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German Pages 323 Year 2018
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 50
Kulminierende Grundrechtseingriffe Vom Umgang mit Belastungskumulationen am Beispiel des beendeten Bestandsmarktaufrufes
Von Johannes Christoph Heu
Duncker & Humblot · Berlin
JOHANNES CHRISTOPH HEU
Kulminierende Grundrechtseingriffe
Schriften zum Gesundheitsrecht Band 50 Herausgegeben von Professor Dr. Helge Sodan, Freie Universität Berlin, Direktor des Deutschen Instituts für Gesundheitsrecht (DIGR) Präsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin a.D.
Kulminierende Grundrechtseingriffe Vom Umgang mit Belastungskumulationen am Beispiel des beendeten Bestandsmarktaufrufes
Von Johannes Christoph Heu
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer hat diese Arbeit im Jahre 2017 als Dissertation angenommen.
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© 2018 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Druck: CPI buch.bücher.de, Birkach Printed in Germany
ISSN 1614-1385 ISBN 978-3-428-15553-8 (Print) ISBN 978-3-428-55553-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85553-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Vorwort
Die vorliegende Arbeit wurde von der Deutschen Universität für Verwaltungswissenschaften Speyer im Wintersemester 2017 als Dissertation im Fachbereich Rechtswissenschaften angenommen. Sie entstand im Wesentlichen in den Jahren 2014 bis 2016. Ausgangspunkt für das Entstehen dieser Arbeit war die mit einer Vielzahl an interessanten verfassungsrechtlichen Fragestellungen verbundene Aufhebung der fakultativen Nutzenbewertung von Arzneimitteln im Bestandsmarkt durch das 14. SGB V Änderungsgesetz. Die Arbeit befindet sich auf dem Stand vom 01.06.2017. Das aus dem Pharmadialog hervorgegangene, am 12.05.2017 im Bundesgesetzblatt verkündete Arzneimittelversorgungsstärkungsgesetz (AM-VSG) wurde noch vollumfänglich mit in die Untersuchung einbezogen. Spätere Gesetzesänderungen, Rechtsprechung und Literatur konnten jedoch nur sehr vereinzelt berücksichtigt werden. Ganz herzlich danken möchte ich allen voran meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Mario Martini, dessen Seminar „Recht und Ökonomik“ die Keimzelle dieser Arbeit war. An ihn geht auch mein Dank für die Betreuung dieser Arbeit und die Gewährung der hierfür notwendigen wissenschaftlichen Freiheit. Dabei hatte er immer ein offenes Ohr für meine beim Streben nach Wahrheit und Erkenntnisgewinn auftretenden Fragen und Anliegen. Herzlicher Dank gebührt auch Frau Prof. Dr. Constanze Janda für ihre wie selbstverständlich erscheinende, sofortige Bereitschaft, die Zweitbegutachtung zu übernehmen, das ausgesprochen zügige Erstellen des Zweitgutachtens sowie den unkomplizierten Kontakt. Nicht minder herzlich möchte ich mich auch bei Herrn Prof. Dr. Christian Koch bedanken, der sich ebenfalls ohne zu Zögern bereit erklärte, die Disputation als dritter Prüfer abzunehmen. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Helge Sodan für die Aufnahme meiner Arbeit in die ,Schriften zum Gesundheitsrecht‘. Zu großem Dank bin ich auch meiner Großmutter, Frau Hildegard Heu, sowie meinen Eltern, Dr. Veit Joachim und Ursula Maria Heu, für ihre vorbehaltlose Unterstützung während meiner gesamten Ausbildung verpflichtet. Ohne ihre liebevolle Verbundenheit wäre dieses Werk wahrscheinlich nie entstanden. Ganz besondere Verdienste um diese Arbeit haben sich Frau Julia PaulyGrimm und Herr Robert Koch erworben, die der Arbeit in vielen Stunden des sorgfältigen Korrekturlesens nicht nur einige Kommata geschenkt haben.
Vorwort
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Die ausgezeichnete wissenschaftliche Infrastruktur von Ansbach und Würzburg half mir ebenfalls sehr. Vor allem das Team der Staatlichen Bibliothek Ansbach stand mir immer mit fachkundigem Rat und Tat zur Seite und trug so maßgeblich zum Entstehen und Gelingen dieser Arbeit bei. Schließlich möchte ich auch Frau Cordula Christine Heu, Frau Ronja Berger sowie den vielen Ungenannten danken, die alle in der ein oder anderen Weise einen hilfreichen Beitrag erbrachten. Ansbach, im Mai 2018
Johannes Christoph Heu
Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis
§ 1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 A. Das Ganze – mehr als die Summe seiner Teile? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 B. Belastungskumulationen im Gesundheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 I. Eine Frage der Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 II. Relevanz für den beendeten Bestandsmarktaufruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 § 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 A. Ressourcenmangel .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 I. Knappheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 II. Gesundheit als Sicherheitsbedürfnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 III. Gesundheit als transzendentes Gut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 IV. Nachfrage nach Gesundheitsleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Demografischer Wandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 I. Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis 2060 .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 II. Konsequenzen für die GKV .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1. Demografischer Finanzierungseffekt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 2. Demografischer Ausgabeneffekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 a) Medikalisierungs- versus Kompressionsthese . . . . . . . . . . . . . . . . 29 b) Demografisch induzierter Ausgabenanstieg .. . . . . . . . . . . . . . . . . 29 C. Medizinischer Fortschritt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 I. Beitragssatzprojektionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 II. Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 1. Produkt- und Prozessinnovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 2. Schritt- und Scheininnovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 3. Gerontokratie und Sisyphus-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 D. Mythos Kostenexplosion .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 E. Sonstige Ursachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 I. Bedarfsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 II. Therapiefreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 III. Angebotsinduzierte Nachfrage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 1. Empirie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 2. Alternativerklärungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Fazit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 IV. Abrechnungswesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 V. Anspruchsdenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
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Inhaltsverzeichnis VI. Trennung der Versorgungssektoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 VII. Haushaltskonsolidierung und Sozialkassensubventionierung .. . . . . . . . 47 VIII. Gehalts- und Lohnentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 F. Zwischenergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
§ 3 Rationierung, Rationalisierung und Priorisierung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 A. Paradigmenwechsel vom Minimal- zum Maximalprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 B. Begrifflichkeiten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 I. Rationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 II. Rationierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 1. Medizinische Notwendigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2. Bewusstes Vorenthalten aus Knappheitsgründen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 3. Gesundheitsleistungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 III. Priorisierung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 IV. Definitionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 C. Entscheidungsebenen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 I. Engelhardts vier Diskussionsebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 II. Dreistufiges Mesoebenenkonzept . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 III. Postulat der höchsten Entscheidungsebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 D. Rationierung am Krankenbett . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 I. Folgen verdeckter Rationierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 II. Grundrechtsschutz durch Verfahren .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 1. Transparenz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 2. Begründung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 3. Kodifizierung – Vollzug – Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 III. Priorisierungskriterien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 IV. Vorrang der Rationalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 § 4 Arzneimittelpreisbildung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 A. Preisbildung nach dem AMG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 B. Preisbildung nach dem SGB V . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Festbetragssystem .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74 II. Erstattungsbetragssystem .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 III. Zwangsrabatte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 1. Apothekenrabatt .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 2. Allgemeiner Herstellerabschlag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3. Generikaabschlag .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 4. Impfstoffabschlag .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 5. Preismoratorium .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 C. Preisbildung nach dem AMRabG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83
Inhaltsverzeichnis
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§ 5 Verfassungsmäßigkeit der Kompensationsmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 A. Ausgangssituation .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 B. Grundrabatterhöhung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 I. Vereinbarkeit mit der Finanzverfassung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II. Berufsfreiheit der Hersteller von Pharmazeutika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 1. Persönlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 2. Sachlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 a) GKV-Leistungserbringer als eigenständiger Beruf . . . . . . . . . . . 93 b) Einheitlicher Schutzbereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 aa) Wirtschaftliche Verwertung eigener Leistung . . . . . . . . . . . . 96 bb) Preisfreiheit als Ausprägung der Vertragsfreiheit . . . . . . . . . 98 cc) Preisfreiheit als Ausprägung der Wettbewerbsfreiheit . . . . 99 dd) Preisfreiheit als Ausprägung der Berufsausübungsfreiheit 103 ee) Gewinnerzielungsfreiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Berufswahl- oder Berufsausübungsregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 a) Berufsregelnde Tendenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 b) Dauerhafte Berufsausübungsregelung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 aa) Wahlperiodenübergreifender Selbstbindungseffekt . . . . . . . 106 bb) Umqualifizierung in eine Berufswahlregel . . . . . . . . . . . . . . . 107 4. Gesetzgebungskompetenz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 5. Übermaßverbot und Drei-Stufen-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 6. Verfassungsrang der finanziellen Stabilität der GKV . . . . . . . . . . . . . . 115 a) Einrichtungsgarantie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 b) Sozialstaatsprinzip .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 c) Schutzpflichtverletzung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 d) Gesetzgebungskompetenzen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 e) Zwischenergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 7. Der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . 125 a) Position der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 b) Kritik der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 c) Fazit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 8. Angemessenheit der Zwangsrabattierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 a) Der gerechte Preis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 b) Keine Berücksichtigung kompensatorischer Einsparungen .. . 135 c) Sachlich undifferenzierte Abschlagspflicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 aa) Mengenrabattierung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 bb) Generika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 cc) Biosimilars .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 d) Überkompensation und Dauerhaftigkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 e) Existenzgefährdung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144
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Inhaltsverzeichnis aa) Laesio enormis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 bb) Abwägung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 f) Kostendeckung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 g) Teilhaberecht .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 h) Prüfungs- und Beobachtungspflichten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 9. Zwischenergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 III. Eigentumsfreiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 IV. Gleichbehandlung der Profiteure . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 C. Preismoratorium .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 I. Nicht durchsetzbare Preiserhöhungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 II. Nicht realisierbare Festbetragserhöhungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 III. Abwälzung Abgaben- und Inflationsrisiko . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 IV. Alleinige Maßgeblichkeit des Wirkstoffes .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 D. Im Verfahren der Preisbildung befindliche Arzneimittel: Gliptine . . . . . . . . 163 I. Ungleichbehandlung von Bestandsmarktpräparaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 II. Einzelfallgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 III. Wegfall der Rechtsgrundlage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 E. Bestandsmarktunternehmen im Wettbewerb mit neuen Wirkstoffen . . . . . . 168 F. Auswirkungen auf PKV .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 I. Gleichlauf zwischen GKV und PKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 II. Grundrecht der Berufsfreiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Legitimes Ziel des AMRabG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 a) Bezahlbarer Krankenversicherungsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Moral hazard und Erhalt der PKV .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 c) Entlastung öffentlicher Haushalte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 aa) Zweckbindung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 bb) Sonderabgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 2. Geeignetheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3. Erforderlichkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 4. Angemessenheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 a) Spezifischer Abwägungsbelangbezug .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 b) Wertigkeit der Eingriffsziele . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 c) Eingriffsintensität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 III. Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 1. Selbstzahler und GKV-Versicherte .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 2. GKV und PKV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3. Andere Leistungserbringer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 4. Folgerichtigkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 IV. Umsatzsteuer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186
Inhaltsverzeichnis
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V. Rückwirkungsverbot .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 G. Zwischenergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 § 6 Kulminierender Grundrechtseingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 A. Kompensationsmaßnahmen als Belastungskumulation .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 I. Denkbare kumulierende Einzeleingriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 II. Gang der weiteren Untersuchung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 B. Begrifflichkeiten, Abgrenzungen und Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 I. Begriffsklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 II. Abgrenzung zur Grundrechtskonkurrenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 III. Formen der Belastungskumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 1. Vertikale Belastungskumulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 a) Wehrdisziplin .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 b) Maßregelvollzugszeiten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 c) U-Haftbedingungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 d) Fazit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 2. Echte und unechte Belastungskumulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 3. Horizontale Belastungskumulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 4. Verschiedene Hoheitsträger und Gewalten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 a) Gewaltenübergreifende Belastungskumulation .. . . . . . . . . . . . . . 205 b) Belastungskumulationen aufgrund eines Gesetzes . . . . . . . . . . . 206 c) Belastungskumulationen durch Gesetz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 aa) Halbteilungsgrundsatz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 bb) Steuerfreies Familienexistenzminimum . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 cc) Beitragssicherungsgesetz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 dd) Basistarif und Portabilität von Alterungsrückstellungen .. 211 ee) Rentenniveau .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 ff) Spielhallen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 gg) Föderative Belastungskumulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 5. Finale und faktische Belastungskumulationen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 6. Zusammenfassung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 IV. Unzulängliche dogmatische Erfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 1. Punktualität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 2. Bipolarität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 3. Individualität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 4. Aktualität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 C. Normative Anhaltspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 I. Ne bis in idem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 II. Finanzverfassungsrechtliches Überbelastungsverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 III. Kompetenzenordnung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 IV. Wesensgehaltsgarantie .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223
Inhaltsverzeichnis
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V. Selbstverwaltungsgarantie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 VI. Wesen der Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 D. Vorgeschlagene Modifikationen der Grundrechtsprüfung .. . . . . . . . . . . . . . . . 225 I.
Trennung von Schutz- und Lebensbereich .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 1. Freiheitsverluste trotz Schutzbereichserweiterung .. . . . . . . . . . . . . . . . 226 2. Anhaltspunkte in der Rechtsprechung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 3. Kritik .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 4. Relevanz für den Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 II. Lehre von der Normwirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Realitätsgerechte Erfassung von Belastungskumulationen .. . . . . . . . 229 2. Bewertung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 III. Bildung eines Gesamteingriffes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 1. Statisches Eingriffsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Grundrechtsidentität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 a) Freiheitsrecht und Freiheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 b) Freiheitsrecht und Gleichheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 3. Aktualität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 IV. Mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 V. Zurechenbarkeit des Eingriffs .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 VI. Holistischer Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 VII. Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 VIII. Dreiteiliges Schutzkonzept .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 IX. Modifizierte klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung .. . . . . . . . . . . . . . . 245 X. Grundrechtsspezifische Ansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 1. Grundrechte zum Schutze personenbezogener Daten .. . . . . . . . . . . . . 246 2. Berufsfreiheit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 3. Eigentumsbelastungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 E. Saldierung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 I. II. III. IV.
Grundrechtskompensation und Saldierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Kompensation als Rechtsfigur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 Saldierung im Spiegel der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Voraussetzungen einer Saldierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 1. Personenidentität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 2. Innerer Funktionszusammenhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3. Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 F. Eigener Ansatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 I. Dogmatischer Standort .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 II. Kombinationsbetrachtung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 1. Indizienkatalog .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 2. Konstitutionalisierung der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
Inhaltsverzeichnis
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3. Zusammenfassung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 4. Rückwirkung auf den Einzeleingriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 G. Verfassungsprozessuale Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 I.
Belastungskumulationen im Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 1. Supra- und nationale Belastungskumulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 2. Föderative Belastungskumulationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 3. Pouvoir constituant constitué . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 II. Tenorierung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 1. Materielle Rechtsfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 2. Nichtigkeit oder Unvereinbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 a) Primat verfassungskonformer Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 b) Nichtigkeit versus Unvereinbarkeit .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 c) Appellentscheidung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 III. Erweiterung des Beschwerdegegenstandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 IV. Anforderungen an die Beschwerdebegründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 V. Darlegungs- und Beweislast .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 H. Kulminierender Eingriff durch die Kompensationsmaßnahmen .. . . . . . . . . . 277 I. Grundvoraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 II. Kombinationsbetrachtung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 1. Feststellung der kumulierenden Einzelmaßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . 279 2. Wertende Gesamtbetrachtung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 a) Saldierung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 aa) Kostenerstattungsmöglichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 bb) Erhöhter Herstellerrabatt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 cc) Dossiererstellung, Erstattungsbeträge, Biosimilars . . . . . . . 284 b) Konstitutionalisierung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 c) Gesamtbelastungsintensität .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3. Ergebnis .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 § 7 Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Sachwortregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Abkürzungsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis
Die verwendeten Abkürzungen richten sich grundsätzlich nach Hildebert Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 8. Auflage 2015, Berlin. Davon in nachfolgend näher bezeichneten Einzelfällen abweichend sowie darüber hinaus werden folgende Abkürzungen verwendet: a. a. O.
am angegebenen Ort
AMRabG Arzneimittelrabattgesetz AM-VSG
Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung
BÄK Bundesärztekammer BT-Drs.
Drucksache des Deutschen Bundestages
CDU
Christlich Demokratische Union Deutschlands
CSU
Christlich Soziale Union in Bayern
DDD
Defined Daily Dose
DIW
Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung
DKG
Deutsche Krankenhausgesellschaft
DMP
Disease Management Programm (DMP)
DRG
Diagnosebezogene Fallgruppen
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
FDP
Freie Demokratische Partei Deutschlands
GBA
Gemeinsamer Bundesausschuss
IAQ
Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen
IGEL
Individuelle Gesundheitsleistung
INSM
Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft
IQWiG
Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen
IRP
International Reference Pricing
MDK
Medizinischer Dienst der Krankenkassen
m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
QALY
Quality Adjusted Life Year
RWI
Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
u. a.
unter anderem/unter anderen
VerfO
Verfahrensordnung des Gemeinsamen Bundesausschusses
ZEKO
Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer
§ 1 Einleitung A. Das Ganze – mehr als die Summe seiner Teile? „Dasjenige, was so zusammengesetzt ist, daß das Ganze eines ist, nicht wie ein Haufen, sondern wie die Silbe, ist nicht nur seine Elemente. Die Silbe nämlich ist nicht einerlei mit ihren Elementen (Buchstaben), das ba nicht einerlei mit b und a, ebensowenig Fleisch mit Feuer und Erde; denn nach der Auflösung ist das eine nicht mehr, z. B. das Fleisch und die Silbe, die Sprachelemente (Buchstaben) aber sind noch, und ebenso das Feuer und die Erde. Also ist die Silbe etwas außer diesen, nicht bloß nämlich die Sprachelemente, Vokale und Konsonanten, sondern auch noch etwas anderes, und das Fleisch ist nicht nur Feuer und Erde oder Warmes und Kaltes, sondern auch etwas anderes“1
Endliche Substanzen sollen demnach aus zwei verschiedenen Prinzipien bestehen: dem Stoff oder der Materie (griechisch: hýlē) und der Form (griechisch: morphḗ). Diese zentrale, Hylemorphismus genannte, aristotelische Lehre geht davon aus, dass das Ganze mehr als die Summe seiner Teile sein muss. Körperliche Dinge bestehen deswegen nicht nur aus Materie, sondern aus Materie und Form. Eine Statue ist also nicht nur eine Menge von Stein, sondern auch der Stein in einer bestimmten Form. Ein Gedanke, der sich in einem übertragenen Sinne auch im Rahmen einer Grundrechtsprüfung fruchtbar machen lässt. Denn diese erfolgt stets mit Blick auf die Verfassungsmäßigkeit einer einzelnen, bestimmten hoheitlichen Maßnahme. Sobald deren Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz festgestellt ist, ist die Prüfung ohne weitere Konsequenzen beendet. Dafür, dass der betroffene Grundrechtsträger mit Sicherheit bereits eine Vielzahl an ebenfalls gerechtfertigten Grundrechtseingriffen hinnehmen musste, interessiert sie sich nicht. Schon alleine das weite Verständnis der allgemeinen Handlungsfreiheit, als Recht zu tun und zu lassen, was man möchte, führt dazu, dass sich jeder Grundrechtsträger mit einer Vielzahl an Grundrechtseingriffen konfrontiert sieht. Aber auch in die speziellen Freiheitsrechte wird, wegen ihrer, ebenfalls, oftmals sehr weit verstandenen Schutzbereiche häufig in gerechtfertigter Weise eingegriffen. Eingriffe, die nicht selten zur Erreichung ein und desselben Zweckes erfolgen. Typische Beispiele dafür sind Eingriffskaskaden, die zur Aufrechterhaltung der inneren oder äußeren Sicherheit, der Einnahmeerzielung bzw. Kostenvermeidung oder aber zum Zwecke des Umweltschutzes erfolgen. Insbesondere in diesen Fällen 1
Aristoteles, Aristoteles’ Metaphysik, 1980, S. 77 = Aristot. Metaph. VII 1041b.
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§ 1 Einleitung
keimen Zweifel, ob eine Vielzahl an für sich allein genommen gerechtfertigten Grundrechtseingriffen nicht die eigentlich gewährleistete Freiheit peu à peu beseitigt. Dazu kommt, dass auch und gerade gerechtfertigte Grundrechtseingriffe für den Betroffenen mit tatsächlichen Belastungswirkungen verbunden sind, deren realitätsgerechte Abbildung von der gängigen Grundrechtsdogmatik bislang vernachlässigt wurde. Das ist insofern konsequent, als dass das herrschende Eingriffsverständnis eben ein punktuelles ist, das es unmöglich macht, den Blick zu weiten. Im Fokus der Betrachtung steht der gerade geprüfte Eingriff. Deswegen fällt es auch schwer, die Gesamtbelastung des Grundrechtsträgers im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Hier ist der Eingriffsintensität zwar anerkanntermaßen großes Gewicht beizumessen, gemeint ist damit aber ebenfalls nur die, aus dem zur Prüfung gestellten Eingriff resultierende Eingriffsintensität. Das punktuelle Eingriffsverständnis setzt sich also fort und determiniert das Programm der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Im Ergebnis entsteht somit die reale Gefahr, dass grundrechtlich verbürgte Freiheiten durch viele kleinere, für sich allein genommen gerechtfertigte Eingriffe, sukzessive beseitigt werden. Auch für die Akzeptanz der Grundrechtsordnung bedeutet es nichts Gutes, wenn sie ihre Augen vor der tatsächlichen Belastungssituation ihrer Schutzbefohlenen verschließt. Der Schutz der Grundrechtsträger darf sich deshalb nicht auf den Schutz vor punktuellen Grundrechtseingriffen beschränken. Der zu gewährleistende Grundrechtsschutz muss deshalb größer sein als die Summe seiner Teile in Form der einzelnen grundrechtlich verbürgten Rechte.
B. Belastungskumulationen im Gesundheitsrecht I. Eine Frage der Voraussetzungen Darüber, dass dem so sein muss, besteht Einigkeit2. Wie das zu gewährleistende „Mehr“ an Grundrechtsschutz aber en détail auszusehen hat, wird häufig nicht gesagt. Anstelle dessen beschränken sich die meisten Beiträge darauf, einige wenige zu diesem Problemkreis ergangene verfassungsgerichtliche Entscheidungen bzw. grundlegendere Beiträge zu referieren und verweisen darüber hinaus nur auf den großen Forschungsbedarf. Die Kontroverse erstreckt sich dabei von rein terminologischen Fragen, über die zutreffende dogmatische Behandlung dieser Figur, bis hin zu ihren verfassungsprozessualen Konsequenzen. Es gilt zu klären, 2 Dazu beispielsweise aus der Rechtsprechung: BVerfGE 114, 196 (242); 123, 186 (265); BVerfG, NJW 2014, S. 3634 – 3639; BSG, NZS 2010, S. 32; BGHSt 54, 69 (104); Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 20. Juni 2014 – 96/13 –, juris Rn. 38; aus der Literatur: Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 130 Rn. 308; Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 97 – 98; Hofmann, JURA – Juristische Ausbildung 2008 S. 669; Kirchhof, NZS 2015 S. 7; Kloepfer, VerwArch 1983 S. 202.
