche (wenn auch während seiner Amtsführung nur sehr wenige) engagierte Katholiken die kirchliche Sache durch den von Ludwig und Abel gefahrenen Kurs diskreditiert. Mit der Entlassung Abels trat für den politischen Katholizismus Bayerns ein Rückschlag ein, den dieser im Zusammenhang mit der Revolution von 1848 / 49 nur vorübergehend aufholen konnte. Immerhin zeitigte das Jahr 1848 mit der Gründung des „Vereins für konstitutionelle Monarchie und religiöse Freiheit“ den Versuch einer modernen parteipolitischen Organisation. Abels Bemühen, sich als deren parlamentarischer Exponent eine neue Position zu verschaffen, scheiterte, und der „Verein“ vermochte die Konkurrenz mit dem primär kirchlichen Vereinswesen und anderen politischen Kräften nicht durchzuhalten. Auf die Situation in den 1850er Jahren ist in dem Abschnitt „Eine Statistik aus dem Jahre 1859“ noch einzugehen. Vorwegzunehmen ist, daß die Konzessionen des bayrischen Staates an die katholische Kirche 1852 und 18545 aus unmittelbaren Verhandlungen zwischen Regierung und kirchlichen Behörden hervorgingen und nicht etwa auf den Druck 5 Karl Weber (Hrsg.), Neue Gesetz- und Verordnungen-Sammlung für das Königreich Bayern, Bd. IV, Nördlingen 1885, S. 379 ff. und 654 f. Zeitgenössisch: Georg Henner, Die katholische Kirchenfrage in Bayern. Ein kirchen-staatsrechtlicher Versuch, Würzburg 1854. – Max Spindler, Bayrische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert 1800 – 1970, Bd. I, München 1978, S. 236; Gernot Kirzl, Staat und Kirche im bayrischen Landtag zur Zeit Max II. (1848 – 1864), München 1971.

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einer politisch organisierten Volksbewegung hin gewährt wurden. Soweit der summarische Überblick! I. Bayrisches Katholiken- und preußisches Protestantenprotektorat Die Vorstellung, Bayerns Herrscherhaus sei auch im 19. Jahrhundert berufen, den Katholiken in überwiegend protestantischen Staaten des Deutschen Bundes beizustehen, wo dies not tue, gehört der ludovicianischen Ära (1825 – 1848) an und lenkt den Blick auf den dynastisch-höfischen Anteil am politischen Katholizismus. Josef Görres hat Ludwig I. bei seiner Thronbesteigung die Gestalt Kurfürst Maximilians I. als Vorbild vor Augen gestellt, und im Laufe der 30er und 40er Jahre entstand aus diesem Rückgriff in das konfessionelle Zeitalter eine von dem Monarchen sehr ernst genommene konfessionspolitische Ideologie6. Stets auf die Realisierung der ihn bewegenden Ideen bedacht, hat Ludwig I. im Sinne des „Maximilianeischen Gedankens“ sich als Förderer der Weltkirche betätigt, im eigenen Land wie in anderen Staaten des Deutschen Bundes, in der Schweiz und selbst außerhalb Europas. Auf seine Initiative ging die bayrische Klösterrestauration zurück, Unterstützung von Kirchenbauten und anderen religiösen Einrichtungen ließ er sich in Bayern und darüber hinaus angelegen sein, für die Pflege des katholischen Deutschtums in Nordamerika setzte er sich unermüdlich und unter beträchtlichem finanziellen Aufwand ein, der von ihm begründete Ludwig-Missions-Verein diente der Glaubenspropaganda in nichtchristlichen Ländern, aber auch der Förderung des Katholizismus in der deutschen und nordischen Diaspora. Materielle Hilfe für Konvertiten ließ er sich etwas kosten. Fast keine dieser Maßnahmen entbehrte völlig einer politischen Komponente, sei es, daß sie einem zugleich nationalen und konfessionellen Anliegen in den USA zugute kamen, sei es, daß die Sammlungen für die Heidenmission nicht mehr nach Frankreich zum Lyoner Missionswerk geleitet wurden, sondern unmittelbar zur Propaganda in Rom. Hochpolitischen Charakter trug die Parteinahme des Königs während der Kölner Wirren, in deren Verlauf er die Zensur für bayrische Organe zugunsten der katholischen Sache in Preußen lockerte und sich einem Konflikt mit Berlin aussetzte. In einer späteren Phase trug er in beachtlichem Maße zum Ausgleich zwischen dem preußischen Staat und der Kurie bei7. Vorsichtige Interventionen im Interesse der Glaubensverwandten in Württemberg und der Schweiz gingen der Beteiligung an den Kölner Wirren zur Seite bzw. folgten ihr nach. Gegenüber der Behandlung der katholischen Untertanen durch Rußland brauchte die bayrische Presse ebenfalls nicht völlig stumm zu bleiben. Schließlich verbanden sich mit der problematischen Existenz der wittels6 Vgl. Heinz Gollwitzer, Vom Funktionswandel politischer Traditionen. Zum Bild Kurfürst Maximilians I. und Tillys in der bayrischen Überlieferung, in: Andreas Kraus (Hrsg.), Land und Reich, Stamm und Nation. Probleme und Perspektiven bayrischer Geschichte. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag, Bd. II, München 1984, S. 51 – 86. 7 Rudolf Lill, Die Beilegung der Kölner Wirren 1840 – 1842, Düsseldorf 1962.

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bachischen Sekundogenitur in Griechenland konfessionspolitische Überlegungen, und in der dynastischen Familienpolitik, die damals noch von internationalem Gewicht war, nahm nach der Vermählung des Kronprinzen Max mit einer protestantischen Prinzessin die katholische Orientierung bei der Auswahl von Ehepartnern einen fast obligatorischen Charakter an. Viele dieser Vorgänge und Maßnahmen lassen sich unter dem Begriff eines Katholikenprotektorats zusammenfassen, das seitens Angehöriger beider Konfessionen mancher Kritik ausgesetzt war. Der bayrische Außenminister Freiherr von Gise, ganz auf unideologische, pragmatische Politik eingestellt, sah in der „Maximilianeischen Idee“ eine Belastung der Beziehungen Bayerns innerhalb des Bundes. Der Innenminister v. Abel hingegen hat den König in seiner konfessionellen Politik stets bestärkt. Der Haupteinwand auch zahlreicher katholischer Politiker und hoher Beamter bezog sich auf den anachronistischen Charakter eines konfessionellen Protektorats und konfessionell gefärbter Bundes- und Außenpolitik unter den Voraussetzungen des 19. Jahrhunderts. Nun hat es auch konfessionspolitisch eine Stunde Null nie gegeben, nach deren Eintritt die konfessionellen Faktoren in der Politik gänzlich verschwunden wären und einer ausschließlich säkularen und „profanen“ Wahrnehmung der Staatsgeschäfte Platz gemacht hätten. Vielmehr ragt das konfessionelle Zeitalter noch beträchtlich in die politische Umwelt des 18. und 19. Jahrhunderts hinein. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob es in der protestantischen Welt ein Pendant zum bayrischen Katholikenprotektorat gegeben hat. Dies war der Fall, und zwar läßt sich eine solche Funktion innerhalb des Deutschen Bundes dem preußischen Hof und Staat zuschreiben8. Gleich Bayern hat Preußen auch außerhalb des Bundes in diesem Sinne agiert, doch trat es dann als konfessionelle Vormacht meist hinter Großbritannien zurück. Ein Zusammenwirken mit London erfolgte bei der Gründung des nicht sehr langlebigen anglo-preußischen evangelischen Bistums Jerusalem, das im Rahmen konfessioneller Konkurrenz um die Präsenz an den Heiligen Stätten dem Weltprotestantismus eine ihm bis dahin noch vorenthaltene Position begründen sollte. Für den Vater dieses Projekts, den preußischen Diplomaten 8 Walter Bußmann, Zwischen Preußen und Deutschland. Friedrich Wilhelm IV., Berlin 1990, passim. In Vorbereitung befindet sich meine Biographie „Ein Staatsmann des Vormärz. Karl August von Abel 1788 – 1859“, die sich u. a. dem Gegenstand des Konfessionsprotektorats widmen wird. Staatsbibliothek München, Tagebücher König Ludwigs I., Nr. 3, 143, Eintragung 12. I. 1845: Minister von Abel meint, daß der gegenwärtige preußische Gesandte von Küster, „weil er nicht die Protektoratsstellung der Protestanten in Bayern genommen, abberufen würde“. Eine solche „Stellung“ hatte Küsters Vorgänger, Graf Doenhoff, eingenommen, allerdings mit dem Ergebnis, daß Ludwig I. sein Auftreten als sehr lästig empfand und mit Erfolg auf seine Ablösung drängte. Ebd.: Nr. 3, 145, Eintragung 30. VII. 1845: Freiherr Heinrich v. d. Tann bestätigt ihm, daß Minister von Bülow darüber mißvergnügt gewesen sei, daß sich v. Küster der Protestanten in Bayern nicht genügend angenommen habe. „Weil England sich der Waldenser in Piemont nicht mehr annimmt, will es der König von Preußen. Dieser König will in anderen Ländern gewissermaßen zum Protektor der Protestanten sich aufwerfen, von dem sein Vater einmal besorgte, er möchte katholisch werden . . .“.

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Freiherr von Bunsen, verband sich damit wohl auch der Gedanke einer preußischenglischen Allianz unter protestantischen Vorzeichen. Das seitens der preußischen Krone übernommene Protektorat über den Gustav-Adolf-Verein läßt sich als Gegenstück zu schon früher einsetzenden bayrischen Aktivitäten zugunsten des Diasporakatholizismus interpretieren9. Bei der Neugründung des Johanniterordens, dessen Mitgliedschaft sich keineswegs auf preußischen Adel beschränkte, während Sitz und Großmeisterwürde an Preußen und das Hohenzollernhaus gebunden blieben, mochten ökumenische Motive im Spiele sein, objektiv setzte dieser Akt einen gesamtprotestantischen Nachholprozeß in Bewegung. Wenn Friedrich Wilhelm IV. ein „protestantisches Majestätsrecht“ als „Primus des Protestantismus“ beanspruchte10, konnte dieser Begriff nicht auf die preußisch-staatliche Dimension der königlichen Zuständigkeiten begrenzt bleiben. Es träfe nicht zu, wollte man den Gedanken eines preußischen Protestantenprotektorats nur in der lebhaft bewegten Phantasie Friedrich Wilhelms IV. und Bunsens verorten. Die Idee hatte längst in der Staatstradition des Königreichs Eingang gefunden und wurde nicht selten in realpolitische Kombinationen einbezogen. Studiert man die Gesandtschaftsberichte vom Münchner Hof, namentlich diejenigen aus der Feder der Grafen Doenhoff und Bernstoff oder des Herrn von Bockelberg, entnimmt man der Korrespondenz das Bestreben der preußischen Diplomaten, durch Anknüpfung mit prominenten Protestanten Preußen eine bayrische, den Interessen des Hohenzollernstaates aufgeschlossene Klientel zu verschaffen11. Daß die konfessionellen Protektorate ungefähr gleichzeitig in Erscheinung traten, war kein Zufall und lag in der geistesgeschichtlichen Situation der Epoche begründet. Für den Historiker empfiehlt es sich, beide zueinander in Beziehung zu setzen. Man lernt daraus, in welchem Ausmaß sich im 19. Jahrhundert konfessionelle Staatsideen noch geltend machen konnten.

9 P. Willibald Mathäser, Der Ludwig-Missions-Verein in der Zeit König Ludwigs I. von Bayern, München 1939. Der Hauptzweck des Vereins bestand zwar in der Förderung der Mission unter Nichtchristen, doch sorgte man gleichzeitig für die kirchliche Betreuung der (insbesondere deutschen) Katholiken in der Diaspora. 10 Bußmann, 1990, S. 134. Daneben tauchte in der historisch verspielten Vorstellungswelt des Königs ein protestantischer Fürsterzbischof von Magdeburg als Primas Germaniae auf. 11 Zur Prominenz dieser Gruppe zählten im Vormärz der ehemalige Regierungspräsident Graf Karl Giech, der fränkische Parlamentarier Hermann Freiherr von Rotenhan, der Staatsund Reichsrat sowie Minister-Verweser Georg Ludwig von Maurer und der Münchner Professor, Universitätsrektor und Akademiepräsident Hofrat Friedrich von Thiersch. lm Nachmärz erweiterte sich der Kreis um manche der von Max II. nach München berufenen Gelehrten und Literaten, Wilhelm von Doenniges an der Spitze. Auch den bayrischen General Ludwig Freiherr von der Tann hat man zu den Sympathisanten Preußens gerechnet.

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II. Die populistische Komponente des vormärzlichen politischen Katholizismus Während man bei der Analyse des politischen Katholizismus seit 1848 kaum je die bäuerlichen und kleinbürgerlichen Wählermassen außer acht läßt, hat sich die Beschäftigung mit seiner vormärzlichen Geschichte weitgehend auf seine geistlichen Führergestalten, seine aristokratischen Gönner und seine gelehrten, publizistischen und literarischen Vorkämpfer beschränkt. Die breite Masse schien stumm geblieben zu sein. Stumm in dem Sinne, daß sie sich kaum je schriftlich artikuliert hat – gewiß! Aber stumm aus Gründen völliger Passivität und Ignoranz war sie nicht. Und worauf es in diesem Zusammenhang besonders ankommt – sie war nicht unorganisiert. Wir sprechen nicht von der pfarrgemeindlichen Zusammenfassung; eingepfarrt war damals jedermann. Doch gab es für die kirchlich aktiveren Katholiken seit Jahrhunderten noch eine andere Form des Zusammenschlusses: Bruderschaften und Kongregationen. Man hat sie vorwiegend unter den Gesichtspunkten der Frömmigkeitsgeschichte, religiöser Folklore sowie als Vorstufe oder Bestandteile des kirchlichen Vereinswesens behandelt. Dies zu tun, war und ist zutreffend, aber wer sich die Realität dieses Typus katholischer Sozialisation vor Augen führt, wird nicht mehr annehmen, daß man es mit unpolitischen Größen zu tun hat. Inzwischen haben sich Christoph Weber12 und Peter Faßl13 der politischen Dimension der Bruderschaften angenommen, und was sie festgestellt haben, darf man mit Sicherheit bis zu einem gewissen Grad generalisieren. Es wird nicht behauptet, daß die Bruderschaften gezielt als Ersatzorganisation für die im Vormärz verbotenen politischen Vereine gedient hätten, wohl aber, daß das zunehmende Organisationsbedürfnis der Epoche ein Politikum war und es gar nicht anders sein konnte, als daß die Bruderschaften Energien, die sonst ein anderes Ventil gesucht hätten, absorbiert haben. Der Aufschwung des Bruderschafts- und Kongregationswesens in Bayern in den 30er und 40er Jahren des vergangenen Jahrhunderts spricht für die zunehmende Mobilisierung der katholischen Massen. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhang die in Paris 1836 gegründete und von dort über Mitteleuropa verbreitete Erzbruderschaft des Heiligsten und Unbefleckten Herzens Mariae. A. Leidl hat geschildert, welche Erfolge ein geistlicher Vorkämpfer dieser Bewegung, Pfarrer Franz Sales Handwercher (1792 – 1853), im ländlichen Milieu Niederbayerns erzielen konnte14. Es besteht kein Zweifel, daß es sich bei den Wallfahrten, die zu seinem 12 Christoph Weber, Aufklärung und Orthodoxie am Mittelrhein 1820 – 1850, München / Paderborn / Wien 1973, S. 88 – 112; 150 – 155; 188 – 190. 13 Peter Faßl, Konfession, Wirtschaft und Politik. Von der Reichsstadt zur Industriestadt. Augsburg 1750 – 1850, Sigmaringen 1988, S. 334 – 352. 14 August Leidl, Pfarrer Franz Sales Handwercher, in: Georg Schwaiger (Hrsg.), Bavaria Sancta, Bd. II, Regensburg 1971, S. 332 – 358. Bayr. Hauptstaatsarchiv München, Abt. III (Geh. Hausarchiv), Nachlaß Ludwigs I., IV: Appellationsgerichtspräsident von Hoermann – Ludwig I. 23. IV. 1836 rühmt Handwercher als „einen von glühender Ergebenheit und Anhänglichkeit an Ew. Mt. durchdrungenen Untertan, der in Allerhöchst demselben den von Gott gesandten Urheber der religiösen und politischen Restauration verehrt“.

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bei Straubing gelegenen Pfarrort strömten, um primär religiöse Veranstaltungen handelte, aber eine 1845 schon auf rund 10 000 und bis 1853 auf gegen 150 000 Mitglieder angewachsene Vereinigung bildete im Vor- und Nachmärz auch einen politischen Faktor, und Handwercher beschränkte sich, in politischen Krisenzeiten jedenfalls, durchaus nicht auf das Religiöse, sondern suchte die Massen auch bei seinem (erzkonservativen) politischen Standpunkt zu halten. 1849 hat er an seinem Pfarrort, nun auch in den Reihen des Piusvereins aktiv, eine Großveranstaltung von 6 – 7 000 Personen organisiert, dazu politische Redner aus München, Landshut und Regensburg eingeladen und auch selbst in antirevolutionärem Sinn gesprochen. Durch gewalttätige Störungen, ausgeübt von „Republikanern und Demokraten“ aus den benachbarten Städten, ließ er sich nicht beirren. Ein kritischer Bericht über die unter führender Beteiligung des bayrischen Innenministers von Abel zustande gekommene Gründung einer Münchner „Filiale“ der Erzbruderschaft findet sich in den Tagebüchern von Sulpiz Boisserée. Das antiklerikale „Ministerium der Morgenröte“ (1847) wußte, warum es die vor seiner Amtsperiode ohne staatliche Genehmigung entstandenen Bruderschaften und Kongregationen auflöste. Es sah in ihnen ein organisiertes konfessionelles Potential, das den wieder strenger staatskirchlichen Kurs des neuen Systems gefährden konnte. Eine andere populistische Variante des politischen Katholizismus konnte darin bestehen, daß eine Priesterpersönlichkeit eine ziffernmäßig beträchtliche Gefolgschaft um sich zu scharen und diese für konfessionelle Zwecke zu politisieren verstand. Bei der im folgenden kurz vorzustellenden Gestalt des Geistlichen Anton Eberhard, eines temperamentvollen Allgäuers, zögert man sehr, ihn mit dem Epitheton ornans „charismatisch“ zu versehen, es sei denn, dieser Ausdruck ließe sich ganz wertfrei verwenden. Eberhard, damals noch ein junger Mann, wirkte in den endenden 30er und beginnenden 40er Jahren als Hofprediger von der Kanzel von St. Michael in München. Seine kraß polemischen Stegreifpredigten, die vor allem die Mischehenfrage behandelten, verursachten in München unter Angehörigen beider Konfessionen empörten Widerspruch, andererseits verschafften sie ihm großen Zulauf und eine entschiedene Anhängerschaft. Mit dem Münchner Ordinariat wie dem Regensburger Bischof Schwäbl, den der Minister von Abel aufgefordert hatte, mäßigend auf den Heißsporn einzuwirken, geriet Eberhard in Konflikte, in denen er eine ungewöhnlich aggressive Sprache führte. Seine Münchner Gefolgschaft zählte nach vielen Hunderten. Darunter befanden sich die Frauen sehr hochgestellter Persönlichkeiten, in der Masse handelte es sich jedoch wohl um Münchner kleine Gewerbetreibende und Kaufleute. Der Minister von Abel, ebenfalls Besucher der umstrittenen Predigten, sah sich zwar veranlaßt, sich von Eberhard zu distanzieren, hat ihn aber gleichzeitig dem König gegenüber zu decken und zu entschuldigen gesucht und auch nach Eberhards Entfernung aus München nie den Kontakt zu ihm aufgegeben. Während der letzten Lebensjahre Abels hat Eberhard ihm und seinem Hause als Seelsorger gedient15. 15 Bayr. Staatsbibliothek München, Handschriftenabtlg., Abeliana II: Briefwechsel Eberhard – Abel. Der im Geh. Hausarchiv verwahrte Teil des Briefwechsels ist im II. Weltkrieg verbrannt.

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Als sich die Kunde von einer Versetzung Eberhards aus München verbreitete, kam es zu einer zahlenmäßig starken Demonstration Münchner Bürger vor dem Amtssitz des Ministers, ein für vormärzliche Verhältnisse schwerwiegender Ordnungsverstoß, der mit einer (allerdings auffallend milden) polizeilichen Geldstrafe der Beteiligten geahndet wurde, aber seinen Eindruck auf die Staatsspitze nicht verfehlte. Während der von Ludwig I. erzwungenen Abwesenheit Eberhards von München liefen wiederholt Bestrebungen Münchner Katholiken, ihn in die Landeshauptstadt zurückzuholen. Bemerkenswert ist, daß das Haus Görres sich nachhaltig in diese Bestrebungen einschaltete, das, selbst ein Intellektuellenzentrum, in der Bewegung um den abgesetzten Hofprediger offenbar sein populistisches Organ sah. U. a. hat Josef Görres, gewissermaßen als Sprecher des katholischen München, Ludwig I. 15 000 Gulden angeboten, um Eberhard an der neuerbauten Münchner Ludwigskirche installieren zu können. Der König wollte von Eberhard jedoch ein für allemal nichts mehr wissen. Während der Revolutionsjahre 1848 / 49 hat Eberhard, der sich schließlich in der Diözese Regensburg etablierte, im Piusverein als Redner auf Massenversammlungen eine antirevolutionäre Rolle gespielt und offensichtlich danach gestrebt, parlamentarisch wirksam werden zu können. Von Interesse sind hier weniger die von Eberhard aufgegriffenen Themen als die soziostrukturelle Beschaffenheit der von ihm entfachten Bewegung und der sich abzeichnende, aber nicht zur Reife gediehene Erfolg eines Mannes, der über alle Gaben eines geistlichen Volkstribunen verfügte. Es könnten Münchner Bürger aus der Gefolgschaft Eberhards gewesen sein, die 1846 dem Polizeidirektor der Residenzstadt anboten, sich dem König und der Regierung (Abel) mit Brachialgewalt zur Verfügung zu stellen, um den Widerstand der I. Kammer gegen die Klosterrestaurationspolitik des Monarchen und seines federführenden Ministers zu brechen16, gewiß zum damaligen Zeitpunkt keine sehr ernst zu nehmende Äußerung, doch immerhin ein Symptom für die im Kreise dieser Männer herrschende Gesinnung. Die während des Landtags von 1846 unter der katholisch-konservativen Bevölkerung vorbereitete Adressenbewegung zugunsten der Klosterrestauration, eine mehrfach durch Geistliche und Gutsbeamte veranlaßte Aktion, bildete an sich kein Novum, da Adressen- und Petitionsbewegungen nach dem Ende des napoleonischen Zeitalters in ganz Europa gang und gäbe waren. Wohl aber darf man die katholischen Adressenstürme von 1846 in Baden und Bayern als Bekundungen populistischer Energien dort werten, wo sie bis dahin noch nicht hervorgetreten waren. Der Hauptwidersacher der Regierung Abel im bayrischen Reichsrat, Fürst Ludwig zu Öttingen-Wallerstein, kritisierte die Adressenbewegung als Mache und künstliche Aufregung der unteren Klassen. Er ließ sich in diesem Zusammenhang auch sozialkritische Bemerkungen nicht entgehen: „Die Regierung sagt sich so gut 16 Bayr. Staatsbibliothek München, Tagebücher Ludwigs I., Nr. 3, 147, Eintragung vom 6. II. 1846. – Aufschlußreich in diesem Zusammenhang die Berichte des württemberg. Gesandten am Münchner Hof, Graf Degenfeld, an König Wilhelm I.: Hauptstaatsarchiv Stuttgart, E 71 Büschel 477 3-D-4-II-1846.

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wie wir, daß, wenn hinter dieser hochkatholischen Adresse eine zweite Adresse einherschritte, schließlich mit der Bitte um Aufhebung aller Pfarrzehnten, Pfarrlaudemien und Stolgebühren, gegen Bezüge aus Zentral-Fonds, dieselben hochfrommen Leute ihre Unterschriften vielleicht mit weit klarerem Bewußtsein und mit lebhafterer Begeisterung geben würden“17. Die katholische Adressenbewegung war zwar eindeutig zur Unterstützung der Kirchenpolitik des Monarchen und seines Innenministers ins Leben gerufen worden (Wallerstein: „Man will seine Truppen mustern und die Gemusterten vor Regierung und Kammern defilieren lassen“), flößte aber bald beiden – charakteristisch für die Ängstlichkeit des vormärzlichen Obrigkeitsstaates – erhebliche Bedenken ein. Eine „außerparlamentarische“ Bewegung, auch wenn sie von „löblichen“ Absichten getragen war und anfänglich noch positive Würdigung seitens des Monarchen und seines Staatsmannes gefunden hatte, schätzte man aus grundsätzlichen Erwägungen nicht, zumal man Beunruhigung der öffentlichen Meinung durch liberale Gegenadressen befürchtete. So hat man denn die Kampagne von oben her abgeblasen. Ein radikaler Umschlag des bis dahin völlig gouvernemental eingestellten katholischen Populismus ergab sich unmittelbar nach der Entlassung des Ministers von Abel, Zentralfigur des bayrischen politischen Katholizismus. Die Entlassung erfolgte wegen Abels Verhalten in der bekannten Lola Montez-Affäre. Der Einfluß der Kurtisane war von Anfang an antiklerikal akzentuiert. Umgehend sah sich nun Ludwig I. nicht nur dem Boykott der adeligen Gesellschaft Münchens ausgesetzt, sondern auch dem Unwillen der Münchner mittel- und kleinbürgerlichen Schichten sowie der ihnen nahestehenden entschieden katholischen Gruppe unter der Münchner Studentenschaft. Die Opposition des katholischen Volkes äußerte sich in Demonstrationen und Ausschreitungen, bedenklichen Erscheinungen innerhalb der Münchner Landwehr und schwer einzudämmender Unruhe an der Universität. Eine aus der Münchner Bevölkerung hervorgegangene Bewegung, die man zwar nicht auf einen konfessionellen Nenner bringen kann, jedoch weithin von der Sympathie und Mitwirkung der katholischen Kreise getragen war, zwang den König, die zum politischen Fall gewordene Kurtisane aus München zu entfernen. Es läßt sich also durchaus von einer populistischen Komponente des vormärzlichen politischen Katholizismus in Bayern sprechen, die mit dem Jahre 1848 in modernere Formen politischer Sozialisation überging.

III. Zur katholischen Identität des Altbayerntums Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schien es sich von selbst zu verstehen, daß Altbayern einen fast geschlossenen katholisch-konservativen Block bilde, 17 Vhdlgen. der bayr. Kammer der Reichsräte, 1846, 2. Bd., Sitzung vom 12. II. 1846. – Wallerstein ließ seine Rede veröffentlichen: „Erste Äußerungen des Herrn Reichsrats Fürsten Ludwig von Öttingen-Wallerstein über die Frage der Adressen“, München 1846, S. 14 – 17.

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auf den sich das Königtum im Prinzip verlassen könne. Liberalisierende Ministerien hingegen hätten mit altbayrischem Widerstand zu rechnen, ganz zu schweigen von der Bundes- und Reichspolitik Bayerns, der dieser Block Konzessionen an Preußen nur schwer nachsehe. Beschränkt man sich auf die konfessionspolitische Seite des Komplexes, gelangt man für die erste Hälfte des Jahrhunderts und auch für später zu komplizierteren Ergebnissen. Die aufklärerischen Strömungen wie die patriotische Bewegung im Bayern des 18. Jahrhunderts spielten sich noch im Rahmen einer offiziellen Katholizität ab. Die Vergrößerung Bayerns um beträchtliche protestantische Gebiete unter Max I. Josef führte bei Alt- wie Neubayern zu gewissen Integrationsschwierigkeiten – wie hätte es sich auch anders verhalten sollen! –, die das junge paritätische Königreich jedoch in den Griff bekam. 1807 / 11 entbrannte in München der sogenannte Akademiestreit18 zwischen einer einheimisch-katholischen, altbayrischen Gruppe von Gelehrten, Literaten und Publizisten und ihren protestantischen, von außerhalb Bayerns berufenen Widersachern. Der Streit ist insbesondere mit dem Namen des Beamten und Publizisten Johann Christoph Freiherr von Aretin verknüpft, der als altbayrischer Patriot nichts unterlassen hat, seinen Standpunkt als Aufklärer deutlich zu machen. Aretin hat sich zu einer von Napoleon zu leitenden katholisch-romanisch-profranzösischen Solidarität politisch-kultureIlen Gepräges bekannt, innerhalb derer die bayrische Staatsnationalität den ihr gemäßen Platz einzunehmen hatte. In ihrer Verbindung von politischem Katholizismus und Aufklärung erinnert Aretins Kampagne in mancher Hinsicht an die Ideologie der Action Française des endenden 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Die Konfession hat man hier wie dort in erster Linie historisch-politisch und als Formprinzip gesellschaftlicher Organisation gewürdigt. Mit Religiosität hatte Aretins Katholizismus wenig zu tun, mehr indessen mit säkularen Aspekten, die er zum Zweck politischer Aktualisierung zu nützen gedachte. Unter solchen Vorzeichen sah Aretin einen unter napoleonischem Protektorat stehenden katholischen Bajuvarismus durch eine norddeutsch-protestantische19 Gegenwelt bedroht, die im Gegensatz zum Aufklärertum der bayrischen Patrioten auf einen romantischen Teutonismus zusteuerte20. Aretin konnte mit keiner breiten Anhängerschaft rechnen. Denn nur auf der Basis eines weitgehend säkularisierten Katholizismus, nicht auf derjenigen des damals noch real existierenden religiösen Traditionalismus Altbayerns hätte sich ein aufklärerischer Patriotismus entfalten können, der die Konfession weniger um ihrer selbst willen denn als Bestandteil bayrischer Nationalität gelten ließ. Die Geistesgeschichte der Universität Landshut (1799 – 1826) liefert Beispiele für altbayrische Xenophobie (teils aufklärerischen, teils antiaufklärerischen Zu18 Philipp Funk, Von der Aufklärung zur Romantik. Studien zur Vorgeschichte der Münchner Romantik, München 1925, S. 149 – 162. 19 Bei den zur Montgelaszeit nach München Berufenen handelte es sich meist nicht um Norddeutsche, sondern um schwäbische, westdeutsche und thüringische Gelehrte. 20 (Johann Christoph Freiherr von Aretin), Die Pläne Napoleons und seiner Gegner in Teutschland und Osterreich, München 1809.

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schnitts), für vom romantischen Zeitgeist gespeiste Intensivierung bayrisch-katholischer Überlieferung, aber auch für deutsch-patriotische Aufwallungen, die freilich eher vereinzelt blieben21. Nach der Thronbesteigung Ludwigs I. hatte ein nicht von Deutschtumspatriotismus umrahmter bayrisch-vaterländischer Standpunkt keine Chance mehr, von profranzösischer Einstellung ganz zu schweigen. Das hieß allerdings nicht, daß die Montgelas-Tradition rasch ausgestorben und Ressentiments des Altbayerntums bzw. gegen das Altbayerntum nicht mehr aufgetreten wären. Im Rahmen des jungen Königreichs konnte sich das katholische Altbayern eine gewisse Vorrangstellung insofern ausrechnen, als das altbayrische München Landeshauptstadt und Sitz der Residenz war, die Dynastie also zwangsläufig in die altbayrische Atmosphäre mehr und mehr hineinwuchs. Wenn in der politischen Phraseologie der Zeit die Wendung „bayrisches Kernvolk“ häufig gebraucht wurde, unterließ man zwar in der Regel eine Konkretisierung des Begriffs, doch konnte kaum ein Zweifel bestehen, daß man das katholische Altbayerntum als pars pro toto nahm und in ihm die ideale Spielart des Bayrischen erblickte. Schließlich hat Ludwig I. des öfteren von Bayern als einem katholischen Staat gesprochen und, in einem gewissen Widerspruch zur Verfassung nur auf die ziffernmäßige Majorität seines Bekenntnisses sich stützend, den Katholizismus als die inoffizielle Staatsreligion seines Königreichs empfunden. Auch dies ein Standpunkt, der ohne das Vorhandensein des altbayrischen Blocks gegenstandslos gewesen wäre! Es läßt sich nun beobachten, daß man in dem hier allein interessierenden konfessionsgeschichtlichen Zusammenhang bei geistlichen wie weltlichen Gebildeten aus dem altbayrischen Katholizismus gewiß Vertretern aller Richtungen vom Freigeist bis zum extremen Kurialisten begegnet, der Anteil der mit der kirchlichen Erneuerungsbewegung zwar verbundenen, aber auf Ausgleich und Mäßigung bedachten Intelligenz jedoch besonders groß gewesen ist. Im altbayrischen Klerus und unter seinen führenden Theologen läßt sich vielfach Affinität zu der irenischen Sailerschule feststellen; die Tagebucheintragungen Sulpiz Boisserées22 oder die Beobachtungen Joseph Friedrich Lentners23 über den altbayrischen Landklerus bzw. dessen ältere Generation bekräftigen den Eindruck einer friedlichen Mentalität. Demgegenüber ist bei der polemischeren „Münchner Schule“ und im Görreskreis eine Vorrangstellung des nicht-altbayrischen Elements, namentlich der Rheinländer, nicht zu übersehen. Bemerkenswert sind zeitgenössische Reflexionen über quasiideologische Gruppierungen an der Universität München im Vormärz. In seinen Aufzeichnungen unterschied der Orientalist Karl Friedrich Neuman dort drei sich mehr oder minder Funk, 1925, S. 117; 122 – 125; 133 – 135; 142 – 163. Sulpiz Boisserée, Tagebücher (Hrsg. Hans-J. Weitz), 4 Bde., Darmstadt 1978 – 1985. 23 Joseph Friedrich Lentner, Bavaria. Land und Leute im 19. Jahrhundert (Hrsg. Paul Ernst Rattelmüller), München 1987, S 57 – 72. Lentners Texte entstanden zwischen 1846 und 1852. 21 22

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deutlich artikulierende Schwerpunkte: Ultramontane, Altbayern und Protestanten24. Weitere zeitgenössische Zeugnisse25 bestätigen Neumanns Beobachtungen über das Verhalten der altbayrischen Hochschullehrer im Vormärz, die er mit gutem Grund eben nicht mit den „Ultramontanen“ identifizierte. Wir wiederholen, daß sich diese Wahrnehmungen auf den geistlichen wie weltlichen intellektuell-akademischen Bereich begrenzen. Bei der breiten Masse sah es anders aus. Noch dominierte unter der nicht zur Intelligenz oder zur Oberschicht zählenden Bevölkerung die Konfession als identitätsstiftende Macht. Die kirchliche Verankerung der mit einigen (hauptsächlich städtischen) Ausnahmen noch geschlossen katholischen Welt Altbayerns politisch in eine dem Königtum besonders ergebene und regierungsloyale Thron- und Altar-Gesinnung einzubringen, war im Vormärz das nicht erfolglose Bestreben der Staatsspitze. Damit korrespondierten die Bemühungen Ludwigs I. und seines Ministers von Abel, Altbayern tunlichst geschlossen katholisch zu erhalten und daher dort protestantische Gemeindegründungen und Kirchenbauten zu verhindern, eines der auch publizistisch erörterten Gravamina der bayrischen Protestanten während der ludovicianischen Epoche. Namentlich in der ländlichen und kleinstädtischen Bewohnerschaft verband sich die Bejahung exklusiver Konfessionalität mit xenophoben und antijüdischen Stimmungen sowie – von besonderer Wichtigkeit – restriktivem Standpunkt in der Ansässigmachungs- und Gewerbepolitik. Ein so zu analysierendes altbayrisches Syndrom machte sich in dem Aufbäumen gegen Lola Montez 1847 / 48 bemerkbar, das sich gleichzeitig gegen die Favoritin des Königs und das liberalisierende und antiklerikale „Ministerium der Morgenröte“ richtete, im Widerstand gegen die Grundrechte der Frankfurter Nationalversammlung und in konservativen Positionen während der Landtagsverhandlungen der 1850er Jahre. Symptomatisch eine Stelle aus dem Schreiben eines Sprechers oberbayrischer Konservativer im März 1849: „Wir haben unsern König und brauchen keinen Oberherrn . . . Landlästige Einwanderer, insbesondere von fremder Konfession und Juden, wird man nicht nur die Aufnahme versagen, sondern sie mit Gewalt austreiben“26.

IV. Zur Akzeptanz des Begriffs „ultramontan“ im katholischen Bayern In der Schlagwortforschung hat man dem Begriff „ultramontan“ viel Aufmerksamkeit zugewendet. Die in Frankreich (wohl im 17. Jahrhundert) aufgekommene 24 Bayr. Staatsbibliothek München, Neumanniana 6 b, Gedenkbuch V: Konzept eines von dem Minister von Zu Rhein angeforderten Berichts vom 8. III. 1847. 25 Ebd., Schenkiana II, 7: Hormayr – Schenk 1. V. 1827 mit heftiger Kritik an dem Historiker Andreas Buchner. Thaddäus Siber, Mein Lernen und Lehren. Autobiographische Aufzeichnungen (Hrsg. Max Rottmanner), in: Oberbayr. Archiv, 65, 1927, S. 83 – 225. 26 Bayr. Staatsbibliothek München, Abeliana II: Amann – Abel 25. III. 1849.

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und später (18. Jahrhundert) auf Deutschland übergreifende Bezeichnung erscheint anfänglich fast ausschließlich in kirchenrechtlichen und kirchenpolitischen Zusammenhängen. Überwiegend für das 18. Jahrhundert hat H. Raab und hauptsächlich für die Wortgeschichte seit der Kulturkampfzeit bzw. der zunehmenden Auseinandersetzung mit dem Liberalismus ab der zweiten Hälfte der 1860er Jahre H. Linn Bedeutungsgehalt, Verbreitung und Nuancierung des Schlagworts untersucht27. Das 19. Jahrhundert führte zu einer ideologisch-parteipolitischen Expansion des Begriffs, teils im Munde antiklerikaler Gruppierungen, teils konfessionsintern. Staatskirchlich oder liberal eingestellte Katholiken benannten ihre kurialistisch oder integralistisch denkenden Widersacher so. Auf jeden Fall suchten die Antiultramontanen, für die sich ein positiver Sammelbegriff schwer finden läßt, mit dem Schlagwort die Vorstellung des Übertriebenen und Extremen einzubringen. Dies bot sich um so eher an, als sich im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts der Begriff des „Ultra“, worunter man einen radikalen Legitimisten oder Royalisten verstand und der an sich noch keinen konfessionellen Beigeschmack zu haben brauchte, eingebürgert hatte und leicht mit „Ultramontanismus“ vermengte. Im folgenden geht es darum, einen teilweise unzutreffenden Beitrag zur Wortgeschichte von „ultramontan“ zu berichtigen, der aus der Feder des Kirchenhistorikers Heinrich Schrörs stammt, und die Lücke zwischen den Darstellungen Raabs und Linns einigermaßen zu überbrücken. Schrörs stellte in einem Exkurs zu seinem Aufsatz „Rheinische Katholiken und belgische Parteien zur Zeit der Kölner Wirren (1837)“ – offenbar im Eifer des Abwehrgefechts gegen das zu seiner Zeit als Schmähung noch lebendige Schlagwort – in Abrede, daß der Ausdruck „ultramontan“ im Vormärz „allgemein gebräuchlich“ gewesen sei28. Wer sich in der Publizistik und im diplomatischen Schriftverkehr des Vormärz auskennt, weiß, daß das Gegenteil der Fall gewesen ist, „ultramontan“ schon damals (und nicht erst seit dem Kulturkampf) sehr verbreitet war. Jeder politisch Gebildete verstand, was man damit meinte. Schrörs widersprach darüber hinaus, daß „die also Gekennzeichneten sich selbst so genannt“ hätten. An bayrischen Quellen läßt sich nachweisen, daß Schrörs weniger apodiktisch hätte vorgehen sollen. Wir nehmen vorweg: Selbstverständlich sollte seitens der liberalen Gegner der Ausdruck „ultramontan“ die Anhänger dieser Richtung als Herabwürdigung treffen und wurde von deren überwiegender Mehrzahl auch nur so und nicht anders aufgefaßt. Indessen kennt die politische Philologie des öfteren den Fall, daß ein polemisch gemeinter Name von den Betroffenen aufgegriffen und zum Ehrennamen umgewandelt wird. Im Vormärz und um die Jahrhundertmitte verdichtete sich – vorübergehend – bei mehreren Katholiken die Tendenz, die Be27 Heribert Raab, Zur Geschichte und Bedeutung des Schlagworts „Ultramontan“ im 18. und frühen 19. Jahrhundert, in: HJb 81, 1962, S. 159 – 173 und Heinrich Linn, Ultramontanismus in Köln, Siegburg 1987, S. 73 – 76. 28 Heinrich Schrörs, Rheinische Katholiken und belgische Parteien zur Zeit der Kölner Wirren (1837), in: Annalen des Histor. Vereins für den Niederrhein etc., 107, 1923, S. 1 – 91 u. 108, 1926, S. 1 – 66, bes. S. 61 – 63.

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zeichnung „ultramontan“ zu akzeptieren und sich rückhaltlos für den „Ultramontanismus“ zu erklären. Schon 1826 hat sich im „Katholik“ der bayrische, später allerdings zum Anti-Ultramontanen gewordene Philosoph Franz v. Baader unter Berufung auf den französischen Restaurationspublizisten de Bonald gelegentlich der Rezension eines Werks von Lamennais ausdrücklich zum Begriff und zur Bezeichnung „Ultramontan“ bekannt29. Als der Erbgraf Konstantin Zeil-Waldburg, ein temperamentvoller und radikaler Vorkämpfer für die Unabhängigkeit der katholischen Kirche, seinen Sitz in der I. Bayrischen Kammer einnahm, hielt er eine Aufsehen erregende Jungfernrede. „Ich bin Katholik“, hieß es dort, „ich bin ultramontaner Katholik und rechne es mir zur Ehre, es zu sein, und freue mich, Veranlassung zu haben, es hier öffentlich aussprechen zu können“30. So geschehen 1846. Im gleichen Jahr veröffentlichte der „Katholische Hausfreund“ ein „Ultramontanen-Lied“ 31. Als im Jahr darauf nach der Entlassung des Ministers von Abel das neue Ministerium eine antiklerikale Politik betrieb und verschiedentlich ein personelles Revirement stattfand, traf es den Legationsrat Karl Maria Freiherr von Aretin, daß er aus dem bayrischen Außenministerium nach Berlin versetzt wurde. In einer erregten Auseinandersetzung, die er deswegen mit seinem neuen Chef, Staatsrat von Maurer, hatte, beteuerte er, daß er trotz allem ein Ultramontaner bleibe32. Wieder ein Jahr später fand in München eine erste Parteigründung im Geist des politischen Katholizismus statt: „Verein für konstitutionelle Monarchie und religiöse Freiheit“. In der Vorbereitungsphase des „Vereins“ veröffentlichte ein prominentes Mitglied des Görreskreises, der romantische Arzt und konservative Politiker Geheimrat Ringseis im April 1848 ein „Manifest der bayrischen Ultramontanen“: „Ja, wir haben es kein Hehl, auch nicht die allergeringste Scheu, es vor der ganzen Welt zu bekennen: Wir, die mit diesem Namen Bezeichneten, wir sind „Ultramontane“, wir erkennen den Papst jenseits der Berge (ultra montes) als Haupt unserer Kirche; wir erklären uns verpflichtet zur Erfüllung aller Dogmen und Disziplin der römisch-katholischen Kirche; und zugleich wollen wir . . . keine Einmischung ins Innere der Kirche“33. Ringseis, der versicherte, man kämpfe „unter dem früheren Partei- und künftigen Ehrennamen ,Ultramontane‘“, beteuerte trotz Distanzierung von mehreren Vorgängen während der Ära Abel, die Monarchie besitze keine aus Prinzip treueren Anhänger „als die sogenannten Ultramontanen“34. Schärfer fiel die Kritik am bisheri29 Zitiert nach Franz von Baader, Philosophische Schriften und Aufsätze, Bd. II, München 1832, S. 285. 30 Vhdlgen. der bayr. Kammer der Reichsräte, 1846, 4. Bd., S. 399. 31 Zwei Strophen zitiert bei Otto Weiß, Der Ultramontanismus. Grundlagen – Vorgeschichte – Struktur, in: ZBLG 41, 1978, S. 825 f. und Michael Dirrigl, Maximilian II., König von Bayern, Bd. II, München 1984, S. 10 – 16. 32 Berichte der preußischen Gesandten am Münchner Hof (Hrsg. Anton Chroust), Bd. 4, München 1951, S. 961: Graf Bernstoff – Friedrich Wilhelm IV. 6. IV. 1847. 33 Ringseis, Manifest, S. 3. 34 Ebd., S. 11.

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gen staatskirchlichen Kurs in einer weiteren Flugschrift „Bayerns errungene Freiheiten und der Ultramontanismus“ aus, die aus der Feder eines jüngeren Mitglieds des Görreskreises, des Privatdozenten Dr. Ludwig Merz, stammte, Begründer des St. Vinzenz-Vereins in München und Mitbegründer des Vereins für konstitutionelle Monarchie und religiöse Freiheit. In dem für ihn ausschlaggebenden Punkt, der Sache des Ultramontanismus, stand Merz auf dem gleichen Boden wie Ringseis. Ende November 1848 konnte der Historiker und Publizist Joseph Edmund Jörg Döllinger berichten: „Zu unserem Verein haben sich schon 400 Männer zusammengetan, die sich ohne Scheu Ultramontane nennen und nennen lassen“35. Und als der Exminister von Abel in einem Schreiben an König Max II. den bereits erwähnten Diplomaten Karl Maria von Aretin für eine Sendung nach Frankfurt empfahl und auf dessen Zugehörigkeit zum politischen Katholizismus zu sprechen kam, griff auch er die Bezeichnung „Ultramontane“ zustimmend auf36. Die Belege ließen sich vermehren, doch sei betont, daß es sich bei dem Versuch, „Ultramontanismus“ zum Fahnenwort zu machen, nur um eine vorübergehende Phase politischer Identitätssuche handelte. Der Widerstand gegen die Bezeichnung war gerade im Klerus beträchtlich. Sehr fiel ins Gewicht, daß die zunehmende Kräftigung des nationalen Gedankens in Deutschland quer durch die konfessionellen Lager den Begriff anstößig erscheinen ließ. Charakteristisch und sicher für viele beispielgebend war die vorsichtige Distanzierung Ignaz v. Döllingers von der bis dahin unter vielen seiner Glaubensgenossen geltenden Identifikation von „katholisch“ und „ultramontan“ schon auf dem Linzer Katholikentag von 185037. In positivem Sinn wurde „ultramontan“ vom Kulturkampf bis 1945 im allgemeinen eher vereinzelt verwendet38. Zufall ist es nun gewiß nicht, daß man in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts den Begriff teils in wissenschaftlich-versachlichter Form, 35 Dieter Albrecht, Josef Edmund Jörg. Briefwechsel 1846 – 1901, Mainz 1988, S. 16 f.: Jörg – Döllinger 20. XI. 1848. 36 HStAM Abt. III (Geh. Hausarchiv), Nachlaß Maximilians II. 73 / 1 / 1: Abel – Max II. 30. VIII. 1848: Ihm sei „kein anderes Verbrechen dieser Ultramontanen bekannt geworden . . . als daß sie den Glauben, den sie bekennen, für den allein wahren halten und in seiner Aufrechterhaltung . . . eines der wirksamsten Heilmittel für die anarchischen, alle Autorität zerstampfenden Bestrebungen der Jetztzeit erkennen – daneben aber die Glaubensfreiheit als allgemeines Postulat aufstellen“. Auf König Max II. dürfte diese Auslegung des Ultramontanismus keinen überzeugenden Eindruck gemacht haben. 37 Vhdlgen. der 4. Generalversammlung des katholischen Vereines Deutschlands, Linz 1850, S. 197 f.; vgl. Otto Weiß, Döllinger, Rom und Italien, in: Geschichtlichkeit und Glaube (Hrsg. Georg Denzler / Ludwig Grasmück), München 1990, S. 222 f. 38 Zur katholischen Distanzierung von „Ultramontan“: An., Katholisch und Ultramontan. Zur Orientierung von einem entschiedenen Katholiken und eifrigen Patrioten, München 1864, S. 76: Man habe bisher auf katholischer Seite fälschlich die beiden Begriffe für gleichbedeutend angesehen. Positiv noch Histor.-Polit. Blätter 71 (1873), An., Beiträge zur Geschichte des Ultramontanismus. Der Vf., vermutlich Jörg, erklärte sich mit der Bezeichnung mehr oder minder einverstanden. Desgleichen auch noch P. Albert Maria Weiß, O. Pr., Lebensweg und Lebenswerk, Freiburg i. Br. 1925, S. 108, mit Bezugnahme auf die vor- und nachmärzliche Situation in München. Weitere Belege für positive Verwendung in der Kulturkampfzeit bei Linn, 1987, S. 74.

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teils mit ausgesprochener Sympathie neuerdings aufgegriffen hat. Maßgebend für die vom katholischen Standpunkt ausgehende wissenschaftliche Behandlung des für unseren Aufsatz in Frage stehenden Zeitraums erscheint uns der Beitrag Roger Auberts in Hubert Jedins Handbuch der Kirchengeschichte39. Sehr positiv hat ferner in der Nachkriegsära Karl Buchheim den Ultramontanismus als Demokratisierungsphänomen im Rahmen der Konfessionsgeschichte beleuchtet40. Völlig ist der kritische Gebrauch von „ultramontan“ noch nicht geschwunden, aber wenn dies geschieht, findet sich der früher im Vordergrund stehende Vorwurf der nationalen Unzuverlässigkeit doch so viel wie gänzlich eliminiert. Alles in allem dürfte die Strecke vom polemischen Schlagwort zum historischen terminus technicus zurückgelegt sein41.

V. Eine Statistik aus dem Jahre 1859 Der Durchbruch des Verbandskatholizimus im Jahre 1848 bzw. seine Vorgeschichte lassen sich weit in die 40er und 30er Jahre zurückverfolgen; sie leiten eine seitdem nicht mehr zum Stillstand gekommene Bewegung ein. Mit der Ausbreitung von Orden wie von Standesvereinen und Vereinen für spezifische kirchliche Zwecke (Vinzenzverein, Borromäusverein, Missionsvereine, Vereine zur Unterstützung der Diaspora) verband sich der Aufschwung der katholischen Presse. Jede Lebensäußerung des Verbandskatholizismus darf man auch als Politikum bezeichnen, doch liegt in diesem Fall politische Qualität nur in weiterem Sinne vor. Der deutsche politische Katholizismus im engeren Sinne als parteipolitisch-parlamentarisches Phänomen hingegen mußte im Gegensatz zum Verbandskatholizismus nach 1848 vorübergehend Rückschläge hinnehmen. Die katholische Gruppierung der Paulskirche fand ihr Ende schon vor Auflösung der Nationalversammlung, die „Katholische Fraktion“ im preußischen Landtag legte auf Wunsch der Staatsregierung ihren Namen ab, der bayrische „Verein für konstitutionelle Monarchie und religiöse Freiheit“ zerfiel in den 50er Jahren. Selbstverständlich finden sich auch in den 50er Jahren dezidiert katholische Politiker in den deutschen Landesparlamenten, doch schlossen sie sich nur ausnahmsweise unter konfessioneller Firma zusammen, sondern zählten sich mehrheitlich der Rechten zu. 39 Roger Aubert, Fortschritte des Ultramontanismus und das Wachstum der internationalen Orden, in: Hubert Jedin (Hrsg.), Handbuch der Kirchengeschichte VI, Freiburg i. Br. etc. 1985, S. 415 – 422. Vgl. ferner Guillaume de Bertier de Sauvigny, Romantik, Ultramontanismus und Traditionalismus in Frankreich und Belgien, in: Ludovicus Jacobus Rogier / Roger Aubert / M. D. Knowles (Hrsg.), Geschichte der Kirche, Bd. 4, Einsiedeln 1966, S. 302 – 312. 40 Karl Buchheim, Ultramontanismus und Demokratie. Der Weg des deutschen Katholizismus im 19. Jahrhundert, München 1963. 41 Zur neueren Diskussion vgl. Otto Weiß, 1978 und ders., Die Redemptoristen in Bayern (1790 – 1909). Ein Beitrag zur Geschichte des Ultramontanismus, St. Ottilien 1983. Zu den Stellungnahmen von Lill, Weber und Nipperdey zum Ultramontanismusbegriff zusammenfassend Linn, 1987, S. 75.

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Daß man auf ein konfessionelles Etikett verzichtete, geschah nicht zufällig und hatte mehrere Gründe. Einmal bestanden seitens der Vertreter der sogenannten Amtskirche mehrfach Vorbehalte gegenüber einem auf parlamentarischer Tribüne sich entfaltenden politischen Katholizismus, der zu gleichberechtigter Mitsprache des Laienelements in katholischen Angelegenheiten führen mußte. Episkopat und theologisches Establishment haben es in diesem Punkt nie zu geschlossener Willensbildung gebracht, doch lag es nahe, daß viele ihrer Repräsentanten ihren bisherigen Alleinvertretungsanspruch in der Wahrnehmung kirchlicher Belange gefährdet sahen. Retardierend wirkte sich auf die Politisierung des deutschen Katholizismus weiterhin aus, daß der Deutsche Bund mit Österreich als Präsidialmacht wiedererstanden und damit die weitverbreitete Angst vor einer Dominanz des preußisch-protestantischen Elements in einem unter Ausschluß des Habsburgerstaates zustande gekommenen Bunde vorerst hinfällig geworden war. Ferner haben verfassungspolitische Entwicklungen und Regierungspraxis zwar durchaus nicht alle Wünsche des konfessionell bewußten Katholizismus, jedenfalls nicht die seiner entschiedensten Häupter, erfüllt. Doch hat das österreichische Konkordat von 1855, haben die Bestimmungen der preußischen Verfassung von 1848 / 50 oder die Konzessionen der bayrischen Regierung von der Pfordten-Zwehl in den Jahren 1852 und 1854 eine Ära eingeleitet, die sich von den vormärzlichen Verhältnissen bedeutend unterschied und zu der Parallelen auch in mehreren deutschen Mittelstaaten festzustellen waren. Die Ergebnisse der getroffenen Vereinbarungen mußten in der kirchlich gesonnenen Bevölkerung den Eindruck hervorrufen, daß in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche die Ära der Konfrontation vielleicht auf Dauer durch eine günstigere Konstellation abgelöst werden könnte. Schließlich standen für die politisch Anteil nehmenden Zeitgenossen der 50er und 60er Jahre eine Anzahl von Fragen im Vordergrund, für die konfessionspolitische Lösungen sich nicht darboten und kirchliche Weisungen nicht vorlagen, obschon in der soziokulturellen Tiefenschicht der einen wie der anderen „Konfessionsverwandten“ Präferenzen für die eine oder andere Alternative sehr wohl auszumachen waren. Man hatte indessen Gründe, solchen Gegenständen einen eher konfessionsneutralen Stellenwert zuzuweisen. Dies alles Motive für die vorläufige Unterbrechung einer parteipolitisch-parlamentarischen Festlegung der katholischen Bewegung. Die Pause im „engeren“ Politisierungsprozeß des Katholizismus vermochte das Vorhandensein eines starken Potentials von Parteigängern unmittelbar politischer Zusammenschlüsse indessen nicht zu beeinträchtigen. Genau zu erfahren, in welcher Größenordnung er es in seinem Staate mit dem Ultramontanismus als politischer Macht zu tun habe, war das Bestreben des bayrischen Königs Maximilian II., eines Mannes von nahezu unersättlichem Bedürfnis nach politischer Information und vorwegnehmender theoretischer Klärung der ihm obliegenden Entscheidungen. Stellungnahmen von Experten hat der Monarch in solchem Umfang eingeholt, daß es ihm schwerfiel, mit der Fülle des Materials zurechtzukommen. Auch wenn er eine Reihe seiner Pläne und Vorstellungen in die Tat umgesetzt hat und seine Regierungszeit (1848 – 1864) mit einer Anzahl bedeutender kultureller und sozia-

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ler, aus seiner Initiative hervorgegangener Gründungen verbunden bleibt, so übertrifft doch die Menge der ihm unterbreiteten und folgenlos gebliebenen Denkschriften die Zahl der realisierten Vorhaben um ein Vielfaches. Die Anforderungen Max II. an zahlreiche amtliche und außeramtliche Ratgeber haben ein ungeheures, im bayrischen Geheimen Hausarchiv verwahrtes, zur Gänze bis zum heutigen Tag noch nicht systematisch bearbeitetes Volumen an Exposés zustande kommen lassen. Sie bieten, von sehr unterschiedlichen Standpunkten ausgehend – der König legte stets Wert darauf, Beurteilungen ein und derselben Angelegenheit durch Männer verschiedener Auffassungen einzuholen –, ein unvergleichliches Panorama der geistigen, politischen und gesellschaftlichen Problematik um die Mitte des 19. Jahrhunderts. Die von Max II. angeordnete Erhebung über Bayerns Ultramontane lief sozusagen als Exkurs zu einer umfassenderen Statistik, die sich unter dem Titel „Übersicht über die numerische Stärke der politischen Parteien in den Provinzen“ erhalten hat42 und die im Hinblick auf das „Monarchische Prinzip“ als ausschlaggebendes Kriterium nur vier Kategorien unterschied: „a) Entschieden Konservative; b) Indifferente, mehr zum konservativen Prinzip Geneigte; c) Entschiedene Demokraten; d) Unverlässige, mehr zu der Demokratie Geneigte“. Auf Einzelheiten des der Erhebung zugrundeliegenden Verfahrens, die ausführenden Stellen und die leitenden Gesichtspunkte der Redaktion wird im folgenden nicht eingegangen. Auch kritische Bemerkungen zu den angewandten Methoden und Einwände gegen die Ergebnisse werden unterlassen. Festgehalten sei nur, daß man ausschließlich den männlichen Teil der Bevölkerung, allerdings bereits vom 14. Lebensjahre an (!), erfaßt hat. In der „Vorerinnerung“ heißt es, es könne „weder dem weiblichen Geschlecht noch den Kindern eine politische Meinung imputiert werden“43. Ergebnis der Zählung: 42 Sämtliche Unterlagen, auch für die folgende Erhebung über die bayrischen Ultramontanen, in: HStAM Abt. III (Geh. Hausarchiv), Nachlaß König Maximilians II. 76 / 6 / 36. Die Zusammenstellung des statistischen Materials einschließlich der beigefügten Bemerkungen dürfte aus der Hand des kgl. Sekretärs Leinfelder stammen. 43 Im Auszug folgen einige der Studie beigefügte Bemerkungen, die für den Standpunkt ihres Verfassers mindestens so aufschlußreich sind wie für die politische und konfessionspolitische Situation Bayerns im Jahre 1859: „1. Zu den Konservativen gehören meist die Adeligen, Beamten, Geistlichen, wohlhabende Bürger und Bauern. 2. Die katholische Bevölkerung ist in der Regel konservativer als die protestantische. 3. Landvolk und Arbeiter sind in der Regel indifferent; ihre Politik geht auf wohlfeiles Leben, wenig Abgaben und auf Entfernung mancher Polizeimaßregel, die ihnen nicht notwendig oder zu strenge scheint. 4. Entschiedene Demokraten finden sich zu meist unter den Literaten, Künstlern, abgehausten Bürgern und Bauern, Arbeitern, namentlich Gesellen, mitunter auch unter den Advokaten, Ärzten, dann unter jungen, sogenannten aufgeklärten Bürgern. 5. Zu den Unverlässigen gehört der größte Teil der sub Ziff. 4 aufgeführten Kategorien, dann die Studenten, Schreiber und anderes Subalternpersonal, mitunter manche Staatsdienstaspiranten und Justizbeamte, endlich überhaupt die Klasse der Unzufriedenen, welche durch

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Kategorie A = 1/2 der Bevölkerung; Kategorie B = 1/3 der Bevölkerung; Kategorie C = 1/48 der Bevölkerung; Kategorie D = 1/8 der Bevölkerung (sic!)44. Der Übersicht folgt als Spezialstudie ein Überblick über die „numerische Stärke der ultramontanen Partei in den Provinzen“, in dem zwischen Anhängern der „entschieden ultramontanen Partei“ und „zur Zeit indifferenten Personen mit vorwiegenden ultramontanen Gesinnungen“ unterschieden wird. Das Resultat der Erhebung unter der männlichen katholischen Bevölkerung oberhalb der „Diskretionsjahre“ (1 027 000 Seelen) ergab 16 866 (= 1 / 60) entschiedene Ultramontane und 98 444 (= 1 / 10) Sympathisanten. Der dem König vorgelegte Kommentar beruhigte den Monarchen mit den Worten: „Es dürften daher 54 / 60 (sic!), d. i. 9 / 10 übrig bleiben, welche zur Zeit als mit dem Treiben der ultramontanen Partei nicht einverstanden und in dieser Beziehung ganz verlässig zu betrachten sein mögen“. Folgende Stellen des Begleittextes verdienen Beachtung: „Die ultramontane Partei ist am meisten in Ober- und Niederbayern und einem Teile von Unterfranken vertreten, weniger in Schwaben und in der Oberpfalz. Sie besteht zunächst aus dem katholischen Klerus, der etwa mit 2 / 5 der Entschiedenen, mit 2 / 5 der z. Z. Schwankenden der ultramontanen Partei angehören (sic!) und von dem ein Rest von 1 / 5 völlig verlässig sein dürfte. Außerdem gehört zu den Leitern dieser Partei ein großer Teil des Adels, soweit dieser nicht dem Hof- und Staatsdienst angehört, dann ein Teil der Bürger und Landbewohner, welche letztere jedoch nur mehr der Leitung des Klerus und des Adels folgen. Bei dem bekannten Einflusse, welchen der Klerus und teilweise auch der Adel auf die niederen Klassen, besonders auf das Landvolk, üben, namentlich in Ober- und Niederbayern, wo die Intelligenz der Landleute auf keiner hohen Stufe steht, kann jedoch die ultramontane Partei, wenn sie auch numerisch unbedeutend ist, dennoch als intensiv verhältnismäßig stark bezeichnet werden“. eine andere Gestaltung der Dinge einen Vorteil zu erringen hoffen; auch gehört hierher ein Teil der Wirte, welche bei den Gelegenheiten, wie sie die Jahre 1848 und 49 brachten, einigen Nutzen zu ziehen hoffen und auf dem Lande meist die Tonangeber sind. 6. Die verhältnismäßig höhere Zahl der Indifferenten in den diesseitigen Provinzen gegen die Pfälzer dürfte im Nationalcharakter gelegen sein. Auch in den protestantischen und diesseitigen Provinzen ist die Zahl der Indifferenten geringer als in den katholischen Gegenden, weil die protestantische Religion an sich schon mehr der Entwicklung des Verstandes Spielraum gibt als der strenge Positivismus der katholischen Kirche und weil bis in die neueste Zeit ein großer Teil der protestantischen Geistlichen und Schullehrer ihre rationalistischen Gesinnungen auch unter dem Volk verbreiteten, dieser rationalistische Samen aber natürlich auch auf das politische Feld geweht und mitunter da zur Frucht wurde“. Unter „Indifferenten“ versteht der Autor offenbar die politisch Uninteressierten und unter „Positivismus“ den Dogmatismus der katholischen Kirche. 44 Die Tabelle wird vereinfacht wiedergegeben; ebenso die folgende Zusammenstellung über die Ultramontanen. Die Rechtschreibung ist durchweg modernisiert.

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Der Übersicht folgt ein auf den 13. Mai 1859 datiertes alphabetisches Verzeichnis von 172 namhaften Ultramontanen, an ihrer Spitze aus Gründen des Alphabets der Staatsrat Karl von Abel, der aber auch seiner historischen Bedeutung und seinen Fähigkeiten nach den ersten Platz verdient hätte. Die Tabelle enthält einige bekannte Namen der bayrischen Aristokratie, nur sehr wenige Angehörige der Bürokratie, der akademischen freien Berufe, des Lehrpersonals von den unteren bis zu den oberen Kategorien und ganz überwiegend Vertreter des gewerblichen Mittelstandes. Geistliche (darunter Theologen auf Lehrstühlen) werden überhaupt nicht aufgeführt. Dem Kommentar wäre hinzuzufügen, daß das schwäbische Kontingent dem unterfränkischen sehr nahe kam und der 1859 anscheinend geringfügige Anteil der Oberpfalz, dessen Ursachen nicht klar zutage liegen, sehr bald gestiegen ist. Bei Hofe und in Regierungskreisen galt der Ultramontanismus als verdächtig und nicht „verlässig“. Bezeichnenderweise ist im Kommentar vom „Treiben“ der ultramontanen Partei die Rede. Man dachte jedenfalls nicht daran, sie als Variante eines konservativen Blocks positiv zu würdigen. Die Statistik beweist das Vorhandensein einer organisatorisch zwar schwachen, aber nach Zahl der Anhänger schon beträchtlichen katholischen und politischen Bewegung auch in der Übergangszeit zwischen 1848 / 49 und dem parteipolitischparlamentarischen Durchbruch Ende der 1860er Jahre. Nach einer weiteren Intensivierung durch die Kasinobewegung hat dann die Neuorientierung in kleindeutschem Rahmen, wie bekannt, zu einer dauerhaften parteipolitischen Organisation des politischen Katholizismus geführt.

Der politische Katholizismus im Hohenzollernreich und die Außenpolitik Variationen zu einem weitläufigen Thema Außenpolitik ist nicht nur das Geschäft der Regierungen und der Diplomatie, sondern ebenso die Einflußsphäre der großen sozioökonomischen Interessen, der Ideologien und von Gesinnungsgruppen verschiedenster Art. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Beteiligung von „Religionsparteien“ an der Außenpolitik auch im 19. und 20. Jahrhundert. Unter den nichtchristlichen Religionsgemeinschaften haben z. B. im 20. Jahrhundert die Mohammedaner Asiens und Afrikas angesichts des italienischen Eingreifens in Tripolitanien und der Behandlung der Türkei nach dem I. Weltkrieg (Kalifatsfrage) internationale Aktivitäten entwickelt. Als bekannt darf das Engagement der jüdischen Bevölkerung der USA für den Staat Israel vorausgesetzt werden. In der christlichen Welt bilden die großen Bekenntnisse – obschon das sogenannte konfessionelle Zeitalter längst zu Ende gegangen und Entflechtung von Religion und Politik zum Prinzip eines säkularisierten öffentlichen Lebens geworden ist – auf Grund ihrer gesellschaftlichen und kollektivpsychologischen Beschaffenheit und der Reichweite ihres Lehrgehalts nach wie vor nicht nur geistig-geistliche, sondern auch politische Größen. Außenpolitische Dimensionen des politischen Katholizismus wie des politischen Protestantismus sind vorhanden. In den USA, einem Gemeinwesen mit völliger Trennung von Staat und Kirche als Verfassungsgebot, hat der Katholizismus z. B. seine Stellungnahmen zu antiklerikalen Regimen in Mexiko1, zu Franco-Spanien2, zur Neutralität im I. und II. Weltkrieg3, zur Politik des kommunistischen Rußland4 wie zur Besatzungspolitik Washingtons in Deutschland5 deutlich formuliert. Und es blieb bei Meinungsäußerungen in den Massenmedien nicht allein. 1 Vgl. S. E. Morison / H. St. Commager, The Growth of the American Republic II, NY. 1962, 614. 2 P. A. Poole, America in World Politics, NY. 1975, 91. – A. Guttmann, The Wound in the Heart: America and the Spanish Civil War, NY. 1968, 29 – 51; J. D. Valajk, Catholics, Neutrality and the Spanish Embargo 1937 – 39, in: Journal of American History 54 (1967), 73 – 85. 3 G. D. Herron, Woodrow Wilson et la Paix Mondiale, Genève 1919, 45 (die englische Fassung von 1917 lag dem Vf. nicht vor); W. S. Cole, America First. The Battle Against Intervention 1940 / 41, Madison, 1953, 87; M. Jonas, Isolationism in America 1935 – 1941, Ithaca, NY. 1966, 67, 92, 106, 113. 4 W. H. Chamberlin, Amerikas zweiter Kreuzzug, Bonn 1952, 84. 5 Vgl. F. Spotts, The Churches and Politics in Germany, Middletown, Connecticut 1973, passim. 5

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Im allgemeinen wird dieser Fragenkreis von den Historikern ziemlich vernachlässigt6. Manchmal gewinnt man den Eindruck, als würden sich Kirchengeschichte und Profangeschichte (und innerhalb dieser wiederum diplomatische Geschichtsschreibung und die Historiographie der öffentlichen Meinung) die Aufgabe der Erforschung des politischen Konfessionalismus gegenseitig zuschieben, jedenfalls soweit die auswärtige Politik in Betracht kommt. Hinsichtlich der inneren Politik sieht es besser aus; auf diesem Gebiet ist in den letzten Jahrzehnten viel nachgeholt worden. Als Beispiel für konfessionelle Anteilnahme an den internationalen Beziehungen sollen im folgenden außenpolitische Erwägungen und Optionen des deutschen politischen Katholizismus im Kaiserreich der Hohenzollern untersucht werden, einem Zeitraum, um dessen wissenschaftliche Erschließung sich der Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, besondere Verdienste erworben hat.

Politischer Katholizismus – keine monolithische Größe Obgleich primär vom Zentrum, seinen Staatsmännern, Parlamentariern und seiner Presse zu reden sein wird, bevorzugen wir den umfassenderen Begriff „politischer Katholizismus“. Es geht nicht an, die kirchliche Organisation als solche, ihren deutschen Episkopat und Klerus, auszuklammern, ebensowenig das katholische Vereinswesen oder die Katholikentage, denen seitens der Kurie und des Weltkatholizismus eine für die deutsche katholische Öffentlichkeit repräsentative Rolle zuerkannt wurde. Eine kirchenpolitisch zentrale Persönlichkeit wie der Breslauer Fürstbischof Kardinal Kopp z. B. stand mit dem Zentrum auf gespanntem Fuße, ohne deswegen als Repräsentant des deutschen politischen Katholizismus an Ansehen und Wirkung einzubüßen7. Beachtung fordern als potentielle Stützen eines politischen Katholizismus weiterhin die beiden katholischen Königshöfe im Bundesstaat, die durch verwandtschaftliche Beziehungen mit den anderen katholischen Häusern Europas eine, wenn auch nur marginale Position im Feld der internationalen Beziehungen hielten. Unabhängiger als die Wittelsbacher und Wettiner, die jeden politischen Schritt sorgfältig überlegen mußten, konnte sich die katholische Aristokratie deutscher und (preußisch)-polnischer Provenienz bewegen, die teils ebenfalls durch Familienbeziehungen in das katholische Europa integriert oder durch unmittelbare römische Kontakte mit dem Hlg. Stuhl verbunden war. Kein Zweifel, daß der noch regierende wie der nicht mehr regierende Hochadel, erst recht der niedere Adel, in die staatspatriotischen, nationalen, die nationalistischen und imperialistischen Denkkategorien ihrer Zeit eingebunden waren. Soweit jedoch bei den katholischen Vertretern dieser Schicht noch ins Gewicht fallende 6 Förderlich: M. Berle, Les Facteurs Religieux de la Politique Extérieure Française, in: R. Remond (Hg.), Forces Réligieuses et attitudes politiques dans la France contemporaine, Paris 1965, 311 – 345. 7 Vgl. R. Morsey, Georg Kardinal Kopp, Fürstbischof von Breslau (1887 – 1914). Kirchenfürst oder Staatsbischof, in: Wichmann-Jahrbuch für Kirchengeschichte im Bistum Berlin, Bd. 1967 / 69, 42 – 65.

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überstaatliche und übernationale Aktivitäten stattfanden, die politischer und nicht nur gesellschaftlicher Natur waren, spielten sie sich fast ausschließlich im kirchlich-konfessionellen Bereich ab. Der katholische Adel, der mehrheitlich zum Zentrum hielt und ihm zahlreiche Abgeordnete stellte, bildete unabhängig davon als gesellschaftspolitische Gruppe eine Größe sui generis. Fürst Karl Löwenstein etwa8, zeitweise für das Zentrum im Reichstag tätig, konnte doch in seiner Bedeutung als einer der Führer des deutschen Katholizismus und namentlich als langjähriger Präsident der Katholikentage von seiner Partei nicht absorbiert werden. Häufig verfolgten er und die Zentrumsführung eine völlig konträre Taktik, und dies hatte erhebliche Spannungen zur Folge. Schließlich existierte eine Anzahl von Publizisten und Gelehrten, Geistlichen und Laien, die nicht unmittelbar auf der Zentrumslinie operierten, aber auf jeden Fall vom politischen Katholizismus in Anspruch genommen werden konnten. Obschon Zentrumsparlamentarier, zählte J. E. Jörg, jahrzehntelang Herausgeber der „Historisch-Politischen Blätter“, zu ihnen, und erst recht stand ein katholischer Denker wie Max Scheler als politischer Katholik ganz für sich. Aus dem Gesagten geht hervor, daß der politische Katholizismus des Kaiserreichs, ganz abgesehen von den im Zentrum selbst aufgetretenen Spannungen, alles andere als eine homogene Größe gewesen ist. Dies muß man sich vor Augen halten, wenn man seine Stellungnahme zur Außenpolitik untersucht. Dazu kommen die generationsbedingten Unterschiede und das mit ihnen verbundene innere Verhältnis zum Bismarckreich, das das außenpolitische Denken nicht unbeeinflußt lassen konnte. Welche Verschiedenheiten, läßt man einmal die starken Divergenzen der relativ altersgleichen Gruppen untereinander aus dem Spiel, zwischen der Generation der Windthorst und Jörg einerseits, der Erzberger und Martin Spahn andererseits! Der Nationalisierungsprozeß des Zentrums, der generell für den gesamten politischen Katholizismus gilt, ist in neueren Darstellungen überzeugend beschrieben, aber auch schon von Zeitgenossen wie Kurt Riezler beobachtet worden9. Max Scheler sprach 1916 von dem „vielleicht übermäßigen und eminent heutigen Anpassungsprozeß der deutschen Katholiken an den neuen Reichsgeist“10. Als eine unter mehreren Motivationen trug zur Reichsverbundenheit die kirchenpolitische Überlegung bei, ob man hinsichtlich der Konfessionsschule und anderer der Kirche Vgl. P. Siebertz, Karl Fürst zu Löwenstein, München / Kempten 1924. J. J. Ruedorffer (K. Riezler), Grundzüge der Weltpolitik in der Gegenwart, Stgt. und Bln. 1914, 146; E. Deuerlein, Die Bekehrung des Zentrums zur nationalen Idee, in: Hochland 64 (1970), 432 – 449; R. Lill, Die deutschen Katholiken und Bismarcks Reichsgründung, in: Th. Schieder und E. Deuerlein (Hg.), Reichsgründung 1870 / 71, Stgt. 1970, 345 ff.; R. Morsey, Die deutschen Katholiken und der Nationalstaat zwischen Kulturkampf und I. Weltkrieg, in: H.Jb. 1970, 31 – 64; J. K. Zeender, The German Center Party During World War I. An International Study, in: The Catholic Historical Review XXXXII (1956 / 57), Washington D. C. 1957, 441 – 468; ders., The German Center Party 1890 – 1906, (Transactions of the American Philisophical Society, New Series – Vol. 66, Part 1) Philadelphia 1976. 10 M. Scheler, Soziologische Neuorientierung und die Aufgaben der deutschen Katholiken nach dem Kriege (1916), in: Christentum und Gesellschaft, I. Halbbd. Lpzg. 1924, 151. 8 9

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wertvoller Einrichtungen mit einer Alternative zum bestehenden System besser fahren würde. Zeender hat gewiß recht, wenn er meint, daß nach der Beilegung des Kulturkampfes die Bischöfe und der konservative Zentrumsflügel „der protestantischen Monarchie vor einer Demokratie nach französischem oder englischem Vorbild den Vorzug gaben“11. Man hat freilich bis zu einem gewissen Grad zwischen den preußischen und den nichtpreußischen Katholiken im Hohenzollernreich zu unterscheiden. Ausgenommen das katholisch-welfische wie das beim Zentrum hospitierende protestantisch-welfische Element, die sich beide sehr schwer taten, über das Jahr 1866 hinwegzukommen, hatte sich im politischen Katholizismus der ostelbischen wie der westlichen Provinzen Preußens im Laufe der Jahre, teils aus Gewöhnung, teils aber auch aus positiveren Gründen, eine Staatsloyalität entwikkelt, die sich die außerpreußischen Konfessionsgenossen für ihre jeweiligen Staaten und Herrscherhäuser reservierten und die ihnen bei aller Reichstreue einen etwas weiteren Spielraum ermöglichte. Beispielsweise konnten sich süddeutsche Zentrumsangehörige unbefangener zum Fortleben großdeutscher Traditionen bekennen als ihre Kollegen im preußischen Staatsverband. Erzberger hat dies im Reichstag offen ausgesprochen12. Es wird noch davon zu reden sein, welche außenpolitische Konsequenz sich aus der großdeutschen Tradition ergab.