B. Belastungskumulationen im Gesundheitsrecht
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in welchen Konstellationen dieses Phänomen bislang auftrat, wie es sich systematisieren lässt und welche normativen Anhaltspunkte für seine Existenz bestehen. Vor allen Dingen müssen aber die, für eine solche Gesamtbelastungsprüfung zu erfüllenden Voraussetzungen herausgearbeitet werden. In jedem Falle zu weit ginge es nämlich, sämtliche – vom Gesetzgeber vielleicht sogar noch ausdrücklich gewollten – Mehrfachbelastungen, mit Verweis auf eine, vermeintlich unzumutbare Belastungskumulation aus dem Weg zu räumen.3 Ist diese Grenze noch gewahrt, wenn aus unterschiedlichen Gründen und zu verschiedenen Zeitpunkten erfolgte oder vielleicht sogar noch künftig erfolgende Grundrechtseingriffe verschiedener Hoheitsträger in unterschiedliche Grundrechte zusammengefasst werden sollen? Können nur Freiheits- oder auch Gleichheitsrechte zusammengefasst werden? Was ist unter Zusammenfassung überhaupt zu verstehen? Soll sie – wie die für diese dogmatische Erscheinung häufig verwendeten Begrifflichkeiten „additiver“ bzw. „kumulativer Grundrechtseingriff“ nahe legen – tatsächlich unter dem Dach des Grundrechtseingriffes erfolgen? Sind mit der Belastung einhergehende, entlastende Momente ebenfalls zu berücksichtigen und wenn ja, auf welche Weise? Ungeachtet der vielen offenen Fragen konstatierten einige Stimmen4, dass der Rubikon mit einer der letzten legislativen Kostendämpfungsmaßnahmen zur Aufrechterhaltung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung endgültig überschritten sei. Die mit dem 14. SGB V Änderungsgesetz beschlossenen bzw. vertieften Grundrechtseingriffe würden die Rechte der pharmazeutischen Industrie über Gebühr beschränken. Nach einer Gesamtbetrachtung sämtlicher belastender Elemente sprächen gute Gründe dafür, einen additiven Grundrechtseingriff anzunehmen. Eine These, die bereits des Öfteren, mit ähnlich kurzer Begründung bezüglich anderer im Gesundheitswesen getroffener Kostendämpfungsmaßnahmen, anklang.5 Die wenigen einge3
Klement, AöR 2009 S. 54; Kloepfer, VerwArch 1983 S. 223. Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 19 – 20; Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 31. 5 So bereits zur Einführung von Festbeträgen Sodan, Wirtschaftslenkung im Recht der Arzneimittelversorgung, in: Peter/Rhein (Hrsg.), Wirtschaft und Recht, 1989, S. 94 – 96; zum Beitragssicherungsgesetz aus Sicht der Apotheker, der Hersteller und Großhändler von Pharmazeutika, der Vertragsärzte und Zahntechniker: BVerfGE 114, 196 (242); zur Einführung eines Basistarifs und der teilweisen Portabilität der Alterungsrückstellungen aus Sicht der Unternehmen der privaten Krankenversicherung: BVerfGE 123, 186 (265); zu einer im Beitragssicherungsgesetz angeordneten Nullrunde aus Sicht der Vertragsärzte: Sodan, NJW 2003 S. 1763 – 1764; Sodan, GesR 2004 S. 307; in seiner Stellungnahme zum 14. SGB V Änderungsgesetz [Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 1 – 12] erwähnt er diese Figur allerdings mit keinem Wort; zum Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung (AM-VSG): Ausschussdrucksache 18(14)0223(22), S. 24; allgemein zu wirtschaftslenkenden Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen: Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen 4
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§ 1 Einleitung
henderen Untersuchungen6 zum sogenannten additiven Grundrechtseingriff betrafen jedoch allesamt andere Rechtsgebiete und das, obwohl dieser sogar schon in zwei verfassungsgerichtlichen Entscheidungen7 zum Gesundheitsrecht ausdrücklich erwähnt wurde. Es liegt nahe, wenn man in Zeiten einer wachsenden Finanzierungslücke und deswegen zunehmenden Verteilungskämpfen im Gesundheitswesen mit weiteren legislativen Kostendämpfungsmaßnahmen rechnet. Entsprechend häufiger wird dann auch der, bereits jetzt schon aus verschiedenen Ecken des Gesundheitswesens zu vernehmende Ruf nach einer übermäßigen Gesamtbelastung sein. Es bietet sich an, einen der letzten8 dieser Rufe zum Anlass zu nehmen, sich erstmals aus dem Blickwinkel des Gesundheits- bzw. Pharmarechts, mit dieser ohnehin nur sehr wenig erforschten Figur auseinanderzusetzen.
II. Relevanz für den beendeten Bestandsmarktaufruf Erklungen war dieser Ruf im Zusammenhang mit der durch das 14. SGB V Änderungsgesetz vollzogenen Beendigung des ursprünglich in § 35a Abs. 6 SGB V a. F.9 vorgesehenen Bestandsmarktaufrufes. Denn dadurch wurden die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie zwar von einem über ihnen hängenden Damoklesschwert in Form einer Nutzenbewertung ihrer bereits im Verkehr befindlichen Arzneimittel befreit.10 Im Gegenzug mussten sie dafür aber hinnehmen, dass man zur Kompensation der erhofften finanziellen Vorteile einen bereits zuvor auf ihre Erzeugnisse zwangsweise erhobenen Rabatt erhöht (§ 130a Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 33 – 34; Hufen, NJW 2004 S. 15; Kluth, S. 673; Schmidt-Aßmann, NJW 2004 S. 1691 – 1692. 6 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 59 – 120; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 79 – 164; Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 31 – 70. 7 BVerfGE 114, 196 (242); 123, 186 (265). 8 Zuletzt wurde am Ende der 18. Legislaturperiode vom Bundesverband der Arzneimittelhersteller e.V. im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens zum AM-VSG [Ausschussdrucksache 18(14)0223(22), S. 24] ein additiver Grundrechtseingriff gerügt. 9 Im Interesse einer besseren Lesbarkeit werden wörtliche Zitate des Gesetzestextes nur dann besonders gekennzeichnet, wenn ihnen eine, über das bloße Zitat hinausgehende, Bedeutung beizumessen ist. 10 Eine Entscheidung, die der Gesetzgeber durch das am Ende der 18. Legislaturperiode verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung (AM-VSG) ein Stück weit revidierte. § 35a Abs. 6 SGB V ermöglicht seit dem eine fakultative Nutzenbewertung für Arzneimittel mit bekannten Wirkstoffen. Voraussetzung dafür ist eine neue Zulassung nebst neuem Unterlagenschutz. Entsprechendes gilt für Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen, denen eine neue Zulassung erteilt wurde und für die neuer Unterlagenschutz besteht.
B. Belastungskumulationen im Gesundheitsrecht
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Abs. 1 S. 1 SGB V) und deren Abgabepreis bis zum 31. 12. 2017 auf den Preisstand des 01. 08. 2010 einfror (§ 130a Abs. 3a S. 1 SGB V).11 Ob mit diesen ergriffenen Kompensationsmaßnahmen tatsächlich eine übermäßige Gesamtbelastung der Unternehmen der pharmazeutischen Industrie verbunden ist, kann aber erst beurteilt werden, wenn ihre Verfassungsmäßigkeit feststeht. Sinn und Zweck dieser Figur ist es ja gerade, die aus der Summe von isoliert betrachtet gerechtfertigten Grundrechtseingriffen, resultierenden Belastungswirkungen zu erfassen. Abgesehen davon ist das, vom Gesetzgeber im 14. SGB V Änderungsgesetz vollzogene Manöver, schon für sich allein genommen, mit einer Vielzahl an verfassungsrechtlich interessanten Fragestellungen verbunden. Beispielsweise muss im Rahmen der naheliegenden Überprüfung am Maßstab der wirtschaftlichen Freiheiten der pharmazeutischen Unternehmen eruiert werden, welche Anhaltspunkte für angemessene Arzneimittelpreise der Verfassung überhaupt entnommen werden können. Ferner ob, wie gemein hin angenommen, der regelmäßig im Verbund mit der Einschätzungsprärogative herangezogenen finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung tatsächlich eine derart starke Rechtfertigungskraft für Kostendämpfungsmaßnahmen beigemessen werden muss. Nicht zuletzt deswegen werden in einem vor die Klammer gezogenen Kapitel, die Ursachen für die Finanzierungsproblematik in der gesetzlichen Krankenversicherung näher erläutert. In gleichheitsrechtlicher Hinsicht ist die unterschiedliche Behandlung der Hersteller der sogenannten Gliptine im Verhältnis zu den anderen Herstellern von Pharmazeutika diskussionswürdig. Während Letztere nun keine Nutzenbewertung ihrer Bestandsmarktpräparate mehr fürchten müssen, sind Erstere die Einzigen gewesen, die sich einem solchen Verfahren stellen mussten. Umgekehrt kann sich das ersatzlose Entfallen der Nutzenbewertung von patentgeschützten Bestandsmarktpräparaten aber auch als Pyrrhussieg für die vom Bestandsmarktaufruf vermeintlich Befreiten erweisen. Sie laufen nämlich Gefahr, wirtschaftliche Nachteile im Wettbewerb mit einem neu zugelassenen Arzneimittel zu erleiden. Diesem könnte im Rahmen, der nach wie vor obligatorisch durchzuführenden, frühen Nutzenbewertung (§ 35a Abs. 1 S. 1 SGB V), ein seine Marktchancen verbessernder Zusatznutzen attestiert werden, während das vergleichbare Bestandsmarktpräparat keine Möglichkeit hat12, seine Qualität in dem selben Verfahren zu beweisen. Besondere Brisanz und einen derzeit hohen Praxisbezug13 erhalten die ergriffenen Kompensationsmaßnahmen auch durch 11 Durch das AM-VSG wurde das Preismoratorium über den 31. 12. 2017 hinaus bis zum 31. 12. 2022 verlängert. 12 Ob bzw. inwieweit der gegen Ende der 18. Legislaturperiode verabschiedete § 35a Abs. 6 SGB V effektiv Abhilfe zu schaffen vermag, hängt nicht zuletzt von der konkreten Ausgestaltung in der Verfahrensordnung des GBA ab, näher dazu: § 5 E. 13 Die Verfassungsmäßigkeit des AMRabG im Ergebnis bejahend: BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris; LG Saarbrücken, Urteil vom 12. Mai 2014 – 9 O
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§ 1 Einleitung
ihr Zusammenspiel mit dem Arzneimittelrabattgesetz (AMRabG). Sie erhöhen nämlich die Eingriffsintensität der durch das AMRabG erfolgenden Grundrechtseingriffe. Denn dieses überträgt die Erstattungsbetrags- und Zwangsrabattierungssystematik der gesetzlichen Krankenversicherung, also insbesondere die §§ 130a Abs. 1 S. 1, 130a Abs. 3a S. 1, 130b Abs. 1 S. 1 SGB V auf die private Krankenversicherung. Die regelmäßig unterschiedlich hohe Vergütung ein und derselben Leistung, in Abhängigkeit vom Krankenversicherungsstatus des Leistungsempfängers, wurde damit in einem nicht unbedeutenden Teilbereich des deutschen Gesundheitswesens beendet. Abweichend von der bei Kostendämpfungsmaßnahmen bislang vorherrschenden Argumentation, kann der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung dabei aber von vorneherein keine rechtfertigende Kraft zukommen. Es gilt also zunächst einmal, die mit diesem Gesetz verfolgten, im Einzelnen und in der Gewichtung aber stark umstrittenen14, legitimen Ziele herauszuarbeiten. Das Ergebnis zeichnet die Antwort auf den mitunter vorgebrachten Einwand15 vor, dass es einem Privatrechtssubjekt, wie dem Hersteller von Pharmazeutika, schlicht unzumutbar sei, ein anderes gewinnorientiertes Privatrechtssubjekt, wie ein Unternehmen der privaten Krankenversicherung, zu subventionieren. Als nicht ganz unproblematisch stellt sich auch der unbestreitbare Umstand dar, dass die pharmazeutischen Unternehmer durch das AMRabG im Vergleich zu den meisten anderen Leistungserbringern in der gesetzlichen Krankenversicherung schlechter behandelt werden. Im Gegensatz zu Vertragsärzten können sie mit privat Versicherten nämlich keine höheren Umsätze mehr erzielen. Ähnliche Fragen stellen sich auch bezüglich der Gleichbehandlung von gesetzlich Krankenversicherten und Selbstzahlern sowie der Gleichbehandlung von privater und gesetzlicher Krankenversicherung als solcher. 221/12 –, unveröffentlicht; OLG München, PharmR 2014, S. 301 – 309; OLG Nürnberg, Urteil vom 15. Juli 2014 – 4 U 286/14 –, unveröffentlicht; gegen die Entscheidung des BGH wurde Verfassungsbeschwerde (1 BvR 2895/15) erhoben, die mit unbegründetem Kammerbeschluss nicht zur Entscheidung angenommen wurde. Die Entscheidung des OLG Nürnberg wurde vom BGH mit Urteil vom 12. November 2015 – I ZR 167/14 –, juris kassiert und zurückverwiesen. Eine Entscheidung steht noch aus. 14 Butzer/Soffner, NZS 2011 S. 842 – 843, Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 5 – 9; Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 198 – 201; Paal/Rehmann, A&R 2011 S. 53 – 54. 15 Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 8; Paal/Rehmann, A&R 2011 S. 54.
B. Belastungskumulationen im Gesundheitsrecht
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Steht damit fest, welche durch das 14. SGB V Änderungsgesetz erfolgten Einzeleingriffe verfassungsgemäß sind, ist gleichzeitig auch die erste grundlegende Voraussetzung eines sogenannten additiven Grundrechtseingriffes erfüllt. Denn wenn überhaupt, dann können allenfalls verfassungsgemäße Grundrechtseingriffe – und seien es auch die in Rede stehenden, dauerhaft angelegten dirigistischen Eingriffe in die Preisbildung16 – in einer verfassungswidrigen Gesamtbelastung kulminieren. Zuvor müssen aber die eingangs17 aufgeworfenen Fragen zum Phänomen der Belastungskumulationen beantwortet werden. Zu diesem Zwecke werden zunächst einmal die verwendeten Begrifflichkeiten und Formen der möglichen Belastungskumulationen im Rahmen einer Bestandsaufnahme nebst Analyse der dazu ergangenen Rechtsprechung herausgearbeitet. Anschließend werden die für die Bildung eines solchen „mehrteiligen Gesamteingriff[es]“18 in Frage kommenden dogmatischen Anker gesucht, bevor die bereits existierenden Lösungsansätze vorgestellt werden. Es stellt sich heraus, dass sich bisher noch kein vollumfänglich überzeugender Ansatz für seine zutreffende Behandlung herausgebildet hat. Auf Grundlage der bis dahin gewonnenen Erkenntnisse versucht dieses Werk, einen eigenständigen, die Schwächen der bisherigen Lösungsansätze vermeidenden Vorschlag zum Umgang mit Belastungskumulationen zu unterbreiten. Abschließend wird auf Basis der somit gewonnenen theoretischen Grundlagen die Ausgangsfrage nach einer übermäßigen Gesamtbelastung der Unternehmen der pharmazeutischen Industrie beantwortet. Weil eine übermäßige Gesamtbelastung im Gesundheitswesen regelmäßig im Zusammenhang mit Kostendämpfungsmaßnahmen gerügt wird, werden in zwei kürzeren, vor die Klammer gezogenen Kapiteln, die Ursachen für die Finanzierungsproblematik in der gesetzlichen Krankenversicherung näher erläutert sowie denkbare Lösungsansätze dieses Kardinalproblems kurz skizziert.
16 Ausschussdrucksache, 18(14)0009 (5), S. 31; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 19 – 20. 17 § 1 B. I. 18 Lücke, DVBl 2001 S. 1478.
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik A. Ressourcenmangel Ausgangspunkt der Überlegungen ist dabei die auf den ersten Blick trivial erscheinende Feststellung, dass die in einer Gesellschaft verfügbaren Ressourcen endlich sind.
I. Knappheit An diesem Grundproblem wirtschaftlicher Betätigung ändern auch die wiederholten Beteuerungen der politischen Entscheidungsträger1, dass sich jeder darauf verlassen könne, alle notwendigen Behandlungen zu erhalten und eine Rationierung von Gesundheitsleistungen nicht in Frage käme, nichts. Tatsächlich erhalten nämlich bei weitem nicht alle Bedürftigen jede Behandlung sofort oder wenigstens zu einem späteren Zeitpunkt. Besonders dramatische Züge nimmt dies in der Transplantationsmedizin an. So standen am 01. 01. 2017 deutschlandweit 10.1292 Patienten auf der Warteliste für ein Spenderorgan, während im gesamten Kalenderjahr 2016 lediglich 8343 Organe von verstorbenen Spendern transplantiert werden konnten. Nicht minder knapp sind aber beispielsweise auch 1 So zum Beispiel Gesundheitsminister Daniel Bahr (FDP) am 03. 05. 2012 als Reaktion auf eine Pressemeldung, dass Versicherten ab einem bestimmten Alter keine Hüft- oder Kniegelenksoperationen mehr bezahlt werden sollen, FDP Freie Demokratische Partei, Jede OP wird bezahlt, Pressemitteilung vom 03. 05. 2012, S. 1. Ähnlich äußerte sich auch Gesundheitsminister Philipp Rösler (FDP) auf die vom Präsidenten des Krebskongresses 2010 in Berlin geäußerten Befürchtungen, dass die Krebsmedizin schon bald das System sprengen könne. Darauf entgegnete Rösler, dass er eine solche Debatte in Richtung Rationierung oder Priorisierung aus ethischen Gründen niemals führen würde, FAZ vom 26. 02. 2010, Der Gesundheitsminister pfeift auf die Zukunft, abgerufen am 29. 04. 2017 unter: http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/vom-krebs-kongress-der-gesundheitsminister-pfeift-auf-die-zukunft -1942587.html; ähnlich verläuft auch die Diskussion um die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen, das Grundrecht auf Asyl, so die Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), kenne keine Obergrenze, FAZ vom 11. 09. 2015, Zahl der Migranten Merkel: Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze, abgerufen am 29. 04. 2017 unter: http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/merkel-grundrecht-auf-asyl-kenntkeine-obergrenze-13797029.html. 2 Eurotransplant Active waiting list (at year-end) in All ET, by year, by country, by organ, abgerufen am 29. 04. 2017 unter: http://statistics.eurotransplant.org/index.php?search_ type=waiting+list&search_organ=&search_region=All+ET&search_period=by+year&search_characteristic=&search_text=.
A. Ressourcenmangel
23
Betten auf der Intensivstation4 oder Not-5 und Hausärzte6. Selbst wenn aber eine unbegrenzte Menge an Personal und Sachausstattung vorhanden wäre, könnten nicht unendlich viele Gesundheitsleistungen erbracht werden, da die Leistungserbringer nicht genügend Zeit hätten. Auch Zeit und das zu einer optimalen Behandlung erforderliche Wissen sind knapp und vor allem nicht beliebig durch Ressourceneinsatz vermehrbar.7 Versucht man die auftretenden Formen von Knappheit zu systematisieren, lassen sich drei Grundformen unterscheiden. Knappheit kann zunächst einmal in dem einleitend genannten, abstrakten Sinne der Knappheit aller materiellen Ressourcen verstanden werden. Wie exemplarisch dargelegt, kann aber auch ein Mangel an einer bestimmten Ressource zur Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses bestehen. In Abhängigkeit von der Vermehrbarkeit der Ressourcen zur Bedarfsdeckung kann dabei weiter nach konkret-relativer (Ressourcen vermehrbar) und konkret-absoluter (Ressourcen nicht vermehrbar) Knappheit unterschieden werden.8 Man spricht auch von geborener, also natürlicher sowie gekorener, also gewillkürter Knappheit, wobei eine trennscharfe Grenzziehung im Einzelfall schwierig sein kann.9 In jedem Falle hängt konkrete Knappheit stets vom Bedarf ab. 3
II. Gesundheit als Sicherheitsbedürfnis Gemessen an den Bedürfnissen der Patienten sind die im Gesundheitswesen vorhandenen Ressourcen und produzierten Güter knapp. Ein Bedürfnis ist definiert als ein Gefühl des Mangels, begleitet von dem Wunsch, diesen Mangel zu beseitigen.10 Auf Basis des von Abraham Maslow, einem der Gründerväter der 3 Deceased donors used in Germany, by year, by characteristic, abgerufen am 29. 04. 2017 unter: http://statistics.eurotransplant.org/index.php?search_type=donors&search_region= Germany&search_period=2016. 4 FAZ vom 17. 10. 2009, Intensivstation? Nicht aufnahmebereit, abgerufen am 29. 04. 2017 unter: http://www.faz.net/aktuell/wissen/mensch-gene/serie-zustand-kritisch-1-intensivsta tion-nicht-aufnahmebereit-1620094.html. 5 Die Zeit Online vom 04. 03. 2011, Hubschrauber ans Bett, abgerufen am 29. 04. 2017 unter: http://www.zeit.de/2011/10/WOS-Luftrettung. 6 KBV Kassenärztliche Bundesvereinigung, Arztzahlstudie – KBV und BÄK haben die aktualisierte Erhebung vorgestellt. Der Ärztemangel in Deutschland schreitet voran., Pressemitteilung vom 03. 09. 2010, S. 1; Martini/Ziekow, Die Landarztquote, 2017, S. 15 – 19. 7 Beek/Beek, Einführung in die Gesundheitsökonomik, 2011, S. 4; Fuchs, MedR 1993 S. 323; Janda, NZS 2013, S. 541; Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 2 – 3. 8 Dietz, Rationierung und Gerechtigkeit, in: Brudermüller (Hrsg.), Zweiklassenmedizin?, 2012, S. 62. 9 Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 18. 10 Beek/Beek, Einführung in die Gesundheitsökonomik, 2011, S. 4.
24
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
humanistischen Psychologie, erstmals entwickelten Modells der Bedürfnishierarchie lassen sich Bedürfnisse kategorisieren und hierarchisch ordnen. Der Mensch strebt demnach zunächst nach der Erfüllung seiner unverzichtbaren physiologischen Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken oder Schlaf. Erst dann, wenn diese Grundbedürfnisse zu einem gewissen Teil, aber nicht zwingend vollumfänglich, erfüllt sind, wendet er sich der nächsten Kategorie, den sogenannten Sicherheitsbedürfnissen zu. Anschließend versucht er, seine Bedürfnisse nach sozialen Beziehungen, sozialer Anerkennung und zuletzt nach Selbstverwirklichung zu befriedigen.11 Das Bedürfnis nach Gesundheit ist mindestens auf der zweiten12, wenn nicht sogar auf der ersten Stufe als Sicherheits- bzw. Grundbedürfnis anzusiedeln. In der Folge versuchen nahezu alle Menschen, dieses Bedürfnis durch die Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu befriedigen.
III. Gesundheit als transzendentes Gut Ähnlich äußerte sich bereits René Descartes, der konstatierte, dass die „Erhaltung der Gesundheit […] ohne Zweifel das erste Gut ist“ 13. Arthur Schopenhauer soll es gut 150 Jahre später wie folgt auf den Punkt gebracht haben: „Gesundheit ist nicht alles, aber alles ist nichts ohne Gesundheit“14. Für den Kranken ist die Wiederherstellung seiner Gesundheit vorrangiges, oftmals sogar einziges Ziel. Wie Frieden oder Freiheit ist sie Voraussetzung dafür, andere Ziele im Leben zu erreichen bzw. das Erreichen dieser Ziele überhaupt als nutzenspendend zu erfahren. Ihr kommt Ermöglichungscharakter zu. Man ordnet sie deshalb den konditionalen oder transzendenten Gütern zu.15 Gerade diese Ermöglichungsfunktion macht sie zur condicio sine qua non für die Verwirklichung der meisten Grundrechte.16 Andererseits strebt derjenige, der gesund bzw. wieder gesund geworden ist, sofort nach anderen Gütern, da ihm seine Gesundheit als selbstverständlich
11 Maslow, Psychological Review 1943, S. 370 – 396; Maslow, Motivation und Persönlichkeit, 1977, S. 78. 12 Maslow, Motivation und Persönlichkeit, 1977, S. 80. 13 Descartes, Abhandlung über die Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Wahrheitsforschung, 1982, S. 58. 14 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 121 m. w. N. Tatsächlich findet sich in seinem Lebenswerk kein Beleg für diesen Aphorismus (Hartmann, Ethik in der Medizin als Diskurs über nicht restlos lösbare sittliche Spannungslagen, in: Hammacher (Hrsg.), Zur Aktualität der Ethik Spinozas, 2000, S. 125), für die in ihm zum Ausdruck kommenden Gedanken hingegen manigfaltige (dazu etwa: Wagner, Schopenhauer-Register, 1960, S. 142). 15 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 121 – 122 m. w. N. 16 Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2015, S. 225.
A. Ressourcenmangel
25
und natürlich erscheint.17 Wie vieles anderes auch lernt man sie erst zu schätzen, wenn man sich ihrer nicht mehr erfreut.
IV. Nachfrage nach Gesundheitsleistungen Die konkret nachgefragte Gesamtmenge an Gesundheitsleistungen hängt vor allem vom individuellen Gesundheitszustand des Patienten, dem Preis der Gesundheitsleistung, der Risikobereitschaft, dem Bildungsniveau des einzelnen Patienten sowie dem Umfang der Nachfragebeeinflussung durch die Leistungsanbieter ab.18 Der einzelne Patient wird Gesundheitsleistungen nachfragen, solange ihm die Leistung einen zusätzlichen Nutzen spendet, der die für diese Leistung entstehenden Kosten übersteigt. Der sogenannte Grenznutzen muss also größer als die anfallenden Grenzkosten sein.19 Da der Patient aber jeden Monat einen gleichbleibenden Betrag an seine Krankenversicherung bezahlt und er im Gegenzug dafür die Erstattung sämtlicher Leistungen zugesichert bekommt, hat er keinerlei Anreiz, monetäre Kosten zu vermeiden, zumal ihm diese als gesetzlich Krankenversicherter in aller Regel auch gar nicht bekannt sind.20 Vielmehr wird er, allein schon um etwas für sein Geld zu erhalten,21 seinen Versicherungsschutz exzessiv in Anspruch nehmen und sich bedenkenlos mit der vom Leistungserbringer vorgeschlagenen teureren und vom Patienten deshalb als besser bewerteten Behandlungsmethode einverstanden erklären.22 Wegen der für den Patienten bestehenden monetären Kostenneutralität hat auch der erstmals vom deutschen Volkswirt Herrmann Heinrich Gossen beschriebene Umstand, dass der Konsum eines Gutes mit zunehmender Konsummenge einen immer geringeren Zusatznutzen stiftet23, auch wenig Auswirkung auf das individuelle Nachfrageverhalten. Es erscheint deshalb tatsächlich möglich, das gesamte Bruttosozialprodukt der Bundesrepublik Deutschland sinnvoll, also grenznutzenstiftend, für Gesund-
17
Brech, Triage und Recht, 2008, S. 121 – 122 m. w. N. Beek/Beek, Einführung in die Gesundheitsökonomik, 2011, S. 48; Breyer/Zweifel/ Kifmann, Gesundheitsökonomik, 2012, S. 98 – 99; Schulenburg/Greiner, Gesundheitsökonomik, 2013, S. 126; a. a. O. S. 157. 19 Breyer/Zweifel/Kifmann, Gesundheitsökonomik, 2012, S. 96. 20 Beek/Beek, Einführung in die Gesundheitsökonomik, 2011, S. 55 S. 29; Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 29. 21 Schürch, Rationierung in der Medizin als Straftat, 2000, S. 22. 22 Schulenburg/Greiner, Gesundheitsökonomik, 2013, S. 130; a. a. O. S. 157. 23 Gossen, Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln, 1889, S. 4 – 5. 18
26
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
heitsleistungen auszugeben.24 Zu Recht wird deswegen gefordert25, dass die individuellen Präferenzen des Patienten für bestimmte Behandlungsmethoden aus Gerechtigkeitsgründen zurückzustehen haben. Denn jeder Euro, der für Gesundheit ausgegeben wird, steht nicht mehr für andere Zwecke wie beispielsweise Landesverteidigung, Bildung oder Ganztagesbetreuungsangebote für Kinder zur Verfügung. Neben den monetären Kosten für die jeweilige Gesundheitsleistung entstehen deshalb auch Opportunitätskosten, weil auf den Erwerb anderer Güter verzichtet werden muss.26 Diese Konkurrenz der Güter verhindert eine unbegrenzte Subvention des Gesundheitssektors und stellt eine ganz wesentliche, wenn nicht sogar die Hauptursache für die Finanzierungsproblematik der gesetzlichen Krankenversicherung dar.