Die europäische Konstellation und der Hl. Stuhl Bevor man nach außenpolitischen Tendenzen im deutschen Katholizismus des Kaiserreichs fragt, ist die europäische Konstellation der Zeit daraufhin zu überprüfen, ob sie noch Ansätze für politisch realisierbare konfessionelle Sympathien und Einverständnisse aufwies. Waren etwa Bestrebungen zur Bildung einer gegen das Hohenzollernreich gerichteten katholischen Koalition vorhanden, und welchen politischen Kurs steuerte der Vatikan? Allgemein bekannt ist, daß Bismarck der Vorstellung einer möglichen katholischen Einkreisung des Norddeutschen Bundes und später des Deutschen Reiches nachhing und die Stützung des süddeutschen Widerstands gegen eine preußisch-deutsche Einigung seitens des europäischen Ultramontanismus in Rechnung stellte13. Man weist u. a. darauf hin, daß zwischen 1868 und 1870 ein österreichisch-französisch-italienischer Militärpakt der Verwirklichung sehr nahe kam. Ferner unterliegt keinem Zweifel, daß unZeender, The German Center Party During World War I, 441 f. Vhdlg. des Reichstags, Bd. 233, S. 6161: „In meinen politischen Freunden steckt noch ein gut Teil des großdeutschen Gedankens. Wenn auch im Jahr 1866 zwischen Deutschland und Österreich ein Riß eingetreten ist, so besteht doch noch eine Reihe gemeinsamer Aufgaben zur Pflege des Deutschtums zwischen Deutschland und Österreich. Wir haben deshalb es auch freudig begrüßt und unterstützt, daß Fürst Bismarck im Jahre 1879 den ersten Schritt wieder getan hat, um das neugeschaffene und neu geeinte Deutsche Reich in engere Beziehungen zu Österreich zu bringen“. 13 Vgl. Fürst Bismarck, Gesammelte Werke (Friedrichsruher Ausgabe), Bd. XV, Bln. 1932, 284 f., 304 f., 360, 414 und E. Kolb, Der Kriegsausbruch 1870, Gött. 1970, 28 – 38. 11 12

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ter den politischen Kräften der Habsburgermonarchie die konservativ-klerikale Richtung nach 1866 „revanchistisch“ orientiert war und sich für ein Zusammengehen mit Frankreich einsetzte14. Ähnliche Absichten beherrschten den politischen Katholizismus Frankreichs im Zeitalter Napoleons III. und später. Stößt man zur Kernzone der internationalen Beziehungen vor, so reduziert sich die konfessionelle Komponente allerdings zur Nebensache. Am ehesten konfessionelle Färbung hätte vielleicht die Wahl eines bayerischen Prinzen zum König von Spanien erhalten, die das Prestige des Münchener Hofes gestärkt hätte und so indirekt dem Widerstand Süddeutschlands gegen die Pläne Berlins zugute gekommen wäre15. Die liberal-freimaurerische Regierung in Florenz jedoch, die auf dem Sprunge lag, sich der Stadt Rom bei nächster Gelegenheit zu bemächtigen, wird man gewiß nicht als ein Organ katholischer Politik bezeichnen dürfen. In Österreich dirigierte damals nicht nur der Protestant Graf Beust die Außenpolitik, sondern es war dort auch seit 1867 der Liberalismus politisch an die Macht gekommen, der sich innenund außenpolitisch vom Gegenteil konfessioneller Beweggründe leiten ließ. Gerade das Wiener Außenministerium hat in Paris fortwährend auf Preisgabe der Stadt Rom an den italienischen Partner gedrängt16. Frankreich schließlich ist als „Empire libéral“ in den Krieg von 1870 / 71 eingetreten, und soweit man den Pariser Entscheidungsprozeß der Julikrise von 1870 verfolgen kann, haben sich die Hauptakteure durchaus nicht von klerikalen Motiven leiten lassen. Ebensowenig läßt sich für die Mitte der 1870er Jahre von einer „katholischen“ Kombination gegen das deutsche Kaiserreich sprechen. Und hinsichtlich des Widerstands süddeutscher Staaten gegen Preußen hat man sorgfältig abzuschätzen, ob der Partikularismus oder die konfessionelle Einstellung schwerer wogen. Begründet wäre das konfessionelle Epitheton nur dann, wenn die politische Zwecksetzung vorherrschend von klerikalen Erwägungen ausgegangen wäre. Aber nicht einmal als gemeinsamer ideologischer Nenner eines antipreußischen Bündnisses hätte es sich verwenden lassen. Die Tatsache, daß es sich bei Frankreich, Italien und Österreich um Länder mit ganz überwiegend katholischer Bevölkerung handelte, rechtfertigt die heute noch gebräuchliche Terminologie „katholische Allianz“ nicht. Auf einem anderen Blatt steht, ob der Hl. Stuhl dauernd oder wechselnd auf außenpolitische Präferenzen festgelegt war, und ob man von seiner Seite versuchte, in solchem Sinne auf die Gläubigen Einfluß zu nehmen17. Gewisse Abhängigkeiten des Vatikans vom Frankreich Napoleons III. und von Österreich bis nach der Jahrhundertwende Vgl. H. Potthoff, Die deutsche Politik Beusts, Bonn 1968, 354. Vgl. Kolb, a. a. O., 29 f. 16 Potthoff, a. a. O., 294 f. 17 Zur Außenpolitik des Hlg. Stuhls vgl. Cl. Bauer, Der Vatikan im System der europäischen Bündnispolitik von 1870 – 1900, in: Hochland 30, 1 (1932 / 33) 385 – 402 mit einem Gesamtüberblick über das Thema Kirche und Weltpolitik; für unseren Zeitraum wichtigste neuere Arbeit Chr. Weber, Quellen und Studien zur Kurie und zur vatikanischen Politik unter Leo XIII. mit Berücksichtigung der Beziehungen des Hl. Stuhls zu den Dreibundmächten, Tüb. 1973. 14 15

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können hier ausgeklammert bleiben. Vorwegzunehmen ist, daß es weder vor noch nach dem Jahre 1870 eine kontinuierliche Linie päpstlicher Außenpolitik gegeben hat, ganz davon zu schweigen, daß sich im Vatikan meist mehrere Gruppierungen mit nicht nur kirchenpolitisch, sondern auch außenpolitisch unterschiedlicher Orientierung gegenüber standen. Die von Pius IX. und seinem Kardinalstaatssekretär vertretene außenpolitische Linie wird für die spätere Zeit seines Papats, abgesehen von ihrer stets frankophilen Tönung, von Chr. Weber in ihrer Verbindung mit den „partis vaincues“ der „integralistischen, altkonservativen Kreise des europäischen Ultramontanismus“ geschildert: „Französische Monarchisten, Karlisten, die hochfeudalen Kräfte Österreich-Ungarns, Anhänger der Bourbonen in Süditalien und altkonservative Katholiken in Deutschland, Belgien und der Schweiz; Kräfte die unter Pius IX. im Vatikan den Ton angegeben hatten. Es war eine ganze Welt von verzweifelt aufrecht erhaltenen Ansprüchen, von Verbitterung und Hoffen auf das große Wunder, das noch einmal die Veränderungen, die Europa zwischen 1859 und 1870 umgestürzt hatten, rückgängig machen sollte: niemand war als Anführer passender als der Papst“18. Leo XIII. distanzierte sich von dieser die Kurie belastenden Konstellation. Jahrelang verfolgte er eine Tendenz nicht nur des Ausgleichs mit dem Bismarckreich, sondern auch der politischen Orientierung an Berlin und Wien. Als diese nicht die gewünschten Früchte trug und das Hauptanliegen des Papstes, die Lösung der Römischen Frage, keine Fortschritte im Sinne der Kurie machte, wurde der prodeutsche Kurs durch eine dezidiert profranzösische Politik abgelöst, die überdies Rußland und die russisch-französische Allianz begünstigte19, aber am Ende so wenig eintrug wie die vorher eingehaltene Linie. Unter Pius X. erhielt die vatikanische Außenpolitik wieder neue Akzente. Wie dieser Papst die Situation zu Anfang des I. Weltkriegs beurteilte, welche Befürchtungen hinsichtlich Rußlands, des französischen und des italienischen Liberalismus im Vatikan bestanden, welche Politik Benedikt XV. während des Krieges zu betreiben sich genötigt sah, welche Kräfte schließlich an der Kurie dominierten und welche Motive den Papst zur Friedensnote von 1917 veranlaßten, ist Gegenstand einer weitläufigen Literatur20. Als Weber, a. a. O., X. Vgl. E. Winter, Rußland und das Papsttum II, Berlin 1961; ders., Rom und Moskau etc., Wien, München, Zürich 1972; Weber, a. a. O., passim. 20 Aus einer sehr umfangreichen Literatur greifen wir heraus P. Dirr, Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch, Mchn u. Bln. 1925, 206; F. Engel-Janosi, Österreich und der Vatikan 1846 – 1918, 2 Bde., Graz, Wien, Köln 1958 / 1960; K. Epstein, Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie, Bln. 1962; A. Hudal, Die österreichische Vatikanbotschaft 1806 – 1918, Mchn. 1952; W. Steglich, Die Friedenspolitik der Mittelmächte 1917 / 18 I, Wiesbaden 1964; ders., Der Friedensplan Papst Benedikts XV. vom 1. Aug. 1917 und die Mittelmächte, Wiesbaden 1970; ders. (Hg.), Die Verhandlungen des zweiten Unterausschusses des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses über die päpstliche Friedensaktion von 1917, Wiesbaden 1974. Das damals „nur für den Dienstgebrauch“ frei gegebene Buch W. Patins, Beiträge zur Geschichte der deutsch-vatikanischen Beziehungen in den letzten Jahrzehnten, Berlin 1942, enthält sehr interessantes 18 19

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Fazit bleibt festzuhalten, daß es dem HI. Stuhl nie leicht gemacht wurde und auch subjektiv nie leicht fiel, eine neutrale Rolle zu behaupten. Daß ihm katholische Staaten, wie Österreich, die der Kirche große Bewegungsfreiheit einräumten, besonders nahe standen, versteht sich von selbst. Aber das kirchenpolitische Verhalten eines Staates mußte nicht allein ausschlaggebend für die Gunst sein, die er bei der Kurie genoß. Hoffnungen auf eine Revision der Entscheidung von 1870 führten die Kurie mitunter auf politische Wege, die zu beschreiten den Katholiken des einen oder anderen Staates schier unmöglich war. Weder konnte sich die Kurie bei ihrem Entgegenkommen gegenüber Berlin in den 1880er und 1890er Jahren gegen das deutsche Zentrum durchsetzen, noch konnte sie den gesamten französischen Katholizismus bewegen, auf die Ralliément-Politik einzuschwenken. Die nationalen Bindungen, die allenthalben bestanden, beeinflußten nicht nur Episkopat, Klerus und Laien der verschiedenen Völker. Auch die Kurienkardinäle und Angehörige der römischen Prälatur ließen sich nicht schlechthin denationalisieren, obschon die Gesichtspunkte der Weltkirche für ihr Denken und Handeln Priorität beanspruchen durften. Die Geschichte der internationalen Behörden, namentlich der Generalsekretariate des Völkerbunds und der UN, enthält viele Beispiele dafür, welchen Schwierigkeiten man begegnete, wenn man versuchte, einen strikt übernationalen Charakter gegenüber allen Mitgliedern und Angehörigen geltend zu machen. Andererseits wäre es falsch, den Weltkatholizismus politisch nur als ein Kraftfeld nationaler Strömungen und Gegenströmungen zu analysieren, zumal sich die inneren Reibungen und Konflikte meist auf ganz andere als nationale Gegenstände erstreckten. Die kirchlich gesinnten Katholiken der ganzen Erde wünschten, so sehr sich die meisten von ihnen als Nations- oder Staatspatrioten fühlten, gleichzeitig unter allen Umständen die Unabhängigkeit, Selbstbehauptung und Einflußerweiterung ihrer Religionsgemeinschaft und damit auch des Hlg. Stuhls. Weder bei der Wahrung nationaler Positionen im kirchlichen Raum noch bei der erstrebten übernationalen Anerkennung und Durchsetzung kirchlicher Belange ließen sich eine genuin geistliche Kirchenpolitik und profane Politik voneinander trennen. Die eben skizzierten Sachverhalte sind als Prolegomena wohl unumgänglich, bevor man die staatlich begrenzte Zone des deutschen politischen Katholizismus betritt und seiner außenpolitischen Dimension nachgeht.

Nur innenpolitische Orientierung des Zentrums? Karl Bachem behauptet in seinem Werk über die Zentrumspartei, daß eine „positive Linie für eine auswärtige Politik des Zentrums“ nicht vorhanden gewesen sei21, und meint: „Eine solche war eben überhaupt nicht möglich“. Nach AusMaterial, ist jedoch ein Musterbeispiel dafür, wie Vorurteile einer vernünftigen Interpretation im Wege stehen können. Das Buch, das inzwischen zur Rarität geworden ist, wurde vom Vf. im Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes in Bonn benutzt. 21 K. Bachem, Vorgeschichte, Geschichte und Politik der deutschen Zentrumspartei V, Köln 1929, 382 f.; auch für das Folgende.

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führungen über die Schwäche und Orientierungslosigkeit des Zentrums anläßlich beider Haager Konferenzen wiederholt er: „Von einer selbständigen Politik der Zentrumsfraktion oder -partei für das Gebiet der auswärtigen Politik kann demnach keine Rede sein. Aus gelegentlichen Äußerungen von Zentrumsrednern ein zusammenhängendes System zusammenbrauen zu wollen, wäre aussichtslos.“ Es ist gewiß nicht zu bestreiten, daß für das Zentrum im Kaiserreich kirchen-, schul- und kulturpolitische Angelegenheiten, ferner das Paritätsproblem, kurzum die Interessenwahrung der katholischen Bevölkerung, ganz überwiegend im Vordergrund standen. Desgleichen ist Zeender zuzustimmen, wenn er seit 1879 vom Aufhören nennenswerter außenpolitischer Aktivitäten des Zentrums spricht und feststellt, daß die Zentrumsreden im Reichstag der gouvernementalen Linie folgten22. Bildete jedoch das Zentrum in dieser Hinsicht unter den Parteien des Kaiserreichs eine Ausnahme? Die Führung der auswärtigen Geschäfte war der Kontrolle des Reichstags im wesentlichen entzogen, und nur bei Gelegenheit von Etatberatungen, Vertragsabschlüssen oder ganz außergewöhnlichen Anlässen (Daily Telegraph-Affäre) ließen sich außenpolitische Gegenstände parlamentarisch thematisieren. Ein auswärtiger Ausschuß des Reichstags existierte nicht, und außenpolitische Arbeitskreise waren in keiner Partei vorhanden. Die innenpolitische Festlegung der gesamten deutschen Parteipolitik wird durch den Inhalt des größten Teils der Reichstagsverhandlungen wie der Parteiprogramme bestätigt. Andererseits läßt sich bei allen wichtigeren Parteien ein Fundus außenpolitischer Sympathien und Antipathien nachweisen. War die SPD Mitglied einer organisierten Internationale, so standen auch die anderen Parteien in einer unorganisierten und nur punktuell in Erscheinung tretenden, aber nachweisbaren internationalen Solidarität. Nicht nur der Sozialismus, auch der Konservativismus, der Liberalismus und der politische Katholizismus, mit dem allein wir es in der vorliegenden Abhandlung zu tun haben, waren internationale Größen. Man muß diesen Sachverhalt allerdings nüchtern sehen und davon Abstand nehmen, Internationalität mit Konspiration zu verwechseln. Das Zentrum, das in jeder Phase seines Bestehens über eine, wenn auch nur kleine Anzahl von Parlamentariern verfügte, die für die damaligen Verhältnisse als qualifizierte außenpolitische Sprecher gelten durften23, hat durch den Mund Hertlings wiederholt seinen Wunsch, wenn auch nicht gerade in dringender Form, zum Ausdruck gebracht, daß sich der Reichstag öfter mit außenpolitischen Gegenständen befassen möge24, eine Forderung, die dem Vordringen der öffentlichen Meinung im Terrain der auswärtigen Politik entsprach. Die allgemeine Demokratisierung ließ sich eben auch auf diesem Sektor des öffentlichen Lebens nicht aufhalten, und die Zentrumspresse und das politische katholische Zeitschriftenwesen suchten durch außenpolitische Berichterstattung und Stellungnahmen den bestehenden und wachsenden Informationsbedürfnissen gerecht zu werden. Aus der Zeender, The German Center Party During World War I, 444. Vor allem sind zu nennen Windthorst, Jörg, Lieber, Peter Spahn, Speck, Schaedler, Fritzen, v. Huene, Groeber, Hertling und Erzberger. 24 Vgl. Vhdlg. des Deutschen Reichstags Bd. 228, S. 1233 u. Bd. 231, S. 4215 f. 22 23

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Lektüre dieser Organe wird ersichtlich, daß Kontakte mit der katholischen Presse oder katholischen Gewährsleuten außerhalb des Kaiserreichs bestanden. Die Frage stellen, ob der Zentrumsspitze vor 1914 über die Reichsdiplomatie oder die bayerische Diplomatie außenpolitische Informationen zugänglich waren25, heißt nicht etwa, dem Durchsickern von Staatsgeheimnissen nachgehen, sondern erwägen, ob im Rahmen des Erlaubten für maßgebliche Parlamentarier die Möglichkeit außenpolitischer Horizonterweiterung bestand. Was die Beziehungen zu Rom betrifft, bedurfte es für die Zentrumsführung selbstverständlich nicht erst der Vermittlung durch die offizielle Diplomatie. Viel spricht dafür, daß seitens des aus Bayern stammenden Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt, Graf Max Berchem, über den Zentrumsführer Frhr. G. A. v. Franckenstein oder auch unmittelbare österreichische Kanäle Kenntnisse von der römischen Septenatsintervention an den österreichisch-ungarischen Botschafter in Berlin gelangt sind26. Doch ist dieser mehr 25 Der Zentrumsparlamentarier Prinz Franz Arenberg zählte zwar zur ersten Gesellschaft Berlins, hatte aber seine Jahre im diplomatischen Dienst hinter sich. Er wäre wahrscheinlich der letzte gewesen, von dienstlichen Kenntnissen der Parteiführung gegenüber Gebrauch zu machen. Ohne Zweifel haben selbstverständlich ebenso Beziehungen zwischen dem Unterstaatssekretär Graf Max Berchem, dem Zentrumsführer G. A. Frhr. von Franckenstein und dem bayerischen Gesandten in Berlin, Graf H. Lerchenfeld, bestanden wie später solche zwischen Lerchenfeld und Hertling, der überdies als bayerischer Ministerpräsident seit 1912 der Vorgesetzte des Diplomaten gewesen ist. Die Zahl adliger katholischer Diplomaten im Reichsdienst war nicht gering. Ihre Beziehungen zur katholischen Aristokratie, auch soweit diese dem Zentrum nahestand, waren primär gesellschaftlicher und nicht etwa politischer Art. Bezeichnend ist, daß auch von seiten sehr antiultramontaner Staatsmänner gegen katholische Diplomaten preußischer Herkunft, von denen in der ersten Garnitur Radowitz d. J., Radolin, Wolff-Metternich, Lichnowsky, Ratibor, Saurma-Yeltsch, Paul Hatzfeld zu erwähnen sind, nicht der leiseste Vorwurf der Illoyalität erhoben wurde, auch nicht gegen einen Aufsteiger bayerischer Herkunft wie Richard v. Kühlmann. Anders gegenüber dem alten süddeutschen katholischen Adel (soweit er nicht wie das überdies z. T. in Preußen domizilierte Haus Hohenlohe-Schillingsfürst über jeden „Verdacht“ erhaben war)! Die Baronin Spitzemberg trug zwar am 16. II. 1890 in ihr Tagebuch ein: „Quadt brachte den Grafen Wolfegg, der auch ins Auswärtige Amt eingetreten ist – ein wohl zu bemerkendes und hocherfreuliches Zeichen der Zeit, dieser Eintritt unserer katholischen jungen Standesherren in den Reichsdienst“. (Das Tagebuch der Baronin Spitzemberg, Gött. 1960, 269). Holstein hingegen bemerkte vier Wochen vorher: „Ich höre, daß in naher Zukunft verschiedene Angehörige antipreußischer ultramontaner Familien sich zum Eintritt in unsere Diplomatie melden wollen. Vielleicht Parole von Rom. Mir scheint, für uns haben solche Leute doch nur eine beschränkte Verwendung, da man sie doch nicht in alles einweihen kann . . . Über Arco – Paris höre ich nicht nur gute, sondern auch recht schlechte Urteile: Er wird von manchen Seiten als ein ungewöhnlich vorsichtiger, willensfester Kundschafter der Kirche betrachtet“ (W. Bussmann, Graf Herbert v. Bismarck. Aus seiner politischen Privatkorrespondenz, Gött. 1964, 555 f.). Ganz ähnlich äußerten sich Eulenburg und Bülow. (VgI. J. C. G. Röhl [Hg.], Philipp Eulenburgs politische Korrespondenz I, Boppard 1975, 472 und an zahlreichen anderen Stellen). Zum Komplex der konfessionellen Zusammensetzung des Ausw. Dienstes vgl. R. Morsey, Die oberste Reichsverwaltung etc., Münster 1957, 248 f. und L. Cecil, The German Diplomatic Service etc., Princeton 1976, 94 – 97. Es sei daran erinnert, daß den deutschen Bundesstaaten eine „auswärtige Landesgewalt“ zustand, und Bayern ein eigenes kleines diplomatisches Corps unterhielt, dessen Angehörigen die Gesinnungsgemeinschaft mit dem politischen Katholizismus frei stand.

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oder minder exzeptionelle Vorgang kaum von erheblichem Belang. Mehr fällt für unser Thema ins Gewicht, daß der politisch gebildete und kritisch gesonnene katholische Staatsbürger von den Presseorganen seiner Richtung auch außenpolitisch unterrichtet sein wollte. Angesichts der Verankerung des gläubigen Katholiken in seiner Kirche ist es schwer vorstellbar, daß ausgerechnet das Gebiet der internationalen Beziehungen aus seinem Weltbild ausgeklammert gewesen sein und sich auf diesem Feld keine spezifischen Stellungnahmen gebildet haben sollten. Wie sahen diese aus?

Außenpolitik als Weltkirchenpolitik oder kirchliche Weltpolitik Zentrumsblätter der Kulturkampfzeit und darüber hinaus unterschieden sich von den Organen der anderen Tagespresse nicht nur in inhaltlicher, sondern auch in einer bemerkenswerten formalen Hinsicht27. Kirchliche und politische Nachrichten erschienen nicht getrennt voneinander angeordnet, sondern gemischt auf ein und denselben Seiten. Dabei kam quantitativ den kirchlichen und konfessionellen Informationen meist das Übergewicht zu, und zwar nicht nur in der inneren, sondern auch der auswärtigen Politik. Dort, wo nichtkatholische Blätter fast ausschließlich über Ereignisse profaner Außenpolitik berichteten, las man in Zentrumszeitungen von Verlautbarungen des Hl. Stuhls, einem päpstlichen Segen für den auf den Thron gelangten Alfons XII. von Spanien, von Konflikten der brasilianischen Bischöfe mit ihrer Regierung, dem Zusammenschluß katholischer Polen in den USA, Kalamitäten der anglikanischen Kirche mit dem ihr angehörigen Bischof von Natal, von einer Kontroverse des Erzbischofs Manning mit Gladstone, Zwangskonversionen in Rußland, deutschen Pilgerzügen nach Rom, einer Zirkulardepesche des Fürsten Bismarck zur Papstwahl, von Fortschritten der katholischen Universität Loewen. Über mehrere Nummern erstreckte sich eine gelehrte kirchenrechtliche Abhandlung über das Recht der Päpste, Könige abzusetzen. Soweit nur einige einschlägige Nachrichten und Beiträge aus der Kölnischen Volkszeitung im ersten Quartal des Jahres 1875. Seit den 1880er Jahren machte sich allerdings ein zunehmender Gliederungs- und d. h. wohl auch Rationalisierungsprozeß bemerkbar, die Tendenz, Mitteilungen aus dem Weltkatholizismus unter der Rubrik „Kirchlimes“ oder „Aus der kirchlichen Welt“ zu sammeln und sich so dem allgemeinen Stil der in der Tagespresse längst üblichen Nachrichtenübermittlung anzupassen. Völlig versachlicht und „säkularisiert“ haben sich die in Frage stehenden Zeitungen allerdings nicht; ihr konfessioneller Charakter blieb selbstverständlich erhalten. Was aber ihren außenpolitischen Teil betrifft, so unterschieden sie sich – oberflächlich betrachtet – bis zum Vorabend des I. Weltkriegs nicht mehr wesentlich von den anderen bürgerlichen Blättern. Greifen wir indessen auf die noch in den 1870er Weber, a. a. O., 358 und L. Raschdau, Unter Bismarck und Caprivi, Bln. 1939, 165 f. Die Aussage des Vf. stützt sich vor allem auf die Durchsicht der Kölnischen Volkszeitung und der Germania. 26 27

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Jahren vorherrschende Nachrichtenstruktur zurück, so dürfte sie symptomatisch sein für eine so intensive Integration der Katholiken in ihre Kirche, daß ihnen deren Schicksale auch außerhalb der vaterländischen Grenzen als primär wichtiges Weltgeschehen erschienen oder daß es für sie zumindest neben der normalen Außenpolitik ihres Staates nicht weniger wichtige Dimensionen weltkirchlicher Vorgänge gab, die sich nun allerdings tatsächlich nicht unter der Rubrik „Kirchliches“ isolieren ließen, sondern in vielfacher Beziehung mit der internationalen Politik verflochten waren. Außenpolitische Konsequenz weltkirchlichen Denkens war es, wenn europäische Regierungen primär auf Grund ihrer Einstellung gegenüber der römisch-katholischen Kirche positiv oder negativ beurteilt wurden oder wenn man sich an Sympathiebezeigungen für ausländische oppositionelle Katholikenführer beteiligte. In besonderem Maße wurde der 1847 verstorbene Ire O’Connell, dessen Bild in manchen deutschen katholischen Häusern hing, solcher Kundgebungen teilhaftig und zum Typus des Glaubenshelden erhoben. Eine höhere Ehrung für deutsche Wortführer des politischen Katholizismus als „deutscher O’Connell“ konnte kaum ausgesprochen werden28. Als Politikum erfahrbar wurde für den vom Kulturkampf bedrängten deutschen Katholizismus die internationale konfessionelle Solidarität durch den Beistand, der ihm von fremden Episkopaten und dem kirchlichen Vereins- und Verbandswesen des Auslandes zuteil wurde, wie aus den Gästelisten der Katholikentage und den zahlreichen dort verlesenen Telegrammen und Adressen sympathisierender Glaubensgenossen außerhalb der Reichsgrenzen hervorging. Einen spezifischen Stellenwert im Rahmen der Weltkirchenpolitik hatten kirchliche Großveranstaltungen aus Anlaß päpstlicher Jubiläen (Organisation von Pilgerzügen nach Rom), internationale katholische Kongresse oder die Aktivitäten ebenfalls international zusammengesetzter sozialpolitischer Studienkomitees und -zirkel. Das außenpolitisch brisanteste Thema im weltpolitischen Rahmen war die sogenannte Römische Frage. Schon vor der Einverleibung Roms in das Königreich Italien hat die prekär gewordene Existenz des Kirchenstaates nicht nur die europäischen Kabinette beschäftigt, sondern gleichzeitig Opferwilligkeit und Einsatzbereitschaft der katholischen Bevölkerung zu zahlreichen Aktionen angespornt. Es ließ sich kaum vermeiden, daß sich die reguläre Außenpolitik der Mächte und der europäisch-katholische Solidarismus gegenseitig ins Gehege gerieten. In der letzten Phase der Selbständigkeit des Kirchenstaates wurde der Versuch gemacht, durch die Wiedereinrichtung des Peterspfennigs und die Gründung einer Michaelsbruderschaft, die beide der Werbung von Freiwilligen für die Verteidigung des Patrimonium Petri dienen sollten, und schließlich durch die Bildung von international zusammengesetzten Einheiten von Freiwilligen (päpstliche Zuaven) den Zusammenbruch der weltlichen Souveränität des Papstes zu verhindern29. Nach 1870 hat man eine große Anzahl von internationalen Aktionen unternommen oder vorbereiGermania 5. I. 1875. Vgl. K. Buchheim, Ultramontanismus und Demokratie, München 1963. Bericht eines Zeitgenossen: J. F. Schulte, Lebenserinnerungen I, Gießen 21908, 13 – 60. 28 29

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tet, um die Entscheidung dieses Jahres rückgängig zu machen oder wenigstens einen neuen und günstigeren modus vivendi zwischen dem Hl. Stuhl und Italien ausfindig zu machen. Die Genfer Vereinigung, ein internationales Gremium, geschart um den Bischof und späteren Kardinal Mermillod, und die von dem ehemaligen österreichischen Diplomaten Grafen Blome, einem Konvertiten holsteinischer Herkunft, als Chefredakteur geleitete „Correspondance de Genève“30 agitierten aggressiv für die Lösung der Römischen Frage im Sinne der Kurie. Französische Einflüsse auf diesen Zirkel und vor allem die radikale Feindschaft des Grafen Blome gegen Bismarck und das Hohenzollernreich ließen das Blatt in einen derartig feindseligen Ton gegen die Politik Berlins verfallen, daß nicht nur Bischof Ketteler, stets auch an staatspolitischen Notwendigkeiten orientiert, von ihm nichts mehr wissen wollte31, sondern selbst Fürst Karl Löwenstein, der den Kampf um die Römische Frage zu einem seiner Hauptanliegen gemacht hat, sich von dem Unternehmen zurückzogen32. Andere Angehörige des deutschen Adels ließen sich jedoch nicht davon abhalten, dem Organ weiterhin Beistand zu leisten33. Auch nachdem innerhalb der Genfer Vereinigung eine Schwerpunktverlagerung auf sozialpolitische Arbeit erfolgt war, fehlte es nicht an Neugründungen von deutschen und ausländischen Vereinigungen und Gruppierungen mit ähnlichen Zielen, die untereinander Verbindung hielten34. Die deutschen Katholikentage beschäftigten sich Jahr für Jahr mit der Römischen Frage. Je länger freilich die 1870 geschaffenen Tatsachen Bestand gewannen, desto mehr wurde die Forderung nach der weltlichen Unabhängigkeit des Hlg. Stuhls zur Pflichtübung und zur Verlegenheit35. Zunehmend war man auf den Katholikentagen um Abschwächung der die Römische Frage betreffenden Resolution bemüht36. Die Erleichterung, die für den loyalen Weltkatholizismus die Lateranverträge von 1929 bedeuteten, läßt sich nicht übersehen. Fast mutet es wie der bewußte oder unbewußte Versuch einer Transformation der Römischen Frage an, wenn Fürst Löwenstein im Zeichen wieder auflebender Weltfriedens- und Abrüstungspolitik die Idee eines Weltschiedsrichteramtes für den Papst ins Spiel brachte37. Der Gedanke hatte keinerlei Aussicht auf Verwirk30 Die Genfer Korrespondenz brachte es auf drei Jahrgänge. Vgl. Buchheim, a. a. O., 243 – 246. Zu Mermillod: J.-T. Belloc, Le Cardinal Mermillod, Fribourg 1892. Sehr aufschlußreich über BIome W. Klopp, Briefe des Grafen Gustav Blome an den Freiherrn Karl von Vogelsang, in: Jb. der Österr. Leo-Gesellschaft, Wien 1928, 142 – 302. 31 Vgl. J. M. Raich, Briefe von und an W. E. Frhr. v. Ketteler, Bischof von Mainz, Mainz 1879, 447; O. Pfülf, Bischof v. Ketteler (1811 – 1877) III, Mainz 1899, 138 f.; F. Vigener, Ketteler. Ein deutsches Bischofsleben des 19. Jhdts., Mchn. u. Bln. 1924, 649 und 661 – 663. 32 Siebertz, a. a. O., 289. 33 Die deutschen Mitbegründer der Genfer Korrespondenz waren Fürst Isenburg-Birstein, Frhr. v. Wamboldt, Frhr. v. Loë, v. Schroeter, Cajus Graf Stolberg-Stolberg. 34 Vgl. Buchheim, a. a. O., 419 – 426. 35 Charakteristisch Peter Spahn im Deutschen Reichstag 14. V. 1914 (Vhdlg. des Reichstags Bd. 295, S. 8849). 36 Vgl. Bachem IX, 1 – 64. 37 Vgl. Siebertz, a. a. O., 200 – 209.

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lichung, deutet aber, ohne daß Löwenstein auch nur entfernt von Verzichten des Hlg. Stuhls gesprochen hätte, die Möglichkeit von Kompensationen an und hätte, wenn ihm ein stärkeres Echo zuteil geworden wäre, immerhin zu einer Akzentverschiebung im Bereich der Diskussion um die Römische Frage führen können. Die außenpolitische Dimension der Römischen Frage komplizierte sich für die deutschen Katholiken, seit das Königreich Italien sich 1882 dem deutsch-österreichischen Zweibund von 1879 angeschlossen hatte. Italien und das Haus Savoyen erfuhren seitens der Zentrumspresse in den 1870er und 80er Jahren eine unfreundliche Behandlung38. Doch ging dies nicht soweit, daß das Zentrum oder der deutsche Katholizismus bereit gewesen wären, ihre Antipathien gegen den damaligen Widersacher des Hlg. Stuhls unverändert auf den Bündnispartner Berlins und Wiens und auf das System des Dreibunds insgesamt auszudehnen. In dieser Hinsicht hat man unterschieden, und Versuche der Kurie, den deutschen Katholikentag zu einer Distanzierung vom Dreibund zu veranlassen, scheiterten39. Jörg stand mit seiner Dreibundkritik, soviel man sieht, ziemlich allein. Allenfalls läßt sich eine betonte deutsch-katholische Wachsamkeit bezüglich der Dreibund-Treue Italiens feststellen40. Auf der anderen Seite hat die Wilhelmstraße Konzessionen an den Vatikan ohne Zweifel auch aus dem Grunde unterlassen, um den Dreibund-Genossen Italien bei der Stange zu halten. Holstein, der sich die Pflege eines guten Verhältnisses zum Quirinal besonders angelegen sein ließ, schrieb in diesem Sinne an Eulenburg: Selbst wenn der Papst von der besten Gesinnung gegen uns beseelt wäre, „so würde seine Macht lange nicht bedeutend genug sein, um uns den Kräfteverlust zu ersetzen, den wir erleiden, wenn Italien, mißtrauisch gemacht, sich von uns abwendet“41.

Ideologische Außenpolitik Unter ideologischer Außenpolitik soll im folgenden diejenige Auffassung der internationalen Beziehungen verstanden werden, die Staat und Nation in den Hintergrund treten ließ und statt dessen von internationalen Weltanschauungsfronten als Primärfaktoren des Geschehens ausging. Für ein solches Denken schwächte sich der Gegensatz zwischen innerer und äußerer Politik, aber auch zwischen den Völkern erheblich ab. Charakteristisch, wie sich die „Germania“ 1875 in einer mißfälligen Betrachtung über den Antilegitimismus der Orleanisten äußerte: „In Frankreich regiert, unter der Firma MacMahon und Septennat, der Orleanismus, der, wie er im eigenen Hause ein Gegner der Legitimität ist, überall ein solcher 38 Vgl. Germania 10. VII. 1887: R. v. Rochow spricht vom „sogenannten Königreich Italien“. Wiederholt wird Italien als „Raubstaat“ bezeichnet. 39 Bachem, a. a. O., IX, 37. 40 Vhdlg. des Reichstags Bd. 295, S. 8847 u. Bd. 233, S. 6134. 41 Röhl, a. a. O., I, 353 f.

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sein muß, denn ein Gesetz der Notwendigkeit zwingt die äußere und die innere Politik stets in die selben Bahnen“42. Strukturgeschichtlich gesehen, gehen die neuzeitlichen ideologischen Blockbildungen in erster Linie auf das konfessionelle Zeitalter zurück. Mit der Aufklärung und der Französischen Revolution treten sie in eine neue Phase ein43. Wiederum neue Varianten eines ideologischen Internationalismus entstanden seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts. Das Aufkommen der Wendungen rote, schwarze, goldene, grüne etc. Internationale deutet an, wie eine zunehmende Anzahl von Menschen die internationalen Vorgänge zu betrachten sich anschickte. Der integrale Nationalismus begriff sich als den wahren und gesunden Weg der Völker, die ins Verderben gerieten, wenn sie sich von Internationalen verlocken ließen. Demgegenüber hielten bedeutende geistige, politische und gesellschaftspolitische Mächte an ihrer grundsätzlich internationalen, menschheitlichen Fundierung fest. Zu ihnen zählte der politische Katholizismus, der allerdings keinerlei Gegensatz zwischen Patriotismus, Nationalbewußtsein einerseits und Universalismus andererseits zugestehen wollte und sich damit in Übereinstimmung mit den besten Traditionen aus der Geschichte des Nationalbewußtseins im 18. und frühen 19. Jahrhundert befand. Die Betonung der internationalen Solidarität wuchs bei den deutschen Katholiken oder nahm ab, je nachdem ihre Spannungen mit dem Staat sich verstärkten oder abschwächten. In diesem Zusammenhang ist festzuhalten, daß vereinzelt selbst die zum Schimpfwort gewordene Bezeichnung „ultramontan“ akzeptiert wurde. Aber alles in allem war es den Gegnern des politischen Katholizismus doch gelungen, diesem Begriff einen so fatalen Beigeschmack zu geben, daß man lieber darauf verzichtete, sich so zu benennen. Im folgenden geht es jedoch nicht um die Internationalität des politischen Katholizismus selbst, sondern um diejenigen Gruppierungen, die in seiner Vorstellungswelt als Anti-Internationalen gegen die religiös-politische Größe der Katholizität einzustufen waren. Im Hinblick auf gemeinsam vorhandene Tendenzen und gleichläufige Propaganda ihrer Widersacher war die Zentrumspresse im Recht, wenn sie von einer Internationale der Kulturkämpfer sprach und Fürst Bismarck bescheinigte, daß das neue Deutsche Reich zwar keine Freunde habe, die Kirchenpolitik des Reichskanzlers jedoch den Liberalismus in allen Ländern Europas auf ihrer Seite finde44. Ebenso entsprach es der Konstellation des 19. und 20. Jahrhunderts, wenn man nicht mehr primär den Protestantismus angriff. Es erfolgten zwar noch häufig genug Invektiven gegen diesen, denen nicht minder scharfe Ausfälle von protestantischer Seite gegenüberstanden. Aber man hatte längst erkannt, daß nicht der kirchlich verfaßte Protestantismus – obschon man der Reformation die Hauptschuld am ZusammenGermania 9. I. 1875. Vgl. H. Gollwitzer, Ideologische Blockbildung als Bestandteil internationaler Politik im 19. Jahrhundert (1965), jetzt in: ders., Weltpolitik und deutsche Geschichte, Göttingen 2008, 27 – 52. 44 Vgl. Germania 4. I. und 4. V. 1875 („Die Einigkeit der Kulturkämpfer ist von einer wahrhaft rührenden Internationalität“). 42 43

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bruch der Christlichkeit Europas beimaß – den internationalen Antiklerikalismus trug, sondern der Liberalismus in seinen verschiedenen Ausprägungen. Da nun eine internationale Organisation der liberalen Parteien damals nicht existierte, der politische Katholizismus in der Auseinandersetzung mit seinen Gegnern sein universalistisches Strukturprinzip jedoch auch bei diesen vermutete, konzentrierten sich seine Angriffe wie seine Abwehr auf eine dem Liberalismus verbundene und tatsächlich weltweit organisierte Gruppe, die Freimaurerei. Offizielle Äußerungen und Verdikte der Kurie gegen die „Sekte“, die politische Tagespublizistik des Katholizismus in Deutschland wie allen anderen Ländern und eine nicht unerhebliche Anzahl von kirchlich empfohlenen Schriften beschäftigten sich mit dem antikirchlichen Wirken der Freimaurerei, die so eine Darstellung als geheime und ausschlaggebende Macht hinter dem vordergründigen Treiben der Diplomatie erfuhr. Wenn es gelungen wäre, von der Priorität geheimer Mächte im Bereich der internationalen Beziehungen zu überzeugen, so hätte dies die Position der Römisch-Katholischen Kirche schon deswegen aufwerten müssen, weil sie sich als einzige ernst zu nehmende Gegenmacht gegen das von ihr als destruktiv empfundene Wirken der Freimaurerei im Rahmen einer ideologisierten Weltpolitik angeboten hätte. Aber die führenden Männer des politischen Katholizismus waren zu nüchtern und zu einsichtig, um sich auf solche Vorstellungen mit allzu doktrinärer Konsequenz einzulassen. Ideologisierte Außenpolitik im Sinne des Kampfes gegen die Weltfreimaurerei blieb für den deutschen politischen Katholizismus ein Nebenmotiv und wurde nie zum Leitmotiv. Immerhin – die Freimaurerei war häufiger Gegenstand katholischer Polemik als die ebenfalls ins Visier genommenen und angegriffenen Größen des internationalen Sozialismus oder des internationalen Kapitalismus. Die Demokratie hat man im Gegensatz zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts später kaum mehr geschlossen bekämpft, da sie innerhalb des konfessionellen Terrains sehr an Boden gewonnen hatte und auch für kirchliche Kreise mit Einschränkungen diskutabel geworden war. Unter dem Vorsitz des Fürsten Karl Löwenstein fand 1896 in Trient ein internationaler Antifreimaurerkongreß statt45, der jedoch infolge des zeitlichen Zusammentreffens mit dem Leo Taxil-Schwindel und ungenügender wissenschaftlicher Zurüstung schon von den Teilnehmern und Sympathisanten selbst als Mißerfolg angesehen wurde und dem ähnliche Veranstaltungen nicht mehr folgten. Zufall ist es wohl kaum, daß sich ein dem politischen Katholizismus verbundener bayerischer Diplomat, Franz von Stockhammern, später als Herausgeber der Bülow-Memoiren bekannt geworden, während des I. Weltkriegs auf deutschfeindliche Aktionen der französischen und italienischen Freimaurerei spezialisierte46. Heinz Brauweiler, ein namhafter katholischer Publizist, Freund Martin Spahns, veröffentlichte im I. Weltkrieg mehrere Beiträge zur Freimaurerei aus katholischer Sicht, darunter die Schrift „Die *** Brüder im Weltkrieg“47, in der er allerdings eine selbständige 45 46

Siebertz, a. a. O., 475 – 496 u. Buchheim, a. a. O., 470 ff. Vgl. Patin, a. a. O., 55 ff.