B. Demografischer Wandel I. Bevölkerungsentwicklung Deutschlands bis 2060 Daneben ist die demografische Bevölkerungsentwicklung eine große, in ihrer Bedeutung aber vielleicht dennoch überschätzte Herausforderung für sämtliche sozialen Sicherungssysteme. So wird die bereits seit 2003 rückläufige Bevölkerungszahl in Deutschland weiter sinken. In Abhängigkeit von den jeweiligen Prämissen der Vorausberechnungen zur Geburtenhäufigkeit, zur Lebenserwartung sowie der Zu- und Fortzüge, wird die derzeitige Einwohnerzahl von etwa 82 Millionen im Jahre 2060 auf etwa 65 bis 70 Millionen abnehmen.27 Dabei gibt insbesondere die erwartete Altersverteilung Anlass zur Sorge. Während sich die Bevölkerung im Jahr 2008 zu 19% aus Kindern und jungen Menschen unter 20 Jahren, zu 61% aus 20- bis unter 65-Jährigen und zu 20% aus 65-Jährigen und Älteren zusammensetzte, wird im Jahr 2060 in etwa jeder Dritte älter als 67 sein. Es werden doppelt so viele 70-Jährige leben, wie Kinder geboren werden. Auch die Zahl der über 80-Jährigen wird sich verdoppeln. Im Ergebnis wird somit im Jahr 2060 etwa 14% der Bevölkerung – das ist jeder siebte – 80 Jahre oder älter sein.28 Entsprechend entwickelt sich die für die Einnahmebasis der GKV wichtige Bevölkerung im Erwerbsalter zwischen 20 bis 67 Jahren. Dieser Be24 Kliemt, Budgetierung, Standardisierung, Priorisierung, in: Schöne-Seifert/Buyx/ Ach (Hrsg.), Gerecht behandelt?, 2006, S. 95. 25 Janda, NZS 2013, S. 542. 26 Engelhardt, The Foundations of Bioethics, 1996, S. 388; Mankiw/Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 2016, S. 5. 27 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Pressemitteilung vom 18. 11. 2009, S. 5. 28 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Pressemitteilung vom 18. 11. 2009, S. 5.
B. Demografischer Wandel
27
völkerungsgruppe gehörten 2008 – damals lag das generelle Renteneintrittsalter noch bei 65 Jahren (§ 235 SGB VI) – etwa 50 Millionen Menschen an. Nach 2020 wird ihre Zahl deutlich zurückgehen und im Jahre 2035 bei etwa 39 bis 41 Millionen liegen.29 2060 wird dann, mit ca. 3830 Millionen Menschen, knapp ein Viertel31 weniger als im Referenzjahr 2008 im Erwerbsalter sein. Dieser stark geschrumpften Bevölkerungsgruppe im Erwerbsalter stehen jedoch deutlich mehr Senioren gegenüber. Während im Jahr 2008 auf 100 Personen im Erwerbsalter 34 Ältere mit 65 oder mehr Lebensjahren kamen, wird dieser sogenannte Altenquotient im Jahre 2060 zwischen 56 und über 60 liegen.32 Ohne die beschlossene Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 Jahre, stünden sogar 100 Personen im Erwerbsalter 63 bis 67 potenziellen Rentenbeziehern gegenüber.33 Aber selbst wenn sich die günstigeren Werte realisieren sollten, steht ein enormer Anstieg des Altenquotienten bevor. Dies gilt umso mehr im Hinblick auf die bereits jetzt erkennbaren gerontokratischen34 Tendenzen, mit denen die Politik den Belangen der älteren Bevölkerung Rechnung zu tragen sucht. Verwiesen sei hier nur auf die Altersrente für besonders langjährig Versicherte gemäß § 236b SGB VI, die ab 01. 07. 2014 den Bezug einer abschlagsfreien Altersrente ab 63 Lebens- und 45 Beitragsjahren ermöglicht.
II. Konsequenzen für die GKV Dieser aus der zunehmenden Lebenserwartung bei gleichzeitigem Rückgang der Geburtenrate resultierende doppelte Alterungseffekt der Gesellschaft betrifft die gesetzliche Krankenversicherung in zweierlei Hinsicht. 29 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Pressemitteilung vom 18. 11. 2009, S. 6, wobei die Vorausberechnung noch von einem Renteneintrittsalter von 65 Jahren ausgeht. 30 Eigene Berechnung auf Basis der Vorausberechnung, dass bei einem Renteneintrittsalter von 67 Jahren im Jahr 2060 eine um ca. 1 bis 2 Millionen größere Bevölkerung im Erwerbsalter besteht, dazu: Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Pressemitteilung vom 18. 11. 2009, S. 18. 31 Eigene Berechnung auf Basis eines Renteneintrittsalters von 67 Jahren im Jahr 2060 bezogen auf das Referenzjahr 2008 mit 50 Millionen Menschen im Erwerbsalter. 32 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Demographischer Wandel und öffentliche Finanzen, Langfrist-Projektionen 2014 – 2060 unter besonderer Berücksichtigung des Rentenpakets der Bundesregierung, S. 33; Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Pressemitteilung vom 18. 11. 2009, S. 21. 33 Statistisches Bundesamt, Bevölkerung Deutschlands bis 2060, 12. koordinierte Bevölkerungsvorausberechnung, Pressemitteilung vom 18. 11. 2009, S. 6. 34 Näher dazu: § 2 C. II. 3.
28
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
1. Demografischer Finanzierungseffekt Zum einen erodiert ihre Einnahmebasis, da die Beiträge in Abhängigkeit vom Arbeits- bzw. Renteneinkommen erhoben werden (§§ 226, 241 SGB V) und die beitragspflichtige Altersrente im Schnitt lediglich 58,4%35 des Einkommens in der Erwerbsphase erreicht. In der Folge sind die Krankenkassen dazu gezwungen, ihren über die Zuweisungen aus dem Gesundheitsfonds hinausgehenden Finanzbedarf durch einkommensunabhängige Zusatzbeiträge zu decken (§ 242 SGB V). Einer Hochrechnung36 des Stabes des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nach, könnten diese monatlich zu entrichtenden Zusatzbeiträge bis zum Jahr 2060 im Extremfall – das heißt, bei einer starken Kostensteigerung aufgrund des medizinischen Fortschritts37 – auf über 508,00 Euro ansteigen. Zwar findet de lege lata ein Sozialausgleich aus Steuermitteln statt, wenn der durchschnittliche Zusatzbeitrag 2% des sozialversicherungspflichtigen Einkommens übersteigt (§ 242b SGB V). Allerdings sind auch Steuermittel knapp, sodass ein entsprechender Ausgleich de lege ferenda mit Sicherheit nicht für die Gesamtheit der Versicherten geleistet werden kann. Ceteris paribus scheint der Systemkollaps, allen prognostischen Unwägbarkeiten zum Trotz, schon alleine deshalb vorprogrammiert zu sein. 2. Demografischer Ausgabeneffekt Reziprok hierzu verhalten sich die, im Vergleich zu denen der Erwerbstätigen, deutlich höheren Pro-Kopf-Ausgaben für Rentner. Denn diese steigen bei einem Hinüberwechseln von der Erwerbs- in die Rentenphase an und schlagen sich in deutlich erhöhten Gesamtausgaben nieder. So lagen die Pro-Kopf-Krankheitskosten der 45- bis 64-Jährigen im Jahr 2008 mit 3.010 Euro knapp unter dem allgemeinen Durchschnitt von 3.100 Euro, während sie in der Altersgruppe von 65 bis 84 Jahren mit 6.520 Euro mehr als doppelt so hoch waren, bevor sie bei den über 85-Jährigen mit 14.840 Euro, also nahezu dem Fünffachen des Durchschnittes, ihren Gipfel erreichten.38 Insgesamt entstand im Jahr 2008 somit fast die Hälfte der gesamten Krankheitskosten (48,41Prozent) bei rund einem Fünftel der Bevölkerung – nämlich der damaligen Renteneintrittsaltergruppe ab 65 Jahren.39 35 OECD Organisation for Economic Co-operation and Development, Retirement-income systems in OECD and G20 countries, 2011, S. 125. 36 Kallweit/Kohlmeier, Zusatzbeiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung, Weiterentwicklungsoptionen und ihre finanziellen sowie allokativen Effekte, 2013, S. 14. 37 Ausführlich dazu: § 2 C. 38 Statistisches Bundesamt, Gesundheit im Alter, 2012, S. 4. 39 Eigene Berechnungen auf Basis der in Statistisches Bundesamt, Gesundheit im Alter, 2012, S.4 genannten Daten und Rahmenbedingungen.
B. Demografischer Wandel
29
a) Medikalisierungs- versus Kompressionsthese Uneinigkeit besteht jedoch hinsichtlich der aus diesen Zahlen zu ziehenden Schlüssen. Nach der von Gruenberg40 zuerst vertretenen, auf den ersten Blick sehr eingängigen Medikalisierungsthese, steigt mit zunehmendem Lebensalter auch die Häufigkeit von Erkrankungen. Deshalb führe eine steigende Lebenserwartung zu einer längeren und häufigeren Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen und somit zu höheren Kosten. Dem wiederum setzte Fries41 die Beobachtung entgegen, dass es durchaus eine Vielzahl von gesunden Alten gibt. Folglich könne die Morbidität bei zunehmendem Lebensalter nur geringfügig steigen. Die unbestrittene Ausgabensteigerung resultiere vielmehr aus der zeitlichen Entfernung zum Tod. Deshalb komprimiere sich die Morbidität auf die letzten Lebensjahre. Im Ergebnis steigen die durchschnittlichen Gesundheitsausgaben pro Versichertem mit dem Alter freilich trotzdem an, da sich wegen der höheren Sterbewahrscheinlichkeit ein immer größerer Anteil in der letzten Lebensphase befindet. Nur dann wäre der demografische Ausgabeneffekt aber keine Ursache der Finanzierungsproblematik, da die Kosten ohnehin anfielen. Die Alterung der Gesellschaft wäre eine reine Koinzidenz. Der von der Medikalisierungsthese vorgenommene Schluss auf einen Kausalzusammenhang zwischen Alter und erhöhten Gesundheitsausgaben verböte sich. Die hierzu durchgeführten empirischen Studien sind zwar nicht eindeutig, allerdings scheinen die gefundenen Ergebnisse eher die Kompressions- als die Medikalisierungsthese zu bestätigen.42 Dabei darf jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass es letztlich von der Definition des Krankheitsbegriffes abhängt, ob ein Zustand als Krankheit oder als Ergebnis des natürlichen Alterungsprozesses wahrgenommen wird.43 b) Demografisch induzierter Ausgabenanstieg Je nach dem welcher These man den Vorzug geben möchte, führt der demografische Wandel zu unterschiedlich hohen Gesundheitsausgaben. Auf Basis der Kompressionsthese müsste zur Vermeidung von Zusatzbeiträgen der allgemeine
40 Buchner/Wasem, „Steeping“ Of Health Expenditure Profiles, 2004, S. 28 – 29; Gruenberg, The Milbank Memorial Fund Quarterly Health and Society 1977 S. 3 – 24; Verbrugge, The Milbank Memorial Fund Quarterly Health and Society 1984 S. 475 – 519. 41 Fries, The new England Journal of Medicine 1980 S. 130 – 135; Zweifel/Felder/Werblow, The Geneva Papers on Risk and Insurance 2004 S. 652 – 666. 42 Lubitz/Riley, The new England Journal of Medicine 1993 S. 1092 – 1096; Seshamani/Gray, Health Economics 2004 S. 303 – 314; Stearns/Norton, Health Economics 2004 S. 315 – 327; Zweifel/Felder/Meier, Demographische Alterung und Gesundheitskosten: Eine Fehlinterpretation, in: Oberender (Hrsg.), Alter und Gesundheit, 1996, S. 29 – 46. 43 Kane, Journal of American Geriatrics Society 1988 S. 470.
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
30
Beitragssatz der GKV im Jahr 2050 lediglich um 3,5 Prozentpunkte auf ca. 19%44 erhöht werden. Präferiert man hingegen die Medikalisierungsthese, müsste man mit einem Beitragssatz von ca. 21,3%45 rechnen. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt ein im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie erstelltes Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). Ohne zwischen den beiden Thesen explizit zu differenzieren, erwartet dieses im Jahr 2050 einen Beitragssatz von 18,95%.46 Daneben wurden noch einige andere Beitragsprognosen erstellt, die zu folgenden Ergebnissen kamen: 474849505152
Autor
Jahr
Beitragssatz
Dudey47
2030
15,5% – 16%
2030
17,44%
49
2040
15,33% – 15,78%
Buttler/Fickel/Lautenschlager50
2040
18% – 19,1%
2050
17%
Knappe48 Erbsland/Wille
Fetzer/Moog/Raffelhüschen 52
DIW
Fetzer
53
Sachverständigenrat54 44
51
2050
18,95%
2050
19% – 21,3%
2060
ca. 22%
Fetzer, Determinanten der zukünftigen Finanzierbarkeit der GKV: Doppelter Alterungsprozess, Medikalisierungs- vs. Kompressionsthese und medizinisch-technischer Fortschritt, 130/05, 2005, S. 14. 45 Fetzer, Determinanten der zukünftigen Finanzierbarkeit der GKV: Doppelter Alterungsprozess, Medikalisierungs- vs. Kompressionsthese und medizinisch-technischer Fortschritt, 130/05, 2005, S. 14. 46 DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Gutachten Wirtschaftliche Aspekte der Märkte für Gesundheitsleistungen, Ökonomische Chancen unter sich verändernden demographischen und wettbewerblichen Bedingungen in der Europäischen Union, 2001, S. 105. 47 Dudey, Verteilungswirkungen des Sozialversicherungssystems der Bundesrepublik Deutschland und Modellierung seiner zukünftigen Entwicklung, 1996, S. 48. 48 Knappe, Eckhard, Auswirkungen des demographischen Wandels auf den Gesundheitssektor, in: Oberender (Hrsg.), Transplantationsmedizin, 1995, S. 35. 49 Erbsland/Wille, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 1995 S. 676. 50 Buttler/Fickel/Lautenschlager, Allgemeines Statistisches Archiv 1999, S. 130 – 131. 51 Fetzer/Moog/Raffelhüschen, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 2002, S. 293. 52 DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Gutachten Wirtschaftliche Aspekte der Märkte für Gesundheitsleistungen, Ökonomische Chancen unter sich verändernden demographischen und wettbewerblichen Bedingungen in der Europäischen Union, 2001, S. 105.
C. Medizinischer Fortschritt
31
Unberücksichtigt blieb dabei jedoch, dass der Anteil von Ein-Personen-Haushalten bei steigender Tendenz bereits jetzt bei etwa 40% liegt.55 Da allein lebende Personen im Krankheitsfall aber weniger auf Unterstützung und Pflege durch Angehörige zurückgreifen können, werden sie eher Leistungen des Gesundheitswesens in Anspruch nehmen,56 was sich wiederum auf den Beitragssatz auswirken könnte. Nur, selbst wenn dies zu einer Steigerung um einen ganzen Prozentpunkt führen würde, müsste man immer noch konstatieren, dass der allein demografisch induzierte Anstieg der Gesundheitsausgaben verhältnismäßig moderat ausfällt. 5354
C. Medizinischer Fortschritt I. Beitragssatzprojektionen Ein deutlich besorgniserregenderes Bild ergibt sich jedoch, wenn man den medizinisch-technischen Fortschritt in die Beitragsprojektion mit einbezieht. Will man Zusatzbeiträge vermeiden, müsste der allgemeine Beitragssatz bei einer angenommenen Wachstumsrate von 1% und Geltung der Medikalisierungsthese im Jahr 2045 bei mehr als 30% und 2072 sogar bei mehr als 40% liegen. Etwas besser schneidet die Kompressionsthese ab, bei der die 30%-Grenze erst im Jahr 2054 und die 40%-Grenze erst nach dem Jahr 2080 überschritten wird.57 Abgesehen vom sogenannten Prognos-Gutachten58 des Verbandes der Deutschen Rentenversicherer, das 2040 einen im Vergleich zum Status quo minimal erhöhten Beitragssatz von um die 16% für ausreichend erachtet, weisen alle anderen Finanzbedarfsbedarfsprognosen unter Berücksichtigung des medizinisch-technischen Fortschritts in die gleiche Richtung – nämlich mehr oder weniger steil nach oben. So schätzt das DIW59 für das Jahr 2040 einen Beitragssatz von 34%. 53 Fetzer, Determinanten der zukünftigen Finanzierbarkeit der GKV: Doppelter Alterungsprozess, Medikalisierungs- vs. Kompressionsthese und medizinisch-technischer Fortschritt, 130/05, 2005, S. 14. 54 Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Demographischer Wandel und öffentliche Finanzen, Langfrist-Projektionen 2014 – 2060 unter besonderer Berücksichtigung des Rentenpakets der Bundesregierung, S. 26. 55 Statistisches Bundesamt, Statistisches Jahrbuch Deutschland 2013, 2013, S. 48. 56 Breyer/Zweifel/Kifmann, Gesundheitsökonomik, 2012, S. 555. 57 Fetzer, Determinanten der zukünftigen Finanzierbarkeit der GKV: Doppelter Alterungsprozess, Medikalisierungs- vs. Kompressionsthese und medizinisch-technischerFortschritt, 130/05, 2005, S. 25. 58 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Prognos-Gutachten 1998, 1998, S. 90. 59 DIW Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Gutachten Wirtschaftliche Aspekte der Märkte für Gesundheitsleistungen, Ökonomische Chancen unter sich verändernden demographischen und wettbewerblichen Bedingungen in der Europäischen Union, 2001, S. 117.
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
32
Oberdieck60 hingegen hält einen Beitragssatz von 31,2% für erforderlich, um das gegenwärtige System der weitgehenden Vollfinanzierung aller medizinischen Leistungen nach dem jeweils neuesten Stand der Medizin ohne Zusatzbeiträge aufrecht zu erhalten. Mit 23,1%61 wagen neben Breyer und Ulrich auch Hof62 mit bis zu 26,1% für das Jahr 2050 deutlich optimistischere Prognosen. Eine aktuelle Hochrechnung63 des Fritz-Beske-Instituts für Gesundheits-System-Forschung hingegen hält bei einer fortschrittsbedingten Steigerung der Ausgaben um einen Prozentpunkt im Jahr 2050 einen Beitragssatz von 28,4% für notwendig. Bei einer Kostensteigerung um 2% soll der Beitragssatz sogar auf 51,7% anwachsen. Im Einzelnen kommen die den medizinisch-technischen Fortschritt berücksichtigenden Beitragsprojektionen zu folgenden Ergebnissen: 6465
Autor
Jahr
Knappe
64
Prognos-Gutachten65 Breyer/Ulrich66 Fetzer/Moog/Raffelhüschen
67 68
Buttler/Fickel/Lautenschlager Oberdieck Sauerland
69
70
Hof/Schlömer
71
Niehaus72 Sauerland/Wübker Beske
73
74
Fetzer/Moog/Raffelhüschen75
Beitragssatz
2030
25%
2040
15,4% – 15,9%
2040
23,1%
2040
24,8%
2040
>30%
2040
31,2%
2040
33%
2050
< 23%
2050
24% – 25%
2050
23% – 30%
2050
28,4%
2055
25,4%
60 Oberdieck, Beitragssatzexplosion in der gesetzlichen Krankenversicherung?, 1998, S. 136. 61 Breyer/Ulrich, Gesundheitsausgaben, Alter und medizinischer Fortschritt: Eine ökonometrische Analyse, 1999, S. 20; siehe auch: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Demographischer Wandel und öffentliche Finanzen, Langfrist-Projektionen 2014 – 2060 unter besonderer Berücksichtigung des Rentenpakets der Bundesregierung, S. 42 – 44. 62 Hof, Auswirkungen und Konsequenzen der demographischen Entwicklung für die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung, Gutachten im Auftrag des Gesamtverbandes der Deutschen Versicherungswirtschaft e.V. und des Verbandes der privaten Krankenversicherung e.V, 2001, S. 151. 63 KV Blatt der Kassenärztlichen Vereinigung Berlins 10/2010, S. 28. 64 Knappe, Auswirkungen des demographischen Wandels auf den Gesundheitssektor, in: Oberender (Hrsg.), Transplantationsmedizin, 1995, S. 35. 65 Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Prognos-Gutachten 1998, 1998, S. 90.
C. Medizinischer Fortschritt
33
Im Hinblick auf alle vorgestellten Beitragssatzprojektionen ist allerdings die jeweils unterschiedliche Methodik und Datengrundlage zu berücksichtigen. So basieren sämtliche Schätzungen des Beitragssatzes auf Schätzungen der künftigen Gesundheitsausgaben, die wiederum in unterschiedlicher Weise ermittelt werden. Das Methodenspektrum erstreckt sich dabei von einer einfachen Trendfortführung der bisherigen Ausgabenentwicklung76, über die Ermittlung altersgruppenspezifischer Einnahme- und Ausgabeprofile77, bis hin zu komplizierteren ökonometrischen Modellen78. Daneben wird die Vergleichbarkeit auch durch die unterschiedliche Berücksichtigung der – je nach Schätzzeitpunkt – ebenfalls unterschiedlich hohen Steuerzuschüsse erschwert. Allein dieser Umstand führt schon zu Verzerrungen des prognostizierten Beitragssatzes von über 2 Prozentpunkten.79 Deshalb haben Beitragssatzprojektionen auch nicht den Anspruch, den künftigen Beitragssatz exakt vorherzusagen. Vielmehr dienen sie dazu, den Umfang der Handlungsnotwendigkeit besser abschätzen zu können. Dieser wird um so größer, wenn man sich vor Augen führt, dass ähnliche Zahlen sowohl für die 66676869707172737475
66 Breyer/Ulrich, Gesundheitsausgaben, Alter und medizinischer Fortschritt: Eine ökonometrische Analyse, 1999, S. 20; siehe auch: Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Demographischer Wandel und öffentliche Finanzen, Langfrist-Projektionen 2014 – 2060 unter besonderer Berücksichtigung des Rentenpakets der Bundesregierung, S. 42 – 44. 67 Fetzer/Moog/Raffelhüschen, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 2002, S. 293. 68 Buttler/Fickel/Lautenschlager, Allgemeines Statistisches Archiv 1999, S. 120. 69 Oberdieck, Beitragssatzexplosion in der gesetzlichen Krankenversicherung?, 1998, S. 136. 70 Sauerland, Wirtschaftsdienst: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 2005 S. 677. 71 Hof/Schlömer, Sozialer Fortschritt 2005 S. 195. 72 Niehaus, Prognose des Beitragssatzes in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2008, S. 78. 73 Sauerland/Wübker, Schmollers Jahrbuch 2012, S. 53. 74 KV Blatt der Kassenärztlichen Vereinigung Berlins 10/2010, S. 28. 75 Fetzer/Moog/Raffelhüschen, Zeitschrift für die gesamte Versicherungswissenschaft 2002, S. 293. 76 Dudey, Verteilungswirkungen des Sozialversicherungssystems der Bundesrepublik Deutschland und Modellierung seiner zukünftigen Entwicklung, 1996, S. 137. 77 Knappe Eckhard, Auswirkungen des demographischen Wandels auf den Gesundheitssektor, in: Oberender (Hrsg.), Transplantationsmedizin, 1995, S. 21; Niehaus, Prognose des Beitragssatzes in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2008, S. 29. 78 Breyer/Ulrich, Gesundheitsausgaben, Alter und medizinischer Fortschritt: Eine ökonometrische Analyse, 1999, S. 5 – 13; Sauerland, Wirtschaftsdienst: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik 2005 S. 674 – 679. 79 Sauerland/Wübker, Schmollers Jahrbuch 2012, S. 79 Fn. 34.
34
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
Renten-80 als auch für die Pflegeversicherung81 errechnet wurden. Hieran würde auch eine Umstellung auf Kopfpauschalen wenig ändern, die von 101 Euro im Jahr 2011 auf bis zu 733 Euro im Jahr 2050 anstiegen.82 Im Ergebnis lässt sich daher festhalten, dass der medizinisch-technische Fortschritt einen großen Anteil am erwarteten künftigen Anstieg der Gesundheitsausgaben hat.
II. Innovationen 1. Produkt- und Prozessinnovationen Zwar führt der medizinisch-technische Fortschritt regelmäßig auch dazu, dass bereits existierende Diagnose- und Behandlungsmöglichkeiten durch eine verbesserte oder neue Technologie ressourcenschonender und somit kostengünstiger vorgenommen werden können. Allerdings vermögen derartige Prozessinnovationen nicht die Kosten auszugleichen, die durch Produktinnovationen entstehen. Produktinnovationen sorgen dafür, dass Krankheiten, denen man bislang nichts oder nur wenig entgegenzusetzen hatte, besser bzw. überhaupt diagnostiziert, geheilt oder wenigstens gelindert werden können.83 Beispielsweise markierte die Markteinführung des ersten ACE Hemmers Captopril im Jahr 1981 den Beginn einer medizinischen und wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte. Aufgrund des völlig neuen Therapieprinzips – man spricht deshalb von Sprunginnovationen – war es auf einmal möglich, die stark lebensverkürzend wirkenden Volkskrankheiten Bluthochdruck sowie die chronische Herzinsuffizienz gut zu behandeln.84 Mit den therapeutischen Erfolgen stiegen dann aber auch die auf ACE-Hemmer unmittelbar oder mittelbar zurückzuführenden Gesundheitsausgaben an. Vor allen Dingen führt eine signifikante Steigerung der Überlebenswahrscheinlichkeit bezüglich eines Krankheitsbildes auch dazu, dass der Überlebende in späteren Lebensjahren an anderen Erkrankungen leiden kann. Starb ein Mittfünfziger bislang an einem Herzinfarkt, ist seine Überlebensprognose bei zeitnaher Maxi80 Dazu etwa: Ruland, SGb 2012 S. 243; RWI Rheinisch-Westfälisches Institut für Wirtschaftsforschung, Demografie und Rente: Die Effekte einer höheren Erwerbstätigkeit Älterer auf die Beitragssätze zur Rentenversicherung, Endbericht Projekt im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM), 2013, S. 17; Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Demographischer Wandel und öffentliche Finanzen, Langfrist-Projektionen 2014 – 2060 unter besonderer Berücksichtigung des Rentenpakets der Bundesregierung, S. 1 – 52. 81 Dazu etwa:. Raffelhüschen/Moog/Vatter, Fehlfinanzierung in der deutschen Sozialversicherung, Studie des Forschungszentrums Generationenverträge im Auftrag der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, 2011, S. 71 – 72. 82 Sauerland/Wübker, Schmollers Jahrbuch 2012, S. 53. 83 Breyer/Zweifel/Kifmann, Gesundheitsökonomik, 2012, S. 540. 84 Smith/Vane, The FASEB Journal 2003, S. 788.
C. Medizinischer Fortschritt
35
malversorgung mittlerweile recht gut geworden. Er kann dann aber auch mit 60 einen Schlaganfall erleiden und dank guter Therapie überleben, bevor er mit 70 eine Demenz entwickelt. Es kommt zum Fluch der guten Tat. 2. Schritt- und Scheininnovationen Den gleichen Ausgabeneffekt haben indes auch Scheininnovationen, also Neuerungen jedweder Art, die im Vergleich zum Status quo keinen, wie auch immer zu bestimmenden Zusatznutzen aufweisen. Als höchst problematisch stellt sich dabei die Abgrenzung zu Schrittinnovationen dar. Regelmäßig werden neue Diagnose- oder Behandlungsmethoden nach ihrer Markteinführung kontinuierlich weiterentwickelt, um sie zu optimieren. Beispielsweise stellen Sartane eine Weiterentwicklung der ACE Hemmer dar, bei denen die häufige Nebenwirkung des trockenen Reizhustens deutlich seltener auftritt.85 Dabei kann die Summe der kleinen, regelmäßig höchst kostenpflichtigen Verbesserungen zwar genauso nützlich sein wie eine Sprunginnovation. Allerdings erlaubt diese Argumentation auch, ehemals echte Innovationen, bei denen der Patentschutz bald abzulaufen droht, mit leichten, therapeutisch aber unbedeutenden Modifikationen neu patentieren zu lassen. In der Folge genießen diese als Analog- oder Me-too Präparate bezeichneten Innovationen erneut Patentschutz und können exklusiv angeboten werden. Zusammen mit dem Umstand, dass der Preis ihrer Präparate von den pharmazeutischen Unternehmen bis vor Kurzem vollkommen eigenständig festgelegt werden konnte, führte diese Möglichkeit im Jahr 2009 zu zweistelligen Zuwachsraten bei (schein-)innovativen Arzneimitteln. Kumuliert betrug ihr Anteil an den Gesamtverordnungen zwar nur 2,5%, im Hinblick auf die Kosten waren sie jedoch für 26% des gesamten Arzneimittelumsatzes verantwortlich. Deshalb stiegen im Jahr 2009 die Arzneimittelausgaben in der GKV um etwa 1,5 Milliarden Euro auf etwa 32 Milliarden Euro an. Zur Kostendämpfung bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der Forschungsbereitschaft wurde deshalb das Gesetz zur Neuordnung des Arzneimittelmarktes in der gesetzlichen Krankenversicherung (Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz – AMNOG) verabschiedet.86 Mit Wirkung zum 01. 01. 2011 müssen die Hersteller deshalb den (Zusatz-)Nutzen ihrer innovativen Arzneimittel nachweisen (§ 35a SGB V). Nach eher verhaltenem Beginn – zweieinhalb Jahre nach seinem Inkrafttreten waren erst 120 Millionen Euro87 der ursprünglich anvisierten zwei Milliarden88 Euro eingespart – geht die 85
Baulmann/Lenz, Hypertonie in Klinik und Praxis, 2008, S. 90. BT-Drs. 17/2413, S. 1. 87 Schwabe, Ulrich/Paffrath, Dieter, Pressekonferenz Arzneiverordnungs-Report 2013, Wiederanstieg der Arzneimittelausgaben in Deutschland | AMNOG zeigt erste Wirkungen, Pressemitteilung vom 12. 09. 2013, S. 2. 88 BT-Drs. 17/2413, S. 38. 86
36
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
Richtung in der Tendenz mittlerweile stärker nach oben. Bis zum 31. 12. 2014 sollen insgesamt 770 Millionen Euro89 eingespart worden sein. Einem Gutachten90 der Techniker Krankenkasse zufolge soll zudem noch erhebliches Ausbaupotenzial bestehen, da angeblich nach wie vor jährlich etwa drei bis vier Milliarden Euro für Analogpräparate ausgegeben werden würden. 3. Gerontokratie und Sisyphus-Syndrom Unabhängig davon versprechen Produktinnovationen die Lebensqualität bzw. das Überleben im höheren Alter signifikant zu verbessern. Es erscheint deshalb naheliegend anzunehmen91, dass die Bevölkerungsgruppe der Senioren ihren, wegen der demografischen Entwicklung stark gestiegenen, politischen Einfluss geltend macht, um die finanzielle Ausstattung des Gesundheitswesens stetig zu verbessern. Die finanzielle Basis für ein Fortschreiben der medizinischen Erfolgsgeschichte wäre in einer solchen Gerontokratie gelegt. In der Folge steht ein zusätzlicher Anstieg der, das Gesundheitssystem ohnehin schon überdurchschnittlich beanspruchenden, älteren Bevölkerung zu befürchten. Dieser Effekt wird als Sisyphus-Syndrom bezeichnet. Ähnlich der, der griechischen Sagengestalt Sisyphus gestellten Aufgabe, einen Felsbrocken einen Berg hinaufzurollen, wobei der Brocken kurz vor Erreichen des Gipfels jedes Mal wieder zurückrollte, erscheint auch die angemessene Finanzausstattung der gesetzlichen Krankenversicherung als Aufgabe, die trotz großer Anstrengungen nie abgeschlossen werden kann. Tatsächlich deuten die Ergebnisse empirischer Arbeiten92 darauf hin, dass höhere Gesundheitsausgaben auch zu einem Anstieg der Lebenserwartung führen. Der für die Existenz des Sisyphus-Syndroms erforderliche Beleg, von aus der gestiegenen Lebenserwartung resultierenden, erhöhten Gesundheitsausgaben, konnte jedoch lediglich in einer Untersuchung und dort auch nur für die Jahre 1970 bis 1991 nachgewiesen werden.93 89 Cassel/Ulrich, AMNOG auf dem ökonomischen Prüfstand, 2015, S. 13; zur ebenfalls positiven Entwicklung im Jahr 2015: IMS Health GmbH & Co OHG, IMS Health Marktbericht Entwicklung des deutschen Pharmamarktes im September 2015, S. 34. 90 Windt/Boeschen/Glaeske, Innovationsreport 2013, Wissenschaftliche Studie zur Versorgung mit innovativen Arzneimitteln – Eine Analyse von Evidenz und Effizienz, 2013, S. 110 – 111. 91 Grundlegend hierzu: Breyer/Zweifel/Kifmann, Gesundheitsökonomik, 2012, S. 556 – 559; Gruenberg, The Milbank Memorial Fund Quarterly Health and Society 1977 S. 20; Zweifel, Bevölkerung und Gesundheitswesen, in: Felderer (Hrsg.), Bevölkerung und Wirtschaft, 1990, S. 373 – 387. 92 Zweifel/Ferrari, Is there a Sisyphus Syndrome in Health Care?, in: Zweifel/Frech (Hrsg.), Health economics worldwide, 1992, S. 311 – 330; Zweifel/Steinmann, The Sisyphus Syndrome in Health Revisited, 2002, S. 20. 93 Zweifel/Steinmann, The Sisyphus Syndrome in Health Revisited, 2002, S. 18 – 19.
D. Mythos Kostenexplosion
37
D. Mythos Kostenexplosion Aus den Ausführungen94 zur Entwicklung der Arzneimittelausgaben könnte man den Eindruck95 gewonnen haben, dass stetig steigende Kosten eine weitere Hauptursache der Finanzprobleme der GKV sind. In der Tat sind die absoluten Gesundheitsausgaben des wiedervereinigten Deutschlands von 157,9 Milliarden Euro im Jahr 1992 auf 293,8 Milliarden Euro im Jahr 2011 gestiegen.96 Insofern erscheint es wenig überraschend, wenn DER SPIEGEL seine im Mai 1975 erstmals veröffentlichte Serie „Krankheitskosten: Die Bombe tickt“ 97 im Oktober 2009 unter dem Titel „Kostenexplosion im Gesundheitswesen: Krankes System mit Knall effekt“98 neu auflegt. Allerdings ließe man dann außer Acht, dass die Preise der jeweiligen Gesundheitsleistungen durch inflationäre Entwicklungen aufgebläht wurden. Parallel hierzu stiegen auch die Einkommen, weswegen der absolute Ausgabenanstieg nicht vollumfänglich auf eine reale Expansion zurückzuführen ist. Dieselben Leistungen wurden einfach nur teurer bezahlt. Aufgrund des gleichzeitigen Anstiegs der Realeinkommen ist aber der Anteil, den die Gesundheitsausgaben am Budget eines Haushaltes haben, im Wesentlichen nicht gewachsen.99 Bezieht man den Anteil der Gesundheitsausgaben auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP), also den Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die innerhalb eines Jahres in einer Volkswirtschaft hergestellt wurden und dem Endverbrauch dienen, stellt man eine erstaunliche Konstanz fest. So lag der Wert von 1992 bis 2008 regelmäßig zwischen 9,6% und 10,7%. Erst im Jahr 2009 stieg er aufgrund des Rückganges der Wirtschaftsleistung in Folge der Finanzmarktkrise auf seinen bisherigen Spitzenwert von 11,8% an, bevor er bis zum Jahr 2011 auf 11,3% sank. Betrachtet man den Anteil der gesamten Gesundheitsausgaben Deutschlands gemessen am BIP ergibt sich für die Jahre 1992 bis 2011 folgendes Bild100: 94
§ 2 C. II. Uhlenbruck, MedR 1995 S. 427. 96 IAQ Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, Gesundheitsausgaben absolut und in % des BIP 1992 – 2011, 2013, S. 1. 97 DER SPIEGEL, Nr. 19/1975 vom 05. 05. 1975, S. 54; DER SPIEGEL Nr. 20/1975 vom 12. 05. 1975, S. 126; DER SPIEGEL Nr. 21/1975 vom 19. 05. 1975, S. 108; DER SPIEGEL 22/1975 vom 26. 05. 1975, S. 114. 98 SPIEGEL ONLINE vom 08. 10. 2009, Kostenexplosion im Gesundheitswesen: Krankes System mit Knalleffekt, abgerufen am 29. 04. 2017 unter http://www.spiegel.de/ wirtschaft/soziales/kostenexplosion-im-gesundheits-wesen-krankes-system-mit-knalleffekt-a-653784.html. 99 Hajen/Paetow/Schumacher, Gesundheitsökonomie, 2013, S. 8; Leisner, Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung – ein grundgesetzliches Gebot?, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 16 – 17. 100 IAQ Institut Arbeit und Qualifikation der Universität Duisburg-Essen, Gesundheitsausgaben absolut und in % des BIP 1992 – 2016, 2018, S. 1. 95
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
38
Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass die GKV lediglich rund 60% – das entspricht etwa 6% des BIP – der Gesamtausgaben des deutschen Gesundheitswesens trägt.101 Über 40% werden also privat oder aus anderen öffentlichen Kassen finanziert. Als Kostenträger sind hier insbesondere private (Zusatz-) Versicherungen, Privathaushalte, Unternehmen oder aber die gesetzlichen Renten-, Pflege- und Unfallversicherungen sowie öffentliche Haushalte zu nennen. Streng genommen kann dieser relativ hohe prozentuale Anteil daher eigentlich aus systematischen Gründen von vorneherein nicht mit den Ursachen der Finanzierungsprobleme der GKV in Verbindung gebracht werden. Wohl nicht zuletzt aus Gründen der Vergleichbarkeit zu anderen Volkswirtschaften hat sich aber die undifferenzierte Angabe durchgesetzt. Betrachtet man den prozentualen Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP verschiedener hoch entwickelter Staaten, steht die Bundesrepublik Deutschland mit Ihren 10,5% – 11,5% keineswegs einsam an der Spitze, sondern im oberen Mittelfeld. Interessanterweise befindet sich mit den Vereinigten Staaten von Amerika ein Staat unangefochten auf dem ersten Rang, der erst mit Wirkung zum 01. 10. 2013 erhebliche Anstrengungen unternommen hat, all seinen Bürgern einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz zu ermöglichen. Es dürfte deshalb interessant zu beobachten sein, ob die als Preistreiber identifizierten102 hohen Arzneimittelpreise und Arztgehälter nicht noch mehr103 unter Druck geraten werden. Zusammenfassend stellen sich die 101
Simon, Das Gesundheitssystem in Deutschland, 2017, S. 119 – 120. Anderson/Reinhardt/Hussey/Petrosyan, Health Affairs 2003, S. 89 – 105. 103 Zu Arzneimittelpreisen: Berndt/Nass/Kleinrock/Aitken, Health affairs (Project Hope) 2015, S. 250 – 251. 102
E. Sonstige Ursachen
39
prozentualen Anteile der Gesundheitsausgaben im internationalen Vergleich wie folgt dar104: Land
1995
2000
2005
Deutschland Österreich
2006
2007
10,1%
10,4%
9,6%
10,0%
Schweiz
9,6%
2008
10,8%
10,6%
10,5%
10,7%
10,4%
10,2%
10,3%
10,5%
10,2%
11,2%
10,8%
10,6%
10,7%
2009
2010
2011
11,8%
11,5%
11,3%
11,2%
11,0%
–
11,4%
11,4%
11,5%
USA
13,7%
13,7%
15,8%
15,9%
16,2%
16,6%
17,7%
17,6%
–
UK
6,8%
7,0%
8,2%
8,5%
8,5%
8,8%
9,8%
9,6%
–
Frankreich
10,4%
10,1%
11,2%
11,1%
11,1%
11,0%
11,7%
11,6%
–
Italien
7,2%
8,0%
8,9%
9,0%
8,6%
8,9%
9,3%
9,3%
9,1%
Schweden
8,0%
8,2%
9,1%
8,9%
8,9%
9,2%
9,9%
9,6%
–
Niederlande
8,3%
8,0%
9,8%
9,7%
10,8%
11,0%
11,9%
12,0%
–
Kanada
9,0%
8,8%
9,8%
10,0%
10,0%
10,3%
11,4%
11,4%
11,2%
Es lässt sich daher festhalten, dass mit Ausnahme der Arzneimittelausgaben von einer Kostenexplosion im deutschen Gesundheitswesen keine Rede sein kann. Vielmehr werden regelmäßig etwa 10,5% bis 11,5% des BIP für Gesundheit ausgegeben, wobei dieser Wert auch im internationalen Vergleich nicht sonderlich hoch ist.
E. Sonstige Ursachen I. Bedarfsprinzip Bei der Interpretation eines solchen Vergleiches müssen jedoch die strukturellen Unterschiede der jeweiligen Gesundheitssysteme beachtet werden. Beispielsweise resultiert der niedrige prozentuale Anteil am BIP des Vereinigten Königreiches daraus, dass der Regierung mit der Möglichkeit einer Globalbudgetierung des steuerfinanzierten Systems ein effektives Mittel zur Ausgabenbegrenzung an die Hand gegeben wurde. Sie wurde allerdings um den Preis von langen Wartezeiten und anderen Versorgungsengpässen, vor allem im stationären Bereich, erkauft.105 Ganz im Gegensatz hierzu steht das in den §§ 12 und 70 SGB V normierte, konzeptionell allein medizinischen Kriterien unterworfene Bedarfsprinzip der GKV. Hier wird gerade kein fixer Anteil an den gesamtgesellschaftlichen 104 Eigene Darstellung angelehnt an: Statistisches Bundesamt, Gesundheit Ausgaben 1995 – 2011, Fachserie 12 Reihe 7. 1. 2, 2013, S. 35. 105 Lüngen/Stock, Großbritannien, in: Lauterbach (Hrsg.), Gesundheitsökonomie, 2013, S. 252.
40
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
Ressourcen für das Gesundheitssystem reserviert, mit dem das System auszukommen hat. Vielmehr werden alle zweckmäßigen und notwendigen Leistungen unabhängig von den dafür aufzuwendenden Mitteln erbracht.106 Verbessert sich der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse, so führe dies gemäß § 2 Abs. 1 S. 3 SGB V automatisch zu einem erhöhten Leistungsumfang. Dass sich die medizinische Leistungsfähigkeit aufgrund des medizinisch-technischen Fortschrittes stetig verbessere, resultiere dann wiederum in steigenden Kosten.107 Unabhängig davon, dass der Anteil der Gesundheitsausgaben am BIP relativ konstant ist, erscheint dieser Effekt ohnehin eher theoretischer Natur bzw. wird zumindest erheblich abgeschwächt. Er unterstellt nämlich, dass jede medizinisch sinnvolle Leistung, sei sie nun innovativ oder ein Standardverfahren, zulasten der GKV auch abgerechnet werden kann. Tatsächlich muss hierfür aber das Standardverfahren ausreichend, zweckmäßig und notwendig sein (§ 12 SGB V), während die Innovation dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu entsprechen hat (§ 2 Abs. 1 S. 3 SGB V). Ob dies der Fall ist, entscheidet jedoch nicht das medizinische Fachpersonal, sondern oftmals die vom Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) gemäß § 92 SGB V beschlossenen, das Wirtschaftlichkeitsgebot konkretisierenden Richtlinien. Bei deren Beschlussfassung sind neben fünf Vertretern der Leistungserbringer auch drei unparteiische sowie fünf Vertreter des GKV-Spitzenverbandes beteiligt (§ 92 SGB V). Dass Letztere zumindest auch von finanziellen Interessen geleitet sind, liegt auf der Hand. Deshalb besteht beispielsweise für Backenzähne nur unter bestimmten Voraussetzungen ein Anspruch auf Wurzelbehandlung,108 wobei diese dann aber auch nicht nach dem derzeitigen wissenschaftlichen Stand109 der Zahnheilkunde mit einem Operationsmikroskop und einem Wurzelkanallängenmessgerät durchgeführt werden. Selbst wenn man sich jedoch im Rahmen dieser Richtlinien bewegt bzw. es gar keine gibt, wird das an der medizinischen Notwendigkeit ausgerichtete Bedarfsprinzip in Form von Budgetierungen der Leistungserbringer (vgl. beispielsweise § 106 SGB V) durch die Hintertür wieder ausgehebelt. Insofern könnte man versucht sein, das Bedarfsprinzip eher als verbindlicheren Programmsatz zu verstehen. In jedem Falle dürfte sein wirklicher Einfluss auf die Finanzierungsprobleme der GKV geringer sein als zum Teil angenommen.
106 Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Höfling (Hrsg.), Der Schutzauftrag des Rechts, 2011, S. 155; näher dazu: § 3 A. 107 Rothgang, Vom Bedarfs- zum Budgetprinzip?, in: Clausen (Hrsg.), Gesellschaften im Umbruch, 1996, S. 1 – 2. 108 B. III. 9. der Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche vertragszahnärztliche Versorgung (Behandlungsrichtlinie). 109 Klimm, Endodontologie, 2011, S. 107.
E. Sonstige Ursachen
41
II. Therapiefreiheit Ähnlich verhält es sich mit der teilweise als weitere Ursache identifizierten Therapiefreiheit. So sollen im SGB V klare Schwellenwerte und Richtlinien fehlen, weswegen den Leistungserbringern bzw. dem GBA zu viel Freiraum gewährt werden würde.110 Richtig daran ist sicherlich, dass sich der parlamentarische Gesetzgeber, von wenigen Ausnahmen wie § 34 SGB V einmal abgesehen, tatsächlich vornehm zurückhält. Zudem wurde bis etwa 1990 eine eher auf Erfahrungswissen basierende Humanmedizin gelehrt (eminence-based medicine). Mit dem Siegeszug der heute gelehrten, nachweisorientierten, evidence-based medicine nehmen aber zunehmend Behandlungsempfehlungen, Leitlinien, Richtlinien und Regulierungen Einfluss auf Diagnostik und Behandlung. Wie soeben dargelegt, wurde die Richtlinienerstellung – ob nun zu Recht oder zu Unrecht111 – zum Teil an den GBA delegiert, der aus wirtschaftlichen Gründen durchaus detaillierte, die Versorgungslandschaft dominierende, medizinische Vorgaben macht. Leitlinien hingegen nehmen primär die medizinische Perspektive ein. Sie basieren auf dem – bei ihrer Abfassung gültigen – allgemein anerkannten, aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft. Es handelt sich dabei um durch ärztliche Fachgremien festgesetzte Handlungsempfehlungen zur Steuerung der diagnostischen bzw. therapeutischen Vorgehensweise sowie zur Behandlungsorganisation in bestimmten Situationen. Vor allem bei den von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften (AMWF) entwickelten Leitlinien handelt es sich um systematisch entwickelte Darstellungen und Empfehlungen mit dem Zweck, Ärzte und Patienten bei der Entscheidung über angemessene Maßnahmen der Krankenversorgung unter spezifischen medizinischen Umständen zu unterstützen.112 Da die in Richtlinien und Leitlinien niedergelegten Anforderungen die Untergrenze des zivilrechtlich geschuldeten Behandlungsstandards darstellen, der Leistungserbringer sich also bei ihrer Nichtbeachtung unter Umständen schadensersatzpflichtig macht,113 kommt ihnen in der Praxis auch ein hohes Maß an tatsächlicher Verbindlichkeit zu. Das Fehlen klarer Schwellenwerte und Richtli110 Eichhorn, Gerechte Rationierung durch Einführung einer Prioritätensetzung im deutschen Gesundheitswesen, 2011, S. 101. 111 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur: Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 475 – 505; Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Höfling (Hrsg.), Der Schutzauftrag des Rechts, 2011, S. 176 – 180; Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/ Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2015, S. 227; allgemein zur Delegation von Normsetzungskompetenz insbesondere im Mehrebenensystem: Martini, AöR 2008 S. 155 – 190. 112 Müller, Der Haftungsfall – materielle Haftungsvoraussetzungen, in: Wenzel (Hrsg.), Handbuch Arzthaftung, 2012, S. 657 – 658. 113 Janda, Medizinrecht, 2016, S, 130 – 131; Müller, Der Haftungsfall – materielle Haftungsvoraussetzungen, in: Wenzel (Hrsg.), Handbuch Arzthaftung, 2012, S. 658.
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
42
nien dürfte deswegen einen abnehmenden, wenn nicht sogar geringen Einfluss auf die finanzielle Situation der GKV haben.