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und ausschlaggebende Initiative der Maurerei nicht behauptete und von dieser eher als einem „tauglichen Werkzeug“ sprach48. Bemerkenswert ist, was er über das katholische Echo auf einen Vorgang in Brüssel während des I. Weltkriegs berichtete. Dort hatte der Stadtrat ein Denkmal für den 1909 als Aufwiegler erschossenen spanischen Freimaurer Ferrer Guardia, Gründer einer Freidenkerschule in Barcelona, errichtet, das auf Weisung des deutschen Generalgouverneurs Frhr. von Bissing entfernt werden mußte. Rücksichtnahme auf das neutrale Spanien dürfte Bissing vor allem zu seinem Schritt veranlaßt haben. Brauweiler schrieb, die Maßnahme sei „zur großen Genugtuung der belgischen Katholiken und ebenso aller anständigen Spanier“ erfolgt, und berichtete an anderer Stelle über positive Reaktionen in Spanien49. Daß sich mit der kirchlichen Bekämpfung des internationalen Liberalismus und der Freimaurerei antisemitische Tendenzen verbanden, lag auf der Hand, doch hat der konfessionelle Antisemitismus noch Wurzeln anderer Art. Als ideologisierte Außenpolitik ist der kirchliche Kampf gegen die Freimaurerei nicht etwa deswegen zu bezeichnen, weil man nur mit Fiktionen gearbeitet hätte. Die Freimaurerei bildete, zumindest in den romanischen Ländern, eine höchst einflußreiche antiklerikale und auch in anderer Hinsicht politisch aktive Macht. Anfechtbar ist jedoch, welchen Stellenwert ihr der politische Katholizismus in den internationalen Beziehungen gab. Wenn man die französische Revolution, Liberalismus und Demokratie, die Einigung Italiens und die Beseitigung des Kirchenstaats primär als Werk der Freimaurerei interpretierte, begab man sich historisch und politisch ins Abseits und verstellte sich den Blick für geistige, gesellschaftliche und damit auch außenpolitische Zusammenhänge, die mehr zählten.

Kontinuierliche Option für Österreich Zahlreiche Deutsche diesseits und jenseits der Grenzpfähle zwischen dem Hohenzollern- und dem Habsburgerreich haben die Entscheidung des Jahres 1866 innerlich nie akzeptiert. Insbesondere in Süddeutschland blieb man sich eines besonders engen, von allen anderen auswärtigen Beziehungen sich abhebenden Verhältnisses zu Österreich bewußt, und nicht zuletzt war es der deutsche politische Katholizismus, der Österreich in der Tradition des alten Reiches und des Deutschen Bundes sah und es nie im strikten Sinn des Wortes als Ausland auffassen mochte. Prominente Katholikenführer des Hohenzollernreichs hatten sich vor 1866 für eine 47 H. Brauweiler, Die *** Brüder im Weltkrieg, Köln 1916. Aufschlußreich für das gleiche Thema vor allem M. Erzberger, Erlebnisse im Weltkrieg, Stgt. u. Bln. 1920, 137 – 158. Deutscher Spezialist für kirchliche Forschung zur Freimaurerei war jahrzehntelang P. H. Gruber, S. J. Die kirchlichen Stellungnahmen in Literatur und Presse sind unübersehbar. Ein relativ spätes Erzeugnis katholisch-antifreimaurerischer Literatur: P. Siebertz, Freimaurer im Kampf um die Macht, Hamburg 1938. 48 Brauweiler, a. a. O., 5. 49 Brauweiler, a. a. O., 31 u. 77.

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großdeutsche Lösung der nationalen Frage eingesetzt, und auch bei der ihnen folgenden Generation geriet die großdeutsche Überlieferung nicht in Vergessenheit. Entsprechend dem Thema dieser Untersuchung erörtern wir weniger die national- als die außenpolitische Seite der Beziehungen zwischen den beiden Kaiserreichen. Wir gelangen damit in eine Zone, in der der deutsche politische Katholizismus sein Gewicht in die Waagschale konkreter, „profaner“ Außenpolitik warf und einen deutlichen Standpunkt formulierte. Bachems These von der außenpolitischen Unbedarftheit des Zentrums und mit ihm des deutschen Katholizismus wird in diesem Punkt ergänzungsbedürftig. Mit Illoyalität gegenüber dem deutschen Reich und seinen Bundesstaaten hat die Option des deutschen politischen Katholizismus für Österreich nichts zu tun, wenn es auch verständlicherweise während des Kulturkampfes und gelegentlich auch später „Reichsverdrossenheit“ und proösterreichische Nostalgie gab. Ausnahmslos und durch die gesamte Epoche des Hohenzollernreichs hindurch hat der deutsche politische Katholizismus in einem möglichst engen Verhältnis zu Österreich die optimale außenpolitische Kombination gesehen und sich stets dafür eingesetzt, mit Wien durch dick und dünn zu gehen. Schon im Vormärz zeigte es sich, daß bewußt klerikale Innenpolitik in einem Staat des deutschen Bundes sich fast zwangsläufig mit österreichischer Orientierung verband (Ministerium Abel in Bayern). Die großdeutschen Bestrebungen um die Jahrhundertmitte waren zwar nicht mit politischem Katholizismus gleichzusetzen, aber im ganzen hat dieser der großdeutschen Richtung und damit dem Vorrang Österreichs den Vorzug gegeben. Der proösterreichische Standpunkt dieser Seite dominierte sogar in wirtschaftlichen Fragen, die von anderen Gruppen sehr anders eingeschätzt wurden. Rudolf von Delbrück notierte sich 1864: „Allen politischen und handelspolitischen Parteien Preußens – die entschieden ultramontane Partei allein ausgenommen – ist kein handelspolitischer Gedanke mehr antipathisch als derjenige einer Zolleinigung mit Österreich“50. Nachdem 1870 / 71 die Würfel gefallen waren, hat ein Programmentwurf des Zentrums Februar 1871 die Wiedergutmachung des „Bruderkriegs“ durch ein „festes nationales Bündnis mit Österreich“51 gefordert. Im deutschen Reichstag der siebziger Jahre begannen die die ganze Ära des Kaiserreichs anhaltenden Bemühungen von Zentrumsparlamentariern, die Gemeinsamkeit der deutschen und österreichischen Interessen nachzuweisen. Die Meinungsäußerungen im Parlament und in der Presse sind so geschlossen und kontinuierlich, daß man das engste Zusammenwirken von Berlin und Wien geradezu als das außenpolitische Credo des Zentrums bezeichnen kann. Selbstverständlich haben die Zentrumssprecher bei dieser Gelegenheit nie konfessionell argumentiert. Sie stellten stets die nationalpolitische Beweisführung in den Vordergrund. Bismarcks Zurückhaltung in der Balkanpolitik, d. h. seine Politik der freien Hand auch gegenüber Österreich, wurde von Windthorst entschieden kritisiert. Die von ihm gewünschte Haltung umschrieb er als Hilfestellung innerhalb 50 51

R. v. Delbrück, Lebenserinnerungen II, Lpzg. 1905, 323. W. Treue, Deutsche Parteiprogramme seit 1861, Gött. etc. 1954, 61.

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der „germanischen Völkerfamilie“52. Aufschlußreich ist in diesem Kontext die Wendung, daß die Bewohner des deutschen Reiches „in ein besonderes Staatswesen jetzt zunächst zusammengebraut“ seien. Den Zweibund von 1879 hat man in Zentrumskreisen einhellig begrüßt und als wenigstens teilweise Kompensation für das Unheil von 1866 aufgefaßt53. Windthorst bestätigte 1885 im Reichstag, „daß nach dem verhängnisvollen Jahre 1866 kein Akt größer und glücklicher für uns war, als daß die äußere Verbindung mit Österreich zu einer inneren Freundschaft geworden ist . . .“54. Noch vor der Beilegung des Kulturkampfs ergab sich so zwischen Zentrum und Reichsregierung auf dem Feld der auswärtigen Politik eine Koinzidenz, deren innenpolitische Begleiterscheinungen J. E. Jörg geschickt analysiert hat55. Es fehlte nicht an Besorgnissen des Zentrums, daß von seiten Bismarcks ungünstige Hintergedanken wider Österreich im Spiel sein könnten und von seiten des Deutschen Reiches zu wenig für Österreich getan würde. Die Rolle der selbsternannten Lobby Österreichs in der deutschen Außenpolitik setzte das Zentrum auch nach der Ära Bismarcks und Windthorsts fort. Bezeichnend hierfür ist die Betroffenheit, die Hertling, der nach Viktor Naumanns Zeugnis im Herzen stets großdeutsch gesinnt geblieben ist56, und andere Zentrumsredner im Reichstag an den Tag legten, als ihnen anläßlich der Annexionskrise 1908 die Versicherung des deutschen Beistandes für Österreich zu zögernd ausgesprochen zu sein schien57. Hertling hat zudem 1908 nachdrücklich davor gewarnt, daß die preußische Enteignungspolitik in Polen die Beziehungen zum österreichischen Nachbarn belasten könnte58. Option für Österreich war die ins Außenpolitische erfolgte Umwandlung des nie erloschenen großdeutschen Gedankens, einer nationalpolitischen und konfessionellen Größe, soweit er vom politischen Katholizismus verfochten wurde. Die in Preußen erscheinenden katholischen Organe führten in dieser Hinsicht selbstverständlich eine andere Sprache als die Münchener Historisch-Politischen Blätter. Und nicht nur das! Auch ihre Staatsloyalität schuf Unterschiede zu manchen süddeutschen Positionen. Aber deswegen kann man die großdeutsche Tradition nicht als süddeutsche Spezialität bezeichnen. 1896 konnte man in der Kölnischen Volkszeitung lesen: „Wenn der Verslavungsprozeß Österreich-Ungarns immer weiter fortschreitet, wenn die österreichische Reichsregierung dem Slawentum freundlich entgegenkommt trotz der immer stärkeren Gefährdung des Deutschtums, zuerst notgedrungen, dann aus eigenem Antriebe, ist dies die Folge jener Politik, die an Stelle eines großen Deutschland ein Großpreußen, an Stelle eines Reiches mit stark katholischer Bevölkerung ein protestantisches Reich zu setzen suchte, die Österreich aus Deutschland abdrängte und durch die Anbahnung des 52 53 54 55 56 57 58

Vhdlg. des Reichstags, Bd. 47, S. 103. Vgl. K. Epstein, a. a. O., 91. Vhdlg. des Reichstags, Bd. 81, S. 1804. Hist.-Pol. Bl., Bd. 84 (1879), 792. V. Naumann, Profile, Mchn.-Lpzg. 1925, 22. Vhdlg. des Reichstags, Bd. 233, S. 6009, 6134, 6161 f. sowie Bd. 237, S. 8631. Vhdlg. des Reichstags, Bd. 231, S. 4221.

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Dualismus den österreichischen Kaiserstaat spaltete, schwächte und, was darin deutsch war, dem Slawentum überantwortete. Der Früchte dieser Bismarckischen Politik freuen sich mit Recht die Franzosen, welche auf den Panslawismus als Bundesgenossen zur Niederwerfung Deutschlands hoffen“59. Mit dem großdeutschen hängt der mitteleuropäische Gedanke zusammen, der sich ebenfalls nicht auf konfessionelle Parteigänger beschränkte, aber dem politischen Katholizismus besonders nahe stand. Spezialist für die Mission Österreichs im Südosten und die Verbindung der mitteleuropäischen Konzeption mit der Orientalischen Frage ist Josef Edmund Jörg gewesen. Katholisch-universalistische und großdeutsche Überzeugungen führten ihm die Feder. Seine Tagesschriftstellerei in den Historisch-Politischen Blättern, die Rubrik „Zeitläufte“, sind zwar, wie erwähnt, nicht als parteioffiziell oder parteioffiziös zu bezeichnen. Aber wenn man Jörg im Reichstag bei den seltenen Gelegenheiten zu Wort kommen ließ, wo es überhaupt um Außenpolitik ging, und er bei dieser Gelegenheit seine großdeutsche und mitteleuropäische Gesinnung bekannte, so spricht auch dies dafür, daß man über die süddeutschen Kreise hinaus innerhalb der Zentrumspartei ihm auf diesem Gebiet nahestand. Windthorst hat stets auf der Linie Jörgs argumentiert60. Als Martin Spahn den Weg zu Mitteleuropakonzeptionen einschlug, hat er bekannt, daß er in Jörg seinen Lehrmeister verehre61. Als in den letzten Jahren vor dem I. Weltkrieg eine einflußreiche Gruppe deutscher Diplomaten den Plan eines großen mittelafrikanischen Kolonialreichs als friedlich zu erringende weltpolitische Alternative zu der Flottenpolitik von Tirpitz oder der Konzentration auf den Nahen Osten entwickelte, richtete sich die Polemik ihrer von Hans Plehn in Zusammenarbeit mit Richard von Kühlmann anonym verfaßten Programmschrift „Deutsche Weltpolitik und kein Krieg“ (1913) charakteristischerweise besonders gegen die Zentrumspartei, weil man ihre außenpolitischen Tendenzen als einer großdeutsch-mitteleuropäischen, proösterreichischen und an der Orientalischen Frage ausgerichteten Vorstellungswelt entsprungen ansah62. Der Verfasser knüpfte an einen Artikel Martin Spahns im „Tag“ vom 15. XII. 1912, „Österreichs Sache, unsere Sache“63, an und bemerkte dazu: „Die Politik, die hier Kölnische Volkszeitung 7. VIII. 1896. Vhdlg. des Reichstags, Bd. 45, S. 788 f. 61 M. Spahn, Selbstbiographie, in: v. Arnim und v. Below (Hg.), Deutscher Aufstieg, Bln. etc. 1925, 484: „. . . von allen katholischen Politikern verdanke im ihm am meisten“. 62 An. (Hans Plehn), Deutsche Weltpolitik und kein Krieg, Bln. 1913, 61 – 78; auch für das Folgende. 63 Zitiert nach Deutsche Weltpolitik etc., 61 f.: „Es gilt da im Volksbewußtsein Fäden neu zu knüpfen, die 1866 durch unausweichbare geschichtliche Notwendigkeiten deutschen Volksschicksals zerrissen wurden. Die großdeutsche Publizistik, ganz durchtränkt von auswärtigem Interesse, hatte auch ganz bestimmte praktische Aufgaben vor Augen, über die sie mit der Sicherheit eines instinktiven nationalen Empfindens redete. Deutschlands einziger ernster Nebenbuhler sei England; zum Wettbewerb mit England müsse alles, was deutschem Einflusse erreichbar sei, zusammengefaßt werden von Hamburg bis Triest. Ebenso müsse 59 60

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von Professor Spahn vertreten wird, ignoriert alle überseeische Weltpolitik. Sie stellt sich als eine kontinentale Kolonialpolitik dar, die auf die Balkanhalbinsel gerichtet ist“. Anschließend griff Plehn auf Windthorsts Reichstagsrede vom 19. II. 1878 und ihre Stellungnahme in der Orientalischen Frage zurück. Er widersprach Hanotaux, weil er die Rede Windthorsts als „pangermaniste“ bezeichnet hatte, unterschied genau zwischen Alldeutsch und Großdeutsch, gab aber zu, daß seit Ende der 1890er Jahre eine „Vermischung großdeutscher und alldeutscher Ideen“ eingetreten sei. Plehn gab sich große Mühe, alle sachlichen Gründe aufzuführen, die gegen eine deutsche Festlegung auf die Balkanländer und das Osmanische Reich sprachen. Seine Erwähnung Spahns, weit mehr aber Windthorsts, verfolgte zwischen den Zeilen unverkennbar den Zweck, bei den Lesern die Mitteleuropapolitik als eine Zentrumssache zu diskreditieren und das Ansehen Bismarcks gegen Windthorst auszuspielen: „Eine Unterstützung der österreichischen Balkanpolitik hat Bismarck stets auf das entschiedenste bekämpft, und die Frage liegt heute genau ebenso wie vor 25 Jahren, wo Bismarck die Windthorstsche Auffassung zurückwies. Sollen wir heute der Autorität Bismarcks folgen oder der Windthorsts?“64. Weitere außenpolitische Positionen Kontrapunktisch zu seiner Austrophilie zieht sich durch die Stellungnahmen des deutschen politischen Katholizismus auf dem Gebiet der internationalen Beziehungen eine feindselige Tendenz gegenüber dem Zarenreich. Von den zeitweisen Annäherungsversuchen des Hl. Stuhles an Rußland, namentlich unter Leo XIII., blieb diese Haltung völlig unberührt. Der katholische Antirussismus richtete sich zunächst gegen die konkurrierende russisch-orthodoxe Kirche, die als Staatskirche den römischen Katholizismus niederhielt oder, wie man vielleicht richtiger sagen würde, dem Zarenreich zu Zwecken gleichzeitig konfessioneller und staats- und nationalpolitischer Integration zu willen sein mußte. Gleich den anderen katholischen Presseorganen Europas haben auch die deutschen die Zwangsbekehrungen in Rußland oder Verfolgungen römisch-katholischer Minoritäten in Montenegro oder Albanien vor die Weltöffentlichkeit gebracht. Peter Spahn hob 1912 im Reichstag nachdrücklich die Gefahr eines russischen Vordringens auf dem Balkan unter konfessionellen Gesichtspunkten hervor65. alles zusammengefaßt werden für den Augenblick des Zusammenbruches der Türkei, damit der Stillstand in der Donau-abwärts-Entwicklung deutschen Einflusses und deutscher Kultur von den anderen nicht verewigt, viel mehr endlich behoben werde. Das war der Haupteinwand der Großdeutschen gegen ein Kleindeutschland, wie es 1870 verwirklicht wurde, daß die Konzentration des deutschen politischen Denkens und Handelns auf diese beiden Aufgaben und die ursächliche Erkenntnis ihres Zusammenhanges gefährdet werden würde. Haben die großdeutschen Warner so unrecht gehabt?“ Vgl. ferner Vhdlg. des Reichstags Bd. 284, S. 2484. 64 Deutsche Weltpolitik etc., 64. 65 Vhdlg. des Reichstags, Bd. 284, S. 2485.

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Bei einer der seltenen Gelegenheiten, die es einem Landtag im Kaiserreich ermöglichten, über Außenpolitik zu diskutieren, der Beratung über die Verlängerung des bayerisch-russischen Auslieferungsvertrages von 1869, nahm 1885 die Mehrheit der dem bayerischen Zentrum angehörigen Mitglieder der Kammer der Abgeordneten unter Führung des Fraktionsvorsitzenden Julius Kopp wie anderer ihrer Parlamentarier in scharfer Form gegen das Zarenreich Partei66. Wenn man den Anlaß gleichzeitig nützte, um der liberalen Münchener Regierung am Zeug zu flikken, so änderte dies nichts daran, daß die Ausführungen der Abgeordneten ihrer politisch-konfessionellen Überzeugung entsprachen. Von geringen Nuancen abgesehen, wurde in einer politischen Diktion argumentiert, die sich von derjenigen der liberalen kaum unterscheiden ließ. Der Abgeordnete Frhr. von Papius verband mit den Vorwürfen an die Adresse des Zarenregimes sehr deutliche Kritik an der Polenpolitik der preußischen Regierung, insbesondere an den Ausweisungen von Polen nach Rußland und den daraus hervorgehenden russischen Repressalien. Er erinnerte daran, daß man die bei den Teilungen den Polen gemachten Versprechungen nicht gehalten, und rühmte das Beispiel Österreichs, das durch humane Behandlung die galizischen Polen zu treuen Untertanen des Kaisers erzogen habe. Die konfessionell bedingte polonophile Tendenz des Zentrums, das sich während der gesamten Dauer des Kaiserreichs der polnischen Bevölkerung Preußens und ihrer Vertretungen im Reichstag und preußischen Landtag angenommen hat, trug zwangsläufig einen antirussischen Akzent. Leider liegt noch keine Spezialuntersuchung über das von Spannungen gewiß nicht freie Verhältnis der Zentrumspartei und ihrer Fraktionen im Reichstag und im preußischen Landtag zu den Polen im Königreich Preußen vor. Mit Sicherheit läßt sich jedoch behaupten, daß angesichts eines unter allen Völkern damals grassierenden extremen Nationalismus sowohl das Moment der Konfessionsverwandtschaft wie der sozialethische Gehalt der christlichen Lehre es dem Zentrum ermöglichten, einen den polnischen Interessen entgegenkommenden Standpunkt einzunehmen. Während des I. Weltkriegs hat man im Zentrum die Ludendorffschen Polenpläne nicht gebilligt, sich einesteils (Erzberger) für die austropolnische, andernteils (mehrheitlich) für eine eigenständige polnische Lösung ausgesprochen und u. a. die Abtretung des Cholmer Landes an die Ukraine abgelehnt67. Als unerläßlich erschien dem Zentrum selbstverständlich die Loslösung der polnischen Nation von Rußland. Eine russische Gefahr konstatierte man nicht nur unter unmittelbar konfessionellen Gesichtspunkten, sondern auch unter dem zeitgemäßen Aspekt der Auseinandersetzung zwischen Germanismus und Slawismus bzw. Panslawismus, und dies lief wiederum auf Sorge vor den inneren und äußeren Bedrohungen Österreich-Ungarns hinaus. Es ist kaum zuviel gesagt, wenn man der antirussischen Haltung des politischen Katholizismus primär seine austrophile Tendenz zugrunde legt, eine Tendenz, die sich bei Kriegsbeginn auch mit bekannten kurialen Äußerungen deckte. 66 Bayerischer Landtag. Sten. Berichte, Vhdlg. Kammer der Abg. 1885 / 86, Bd. 4, 201 – 220 und 300 – 320. 67 Vhdlg. des Reichstags, Bd. 311, S. 4005. Vgl. F. Wacker, a. a. O., 64, 68, 80.

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Der katholischen Festlegung gegenüber Österreich und Rußland entsprach keinerlei Konsensus gegenüber England und Frankreich. Wenn die katholische Presse über England schrieb, wurde gelegentlich konfessionelle Kritik geübt. Man wußte jedoch, daß die Lösung der irisch-katholischen Frage im Vereinigten Königreich sich auf besserem Wege befand als die der polnisch-katholischen im Zarenreich. Bis zum Einsetzen des weltpolitischen Kurses der deutschen Außenpolitik läßt sich eine vorwiegend englandfreundliche Tendenz des Zentrums konstatieren68. Im großen und ganzen schloß sich die Zentrumspresse der allgemeinen im Deutschen Reich erzeugten und herrschenden Stimmung hinsichtlich Englands und Frankreichs ohne Geltendmachung konfessioneller Gesichtspunkte an. Freilich – und darauf wird zurückzukommen sein – meist um einige Grade gedämpfter und zurückhaltender. Erzberger, der für England nicht viel übrig hatte und über es wahrscheinlich auch nicht genügend wußte69, sagte 1908 im Reichstag: „Ich bekenne offen, daß die Besserung unserer Beziehungen zu Frankreich, die ich für viel wichtiger halte als alles Nachlaufen und Anbiederei gegenüber England, notwendig ist. Wenn Deutschland, Österreich und Frankreich, diese drei Mächte im guten Einvernehmen zueinander stehen, dann ist das die beste Bürgschaft für die Erhaltung des Weltfriedens, dann kann England, selbst wenn es wollte, nicht einen Krieg provozieren“70. Die Realisierung von Erzbergers Konzept wäre auf ein erweitertes Mitteleuropaprogramm hinausgelaufen, wie es zu seiner Zeit des öfteren vertreten wurde und vom politischen Katholizismus sehr wohl bejaht werden konnte. Der vollen Hingabe an das Ziel eines Ausgleichs mit Frankreich stand nun allerdings die dortige Vorherrschaft des laizistisch-antiklerikalen Elements entgegen, die von der Zentrumspresse und dem gesamten politischen Katholizismus Deutschlands fortwährend zum Gegenstand von Kritik gemacht wurde. Als ein Beispiel unter ungezählten gleichen Tenors seien einer Betrachtung der „Germania“ vom 4. I. 1913 folgende Kernsätze entnommen: „Man verfolge nur das Spiel der Verhältniswahl im Senat und man wird klar erkennen, daß die Clique von Freimaurern und Geschäftspolitikern, die jahrzehntelang Frankreichs Unglück bedeutete, heute noch das Heft in der Hand hat . . . Unter dem dämonischen Einfluß dieser Gewaltigen gleitet die Republik immer tiefer auf die schiefe Ebene, auf die sie der größte Atheist in den letzten Jahrzehnten gedrängt hat. Auf allen Gebieten des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens macht sich die Folge des Regierungssystems der Freimaurer in verderblicher Weise geltend“71. Im Prinzip stand man bei allen romanischen Staaten vor dem gleichen Dilemma. Auch Italien, Spanien, Portugal, Belgien erfreuten sich gewiß konfessioneller Sympathie und der besonderen Aufmerksamkeit der deutschen katholischen Presse. 68 69 70 71

Vgl. Zeender, The German Center Party 1890 – 1906, 89. Vgl. K. Epstein, a. a. O., 462 ff. Vhdlg. des Reichstags, Bd. 233, S. 6163 – 6168. Germania 4. I. 1913.

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Aber deren besorgte Berichterstattung und Kommentare mußten sich primär mit dem in den romanischen Ländern intransigenter als anderswo auftretenden Antiklerikalismus beschäftigen. In den 1870er Jahren hat man sich für die konfessionelle Sache noch am meisten durch Anlehnung an den Legitimismus versprochen; z. B. erklärte sich die Kölnische Volkszeitung ganz entschieden für Don Carlos und gegen Alfons XII. in Spanien72. Später hat man auf diese Allianz keinen großen Wert mehr gelegt. Unabhängig von der Festlegung auf die Staatsform blieb jedoch der Gegensatz zwischen einer (nicht schlechthin, aber vorwiegend) konservativen, katholischen und einer antikatholischen, liberal-demokratischen und sozialistischen Front in diesen Staaten bestehen, und es war selbstverständlich, daß der deutsche politische Katholizismus für jene Partei ergriff. Die Zentrumspresse konnte darüber hinaus eine häufig diskutierte Streitfrage aus der Ära des Kaiserreichs nicht umgehen, die die angebliche Dekadenz bzw. die politische Inferiorität des Romanentums zum Gegenstand hatte und in der Ermittlung der Ursachen bald ethnische, bald konfessionelle Motive in den Vordergrund stellte73. Man sah sich nicht ohne Grund angegriffen, wenn der Katholizismus als entscheidender Faktor für den Niedergang der romanischen Staaten ins Spiel gebracht wurde, und suchte sich dadurch zu helfen, daß man Freimaurerei, Aufklärung und Liberalismus als die wahren Schuldigen für Vorgänge hinstellte, die allerdings zum Nachdenken herausforderten.

Entwürfe zur Europapolitik und Weltpolitik Die spezifisch katholischen Varianten der Reichsidee74 wie des Mitteleuropagedankens und anscheinend auch in Zentrumskreisen vorhandene Neigungen zu einem Kontinentalbündnis (allerdings ohne Rußland)75 konnten zu einem konfessionell getönten Europäismus führen; eine solche Tradition des katholischen politischen Denkens läßt sich nachweisen. Der Europagedanke wiederum implizierte in der Zeit des Kaiserreichs schon stets weltpolitische Stellungnahmen. In katholischen Organen wurde die Weltpolitik allerdings häufig mit Skepsis verfolgt, und Bedrohungen, die sich aus ihr tatsächlich oder vermeintlich für Europa ergaben, hat man mit Besorgnis registriert. So dürften die Historisch-Politischen Blätter vielen ihrer Gesinnungsgenossen aus dem Herzen gesprochen haben, wenn sie anläßlich des von Jörg bereits Jahrzehnte vorher prophezeiten spanisch-amerikanischen Germania 9. I. 1875 und Kölnische Volkszeitung 28. II. 1875. Vgl. H. Gollwitzer, Zum politischen Germanismus des 19. Jahrhunderts, in: Festschrift für Hermann Heimpel, 1. Bd. Gött. 1971, 282 – 356 und die vom Vf. veranlaßte Arbeit von K. Panick, La race latine. Politischer Romanismus im Frankreich des 19. Jahrhunderts, Bonn 1978. Publizistisch erneut aufgegriffen hat das Thema A. Peyrefitte, Le mal français, Paris 1976. 74 Vgl. Kl. Breuning, Die Vision des Reiches. Deutscher Katholizismus zwischen Demokratie und Diktatur 1929 – 1934, München 1969. 75 Vgl. Anm. 66. 72 73

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Krieges eine wenig freundliche Gesinnung den USA gegenüber an den Tag legten und unerwünschte Folgen eines Sieges Nordamerikas für Europa als Ganzes ausmalten76. Außenpolitik und Publizistik über internationale Beziehungen ließen sich im Kaiserreich schon nicht mehr voneinander trennen. Ihre Interdependenz bildete einen Ausschnitt aus der allgemeinen Demokratisierung des öffentlichen Lebens und bestand u. a. in Ideologisierung, Hervortreten von Konzeptionen, die man der zünftigen Diplomatie aus den Kreisen der Presse nahezubringen versuchte, Meinungsbildung politischer Gruppen, die außen- und innenpolitische Zielsetzungen zu verbinden suchten. So gab es auch im katholischen Lager außenpolitische Entwürfe, die sich wiederholten und als die Quintessenz dessen angesehen werden durften, was an konfessionell orientiertem Nachdenken über internationale Beziehungen im Gange war. Vielleicht läßt sich diese Quintessenz im Gegensatz zu einer konfessionell indifferenten europäischen Politik als katholisch-abendländisch umschreiben77. Josef Edmund Jörg78, der uns bisher primär als Großdeutscher und Spezialist für die „Orientalische Frage“ begegnet ist, hat solche Konzeptionen im Geist und Stil des neunzehnten, Max Scheler hat sie aus der Mentalität und mit der Sprache des frühen zwanzigsten Jahrhunderts zum Ausdruck gebracht. Man muß bei Jörgs „Zeitläuften“ zwischen Variablen und Konstanten unterscheiden. Äußerst veränderlich waren seine weltpolitischen Kombinationen. In der Zeit des Krimkriegs nahm er einen globalen Gegensatz zwischen „schismatischkosakisch“ und „protestantisch-republikanisch“, zwischen dem Zarenreich und den Vereinigten Staaten als künftig bestimmender Weltkonstellation an, anfangs der siebziger Jahre fabelte er von einer kommenden russisch-deutsch-amerikanischen Weltherrschaft und gegen Ende des Jahrhunderts gewann für ihn eine britisch-amerikanisch-japanische Dominanz über die Erde an Wahrscheinlichkeit. Entsprechend den Reflexen dieser Konstellation auf sein Europabild und den nicht gleichbleibenden Anteil Europas an der Weltpolitik wechselten auch seine europäischen Konzeptionen. Grundsätzlich galt für ihn: „Die europäischen Fragen werden Weltfragen. Während das europäische Gleichgewichtsystem einst die Welt beruhigte, wird von jetzt an der Antagonismus dreier Erdteile die Welt und vor allem das gründlich gespaltene Europa bewegen“79. Erschien es ihm aber einmal als sicher, daß Europa „das Szepter des politischen Prinzipats bereits entfallen“ sei, so fiel sein Urteil an anderer Stelle optimistischer aus, und gelegentlich erwog er, ob die 76 Hist.-Pol. Bl. Bd. 122 (1898), 842. Vf. war Josef Edmund Jörg. Zu Jörg vgl. H. Gollwitzer, J. E. Jörg, in: Zschr. Bayer. Landesgeschichte 15 (1949), 125 – 148, und ders., Europabild und Europagedanke, Mchn. 21964, 291 – 295. 77 Diese Formulierung geht nicht auf den Sprachgebrauch der in Frage stehenden Publizisten selbst zurück. Bei Jörg z. B. überwiegt „europäisch“ bei weitem andere Wendungen. Vielmehr handelt es sich um eine Verdeutlichung vergangener Sachverhalte mit Sprachmitteln, die erst im 20. Jahrhundert präzisiert wurden. 78 Vgl. Gollwitzer, Europabild, 284 – 302. 79 Hist.-Pol. Bl. Bd. 32, 293.

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konträren Systeme Rußlands und Amerikas sich nicht in Europa begegnen und ausgleichen könnten: „Rußland von dem Urstand des instinktiven Sozialismus, Nordamerika von dem vollendeten Atomismus des . . . Individualismus – beide müssen nach der rechten Mitte hinstreben, oder sie überschlagen in das eine Gegenteil beider“80. Positiv vermochte er solche Art von Konvergenztheorie aber nur unter der Bedingung einzuschätzen, daß „Europa und vor allem Mitteleuropa ihr politischkulturelles Eigengewicht behielten“. In diesem Wunsch wird die Konstante seiner außenpolitischen Vorstellungswelt sichtbar: Ein auf der Grundlage großdeutscher Einigkeit deutsch zu führendes Mitteleuropa, aus dem sich im Idealfall ein christlich-abendländischer Völkerbund entwickeln sollte. Hinsichtlich der ihn so sehr beschäftigenden Orientalischen Frage wollte Jörg selbstverständlich Wien den Primat aller europäischen Initiativen zukommen lassen, doch auch für ein katholisches Frankreich hatte er großartige Lösungen zur Hand. Es verblüfft zunächst, wenn der weltpolitische Autor Jörg die Frage aufwirft, „ob das rechte Heerlager der Kommunisten nicht einst Rußland heißen wird“81, oder wenn er an anderer Stelle meint, es werde nicht lange dauern, bis die Union, die „auch ein Israel geworden“ sei, in Europa „Manifeste für das Prinzip der amerikanischen Freiheit“ erlassen werde82. Wer den dazugehörigen Kontext weltpolitischer Zeitdiagnosen des 19. Jahrhunderts, und zwar schon aus den 1840er und 1850er Jahren kennt, weiß jedoch, daß Jörg vieles aufgriff, was ohnehin im Umlauf war und daß er per Saldo doch häufiger daneben griff als umgekehrt. Jedenfalls wäre es abwegig, von politischer Prophetie zu sprechen. Man sollte die Bedeutung seines Denkens weniger in der Kongruenz oder Inkongruenz des Erhofften und Befürchteten mit dem faktisch Eingetroffenen, sondern in der symptomatischen Rolle sehen, die es für die außenpolitische Ideenwelt seiner Konfession spielen mochte. Der glänzendste philosophische Kopf, der sich im Kaiserreich dem Katholizismus zugewandt hat, ist Max Scheler gewesen83. Als Persönlichkeit und Philosophen verbindet ihn mit Jörg soviel wie nichts. Wenn er jedoch während des I. Weltkriegs zur Feder griff, um zur Sinngebung des militärisch-politischen Geschehens beizutragen und von seinem katholischen Standpunkt aus eine europäische Konzeption zu entwerfen, mag ein Vergleich mit Jörg, der nicht vom intellektuellen Niveau, sondern vom Sachlichen auszugehen hätte, nicht unangebracht sein. Scheler, der sich zu Kriegsbeginn freiwillig gemeldet hatte, aber aus Altersgründen nicht einberufen wurde, hat Ende 1914 das Buch „Der Genius des Krieges und der deutsche Krieg“84 abgeschlossen, Zeugnis eines vulkanischen, sich verzehHist.-Pol. Bl. Bd. 33, 800; auch für das Folgende. Hist.-Pol. Bl. Bd. 33, 783. 82 Hist.-Pol. Bl. Bd. 35, 832. 83 Vgl. J. R. Staude, Max Scheler 1874 – 1928. An Intellectual Portrait, NY 1967. 84 Max Scheler, Der Genius des Krieges und der Deutsche Krieg, Lpzg. 1915. VgI. R. van Dülmen, Der deutsche Katholizismus und der I. Weltkrieg, in: Francia Bd. 2 (1974), 347 – 376. 80 81

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renden Temperaments und Beispiel dafür, wie die Dynamik der Weltereignisse sensibelste Intelligenz überwältigen konnte. Die einleitenden Kapitel, die den Krieg als ethischen, metaphysischen und geschichtstheologischen Gegenstand, als „Welteinrichtung“ des organischen Lebens behandelten und zu einer positiven Deutung des I. Weltkriegs als des erhabensten Vorgangs seit der Französischen Revolution führen sollten, liefern – geistreich und zügellos zugleich – die philosophischen Grundlagen für die politisch konstruktiven Abschnitte, die hier primär interessieren, enthalten jedoch bereits so eindeutige Festlegungen und soviel konkretes historisches Material, daß man sich sehr bald darüber klar wird, wohin die Reise gehen soll: Man hat es bei allen aggressiven Übertreibungen mit der im Bildungsbereich tief verankerten und entschiedensten Stellungnahme wider den anglo-amerikanischen (nicht den französisch-kontinentalen) Westen zu tun, die auf deutscher Seite zwischen 1914 und 1918 erschienen ist. Es ist für den Standort Schelers, der sich in dieser Phase seines konfessions-soziologischen Denkens wohl als katholische Komplementärfigur zu dem von ihm bewunderten E. Troeltsch verstand, sehr charakteristisch, daß er die ideologisch metapolitische Position der Mittelmächte wie ihrer Gegner auf bekenntnismäßige Grundmuster zurückverfolgte und zurückverwandelte. Wenn er, der im Oktober 1915 Betrachtungen über „Östliches und westliches Christentum“ veröffentlichte85, im „Genius“ die russische Kriegspolitik, für die er durchaus ein gewisses Maß an Verständnis aufbrachte, letztlich an die religiöse Struktur der russischen Mentalität band, so bewegte er sich auf der Linie der politischen Traditionen der katholischen öffentlichen Meinung in Europa seit dem 19. Jahrhundert. Die Aufgabe des kontinentalen West- und Mitteleuropa sah er darin, dem Russentum entgegenzutreten, einem Russentum, das er nicht nur kirchlich als schismatisch, sondern – moderner – als eine religiös fundierte, dem Abendland konträre kulturmorphologische Potenz zu erklären suchte. Laut nannte Scheler das konfessionelle Element beim Namen, wenn er sich mit der anglo-amerikanischen Gegenwelt (wie er sie verstand) befaßte. Der Calvinismus als Kulturprinzip erschien ihm weit gefährlicher als die russische Orthodoxie, weil diese in Mittel- und Westeuropa wohl niemand zu verführen vermöge, jener aber, vor allem in der Weiterbildung des liberalen Protestantismus, auf viele Sympathien unter seinen nichtkatholischen Landsleuten rechnen könne. Scheler wollte nicht nur von „Entspannungskünstlern“86 des Pangermanismus nichts wissen, sondern er wandte sich auch auf das heftigste gegen einen die Nationen übergreifenden, zur angelsächsischen Schwerpunktbildung tendierenden und in seinen Augen der Realität schlechthin widersprechenden politisch-kulturellen Weltprotestantismus87. Alles, was mit dem Neucalvinismus angelsächsischer Pro85 Zuerst veröffentlicht in der Monatsschrift „Die Weißen Blätter“ Okt. 1915 und aufgenommen in: Scheler, Schriften zur Soziologie und Weltanschauungslehre, 1. Bd. (Moralia), Lpzg. 1923, 148 – 175. 86 Scheler, Genius, 181.

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venienz, mit Puritanismus und Nonkonformismus zusammenhing und als politische und kulturelle Macht Weltgeltung verlangte, verfiel seinem Verdikt: „Also möglichst rasch dieses christlich präparierte cant-Gift heraus aus unserem Blute!“88 Es war nur konsequent, wenn Scheler, belehrt durch Troeltsch, die Unterschiede zwischen Luthertum und amerikanischem Protestantismus nachdrücklich hervorhob und eine katholische Allianz mit den Angehörigen des Luthertums, wie es scheint, durchaus in Betracht zog. Während unter solchen Vorzeichen die Auseinandersetzung mit England den Charakter einer unumgänglichen Notwendigkeit erhielt, deutete Scheler den Krieg mit Frankreich eher als einen furchtbaren Irrtum, jedenfalls für denjenigen, der den westlichen Nachbarn aus der abendländisch-universalen Tradition nicht ausklammern konnte noch wollte. Er forderte, Frankreich nach einem deutschen Sieg die Hand zur Versöhnung zu reichen und ihm zu seinem besseren (katholisch-abendländischen) Selbst zu verhelfen89. Scheler hat auch spezifische Interessen der römisch-katholischen Kirche vor dem Hintergrund des Krieges erörtert und die Vor- und Nachteile gegeneinander abgewogen, die von einem Sieg des Dreiverbandes oder der Mittelmächte für Rom sich ergeben konnten90. Er gelangte zu dem Ergebnis, daß die Kurie „ganz unverhältnismäßig stärkere Interessen . . . mit einem Sieg der kontinentalen Zentralmächte“ teile. Nachdem er diese aufgezählt hatte91, gab er der Hoffnung Ausdruck, daß sich mit einem Erfolg der Zentralmächte das Gewicht der germanischen Form des Katholizismus erheblich steigern könnte: „Eine innere (nicht dogmatische) Reform der katholischen Kirche, die ihr über ihre gegenwärtige lateinische Partikularisierung die Anwartschaft auf eine allseitigere spirituelle Leitung Europas vielleicht wieder zurückgeben könnte, möchte nur unter dieser Bedingung einige Aussicht auf Erfolg gewinnen“92. Scheler schloß den ersten Teil seines Buches mit dramatisch formulierten Visionen von den Folgen eines Sieges oder einer Niederlage der Mittelmächte93. Auch an anderen Stellen beteuerte er, daß es für ihn im Krieg um das 87 Scheler, Genius, 350: „Ich sehe weiter das ,englisch-deutsche Stammesgefühl‘, die ,evangelische Solidarität‘, die ,englisch-deutsche Kulturgemeinschaft‘, von deren innerer Unechtheit und Unfruchtbarkeit schon vorher die Rede war – die sich außerdem alle Süddeutschen, Südwestdeutschen, Österreicher, desgleichen alle deutschen Katholiken und Juden als politische Motive in diesem Kriege ganz ernstlich und energisch verbitten dürfen“. 88 Scheler, Genius, 370. 89 Scheler, Genius, 193 und 210 f. 90 Scheler, Genius, 321 – 323. 91 Scheler, Genius, 322 ff.: „An erster Stelle eine Zurückwerfung der Orthodoxie auf dem Balkan und gegen den Osten überhaupt; die Erhaltung eines selbständigen österreichischen Kaiserstaates und des katholischen Glaubens in der südslavischen Welt; die eventuelle Aussicht auf ein mögliches selbständiges Polen mit einem katholischen König. Dazu muß jeder Sieg Deutschlands, der eine etwaige Expansion des Deutschen Reiches in irgendeiner Richtung zur Folge hätte, die katholische Bevölkerungsteile in die Majorität gegenüber den evangelischen bringen – unter gleichzeitiger Schwächung der evangelischen Solidarität mit England. Für eine eventuelle Annexion Belgiens ist dies ohne weiteres offensichtlich“. 92 Scheler, Genius, 323. 93 Scheler, Genius, 284.

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Herz des Herzens der Welt, um die Hegemonie in Europa gehe94, dessen Solidarisierung dazu dienen sollte, einen Entscheidungskampf gegen Asien vorzubereiten95. Damit sagte er nichts anderes als das, was auch Jörg vorgeschwebt hatte. Selbstverständlich kann von einer Abhängigkeit Schelers in diesem Fall auch nicht entfernt die Rede sein, wohl aber von einer Kontinuität außenpolitischer Denkschulen innerhalb des politischen Katholizismus. Scheler hatte schon im Vorwort zu seinem Buch – aus guten Gründen – eine reservatio mentalis für notwendig gehalten. Er fürchtete in seinen Urteilen über Personen und Völker „über berechtigte Grenzen hinaus“ geraten zu sein. Eine künftige retractatio war in diesem Ansatz schon enthalten. Er mußte bald erkennen, daß der Gang der Ereignisse ihm nicht recht gab, und so hat er im weiteren Verlauf des Krieges von einer Anschauung der Vorgänge als europäischer Revolution „in dem Sinn, daß gegen die Mittelmächte als die ragenden Pfeiler von Autorität, Ordnung und Vernunft revolutioniert wird“96, zu einem umfassenderen europäischen Patriotismus übergeleitet, der einer katholischen Position wohl angemessener war und in dem Engagement christlicher Parteien für ein vereintes Europa nach dem II. Weltkrieg einen Beitrag zur Veränderung der historischen Realität erfahren hat. Noch während des Krieges hat Scheler zu einer Außenpolitik des Maßes zurückgefunden und deutsche Fehler kritisiert. Innenpolitisch bekannte er sich bereits im „Genius“ zum demokratischen Gedanken; von einem deutschen Sieg erhoffte er sich eine Stärkung der Demokratie97. Den Übergang von der Monarchie zur Republik hat er begrüßt und als Demokrat ist er seinen Weg in die Ära der Weimarer Republik gegangen. Unberührt von den Wandlungen des Kriegsphilosophen Scheler zum Friedensphilosophen blieb sein Wunsch, dem deutschen Volk zu einer Nationalmetaphysik aus dem katholischen Gedanken zu verhelfen98, und das, was er den „negativen Internationalismus der Zivilisationsgesellschaft“ nannte, durch einen „Kosmopolitismus des Geistes“99 zu ersetzen, dem er das christliche Prinzip der „wechselseitigen Solidarität aller Dinge“100 und den katholischen Universalismus zugrunde legte.

Scheler, Genius, 169. Scheler, Genius, 116. 96 Scheler, Christentum und Gesellschaft, I. Halbband (Konfessionen), Leipzig 1924, 79 (aus dem Aufsatz „Soziologische Neuorientierung und die Aufgabe der deutschen Katholiken nach dem Kriege“, 1916), 95. 97 Scheler, Genius, 247: „Die Neugeburt aber des Reichsgedankens und seiner innersten demokratischen Kraft durch einen Sieg im Deutschen Kriege und das Wachstum der Innigkeit in der Zusammengehörigkeit der nördlichen und südlichen von Hause aus demokratischeren Teile Deutschlands, müssen im Gegensatze zur Meinung unserer Feinde, gerade auch die Demokratie fördern und damit auch diese ihre große Aufgabe“. 98 Scheler, Deutschlands Sendung und der katholische Gedanke, Bln. 1918, 34 und an vielen anderen Stellen. 99 Scheler, Christentum und Gesellschaft, I. Halbbd. (Konfessionen), 79. 100 Scheler, Deutschlands Sendung, 4. 94 95

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Im I. Weltkrieg Wir kehren zurück zur konkreten Außenpolitik und schließen unsere Betrachtungen mit einigen Bemerkungen über den deutschen politischen Katholizismus im I. Weltkrieg. Wie das Zentrum 1914 – 18 zur Frage der Kriegsziele und eines Siegoder Verständigungsfriedens Stellung genommen hat, ist bereits dargestellt worden101. Der Krieg hat dem Zentrum gleich den anderen im Reichstag vertretenen Parteien einen breiteren Zugang zur Außenpolitik eröffnet, als dies im Kaiserreich vorher je der Fall gewesen ist. Vielleicht kann man sagen, der Krieg hat alle Zentrumsangehörigen erstmals geradezu genötigt, ihr Augenmerk intensiv der Außenpolitik zuzuwenden. Die an die Adresse der Heimatbevölkerung wie des Auslandes gerichteten propagandistischen Bemühungen deutscher katholischer Intelligenz um Rechtfertigung der Sache der Mittelmächte haben das außenpolitische Engagement ihrer Konfessionsgenossen gewiß vertieft. Es ist bekannt, daß das Zentrum innenpolitisch wie in der Frage der Kriegsziele bis 1917 Bethmann-Hollweg nicht nur gestützt hat, sondern gelegentlich über seine Intentionen noch hinausging, mit anderen Worten, sich zur Rechten hielt. Von der linken Opposition im Zentrum wurde unter Erzbergers Führung seit 1916 ein Gegenkurs zugunsten innerer Reformen, koalitionspolitischer Umorientierung und eines Verständigungsfriedens gesteuert, der am 19. VII. 1917 in der Friedensresolution des Reichstags seinen Niederschlag fand. Die weitergehenden Absichten, die sich mit der Friedensresolution verbanden, ließen sich nicht verwirklichen. Die verstärkte Macht der obersten Heeresleitung und die durch das Ausscheiden Rußlands scheinbar verbesserten Siegesaussichten ließen eine Gegenbewegung gegen Erzberger und die Friedensresolution bis in den Sommer 1918 wieder an Boden und schließlich das Übergewicht gewinnen. Die Ernennung Hertlings zum Reichskanzler sprach nicht nur für die parlamentarische Schlüsselstellung des Zentrums, sondern sollte auch das innerparteiliche Gegengewicht gegen Erzberger stärken. Wie das außenpolitische Verhalten der Zentrumspartei insgesamt von innenpolitischen Überlegungen nicht zu trennen ist, so hat die schon vor dem Krieg ausschlaggebende Überlegung, gegenüber Verdächtigungen und Feindseligkeit die nationale Zuverlässigkeit der Partei auf keinen Fall ins Zwielicht geraten zu lassen, die Zentrumsführung im besonderen auf eine Haltung fixiert, die als Bewährung in der Schicksalsstunde des Vaterlandes verstanden werden und jeden Zweifel an der Entschlossenheit der Partei ausräumen sollte, sich in der großen Krise an Patriotismus von niemandem übertreffen zu lassen. Hinzu kam, daß Erzbergers Friedenspolitik weit mehr taktischen als prinzipiellen Überlegungen entsprang. Er war bis 1915 entschlossener Annexionist gewesen und hat nach dem Juli 1917 wiederum einen von der Friedensresolution wegführenden, sehr elastischen Kurs gesteuert. Die außenpolitische Taktik des Zentrums während des Krieges hätte nun freilich auch von nichtkatholischen Parteien eingeschlagen werden können, und es stellt 101 Vgl. A. Rosenberg, Die Entstehung der deutschen Republik 1871 – 1918, Bln. 1918, passim; Bachem, a. a. O., VIII und IX, passim; Zeender, The German Centre Party during World War I, 441 – 468.

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sich die Frage, was denn daran spezifisch konfessionell gewesen sei bzw. ob das Zentrum mit seiner Haltung die Hoffnung auf konfessionelle Positionsgewinne verbunden habe. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß das Zentrum in parteioffiziellen Stellungnahmen davon Abstand nahm, die etwaige Verbindung seiner außenpolitischen mit konfessionellen Zielen auch nur anzudeuten. Sogar bei der Friedensaktion Benedikts XV.102, die es selbstverständlich voll bejahte, legte man Wert auf den Hinweis, daß der Hlg. Stuhl als neutrale Macht und nicht als Spitze des römischen Katholizismus hervorgetreten sei, und warnte man davor, ein Junktim zwischen Erzbergers Friedensresolution und der diplomatischen Offensive des Vatikans zu konstruieren103. Man wollte sich unter keinen Umständen als eine von Rom gelenkte Partei hinstellen lassen. Die damals am rechten Flügel der Partei stehende Kölnische Volkszeitung zeigte sich sogar von Anfang an etwas skeptisch und rief entgegen der nun mancherorts eintretenden Friedenseuphorie bereits am 16. VIII. 1917 zum Durchhalten auf. Andere Perspektiven ergeben sich, wenn man den Aktivitäten Erzbergers während des I. Weltkriegs nachgeht, des ersten Zentrumspolitikers, der im Kaiserreich Gelegenheit zu (relativ) selbständigem außenpolitischen Handeln erhalten und dem Bethmann-Hollweg die Teilnahme an einer künftigen Friedenskonferenz zugesagt hat104. Erzbergers Bestrebungen deckten sich mit dem von uns skizzierten (und ihm vielleicht sogar unbekannt gebliebenen) „Programm“ Schelers und gingen über dieses hinaus. Dies geht u. a. hervor aus seiner Begünstigung der Einsetzung katholischer Fürsten in neu zu begründenden katholischen (Satelliten-)Staaten wie Polen und Litauen, aus seinen personalpolitischen Unternehmungen, seinem Eintreten für eine Schenkung zugunsten der deutschen Katholiken im Heiligen Lande, seinen Projekten betr. einer Union der bulgarischen Kirche mit Rom und nicht zuletzt seinen etwas abenteuerlichen Plänen zur Wiederherstellung der weltlichen Souveränität des Papsttums105. Mit der polnischen und der litauischen Frage hat sich nicht allein Erzberger, sondern seine ganze Fraktion beschäftigt. F. Wacker hat die konfessionellen Komponenten der Stellungnahme des Zentrums zu diesen Komplexen ohne Übertreibung herausgearbeitet106. Zur konfessionellen Außenpolitik im I. Weltkrieg zählte auch der – sehr berechtigte – Hinweis der katholischen Publizistik, daß in Spanien und Portugal das katholische Element deutschfreundlich eingestellt sei107. 102 Vgl. Anm. 19 sowie E. Deuerlein, Zur Friedensaktion Benedikt XV., in: Stimmen der Zeit Bd. 155 (1955) u. ders., Der Bundesratsausschuß für auswärtige Angelegenheiten, Regensburg 1955, 297 – 300. Erzberger zufolge (Erlebnisse, 117) wünschte Graf Czernin, daß nach den Verlautbarungen der sozialistischen Internationale in Stockholm nun die „Katholische Internationale“ sich in der Schweiz versammeln und eine Kundgebung für den Frieden erlassen solle. Erzberger hielt dies für abwegig und wünschte eine Friedensaktion des Hl. Stuhles. 103 So die Kölnische Volkszeitung am 14. u. 16. VIII. 1917. Vgl. Zeender, a. a. O., 462. 104 Zeender, 453. 105 Vgl. Erzberger, a. a. O., 135 ff. u. Epstein, a. a. O., 166 ff. 106 Erzberger, Erlebnisse, 188 und an anderen Stellen; F. Wacker, a. a. O., 64 – 80.

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Der konfessionspolitische Anteil am diplomatischen und propagandistischen Wirken Erzbergers ist nun allerdings nicht nur um seiner selbst willen, sondern in gleichem Maße als ein Mittel zu dem Zweck zu verstehen, den Hlg. Stuhl und den Weltkatholizismus in neutralen Ländern zugunsten der deutschen Sache zu gewinnen. Von einer Diskrepanz zwischen dem konfessionellen und dem nationalen deutschen Interesse bzw. dem der Mittelmächte insgesamt, kann vom Standpunkt der Regierungen und der den Krieg tragenden und vertretenden Kräfte her gesehen, nicht die Rede sein108. Ferner muß man die richtige Relation zwischen den „profanen“, „rein“ außenpolitischen, konfessionsneutralen Aspekten der internationalen Beziehungen im Krieg und schon vorher und den konfessionellen Überlegungen gewinnen, die es nebenher auch gegeben hat und für deren Entwicklung zugunsten des Deutschen Reiches Erzberger sich im Rahmen sehr viel umfassenderer Aufgaben als Spezialist einsetzen ließ. Die Schwäche der konfessionspolitischen Aktivitäten im I. Weltkrieg geht schon daraus hervor, daß es damals und seit jeher eine einheitliche katholische Politik in Europa nicht gegeben hat; entschiedene Katholiken kämpften gleichermaßen überzeugt von dem Recht ihrer Vaterländer in den verschiedenen Lagern Der konfessionspolitische Sektor in der Außenpolitik ist im 19. / 20. Jahrhundert nicht bedeutungslos gewesen. Er lohnt eine historische Untersuchung wohl, und zwar nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt des Fortlebens älterer historischer Schichten in einer überwiegend von anderen Kräften bestimmten Epoche. Wie sehr diese anderen Kräfte überwogen, wird man unter Historikern als bekannt voraussetzen dürfen. Die dira necessitas außenpolitischer Verstrickungen ließ alle konfessionellen Sympathien oder Antipathien zurücktreten. Wo man noch konfessionelle Ziele verfolgte, konnte dies in der Regel nur im Rahmen der jeweiligen nationalen Belange geschehen. Noch eine abschließende Beobachtung: Katholiken in aller Welt haben zwar eh und je an den unterschiedlichsten außenpolitischen Parteiungen teilgenommen, aber soweit kirchlicher Einfluß bei ihnen überwog, konnten sie sich weithin – nicht durchweg – aus der Zone des extremsten Nationalismus und einer zum Selbst- und Höchstzweck erhobenen Staatsräson heraushalten. Wo die Vorstellungswelt des christlichen Naturrechts noch trug und das Bewußtsein der Zugehörigkeit zur universellen Weltkirche ein faktisches Gegengewicht zu den säkularen Nationalismen und Imperialismen bildete, war darauf zu hoffen, daß solche Gesinnung Dämme gegen eine Außenpolitik der Maßlosigkeit aufwarf. Selbstverständlich gab es daneben zahlreiche mäßigende Faktoren anderer geistiger Herkunft von ähnlichem Wirkungsgrad.

Vgl. Brauweiler, a. a. O., passim. Epstein sieht nur in Erzbergers Bemühungen um die Erwerbung des Coenaculum in Jerusalem einen Fall, in dem Erzberger das „spezifische katholische Interesse höher stellte als das allgemeine Wohl“ (a. a. O., 170). 107 108

III. Heimat und Regionalismus

Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19. / 20. Jahrhunderts Eine Skizze zum deutschen Regionalismus

I. Im Gegensatz zur Weimarer Verfassung, die, in der Tradition des 19. Jahrhunderts fortfahrend, ihrer Präambel den politisch längst nicht mehr konkreten Stammesbegriff einfügte, hat das Grundgesetz der Bundesrepublik davon abgesehen, von deutschen Stämmen zu sprechen. Im Art. 29 GG betr. Neugliederung des Bundesgebiets taucht statt dessen ein Begriff auf, der allerdings an einen Vorläufer, ebenfalls in der Weimarer Verfassung, anknüpfen kann1: die „landsmannschaftliche Verbundenheit“. Aus dem Protokoll über die Verhandlungen des Parlamentarischen Rates geht hervor, daß man im Redaktionsausschuß die Wendung „landsmannschaftliche Verbundenheit“ sehr bewußt statt „Stammesverbundenheit“ gewählt hat2. Der von der Bundesregierung eingesetzte Sachverständigenausschuß für die Neugliederung des Bundesgebiets hat in seinem großen Bericht vom Jahre 1955 den schon von den Staatsrechtslehrern der Weimarer Republik als „landsmannschaftliches Prinzip“ viel erörterten Terminus technicus in zutreffender und vorbildlicher Weise erläutert3. Wer die Ausführungen des Gutachtergremiums sorgfältig liest, wird indessen bemerken, daß man einige Mühe hatte, das Wesen des Landsmannschaftlichen zu umschreiben. Offensichtlich haben die Väter des Grundgesetzes damit eine sehr flexible, veränderliche Größe in die Verfassung der Bundesrepublik eingeführt, eine Größe, die sich hier deutlich abzeichnet, anderswo jedoch verblaßt und zugunsten kräftigerer Bindungen zurücktritt. Die Erläuterung des Sachverständigenausschusses besagt, daß sich landsmannschaftliche Verbundenheit mit einzelstaatlicher Zugehörigkeit decken kann, sie bezieht sich jedoch gleicherweise auf Gebiete oder Räume, die innerhalb von Einzelstaaten vorhanden sind oder auch in andere Staaten übergreifen. Mit der zweiten, nichtstaatlichen Kategorie wollen wir uns in der folgenden Skizze hauptsächlich beschäftigen, und wir 1 Artikel 79 der Weimarer Verfassung: „ . . . Die Wehrverfassung des deutschen Volkes wird unter Berücksichtigung der besonderen landsmannschaftlichen Eigenarten durch ein Reichsgesetz einheitlich geregelt.“ 2 Protokoll der 4. Sitzung des Hauptausschusses des Parlamentarischen Rates vom 17. XI. 1948 (Parlamentarischer Rat – Verhandlungen des Hauptausschusses, Bonn 1949, 54). 3 Die Neugliederung des Bundesgebiets. Gutachten des von der Bundesregierung eingesetzten Sachverständigenausschusses. Hrsg. vom Bundesinnenministerium, Bonn 1955, 31.

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verwenden zu diesem Zweck den Begriff der historischen oder politischen Landschaft. „Landschaft“ soll in diesem Zusammenhang ausschließlich in der heutigen, territorialen Bedeutung des Wortes verstanden werden, doch sei immerhin auf den ursprünglichen, überwiegend ständischen Sinn aufmerksam gemacht. Die Prägung „Historische Landschaft“ ist vermutlich durch Friedrich Ratzel in den wissenschaftlichen Sprachgebrauch eingeführt worden4. Im Bereich der politischen Geographie hat sie alsbald Heimatrecht erlangt, und die Ausstrahlung des von der deutschen geographischen Wissenschaft behandelten Begriffs war so stark, daß er als Fremdwort in die russische geographische und geopolitische Literatur übernommen wurde5. Die Erkenntnis des historischen Regionalismus wurde vertieft und befruchtet durch die Kulturraumforschung, in der sich die Vertreter mehrerer Disziplinen zusammengefunden haben6, sowie, im Zusammenhang damit, durch die verschiedenen historischen, kulturgeographischen und philologischen Atlas-Werke. Einer der bekanntesten, aber auch umstrittensten Versuche, ein geographisch-historisches Bild der deutschen Geschichte auf ihren Landschaften aufzubauen, ging von dem Marburger Professor und geopolitischen Einzelgänger Albert von Hofmann aus7. Die landesgeschichtliche Forschung arbeitet seit langem mit dem Begriff der historischen Landschaft. Seit 1894 läuft die territorialgeschichtliche Sparte im Rezensionsteil der Historischen Zeitschrift unter dem Titel „Deutsche Landschaften“. Einige auf dem Gebiet der historischen Landeskunde und der historisch-politischen Geographie gewonnene Erkenntnisse über das Wesen der historischen Landschaft zählen heute zum Allgemeinbesitz der landesgeschichtlichen Wissenschaft8. So häufig nun auch die wissenschaftliche Terminologie von dem Begriff „Historische Landschaft“ Gebrauch macht – man kann gleichwohl nicht behaupten, daß er als heuristisches Prinzip genügend konsequent und energisch angewandt worden wäre und die in ihm beschlossenen Möglichkeiten ausgeschöpft seien. Am allerwenigsten für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts! Die Gründe hierfür sind verschiedener Art. Einmal bereitet die Erforschung der historischen Landschaft in ihrer Bedeutung für die neuere und neueste F. Ratzel, Deutschland, Bln. u. Lpzg. 41920, 176 (1. Aufl. 1898). 5 Vgl. O. Boesch, Die Lehre der Eurasier, Wiesbaden 1961, 30 ff. 6 Vgl. H. Aubin / Th. Frings / J. Müller, Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden, Bonn 1926 u. W. Ebert / Th. Frings / K. Gleissner / R. Kötzschke / G. Streitberg, Kulturräume und Kulturströmungen im mitteldeutschen Osten, Halle 1936. 7 Vgl. vor allem sein Buch „Das deutsche Land und die deutsche Geschichte“, das 1920 erstmals erschienen ist und zahlreiche Auflagen erlebte. 8 Für das Grundsätzliche sehr ergiebig W. Flach, Stamm und Landschaft Thüringen im Wandel der Geschichte (Bl. f. deutsche Landesgeschichte, 84. Jg.) 1938, 171 – 187, u. G. Schnath, Die Gebietsentwicklung Niedersachsens, Hannover 1929, 1 f.: „Die historische Landschaft ist nicht von Anfang an und für alle Zeiten da, wie die geographisch begrenzten natürlichen Landschaften, sondern sie bestimmt und entwickelt sich unter der Einwirkung historischer Umstände, durch die Reichweite historischer Wirkungen: sie kann unter der wechselnden Richtung und Stärke dieser Wirkungen sehr verschiedene Begrenzungen annehmen, kann u. U. verschwinden und wieder auftauchen.“ 4

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politische Geschichte eigentümliche sachliche Schwierigkeiten. Das Quellenmaterial bietet sich weit weniger bereitwillig an als auf anderen geschichtlichen Gebieten. Weiterhin haben verschiedene deutsche Staaten im 19. Jahrhundert, bemüht und besorgt um ihren Integrationsprozeß, allen regionalistischen Sonderbildungen prinzipiell entgegengewirkt. Selbst geplante wissenschaftliche Zusammenarbeit in regionalem Rahmen ist gelegentlich von seiten der Staatsobrigkeit unterbunden worden, wenn das landschaftliche Betätigungsfeld die engen Staatsgrenzen sprengen wollte9. Könnte man sich vorstellen, daß das offizielle Stuttgart des 19. Jahrhunderts eine unabhängig und kritisch geschriebene Geschichte Oberschwabens wohlwollend hingenommen oder gar gefördert hätte? Die gleiche Frage ließe sich selbstverständlich auch hinsichtlich anderer deutscher Staaten aufwerfen. Weiterhin hat die in unserer Historiographie sich seit 1870 durchsetzende Tendenz, die innerdeutsche Geschichte unter dem Antagonismus von nationalem Einheitsstreben und Partikularismus zu sehen, abermals eine Verengung des Blicks in Richtung auf die bestehenden Staaten herbeigeführt und darüber häufig vernachlässigt, was an territorialen Bildungen mit politischem Eigengewicht innerhalb der Staaten und zwischen ihnen noch fortbestand10. Wollte man doch über die Einzelstaaten hinaus und zur Bildung eines großen nationalstaatlichen Reiches gelangen! Schließlich hat die Orientierung der philologischen und volkskundlichen Forschung auf die Eigenart der deutschen Stämme ähnliche Bestrebungen in der Geschichtswissenschaft ermuntert, ganz abgesehen davon, daß es eine jahrhundertealte und im 19. Jahrhundert durch die Romantik aufgewertete Tradition der Beschäftigung mit Stammesgeschichte innerhalb der deutschen Historie gegeben hat. Nichts konnte jedoch der Erkenntnis der historisch-politischen Landschaft, in der das Stammesmäßige beteiligt, aber keinesfalls ausschlaggebend ist, abträglicher sein als die Festlegung auf den Stammesbegriff11.

9 Vgl. H. Heimpel, Über Organisationsformen historischer Forschung in Deutschland (HZ 189) 200. 10 Vgl. dazu Th. Schieders wichtigen Aufsatz „Partikularismus und Nationalbewußtsein im Denken des Vormärz“ (Industrielle Welt, Schriftenreihe des Arbeitskreises für moderne Sozialgeschichte, hrsg. von W. Conze, Bd. I „Staat und Gesellschaft im deutschen Vormärz 1815 – 1848“, Stgt. 1962). Meine Ausführungen berühren sich vielfach und stets zustimmend mit Theodor Schieders Beitrag, dem ich nicht wenige Anregungen verdanke. 11 Vgl. H. Grundmann, Stämme und Länder in der deutschen Geschichte (Geschichte in Wissenschaft und Unterricht, VI (1955) 591 – 607). – Besonders aufschlußreiche Belege für die Art und Weise, wie man im 19. Jahrhdt. den Stammesbegriff in der politischen Sprache verwendete, finden sich bei Bismarck (Vgl. das Kapitel 13 „Dynastien und Stämme“ in „Gedanken und Erinnerungen“). Wenn Bismarck gelegentlich von besonderen deutschen „Nationalitäten . . . auf der Basis des dynastischen Familienbesitzes“ spricht, kommt er einer Spielart der politischen Landschaft nahe, zumal er in diesem Zusammenhang ausdrücklich das Moment der Stammeszugehörigkeit ausschließt. Andererseits neigte er zu einer gewissen Identifizierung von Stämmen und Reichskreisen. Als er nach 1866 einige territoriale Veränderungen innerhalb des preuß. Staates in Betracht zog, trug er sich mit dem Gedanken „die Provinzialordnung mehr in Einklang zu bringen mit den alten Stammverhältnissen, mit den alten Reichskreisen“ (Gesammelte Werke, Bd. X, Bln. 1928, 437).

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Wer diese Hindernisse aufzählt, darf allerdings nicht verschweigen, daß sich ihnen zum Trotz seit dem 19. Jahrhundert eine Richtung der landesgeschichtlichen Forschung durchgesetzt hat, die der Bedeutung der historischen Landschaft schon durch ihr eigenes Organisationsprinzip eine gewisse Anerkennung verschaffte und nicht nur wissenschaftsgeschichtlich, sondern auch als Bestandteil der Geschichte des deutschen Regionalismus selbst zu verstehen ist. Ihr Ausgangspunkt waren die Historischen Vereine und Zeitschriften, die innerhalb der bestehenden Staaten ein landschaftliches Arbeitsfeld absteckten oder deren regionale Reichweite Gebietsteile von zwei oder mehreren Staaten umschloß. Schon in den Anfängen des Zusammenschlusses der deutschen Geschichts- und Altertumsvereine regte der Kasseler Archivar Georg Landau eine „Beschreibung der deutschen Gaue“ an12. Die Verwendung des Wortes „Gau“ im 19. / 20. Jahrhundert verfolgen hieße einen wichtigen Beitrag zur Geschichte des deutschen Regionalismus leisten! In einer zweiten Phase kam es zur Bildung von landschaftlichen historischen Kommissionen, z. B. der „Historischen Kommission für Sachsen und Anhalt“ (1876) oder der „Historischen Kommission für Hannover, Oldenburg, Braunschweig, SchaumburgLippe und Bremen“ (1910), die allgemein niedersächsische Aufgaben, z. B. den „Historischen Atlas von Niedersachsen“ in Angriff nahm. Schließlich richtete man provinzielle und regionale Forschungsinstitute ein, und landesgeschichtlichen Lehrstühlen wurde die besondere wissenschaftliche Wahrnehmung auch bestimmter historischer Landschaften zur Aufgabe gemacht13. Von seiten aller dieser Organisationen, Gremien, Institute ist zur Aufhellung der landschaftlichen Perspektive deutscher Geschichte Hervorragendes geleistet worden; allerdings mit zeitlicher Schwerpunktbildung im Mittelalter oder jedenfalls vor dem Ende des alten Reiches. Was der folgenden Epoche angehörte, ist trotz zahlreicher trefflicher Einzelleistungen14 weniger ins Licht gerückt und noch weniger systematisch behandelt worden. Die folgenden Bemerkungen sollen einige Fingerzeige in dieser Richtung geben, nicht mehr.

12 Vgl. W. Hoppe, Hundert Jahre Gesamtverein (Bl. f. dt. Landesgesch., 89 Jg.) 1952, 7 u. Heimpel a. a. O. 159. 13 Beispiele: Lehrstuhl für Rheinische Geschichte u. Wirtschaftsgeschichte an der Universität Bonn, gegr. 1928 (seit 1960 / 62 getrennt in einen Lehrstuhl für Verfassungs-, Sozialund Wirtschaftsgeschichte und rheinische Landesgeschichte); Lehrstuhl für bayerische und fränkische Landesgeschichte an der Univ. Erlangen, gegr. 1. I. 1958; Lehrstuhl für westfälische Landesgeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, gegr. 1961 (Sperrungen vom Vf.). 14 Als einschlägige Veröffentlichungen aus der Zeit nach 1945 hebe ich hervor W. Schulte, Volk und Staat. Westfalen im Vormärz und in der Revolution 1848 / 49, Münster 1954; L. Zimmermann, Die Einheits- und Freiheitsbewegung und die Revolution von 1848 in Franken (Veröffentlichungen der Gesellschaft für fränkische Geschichte, 9. Reihe), Würzburg 1951; K. Baumann, Probleme der Pfälzischen Geschichte des 19. Jahrhunderts (Mitt. d. Hist. Vereins d. Pfalz, 51), Speyer 1953, 251 – 272; K. Repgen, Klerus und Politik 1848 (Aus Geschichte und Landeskunde, Festschrift f. F. Steinbach), Bonn 1960, 133 – 165; ein Beispiel für regionale Geschichtsschreibung im Rahmen der Diözesangeschichte!

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II. Gehen wir aus von der Situation innerhalb des Deutschen Bundes! Der Gewinn der Souveränität hat die regierenden Fürsten und ihre Minister, namentlich die der mittleren Staaten, bewogen, verstärkt in ihren früheren Bestrebungen fortzufahren und einer Perfektion der Staatsomnipotenz zuzustreben. Dies äußerte sich nicht zuletzt in dem Bemühen um Verschmelzung ihrer ererbten ursprünglichen und der neuerworbenen Gebiete. Die Verfassung des untergegangenen Reiches hatte neben der maßgebenden dynastischen und territorialen Ordnung immerhin noch einige andere Bestandteile bewahrt: die Reichskreise15, landschaftliche Bänke innerhalb der Reichstagskurien, ritterschaftliche Kantone und Reste der Reichslandvogteien. Mit diesen Institutionen verbundene Gebietsbezeichnungen knüpften teils an die Stammesnamen an, deren terminologische Fruchtbarkeit in umgekehrtem Verhältnis zu ihrer politischen Realität stand, teils bedienten sie sich althergebrachter geographischer Ausdrücke. Mit dem Begriff des „Rheinischen“ z. B. verband sich seit langem die Vorstellung einer politischen Landschaft, mochte es sich um die vier rheinischen Kurfürsten oder um den rheinischen Städtebund handeln. Das historische Bewußtsein bewahrte überdies noch die Erinnerung an landschaftlich bestimmte fürstliche, ritterliche und städtische Einungen16, an die einzelnen Viertel der Hanse, an unterschiedliche Rechtskreise. Bis zum Erlöschen des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation blieben in seine territoriale Welt selbständige Regionalismen eingesprenkelt: Diözesen, Ordensprovinzen, Balleien, ritterschaftliche Kantone und andere Einheiten bis hin zu den deutschen Keßlerkreisen17. Das Landsmannschaftswesen an den deutschen Universitäten spiegelte ebenfalls die Lebendigkeit außerstaatlichen Regionalbewußtseins. Die 1806 anhebende exzessive Epoche des „Souveränitätsschwindels“ (Bismarck) suchte nun zu beseitigen, was das Reich an über- und interterritorialen Gebilden noch enthalten hatte und was innerhalb der neuvergrößerten Staaten an ältere Zustände erinnerte. Man schuf neue administrative Bezirke und bemühte sich z. B. um neue Diözesancircumscriptionen, die sich möglichst mit den Landesgrenzen decken sollten. Trotzdem ließ sich die historische Landschaft, auch als politisches Gebilde, nirgends ganz auflösen. Ihre Lebensbedingungen innerhalb des Deutschen Bundes erwiesen sich freilich als recht unterschiedlich, verhältnismäßig günstig in den Großstaaten Österreich und Preußen, ungünstiger in den mittleren und kleineren Staaten. 15 Zur neuesten Forschung über die Reichskreise besonders aufschlußreich H. H. Hofmann, Reichskreis und Reichsassoziation. Prolegomena zu einer Geschichte des fränkischen Kreises, zugleich als Beitrag zur Phänomenologie des deutschen Föderalismus (ZSchr. f. Bayer. Landesgesch., Bd. 25) 1962, 377 – 415. 16 Der Schwäbische Bund sei hier ausgenommen, da er zwar ursprünglich zur Erhaltung der schwäbischen Selbständigkeit gegen die Wittelsbacher dienen sollte, aber in seinem Mitgliederbestand bald weit über Schwaben hinausging. 17 Vgl. F. Hornschuch, Aufbau und Geschichte der interterritorialen Kessler-Kreise in Deutschland (Beiheft 17 zur Vjschr. f. Sozial- und Wirtschaftsgesch.) Stuttgart 1930.

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Am vorteilhaftesten lagen die Verhältnisse wohl im Habsburgerstaat. Die Länder des Hauses Österreich einschließlich des neuerworbenen Salzburg bildeten ausnahmslos alte geschichtlich gefestigte Landschaften mit sehr geprägter Vergangenheit. Gewiß konnten ihre politisch tätigeren Kräfte von dem Maß der Bewegungsfreiheit, das ihnen der Metternichsche Kaiserstaat zubilligte, nicht zufriedengestellt werden. Aber diese Länder waren wenigstens als solche anerkannte Größen, und was der vormärzliche Staat Österreich überhaupt an selbständigen Regungen ertrug, das duldete er bei ihnen. Die Geschichte der österreichischen Länder im 19. Jahrhundert hat bisher vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der verfassungsgeschichtlichen und ständischen Problematik interessiert. Die politisch-kulturelle Eigenständigkeit der einzelnen Kronländer ging jedoch weit über diesen Aspekt hinaus. Sie stellen sich uns dar als Gefäße sehr unterschiedlicher politischer Traditionen und als Gehäuse fortwährender neuer Traditionsbildung im 19. / 20. Jahrhundert. Die Fragen nach der größeren oder geringeren Ergebenheit dem Kaiserhaus gegenüber, nach einer mehr konservativen oder mehr progressiven Einstellung, nach stärkerer oder minderer Verwurzelung im politischen Katholizismus in den verschiedenen österreichischen Ländern und späteren Bundesstaaten lassen sich nicht nur mit allgemeinen sozialökonomischen oder ideengeschichtlichen Argumenten beantworten; man wird auch die besonderen politischen Schicksale und die gesamte geschichtsmächtige Vergangenheit der einzelnen historischen Landschaften in Rechnung stellen müssen. Eine schlüssige Erklärung z. B. des verschiedenen politischen Verhaltens von Steiermark und Tirol vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart läßt sich nur geben, wenn man die Quellen des politischen Regionalismus zu interpretieren versteht. In Preußen war das Verhältnis zwischen Staat und Provinzen, verglichen mit Österreich, gestraffter. Dies soll nicht heißen, daß die Gesamtstaatsverwaltung des Kaiserstaates nicht durchgreifend und effektiv gewesen wäre, ebensowenig, daß die Hohenzollernmonarchie nicht Platz für die Tradition historischer Landschaft gewährt hätte. Der preußische König sprach noch 1815 von seinen Staaten; jede der Provinzen entfaltete über den offiziell zugestandenen Rahmen ihrer Landtage hinaus ein gewisses politisches Eigenleben, bestimmt durch die in ihr lokalisierten gesellschaftlich-wirtschaftlichen Kräfte, aber auch durch ihre historische Überlieferung, die im Fall Ostpreußens und Schlesiens besonders reich gewesen ist. Ein anderes Gesicht als bei den altpreußischen trug der Regionalismus bei den neugeschaffenen Provinzen Rheinland und Westfalen. Beide Gebiete waren sich zwar während der viele Jahrhunderte langen Zeit ihrer territorialen Aufsplitterung einer gewissen geographisch-geschichtlichen Verbundenheit bewußt geblieben18, aber kein Zweifel, daß bis zum Auseinanderfallen des alten Reiches die territoriale Zugehörigkeit in ihrer politischen Bedeutung auch für das Bewußtsein der Untertanen dem landschaftlichen Zusammengehörigkeitsgefühl voranging. Die Herkunft aus dem Stift Münster oder aus der Grafschaft Mark, aus dem Erzstift Köln oder der 18 Vgl. P. Casser, Das Westfalenbewußtsein im Wandel der Geschichte (Der Raum Westfalen, II) 1934, 213 – 294.