III. Angebotsinduzierte Nachfrage Einen deutlich größeren Einfluss auf die Kassenlage der GKV hat wahrscheinlich die unbestrittene Tatsache, dass die Anbieter von Gesundheitsleistungen nicht nur das körperliche und seelische Wohl Ihrer Patienten, sondern auch ihre eigenen, regelmäßig finanziellen Interessen verfolgen. Wegen der zwischen beiden Parteien bestehenden Informationsasymmetrie fällt dies auch leicht. So sucht ein Patient einen Arzt zwar auf, weil er meint, irgendeiner Gesundheitsleistung zu bedürfen. Welche das dann ist, bestimmt aber der, im Gegensatz zum Patienten, vollständig informierte Arzt. Dem Patienten obliegt somit in aller Regel nur noch die Entscheidung, ob er dem Vorschlag des Arztes folgt oder nicht, wobei deren Ergebnis aufgrund des dem Arzt entgegenbrachten Vertrauens vorgezeichnet ist. Die Neue Institutionenökonomik bezeichnet diese Situation als principal agent problem. Der umfassende Versicherungsschutz und der medizinisch-technische Fortschritt erleichtern es dem Arzt vor allem in der Diagnostik, Nachfrage nach den eigenen Leistungen zu generieren. Wie an anderer Stelle bereits dargelegt114, wird ein einzelner Versicherter eine Gesundheitsleistung nicht wegen der monetären Kosten ablehnen – die Kasse zahlt ja. Der medizinisch-technische Fortschritt hingegen ermöglicht es dem Arzt auf Basis der geschilderten Symptome, ärztliche Leistungen zu erbringen, die dem Patienten nicht schaden bzw. noch einen geringfügigen Nutzen stiften. Paradebeispiel hierfür sind Untersuchungen zum Ausschluss einer weiteren, in seltenen Fällen mit diesen Symptomen verbundenen Krankheit. 1. Empirie In der Tat mehren sich die Anzeichen, dass Ärzte ihren Informationsvorsprung systematisch in Abhängigkeit von ihrem eigenen Auslastungsgrad ausspielen. So geht die wachsende Anzahl an ambulant tätigen Ärzten in Deutschland mit einer ebenfalls wachsenden Inanspruchnahme von ambulant erbrachten Leistungen einher. Dabei war jedoch keine, bei zu viel Angebot eigentlich zu erwartende Preisreaktion im Sinne einer Gebührensenkung zu beobachten. Ließe sich dies in Deutschland noch dadurch erklären, dass die Preise aufgrund gesetzlicher Vorgaben in der Gebührenordnung für Ärzte (GOÄ) bzw. der jeweiligen regionalen Euro-Gebührenordnung i. S. d. § 87a SGB V verbindlich festgelegt sind, ist dieses Phänomen auch in Ländern zu beobachten, in denen von Rechts wegen 114
§ 2 A. IV.
E. Sonstige Ursachen
43
durchaus eine Preissenkung möglich gewesen wäre.115 Besonders deutlich wurde dies, als die Geburtenzahlen in den USA stark zurückgingen und gleichzeitig die am besten vergütete Form der Entbindung, der Kaiserschnitt, gerade in den Bundesstaaten am stärksten zunahm, in denen zwar die wenigsten Kinder geboren wurden, die Geburtshelferdichte aber am höchsten war.116 Ähnlich verhielt es sich in Deutschland, als das Vergütungssystem stationär erbrachter Leistungen von Pflegetagen auf diagnosebezogene Fallgruppen (DRG) umgestellt wurde. Richtete sich die Vergütung bis dahin nach der im Krankenhaus verbrachten Zeit (1 ff. BPflV a. F.), werden nun Pauschalen pro Behandlungsfall bezahlt, deren Höhe sich aus dem jeweiligen Krankheitsbild, genauer gesagt, dessen Codierung ergibt (§ 17b KHG). In der Folge sank die durchschnittliche Verweildauer in den Krankenhäusern signifikant117, während beispielsweise orthopädische Operationen häufiger erbracht wurden. Um DRGs ökonomisch geschickt zu nutzen, muss Leistung fragmentiert werden. Der klassische Ansatz der inneren Medizin, im Rahmen eines einzigen Krankenhausaufenthaltes Komorbiditäten zu diagnostizieren und zu behandeln, ist deshalb finanziell unattraktiv geworden.118 Deutlich rentabler ist es, orthopädische Leistungen zu erbringen. Stellt man gleichzeitig fest, dass in keinem anderen Land der Welt so viele Hüft- und Knieoperationen wie in Deutschland durchgeführt werden,119 bekommt man Zweifel daran, ob bei der Indikationsstellung tatsächlich ausschließlich medizinische Gründe eine Rolle gespielt haben. Nicht von ungefähr heißt es in Medizinerkreisen hinter vorgehaltener Hand, dass sich nichts so gut operieren ließe wie ein gesundes Knie. Die Zweifel werden größer, wenn man die erst auf gesetzgeberischen Druck in Form von § 136a SGB V im Jahr 2013 geänderten, von der Deutschen Krankenhausgesellschaft (DKG) herausgegebenen, Chefarztmusterverträge betrachtet. Diese enthielten nämlich bis dahin Zielvereinbarungen, die für den Arzt erhebliche finanzielle Anreize für die Durchführung bestimmter Operationen setzten.
115
Zum Ganzen: Breyer/Zweifel/Kifmann, Gesundheitsökonomik, 2012, S. 356 – 370. Gruber/Owings, RAND Journal of Economics 1996 S. 99; siehe auch: Fuchs, The Journal of Human Ressources 1978 S. 54, der einen Zusammenhang zwischen der Chirurgendichte und den tatsächlich ausgeführten Operationen nachweisen konnte. 117 Statistisches Bundesamt, Krankenhäuser und Vorsorge- oder Rehabilitationseinrichtungen (Anzahl und je 100.000 Einwohner) sowie Aufenthalte (Fallzahl, Berechnungs-/Belegungstage und Verweildauer), 2014, S. 1. 118 Ertl, Individualität in Medizin und Forschung, in: Schuster/Broglie (Hrsg.), Deutsche Gesellschaft für Innere Medizin, 2010, S. 265. 119 OECD Organisation for Economic Co-operation and Development, Managing Hospital Volumes, Germany and Experiences from OECD countries, 2013; OECD Organisation for Economic Co-operation and Development, Managing Hospital Volumes, Germany and Experiences from OECD countries, 2013, S. 5. 116
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
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2. Alternativerklärungen Dem wird entgegengehalten, dass Krankenhäuser überhaupt nicht in der Lage seien, den Patientenzustrom autonom zu steuern. Dieser speise sich nämlich aus Notfällen und Einweisungen der niedergelassenen Kollegen. Insofern unterläge die Operationsindikationsstellung dem Mehraugenprinzip und werde darüber hinaus vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) kontrolliert sowie in externen Qualitätssicherungsverfahren bestätigt. Daneben habe sich die Versorgungsqualität durch die Einführung und Verbreitung neuer innovativer Verfahren verbessert.120 Worauf allerdings mit keinem Wort eingegangen wird, ist der Umstand, dass Überprüfungen oftmals nur ex post nach Aktenlage erfolgen und niedergelassenen Ärzten – trotz ausdrücklichen Verbotes in den jeweils geltenden Berufsordnungen – bisweilen dennoch Zuweisungsprämien bezahlt werden.121 Selbst die DKG scheint die Existenz einer arztinduzierten Nachfrage nicht ernsthaft abstreiten zu wollen, sondern bestreitet offenbar lediglich deren Ausmaß. So verwahrt sie sich in der von ihr herausgegebenen Zeitschrift nur gegen den pauschalen und undifferenzierten Vorwurf einer primär an ökonomischen Motiven orientierten Mengenexpansion. Letztere sei vielmehr multikausal zu erklären122, wobei die arztinduzierte Nachfrage jedoch nicht ausgenommen wird. Auch für den belegbaren Zusammenhang zwischen Arztdichte und der Inanspruchnahme von ärztlichen Leistungen existieren Alternativerklärungen123, die aber nur bedingt im Hinblick auf die in Deutschland vorherrschenden Gegebenheiten überzeugen können. So wäre es denkbar, dass alle Ärzte ständig bis an ihre Kapazitätsgrenze hin ausgelastet sind und deshalb ein permanenter Nachfrageüberhang existiert. Allerdings ist die Versorgungslandschaft in Deutschland eher von Über- als von Unterkapazitäten geprägt.124 Ferner könnte die Zunahme der Leistungsmenge bei steigender Ärztedichte auch darauf zurückzuführen sein, dass die Zeit- und Wegekosten für das Aufsuchen einer Arztpraxis zurückgehen. In der Folge sänke die Hemmschwelle für einen Arztbesuch, weswegen dann auch Befindlichkeitsstörungen behandelt werden, die andernfalls – beispielsweise bei längeren Wartezeiten – von selbst abgeklungen wären. Außerdem soll sich bei wegen der gestiegenen Ärztedichte abnehmender Auslastung des einzelnen Arztes die Behandlungszeit pro Patient erhöhen, was bei Patienten, die dies als Qualitätsmerkmal ansehen, zu einer gesteigerten 120
Blum/Offermanns, das Krankenhaus 2013 S. 11 – 16. Graml, Das ärztliche Verbot der Zuweisung gegen Entgelt, 2012, S. 12 – 15. 122 Blum/Offermanns, das Krankenhaus 2013 S. 16. 123 Dazu und zum Folgenden: Breyer/Zweifel/Kifmann, Gesundheitsökonomik, 2012, S. 368. 124 Hierzu z. B. OECD Organisation for Economic Co-operation and Development, Managing Hospital Volumes, Germany and Experiences from OECD countries, 2013, S. 3. 121
E. Sonstige Ursachen
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Nachfrage führen soll. Schließlich würde ein junger Arzt seine Praxis nur dort eröffnen, wo Auslastungs- und Umsatzerwartungen groß genug für eine weitere Praxis sind. Deshalb zögen Regionen, in denen die Morbidität der Bevölkerung und damit die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen hoch ist, mehr Ärzte an als Regionen mit geringerer Ärztedichte. Wenn es aber im Ergebnis auf die Umsatzerwartungen ankommen soll, ist es schwerlich nachzuvollziehen, warum trotz hoher Verdienstmöglichkeiten ganze Landstriche in Deutschland vom Versorgungsnotstand125 bedroht sind. 3. Fazit Insgesamt dürfte es weniger um das „Ob“ als vielmehr um das Ausmaß der angebotsinduzierten Nachfrage zu gehen. Zudem scheint das gegenwärtige Abrechnungssystem nach Fallpauschalen jedenfalls mehr negative als positive Effekte zu haben. Vielversprechender dürfte es sein, erfolgsabhängige Komponenten stärker zu berücksichtigen. Es wird sich zwar nicht durchsetzen, den Arzt wie im alten China nur dann zu bezahlen, solange man auch gesund ist. Einer stärkeren Betonung des Effizienzgedankens kann man sich aber dennoch kaum verschließen.126 Beispielsweise wäre es denkbar, die Höhe der Bezahlung von der Erreichung von Erfolgsparametern, wie tatsächlich gesenktem Blutdruck oder der Anzahl vermiedener Rezidive, abhängig zu machen. Entsprechende pay per performance Ansätze wurden bereits in das US Medicare Programm implementiert. Auch in Deutschland wurden kürzlich einige Gesetze127 verabschiedet, die die Qualität der Versorgung in den Mittelpunkt rücken. Es bleibt abzuwarten, ob die Maßnahmen auch tatsächlich die erhofften positiven Effekte zeitigen.
IV. Abrechnungswesen Verstärkt wird der Effekt der angebotsinduzierten Nachfrage durch das in der gesetzlichen Krankenversicherung vorherrschende Sachleistungsprinzip. So treffen die Ärzte nicht nur die Nachfrageentscheidung selbst, sondern rechnen die erbrachten Leistungen auch nicht mit dem Patienten ab. Im Gegensatz zu Privatpatienten reichen sie bei gesetzlich Versicherten ihre Abrechnungen entweder direkt bei der jeweiligen Krankenversicherung oder aber bei Abrechnungsstellen wie der Kassenärztlichen Vereinigung (KV) ein. Diese nehmen zwar eine Plausi125
Martini/Ziekow, Die Landarztquote, 2017, S. 16 – 19. Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2015, S. 223 Fn. 47. 127 Gesetz zur Reform der Strukturen der Krankenhausversorgung (Krankenhausstrukturgesetz – KHSG), dazu: BT-Drs. 18/5372. 126 Vgl.
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§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
bilitätsprüfung vor, sind aber im Übrigen auf die Dokumentation des Leistungserbringers angewiesen. Darüber hinaus führen Kostendämpfungsinstrumente, wie Pauschalierungen oder abschmelzende Vergütungen bei Mengenausweitungen dazu, dass sich selbstständige Ärzte oftmals chronisch unterbezahlt fühlen. Ein Gefühl, das sie – ungeachtet ihres im Mittel sechsstelligen Jahreseinkommens – dazu bewegt, sämtliche, gerade noch legalen Möglichkeiten Einkommen zu generieren, maximal auszunutzen. Typisches Beispiel hierfür ist das quartalsweise routinemäßige Wiedereinbestellen von Patienten bei einer bestenfalls weichen Indikation. Daneben erliegt auch der ein oder andere Arzt dem Anreiz Leistungen abzurechnen, die nicht oder nicht so abgerechnet werden dürfen. Ausweislich einer nicht veröffentlichten Statistik soll es in den Jahren 2010 und 2011 knapp 53.000 Fälle von Fehlverhalten im Gesundheitswesen gegeben haben, die von extra hierfür geschaffenen Stellen verfolgt wurden.
V. Anspruchsdenken Aber auch aufseiten der Patienten fördert das Abrechnungswesen das Entstehen eines gewissen Anspruchsdenkens, da sich ein Kostenbewusstsein nur bezüglich der Beitragshöhe entwickeln kann. Der Historiker Paul Nolte bezeichnet die GKV deshalb als System kollektiver Unverantwortlichkeiten.128 Die gesundheitsökonomische Literatur bevorzugt nüchternere Begriffe wie Verantwortungsvakuum, Rationalitätenfalle oder moral hazard Verhalten. Der moral hazard ist ein vornehmlich bei vollständigem Versicherungsschutz auftretendes, empirisch belegbares Phänomen. Es beschreibt die Veränderung des eigenen Verhaltens aufgrund des erkauften Versicherungsschutzes. Im Falle der Krankenversicherung hat der jeweilige Versicherungsnehmer vor Eintritt des Krankheitsfalles weniger Anreiz, sich gesundheitsbewusst zu verhalten und den Krankheitseintritt auf diese Weise zu verhindern. Tritt der Krankheitsfall dann tatsächlich ein, hat der Patient keinerlei Anreiz, sich kostenbewusst zu verhalten. Wie bereits dargelegt129, wird er sich ohne zu zögern, mit der teureren Behandlungsmethode einverstanden erklären bzw. diese offensiv einfordern, da seine monetären Kosten auf Grund der Vollversicherung oftmals gegen Null laufen.130 Inwieweit sich das Anspruchsdenken der Patienten tatsächlich auf die Kassenlage der Krankenversi128 Zitiert nach: Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 29. 129 § 2 A. IV. 130 Beek/Beek, Einführung in die Gesundheitsökonomik, 2011, S. 54; Oberender/ Zerth, Ökonomische Auswirkungen der Rabattregelungen: Implikationen der direkten Vereinbarungen nach § 130a Abs. 8 SGB V, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 122.
E. Sonstige Ursachen
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cherer auswirkt, ist jedoch schwierig zu beurteilen. Einen gewissen Einfluss wird man ihm wohl nicht absprechen können.
VI. Trennung der Versorgungssektoren Offensichtlichere negative Effekte hat die historisch bedingte sektorale Trennung des ambulanten, stationären und rehabilitativen Versorgungssektors nebst ihrer jeweiligen Vergütungs- und Budgetsystemen. Neben dem ohnehin bestehenden Interesse an einzelwirtschaftlicher Nutzenmaximierung131 stellt diese Trennung einen starken systemimmanenten Anreiz dar, die als zu teuer empfundenen Patienten in das jeweils andere Versorgungssystem zu überweisen.132 Zwischenzeitlich wurden zwar erhebliche Anstrengungen unternommen, die Sektoren untereinander besser zu vernetzen (vgl. §§ 140a-140h SGB V). Effizienzverluste wegen mangelhafter Koordination unter den Leistungserbringern wurden somit deutlich reduziert. Gleichwohl sollen aber nach wie vor beträchtliche Effizienzreserven, genannt werden Beträge in Höhe von 2,0 bis 2,2 Milliarden Euro, durch integrierte Versorgungsformen zu heben sein.133
VII. Haushaltskonsolidierung und Sozialkassensubventionierung Nach wie vor Konjunktur hat auch der Trend zur Zweckentfremdung der gesetzlichen Krankenversicherung als finanzpolitisches Instrument zur Haushaltskonsolidierung. Zwar deckt die GKV ihren Finanzbedarf primär durch Versicherungsbeiträge; allerdings ist der Staatshaushalt über seine hohen Bundeszuschüsse zur gesetzlichen Renten- und Arbeitslosenversicherung dennoch mittelbar mit der GKV verbunden. Diese Sozialkassen überweisen ihrerseits Krankenversicherungsbeiträge für Arbeitslose und Rentner, was den Bund dazu animierte, diese Zahlungen durch Gesetzesänderungen zu reduzieren. Denn dadurch verringerte sich der von ihm aufzubringende Geldbetrag in gleicher Höhe. Da man aber den beanspruchbaren Leistungsumfang der so versicherten Rentner und Arbeitslosen nicht in gleicher Weise abgesenkt hat, wurden der GKV im Ergebnis zusätzliche Kosten aufgebürdet, um den Staatshaushalt zu entlasten. Für die Unterdeckung mussten bzw. müssen die Beitragszahler einstehen. Zu nennen sind hier insbesondere die 1977 erfolgte Absenkung des Beitragssatzes für Rentner, die Absenkung 131 Volk/Wohlgemuth, Integrierte Versorgung, in: Nagel (Hrsg.), Das Gesundheitswesen in Deutschland, 2013, S. 282. 132 Oberender/Zerth, Ökonomische Auswirkungen der Rabattregelungen: Implikationen der direkten Vereinbarungen nach § 130a Abs. 8 SGB V, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 122. 133 Volk/Wohlgemuth, Integrierte Versorgung, in: Nagel (Hrsg.), Das Gesundheitswesen in Deutschland, 2013, S. 281.
§ 2 Ursachen der Finanzierungsproblematik
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der beitragspflichtigen Einnahmen für Leistungsbeziehende nach dem Arbeitsförderungsgesetz sowie die Absenkung der beitragspflichtigen Einnahmen für die Bezieher von Übergangsgeld. Zu nennen sind ferner die 1992 in Kraft getretene Erhöhung der Beiträge aus Krankengeldleistungen sowie die Absenkung der Beitragsbemessungsgrundlage für die Bezieher von Arbeitslosenhilfe im Jahr 1995.134 Aus jüngerer Zeit ist vor allem die 2011 erfolgte Festlegung der Pauschale für die Bezieher von Arbeitslosengeld II hervorzuheben. Seitdem bezahlt die Bundesagentur für Arbeit einen pauschalen Beitrag in Höhe von 131,34 Euro pro Kopf und Monat, obwohl die Krankenkassen im Schnitt 278 Euro je Mitglied und Monat aufwenden müssen.135 Ähnlich verhält es sich bei der beitragsfreien Mitversicherung von Familienangehörigen, wobei zunehmend Einigkeit dahingehend besteht, dass zumindest die Lasten der beitragsfreien Mitversicherung von Kindern von der gesamten Gesellschaft und nicht nur von der Solidargemeinschaft der gesetzlich Versicherten getragen werden sollten. Darüber hinaus erbringt die GKV auch eine Vielzahl von versicherungsfremden Leistungen, die nicht vollumfänglich durch den hierfür gewährten Bundeszuschuss kompensiert werden. Schließlich wird auf Arznei- und Hilfsmittel Mehrwertsteuer in Höhe des vollen Satzes erhoben. Insgesamt wurde die GKV deshalb im Jahr 2008 zur Entlastung anderer Sozialsysteme und des Staates mit etwa 45,5 Milliarden Euro belastet. Betriebe man diese Politik der Verschiebebahnhöfe nicht weiter, so könnte der derzeitige Beitragssatz um etwa 4,5 Prozentpunkte gesenkt werden.136
VIII. Gehalts- und Lohnentwicklung Ein ebenfalls auf der Einnahmeseite angesiedeltes Finanzierungsproblem ist die seit Jahrzehnten erodierende Einnahmebasis. Während die Ausgaben der Krankenkassen im gleichen Zeitraum relativ konstant 10,5% bis 11,5% des BIP betrugen, entwickelte sich ihre Finanzierungsgrundlage nicht in gleicher Weise. Die GKV deckt ihren Finanzbedarf in erster Linie aus Arbeitseinkommen, das jedoch seit mehr als drei Jahrzehnten geringer wuchs als das BIP.137 Dieses unterproportionale Wachstum der Löhne und Gehälter ist auf den anhaltenden Trend zu Teilzeit- und geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen zurückzuführen, wodurch die Beitragszahlungen an die Krankenkassen zwar geringer ausfallen, der Leistungskatalog aber unverändert bleibt. Einen ähnlichen Effekt hatten in der 134 135
S. 15.
Simon, Das Gesundheitssystem in Deutschland, 2017, S. 124 – 125. AOK-Medienservice Politik 03/11 vom 15. 03. 2011, Zahl des Monats 131,34 Euro…,
136 Fritz Beske Institut für Gesundheits-System-Forschung, Pressemitteilung zur Pressekonferenz des IGSF am 16. Oktober 2008 in Berlin, Politische Entscheidungen belasten Krankenversicherung erheblich, Pressemitteilung vom 16. 10. 2008, S. 1. 137 BT-Drs. 15/530, S. 36; Fuchs, MedR 1993 S. 323.
F. Zwischenergebnis
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Vergangenheit niedrige Tarifvertragsabschlüsse sowie anhaltend hohe Arbeitslosenzahlen.138 Ausweislich einer fiktiven Berechnung des Sachverständigenrates zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen wären im Jahr 2000 insgesamt 35,6 Milliarden Euro Mehreinnahmen zu verbuchen gewesen, wenn die beitragspflichtigen Einnahmen mit der Steigerungsrate des BIP gewachsen wären. Mithilfe dieser fiktiven Mehreinnahmen hätte der durchschnittliche Beitragssatz 11,6%, statt tatsächlich 13,5% betragen.139
F. Zwischenergebnis Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der plakative Begriff der Kosten explosion ins Reich der Mythen zu verbannen ist. Auch der Einfluss des demografischen Wandels auf die Finanzsituation der GKV fällt deutlich geringer aus als bisweilen behauptet. Ebenfalls überschätzt werden die finanziellen Auswirkungen des Bedarfsprinzips sowie die der Therapiefreiheit. Einen gewissen, in der konkreten Höhe jedoch schwierig zu bestimmenden Einfluss haben das Anspruchsdenken der Versicherten sowie das Abrechnungswesen. Signifikanter hingegen sind die Effekte der angebotsinduzierten Nachfrage nach Gesundheitsleistungen sowie die zwischenzeitlich durchlässigere Trennung der Versorgungssektoren. Neben der Mutter aller Finanzierungsprobleme – der Ressourcenknappheit – sind somit der medizinisch-technische Fortschritt, die Gehalts- und Lohnentwicklung und das Verschieben von Geldern zugunsten des Staatshaushaltes oder anderer Sozialkassen die Hauptursachen der Finanzierungsprobleme der gesetzlichen Krankenversicherung.
138 139
Simon, Das Gesundheitssystem in Deutschland, 2017, S. 123 – 124. BT-Drs. 15/530 S. 34.