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Grafschaft Wied wog schwerer als die Eigenschaft des Westfälischen oder des Rheinländischen. Erst nach der Verschmelzung der westdeutschen Gebiete in zwei große preußische Provinzen schlug die Stunde für einen politisch bemerkenswerten Regionalismus im Westen der Monarchie. Dieser Regionalismus ist schon unter sehr verschiedenen Gesichtspunkten ausgeleuchtet worden: allgemein bekannt sind die Spannungen des katholischen Elements in Rheinland und Westfalen mit dem protestantisch-staatskirchlichen Berliner Regime, der im Vergleich zu Altpreußen fortschrittlichere und modernere sozialökonomische Zustand im Westen, Reibungen zwischen Beamten aus den alten Provinzen und der neupreußischen Bevölkerung, nicht zuletzt die institutionelle Sonderstellung des linksrheinischen Preußen auf Grund seiner vorhergehenden kurzen, aber bedeutungsvollen Zugehörigkeit zu Frankreich. Wenn wir von den beiden westlichen Provinzen des Hohenzollernstaates als politischen Landschaften sprechen, meinen wir allerdings mehr als die Summe der eben aufgezählten Fakten. Die administrative Zusammenfassung verschiedener Territorien schuf ein neues Gemeinschaftsgefühl, das sich in der politischen Willensbildung bemerkbar machte und als Filter für ältere Traditionen wirkte. Das Traditionsbewußtsein enthüllt sich uns – so paradox dies klingen mag – bei näherem Zusehen als besonders wandelbar und veränderlich. Fortwährend scheidet es Vorstellungen aus, formt sie um und bildet in der Anknüpfung an Vergangenes, aber unter aktueller Fragestellung, neue historische Perspektiven aus. Von Generation zu Generation schwächten sich im preußischen Westen die Überlieferungen des Zustands vor 1815 ab; an die Stelle Trierischer oder Clevischer, Paderbornscher oder Bentheimischer Territorialität traten ein rheinischer oder westfälischer Regionalismus im Rahmen des Königreichs Preußen. Die katholische Opposition gegen die Kulturkampfmaßnahmen der preußischen Regierung empfand sich hinsichtlich ihres regionalen Charakters längst nicht mehr als eine Gegnerschaft der Bevölkerung in den ehemals kurkölnischen oder münsterschen Landen, sondern als eine rheinische oder westfälische Widerstandsbewegung. Der Staat Preußen selbst war es also, der durch seine Verwaltungsgliederung entscheidend zur Bildung neuer politischer Landschaften beigetragen hat. Die neugewonnenen Bevölkerungen dieses Staates entfremdeten sich zwar verhältnismäßig rasch ihrem territorialen Herkommen, aber sie wurden deswegen keineswegs schlechthin Preußen; innerhalb des neuen Staatsverbandes entwickelten sie Regionalismen, die sich zwar historisch zu stützen und zu legitimieren suchten, tatsächlich aber sehr viel jüngeren Ursprungs waren, als es nach außen hin und ihren Verfechtern selbst scheinen mochte. Die Ereignisse des Jahres 1866 bereicherten den innerpreußischen Regionalismus um eine neue Spielart: ein eben noch lebenskräftiger Staat, Hannover, war auf Grund von Krieg, Eroberung und Depossedierung des alten Fürstenhauses als Provinz der Hohenzollernmonarchie einverleibt worden. Das Königreich Hannover als Neuschöpfung des 19. Jahrhunderts hatte seinerseits Spannungen zwischen den welfischen Erblanden und neugewonnenen historischen Landschaften gekannt. Staatsbewußtsein und Ergebenheit gegenüber der Dynastie waren nicht in allen

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Landesteilen gleich stark, aber das teils Jahrhunderte, teils nur fünfzig Jahre alte Zusammengehörigkeitsbewußtsein reichte aus, um den preußischen Regionalismus 1866 um die zäheste und eigenwilligste aller seiner politischen Landschaften zu bereichern, einer Landschaft, die den Gedanken an Wiedergewinnung staatlicher Selbständigkeit nie ganz hat fallen lassen und dieses Ziel schließlich auch verwirklichen konnte. Daß der Gebietsbestand des ehemaligen Staates in provinzialer Form geschlossen erhalten blieb, erleichterte das Fortleben, zum Teil auch die Neubildung einer niedersächsischen politischen Mentalität und eines niedersächsischen Regionalismus, den wir nicht schlechthin mit dem Welfentum und den Bestrebungen der späteren deutsch-hannoveranischen Partei identifizieren dürfen. Die anfänglich starke, später schwache, aber nie ganz ausgestorbene welfische Gesinnung erscheint nur als der pointierteste Ausdruck der historisch-politischen Eigenständigkeit des Landes. Die niedersächsische Gesinnung überwog die aktivistisch welfische. Jene konnte bei Erreichung weitgehender provinzialer Autonomie vielleicht zufriedengestellt und mit dem neuen Herrscherhaus und Staat ausgesöhnt werden, diese nicht. Solange die preußische Monarchie prosperierte und als schließlich ein Ausgleich zwischen den Häusern Hannover und Hohenzollern stattfand, brauchte Berlin weder vom Welfentum noch vom niedersächsischen Regionalismus eine schwerwiegende Beeinträchtigung zu befürchten. Doch die politische Bedeutung der historischen Landschaft zeigt sich gewöhnlich erst in Krisenzeiten. In Perioden friedlicher Konsolidierung und wirtschaftlichen Wohlergehens befindet sich die deutsche politische Landschaft weitgehend im Zustand einer latenten Existenz. Aber bei Erschütterungen des deutschen Staatswesens sucht man nach neuen Ansätzen und greift auf die Lösungen zurück, die im Schoße des Regionalismus geborgen liegen. Ein gutes Beispiel hierfür ist Hessen. Als 1866 das Kurfürstentum Hessen, das Herzogtum Nassau und Frankfurt zur Provinz Hessen-Nassau zusammengelegt wurden, ließ sich der Regionalismus dieser neuen politischen Landschaft nicht entfernt mit dem Hannovers vergleichen. Die kurhessischen Renitenten (W. Hopf!) in der Politik wie in der evangelischen Kirche zählten weniger als die welfischen Oppositionellen. Der verhältnismäßigen Geschlossenheit Hannovers stand im Fall der Provinz Hessen-Nassau ein sehr heterogenes Gebilde gegenüber. Bis 1918 brauchte sich Preußen wegen dieser neuen Provinz keine ernstlichen Sorgen zu machen. Aber schon in der Zeit der Weimarer Republik änderte sich dies, und 1946 kam es gar zur Gründung eines „großhessischen“ Staates – ein Vorgang, der an eine reale politische Tendenz anknüpfte, eine regionale Bewegung, die über Provinz- und Staatsgrenzen hinausführte. Die süddeutschen Mittelstaaten Bayern, Württemberg, Baden hatten sich in der napoleonischen Zeit relativ mehr erweitert als Preußen. Das Verhältnis der Neuerwerbungen zu den Stammlanden wurde daher in München, Stuttgart und Karlsruhe prekärer empfunden und rigoroser zu bewältigen versucht als in Berlin. Nirgendwo in den maßgebenden Sphären der süddeutschen Hauptstädte wünschte man freilich eine krasse Vorherrschaft der alten Landesteile über die jungen. Man

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versuchte vielmehr einen rationalen und modernen Staatsneubau, der in den Kernlanden oft nicht weniger Widerspruch erfuhr als in neuen Provinzen. Das bekannteste Beispiel bietet in dieser Hinsicht das Verhalten der Altwürttemberger gegenüber der neuen Staatsschöpfung ihres Herrscherhauses. Aber wie die Dynastien und die Residenzen in den angestammten Landesteilen verblieben, so konnte die offizielle Tradition, die jeder dieser Staaten auszubilden und zu pflegen hatte, doch nur beim angestammten Herrscherhaus und seinen ursprünglichen Erblanden ansetzen. Mochten Bayern und Württemberg anfänglich alle regionalen Traditionen durch eine nach dem Vorbild der französischen Departements mit geographischen Bezeichnungen arbeitende neue Gebietseinteilung ihrer Staaten zu beseitigen streben, ihre Historiographie, ihr Schulunterricht, ihre offizielle Presse, ihr dynastischer „Kult“ mußten notwendigerweise mehr an Altbayern, Altwürttemberg und Altbaden anknüpfen als an die neubayerischen, neuwürttembergischen und neubadischen Gebiete. Im ganzen wirkte sich also die uniformierende und egalisierende innere Staatspolitik in den neuerworbenen Landesteilen doch drückender und gehässiger aus als in den ursprünglichen. Eine Unifizierung bis zum letzten ist allerdings nirgends gelungen. Gegen alle Regierungspolitik blieben historische Landschaften erhalten und – der interessantere Fall – es bildeten sich neue politische Landschaften. Bemerkenswert ist, daß es nirgends zu einer dauernden und geschlossenen Opposition sämtlicher neuer Landesteile gegen ihr Staatsregime gekommen ist. Dazu waren die neuen Besitzungen zu disparat gelegen und in ihrem Charakter zu heterogen. Was verband schon im neugeschaffenen württembergischen Staatswesen die Reichsstadt Buchhorn mit den hohenloheschen Fürstentümern, was in dem neuen Baden das Bistum Konstanz mit den pfälzischen Landen? Sieht man von den gelegentlichen Fühlungnahmen oppositioneller Abgeordneter verschiedener politischer Landschaften in den süddeutschen Kammern ab, so hat es im Norden wie im Süden nur selten Ansätze zu einer Kampf- und Arbeitsgemeinschaft der Regionalismen gegeben. Die Parlamente haben, wie es die Absicht der Verfassungsgeber gewesen ist, im ganzen mehr der gesamtstaatlichen Integration als der Wahrung landschaftlicher Belange gedient. Jede Landschaft stand für sich. Dazu kam, daß eine Anzahl kulturell und stammesmäßig bereits geprägter und für die Ausbildung eines politischen Selbstbewußtseins an sich geeigneter Landschaften es nie zu einer stärkeren regionalen Aktivität gebracht hat, z. B. das württembergische Franken oder die Oberpfalz. Auch Bayerisch-Schwaben hat trotz einiger Anläufe kein nennenswertes Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt, am ehesten noch innerhalb dieses Regierungsbezirkes und über ihn hinausgreifend das Allgäu. Dagegen sind Oberschwaben, Franken und die bayerische Pfalz „klassische“ Fälle politischer Landschaftsbildung im 19. / 20. Jahrhundert geworden. Die neue politische Landschaft Oberschwaben leitete zwar manche Traditionen von der ehemaligen gleichnamigen Reichslandvogtei ab. Aber die festeste Klammer des neuen Gemeinschaftsgefühls, das im Süden des jungen Königreichs

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Württemberg unter einer aus den verschiedensten geistlichen und weltlichen Herrschaften hervorgegangenen Bevölkerung erwuchs, bildeten weder Reichspatriotismus noch Anhänglichkeit an das Haus Habsburg, sondern das katholische Bekenntnis. Die protestantischen Einwohner ehemaliger Reichsstädte wie Ravensburg oder Isny standen im Grunde genommen außerhalb des oberschwäbischen Regionalismus. Wie der preußische Staat durch seine administrative Zusammenfassung der früheren rheinischen Landesherrschaften erst definitiv den politischen Begriff des Rheinländertums geschaffen hatte, so gab der württembergische Staat der Landschaft Oberschwaben mit der Errichtung des Bistumssitzes Rottenburg eine heimliche Hauptstadt. Wer den oberschwäbischen Regionalismus verstehen will, muß zunächst die Diözesangeschichte des Bistums Rottenburg studieren19, er muß sich mit den Katholiken-Versammlungen der siebziger und achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts in Aulendorf und den oberschwäbischen Katholikentagen (Volksvereinstagen) in Ravensburg, mit den seit 1841 anhebenden Mißhelligkeiten der Rottenburger Bischöfe mit der Stuttgarter Regierung beschäftigen. Das katholische Oberschwaben hatte seine entschiedenen Vertreter in der II. Kammer des württembergischen Landtags, Geistliche wie den späteren Bischof Hefele und bürgerliche Honoratioren wie den Tübinger Oberjustizrat Wilhelm Wiest, Verfasser der aufsehenerregenden anonymen Schrift „Censuren“ (Schaffhausen 1842), Martin Mack, Franz von Zwenger, es hatte seine Volksführer wie den „oberschwäbischen O’Connell“ Oberjustizprokurator Andreas Alexander Wiest, Herausgeber des in Ulm erscheinenden „Donau- und Jagstboten“, der Standeszeitschrift des demokratischen Bauerntums im Oberland mit seinen antifeudalen Interessen. Die Pressegeschichte, dies sei an dieser Stelle bemerkt, erschließt besonders wertvolle Quellen zur Geschichte des modernen Regionalismus. In Oberschwaben beschränkten sich die Bemühungen um eine landschaftliche Oppositionspresse nicht nur auf die Tätigkeit des Schwäbischen Merkur und ihm verwandter Organe, sie erstreckten sich auch auf vormärzliche Bestrebungen des katholischen Adels dieses Gebietes, gegen Stuttgart und Berlin gerichtete Zeitungen zu gründen oder zu unterstützen20 und reichten unter veränderten politischen Vorzeichen bis zur Gründung des dem Zentrum nahestehenden VERBO („Verband oberschwäbischer Zeitungsverleger“, Sitz Friedrichshafen) im Jahre 192221 und seiner Nachfolger. Ähnlich läßt sich in den preußischen Westprovinzen innerhalb der regionalen Pressegeschichte eine Linie von dem Wirken des katholischen Pressevereins der einheimischen Ritterschaft und seiner unter Leitung Franz von Florencourts stehenden „Politischen Wochen19 Vgl. F. Stärk, Die Diözese Rottenburg und ihre Bischöfe, Stuttgart 1928. Besonders einschlägig ferner Cl. Bauer, Politischer Katholizismus in Württemberg bis zum Jahr 1848, Freiburg 1929. – Hinweis auf Oberschwaben bei (W. Wiest), Censuren über die Abweisung des Bischofs von Rottenburg durch die württembergische Abgeordnetenkammer, Schaffhausen 1842, 150 f. 20 Vgl. A. Döberl, Ernst Zander und der Fränkische Courier. Ein Beitrag zur Geschichte des katholischen Zeitungswesens (Hist. Pol.-Bl., Bd. 165) 1920, 197 – 215. 21 Vgl. K. Bömer, Die Konzentrationsbewegung im deutschen Zeitungsgewerbe (Zeitungswissenschaft; Monatsschrift f. Internationale Zeitungsforschung, II) 1927, 52 f.

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schrift“22 bis zur Gründung der im Sinne des Zentrums wirkenden ZENO („Zeitungsverlegergesellschaft Nordwestdeutschlands“) ziehen23. Neben den katholischen Demokraten bürgerlicher Herkunft waren auch Persönlichkeiten aus der Aristokratie für die Belange Oberschwabens und der katholischen Kirche, für die Sache des „katholischen Landesteils“, wie man schon 1819 im Landtag sagte24, aufgetreten, so aus der ehemaligen Reichsritterschaft die Freiherrn von Hornstein, von Sturmfeder und von Ulm und als Führer der katholischen Standesherren in der I. Kammer Erbprinz (später Fürst) Konstantin Zeil-Waldburg. Aus späterer Zeit ist vor allem Graf Otto Rechberg-Rothenlöwen als Förderer der oberschwäbisch-katholischen Sache zu nennen. Der hocharistokratische Zeil mühte sich seit 1848 um einen Brückenschlag zwischen Katholizismus und Demokratie. Er hielt sich in Württemberg wie als Abgeordneter in der Paulskirche zur Linken25, und als er 1850 von der württembergischen Regierung wegen Beleidigung vor Gericht gestellt wurde, beklagte er sich, daß man ihn vor ein protestantisches Gericht des Unterlandes gestellt habe. Die „katholischen, aber freisinnigen Oberländer“, meinte er, werden sagen: „Die Regierung hat schlau gehandelt, den Verteidiger unseres Rechts vor ein pietistisches Schwurgericht des Unterlands zu stellen“26. Also auch hier die Synthese von politisch-konfessioneller Haltung und landschaftlicher Bindung! Man kann nicht sagen, daß ihr Katholizismus das einzige Element war, das diese Männer prägte. Wie es zwischen feudalen und demokratischen Katholiken heftige Spannungen gab, so kam es auch innerhalb der Diözese Rottenburg zu scharfen theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen. Wenn das politisch-gesellschaftliche Konfessionsbewußtsein diese Zerreißprobe überstanden hat, so nicht zuletzt deswegen, weil es durch die landschaftliche Geschlossenheit Oberschwabens im Sinne eines historisch-politischen Zusammengehörigkeitsgefühls über einen kaum hoch genug einzuschätzenden Stabilisierungsfaktor verfügte. Wie der oberschwäbische Regionalismus katholischen Geistes war, so förderte das protestantische Bewußtsein den fränkischen Regionalismus in Bayern aufs Ganze gesehen wohl noch stärker als die Überlieferungen des Reichskreises und der reichsunmittelbaren Ritterschaft. Würzburg und Bamberg, Hauptstädte ehemaliger fränkischer Fürstbistümer, haben zwar jahrzehntelang besonders aktive Oppositionsgruppen gegen das Münchener politische System am Werk gesehen, aber diese haben ihr „Frankentum“ trotz der pathetisch-agitatorischen „Ausrufung“ des 22 „Polit. Wochenschrift. Ein Organ für katholische Politik.“ – Vgl. Karl Bachem, Josef Bachem, II, Köln 1912, 208 f. u. 214 f. Ebenda S. 259: „Im katholisch-konservativen Preßverein hatte der rheinische Adel (Sperrung vom Vf.) eine politische Organisation gefunden.“ 23 K. Grosskopff, Die Zeno-Gesellschaft, Münstersche Diss., 1962. 24 Stärk a. a. O. 12. 25 Vgl. H. Gollwitzer, Die Standesherren. Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten 1815 – 1918. Ein Beitrag zur deutschen Sozialgeschichte, Stuttgart 1957, 194 – 197. 26 Fürst Waldburg-Zeil, Meine Grundsätze, Schaffhausen 1850, passim

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Würzburger Bürgermeisters Hehr zum „Frankenkönig“ und ähnlicher Aktionen weniger hervorgehoben als die Kreise in Nürnberg und anderen Reichsstädten, in den ehemaligen Markgrafschaften und weiteren ebenfalls protestantischen Gebieten, die den Begriff des „evangelischen Frankenlandes“27 betonten. In Männern wie dem Bayreuther Geistlichen und Mitglied der Fortschrittspartei Kraussold, dem der gleichen Partei zugehörigen Erlanger evangelischen Theologen Hofmann, dem aus Schlesien stammenden, in Ansbach gebürtigen Münchener Professor und nationalliberalen Reichstagsabgeordneten für Ansbach, G. M. Thomas, dem Parlamentarier Freiherr v. Rotenhan oder dem ehemaligen bayerischen Regierungspräsidenten und späteren Reichsratsmitglied Graf Carl Giech, um nur einige zu nennen, hat diese Richtung sehr bewußte und entschiedene politische Vertreter ihrer historischen Landschaft gefunden. Der aus Württemberg stammende Nürnberger Demokratenführer Diezel sah es als die Aufgabe einer „verständig geleiteten demokratischen Partei in Franken“ an, „das fränkische Stammesbewußtsein auf der Basis des Deutschtums gegenüber dem Baierthum auszubilden und die fränkische Stammeseigentümlichkeit gegen die altbairische so schroff als möglich hervorzukehren“28. Ich verweise hier auf die von mir in dieser Zeitschrift bereits gemachten Ausführungen über die historisch-ideologische Gestalt eines Frankentums im 19. Jahrhundert29. Das konfessionelle Moment tritt weitgehend zurück im „Sondergeist“ der bayerischen Pfalz. Mag man immerhin die Neigung protestantischer Pfälzer zur Opposition schon auf ihre Erfahrung mit den katholischen Pfälzer Wittelsbachern zurückführen, mag man auf bestimmte politische Tendenzen des reformierten Bekenntnisses verweisen, entscheidend war in der Pfalz die beide Konfessionen durchdringende Aufklärungsgesinnung, die vom Westen übernommene liberale und demokratische Mentalität. Bemerkenswert ist, daß für das historische Selbstverständnis des pfälzischen Regionalismus die kurpfälzische Vergangenheit – in ihrem Antagonismus zu Altbayern jahrhundertlang ein großes Thema der deutschen dynastischen Geschichte – kaum eine nennenswerte Rolle spielte. Ihre staatlichen Zustände im 18. Jahrhundert konnten die Pfälzer nicht befriedigen. Um so mehr hatten die Pfalz zwanzig Jahre Zugehörigkeit zu Frankreich geprägt. In ihrer wirtschaftlich-gesellschaftlichen wie ihrer Verfassungsstruktur weit moderner als die rechtsrheinischen Gebiete, wurde sie nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft in das bayerische Staatsgebiet einbezogen30. Der bayerische König garantierte der Pfalz am 16. VI. 1816 ihre Sonderstellung auf administrativem und jurisdiktionellem Gebiet. Eine ähnliche Rücksichtnahme hatte man in Berlin den 27 H. Gollwitzer, Graf Carl Giech 1795 – 1865. Eine Studie zur politischen Geschichte des fränkischen Protestantismus in Bayern (Zschr. f. bayer. Landesgesch., Bd. 24) 1961, 135. 28 G. Diezel, Baiern und die Revolution, Zürich 1849, 243 f. 29 Vgl. Anm. 27. 30 Vgl. H. Schreibmüller, Bayern und Pfalz 1816 – 1916, Kaiserslautern 1916 u. K. Baumann, Probleme der pfälzischen Geschichte im 19. Jahrhundert (Mitt. des Hist. Vereins der Pfalz, 51. Bd.) 1935, 251 – 272.

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rheinpreußischen und in Darmstadt den rheinhessischen Landen gewährt. Das Vorhandensein einer Provinz mit Sonderstatus belebte und beunruhigte die bayerische Innenpolitik. Eine ganze Schule bayerischer Verwaltungsmänner suchte das fortschrittliche System der Pfalz auf die gesamte Administration des Königreichs zu übertragen. Ihnen stand eine konservative Richtung gegenüber, die umgekehrt die Pfalz völlig zu „bajuwarisieren“ wünschte. Die Ereignisse von 1848 galten manchem Vertreter dieser Tendenz als ein Sieg des liberalen Pfälzergeists über das Münchener und altbayerische System. Wichtiger noch als Richtungskämpfe innerhalb der Bürokratie war selbstverständlich die Haltung der pfälzischen Bevölkerung selbst. 1831 sah sich die bayerische Regierung genötigt, zwecks Aufrechterhaltung der Ordnung Truppen in die Pfalz zu entsenden. 1849 erhoben sich die Pfälzer für die deutsche Reichsverfassung gegen Bayern. Nach der Jahrhundertmitte beruhigte sich das Verhältnis zwischen München und der Pfalz mehr und mehr, aber die Franzosenzeit31 und noch mehr die Auseinandersetzungen mit dem bayerischen Staat bildeten nun ihrerseits historische Fermente im Selbstbewußtsein der Pfalz als moderner politischer Landschaft. Auch als der politische Katholizismus dort im Laufe der Zeit beträchtliche Positionen eingenommen hatte, blieb die Pfalz überwiegend liberal und demokratisch mit starkem Anteil der Sozialdemokratie. Begünstigt überdies durch die geographische Lage, durch die damals stark ins Gewicht fallende Entfernung von der Zentrale, bildete sich in der Pfalz ein markanter Fall von Regionalismus aus, der sich zwar in normalen Zeiten nicht eben aufdringlich, in Krisensituationen jedoch um so mehr bemerkbar machte. Mit den aufgerührten Beispielen ist der Kreis des deutschen Regionalismus auch nicht entfernt ausgeschritten. Wir beschränken uns indessen hier auf eine Zwischenbilanz über seine politische Bedeutung zur Zeit der monarchischen Ära im Deutschland des 19. / 20. Jahrhunderts. Die historische Landschaft wirkte konstitutiv innerhalb erster Fraktionsbildungen in der Frühzeit des deutschen Parlamentarismus. Sie erzeugte politisches Zusammengehörigkeitsgefühl, das sich in besonderer Treue oder – häufiger – in Opposition zur Regierung des Gesamtstaats äußern konnte. Regionale Unzufriedenheit mit der bestehenden Staatsordnung führte nicht selten zu dem Verlangen nach einer Reform des Bundes oder einem Neubau des Reiches, und manche namhaften Männer, die sich besonders nachdrücklich für eine ganz Deutschland einbeziehende Regelung politischer oder konfessioneller Fragen eingesetzt haben, sind nachweislich aus regionaler Opposition hervorgegangen und hatten das Vertrauen auf die nur innerstaatliche Lösbarkeit der sie bewegenden Fragen verloren. Die Eigenart der politischen Landschaft zeigte sich in charakteristischen Wahlergebnissen; ihre kirchliche, kulturelle oder wirtschaftliche Aktivität war wiederum vom Politischen nicht zu trennen. Das Verhalten der Bundesstaaten ihren politischen Landschaften gegenüber schwankte zwischen bedingter Anerkennung32 über das Gewährenlassen bis zu entschiedener Einengung und strikter Bekämpfung. 31

Vgl. W. Klein, Der Napoleonkult in der Pfalz, München u. Bln. 1934.

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Im Vordergrund des allgemeinen politischen Lebens stehen die historisch-politischen Landschaften nicht. Das nationale Einigungswerk und später die allgemeinen deutschen Belange gehen ihnen im Bewußtsein der Öffentlichkeit in großem Abstand vor. Was andererseits der historischen Landschaft noch zur Zeit der Monarchie einen außerordentlichen Auftrieb verlieh, war die aus älteren Ursprüngen erwachsene, seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland sich ausbreitende und durchsetzende, als gesamteuropäische Strömung noch nicht genügend gewürdigte Heimatbewegung. Ihre in allen Kulturbereichen zutage tretenden Reformtendenzen, ihr Zurückgreifen auf heimatlich-landschaftliche Tradition in der Baukunst, der Literatur, der Musik mußten auf dem Weg über die Kulturpolitik dem Regionalismus notwendigerweise belebende Impulse zuführen. Man denke an den von Langbehn betriebenen Kult des Niedersachsentums, an das Entstehen wissenschaftlicher oder heimatpolitischer Zeitschriften wie „Westfalen“, „Niedersachsen“, „Altbayerische Monatsschrift“, an die Begründung regionaler Künstler- und Dichtergenossenschaften, an die in innerem Zusammenhang stehenden Bestrebungen Heinrich Sohnreys, Paul Schultze-Naumburgs und zum Teil des Albrecht Dürer-Bundes! Der deutsche Regionalismus auch und gerade als Politikum stärkte und nährte sich aus solchem Zustrom.

III. Die Krisen, die Deutschland seit seiner Niederlage im I. Weltkrieg heimsuchten, betrafen nicht nur seine außenpolitisch-militärische Position, seine sozialökonomischen Verhältnisse und seine geistige Haltung, sie erstreckten sich auch auf sein territoriales Gefüge. Der aus dem Allgäu stammende Bayer Josef Hofmiller vertraute 1919 seinem Tagebuch folgendes an: „Die ernsteste Frage jedoch ist diese: Wird Bayern nach Wegfall der Dynastie noch halten? Es ist ein junges Gebilde, das erst durch die Regentschaft richtig zusammengewachsen ist. Aber Franken gravitiert nach Norden und Schwaben nach Württemberg“33. Wie sich bald herausstellen sollte, erwies sich die bayerische Staatlichkeit gefestigter als es Hofmiller angenommen hatte. Doch verriet die Eintragung des sensiblen Kritikers einiges über die Krisenanfälligkeit innerdeutscher Staatlichkeit und den Fortbestand der nichtstaatlichen politischen Landschaft. Wir lassen im folgenden, von der Situation von 1918 / 19 ausgehend, die durch Versailles erzwungenen Gebietsabtretungen außer Betracht und beschränken uns auf die Bewegungen, bei denen, manipuliert oder spontan, die historisch-politische Landschaft in Erscheinung trat. Regionale Gesichtspunkte wurden damals zum Beispiel von seiten der separatistischen Bewegungen ins Spiel gebracht. Unterscheiden wir zunächst zwischen Separatismus 32 Die Anerkennung der regionalen Besonderheit und gleichzeitig ihre Einbettung in das Gesamtstaatsbewußtsein kommt beispielhaft bei militärischen Bezeichnungen zum Ausdruck: z. B. Kgl. preußisches 2. westfälisches Feldartillerieregiment Nr. 22. 33 J. Hofmiller, Revolutionstagebuch, Lpzg.. 41938, 64.

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sans phrase im Sinn eindeutiger Loslösungsbestrebungen vom Reich und Tendenzen zur Abspaltung von Preußen, Bayern und Hessen mit der tatsächlichen oder angeblichen Absicht, im Reichsverband zu verbleiben. Dazu kam die Drohung regionaler Verselbständigung für den Fall, daß der Gesamtstaat eine unerwünschte politische Linie einschlug: Franken, zum mindesten sein evangelischer Teil und insbesondere die fränkische Linke, hätte eine bayerische Trennung vom Reich, die jedoch ernsthaft nur im Fall eines kommunistisch-linkssozialistischen Sieges in Norddeutschland zu erwarten stand, kaum mitgemacht34. Umgekehrt regte es sich aber auch in den ländlichen Teilen Frankens während der Rätediktatur, und der Ruf „Los von München“ fand manchen Zuspruch35. Schon 1849 hat eine Volksversammlung auf dem Judenbühl bei Nürnberg die Trennung Frankens von Bayern und den Anschluß an das Vorbild der Pfalz in Aussicht gestellt, wenn Bayern die Reichsverfassung nicht annehmen sollte36. Schließlich hat man 1919 in Ostelbien eine nur taktisch gemeinte, vorübergehende Lösung vom Reich und von Preußen in Erwägung gezogen, um in der Abwehr gegen Polen freie Hand zu haben37; dort trat also ein ganzes Konglomerat von politischen Landschaften in Erscheinung, ein regionaler Großverband, etwa dem Begriff Süddeutschland ebenbürtig. In allen diesen Fällen, selbst da, wo, wie im Fall des französisch dirigierten Separatismus, die Initiative der Besatzungsmacht den Ausschlag gab, konnte an ein von der bundesstaatlichen Zugehörigkeit zu unterscheidendes und von ihr distanziertes Heimatbewußtsein angeknüpft werden: fränkischer oder pfälzischer Standpunkt, Rheinländertum, deutscher Osten, altpreußische Provinzen, Ostelbien. Wie Anno 48 hatte wiederum die Krise die regionalen Selbständigkeitstendenzen entbunden, die sich in normalen Zeiten kaum oder nur schwach regten. Ähnliche Tendenzen ließen sich im Nachbarstaat Österreich beobachten: eine starke, hauptsächlich von wirtschaftlichen Beweggründen geleitete Bewegung in Vorarlberg drängte 1919 zum Anschluß an die Schweiz38. Der Regionalismus, der sich unbequem und eigenwillig in die Politik einführte, ging teils von der Landschaft als historischer Größe und Inbegriff heimatlicher Tradition aus, teils diente sie ihm nur als Gehäuse einer besonders entschiedenen politischen Gesinnung. Im übrigen wäre es unrichtig, sich die regionalistischen 34 Zum Einfluß des fränkischen Elements in der bayerischen Sozialdemokratie vgl. H. G. Zimmermann, Bayern und das Reich, 1918 – 1925, München 1953, 86 f. 35 Vgl. H. Speckner, Die Ordnungszelle Bayern, Erlanger (maschinenschriftl.) Diss. 1955, 40. 36 Vgl. L. Zimmermann a. a. O. 404 ff. 37 Vgl. G. Ritter, Karl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1954, 22. – Taktisch gemeint waren auch sezessionistische Erwägungen einiger bayerischer Deutschnationaler sowie mancher konservativ-katholischer Kreise in den wirren Anfangsjahren der Weimarer Republik. 38 O. Ender, Vorarlbergs Schweizer-Anschluß-Bewegung von 1918 bis 1924 (Schriften zur Vorarlberger Landeskunde, 5) 1952 und E. Hämmerle, Das staatsrechtliche Verhältnis Vorarlbergs zu Österreich unter besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen Beziehungen, Innsbruck 1950, insbesondere Kapitel 5.

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Tendenzen nur als auflösend und abtrennend, als zentrifugal und partikularistisch, als Partikularismus innerhalb staatlicher Partikularismen vorzustellen. Historisches Landschaftsbewußtsein konnte auch über bestehende Staatsgrenzen hinausgreifen, konnte zur Grundlage und zum Motor neuer territorialer Bildungen werden und die politische Landkarte Deutschlands verändern. Das zeigte sich am Zustandekommen des Freistaates Thüringen im Jahre 192039. In dieselbe Richtung zielten die in der Zeit der Weimarer Republik und des Hitlerreichs noch nicht erfolgreichen Bemühungen des Hessischen Volksbunds40. In Thüringen wie in Hessen hatte sich über die staatliche Zersplitterung hinweg stets ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung erhalten. Die Benennung von Zeitschriften und Vereinen seit dem 18. Jahrhundert spricht ebenso hierfür wie die bezeichnenderweise ebenfalls in der Krise von 1848 zutage tretenden thüringischen Einigungsbestrebungen41. Überdies haben Fürsten und Regierungen seit Beginn des 19. Jahrhunderts ihrerseits hin und wieder Anläufe genommen, um zu einem Zusammenschluß der thüringischen Staaten zu gelangen. Bei den hessischen wie den thüringischen Vereinigungstendenzen wird man wiederum das historisch-politische Landschaftsbewußtsein hoch über die allenfalls in der sprachlich-folkloristischen und charakterologischen Sphäre greifbaren Stammeseigentümlichkeiten und ihre emotionalen Auswirkungen stellen dürfen. Die Erinnerung an die ehemalige Einheit war wach geblieben, man wußte, daß die regierenden Familien nur die verschiedenen Zweige und Linien (wenn man von den schwarzburgischen und reußischen Häusern in Thüringen absieht) jeweils einer, der brabantischen oder der wettinisch-ernestinischen, Dynastie bildeten, und gemeinsame Institutionen wie die ernestinische Kurie am Bundestag oder die gesamternestinische Landesuniversität Jena stärkten den überstaatlichen Regionalismus. Lag den thüringischen und hessischen Bestrebungen eine sehr alte Tradition zugrunde, so riefen anderswo auch jüngere und jüngste politische und wirtschaftliche Entwicklungen, wenn sie nur schwer genug wogen, in verhältnismäßig kurzer Zeit regionale Solidarität hervor. Dafür liefert das Saarland ein überzeugendes Beispiel. Bis zum I. Weltkrieg war „Saarland“ oder „Saargebiet“ als politisches Gebilde ein unbekannter Begriff. Indessen hatten die Saargruben und die ihr verbundene Industrie zu einer wirtschaftlichen Schwerpunktbildung geführt, die politische Konsequenzen zeitigen sollte. In der wilhelmischen Ära sprach man in diesem Sinn schon von dem „Königreich Stumm“ oder „Saarabien“. Die Zusammenfassung ehemals preußischer und bayerischer Gebietsteile zu einem dem Völkerbund unterVgl. W. Flach a. a. O. passim. Vgl. K. Demandt, Geschichte d. Landes Hessen, Kassel / Basel 1959, 438. – Zu den Auseinandersetzungen um die Gestaltung Hessens vor 1945 vgl. zahlreiche Beiträge in der Zschr. „Hessenland“, namentlich in den Jgg. 1930 – 1932, sowie Edward P. Becker, Hessen, Das chattische Stammland und die Reichsreform, 1932 u. ders., Soll Kurhessen zerschlagen werden?, 1932. 41 Vgl. P. Wentzke, Thüringische Einigungsbestrebungen im Jahr 1848 (Zschr. d. Vereins f. Thüringische Geschichte und Altertumskunde, N.F. 7. Beih.), Jena 1917. 39 40

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stellten und Frankreich die wirtschaftlichen Ausbeutungsmöglichkeiten einräumenden Saarterritorium bescherte dessen Bevölkerung ein politisches Schicksal als Saarländer. Die wider Willen außerhalb des Reichsverbandes regionalisierten Saarländer nahmen ihr Geschick auf demokratische Weise in die Hände und suchten die Entscheidung von 1919 rückgängig zu machen, sobald sich dazu Gelegenheit bot. Aber die separate politische und wirtschaftliche Geschichte von 1919 / 1935 und das Ereignis der Abstimmung von 1935, die folgende Schaffung eines Verwaltungsbezirks Saarland, die abermalige Loslösung des Gebiets 1945, die Verfassung von 1947 und die zweite Entscheidung für Deutschland 1954 hatten dem Saarland im Laufe einiger Jahrzehnte seine eigene politische Physiognomie aufgeprägt, hatten es in jeder Hinsicht zu einer eigenständigen politischen Landschaft gemacht, und der Eintritt des Gebietes als selbständiger Staat in den Verband der Bundesrepublik nach der Abstimmung von 1954 bedeutete den sinnvollen Abschluß dieser Entwicklung. Ansätze zu einer Politisierung der „ökonomischen Landschaft“42 ergaben sich auch im Ruhrgebiet (Rheinisch-westfälisches Industriegebiet)43. Die Wirksamkeit des Siedlungsverbandes Ruhrkohlenbezirk, das Erlebnis der Besatzungszeit und zahlreiche andere politische Auswirkungen der wirtschaftlichen Zusammengehörigkeit ließen das „Revier“ zu einem Politikum werden. In den nationalsozialistischen Plänen zur Neuordnung des Reiches taucht u. a. auch ein Reichsgau Ruhr auf. Aber bis zum heutigen Tag erwiesen sich der ältere rheinische und westfälische Regionalismus als stärker denn die Selbständigkeitstendenzen des Industriegebiets. Ebenfalls im Sinn der „ökonomischen Landschaft“ war es gedacht, wenn im Zug der Reichsreformbestrebungen während der Ära der Weimarer Republik die Bildung einer „Küstenprovinz“ oder eines „Küstenlandes Niedersachsen“ mit Bremen als Mittelpunkt gefordert wurde, bestehend aus Ostfriesland, Oldenburg und hannoverschen Landstrichen44. Eine landschaftlich aktivierende Bedeutung kam u. U. der Grenzlage eines Gebietes zu, namentlich bei neu entstandener oder veränderter Grenzsituation. So lautete der offizielle Name des dem preußischen Staat 1919 verbliebenen Restes von Westpreußen „Provinz Grenzmark-Westpreußen“, das Hitlerreich schuf einen Gau Westmark, und schon vor der Zusammenfassung der bayerischen Regierungsbezirke Oberfranken, Oberpfalz und Niederbayern zu Hans Schemms Gau Bayerische Ostmark der NSDAP war der Ausdruck „Bayerische Ostmark“ in Umlauf gekommen. Er wurde allerdings bald von der Bezeichnung Ostmark überschattet, die das 42 Die wirtschaftswissenschaftliche Erforschung der ökonomischen Landschaft setzt, soviel man sieht, mit K. Bücher ein, der zwar von „territorialer Wirtschaftsgemeinschaft“ spricht, aber mit „territorial“ das Landschaftliche meint. Vgl. R. Häpke, Die ökonomische Landschaft und die Gruppenstadt in der älteren Wirtschaftsgeschichte (Aus Sozial- u. Wirtschaftsgeschichte, Gedenkschrift f. G. von Below) Stuttg. 1928, 99 ff. u. E. Scheu, Deutschlands Wirtschaftsprovinzen und Wirtschaftsbezirke, Berlin 1928 (Weltpolitische Bücherei, hrsg. von A. Grabowsky, Bd. 2). 43 Die westfälische Heimat, 12. Jg. (1930) 90 f. u. 196. 44 „Reichsreform“, 3. Jg., H. 4 (1931) 80.

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gesamte Deutschösterreich meinte und lange vor 1938 Verbreitung gefunden hatte. Auch antinationalsozialistische österreichische Kreise haben sie übernommen (Ostmärkische Sturmscharen!). Selbst rein administrative Maßnahmen konnten in verhältnismäßig kurzer Zeit zum Ausgangspunkt regionaler Schwerpunktbildung werden, z. B. die Kreiseinteilung für die Reichstagswahl. Bei der Beratung der einschlägigen Gesetzentwürfe im Reichstag sind die Probleme der historischen Landschaft verhältnismäßig wenig erörtert worden45. Es ging hauptsächlich um die Herstellung möglichst gleich großer Bezirke ohne historische Rücksichtnahme. Aber die Wahlkreiseinteilung bildete in der Folge eine wichtige Komponente bei der Gliederung der NSDAP nach Gauen, und die nationalsozialistische Innenpolitik hatte auf jeden Fall vorgesehen, in einer künftigen Reichsreform nicht nur parteipolitisch, sondern auch verwaltungspolitisch von den Gauen auszugehen. Der Umbau des Reiches, wie er 1919 von Hugo Preuß und seinen Gesinnungsgenossen in Aussicht genommen war, hätte in den „Reichsländern“ ohne Zweifel neue regionale Einheiten entstehen lassen. Zunächst erwies sich das historische Staatengefüge widerstandsfähiger als man vermutet hatte, wenn man von dem Zusammenschluß der thüringischen Staaten und einigen weiteren kleineren Flurbereinigungen absieht. Aber das 1919 einmal aufgeworfene Thema kam nicht mehr zur Ruhe. Daß die Reichsverfassung den preußischen Provinzen selbständiges Stimmrecht im Reichsrat verlieh, zeigte, in welche Richtung die Entwicklung laufen konnte46. Sobald die ärgsten außenpolitischen Nöte und inneren Wirren der Weimarer Republik überstanden waren, haben Regierung und Öffentlichkeit erneut und intensiv ihre Aufmerksamkeit der Reichsreform zugewandt. Nun ist allerdings zu betonen, daß die Erörterungen um die Reichsreform, die zwischen 1928 (Gründung des Lutherschen „Bundes zur Erneuerung des Reiches“) und 1932 ihren Höhepunkt erreichten, weit weniger von der politischen Landschaft als von den bestehenden, „Länder“ genannten Staaten des Reiches ausgingen47. Im Vordergrund standen die Fragen des Verhältnisses Preußens zum Reich, die Beseitigung der immer noch vorhandenen Kleinstaaten und anderer Gebietsveränderungen, das Problem Zentralismus – Föderalismus, wobei die Föderalisten die Position staatlicher Eigenständigkeit am nachdrücklichsten vertreten haben. Es Vgl. Verhandlungen des Reichstags, Bd. 355 u. 380, passim. Weimarer Reichsverfassung, Abschnitt 4, Art. 63: „. . . Jedoch wird die Hälfte der preußischen Stimmen nach Maßgabe eines Landesgesetzes von den preußischen Provinzialverwaltungen bestellt.“ – Dazu preußisches Gesetz über die Bestellung von Mitgliedern des Reichsrates durch die Provinzialverwaltungen vom 3. VI. 1921. 47 Hauptsächl. Veröffentlichungen des „Bundes zur Erneuerung des Reiches“: 1. Reich und Länder, Vorschläge, Begründung, Gesetzentwürfe. Bln. 1928; 2. Die Rechte des deutschen Reichspräsidenten nach der Reichsverfassung. Bln. 1930 (2. Aufl.); 3. Das Problem des Reichsrats. Leitsätze m. Begründung, Gesetzentwürfe m. Begründung, Vergleiche m. anderen Staaten. Bln. 1930; 4. Die Reichsreform. Bd. I: Allg. Grundlagen für die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen Reich, Ländern u. Gemeindeverbänden. (Ausführliches Literaturverzeichnis!) Bln. 1933. 45 46

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konnte aber nicht ausbleiben, daß im Zusammenhang einer Diskussion über die Reichsreform auch die regionalistische Komponente des deutschen Territorialismus zur Sprache kam. Das Organ des sogenannten Lutherbundes, die „Reichsreform“, behandelte nicht nur die von dieser Organisation aufgeworfenen Thesen und den darüber entstandenen Meinungsaustausch, sondern berichtete fortlaufend auch über verwaltungs- und territorialpolitische Bestrebungen anderen, d. h. meist regionalistischen Ursprungs. Im letzten Jahrfünft vor der nationalsozialistischen Machtergreifung erschien eine umfangreiche Literatur zu den Fragen des Regionalismus48, teils sehr sachkundige Publikationen, teils aber auch verwegene, luftige und weltfremde Konstruktionen. Unrichtige Vorstellungen von noch bestehender politischer Realität der Stämme, Unterschätzung der Macht staatlicher Kontinuität und mangelnde Vertrautheit mit den tatsächlichen Problemen des Regionalismus ließen bei verschiedenen Einzelpersönlichkeiten und Gruppen immer wieder den Stammesbegriff oder dialektgeographische und folkloristische Fakten Einfluß auf die politischen Vorstellungen gewinnen. Der Sprachforscher Professor Konrad Borchling in Hamburg befürwortete die politische Verselbständigung des niederdeutschen Sprachgebiets49. Die 1931 in Augsburg gegründete, unter Vorsitz des Grafen Johannes Fugger-Kirchberg-Weißenhorn stehende Studien- und Arbeitsgemeinschaft „Bund Schwaben und Reich“, zu deren Mitgliedern führende Kommunalpolitiker schwäbischer Städte Bayerns und Württembergs zählten, stellte sich die Aufgabe, sich „mit der bevorstehenden Reichsreform, insbesondere einer Neugliederung des Reiches auf der Grundlage der Stammeszugehörigkeit“ zu beschäftigen. Auch sie wollte „die aus der kulturellen und wirtschaftlichen Einheit des altschwäbischen Stammlandes erwachsenden gemeinsamen Interessen nachdrücklichst wahren“50. Wie aus den Verlautbarungen der Vereini48 Gute Zusammenfassung in dem Buch von W. Vogel, Deutsche Reichsgliederung und Reichsreform in Vergangenheit und Gegenwart, Lpzg. u. Bln. 1932. 49 C. Borchling, Die Reichsreform und unser niederdeutsches Volkstum (Die westfälische Heimat, 13. Jg.) 1931, 91 – 94. Ganz von den Gesichtspunkten des Stammes und der Sprache ausgehend, wünschte Borchling neben einem um Osnabrück und Südoldenburg vergrößerten Westfalen noch zwei eigene Länder: Nordniedersachsen, bestehend aus Schleswig-Holstein, Lübeck, Hamburg, Bremen, Nordoldenburg, beiden Mecklenburg und den nördlichen Teilen der Provinz Hannover mit der Lüneburger Heide, sowie Südniedersachsen, zusammengesetzt aus dem größeren Teil der Provinz Hannover, aus Braunschweig, dem Harz, den niederdeutschen Teilen der Provinz Sachsen, den Lippischen Landen und den nicht zu Hannover gehörenden Teilen des Oberweserlandes. – Bezeichnend für Borchling und die Denkweise der ihm nahestehenden Kreise ist, daß er in Westfalen zwischen einem „völkisch gesunden“ Teil des Landes und dem Industriegebiet unterscheidet (Ebenda 92). – Im Zusammenhang mit Borchlings Forderungen ist die kulturpolitische Entschließung der Fehrs-Gilde vom 9. XI. 1929 zu sehen, deren Realisierung auch regionalpolitische Konsequenzen hätte haben müssen (abgedruckt in Niederdeutsche Monatshefte, 5. Jg. [1930] 229 f.). 50 „Reichsreform“, 3. Jg., H. 4 (1931) 74. Vgl. ferner die Schrift v. K. Bertele, Reichsland Großschwaben mit Stuttgart und Augsburg. Ein Beitrag zur Reichsreform und Reichsneugliederung unter besonderer Berücksichtigung bayerisch Schwabens d. i. Ostschwabens, Kempten 1930. Ähnliche Bestrebungen, wie sie von dem Bund „Schwaben und Reich“ und K. Bertele ausgingen, sind auch nach 1945 zutage getreten. Vgl. die sehr polemische Schrift von E. Vol-

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gung hervorgeht, lagen dem Überbau der Stammesideologie hier durchaus der reale Unterbau provinzialer Interessenwahrung gegen sogenannte Staatsvereinfachung und der Wunsch nach möglichster Berücksichtigung durch die staatliche Wirtschafts- und Verkehrspolitik zugrunde. Das gleiche gilt für den Parallelbund „Ostfranken und Reich“51. Die kräftigsten und am meisten realistischen regionalen Impulse sind während der Weimarer Zeit in einigen preußischen Provinzen zu beobachten, in erster Linie wohl in Hannover. Bezeichnend, wie heftig der Geheime Legationsrat von der Decken in seiner Schrift „Bahn frei für ein reichsunmittelbares Niedersachsen! Versuch einer Führung durch den Irrgarten der Vorschläge zur Neugliederung des Reiches“ (Hannover 1930) gegen Otto Braun und Alfred Hugenberg als Vorkämpfer des „spezifisch preußischen Partikularismus“ polemisierte52! Was Hannover betrifft, so braucht man allerdings weniger das Wirken der weiterbestehenden deutsch-hannoveranischen Partei ins Auge zu fassen als die zielbewußte Tätigkeit des Landesdirektoriums der Provinz, des Provinziallandtags und der rührigen wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft zum Studium Niedersachsens53. Im Hinblick auf die kommende Reichsreform wurde von diesen Stellen planmäßig wirtschaftliche und verwaltungspolitische Vorarbeit geleistet. Unter dem Einfluß hervorragender Sachkenner hat man dort auch dem Begriff der historischen Landschaft entschieden den Vorrang vor dem sächsischen Stammesbegriff zuerkannt54. Während der nationalsozialistischen Ära trat die Diskussion um den Neubau des Reichs stark zurück. Zahlreiche bis dahin gemachte Lösungsvorschläge standen nicht mehr zur Debatte. Doch wurde unter den politisch und fachlich interessierten Kreisen das Thema weiter erörtert. Wie erwähnt, stand fest, daß die Parteigaue die Kerngebiete der künftigen regionalen wie der staatlich-administrativen Einteilung lert, Nie wieder München, Augsburg 1949 (H. 1 der Schriften zu den Fragen der schwäbischen Heimat, hrsg. vom Schwäbischen Arbeitskreis). Vollert a. a. O. 14, verweist auf einen Plan der Abtrennung Schwabens von Bayern und der Verselbständigung Schwabens, den der Abgeordnete Wilh. v. Herdern 1848 vorgelegt haben soll. Es scheint, daß die genannten Gruppen und Persönlichkeiten nur eine verhältnismäßig kleine Anhängerschaft hinter sich zu bringen vermochten. 51 „Reichsreform“, 3. Jg., H. 11 (1931) 215 f. 52 Von der Decken a. a. O. 9 ff., 15, 18. 53 Vgl. Niedersachsen im Rahmen der Neugliederung des Reiches. Denkschr. dem 64. Hannoverschen Provinziallandtag vorgelegt vom Landesdirektorium der Provinz Hannover. Bearb. v. K. Brüning, Hannover 1929. Ferner G. Schnath, Die Gebietsentwicklung Niedersachsens (Wirtschaftswissenschaftl. Gesellschaft zum Studium Niedersachsens E. V. Reihe A der Veröffentlichungen: Beiträge, H. 8) Hannover 1929. Weitere einflußreiche Organisationen des niedersächsischen Regionalismus waren der Heimatbund Niedersachsen, der Niedersächs. Ausschuß für Heimatschutz, der Verein Niedersächsische Presse, die Volkshochschulgenossenschaft für Niedersachsen, Sitz Hermannsburg, der Bund für niedersächsische Volkshochschulen und Volksbildungheime. 54 Schnath a. a. O. 1 f.

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des Reiches bilden sollten55. Diese Gaue deckten sich teils mit ehemaligen Bundesstaaten oder Provinzen, teils sind sie aus der Wahlkreisordnung der Weimarer Republik entstanden, teils stellten sie Neuschöpfungen dar (z. B. die Gaue Westmark und Bayerische Ostmark). Selbstverwaltung der Gaue war vorgesehen und man wünschte sich diese Einheiten als „lebenskräftige Landschaft“56. Daß diese Selbstverwaltung im Sinne des Führerprinzips ausgeübt werden sollte, galt als selbstverständlich. Tatsächlich entwickelten sich die Gaue sehr bald zu Bereichen eines lebhaften, parteiinternen, aber auch über die Partei hinausreichenden Regionalismus. Die Gaueinteilung beeinflußte mehr und mehr die staatliche Verwaltungsorganisation. Auf der Grundlage der Gaue wurden in der Regel die Reichsverteidigungs- und Reichswirtschaftsbezirke eingerichtet. Soweit es die Partei für tunlich befand, hat man landschaftliche Traditionen und heimatliche Elemente geduldet oder sogar „herausgestellt“. Entscheidend für die Physiognomie der Gaue fiel jedoch etwas anderes ins Gewicht, nämlich Temperament, Aktivität und Zielsetzung der jeweiligen (häufig nicht einheimischen) Gauleiter. Für den politischen Charakter der Gaue war es von größter Wichtigkeit, ob der Gauleiter ein „wilder“ oder ein (relativ) gemäßigter Mann war. Innerhalb des totalitären Systems und der Politisierung aller Lebensbereiche nahm der deutsche Regionalismus ganz neue Züge an. Die politische Landschaft als Hausmacht leitender Parteifunktionäre! In diesem Zusammenhang hat man noch in der letzten Phase des Krieges, 1944, neue Provinzen geschaffen (Aufteilung der Provinz Sachsen in die Provinzen Magdeburg und Halle-Merseburg und der Provinz Hessen-Nassau in die Provinzen Kurhessen und Nassau); dahinter stand die Rivalität von Gauleitern. Und es war wiederum Hausmachtpolitik, wenn Göring gegen allen Gauregionalismus – als letzter nach dem Sozialdemokraten Otto Braun – das preußische Staatswesen nachdrücklich verteidigt hat. Noch einige Bemerkungen über die Rolle der politischen Landschaft seit 1945! Wir beschränken uns auf die Entwicklung in der Bundesrepublik. Der Zusammenbruch des Reiches ließ eine Fülle regionaler Projekte aus dem Boden schießen; man erinnert sich noch der Konzeption einer alemannischen Demokratie von Otto Feger57. Die politische Macht lag allerdings vorerst bei den Besatzungsregierungen und erst in zweiter Linie bei den neugebildeten Staaten, von denen einige schon wieder verschwunden sind. Was sich inzwischen als Ländergefüge der Bundesrepublik stabilisiert hat, ist teils Fortsetzung traditioneller Staatlichkeit, teils Neubildung, darunter auch manche Neubildung „aus der Besatzungsretorte“. Unter diesen Neuschöpfungen befinden sich Länder, die das Ergebnis regionaler Verselbständigungs- und Einigungstendenzen sind, z. B. Niedersachsen und vor allem das nun endlich zustandegekommene „Großhessen“58. Nicht jedermann war mit den neu55 Besonders aufschlußreich und sachkundig hierzu A. Dehlinger, Württembergs Staatswesen in seiner geschichtlichen Entwicklung bis heute, I, Stuttgart 1951, 202 ff.: § 87 „Der geplante Reichsgau Württemberg“. 56 Dehlinger a. a. O. I, 204. 57 O. Feger, Schwäbisch-alemannische Demokratie, Konstanz 1946.

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geschaffenen Staatsgebilden einverstanden; das bekannteste Beispiel hierfür ist die „altbadische“ Opposition gegen den Staat Baden-Württemberg, die jedoch, um in der Terminologie der großherzoglichen Ära zu sprechen, ihren Hauptsitz interessanterweise gerade nicht in den altbadischen Erblanden, sondern im Neubadischen hat. Anderswo hat man sich mit der staatlichen Neuordnung abgefunden oder sie sogar begrüßt, doch besteht man, in der Regel mit Zustimmung der Landesregierungen, auf einem gewissen regionalen Traditionalismus: das trifft z. B. für Oldenburg in Niedersachsen oder für Lippe-Detmold in Nordrhein-Westfalen zu. Ob alt oder neu: die politische Landschaft innerhalb der deutschen Staaten ist nach wie vor lebendig. Es will etwas heißen, daß in der 1962 erfolgten Kabinettsbildung in Nordrhein-Westfalen ein mathematisch genauer Proporz nicht nur zwischen den Konfessionen, sondern auch zwischen den politischen Landschaften Rheinland und Westfalen hergestellt wurde! Auch dort, wo bei der Zusammensetzung von Länderregierungen andere Gesichtspunkte in den Vordergrund traten, macht sich die Landschaft als politische Macht geltend. Wer in einzelnen (selbstverständlich nicht in allen) Fällen innerparteilicher Differenzen und Krisen der deutschen Nachkriegsgeschichte die Frontbildungen analysiert, wird feststellen, daß sich bei solchen Gelegenheiten innerhalb der Bezirksverbände regionale Überlieferungen geltend machen, und zwar nicht nur im Sinne besonderer Traditionen der jeweiligen Parteigeschichte, sondern historisch überkommener, allgemein politischer Bewußtseinsinhalte der betreffenden Landschaft. Angesichts der heute beträchtlich gestiegenen Öffentlichkeitsbedeutung der Kirchen ist es auch für die Gegenwart lehrreich, das Beziehungsgeflecht zwischen Diözesan- und Regionalbewußtsein zu untersuchen, ebenso die Verbindung von historischer Landschaft und evangelischen Landeskirchen, die häufig den räumlichen Bestand untergegangener Territorialität behaupten. Ein aufschlußreiches Beispiel bieten in dieser Hinsicht die evangelischen Kirchen Schleswig-Holsteins. Wie aber nun der Regionalismus nie stille steht, sondern unaufhörlichem Wandel unterliegt, so erzwingt er auch Veränderungen in der kirchlichen Organisation: die Bestrebungen, eine nordelbische evangelische Kirche zu errichten, machen neue Raumtendenzen im deutschen Norden sichtbar. Neben dem indirekten, oft getarnten Regionalismus innerhalb der Parteien, der Verbände, Verwaltungen und Selbstverwaltungen gibt es unmittelbar auftretende Organisationen und Willenskundgebungen der politischen Landschaft. Man kann dabei zwei Hauptrichtungen unterscheiden: die mehr kulturpolitisch orientierten Heimatbünde mit heimatpflegerischem, traditionswahrenden Programm und regionale Pressure Groups – das Wort wird hier völlig wertneutral als politischer terminus technicus verwendet – wie der Westfalenkreis für öffentliche Angelegenheiten59 oder die Fränkische Arbeitsgemeinschaft60, die darüber wachen wol58 Vgl. K. E. Demandt a. a. O. 450 f.; L. Bergsträsser, Zeugnisse zur Entstehungsgeschichte des Landes Hessen (VZG 5) 1957 und W. L. Dorn, Zur Entstehungsgeschichte des Landes Hessen (ebenda 6) 1958. 59 Vgl. die Zeitschrift Westfalendienst. Mitt. d. Westfalenkreises für öffentliche Angelegenheiten.

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len, daß die Belange ihrer Heimat in allen Bereichen des Staatslebens gewahrt werden. Neben die unmittelbare Wahrnehmung landschaftlicher Interessen durch damit befaßte Organisationen tritt nach wie vor und oft viel wirksamer die mittelbare durch Abgeordnete oder einflußreiche Angehörige der bestehenden Parteien. In fast allen europäischen Parlamenten gibt es bis zum heutigen Tag in der Nachfolge älterer ständisch-regionaler Tradition die Gestalt des löwenhaften Verteidigers provinzialer und landschaftlicher Interessen. Als deutscher Prototyp im 19. Jahrhundert sei hier die Persönlichkeit des Pfälzers Georg Friedrich Kolb genannt61. Wer das öffentliche Leben der Bundesrepublik studiert, wird gut daran tun, nicht nur die Tätigkeit der sozial-ökonomischen Interessentengruppen, der Konfessionen und der Parteien – diesen drei Faktoren gebührt allerdings bei weitem der Vorrang – zu verfolgen, sondern auch im Zusammenhang mit kommunalen Schwerpunktbildungen die mehr oder minder große Lebendigkeit regionalen Selbstbewußtseins, das nicht nur der historischen, sondern auch der aktuellen politischen Analyse reiches Beobachtungsmaterial darbietet.

IV. Schon aus den mehr andeutenden als ausführenden Feststellungen dieser Skizze dürfte hervorgegangen sein, wie differenziert die Landschaft im innerpolitischen Kräftespiel in Erscheinung treten konnte und kann. Sie bildet nicht selten die Basis für Opposition und zentrifugale Tendenzen innerhalb eines Staates, entwickelt aber auch, wie in Hessen und Thüringen, Rheinland und Westfalen selbst staatsbildende Kräfte. Eine Landschaft mit eigener Staatstradition wie Ostpreußen bewahrte zwar ihren „Sondergeist“, erfüllte sich aber gleichzeitig mit dem „Bewußtsein einer besonderen staatlichen Verantwortung für den Gesamtstaat“62. Politisches Landschaftsbewußtsein kann als Erbe historischer Staatlichkeit auftreten und zu ihr zurückstreben, wie es im Fall Hannovers gelungen ist. Wiederum gibt es Beispiele dafür, daß im Widerspruch zu der unmittelbar übergeordneten Staatlichkeit in den Landschaften Energien entbunden werden, die sich der übernächsten Größenordnung, dem Reich oder der gesamtdeutschen Nation zuwenden; es gibt regionale Kerngebiete eines allgemein deutschen Nationalliberalismus oder politischen Katholizismus mit einer Spitze gegen den jeweiligen „zuständigen“ Staatspartikularismus. Die Traditionen historischer Landschaft können über innerdeutsche Staatsgrenzen und selbst über die Grenzen der Bundesrepublik hinaus Brücken schlagen; dies geschah und geschieht hinsichtlich der Beziehungen zwischen holländischem und deutschem Friesland (Großfriesische Kongresse!). Landschaftliche VerwandtVgl. H. Meinhart, Franken in Bayern, 1949. G. F. Kolb, Die Steuerüberbürdung der Pfalz, Mannheim 1846. Auf eine offiziöse Münchener Entgegnung erschien zu Speyer 1847 aus der Feder Kolbs eine zweite Schrift unter dem gleichen Titel. 62 Th. Schieder a. a. O. 20. 60 61

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schaft und Nachbarschaft kann unter normalen Umständen nur latent vorhanden sein und brachliegen, aber in Krisensituationen zum Vorschein kommen und wirksam werden: nach der Austreibung der Sudetendeutschen fand eine enge Verbindung der „Egerländer Gmoi“ mit der oberpfälzischen Nordgaubewegung statt. Die Landsmannschaften der Vertriebenen bieten ein erschütterndes Beispiel für die Erfahrungen und Wandlungen des Regionalismus in der Verbannung, dessen Schicksale innerhalb einer Weltgeschichte der Emigration erst noch aufzuzeichnen wären. Neben alten territorialen und konfessionellen Überlieferungen haben politische Maßnahmen und Schicksale verhältnismäßig jungen Datums sowie wirtschaftliche Gegebenheiten zur Ausbildung regionaler Zusammengehörigkeit geführt. Die Provinzialpolitik der deutschen Staaten im 19. / 20. Jahrhundert hat nicht selten und in der Regel wider Willen ein starkes Gemeinschaftsbewußtsein erzeugt, das sich zwar historischer Nomenklatur bediente, aber tatsächlich eine Neubildung darstellt. So ist das politische Pfälzertum unseres Zeitraums u. a. auch das Produkt französischer und bayerischer Staatspolitik. Eine innere oder äußere Identität zwischen Kurpfalz und diesem modernen Pfälzertum, vergleichbar der zwischen dem Königreich und der Provinz Hannover, liegt hier nicht vor. Und so sehr man alte Traditionen aus der Zeit des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation berücksichtigen muß, im wesentlichen sind Rheinland und Westfalen als politische Größen doch erst Schöpfungen der deutschen, namentlich der preußischen Politik, wiederum des 19. und 20. Jahrhunderts. Bei oberflächlicher Betrachtung scheint der Regionalismus das konservativste Element in der deutschen Politik zu sein. Manchmal trifft dies zu, aber in der Mehrheit der Fälle ist es nicht so. Wie wandlungsfähig der deutsche Regionalismus ist – dies vor allem sollte hier gezeigt werden. Er macht sich in der Gegenwart wie in der Vergangenheit bemerkbar, aber er ist weder in seiner gebietsmäßigen Gliederung, in seiner historischen Bewußtseinslage, noch in seiner politischen Tendenz sich selber gleich geblieben. Wird er auch in Zukunft eine Rolle spielen? Manches spricht dafür, daß die bisherigen Formen der politischen Landschaft durch die allgemein gesteigerte Mobilität der Wirtschaft und des Verkehrs neuerdings umgewandelt werden. In nicht wenigen Fällen hat die ökonomische Landschaft längst ältere politische Raumgebilde überlagert, und immer beherrschender macht sich in einem Urbanisierungsprozeß sondergleichen die Bildung riesiger Stadtregionen63 geltend. Gewiß, auch früher schon sind einzelne Städte nicht nur die kräftigen Akzente, sondern häufig genug Zentrum und Symbol ihrer Landschaft gewesen. Aber wie schon das Wort selber unmittelbar zum Ausdruck bringt, blieb dabei das Land die eigentlich konstitutive Vorstellung. Heute sieht es aus, als ob das im Vergleich zu früher ungeheure Wachstum der Städte und ganzer Städtekonglomerate sozusagen Stadtschaften mit Hinterland und Einzugsgebiet vielfach als neues regionales Element an die Stelle der Landschaften setzen wollte. Es ist die Aufgabe der Geschichtswissenschaft im Augenblick oder in Erwartung solcher grundlegender Umwand63 Vgl. Die Stadt und ihre Regionen (Neue Schriften des Städtetags; Sonderaufl. für den dt. Städtetag, durch den Buchhandel nicht erhältlich), Stuttgt. u. Köln 1962.

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lung, die Erinnerung an das Frühere zu bewahren. In seiner so erhellenden Schrift „Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft“ sagt Joachim Ritter, daß „die Gesellschaft selbst die Geisteswissenschaften als das Organ hervorbringt, das ihre Abstraktheit und Geschichtslosigkeit ausgleichen kann“64. Dieser Aufgabe gegenübergestellt, entdecken wir, daß die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19. / 20. Jahrhunderts von der Wissenschaft nur unzulänglich erfaßt und zum Gegenstand ihrer Forschungen gemacht worden ist. Wilhelm Heinrich Riehl ist einer der ersten gewesen, die – im Ansatz – das formulierten und beleuchteten, was wir meinen65. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts haben wohl Geographie- und Kulturwissenschaft Außerordentliches geleistet, um den Begriff der Landschaft zu präzisieren und mit reichem Inhalt zu füllen; mittelbar ist ihre Leistung auch unserem Gegenstand zugute gekommen. Aber es bleibt dabei, daß die historisch-politische Landschaft als Problem der inneren deutschen Geschichte des 19. / 20. Jahrhunderts von der Wissenschaft stiefmütterlich behandelt worden ist. Die Reichsreformbestrebungen in der Weimarer Republik haben die Dinge etwas in Fluß gebracht66, doch bis zum heutigen Tag ist die Geschichte Frankens in Bayern, Oberschwabens in Württemberg, Westfalens in Preußen oder auch Altbayerns in Bayern, um nur einige Beispiele zu nennen, nicht geschrieben, ist das Gesamtthema der politischen Landschaft in der neueren und neuesten deutschen Geschichte nur unzureichend wahrgenommen worden. Hier ergibt sich für eine auch die neuere und neueste Zeit berücksichtigende Landesgeschichte eine lohnende Aufgabe; nur die Landesgeschichte kann die Clearingstelle für die vielfältigen Forschungsrichtungen sein, die an der Aufhellung dieser Phänomene beteiligt sein müssen. Zum Abschluß eine terminologische Bemerkung! „Politische Landschaft“ wie „Regionalismus“ sind Ausdrücke der historischen Bildungssprache67. Der Mann auf der Straße wird nicht ohne weiteres erfassen, was damit gemeint ist. Wortgeschichtlich hängt sich an den Begriff Landschaft eine Vielzahl anderer Bedeutungen. Andererseits ist das Wort „Regionalismus“ bisher noch nicht recht in unseren Sprachgebrauch eingedrungen. Deutsche Lexika noch zu Beginn unseres Jahr64 J. Ritter, Die Aufgabe der Geisteswissenschaften in der modernen Gesellschaft (Jahresschr. 1961 d. Gesellschaft zur Förderung der Westf. Wilhelms-Universität zu Münster) 34. Ritter schreibt ebenda S. 33: „In dieser für die moderne Gesellschaft konstitutiven und unaufhebbaren Abstraktheit und Geschichtslosigkeit ist die Zugehörigkeit der Geisteswissenschaften zu ihr begründet. Sie werden auf ihrem Boden ausgebildet, weil die Gesellschaft notwendig eines Organs bedarf, das ihre Geschichtslosigkeit kompensiert und für sie die geschichtliche und geistige Welt des Menschen offen und gegenwärtig hält, die sie außer sich setzen muß.“ 65 Vgl. vor allem W. H. Riehl, Land und Leute, Stuttgt. 101899, 94 f., 202, 293 f., 301 f., 319 f. 66 Vgl. Anm. 46. 67 Unter den deutschen Historikern hat man bisher eher von Regionalismus vor 1789 als nach diesem Datum gesprochen. Vgl. D. Gerhard, Regionalismus und ständisches Wesen als ein Grundthema europäischer Geschichte (HZ 174) 1952, 307 – 337.

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hunderts kennen den Ausdruck nicht. Einer der frühesten deutschen Belege für Regionalismus im Sinn eines Programms innerdeutscher Staatsordnung findet sich in einem Aufsatz von H. Peus in den Sozialistischen Monatsheften von 192768. Der Vf. setzte sehr bewußt „Region“ gegen „Provinz“. Daß sich dem Vf., dem es vor allem um wirtschaftliche und kulturelle Einteilungsprinzipien ging, bei seiner relativ radikalen und antihistorischen Einstellung das bis dahin im deutschen politischen Sprachgebrauch fremde, vielen wohl als „westlich“ verdächtige Wort Regionalismus anbot, ist gewiß kein Zufall. Ebenfalls 1927 erschien das Buch des Professors für öffentliches Recht und sächsischen Innenministers W. Apelt „Vom Bundesstaat zum Regionalstaat“. Charakteristisch ist, daß das Wort Regionalismus im Buchtitel eines die deutschen Verhältnisse behandelnden Werks erstmals bei einer zunächst englisch geschriebenen und in den USA erschienenen Arbeit A. Brechts auftaucht69. In Spanien70, Frankreich71, Nordamerika72, Italien, Holland und zahlreichen anderen Staaten ist jedoch der Begriff Regionalismus seit langem eingebürgert. Regionalismusprobleme bilden dort nicht nur ein mehr oder minder wichtiges Politikum, sondern sind auch Gegenstände intensiver historischer Forschung. Nachdem sich im Zug unserer Integration in die westliche Welt Ausdrücke wie „Regionalbanken“, „Stadtregion“, „Regionalprogramm des Rundfunks“ u. a. durchgesetzt haben, wäre es vielleicht zweckmäßig, auch in die Fachsprache der Historiker den Begriff des deutschen Regionalismus aufzunehmen. Wir würden auf diesem Wege terminologisch und sachlich eher Anschluß an ein reichbebautes Feld der internationalen Geschichtswissenschaft gewinnen. Der weiteren Beibehaltung von „historischer Landschaft“ oder „politischer Landschaft“73 bräuchte diese Neueinführung nicht im Wege zu stehen.

68 H. Peus, Für einen deutschen Regionalismus (Sozialistische Monatshefte, hrsg. von J. Bloch, Bd. 65, II) 1927, 879 ff. 69 A. Brecht, Federalism and Regionalism in Germany. The Division of Prussia, New York, London, Toronto 1945. 70 Vgl. Enciclopedia Universal Ilustrada Europeo-Americana, Bd. 50, Barcelona 1923, 187 – 204. 71 Vgl. Kleo Pleyer, Die Landschaft im neuen Frankreich, Stuttgart 1935. Das Buch ist zwar in vielem von einer heute überwundenen Auffassung der Geschichte und der Politik bestimmt, stellt aber gleichwohl eine bedeutende wissenschaftliche Leistung dar. 72 Vgl. F. Trautz, Siedlungsgrenzen, Regionen und Staaten der USA (Die Welt als Geschichte, 15. Jg.) 1955, 220 – 258. Als Beispiel eines prinzipiellen amerikanischen Regionalismus vgl. Donald Davidson, The Attack on Leviathan. Regionalism and Nationalism in the United States, Chapel Hill 1938. 73 Vgl. zur Verwendung des Begriffs „politische Landschaft“: G. Stoltenberg, Der Radikalismus klang mehr und mehr ab. Schleswig-Holstein als politische Landschaft (Christ und Welt, XV. Jg., Nr. 37).

Der kulturgeschichtliche Ort der Heimatbewegung gestern und heute Ein Vortrag aus Anlaß eines Vereinsjubiläums läßt es wünschenswert erscheinen, daß der Redner ein Thema wählt, das mit Aufgabe und Charakter dieses Vereins in Zusammenhang steht. Nun ist der Verein für Geschichte und Altertumskunde Westfalens nicht etwa schlechthin ein Sektor aus einem noch so weit gefaßten Komplex „Heimatbewegung“. Es bestehen Generations- und Wesensunterschiede. Der Altertumsverein, wie er abgekürzt genannt wird, wurde 1824 / 25 ins Leben gerufen und entsprang einer staatlich erwünschten und geförderten Gebildeteninitiative im Geiste des Historismus. Es handelte sich um eine Gründung mit wohldefinierter wissenschaftlicher und patriotischer Zielsetzung, begrenzt auf landesgeschichtliche Forschung und Volkskunde. Unter Heimatbewegung, deren Durchbruch erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts anzusetzen ist, verstehe ich – ich fühle mich zu einer vorwegnehmenden Begriffsbestimmung gedrängt, zumal das Lexikon das Wort noch nicht kennt – eine internationale kulturelle Erneuerungsbewegung. Als tertium comparationis zu Altertumsverein und Heimatbewegung lassen sich vaterländische Leitgedanken ins Feld führen; ferner die weithin identische Sozialstruktur der führenden Kreise hier wie dort, vor allem aber das Phänomen des Regionalismus. Landschaft als natürliche wie als gesellschaftlichpolitische und kulturelle Größe zählt zu den wichtigsten Anliegen der Heimatbewegung, und die westfälische Geschichtslandschaft ist der hauptsächliche Aufgabenbereich des Altertumsvereins. Es geht mir indessen, wenn ich mein Thema vom Vereinsjubiläum her zu legitimieren versuche, mehr als um die eben erwähnten Übereinstimmungen noch um einen anderen Gesichtspunkt: Die Heimatbewegung zählt im Raum Westfalen seit dem 19. Jahrhundert zu den bemerkenswerten Strömungen. Wenn neueste Geschichte und Zeitgeschichte in den Horizont des Vereins einbezogen werden sollen – und darüber herrscht, soviel ich sehe, im Verein Einmütigkeit –, dann kann er gar nicht umhin, von der Heimatbewegung als einer historisch bedeutsam gewordenen Erscheinung Kenntnis zu nehmen. Die Heimatbewegung soll im folgenden als eine kulturgeschichtliche Größe beschrieben und problematisiert werden. Um zu verdeutlichen, was gemeint ist, werden in einem notgedrungen eklektischen Verfahren zunächst drei Beispiele, drei Schwerpunkte kultureller Aktivität, im Zeichen des Heimatgedankens ausgesucht. Anschließend wird die solche Leistungen tragende Bewegung organisatorisch, gesellschaftlich und ideologisch analysiert. Schließlich wollen wir den Versuch machen, zwischen ideologischer Fixierung einerseits, faktischer Betätigung, Leistung und kulturhistorischem Verdienst

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andererseits zu unterscheiden. Damit verbinden sich Erwägungen, was heute Sinn und gesellschaftlichen Auftrag der Heimatbewegung ausmachen könnte. Selbstverständlich können meine Ausführungen nicht auf Kritik verzichten. Wissenschaft und Kritik gehören zusammen. Aber vielleicht gewinnen Sie aus meinen Worten am Ende doch den Eindruck, daß sich für mich Wissenschaft nicht in Kritik erschöpft.

Beispiel I Jedem Literaturhistoriker ist der Begriff Heimatkunst vertraut. Gemeint ist ein Programm von Theoretikern wie dem „Rembrandtdeutschen“ Langbehn, Lienhard, Bartels und Sohnrey, dem die Produktion einer größeren Gruppe von Schriftstellern, darunter allerdings kein Talent ersten Ranges, mehr oder minder entsprach. Eine Filiation dieser literarischen Gruppierung, an ihrer Spitze der Gründer des Harzer Berg-Theaters, Ernst Wachler, agitierte für Heimat- und Volksschauspiel, „deutsche Dionysien“, wie Bartels sagte, Sommerfestspiele in der Landschaft. Die Richtung Heimatkunst opponierte gegen literarischen Zentralismus in Form der „Vorherrschaft Berlins“ – so der Titel einer Schrift Lienhards – gegen das, was ihr als bedrohlicher Internationalismus und großstädtische Tagesliteratur erschien, und legte sich von der Industrialisierung bis zur Sozialdemokratie mit allem an, was man gemeinhin unter Modernität verstand. Demgegenüber forderte Langbehn innerhalb der Stammesgemeinschaften „scharf ausgeprägte geographische, landschaftliche, lokale Kunstschulen“, und Bartels zumal bestand auf der Volks- und Stammesverbundenheit des literarischen Stoffes wie der Dichterpersönlichkeit, auf ethischer und nationaler Verpflichtung des poetischen Schaffens. Man redete von Stil, meinte jedoch Gesinnung, und diese Gesinnung sollte sich vor allem darin erweisen, daß man dem absage, was man als zersetzende Tendenzen bezeichnete, sich dem Gesunden zuwende und seinem Auftrag zum Wohl der Gesamtheit nachgehe. Die Heimatkunst geriet schon zu ihrer Zeit in ein vernichtendes Trommelfeuer der Kritik. Man stempelte sie als Reaktionskunst frustrierter Provinzler ab, bezichtigte sie der agrarischen Beschränkung des Heimatbegriffes und versah sie mit dem Etikett eines „Naturalismus der Bornierten“. Unter dem Eindruck solcher Angriffe gerieten weniger die Schriftsteller als ihre ideologischen Vorkämpfer in die Defensive, und selbst Lienhard und Bartels bekamen schließlich Angst vor der eigenen Courage. Lienhard, von Anfang an nicht ohne Vorbehalte und Zweifel, gab 1901 zu, daß er „bedenkliches Philistertum im Spiel“ sehe, wenn auch „vielleicht ganz nützliches und notwendiges Philistertum gegenüber Entartung und symbolistischer Phantastik“.