§ 3 Rationierung, Rationalisierung und Priorisierung A. Paradigmenwechsel vom Minimal- zum Maximalprinzip Finanzierungsprobleme lassen sich regelmäßig auf zwei grundsätzlich einmal auch gut miteinander kombinierbaren Wegen lösen. Entweder man erhöht die Einnahmen oder aber man senkt die Ausgaben. Auf die GKV gemünzt müsste somit de lege lata der Beitragssatz erhöht oder Zusatzabgaben erhoben werden. Alternativ könnte de lege ferenda auf ein vollständig steuerfinanziertes System umgestiegen werden. Allerdings ist bereits jetzt von jedem durch Arbeit erwirtschafteten Euro in etwa die Hälfte an Sozialversicherungsbeiträgen und Steuern abzuführen.1 Eine, allein schon zur Abfederung der finanziellen Auswirkungen des medizinisch-technischen Fortschrittes notwendige, deutliche Anhebung erscheint deshalb schwerlich möglich. Dem ließe sich zwar durch eine Verbreiterung der Bemessungsgrundlage in Form der Entkoppelung der Sozialversicherungsbeiträge vom Faktor Arbeit begegnen. Unabhängig von der spezifischen Ausgestaltung des Finanzierungssystems dürfte man sich jedoch bereits jetzt in der Nähe der, der Gesellschaft gerade noch vermittelbaren Gesamtbelastungsgrenze sämtlicher aggregierter Steuern, Gebühren und Abgaben bewegen.2 Das Generieren signifikanter Mehreinnahmen für die GKV, ohne an Stellen außerhalb des Gesundheitswesens Einbußen hinnehmen zu müssen, dürfte deshalb ausgeschlossen sein. Außerdem stehen einer beliebigen Steigerung der Abgabenhöhe auch verfassungsrechtliche Gründe in Form einer, wenn auch schwierig zu bestimmenden, grundrechtlichen Unzumutbarkeit entgegen.3 Es gilt deshalb, mit den vorhandenen Mitteln auszukommen – und zwar nicht zuletzt gerade im Interesse der Volksgesundheit. Diese ist nämlich zu einem er1 OECD Organisation for Economic Co-operation and Development, Taxing Wages 2017, 2017, S. 1. 2 Das konstatierte bereits: Uhlenbruck, MedR 1995 S. 429; kritisch zu einem Beitragserhöhungsstopp: Leisner, Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung – ein grundgesetzliches Gebot?, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 15 – 26. 3 Isensee, Verwaltung des Mangels im Gesundheitswesen verfassungsrechtliche Maßstäbe der Kontingentierung, in: Heinze/Söllner (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 419; vgl. BVerfGE 93, 121 (138), allerdings wurde die in dieser Entscheidung erstmals aufgestellte Belastungsobergrenze in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen Staat und Bürger mit BVerfGE 115, 97 (114) wieder aufgegeben, näher dazu: § 6 B. III. 4. c) aa).
A. Paradigmenwechsel vom Minimal- zum Maximalprinzip
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heblichen Teil auch von den Umweltbedingungen, den Wohnverhältnissen, der Bildung sowie dem sozialen Status der Bevölkerung abhängig.4 Beispielsweise sagt man den Entwicklern des Kühlschrankes nach, die mit Abstand meisten Leben gerettet zu haben. Eine Unterfinanzierung anderer gesellschaftlicher Betätigungsfelder zugunsten der GKV wäre dem Gesundheitszustand der Bevölkerung deshalb eher abträglich als nützlich. Da somit die Einnahmeseite als mehr oder weniger gegeben hingenommen wird, ist für die weitere Betrachtung zugleich eine Entscheidung für das Maximalprinzip gefallen. Es soll nämlich mit vorgegebenen festen Mitteln ein möglichst großer Nutzen erzielt werden. Selbiges erscheint insofern bemerkenswert, als dass das Bedarfsprinzip der GKV eine Ausprägung des Minimalprinzips darstellt bzw. zumindest so verstanden wird.5 So werden dem anerkannten Stand der Wissenschaft entsprechende Leistungen zur Verhütung und Behandlung von Krankheiten nur unter Beachtung des Wirtschaftlichkeitsgebotes erbracht (§§ 2, 11 SGB V). Sie müssen damit ausreichend, zweckmäßig und wirtschaftlich sein. Sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Leistungen, die nicht notwendig oder unwirtschaftlich sind, können von den Versicherten nicht beansprucht und von den Leistungserbringern – selbst nach erfolgter Bewilligung der Krankenkasse – nicht erbracht werden (§ 12 SGB V). Nach dem SGB V ist also ein bestimmtes Ziel mit möglichst geringem Mitteleinsatz zu erreichen. Der hierfür notwendige Ressourceneinsatz soll dabei erst eine Rolle spielen, wenn wenigstens eine weitere, gleichermaßen zweckmäßige, ausreichende und notwendige Behandlungsmöglichkeit existiert.6 Entscheidend ist, welcher Behandlungsaufwand medizinisch veranlasst ist.7 Besteht nur eine erfolgversprechende Behandlung, mit der der Heilzweck nach dem medizinischen Standard erreicht werden kann, so darf sie nicht wegen Unwirtschaftlichkeit versagt werden.8 Wirtschaftlich bedeutet deshalb nicht zwangsläufig billig. Das Leistungsniveau der Krankenversicherung soll nach der gesetzli-
4 Huster, DVBl 2010 S. 1071; Marckmann, GGW Gesundheit und Gesellschaft Wissenschaft 2010 S. 11. 5 Fischer, Medizinische Innovationen im Leistungsspektrum der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: Fischer/Meyer (Hrsg.), Gesundheit und Wirtschaftswachstum, 2010, S. 115 m. w. N.; Isensee, Verwaltung des Mangels im Gesundheitswesen verfassungsrechtliche Maßstäbe der Kontingentierung, in: Heinze/Söllner (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 419. 6 Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2015, S. 222 – 223. 7 BSGE 62, 24 (26). 8 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 160; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992, S. 281 – 282.
52
§ 3 Rationierung, Rationalisierung und Priorisierung
chen Konzeption durch das Wirtschaftlichkeitsgebot unbeeinflusst bleiben.9 Wie hoch das Leistungsniveau ist, ist damit freilich nicht gesagt. Insofern wäre es durchaus denkbar, am Minimalprinzip festzuhalten und Leistungen ganz oder teilweise auszuschließen, wie dies beispielsweise im Bereich der Hilfsmittel oder der Zahnmedizin schon gang und gäbe ist. Hält man aber die derzeitige, recht umfangreiche Versorgung aufrecht, wird es zunehmend schwieriger bis praktisch unmöglich werden, neben dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse auch den medizinischen Fortschritt (§ 2 Abs. 1 S. 2 SGB V) im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zumindest mit abzubilden. Wegen der im Grundsatz der Beitragssatzstabilität (§ 71 SGB V) ohnehin schon potenziell angelegten Mittelbegrenzung bleibt damit nur noch die Möglichkeit, den mit den verfügbaren Ressourcen erzielbaren Gesundheitsertrag zu optimieren und einen Paradigmenwechsel weg vom Minimal-hin zum Maximalprinzip einzuläuten.10 Häufigere Verteilungsentscheidungen werden damit unausweichlich werden, was zwangsläufig mit einer zunehmenden Verwendung von Begriffen wie Rationierung, Rationalisierung und Priorisierung – auch und gerade durch politische Entscheidungsträger – einhergeht.
B. Begrifflichkeiten Obwohl nicht nur die deutsche Fachwelt bereits seit Jahrzehnten über diese Begrifflichkeiten diskutiert, hat sich bislang weder ein allgemein verwendetes Verständnis noch eine allgemein verwendete Definition derselben herausgebildet. Eine Definition und Abgrenzung der Begrifflichkeiten zueinander ist deshalb erforderlich.
I. Rationalisierung Einhellig wird jedoch von allen beteiligten Disziplinen11 die Hebung von Effizienzreserven durch Rationalisierungsmaßnahmen gefordert. Bevor nicht alle 9 Isensee, Verwaltung des Mangels im Gesundheitswesen verfassungsrechtliche Maßstäbe der Kontingentierung, in: Heinze/Söllner (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze, 2005, S. 421. 10 Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2015, S. 223; ausführlich dazu: Münkler, Kosten-Nutzen-Bewertungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2015, S. 166 – 181. 11 Für die Gesundheitsökonomie beispielsweise: Schöffski/Schulenburg, Gesundheitsökonomische Evaluationen, 2011, S. VII.; für die Ethik beispielsweise: Deutscher Ethikrat, Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung,
B. Begrifflichkeiten
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Rationalisierungsmöglichkeiten ausgeschöpft sind, soll eine wie auch immer zu definierende Rationierung von Gesundheitsleistungen verboten sein. Ein Gedanke, der für Beitragserhöhungen sogar ausdrücklich in § 4 Abs. 4 S. 1 SGB V geregelt wurde. Der Begriff der Rationalisierung wurde erstmals zusammen mit dem Aufkommen der philosophischen Strömung des Rationalismus gebraucht und fand Anfang des 19. Jahrhunderts über das Französische Eingang in den deutschen Wortschatz. Man beschrieb damit eine vernünftige Gestaltung von Abläufen. Im modernen Sprachgebrauch, besonders im Ökonomischen, versteht man unter Rationalisierung eine wirtschaftlich effiziente Prozessgestaltung.12 Effizient ist sie, wenn entweder das Minimal- oder das Maximalprinzip befolgt wurden.13 Rationalisierungsmaßnahmen sind demnach durch die Vernunft begründete sinnvolle Handlungen, die darauf abzielen, bei gleichbleibendem finanziellen Aufwand das Versorgungsniveau zu erhöhen oder bei geringerem finanziellem Aufwand das Versorgungsniveau zu halten.14 Der bisweilen unternommene Versuch, mit möglichst geringem Mitteleinsatz das Maximum herauszuholen, ist von Anfang zum Scheitern verurteilt. Effizienzsteigerungen können erreicht werden, indem therapeutische und diagnostische Verfahren nicht mehr durchgeführt werden, die unwirksam oder weniger wirksam als alternative Maßnahmen mit gleichen oder geringeren Kosten sind. Idealerweise führt Rationalisierung somit zu keiner Verschlechterung der Versorgung für irgendeinen Patienten, da nur Unnötiges gestrichen wird. Daneben können auch Wirtschaftlichkeitsreserven bei organisatorischen und verwaltungstechnischen Abläufen gehoben werden.15 In praxi wird sich das gesamte Effizienzsteigerungspotenzial aber weder sofort noch vollumfänglich realisieren lassen, da Rationalisierungsmaßnahmen im kostenträchtigen therapeutischen bzw. diagnostischen Bereich relativ aufwendig durchzuführen sind. So dauert die Entwicklung einer evidenzbasierten S3-Leitlinie, also einer Leitlinie mit der höchsten Entwicklungsmethodik, für die BeStellungnahme, 2011, S. 18; für die Theologie beispielsweise: Dietz, Rationierung und Gerechtigkeit, in: Brudermüller (Hrsg.), Zweiklassenmedizin?, 2012, S. 65; für die Humanmedizin beispielsweise: Bayerische Landesärztekammer, Priorisierung ärztlicher Leistungen, Pressemitteilung vom 22. 11. 2011, S. 1; für die Jurisprudenz beispielsweise: Martini, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2009, S. 200; Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2015, S. 222; Nettesheim, VerwArch 2002 S. 347. 12 Vogel, Begrüßung, in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 4. 13 Carels/Pirk, Springer Wörterbuch Gesundheitswesen, 2005, S. 62. 14 Gosepath, Kann das Gut Gesundheit gerecht verteilt werden?, in: Nationaler Ethik rat (Hrsg.), Tagungsdokumentation Gesundheit für alle, http://www.ethikrat.org/dateien/ pdf/gesundheit-fuer-alle-wie-lange-noch.pdf (Stand: 29. 04. 2017). S. 30. 15 Deutscher Ethikrat, Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011, S. 18.
§ 3 Rationierung, Rationalisierung und Priorisierung
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handlung eines bestimmten Krankheitsbildes nicht selten Jahre und ist ihrerseits sehr ressourcenintensiv. Ähnlich verhält es sich mit Präventionsprogrammen zur Gesundheitsförderung, die ebenfalls erst mit zeitlicher Verzögerung den Mittelverbrauch reduzieren, wobei diesbezüglich umstritten ist, ob der Patient dann nicht statt der verhinderten Krankheit eine andere bekommt und deshalb der Rationalisierungsvorteil egalisiert wird. Außerdem setzt eine qualitativ hochwertige Versorgung – notfalls rund um die Uhr – einen Grundstock an Personal voraus, das nur in sehr begrenztem Umfange wegrationalisiert werden kann.16 Versucht man die Effizienzreserven im deutschen Gesundheitswesen trotz dieser Schwierigkeiten zu quantifizieren, kommen ältere Schätzungen auf Beträge zwischen 12 bis 35 Milliarden Euro.17 Aktuellere Berechnungen18 sehen die unrealisierte Effizienzreserve hingegen für das Jahr 2007 lediglich im Bereich zwischen 5,55 bis 9,75 Milliarden Euro, wobei das größte Rationalisierungspotenzial vor allen Dingen bei den Arzneimittelausgaben und im stationären Bereich gesehen wird. Je nach Szenario und Umfang der tatsächlichen Hebung von Rationalisierungsreserven könnte der Beitragssatz um 0,56 bis 1,41 Prozentpunkte gesenkt werden. Bezogen auf die zu erwartenden19 Beitragssätze ein mehr als ernüchterndes Ergebnis. Es zerstört zugleich den letzten Rest an leiser Hoffnung, doch keine allzu schmerzhaften Maßnahmen durchführen zu müssen.
II. Rationierung Mit Sicherheit liegt es gerade an dieser offenbar unabwendbaren Schmerzhaftigkeit von Verteilungsentscheidungen, dass die Politikberatung20 dankbar den neutraleren ökonomischen Begriff der „optimalen Allokation von Gesundheitsleistungen“ in Ihren Wortschatz aufgenommen hat. Andernfalls müsste sie sich des, zumindest im Falle der Vorenthaltung von medizinisch notwendigen Leistungen, durchweg negativ konnotierten Begriffes Rationierung bedienen. Allerdings bedeutet Allokation nichts anderes als zu entscheiden, welches von vielen konkurrierenden Bedürfnissen befriedigt wird, wenn die dazu erforderlichen Ressourcen knapp sind.21 In der Sache läuft es deshalb trotzdem auf das gemeinsame Merkmal aller Definitionen von Rationierung, nämlich das Nichtbefriedigen von Nachfrage nach Gesundheitsleistungen hinaus. 16
Marckmann, GGW Gesundheit und Gesellschaft Wissenschaft 2010 S. 10. Nettesheim, VerwArch 2002 S. 321 Fn. 32 m. w. N. 18 Augurzky/Felder/Tauchmann/Werblow, Effizienzreserven im Gesundheitswesen, 2009, S. 52. 19 Ausführlich dazu: § 2 B. II. 2. b); § 2 C. I. 20 Deutscher Ethikrat, Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011, S. 101. 21 Breyer/Zweifel/Kifmann, Gesundheitsökonomik, 2012, S. 230. 17
B. Begrifflichkeiten
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1. Medizinische Notwendigkeit Die Wohlfahrtsökonomie versteht unter Rationierung den Verzicht auf Grenznutzen stiftende Güter.22 Ähnlich definiert auch das Wissenschaftliche Institut der privaten Krankenversicherung: Rationierung sei eine Nachfrage nach Gesundheitsleistungen, die das Gesundheitssystem nicht befriedige. Wie sich am Beispiel von oftmals privat dazu gekauften Einzelzimmern im Krankenhaus zeige, käme es dabei auf eine medizinische Notwendigkeit der nachgefragten Leistungen nicht an.23 Um Abgrenzungsschwierigkeiten zu Rationalisierungsmaßnahmen sowie die mit dem Begriff Rationierung verbundenen Konnotationen – seien sie nun negativ im Falle der Vorenthaltung von notwendigen Leistungen oder positiv im Falle des Vorenthaltens von nicht notwendigen Leistungen – zu vermeiden,24 definieren auch andere Stimmen im Schrifttum25 Rationierung in ähnlicher Weise. Rationierung im Gesundheitswesen sei demnach die Zuteilung bzw. Verteilung von knappen und begrenzt vorhandenen Gesundheitsgütern sowie pflegerischen und medizinischen Maßnahmen unter der Bedingung, dass die Nachfrage größer als das Angebot ist. Für ein gänzliches Ausklammern der medizinischen Notwendigkeit spricht sicherlich, dass selbige allenfalls annähernd bestimmt werden kann. So ist die Beurteilung der Wirksamkeit und des Nutzens von medizinischen Maßnahmen, also zwei wichtigen Aspekten für Rationalisierung, bisweilen mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden. Eine trennscharfe Abgrenzung von Rationalisierungs- und Rationierungsmaßnahmen wird dadurch erheblich erschwert bis unmöglich gemacht.26 Genauso verhält es sich mit der Frage, ob es sich bei der Nichtvornahme einer Behandlung um ein bewusstes – medizinisch vertretbares – Eingehen eines Risikos oder aber bereits um ein Vorenthalten von Leistungen handelt.27 Allerdings führt ein gänzliches Ausklammern der medizinischen Notwendigkeit aus der Rationierungsdefinition nur zu einer Verlagerung des Abgrenzungsproblems in den Begriff der Nachfrage, da 22 Vgl.
Mankiw/Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 2016, S. 149. Finkenstädt/Niehaus, Rationierung und Versorgungsunterschiede in Gesundheitssystemen, 2013, S. 12. 24 Eichhorn, Gerechte Rationierung durch Einführung einer Prioritätensetzung im deutschen Gesundheitswesen, 2011, S. 109; in diese Richtung auch: Deutscher Ethikrat, Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011, S. 21. 25 Carels/Pirk, Springer Wörterbuch Gesundheitswesen, 2005, S. 202; Eichhorn, Gerechte Rationierung durch Einführung einer Prioritätensetzung im deutschen Gesundheitswesen, 2011, S. 109; Mack Elke, Ethik in der Medizin 2001 S. 21. 26 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 76; Schürch, Rationierung in der Medizin als Straftat, 2000, S. 42. 27 Fuchs, Was heißt hier Rationierung?, in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 49 – 50.; Schürch, Rationierung in der Medizin als Straftat, 2000, S. 41. 23
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dann unklar bleibt, auf wessen Nachfrage es ankommen soll. Stellt man auf den Patienten ab, wird sich dieser regelmäßig auf Grund der bestehenden Informationsasymmetrie der Expertise seines Arztes bedienen, sodass es im Ergebnis doch wieder auf die medizinische Notwendigkeit, angereichert mit Einkommenserzielungsinteressen des Arztes, ankommt. Letzteres gilt natürlich umso mehr, wenn man zur Bestimmung der Nachfrage unmittelbar auf die Ärzteschaft abstellt. Der vermeintliche Gewinn an definitorischer Klarheit wird deshalb um anderer, möglicherweise noch größerer Unklarheiten willen erkauft. Es erscheint deshalb sinnvoller, die medizinische Notwendigkeit ausdrücklich in die Rationierungsdefinition mit aufzunehmen. Damit wird auch ein Gleichlauf zum Recht der gesetzlichen Krankenversicherung hergestellt. Denn dort haben die Versicherten nur Anspruch auf Leistungen die zweckmäßig (§ 12 SGB V), das heißt objektiv geeignet sind, das Ziel zu erreichen. Nicht zweckmäßig sind insbesondere Maßnahmen, die zweckwidrig, überflüssig oder gar sinnlos sind.28 Eine medizinische Notwendigkeit wird also vorausgesetzt, sodass Rationierung zum Zwecke der Sanierung der GKV-Finanzen zwangsläufig die Vorenthaltung von medizinisch notwendigen Leistungen voraussetzt. 2. Bewusstes Vorenthalten aus Knappheitsgründen Von medizinischer Warte aus betrachtet kommt es dabei in der Tat nicht darauf an, ob die Vorenthaltung bewusst oder unbewusst erfolgt.29 Das medizinische Ergebnis ändert sich allenfalls aufgrund eines Nocebo-Effektes. Vorausgesetzt der Patient ist über die bewusste Vorenthaltung informiert, könnte er aufgrund der unterbliebenen Behandlung eine Verschlechterung seines Gesundheitszustandes erwarten, die dann allein wegen dieser Erwartungshaltung auch eintritt. Aus juristischer Sicht führt eine unbewusste Vorenthaltung jedoch zu vermeidbaren Abgrenzungsschwierigkeiten, zu fahrlässig begangenen Behandlungsfehlern. Diese könnten zwar durch eine Erweiterung der Rationierungsdefinition um das Merkmal „aus Knappheitsgründen“30 zu einem Großteil wieder beseitigt werden. Denn dann wird eine bewusste Auseinandersetzung mit den Gründen für die Vorenthaltung erforderlich. Andererseits dient dieses Merkmal primär dazu, Leistungsbeschränkungen aus ethischen, religiösen, wirtschaftlichen oder ande28
BSGE 52, 70 (74); 70, 24 (27). Fuchs, Was heißt hier Rationierung?, in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 43. 30 So zum Beispiel: Fuchs, Was heißt hier Rationierung?, in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 43; Raspe, Priorisierung medizinischer Leistungen: von der Theorie zur Praxis, in: Schöne-Seifert/ Buyx/Ach (Hrsg.), Gerecht behandelt?, 2006, S. 110; Schürch, Rationierung in der Medizin als Straftat, 2000, S. 37. 29
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ren Gründen auszuschließen. Aus Klarstellungsgründen sollte ein „bewusstes Vorenthalten“ deshalb ausdrücklich aufgenommen werden. 3. Gesundheitsleistungen Schließlich gilt es noch zu klären, welche Gesundheitsleistungen vom Rationierungsbegriff erfasst sind. Mit Verweis auf den Brockhaus wurde Mitte der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts von Teilen der Literatur31 unter Rationierung allein die Zuteilung von lebenswichtigen medizinischen Gütern und Dienstleistungen verstanden. Das ist zu eng. Zum einen werden zulasten der GKV nicht nur lebenswichtige medizinische Güter erbracht, sodass wiederum kein wünschenswerter Gleichlauf zur GKV bestünde. Zum anderen wird auch von den Vertretern32 dieses engen Rationierungsbegriffes ein offener Diskurs über Rationierung und ihre Kriterien gefordert. Beschäftigt man sich im Rahmen dessen nur mit der typischerweise stark zugespitzten Situation bei lebenswichtigen Gütern, läuft man Gefahr, falsche Schwerpunkte zu setzen. Schließlich begünstigt ein enger Rationierungsbegriff auch das Entstehen von Schutzlücken. Denn wo per definitionem nicht rationiert wird, entsteht auch kein Rechtfertigungsdruck. Häufig sollen Leistungen vorenthalten werden, die einen positiven Effekt auf die Lebensqualität bzw. die Lebenserwartung von Patienten haben33 bzw. für diese von (unbestrittenem) Nutzen34 sind. Andere35 hingegen sprechen treffender von potenziell hilfreichen medizinischen Maßnahmen. Dabei ist jedoch stets zu berücksichtigen, dass medizinisch notwendige Maßnahmen immer darauf abzielen, einen positiven Effekt auf die Lebensqualität bzw. die Lebenserwartung von Patienten zu haben. Daneben handelt es sich bei medizinischen Maßnahmen aufgrund der Vielgestaltigkeit der Krankheitsbilder bzw. der Pati31 Beske, Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 73. 32 Beske, Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 71. 33 Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Höfling (Hrsg.), Der Schutzauftrag des Rechts, 2011, S. 158 Fn. 21; Marckmann, GGW Gesundheit und Gesellschaft Wissenschaft 2010 S. 11; Sachverständigenrat für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, Bedarf, bedarfsgerechte Versorgung, Über-, Unter- und Fehlversorgung im Rahmen der deutschen gesetzlichen Krankenversicherung, Herleitung grundlegender Begriffe – Arbeitspapier, 2000, S. 5; Schürch, Rationierung in der Medizin als Straftat, 2000, S. 37. 34 Raspe, Priorisierung medizinischer Leistungen: von der Theorie zur Praxis, in: Schöne-Seifert/Buyx/Ach (Hrsg.), Gerecht behandelt?, 2006, S. 110; Schürch, Rationierung in der Medizin als Straftat, 2000, S. 37 m. w. N. 35 Brock, Ethische Probleme von Kosten-Effektivitäts-Analysen bei der Priorisierung von Ressourcen im Gesundheitswesen, in: Schöne-Seifert/Buyx/Ach (Hrsg.), Gerecht behandelt?, 2006, S. 183.
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enten immer nur um einen Heilungs- bzw. Linderungsversuch. Folglich kann es sich auch immer nur um potenziell hilfreiche Maßnahmen handeln. Es lässt sich deshalb sagen, dass die genannten Definitionsmerkmale bereits allesamt in der medizinischen Notwendigkeit enthalten sind. Aus Klarstellungsgründen ist eine ausdrückliche Aufnahme freilich zu begrüßen. Damit muss eine Rationierungsdefinition die Merkmale des bewussten, aus Knappheitsgründen erfolgenden Vorenthaltens von medizinisch notwendigen und potenziell hilfreichen Gesundheitsleistungen trotz Nachfrage enthalten.
III. Priorisierung Wer allerdings finanzielle Mittel einer medizinisch sinnvollen Verwendung vorenthält, sollte wissen, wo sie aus welchem Grunde besser eingesetzt werden können. Es gilt deshalb, die konkurrierenden Mittelverwendungen relativ zu gewichten und auf diese Weise Prioritäten zu setzen. Technisch kann dies in Form von Listen erfolgen, auf denen die zur Verfügung stehenden Mittel einer Verwendungsmöglichkeit zugeordnet werden. Dabei besteht unter den Verwendungsmöglichkeiten ein Rangverhältnis.36 Niederrangigere Verwendungsmöglichkeiten kommen deshalb erst zum Zuge, wenn sämtliche höherrangigen Verwendungsmöglichkeiten realisiert wurden. Am oberen Ende der Skala steht dabei, was nach Datenlage und fachlichem wie öffentlichem Konsens als unverzichtbar erscheint; am Ende das, was wirkungslos ist bzw. mehr schadet als nützt. Neben Untersuchungs- und Behandlungsmethoden lassen sich auch Krankheitsfälle, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungsziele und vor allem Indikationen, d. h. Verknüpfungen bestimmter gesundheitlicher Problemlagen mit zu ihrer Lösung geeigneten Leistungen priorisieren.37 Priorisierung lässt sich somit als die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, Indikationen, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungszielen sowie Krankheitsfällen vor anderen definieren.38 Je nachdem, ob 36 Wohlgemuth/Alber/Bayerl/Freitag, Die DFG Forschergruppe FOR655: Priorisierung in der Medizin: Eine theoretische und empirische Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Gesetzlichen Krankenversicherung, in: Wohlgemuth/Freitag (Hrsg.), Priorisierung in der Medizin, 2009, S. 4 – 5. 37 ZEKO Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Langfassung, 2007, S. 3. 38 Raspe, Priorisierung medizinischer Leistungen: von der Theorie zur Praxis, in: Schöne-Seifert/Buyx/Ach (Hrsg.), Gerecht behandelt?, 2006, S. 109; ZEKO Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Langfassung, 2007, S. 3, wobei sich erst aus dem Zusammenhang ergibt, dass nicht nur Untersuchungs- und Behandlungsmethoden Priorisierungsgegenstand sein können.
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man sich innerhalb oder außerhalb eines abgegrenzten Versorgungsbereiches bewegt, kann man zwischen vertikaler und horizontaler Priorisierung differenzieren. Vertikal bezeichnet dabei Priorisierungen innerhalb eines Versorgungsbereiches, wie beispielsweise des Bereiches der Stoffwechselkrankheiten. Außerhalb eines Versorgungsbereiches spricht man hingegen von horizontaler Priorisierung, bei der z. B. unterschiedliche Krankengruppen priorisiert werden können. Tendenziell sind die Entscheidungen über vertikale Priorisierung eher medizinische, die Entscheidungen über horizontale Priorisierung hingegen eher politische.39 Priorisierung geht jedoch zwangsläufig mit Posteriorisierung40, also dem wenigstens vorübergehenden Vorenthalten von medizinisch notwendigen Leistungen trotz Nachfrage einher. Deshalb handele es sich, so einige Kritiker, um einen semantischen Trick, der im Ergebnis doch auf Rationierung hinausliefe.41 Dem ist zwar zuzugeben, dass Priorisierung zur Vorbereitung von Leistungseinschnitten dienen kann und soll. Dennoch gilt es, zwischen Priorisierung und Rationierung zu differenzieren.42 Priorisierung ist nämlich selbst dann sinnvoll, wenn es im Ergebnis nicht zur Rationierung kommt. Regelmäßig dürften nämlich einmal getroffene Priorisierungsentscheidungen eine höhere Beständigkeit aufweisen als ein Konjunkturzyklus. Leistungen, die aktuell aufgrund der Abhängigkeit der Einnahmen der GKV vom Faktor Arbeit in guten wirtschaftlichen Zeiten durchaus erbracht werden können, könnten in wirtschaftlich schlechteren Zeiten nicht mehr bezahlbar sein. Das Gleiche gilt sinngemäß für Leistungen, die in einer Triagesituation, in Ermangelung geeigneten Personals bzw. dessen limitierter Arbeitszeit, vorübergehend nicht erbracht werden können. Um für diese relativ kurzfristig eintretenden Situationen gewappnet zu sein, müssen die Prioritäten bereits gesetzt sein. Ähnlich verhält es sich, wenn beispielsweise aufgrund einer 39
Welti, MedR 2010 S. 381. Terminologie ist uneinheitlich beispielsweise sprechen Wenner, GesR 2009 S. 170 und Lübbe, Deutsches Ärzteblatt 2010, S. 2084 von Posterisierung während Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Höfling (Hrsg.), Der Schutzauftrag des Rechts, 2011, S. 159 Fn. 21 und ZEKO Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Langfassung, 2007, S. 3 den Begriff Posteriorisierung verwenden. Letzteres erscheint treffender, da der Duden Posteriorität als einen veralteten Ausdruck für einen niedrigeren Rang bezeichnet. Zudem ist Posterisierung auch ein Fachbegriff aus der Mediengestaltung. 41 Duttge, Rationierung im Gesundheitswesen: Auf der Suche nach der Verteilungsgerechtigkeit, in: Duttge/Dochow/Waschkewitz u. a. (Hrsg.), Recht am Krankenbett – Zur Kommerzialisierung des Gesundheitssystems, 2009, S. 160; Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Höfling (Hrsg.), Der Schutzauftrag des Rechts, 2011, S. 159 Fn. 21; Rixen, Rationierungen im Leistungsrecht, in: Fischer/ Meyer (Hrsg.), Gesundheit und Wirtschaftswachstum, 2010, S. 53; Wenner, GesR 2009 S. 170. 42 Janda, NZS 2013, S. 541. 40 Die
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Prozessinnovation finanzielle Mittel in erheblichem Umfange frei werden, die dann gebündelt für einen vorher festgelegten Zweck verwendet werden können. Außerdem können Effizienzreserven gehoben werden, indem unnütze Interventionen oder marginal wirksame Behandlungen – also weder medizinisch notwendige, noch potenziell hilfreiche Gesundheitsleistungen – posteriorisiert und damit ausgeschlossen werden.43 Schließlich kann der Einzelne nur dann privat vorsorgen, wenn ihm ex ante klar ist, was ihm vorenthalten werden könnte. Priorisierung ohne anschließend erfolgende Rationierung macht deshalb durchaus Sinn und muss keineswegs zwingend zu Rationierung führen. Insofern erscheint es zur Beantwortung der Frage, ob Posteriorisierung synonym mit Rationierung verwendet werden kann, sinnvoll danach zu differenzieren44, ob Leistungen endgültig oder dauerhaft vorenthalten werden. Dabei sollte keine ex post, sondern eine ex ante Betrachtung vorgenommen werden. Konsequenterweise muss dann aber auch das endgültige Vorenthalten als Merkmal in die Rationierungsdefinition aufgenommen werden. Unabhängig davon, ob Posteriorisierung im Einzelfall synonym zu Rationierung verwendet werden kann, kann man aber nicht ernsthaft das Führen eines offenen politischen Diskurses über Rationierungen bzw. Priorisierungen erwarten, wenn man sich nicht der Sprache derjenigen bedient, die ihn führen sollen. So ist das politische Tagesgeschäft reich an Euphemismen, die unangenehme Wahrheiten rhetorisch abzumildern suchen. Problematisch wird dies erst dann, wenn die Sachdiskussion darunter leidet.
IV. Definitionen Gerade dieser Aspekt macht deutlich, dass die angestellten Überlegungen zur Rationierungsdefinition keinen Anspruch darauf erheben, Antworten auf Grundlagenfragen zu geben. Vielmehr weisen sie – im Gegensatz zu vielen anderen der verwendeten Definitionen – einen spezifischen Bezug auf das deutsche System der GKV sowie den in der Bundesrepublik Deutschland vorherrschenden Wert- und Moralvorstellungen auf.45 In Schweden, dem Vereinigten Königreich oder den Vereinigten Staaten von Amerika geht man schon allein aus historischen Gründen deutlich unbefangener mit derartigen Begrifflichkeiten und Fragestellungen um. Vor allen Dingen erscheint es jedoch wenig sinnvoll, den Besonderheiten der einzelnen zu sanierenden Gesundheitssystemen, nicht auch bei der Begriffsdefinition einzelner Sanierungskonzeptionen Rechnung zu tragen. Verwiesen sei hier nur auf das in Deutschland wegen § 12 SGB V deklaratorischen 43 Eichhorn, Gerechte Rationierung durch Einführung einer Prioritätensetzung im deutschen Gesundheitswesen, 2011, S. 116. 44 Welti, MedR 2010 S. 381. 45 Vgl. Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Höfling (Hrsg.), Der Schutzauftrag des Rechts, 2011, S. 159.
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Definitionsmerkmals der medizinischen Notwendigkeit, dem andernorts konstitutive Bedeutung zukäme. Für die folgende Betrachtung wird Rationalisierung, Rationierung und Priorisierung deshalb wie folgt definiert: Rationalisierung ist jede Maßnahme, die darauf abzielt, bei gleichbleibendem finanziellen Aufwand das Versorgungsniveau zu erhöhen oder bei geringerem finanziellen Aufwand das Versorgungsniveau zu halten. Rationierung ist das bewusste, aus Knappheitsgründen erfolgende, dauerhafte Vorenthalten von medizinisch notwendigen und potenziell hilfreichen Gesundheitsleistungen trotz Nachfrage. Priorisierung ist die ausdrückliche Feststellung einer Vorrangigkeit bestimmter Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, Indikationen, Kranken- und Krankheitsgruppen, Versorgungszielen sowie Krankheitsfällen vor anderen.
C. Entscheidungsebenen Da verschiedene Akteure auf hierarchisch unterschiedlichen Ebenen mit der Bereitstellung und Verteilung von Gesundheitsleistungen befasst sind, werden Rationierungs-, Rationalisierungs- sowie Priorisierungsentscheidungen nicht zentral, sondern auf verschiedenen Ebenen getroffen. Deshalb ist es erforderlich, die verschiedenen Allokationsebenen zu systematisieren. Denn dann sind bestehende Abhängigkeiten und wirkende Mechanismen besser oder überhaupt zu erkennen bzw. einzuordnen. Sind die Verhältnisse und Einflussmöglichkeiten der einzelnen Akteure untereinander geklärt, fällt es auch deutlich leichter festzustellen, wer für eine getroffene Entscheidung verantwortlich ist und welchen Restriktionen er dabei unterliegt.
I. Engelhardts vier Diskussionsebenen Zur Systematisierung wird dabei häufig46 auf das von dem nordamerikanischen Philosophen und Arzt Herman Tristram Engelhardt47 entwickelte Modell der vier Diskussions- bzw. Allokationsebenen zurückgegriffen. Auf dessen erster und oberster Stufe der Makroallokation wird die Entscheidung darüber getroffen, welchen Anteil am Bruttosozialprodukt des jeweiligen Landes das gesamte Gesundheitswesen haben soll. Die auf diese Weise bestimmte Finanzausstattung 46 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 80 – 81; Taupitz, Gesundheitsversorgung bei Ressourcenknappheit, in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 96. 47 Engelhardt, The Foundations of Bioethics, 1996, S. 387 – 391; Engelhardt, Zielkonflikte in nationalen Gesundheitssystemen, in: Sass (Hrsg.), Ethik und öffentliches Gesundheitswesen, 1988, S. 41 – 42.
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wird anschließend auf der zweithöchsten Makroallokationsstufe auf die verschiedenen Zweige innerhalb des Gesundheitswesens verteilt. Beispielsweise wird dort festgelegt, welche Beträge für Forschung, Heilbehandlung, Arzneimittel oder Rehabilitation zur Verfügung stehen sollen. Auf der oberen Mikroallokationsebene, der dritten Stufe, werden Kriterien festgelegt, anhand derer medizinische Leistungen an bestimmte Patientengruppen verteilt werden. Zu nennen sind hier insbesondere Alterskohorten, medizinische Indikationen, Krankheitsarten oder soziale Kriterien. Vollzogen werden die so determinierten Entscheidungen dann von Ärzten und anderen Leistungserbringern auf vierter und letzter Ebene, der Ebene der unteren Mikroallokation.
II. Dreistufiges Mesoebenenkonzept Besser werden die Besonderheiten des deutschen Gesundheitswesens jedoch mit dem, im Vordringen48 befindlichen, dreistufigen Modell abgebildet. Die oberste Ebene, die sogenannte Makroebene, besteht dabei aus staatlichen Akteuren und weist mit der supranationalen, nationalen, föderalen und kommunalen Ebene ihrerseits vier Hierarchiestufen auf. Auf diesen wird das Verhalten der untergeordneten Ebenen durch Gesetze und Verordnungen sowie der Überwachung des Vollzugs derselben geregelt. Der Makroebene untergeordnet ist die, für das deutsche Gesundheitswesen charakteristische, aus korporatistischen und freien Verbänden bestehende Mesoebene. Beide Verbandstypen sind Interessenvertreter ihrer jeweiligen Mitglieder gegenüber dem Staat. Korporatistische Verbände regulieren zusätzlich das Verhalten ihrer Mitglieder durch den Erlass von untergesetzlichen Normen wie den Berufsordnungen und haben oftmals den Status einer öffentlich-rechtlichen Körperschaft. Zu nennen sind hier insbesondere die gesetzlichen Krankenkassen, die Kassenärztlichen Vereinigungen, der GKV Spitzenverband oder der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA).49 Da sich der Staat auf der Makroebene oftmals darauf beschränkt, ausfüllungsbedürftige Rahmenvorschriften zu erlassen, geht eine Vielzahl der zahlreichen Vorschriften für Ärzte, Versicherte, Krankenhäuser und Krankenkassen auf die Mesoebene zurück. Exemplarisch sei hier nur auf die bereits angesprochenen50 Richtlinien des GBA oder aber auf die Verträge zur Durchführung strukturierter Behandlungsprogramme, die sogenannten DMPs (Disease Management Programmen), verwiesen. Durch 48 Eichhorn, Gerechte Rationierung durch Einführung einer Prioritätensetzung im deutschen Gesundheitswesen, 2011, S. 73 – 95; Gerlinger/Noweski, Institutionen und Akteure im Gesundheitswesen. Expertise für die Bundeszentrale für politische Bildung vom 01. 07. 2007, 2007, S. 1; Gutmann/Schmidt, Einleitung, in: Gutmann/Schmidt (Hrsg.), Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, 2002, S. 14. 49 Simon, Das Gesundheitssystem in Deutschland, 2017, S. 66 – 68. 50 Dazu bereits: § 2 E. II.
C. Entscheidungsebenen
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die konkrete Ausgestaltung der gesetzlichen Rahmenvorgaben prägt vor allem die Mesoebene die Versorgungsrealität auf der Mikroebene. Diese unterste Hierarchieebene besteht aus den Anbietern und Nachfragern nach Gesundheitsleistungen, die auf Grundlage der auf der Makro- und Mesoebene festgelegten, verbindlichen Bestimmungen erbracht bzw. in Anspruch genommen werden.51
III. Postulat der höchsten Entscheidungsebene Unabhängig davon, ob man dem vier- oder dem, die GKV Realität besser abbildenden, dreistufigen Konzept den Vorzug gibt, sollten Verteilungsentscheidungen unter Offenlegung der Verantwortlichkeit auf möglichst hoher Allokationsebene getroffen werden.52 Denn dadurch wird die, auf der Mikroebene bestehende Vertrauensbeziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten von Verteilungsentscheidungen entlastet. Der Arzt vollzieht dann nur noch Entscheidungen, die auf höherer Ebene getroffen wurden und kann auf höhere Instanzen verweisen, wenn Leistungen vorenthalten werden. Der Patient hingegen hat die Gewissheit, dass er weder bei einem anderen Arzt noch beim selben Arzt als anderer Patient die vorenthaltene Leistung erhält. Intransparente, diskretionäre Verteilungsentscheidungen, resultierend aus unterschiedlichen ethischen Vorstellungen, dem subjektiven Gerechtigkeitsempfinden oder der Furcht vor Sanktionen bei Überschreiten des Budgets der jeweiligen Ärzte, werden erschwert. Zudem fallen indirekte, anonyme Verteilungsentscheidungen in einem institutionellen Rahmen auf höherer Ebene deutlich leichter, als wenn man es auf der Mikroebene nicht mehr mit dem Leben in einem statistischen Sinne zu tun hat, sondern dieses ein konkretes Gesicht bekommen hat.53 Befragt man im Rahmen einer Studie leitende Klinikärzte hierzu, ergibt sich ein ambivalentes Bild. Einerseits befürworten drei Viertel der Befragten Verteilungsentscheidungen auf höherer Ebene. Andererseits sind knapp über die Hälfte auch der Meinung, der Arzt sollte jeweils im Einzelfall Zuteilungsverantwortung übernehmen. Erklären lässt sich dieses widersprüchliche Verhalten damit, dass sich die Ärzte einen möglichst großen Entscheidungsspielraum erhalten wollen, 51
Gerlinger/Noweski, Institutionen und Akteure im Gesundheitswesen. Expertise für die Bundeszentrale für politische Bildung vom 01. 07. 2007, 2007, S. 1. 52 Engelhardt, The Foundations of Bioethics, 1996, S. 389 – 390; Janda, NZS 2013, S. 541; Marckmann, Alter als Verteilungskriterium in der Gesundheitsversorgung, in: Schöne-Seifert/Buyx/Ach (Hrsg.), Gerecht behandelt?, 2006, S. 176; Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2015, S. 216 – 217; Taupitz, Gesundheitsversorgung bei Ressourcenknappheit, in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 97. 53 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 81 – 82; Schöne-Seifert, Was sind „gerechte“ Verteilungskriterien?, in: Mohr (Hrsg.), Ethik der Gesundheitsökonomie, 1992, S. 44.
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was aber nur möglich ist, wenn sie selbst Verantwortung übernehmen.54 In jedem Falle vermögen die höheren Ebenen bisweilen lediglich eine Grobsteuerung vorzunehmen, sodass die Verteilungsentscheidung unter Umständen dann doch wieder auf der Mikroebene vom behandelnden Arzt getroffen werden muss. Beispielsweise kann die Dringlichkeit einer Behandlung oder die Therapietreue des Patienten zwar auf höchster Ebene als Verteilungskriterium festgelegt werden, ob es dann aber im konkreten Fall erfüllt ist, kann nur vom Arzt vor Ort entschieden werden.55 Es sollte jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass es sich hier um reine Tatsachenfragen handelt, die schon lange von Ärzten beantwortet werden, ohne dass das Vertrauensverhältnis bisher nachhaltig Schaden genommen hätte. Im Rahmen von Versicherungsanfragen zum Beispiel kommt der Einschätzung des Arztes für die Gewährung von Versicherungsschutz bzw. Versicherungsleistungen eine überragende Bedeutung zu. In jedem Falle ist die, mit der Beurteilung derartiger Tatfragen verbundene Unbestimmtheit auf Tatbestandsebene, gänzlich intransparenten Verteilungsentscheidungen vorzuziehen.
D. Rationierung am Krankenbett Gänzlich intransparent meint dabei unbestimmt sowohl auf Tatbestands- als auch auf Zuteilungsseite. Bedauerlicherweise begünstigt der legislative Rahmen der GKV derartige Entscheidungen. Es scheint politisch gewollt, dass Verteilungsentscheidungen tendenziell eher auf der Mikroebene durch die behandelnden Ärzte getroffen werden, ohne dass diesen klare Verteilungskriterien an die Hand gegeben werden. Anstelle dessen wird wirtschaftlicher Druck ausgeübt. Beispielsweise werden ambulant tätigen Ärzten finanzielle Budgets zugewiesen, bei deren Überschreiten sie im Extremfall existenzvernichtende finanzielle Sanktionen fürchten müssen. Nicht von ungefähr haben die Delegierten des Deutschen Ärztetags allein die Angst vor einem solchen Regress als Haupthindernis für die derzeitige Niederlassungsunwilligkeit jüngerer Kollegen identifiziert.56 Es ist deshalb wenig überraschend, dass die Betroffenen einen empirisch belegbaren57 starken Anreiz haben, ihr Budget nicht zu überschreiten bzw. nach anderen Möglichkeiten suchen, ihr Risiko zu minimieren. 54 Strech/Freyer/Börchers/Neumann/Wasem/Krukemeyer/Marckmann, Gesundheitsökonomisches Qualitätsmanagement 2009, S. 40. 55 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 83; Fuchs, MedR 1993, S. 325 – 326; Taupitz, Gesundheitsversorgung bei Ressourcenknappheit, in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 97. 56 Bundesärztekammer, 116. Deutscher Ärztetag beendet – Zusammenfassung I, Pressemitteilung vom 31. 05. 2013, S. 1. 57 Kuhlmann, Zwischen zwei Mahlsteinen, in: Feuerstein/Kuhlmann (Hrsg.), Rationierung im Gesundheitswesen, 1998, S. 70.
D. Rationierung am Krankenbett
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Konkret geschieht dies durch das Vorenthalten von medizinisch indizierten Leistungen oder der Auswahl von suboptimalen, dafür aber budgetentlastenden Diagnose- oder Behandlungsmethoden. Positiv formuliert trifft der einzelne Arzt somit Verteilungsentscheidungen auf Basis seines subjektiven Gerechtigkeitsempfindens und seiner individuellen ethisch-moralischen Vorstellungen. Das kann zu diametral entgegengesetzten Bewertungen ein und desselben Sachverhaltes führen. Während der eine Arzt zur raschen Wiederherstellung von Arbeitsfähigkeit bei einem jungen Patienten Maximalmengen an physiotherapeutischen Behandlungen verordnet, kann ein anderer Arzt eine einmalige Anleitung für ausreichend erachten. Ein junger Patient kann schließlich selber üben und die eingesparten Mittel können anderweitig – nach Auffassung des Arztes sinnvoller – verwendet werden. Mehr Dramatik erhalten solche Entscheidungen bei lebenserhaltenden Maßnahmen wie Dialysebehandlungen oder Herzoperationen. Regelmäßig versteckt sich der Arzt spätestens hier hinter der Indikation, indem er dem Patienten zum Beispiel versichert, er würde die Operation bzw. die zu erwartenden Komplikationen nicht überleben. Wahlweise alternativ oder kumulativ kann der Behandlungsbedarf auch durch eine Absenkung des medizinischen Standards wegdefiniert werden. In der Sache läuft es in beiden Fällen darauf hinaus, dass der Patient über die wahren Gründe der Leistungsvorenthaltung aus vermeintlicher Barmherzigkeit heraus, angelogen wird.58 Es kommt zu verdeckter Rationierung, die sich – im Gegensatz zu offener Rationierung – durch intransparente Zuteilungskriterien und eine Verschleierung der Rationierung auszeichnet.59 Vorschub wird einer verdeckten Rationierung in der GKV auch durch die technische Umsetzung der Budgetierung geleistet. Diese erfolgt oftmals nicht ex ante auf Makro- oder Mesoebene durch das Zuweisen eines bestimmten Geldbetrages, sondern durch eine nachträgliche Überprüfung der Leistungserbringung bzw. Leistungsveranlassung im Rahmen von Wirtschaftlichkeitsprüfungen (§§ 106, 113 SGB V). Nicht selten sieht sich der Leistungserbringer deshalb nur ex post mit dem Vorwurf der unwirtschaftlichen Leistungserbringung bzw. Leistungsveranlassung konfrontiert, da das zur Verfügung stehende Budget beispielsweise abhängig von der Gesamtfallzahl des Leistungserbringers im Prüfzeitraum ist. Der einzelne Leistungserbringer hat deshalb nur begrenzten Einfluss auf die 58 Gäfgen, Die ethische Problematik von Allokationsentscheidungen – am Beispiel des Ressourceneinsatzes im Gesundheitswesen, in: Enderle (Hrsg.), Ethik und Wirtschaftswissenschaft, 1985, S. 272; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992, S. 67 – 68. 59 Fuchs, Was heißt hier Rationierung?, in: Nagel/Fuchs (Hrsg.), Rationalisierung und Rationierung im deutschen Gesundheitswesen, 1998, S. 44. Der Deutsche Ethikrat bezeichnet diese Situation in: Deutscher Ethikrat, Nutzen und Kosten im Gesundheitswesen – Zur normativen Funktion ihrer Bewertung, Stellungnahme, 2011, S. 22, als indirekte Rationierung. Da der Begriff im Folgenden wie auch im Übrigen eine andere Form der Rationierung beschreibt, erscheint der verwendete Begriff „verdeckt“ vorzugswürdig.
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Höhe seines Budgets. Je nach verwendeter Prüfmethode kann darüber hinaus auch das Verordnungs- bzw. Abrechnungsverhalten der Fachgruppe im Prüfzeitraum entscheidend sein, was es dem Überprüften zusätzlich erschwert, ex ante wirtschaftlich zu handeln. In Ermangelung konkreter institutioneller Vorgaben zur Ressourcenverwendung bleibt ihm deshalb nichts anderes übrig, als präventiv verdeckt zu rationieren. Man mag es moralisch und ethisch fragwürdig finden, dass zumindest Teile eines Berufsstandes, der sich gerne mit dem Attribut des altruistischen Helfers schmückt, aus ökonomischen Zwängen heraus, seine Ideale ein Stück weit verraten zu haben scheint. Allerdings muss man sich den notwendigen Idealismus unter dem Damoklesschwert der Vernichtung der eigenen wirtschaftlichen Existenz durch Wirtschaftlichkeitsprüfungen erst einmal leisten können. Da angestellte Ärzte allenfalls mittelbar in Form von Weisungen ihres Arbeitgebers betroffen sind und auch nur gegen ein Prozent60 ihrer selbstständigen Kollegen tatsächlich ein Regress festgesetzt wird, scheint die durch Wirtschaftlichkeitsprüfungen drohende Gefahr objektiv überschätzt zu werden. Das gilt nicht zuletzt auch deswegen, weil die gesetzlichen Regelungen in der Tendenz gegenwärtig eher abgemildert als verschärft werden.61 Allein die Angst, entsprechend sanktioniert zu werden, verfehlt ihre Wirkung jedoch nicht. Zudem verheißt die künftige große Finanzierungslücke der GKV nichts Gutes. Es steht vielmehr zu befürchten, dass der Druck auf die Leistungserbringer sogar zunehmen muss, wenn weiterhin versucht werden soll mit verdeckt wirkenden Rationierungsmaßnahmen den GKV-Haushalt zu sanieren. Die Folgen wären fatal, da die bereits jetzt rege praktizierte, direkte verdeckte Rationierung doch großes, wenn nicht sogar größtes Problem- und Konfliktpotenzial in sich birgt.