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Und Bartels hob wenig später hervor, daß ihm Heimatkunst nie die literarische Kunst an sich, sondern nur Übergangserscheinung zu einer großen Nationalkunst gewesen sei. Es stellte sich heraus, daß man mit unzureichenden Kräften eine nationalpädagogische Neuorientierung betrieben hatte, vaterländische Literatursanierung sozusagen, und den zeitgenössischen Literaturbetrieb, von dessen Erkrankung man allerdings überzeugt blieb, durch Naturdiät hatte kurieren wollen. Dies darf uns jedoch nicht davon abhalten, zu unterscheiden zwischen einer verfehlten Literaturtheorie und ihren schriftstellerischen Paradepferden einerseits und einer großen europäischen Literaturtradition der Dorfgeschichte andererseits, des roman rustique, der bäuerlich-landschaftlichen Milieukunst, die alles in allem mit dem poetischen Realismus einsetzte. Die Bedeutung und das literarische Können von Gotthelf und Immermann, von Storm, Reuter und Raabe, aber auch von Thoma und Löns ließen und lassen sich durch eine abwegige Literaturdoktrin nicht diskreditieren. Diese selbst verdient heute unser Interesse nurmehr als zeitgebundenes Krisensymptom, als unglückliche Reaktionsweise auf Veränderungen, die man zwar erkannte, aber nur negativ zu werten vermochte. Ihre Existenz erlaubt noch keine Rückschlüsse auf den vorherrschenden literarischen Geschmack der Zeit um 1900, auch nicht auf den Geschmack derjenigen Kreise, auf die sich die Heimatbewegung stützte.

Beispiel II Es ist gewiß kein Zufall, daß sich in Deutschland etwa gleichzeitig mit der literarischen eine architektonische Heimatkunstbewegung ausbreitete, der Reformbewegungen in den USA und vor allem im englischen Wohnhausbau vorhergegangen waren, und der sogenannte nationalromantische Architekturströmungen in Skandinavien, Rußland und anderen Ländern zur Seite liefen. Die Bewegung setzte sich, ähnlich ihrer „Parallelaktion“ auf dem Gebiet der Literatur, aber mit mehr Berechtigung als diese, eine Gesundung der Architektur, genauer gesagt, eine Überwindung ihrer historisch-imitativen Phase, zum Ziel. Die Quelle der Erneuerung glaubte man in den heimischen Traditionen des Bauern- und Bürgerhauses und in landschaftlich geprägten Abwandlungen von Hochstilen wie der Weser-Renaissance, dem süddeutschen Barock oder auch hierzulande dem münsterländischen Barock gefunden zu haben. Während sich das Karussell der Neo-Stile des 19. Jahrhunderts drehte, suchte man in der volkstümlich-landschaftlichen Überlieferung das vermeintlich Dauerhafte, das Beständige, das Echte, Klare und Einfache. In Paul Schultze-Naumburg fand diese Strömung ihren literarisch überaus fruchtbaren Theoretiker und pädagogischen Popularisator; er selbst und mit ihm eine starke Gruppe von Architekten haben gezeigt, wie heimatverbundenes Bauen ihrer

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Meinung nach in der Praxis aussehen sollte, und sie konnten sich, im Gegensatz zu den literarischen Heimatkünstlern größtenteils solide Könner, mit ihren Leistungen sehen lassen. Es erwies sich allerdings, daß man dem massenhaften Baubedürfnis des Industriezeitalters mit solchem Bauen nicht genüge tun konnte. Die Zukunft gehörte dem Funktionalismus, bzw. dem sogenannten Internationalen Stil. Auch fragt es sich, ob der Rückgriff der konservativen Baumeister auf das Ländliche und Landschaftliche, häufig verbunden mit Sympathien für Klassizismus und Biedermeier, auch für den Barock, statt über den Historismus hinauszuführen, nicht am Ende einen Historismus sui generis ins Leben rief. So wenig nun diese Heimatkünstler eine neue Epoche der Architekturgeschichte einzuleiten vermochten, es läßt sich nicht leugnen, daß auf der ganzen Welt, auch außerhalb des westlichen Kulturkreises, eine Anzahl architektonischer Kategorien wie Landhäuser, Rasthäuser, Jugendherbergen, Gaststätten, bis zum heutigen Tag mit Vorliebe im Heimatstil gebaut werden. Die Wissenschaft der Kunstgeschichte hat sich, soviel ich sehe, dieser Erscheinung bisher noch kaum angenommen. Hervorzuheben ist, daß nicht nur der Jugendstil und verwandte Richtungen, sondern auch die architektonische Heimatkunst gewisse Impulse zur Überwindung eines pompösen Historismus enthielten, für den zwar seit geraumer Zeit neue Wertschätzung seitens der kunstgeschichtlich Gebildeten zu beobachten ist, von dem sich aber nach wie vor behaupten läßt, daß er das Bauen in eine Sackgasse geführt hat und daß ihn die intelligentesten Architekten des 19. Jahrhunderts, beispielsweise Gottfried Semper, als Verlegenheitslösung empfunden haben. Schließlich verbindet sich mit der landschaftlich-heimatlichen Richtung der Architektur ein zunehmendes Verständnis für die sozialen Probleme des Bauwesens, für das Verhältnis von Landschaft und Architektur, für städtebauliche Notwendigkeiten, Ortsbildgestaltung und Wichtigkeit der Grünanlagen, Erarbeitung von Planungskriterien. Das Experiment der Gartenstädte ist der Architektur der Heimatkunst verschwistert, und Heimatkultur in sublimer Form sind Camillo Sittes Bemühungen um die Reform des Städtebaus gewesen. Hier nur ein Satz aus der 4. Auflage von Sittes Buch über den Städtebau: „Da aber der Kunst überhaupt auch ein sozialer und ökonomischer Wert innewohnt, so könnte es sein, daß selbst hartherzige Stadtökonomen finden dürften, es wäre am Ende nicht schlecht, auch einmal einige Summen im Wege der Kunstpflege bei Stadtanlagen in Heimatgefühl, Lokalpatriotismus und eventuell auch in Fremdenverkehr umzusetzen.“ Über den reaktionären Zügen der architektonischen Heimatkunst sollte man also nicht übersehen, daß in ihr auch reformerische Potenzen steckten.

Beispiel III Einen dritten Schwerpunkt bilden Bemühungen um die Erhaltung des heimischen Landschafts-, Orts- und Städtebildes, die tief in das 19. Jahrhundert zu-

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rückreichen, aber ebenfalls Ende dieses und Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem ersten Kulminationspunkt gelangten. Standen auf dem Gebiet der Literatur wie der bildenden Künste, der Tonkunst wie der Wissenschaft stets individuelle Leistungen im Vordergrund, so konnten der Natur der Sache nach zur Wahrnehmung des Landschafts- wie des Denkmalschutzes die Aktivitäten einzelner Persönlichkeiten nicht ausreichen. Hier kam es am ehesten zu Organisationsbildung und kollektiven Unternehmungen. Es waren zunächst die sachlich besonders interessierten Berufsgruppen wie Architekten und Kunsthistoriker, die in Fragen des baulichen Denkmalschutzes tätig wurden, es waren Forstleute, Naturwissenschaftler, gebildete Landwirte, die zum Vogel- und Baumschutz, zur Erhaltung von Naturdenkmälern und schließlich zu umfassender Landschaftspflege, zur Errichtung von Naturschutzgebieten und von Nationalparks nach nordamerikanischem Vorbild aufriefen. Alsbald fanden jedoch die Fachleute eine weite Anhängerschaft unter Laien und Amateuren. Unter dem gemeinsamen Nenner des Heimatschutzes tat man sich zusammen. Das von preußischen Ministerien herausgegebene Organ „Denkmalpflege“ nannte sich bezeichnenderweise später „Denkmalpflege und Heimatschutz“. Wegweisend wirkten auf diesem Gebiet des Professors an der Hochschule für Musik in Charlottenburg, Ernst Rudorff, 1880 in den Preußischen Jahrbüchern veröffentlichter Aufsatz „Über das Verhältnis des modernen Lebens zur Natur“ und die Denkschriften des Danziger Museumsdirektors Hugo Conwentz. Beide Männer sind die Gründer und Organisatoren des Heimatschutzes als einer Bewegung geworden, die sich bis zum heutigen Tag behauptet hat.

Ein breites Spektrum Drei sehr unterschiedliche Beispiele aus dem Leistungsgefüge der Heimatkulturbewegung haben wir herausgegriffen. Das ideologische Gewächs der literarischen Heimatkunst, die sich infolge ihrer Unzulänglichkeit selbst ins Abseits manövrierte und inzwischen der Vergessenheit anheimgefallen ist; die architektonische Heimatkunst, partiell reaktionär, auf jeden Fall problematisch, aber nicht ohne reformerische Meriten und architekturgeschichtlich von immenser Durchschlagskraft; schließlich die wohl allgemein anerkannten Bemühungen des Natur- und Denkmalschutzes und der damit engstens zusammenhängenden Heimatpflege. Also kein geschlossenes, sondern ein in sich sehr differenziertes Resultat! Und wenn man das urteilsfähige Publikum nur für eine differenzierte Betrachtung der Heimatbewegung gewinnen könnte, wäre schon viel gewonnen. Die zur Verfügung stehende Zeit erlaubt es nicht, auf die im Zeichen einer reformerischen Heimatkunst gegründeten Malerkolonien einzugehen, auf die Bemühungen, die Tonkunst aus der Bauernmusik zu erneuern, wie dies so imponierend der Mährer Janacˇ ek und die Ungarn Bartók und Kodály versucht haben, auf die verwandten kunstgewerblichen Tendenzen innerhalb der englischen Arts-and-CraftBewegung, des Werkbundes und in den Saalecker Werkstätten, auf die Bestrebun-

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gen, Trachten und Brauchtum, Liedtradition, Tänze und Feiern volkstümlicher Herkunft wieder zu beleben und so gleichzeitig eine Regeneration der Geselligkeit zuwege zu bringen, auf die Errichtung von Heimatmuseen, auf die Impulse, die der Wissenschaft, beispielsweise der Volkskunde, der Philologie und der Literaturwissenschaft vermittelt wurden und die von diesen Disziplinen wiederum ausgegangen sind, auf die pädagogisch einst mit soviel Enthusiasmus betriebene Einführung des Faches Heimatkunde in der Schule, der Heimatkunde, von der es in amtlichen Richtlinien des Jahres 1921 hieß: „Im Mittelpunkt dieses Gesamtunterrichts steht der heimatkundliche Anschauungsunterricht . . .“. Festzuhalten bleiben die Gleichzeitigkeit, mit der diese Bewegungen ihren höchsten Intensitätsgrad erreichten, die enge Verwandtschaft von Motivation und Zielsetzung, auch da, wo man getrennt voneinander vorging; und andererseits die häufigen persönlichen Querverbindungen zwischen den verschiedenen Sektionen: Der Steiermärker Peter Rosegger etwa, ein Heimatdichter höheren Ranges, stand als Anreger hinter dem Gymnasialprofessor und Abgeordneten Joseph Pommer, der 1890 in Wien die Freunde des Volksgesangs in einem Verein sammelte, 1898 die Zeitschrift „Das deutsche Volkslied“ ins Leben rief und maßgebend an der ministeriellen Volksliedersammlung in Österreich seit 1902 beteiligt war; oder: der das landschaftliche Element feinsinnig berücksichtigende Architekt Gabriel von Seidl begründete einen Schutzverein zur Rettung des Isartales; oder: hinter den gezielten Bestrebungen, in Westfalen einen neuen heimatverbundenen Stil aus dem Geist des münsterländischen Barock durchzusetzen, standen ganz unmittelbar die führenden Männer des westfälischen Heimatschutzes.

Zur gesellschaftlichen Physiognomie Die Frage, welcher Stellenwert den Leistungen der Heimatkultur im gesellschaftlichen Prozeß des Zeitalters zukommt, ist nicht leicht zu beantworten. Wir begnügen uns vorerst mit der Feststellung, daß die Tendenzen der Heimatkultur engstens mit einer Heimatbewegung verbunden gewesen sind. Als Kollektivgröße wird diese Heimatbewegung vom bürgerlichen Vereinswesen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts getragen. Vereine für Orts- und Heimatkunde, Vereine zur Gründung von Naturschutzgebieten oder der Erhaltung einzelner Landschaften dienende Vereinigungen wie Riesengebirgsverein, Sauerländischer Gebirgsverein, Schwäbischer Albverein, Oberpfälzer Waldverein bildeten ein Ensemble in Mentalität und Zielsetzung eng zusammenhängender Organisationen. Da Natur und Geschichte die großen Gegenstände der Heimatbewegung darstellen, wird man am Rande ihres organisatorischen Geflechts Alpinistenvereine wie den Deutschen und Österreichischen Alpenverein und andererseits die historischen Vereine und Kommissionen als ihre Alliierten und Assoziierten in Anspruch nehmen dürfen. Nach Absicht und Gesinnung ebenfalls hierher gehörig, aber soziologisch eigenständig und andersartig waren Singgemeinschaften oder landschaftlich gebundene

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Literatengilden, Malerkolonien und Bauernbühnen wie die „Werkleute auf Haus Nielandt“, die Worpsweder oder die Dachauer Künstler oder das Schlierseer Bauerntheater von 1891. Als generationsspezifisch ist die Gruppenbildung der Jugendbewegung zu bezeichnen, mit der Heimatbewegung gewiß nicht identisch, aber eng mit ihr verzahnt. Eine Sonderstellung nahm der 1902 von Ferdinand Avenarius ins Leben gerufene Dürerbund als bildungs- und reformpolitische Aktionsgemeinschaft ein, die sich und ihre Aufgabenstellung universeller als die Heimatbewegung interpretierte, aber deren Programm zu einem erheblichen Teil übernahm und propagierte. Im Gesamtvorstand des Dürerbundes findet man die Prominenz der Heimatbewegung geschlossen vertreten. Es konnte nicht ausbleiben, daß die um 1900 noch sehr diffusen heimatkulturellen Bestrebungen in einem Dachverband zusammengefaßt wurden, dem 1904 auf Anregung vor allem Ernst Rudorffs begründeten „Deutschen Bund Heimatschutz“ (seit 1951 Deutscher Heimatbund), der alsbald mit gesinnungsverwandten Organisationen innerhalb des Deutschen Reiches und des Auslandes Verbindung aufnahm. Seit 1909 wurden internationale Kongresse für Heimatschutz veranstaltet. Wer waren die Führer, die Anhänger, die Träger der Heimatschutzbewegung? Als Antwort drängt sich uns zunächst auf, daß es eine dem Lande, der Landschaft und dem Volkstümlichen zugewandte Bewegung städtischen Ursprungs und anfänglich alles andere als eine Volksbewegung gewesen ist. Bei näherem Zusehen hat dies nichts Erstaunliches oder Paradoxes an sich. Kulturelle Reformbestrebungen können nur einer Gebildeteninitiative entspringen. Bildungsstand, intellektuelle Mobilität, berufliche Abkömmlichkeit, ausreichende Freizeit und Spielraum für außerberufliche Betätigung müssen zusammenkommen, um ein Engagement für solche gehobenere Zwecke des Gemeinwohls entstehen zu lassen, wie sie in der Heimatbewegung formuliert wurden. Die Heimatbewegung hat zwar überraschend schnell eine Massenbasis gefunden, aber bei ihren Männern der ersten Stunde handelte es sich, wie bei vielen vergleichbaren Vereinigungen, ganz überwiegend um beamtete oder freiberufliche Akademiker der verschiedensten fachlichen Provenienz, darunter auch Geistliche beider Konfessionen, und insbesondere um Angehörige aller Sparten des Lehrstandes. Also nicht Bürgerinitiative schlechthin, sondern spezifische Aktion der Intelligenz mit einem allerdings erstaunlich kräftigen und vielfältigen Echo in den sogenannten einfacheren Schichten der Bevölkerung! Dies hing nicht zuletzt damit zusammen, daß es zu der akademischen Heimatbewegung, um die es hier in erster Linie geht, ein volkstümliches Pendant gab und gibt, einen breiten Strom populärer Geselligkeitskultur, die in erster Linie von den sogenannten kleinen Leuten getragen wird, z. T. in die Erholungs- und Tourismusindustrie übergegangen ist und als kommerzialisierte Folklore wirtschaftlich zu Buche schlägt. Neben die traditionell heimatorientierten Schützenbruderschaften und ländlichen Reitervereine stellen wir in diesem Zusammenhang die oft in Tracht gekleideten Chöre, Kapellen, Orchester, Sänger- und Tanzgruppen, die im

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besonderen Maße den Anspruch erheben, das Heimatliche zu repräsentieren, Laienspielgruppen, schließlich Trachtenvereine, Wandervereine und die vereinsmäßigen landsmannschaftlichen Zusammenschlüsse, die sich in Großstädten aus den hauptsächlichen provinziellen Zuzugsgebieten gebildet haben. Im Gegensatz zu der programmatischen und viel stärker ideologisch bestimmten intellektuellen und akademischen Heimatbewegung hat man es bei den eben erwähnten Organisationen und bei der Welt der Heimatfeste und Festspiele, der Sängerwettstreite, der durch heimatgeschichtliche Festzüge belebten Ortsjubiläen mit „Volkskultur in der technischen Welt“ zu tun, um den Titel eines ebenso kundigen wie anregenden Buches von H. Bausinger zu verwenden. Die akademische und die populäre Heimatbewegung existierten nicht schlechterdings getrennt, und jene hat sich bei dieser nicht nur auf dem Weg über sogenannte angewandte Volkskunde, sondern auf noch vielfältigere, freilich meist indirekte Art und Weise als der gebende Teil bewährt, doch bedürfte der Zusammenhang zwischen beiden an sich sehr unterschiedlichen Richtungen noch der genaueren Untersuchung. In dem Beziehungsgeflecht zwischen Gesellschaft und Staat fällt auf, daß sich die Heimatbewegung in ihren verschiedensten Sektionen alles in allem außerordentlicher staatlicher Förderung zu erfreuen hatte und daß der freien gesellschaftlichen Initiative von unten eine institutionelle Aktivität von oben entsprach. Anregungen der Heimatbewegung wurden häufig aufgegriffen, und Behörden für Denkmal- und Naturschutz entstanden über ganz Europa hin, ganz zu schweigen von der lebhaften einschlägigen gesetzgeberischen Tätigkeit. In vielen Fällen ging institutionalisierte Denkmalpflege, gingen behördlicher Heimat- und Naturschutz der Heimatbewegung sogar seit langem, z. T. seit Beginn des 19. Jahrhunderts, voraus. Andererseits läßt sich nicht übersehen, daß mit dem Erstarken der Heimatbewegung eine Intensivierung des amtlichen Heimatschutzes zeitlich genau übereinstimmt. Einer gewissen, heute weit verbreiteten, sich in Verdächtigung erschöpfenden Denkweise entspräche es, daraus den Schluß zu ziehen, das hinter der Fassade des Staates etablierte Herrschaftssystem habe alsbald in der Heimatbewegung ein willkommenes Instrument entdeckt, um reaktionären Positionen eine zusätzliche ideologisch-organisatorische Fundierung zu verschaffen: daher die Begünstigung der Heimatbewegung durch staatliche Stellen! Den Tatsachen kommt es wohl näher, wenn man davon ausgeht, daß die Angehörigen der höheren bürokratischen Ränge als Mitglieder der Intelligenz und des Akademikerstandes zu einem guten Teil von der gleichen ambivalent konservativ-reformerischen Gesinnung erfüllt waren wie die leitenden Köpfe der Heimatbewegung. Deswegen die weitgehende Solidarität zwischen den Gebildeten in den Ministerialbüros und in den Geschäftsstellen der Heimatbewegung! Mitunter konnte es freilich geschehen, daß die Heimatvereinigungen, gestützt auf Mitgliederzahl, Kommunikationsmittel und propagandistische und organisato-

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rische Manövrierfähigkeit ein politisches Eigengewicht gewannen, und zwar keineswegs immer zur Freude der offiziellen Regierungspolitik. Weniger im Ausland, wohl aber in Deutschland ist über der staatsrechtlich-verfassungspolitisch orientierten Kontroverse zwischen Zentralismus und Föderalismus eine dritte Kraft, der Regionalismus, nie genügend ins Bewußtsein gehoben worden. Das ändert jedoch nichts daran, daß es ihn gab und gibt, und die Heimatbünde oder landschaftlich orientierten Arbeitsgemeinschaften sind des öfteren als Agitationsverbände eines politischen Regionalismus aufgetreten bis hin zur Mitsprache an den Reichsreformbestrebungen der 20er und 30er Jahre, den Bemühungen um die Neugliederung des Bundesgebietes nach 1945 und der Bildung von Heimatparteien. Das breitgefächerte politische Spektrum des Heimatbegriffs, der ursprünglich ohne sentimentalen Unterton ein terminus technicus aus dem Einwohnerrecht war, enthält neben vielen anderen Bezügen die Wendung „Heimatpolitik“ als Pendant zu „Weltpolitik“ in der regierungsoffiziellen Ideologie des Wilhelminischen Zeitalters, das Kapitel Heimwehren aus dem großen Komplex der paramilitärischen Verbände oder die zahlreichen mit dem Schicksal der Heimatvertriebenen zusammenhängenden Fragen. Im Rahmen einer primär kulturgeschichtlichen Erörterung wollen wir das Thema der politischen Landschaft und der Heimatbewegung als Politikum, so reizvoll es ist, jedoch aussparen.

Heimatideologie Um so dringlicher stellt sich die Frage nach den geistigen Antriebskräften der kulturellen Heimatbewegung. Der Halbgebildete von gestern wollte die Heimatbewegung, und zwar in durchaus positivem Sinn, als Kind der Romantik verstanden wissen, der Halbgebildete von heute ist geneigt, sie als präfaschistisch zu etikettieren. Was diese zeitgenössische Interpretation betrifft, so ist nicht zu bestreiten, daß die Heimatideologie im Kulturprogramm faschistischer Bewegungen, speziell des Nationalsozialismus, einen festen Platz einnahm, und daß es, um hier nur von den deutschen Verhältnissen zu reden, mancherlei Beziehungen zwischen Heimatbewegung und dem Nationalsozialismus gegeben hat, der bekanntlich vieles annektierte, verformte und sich dienstbar gemacht hat, was ursprünglich eine Größe für sich gewesen ist und sich gegen Manipulation nicht wehren konnte oder auch gar nicht erkannte, in welchem Maße manipuliert wurde. Wer sich einmal darüber klar geworden ist, was der Faschismus war und was er wollte und wie es andererseits mit dem Selbstverständnis und den Zielsetzungen der Heimatbewegung stand, kann nur folgern, daß die Kernzonen beider nicht zur Deckung zu bringen sind. Nicht nur die Festlegung der Heimatbewegung auf faschistisch oder präfaschistisch, auch die auf rechts oder konservativ schlechthin ist unzutreffend. Gerhard Kratzsch hat in seinem ungemein lehrreichen Buch „Kunstwart und Dürerbund“

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nachgewiesen, daß Heimatpflege und Heimatkultur auch im linken Milieu gedeihen konnten. Zu den bürgerlichen Wandervereinigungen z. B. bildeten die sozialistischen Naturfreunde eine Parallele. In der jüngsten Vergangenheit konnte man überdies die Kombination von Folklore und Protestsongs, etwa in den Kreisen der Ostermarschierer, registrieren, und der linke Film und das linke Theater haben längst die sozialkritischen Möglichkeiten der vormals mit Hohn überschütteten Heimat- und Wildererschnulze, des Dialekt- und Volksstücks entdeckt. Im öffentlichen Leben kommunistischer Staaten spielt Folklore als Schmuck des Daseins, als wohlgelittene und wohlkalkulierte Idylle, als Erwerbszweig, als touristischer Werbefaktor, als kulturpropagandistisches Requisit und als Symptom des auch innerhalb des marxistischen Internationalismus erlaubten nationalen Spielraums keine geringe Rolle. Gegenüber der früher üblichen Festlegung auf Romantik ist zuzugestehen, daß die sogenannte Deutsche Bewegung, verstanden als Gesamtheit aller philosophisch-weltanschaulichen Überzeugungen und Leistungen der Goethezeit (1770 – 1830), und die internationale Romantik tatsächlich zu den unabdingbaren Grundlagen der Heimatbewegung zählen. Aber gleichzeitig ist auf den zeitlichen Abstand zwischen der romantischen Epoche unserer Geisteskultur und dem Aufblühen der spezifischen Heimatkultur erst Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zu verweisen. Im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts fehlten nicht nur die gesellschaftlich-politischen wie die technischen Voraussetzungen dessen, was sich später als Heimatbewegung durchsetzen konnte, sondern auch wichtige geistige Bestandteile, die erst nach Goethe zu eruieren und zu datieren sind. Einmal sind es Systeme westeuropäischer Herkunft wie Positivismus und Evolutionismus, von der Masse der Anhängerschaft der Heimatbewegung als philosophische Richtungen gar nicht unmittelbar wahrgenommen, sondern meist nur in kleinerer Münze eingewechselt, schließlich der Realismus und der erst nach 1830 sich voll entfaltende Historismus gewesen, deren Dynamik nicht minder beachtet werden muß wie diejenige der „Deutschen Bewegung“. Die in der Heimatbewegung dominierenden Verhaltensweisen lebten zu einem guten Teil von der Freude am Konkreten und am Faktischen, von der Beschäftigung mit der historischen und naturgeschichtlichen Entwicklung, vom geschichtlichen Sinn und von Wissenschaftsgesinnung als popularisiertem, nicht mehr der gelehrten Welt vorbehaltenen Impuls. Ferner ist die Heimatbewegung engstens verbunden mit einem weitläufigen Komplex, für den sich am ehesten die Bezeichnung Lebensreform empfiehlt. Daß man den Begriff Lebensreform bisher verhältnismäßig eng begrenzt und vorwiegend auf an sich diskutable, aber infolge der Übertreibungen ihrer Anhänger oft skurril wirkende Bestrebungen angewendet hat, sollte nicht davon abhalten, ihn auch auf andere und solche Anläufe zur Daseinserneuerung auszudehnen, die mit der Heimatbewegung nachweislich zusammenhängen. Z. B. hat die von Ruskin und unmittelbar von Morris inspirierte ästhetische Bewegung Englands, die über kunstgewerbliche Tätigkeit hinaus eine gildensozialistische Lebens- und Gesellschaftsreform anstrebte, unverkennbar ihren Niederschlag in der Heimatkultur

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auch anderer Länder gefunden. Vielfältige Berührungen bestehen, wie bereits erwähnt, mit der deutschen Jugendbewegung, namentlich dem Wandervogel und dem Jugendherbergswesen. Man versuche einmal, die Dimension der erwanderten Heimat aus dem Erlebnisbereich der Jugendbewegung herauszunehmen, und man wird entdecken, welche bedeutende Funktion dem Heimatgedanken im Aufbruch der bürgerlichen Jugend zukam. Schließlich traf sich die pädagogische Reformbewegung u. a. auf dem Gebiet der Landerziehungsheime und der Heimvolkshochschulen – vom Fach Heimatkunde war bereits die Rede – mit der Heimatbewegung. Und die Kunsterziehungsbewegung, von deren führenden Namen ich nur den Alfred Lichtwarks hervorhebe, hat einer großzügig aufgefaßten Heimatkultur jederzeit Tribut gezollt und war ohne Zweifel aus der gleichen Mentalität wie die Heimatbewegung hervorgegangen. Noch zu untersuchen wären Querverbindungen zur Bodenreformbewegung und den Aktionen zur Schaffung von Heimstätten nach dem Vorbild der amerikanischen und kanadischen homesteads. Mit diesen Hinweisen soll nicht der Versuch unternommen werden, die Heimatbewegung zu einer primär demokratisch-progressiven Reformbewegung umzustilisieren, wenn auch in dem Bemühen, die Hochkultur aus der Volkskultur zu erneuern, auf jeden Fall ein demokratisierender Effekt ausgelöst wurde und die Geschichte der Heimatbewegung von ihren akademischen Anfängen bis zur Gegenwart geradezu den Musterfall eines Demokratisierungsprozesses darstellt. Heimatbewegung und Heimatkultur sind plurivalente Größen, und man muß ihre Aspekte sorgsam gegeneinander abwägen. Sie tragen reformerische Züge, trugen aber auch solche gegenteiliger Art. Ihr besonderes Handikap ist es gewesen und hängt ihnen heute noch an, daß sie als Gewächse des 19. Jahrhunderts ihre Aktivitäten in eine Ideologie und ein Vokabular einkleideten, die weithin dem Vulgärkonservativismus dieser Epoche entnommen waren. In ihren tonangebenden Persönlichkeiten und in ihren besten Publikationen sind sie heute über dieses Stadium längst hinaus, und man polemisiert an den Tatsachen vorbei, wenn man sie an ihrem Selbstverständnis von 1900, 1930 oder auch noch 1950 mißt. Demgegenüber soll gewiß nicht geleugnet werden, daß die einst vorherrschende Heimatideologie ein gestörtes Verhältnis zur Aufklärung, zur Französischen und Industriellen Revolution sowie zur Industriegesellschaft und zur Großstadt insgesamt hatte; also denjenigen Mächten, auf denen, auch wenn man ihre problematischen Seiten gewiß nicht übersieht, doch bis zur Stunde unser Dasein und unser Alltag, aber auch unser Modernitätsbewußtsein ganz überwiegend beruhen. In einem seiner verstehenden Grundhaltung wegen im Kritischen um so überzeugenderen Aufsatz „Heimat und Geschichte“ (Niedersächsisches Jahrbuch 1967) hat Heinrich Schmidt ein wahres Kompendium der Irrtümer und Fehlerquellen zusammengestellt, die ein Heimatbewußtsein charakterisieren, das ideologisch in eine Sackgasse geraten ist. Um es stichwortartig zusammenzufassen: Die überkommene Heimatideologie litt an der bis in die Präambel zur Weimarer Reichsverfassung festgehaltenen Fiktion von den Stämmen als gesellschaftlicher und politischer Realität, sie litt an dem Aberglauben an einen character indelebilis von Volksart und Volksseele, an einem

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Der kulturgeschichtliche Ort der Heimatbewegung

provinziellen Antiurbanismus, der nicht erkennen mochte, daß die Großstadt in gleichem Maße Heimat gewährt wie das Land, an dem Irrtum, separat von der Industriegesellschaft eine heile ständische Welt erhalten und für sie vielleicht sogar Terrain zurückgewinnen zu können. Kein Zweifel, daß solche Vorstellungen einst von Hunderttausenden unkritisch übernommen wurden und ihnen als Rückhalt dienten. Heute ist jedoch damit kein Staat mehr zu machen.

Und heute? Wie steht es bei uns heute mit der Heimatbewegung? Daß ihr ein großer Teil der Intelligenz mit Reserve oder Ablehnung gegenübersteht, läßt sich nicht übersehen. Es geschah nicht von ungefähr, wenn die Bundeszentrale für Heimatdienst in Bonn 1963 ihren Namen ablegte und in „Bundeszentrale für politische Bildung“ umänderte. Einzelne Heimatbünde erwägen, ob sie ihren Namen aufgeben sollen, und mindestens in einem Fall ist dies auch geschehen. In unseren Schulen ist der terminus technicus Heimatkunde durch Sachunterricht ersetzt worden. Gutachten von Bildungsexperten und Entschließungen bzw. Empfehlungen der Kultusministerkonferenz, die kritische Bedenken gegenüber der überkommenen Heimatkunde ins Feld führten und den Wandel didaktischer Prinzipien geltend machten, stehen hinter diesem Vorgang. Solche sprachpolitischen Vorgänge verdienen Aufmerksamkeit. Sie signalisieren ideologische Spannungen, stellen Bekundungen zeitgenössischer Geistesverfassung dar und dürfen als Symptome für gesellschaftliche und politische Veränderungen genommen werden. Offenheit gegenüber diesen Erscheinungen tut auf jeden Fall not, aber es empfiehlt sich, überlieferte Prägungen nicht vorzeitig und d. h., bevor man mit einiger Sicherheit Besseres und Gültigeres aufzuweisen hat, preiszugeben. Geht man vom Wort zur Sache über, so wäre es wohl grundverkehrt, der Heimatbewegung durch eine modernere Ideologie aufhelfen zu wollen. Worauf es ankommt, ist, jenseits aller dubiosen Ideologie die bleibenden positiven Leistungen der Heimatbewegung in zeitgemäßer Sprache zu deklarieren und sie den Bedürfnissen der Gegenwart entsprechend weiterzuführen und auszubauen. Beides, das historische Verdienst und die Betätigungschance für Gegenwart und Zukunft, lassen sich, so scheint es mir, in zwei Punkten zusammenfassen: 1. Schlagwörter wie Lebensqualität und Umweltschutz sind heute so zerredet, daß man sich beinahe scheut, sie in den Mund zu nehmen. Dies ändert jedoch nichts daran, daß dahinter Angelegenheiten von erstrangiger Bedeutung stehen. Wer immer nun die derzeit gängigen Formulierungen aufgebracht hat, der Sache nach ist das Verständnis für Lebensqualität und Umweltfragen nicht erst durch John Galbraith oder noch jüngere Wortführer geweckt worden. Die Heimatbewegung in ihren spezifischen Sektoren des Landschafts- und Naturschutzes – und nie-

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mand anderer – ist es gewesen, die auf breiter Front eine Disposition der Aufgeschlossenheit für die ökologischen und denkmalpflegerischen Probleme unserer Welt und unserer Gesellschaft kreiert hat. Sie zuallererst hat gegen Naturzerstörung, Zersiedlung, Verschandelung von Ortsbildern und Landschaft protestiert, und erst in jüngster Zeit haben auch andere Gruppen, allerdings mit modernerer Terminologie ausgerüstet, die Attraktivität und Wichtigkeit dieses Themas entdeckt. Unbeschadet dessen könnten auch und gerade heute und morgen die Heimatvereine und Heimatbünde das organisatorische Potential stellen, das die ökologische Initiative als seine besondere Aufgabe erkennt, könnten sie zur pressure group des Umweltschutzes im weitesten Sinn werden. 2. Die Heimatorganisationen müßten es weiterhin als ihren Auftrag ansehen, die Frage offenzuhalten, was nicht nur die Natur in einer zunehmend denaturierten, sondern auch, was die Geschichte in einer ahistorisch werdenden Welt zu bedeuten hat. Während sich die Forderung nach Schutz der Natur im ökologischen Zusammenhang verhältnismäßig leicht einsichtig machen läßt, ist es komplizierter, den pfleglichen Umgang mit Geschichte und Tradition als gesellschaftliche Notwendigkeit begreiflich zu machen. Wenn man jedoch zu der Überzeugung gelangt ist, daß kritische, aber deswegen nicht schlechthin verneinende Bewußtmachung der Vergangenheitsdimension zu den auszeichnenden Möglichkeiten des Menschseins gehört und der Verzicht darauf mit einer Wendung zur Inhumanität identisch sein kann, dann müßten sich, meine ich, im Kreise der Heimatbewegung geistige Anstrengungen lohnen, die Auseinandersetzung mit der Geschichte und ihren Denkmälern in Gang zu halten. Und zwar sollte dies gerade nicht in Form hoffnungsloser Fixierung auf vergangene Zustände erfolgen, sondern müßte als Schärfung des Sinns für den geschichtlichen Wandel, auch für den Wandel des Begriffs und Inhalts von Heimat, betrieben und eingeübt werden. Selbstverständlich wird das museale und konservierende Bemühen stets einen wichtigen Teil des Heimatbewußtseins ausmachen. Es erscheint jedoch in zunehmendem Maße nützlich, den Kontakt mit Veränderungen des Heimatbewußtseins zu suchen und zu pflegen, wie sie rundherum zutage treten: Regionale Neubildungen auf ökonomischer oder verkehrspolitischer Grundlage, Lokalpatriotismus aufgrund der Bindungen an Sportvereine und des Stolzes auf deren sportliche Leistungen, Gemeinschafts- und Nachbarschaftsprobleme in den Neusiedlungen am Rand unserer Städte oder anderer älterer Ortskerne und zahlreiche ähnliche Erscheinungen. Offenheit für aktuelle Subkulturen der verschiedensten Herkunft könnte dazu beitragen, Impulse der Heimatbewegung zu bereichern. Gelänge eine dynamisierende Orientierung in diesem Sinne, so erschiene die Position der Heimatorganisationen auch im Heute und seinem öffentlichen Leben gut verankert.

Nachweis der Erstveröffentlichung I. Kultur und Wissenschaft 1. Der Historiker und die Öffentlichkeit, in: Evolution – Zeit – Geschichte – Philosophie. Universitätsvorträge, hrsg. v. Heinz Dollinger (Schriftenreihe der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster, H. 5), Münster 1982, S. 47 – 64. 2. Kunst und Öffentlichkeit – Beiträge aus Westfalens Vergangenheit, in: Westfalen 58 (1980), S. 172 – 190. 3. Historismus als kultur- und sozialgeschichtliche Bewegung, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik, H. 1 / 2 (1982), S. 5 – 16. 4. Zur Auffassung der mittelalterlichen Kaiserpolitik im 19. Jahrhundert. Eine ideologieund wissenschaftsgeschichtliche Nachlese, in: Dauer und Wandel der Geschichte. Aspekte europäischer Vergangenheit. Festgabe für Kurt von Raumer zum 15. Dezember 1965, hrsg. v. Rudolf Vierhaus / Manfred Botzenhart, Münster 1966, S. 483 – 512. 5. Westfälische Historiker des 19. Jahrhunderts in Österreich, Bayern und der Schweiz, in: Westfälische Zeitschrift 122 (1972), S. 9 – 50. 6. Karl Alexander von Müller 1882 – 1964. Ein Nachruf, in: Historische Zeitschrift 205 (1967), S. 295 – 322.

II. Konfession 7. Vorüberlegungen zu einer Geschichte des politischen Protestantismus nach dem konfessionellen Zeitalter (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften; Vorträge G 253), Opladen 1981 [45 Seiten]. 8. Deutsche Palästinafahrten des 19. Jahrhunderts als Glaubens- und Bildungserlebnis, in: Lebenskräfte der abendländischen Geistesgeschichte. Dank- und Erinnerungsgabe an Walter Goetz zum 80. Geburtstag am 11. November 1947, hrsg. v. Wolfgang Stammler, Marburg 1948, S. 286 – 324. 9. Kirchliche Ökumenizität und weltpolitisches Denken. Deutsche Stimmen aus dem 19. Jahrhundert, in: Antike und Universalgeschichte. Festschrift für Hans-Erich Stier, hrsg. v. Ruth Stiehl / Gustav Adolf Lehmann, Münster 1972, S. 380 – 398. 10. Bemerkungen zum politischen Katholizismus im bayrischen Vormärz und Nachmärz, in: Staat und Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Karl Dietrich Bracher / Paul Mikat / Konrad Repgen / Martin Schumacher / Hans-Peter Schwarz, Berlin 1992, S. 283 – 304. 11. Der politische Katholizismus im Hohenzollernreich und die Außenpolitik, in: Staat und Gesellschaft im politischen Wandel. Beiträge zur Geschichte der modernen Welt. Walter Bußmann zum 14. 1. 1979, hrsg. v. Werner Pöls, Stuttgart 1979, S. 224 – 257.

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III. Heimat und Regionalismus 12. Die politische Landschaft in der deutschen Geschichte des 19. / 20. Jahrhunderts. Eine Skizze zum deutschen Regionalismus, in: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte 27 (1964), S. 523 – 552. 13. Der kulturgeschichtliche Ort der Heimatbewegung gestern und heute (Vortrag gehalten am 21. September 1975 aus Anlaß des Tages der Westfälischen Geschichte und des 150jährigen Jubiläums des Vereins für Geschichte und Altertumskunde Westfalens, Abteilung Münster), in: Westfälische Forschungen. Mitteilungen des Provinzialinstituts für westfälische Landes- und Volkskunde 27 (1975), S. 12 – 21, auch in: Mitteilungen, hrsg. v. Deutschen Heimatbund, Nr. 10, 1975, S. 10 – 17, ebenfalls erschienen unter dem Titel: Die Heimatbewegung. Ihr kulturgeschichtlicher Ort gestern und heute, in: Nordfriesland. Kultur, Politik, Wirtschaft 10 (1976), S. 7 – 14.