I. Folgen verdeckter Rationierung Verdeckte Rationierung führt im Zusammenspiel mit der zwischen Arzt und Patient typischerweise bestehenden großen Informationsasymmetrie regelmäßig dazu, dass der Patient im Ungewissen über die vorenthaltene Leistung belassen wird. Oftmals dürfte ihm überhaupt nicht klar sein, dass ihm etwas vorenthalten wird. Grundsätzlich bestehende Möglichkeiten, die vorenthaltene Leistung anderweitig zu beschaffen bzw. eine entsprechende Zusatzversicherung abzuschließen, laufen deshalb von vorneherein leer.62 Dass es sich hierbei um kein 60
Korzilius, Deutsches Ärzteblatt 2011, A 984. beispielsweise durch die Regionalisierung der Wirtschaftlichkeitsprüfungen durch das GKV-Versorgungsstärkungsgesetz (GKV-VSG), dazu: BT-Drs. 18/4059 S. 63 – 64. 62 Gutmann/Schmidt, Einleitung, in: Gutmann/Schmidt (Hrsg.), Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, 2002, S. 24. 61 Zuletzt
D. Rationierung am Krankenbett
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akademisches Problem handelt, zeigt die empirisch belegbare63 Bereitschaft, Zuzahlungen für eine bessere Behandlung zu leisten sowie der große Erfolg von Zusatzversicherungen. Beispielsweise verfügt im Zahnersatzbereich seit der Umstellung auf befundorientierte Festzuschüsse (§ 55 SGB V) – einer offenen Rationierungsmaßnahme – knapp jedes dritte Kassenmitglied über eine solche Police. Daneben erfreuen sich auch Krankentagegeldversicherungen zur Absicherung von Einkommensverlusten sowie Versicherungen zur Verbesserung der ambulanten und stationären Versorgung zunehmender Beliebtheit.64 Gleichzeitig mit der Gesundheitsleistung wird den Versicherten bei verdeckter Rationierung zudem effektiver Rechtsschutz vorenthalten, da sie ihren Leistungsanspruch (§ 11 SGB V) in Unkenntnis der Vorenthaltung nicht durchzusetzen vermögen.65 Abgeschwächt wird dieser Effekt zwar in gewissem Umfang durch das gewandelte Arzt-Patienten-Verhältnis, weg vom wohlmeinenden paternalistischen Rollenverständnis des Arztes, hin zum mündigen, gut informierten Patienten. In aller Regel wird jedoch nur der gebildete, eloquente Patient die Methodenwahl seines Behandlers kritisch hinterfragen und somit seine Interessen wahren. Eine britische Interviewstudie belegt diesen Befund empirisch und bringt die Problematik wie folgt auf den Punkt: „Those that shout the loudest get the most.“66 Verdeckte Rationierung birgt deshalb auch die Gefahr sozialer Selektion Vorschub zu leisten, indem die ohnehin schon gesünderen Gebildeten bevorzugt werden. Verdeckt rationiert wird dabei zudem durch Ärzte, also Personen, die hierzu in keinerlei Weise legitimiert sind. Schließlich verhindern die für eine verdeckte Rationierung notwendigen, barmherzigen Lügen einen gesellschaftlichen Diskurs über mehr Kontrolle und Nachvollziehbarkeit der Verteilungsentscheidungen. Funktionslos sind barmherzige Lügen indes keineswegs. Es lässt sich sogar sagen, dass sie bisweilen anerkennenswerte Ziele verfolgen, wenn sie fundamentale gesellschaftliche Wertvorstellungen von der Unersetzlichkeit und Unabwägbarkeit des einzelnen menschlichen Lebens aufrechterhalten.67 Sie haben auch wesentliche 63 Kuhlmann, Zwischen zwei Mahlsteinen, in: Feuerstein/Kuhlmann (Hrsg.), Rationierung im Gesundheitswesen, 1998, S. 51. 64 Gothaer Krankenversicherung AG/F.A.Z.-Institut für Management-, Markt- und Medieninformationen GmbH, Kundenkompass Zusatzversicherungen, Aktuelle Versichertenbefragung; Markttrends: Reformen, Kürzung der Kassenleistungen; Vorsorgeziele: Zahnersatz, ambulante Behandlungen; Vertriebswege: Arbeitgeberofferte ergänzt Kassenangebot, 2007, S. 4. 65 Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2015, S. 216 – 217. 66 Berney/Kelly/Doyal/Feder/Griffiths/Jones, The British Journal of General Practice 2005, S. 624. 67 Brech, Triage und Recht, 2008, S. 89; a. a. O., S. 209 – 256; Gäfgen, Die ethische Problematik von Allokationsentscheidungen – am Beispiel des Ressourceneinsatzes im
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§ 3 Rationierung, Rationalisierung und Priorisierung
Auswirkungen auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, da sie das traditionelle, einzig dem Wohle des Patienten verpflichtete Bild des helfenden Heilers nicht infrage stellen.68 Außerdem ist es für den Patienten tröstlicher, sich der Illusion hingeben zu können, dass er mangels medizinischer Möglichkeiten und nicht wegen zu geringer Finanzausstattung sterben muss. Fragt man Leistungserbringer, ob und wenn ja wie häufig Gesundheitsleistungen in ihrer täglichen Praxis rationiert werden, antworten – je nach Umfrage – 67%69 bis 73,1%70, dass bereits heute rationiert wird. Einer repräsentativen Befragung von 507 stationär tätigen Kardiologen und Intensivmedizinern zu Folge haben drei Viertel71 der Befragten innerhalb des letzten halben Jahres medizinisch notwendige Leistungen aus Knappheitsgründen vorenthalten. Mehr als einmal pro Woche enthielten aber nur 13%72 der Studienteilnehmer Leistungen vor. Insofern scheint verdeckte Rationierung ein verbreitetes, wenn auch noch nicht sehr häufiges Phänomen zu sein. Vor allen Dingen belastet werden allerdings die Schwächsten in der Gesellschaft. Alte, Behinderte, Schwerkranke, zu Vertrauensselige sowie alle anderen, die nicht in der Lage oder nicht willens sind, sich zu wehren, sind die Leidtragenden. Die Gefahr der strukturellen Benachteiligung bestimmter Patientengruppen konnte empirisch insoweit bestätigt werden, als dass Ärzte in einer Interviewstudie angaben, die Wünsche ihrer Patienten bei Verteilungsentscheidungen mit zu berücksichtigen. Primär würden sie deshalb bei Patienten einsparen, die schlecht informiert sind bzw. von denen keine große Gefahr ausgeht, haftungsrechtlich in Anspruch genommen zu werden.73 Den Wert einer Gesellschaft erkennt man aber, wie der Jurist und ehemalige Bundespräsident Gustav Heinemann feststellte, daran, wie sie mit den schwächsten ihrer Glieder umgeht. Das Recht ist den Schwachen dabei als Waffe an die Hand gegeben. Es gilt deshalb mit den Mitteln des Rechts, die sich bereits andeutenden und analog zur erwartenden Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung sich weiter verschärfenden Fehlentwicklungen zu korrigieren.
Gesundheitswesen, in: Enderle (Hrsg.), Ethik und Wirtschaftswissenschaft, 1985, S. 272; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992, S. 22. 68 Gutmann/Schmidt, Einleitung, in: Gutmann/Schmidt (Hrsg.), Rationierung und Allokation im Gesundheitswesen, 2002, S. 24 – 25. 69 Boldt/Schöllhorn, Deutsches Ärzteblatt 2008, A 995. 70 Kern/Beske/Lescow, Deutsches Ärzteblatt 1999, A 117. 71 Strech/Danis/Löb/Marckmann, DMW 2009, S. 1264. 72 Strech/Danis/Löb/Marckmann, DMW 2009, S. 1264. 73 Kuhlmann, Zwischen zwei Mahlsteinen, in: Feuerstein/Kuhlmann (Hrsg.), Rationierung im Gesundheitswesen, 1998, S. 49; Strech, Onkologie 2011, S. 17.
D. Rationierung am Krankenbett
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II. Grundrechtsschutz durch Verfahren Eine vielversprechende Möglichkeit, dieses Ziel zu erreichen stellt die Priorisierung dar. Allerdings nützt das beste materielle Recht wenig, wenn kein adäquates Verfahrensrecht seine tatsächliche Verwirklichung gewährleistet. Durch eine ausdrückliche Feststellung der Vorrangigkeit werden zwar Intransparenzen bei der Verteilung und ihre unerwünschten Wirkungen beseitigt. Gleichzeitig birgt ein Prioritätensetzungsverfahren aber auch die Gefahr, neuerliche Intransparenzen oder gar Rechtsverletzungen zu schaffen und somit die Akzeptanz der Priorisierung als solche infrage zu stellen. Dem Verfahrensrecht kommt in einem Verteilungsverfahren insofern eine freiheits- und gleichheitssichernde Komplementärfunktion zu.74 Die Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer (ZEKO)75 hat deshalb formale Kriterien eines fairen Verfahrens zur Prioritätensetzung erarbeitet. Diese lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1. Transparenz Priorisierungsentscheidungen müssen offen, öffentlich und explizit getroffen werden. Andernfalls entstehen ähnliche Folgen wie bei einer verdeckten Rationierung von Gesundheitsleistungen, weshalb eine diskriminierungsfreie, faire Verteilung von Gesundheitsleistungen sowie die Überprüfung der Verteilungsentscheidung aus den genannten Gründen wenigstens einmal erheblich erschwert ist. Transparenz sollte auch im Hinblick auf etwaig bestehende Interessenkonflikte herrschen, damit die widerstreitenden Interessen einem angemessenen Ausgleich zugeführt werden können. 2. Begründung Jede Priorisierung sollte sich an nachvollziehbaren Kriterien orientieren und damit auf nachvollziehbaren Begründungen beruhen. Das wiederum ist gewährleistet, wenn jeder Priorisierungsvorschlag die verfügbare wissenschaftliche Evidenz hinsichtlich Wirksamkeit, Notwendigkeit, Nutzen- und Schadenspotenzialen sowie die zu erwartenden Kosten der betroffenen Leistungen berücksichtigt.
74 Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 86; zum Grundrechtsschutz durch Verfahren aus der Rechtsprechung: BVerfGE 24, 367; 35, 348; 46, 325; 39, 276; 52, 214; 52, 380; 52, 391; 53, 30; 60, 253; 63, 131; 65, 1; 65, 76; 69, 315. 75 ZEKO Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Langfassung, 2007, S. 21 – 25.
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§ 3 Rationierung, Rationalisierung und Priorisierung
3. Kodifizierung – Vollzug – Rechtsschutz Wegen der hohen Grundrechtsrelevanz sollten bindende Priorisierungsentscheidungen durch Gremien getroffen werden, die hinreichend demokratisch legitimiert sind. Ferner sollten sowohl die Priorisierungskriterien als auch die Priorisierungsregeln in allen Fällen gleichermaßen vollzogen und somit Rechtssetzungs- und Rechtsanwendungsgleichheit her- bzw. sichergestellt werden. Gerade Letzteres erfordert eine wirksame Aufsicht durch Staats- oder Selbstverwaltungsorgane. Schließlich muss Patienten und Leistungserbringern, denen durch Priorisierungsentscheidungen Leistungen verwehrt wurden, effektiver Rechtsschutz in Form von Widerspruchs- und Klagemöglichkeiten gewährt werden.
III. Priorisierungskriterien Neben diesen formalen Kriterien setzt jede Priorisierung auch eine inhaltliche Begründung anhand ethischer und rechtlicher Kriterien voraus. Nach Auffassung der ZEKO soll dabei auf die medizinische Bedürftigkeit, den erwarteten medizinischen Nutzen sowie die Kosteneffektivität abgestellt werden. Dabei versteht sie unter medizinischer Bedürftigkeit den Schweregrad und die Gefährlichkeit der Erkrankung sowie die Dringlichkeit der Intervention.76 Unabhängig davon werden von allen beteiligten Disziplinen auch andere Priorisierungskriterien wie das kalendarische Lebensalter, das biologische Alter, die Erfolgsaussicht der Behandlung, ein Selbstverschulden bezüglich der Krankheitsentstehung oder der Krankheitsbewältigung, die Zufallsauswahl, der soziale Wert, die Therapietreue, die Organspendebereitschaft oder der marginale klinische Nutzen diskutiert. Die Diskussion hat dabei einen Umfang erreicht,77 der eine umfassende Darstellung im gegebenen Rahmen unmöglich macht. Abgesehen davon, scheint selbst eine kursorische Darstellung im Hinblick auf den Untersuchungsgegenstand wenig ertragreich und deshalb entbehrlich zu sein.
76 ZEKO Zentrale Ethikkommission bei der Bundesärztekammer, Priorisierung medizinischer Leistungen im System der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), Langfassung, 2007, S. 22. 77 Siehe etwa: Brech, Triage und Recht, 2008, S. 206 – 308; Buyx, Ethik in der Medizin 2005 S. 269 – 283; Eichhorn, Gerechte Rationierung durch Einführung einer Prioritätensetzung im deutschen Gesundheitswesen, 2011, S. 142 – 180; Held, Das Alter als zulässiges Rationierungskriterium in der Gesetzlichen Krankenversicherung?, 2011,, S. 109 – 192; Künschner, Wirtschaftlicher Behandlungsverzicht und Patientenauswahl, 1992, S. 89 – 108; a. a. O. S. 311 – 378; Martini, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2009, S. 195 – 226; Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2015, S. 213 – 247; Schmitz-Luhn/Bohmeier, Priorisierung in der Medizin, 2013, S. 1 – 298 jeweils m. w. N.
D. Rationierung am Krankenbett
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IV. Vorrang der Rationalisierung Vor dem Ergreifen von auf Priorisierungskriterien basierenden Rationierungsmaßnahmen gilt es nämlich, mithilfe von Rationalisierungsmaßnahmen zunächst sämtliche Effizienzreserven zu heben. Wie bereits ausgeführt,78 ist unter Rationalisierung jede Maßnahme zu verstehen, die darauf abzielt, bei gleichbleibendem finanziellen Aufwand das Versorgungsniveau zu erhöhen oder bei geringerem finanziellen Aufwand das Versorgungsniveau zu halten. Letzteres geschah mit Verabschiedung des 14. SGB V Änderungsgesetzes. Dieses beendete mit Wirkung zum 01. 01. 2014 die, ursprünglich in § 35a Abs. 6 SGB V vorgesehene, fakultative Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln. Zugleich erhöhte es aber einen von der pharmazeutischen Industrie gemäß § 130a Abs. 1 SGB V ohnehin schon erhobenen Zwangsrabatt auf Arzneimittel. Um naheliegende Ausweichreaktionen der betroffenen Unternehmen zu vermeiden, fror es darüber hinaus unter anderem den Preis, auf den dieser Rabatt zu gewähren ist, gemäß § 130a Abs. 3a SGB V bis zum 31. 12. 2017 ein. Der Gesetzgeber entschied sich also dafür, eine Priorisierungs- und Rationalisierungsmaßnahme in Form der Kosten-Nutzen-Bewertung zugunsten einer anderen Rationalisierungsmaßnahme in Form des erhöhten Zwangsrabattes aufzugeben. Ein Schritt, der aus Sicht der pharmazeutischen Industrie mit einer Vielzahl an verfassungsrechtlich interessanten Fragestellungen verbunden ist. Insbesondere gilt es, die Vereinbarkeit dieses „dauerhaft angelegten dirigistischen Eingriff[es] in die Preisbildung“79 mit den wirtschaftlichen Grundrechten der betroffenen Unternehmen zu überprüfen. Das macht es allerdings erforderlich, sich zunächst einmal mit den Grundzügen der Arzneimittelpreisbildung in Deutschland auseinanderzusetzen.
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Ausführlich dazu bereits: § 3 B. I. Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 31.
§ 4 Arzneimittelpreisbildung Wie die meisten anderen Unternehmer darf auch der pharmazeutische Unternehmer den Preis für sein Produkt frei festlegen.
A. Preisbildung nach dem AMG Eine erste Einschränkung dieses Rechts erfährt er allerdings in § 78 Abs. 3 AMG1 für zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnungsfähige, verschreibungspflichtige Arzneimittel. Diese Präparate muss er nämlich zu einem einheitlichen Abgabepreis abgeben. Denn dieser ist Grundvoraussetzung für einen einheitlichen Apothekenabgabepreis mit einheitlichen Margen auf allen Handelsstufen. Im Interesse einer qualitativ hochwertigen Arzneimittelversorgung soll im Bereich der verschreibungspflichtigen und zulasten der GKV verordnungsfähigen Arzneimittel unter den Apotheken kein Preiswettbewerb entstehen.2 Deshalb enthält § 78 Abs. 1 AMG eine Verordnungsermächtigung, aufgrund derer die Arzneimittelpreisverordnung für apotheken- und verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel (AMPreisV) erlassen wurde. Seitdem sind die Preisspannen der gesamten Wertschöpfungskette in Form prozentualer Höchstund Festzuschläge auf den einheitlichen Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers festgelegt. Der sowohl für Generika als auch für patentgeschützte Arzneimittel einheitliche Apothekenabgabepreis errechnet sich demnach wie folgt: Dem einheitlichen Herstellerabgabepreis (§ 78 Abs. 3 AMG) wird nach Maßgabe des § 2 Abs. 1 AMPreisV ein Großhandelszuschlag aufgeschlagen, die Zwischensumme gebildet, der Apothekenzuschlag gemäß § 3 AMPreisV addiert 1 Ausweislich des EuGH Urteils vom 19. 10. 2016, C-148/15, Celex-Nr. 62015CJ0148 stellt die Festsetzung einheitlicher Apothekenabgabepreise für verschreibungspflichtige Humanarzneimittel eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art. 34 AEUV dar, die nicht mit dem Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen im Sinne des Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden kann; allgemein zu den, mit dem Import von Arzneimitteln verbundenen, europarechtlichen Fragestellungen: Janda, § 9 Arzneimittelrecht, in: Ruffert/Gundel (Hrsg.), Europäisches sektorales Wirtschaftsrecht, Enzyklopädie des Europarechts [EnzEuR] Band 5: Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht, 2013, § 9 Rn. 99 – 126 sowie § 9 Rn. 136 – 138. 2 Janda, Medizinrecht, 2016, S. 274; Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 36; Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 52.
B. Preisbildung nach dem SGB V
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und auf den auf diese Weise gebildeten Nettoapothekenabgabepreis die gesetzliche Mehrwertsteuer aufgeschlagen. Eine zweite, deutlich gravierendere Einschränkung des freien Preisbildungsrechtes findet sich in § 78 Abs. 3a AMG. Denn diese Vorschrift ordnet an, dass Arzneimittel, für die ein Erstattungsbetrag nach § 130b SGB V gilt, maximal zu diesem Erstattungsbetrag abgegeben werden dürfen. Weil aber für praktisch alle innovativen Arzneimittel eine obligatorische frühe Nutzenbewertung durchgeführt (§ 35a SGB V) werden muss, wird regelmäßig auch ein Erstattungsbetrag nach § 130b SGB vereinbart werden. Das eigentlich freie Preisbildungsrecht des pharmazeutischen Unternehmers läuft somit faktisch leer.3
B. Preisbildung nach dem SGB V Eine andere Stoßrichtung weisen sämtliche in der gesetzlichen Krankenversicherung derzeit verwendeten Preisbildungsinstrumente auf, die primär auf Kostendämpfung und damit auf die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung abzielen.4 Ihre Funktionsfähigkeit bei gleichzeitiger Finanzierbarkeit soll durch Festbeträge (§ 35 SGB V), Erstattungsbetragsvereinbarungen nach vorangegangener Nutzenbewertung (§ 130b SGB V) sowie gesetzlichen Preisabschlägen in Form von Apotheken- und Herstellerrabatten (§§ 130, 130a Abs. 1, 2, 3a und 3b SGB V) sowie einem Preismoratorium (§ 130a Abs. 3a SGV) sichergestellt werden. Indem die Kostensteuerungsinstrumente des SGB V an unterschiedlichen Stellen der Arzneimittelpreisbildung nach dem AMG anknüpfen, überlagert das Arzneimittelpreisrecht der gesetzlichen Krankenversicherung dasjenige des Arzneimittelgesetzes. So setzen die gesetzlichen Herstellerabschläge sowie die Erstattungsbeträge für nicht festbetragsfähige Arzneimittel am Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers an, während sich die Festbeträge und der Apothekenrabatt auf den Apothekenabgabepreis beziehen.5 Die gesetzlichen Preisabschläge und die Erstattungsbeträge für nicht festbetragsfähige Arzneimittel wirken sich dabei unmittelbar zulasten der phar-
3 M. w. N. und Argumenten: Stadelhoff, Rechtsprobleme des AMNOG-Verfahrens, 2016, S. 288. 4 Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 42; Meier/ Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 54; Wodarz, Rechtsbeziehungen zu Apotheken und pharmazeutischen Unternehmen, in: Sodan (Hrsg.), Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 2014, § 27 Rn. 24 – 25. 5 Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 52; Wodarz, Rechtsbeziehungen zu Apotheken und pharmazeutischen Unternehmen, in: Sodan (Hrsg.), Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 2014, § 27 Rn. 24 – 25.
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§ 4 Arzneimittelpreisbildung
mazeutischen Unternehmer und der Apotheker aus, während sich die Festbeträge unmittelbar an die Versicherten richten.6
I. Festbetragssystem Festbeträge begrenzen den Leistungsanspruch des Versicherten der Höhe nach, indem sie eine Obergrenze festlegen, bis zu der die gesetzliche Krankenversicherung die Kosten eines Arzneimittels erstattet. Entscheidet sich der Versicherte für ein Arzneimittel, dessen Apothekenabgabepreis den Festbetrag übersteigt, hat er die Mehrkosten selbst tragen. Umgekehrt wird für den pharmazeutischen Unternehmer nicht nur ein starker Anreiz geschaffen, seinen Abgabepreis so zu bestimmen, dass sein Arzneimittel zum Festbetrag erhältlich ist; es besteht gemäß § 31 Abs. 3 S. 4 SGB V sogar ein Anreiz, den Nettoabgabepreis um 30% niedriger anzusetzen als der jeweils gültige Festbetrag ist, der diesem Preis zugrunde liegt.7 Denn dann kann dieses Präparat auch von der allgemeinen Zuzahlungspflicht des Versicherten (§ 31 Abs. 3 S. 1 SGB V) befreit werden.8 Ungeachtet der Betroffenheit von Marktchancen und der fraglos ergebnismindernden Wirkung des Festbetragssystems, verneinte das Bundesverfassungsgericht für die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie allerdings bereits die Schutzbereichseröffnung des Art. 12 Abs. 1 GG. Die Auswirkungen auf die Berufsausübung seien als bloßer Reflex der auf das System der gesetzlichen Krankenversicherung bezogenen Regelung zu beurteilen. Ferner bestünde gerade kein grundrechtlicher Anspruch auf immer gleiche Wettbewerbsbedingungen.9 Für welche Gruppen von Arzneimitteln Festbeträge festgesetzt werden können, bestimmt der Gemeinsame Bundesausschuss in seinen Richtlinien nach § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V (§ 35 Abs. 1 SGB V). In den Gruppen sollen Arzneimittel mit denselben Wirkstoffen (§ 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB V), pharmakologisch-therapeutisch vergleichbaren Wirkstoffen (§ 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB V) sowie therapeutisch vergleichbarer Wirkung (§ 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB V) zusammengefasst werden. Arzneimittel mit denselben Wirkstoffen im Sinne des § 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB V sind regelmäßig ehemals patentgeschützte Wirkstoffe, bei denen nun der generische Wettbewerb eingesetzt hat.10 Pharmakologisch-therapeutisch vergleichbare Wirkstoffe 6 Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 54; Reese/Stallberg, in: Dieners/Reese (Hrsg.), Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn. 217; Wodarz, Rechtsbeziehungen zu Apotheken und pharmazeutischen Unternehmen, in: Sodan (Hrsg.), Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 2014, § 27 Rn. 66. 7 Grotjahn, JURA – Juristische Ausbildung 2015, S. 373; Janda, Medizinrecht, 2016, S. 278; Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 65; Stadelhoff, Rechtsprobleme des AMNOG-Verfahrens, 2016, S. 289 – 290. 8 Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 56 – 57. 9 BVerfGE 106, 275 (298 f.).
B. Preisbildung nach dem SGB V
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gemäß § 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB V sind Wirkstoffe, die einen übergreifenden gemeinsamen Bezugspunkt aufweisen.11 Schließlich ermöglicht es § 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 3 SGB V auch Arzneimittelkombinationen, die eine therapeutisch vergleichbare Wirkung haben, in eine gemeinsame Festbetragsgruppe einzuordnen.12 Bei den letzten beiden Gruppen besteht jedoch die Besonderheit, dass für einen oder mehrere Wirkstoffe noch Patentschutz bestehen könnte. Dem trägt der Gesetzgeber insofern Rechnung, als er eine Gruppenbildung erst dann erlaubt, wenn der älteste Wirkstoff der zu bildenden Gruppe keinen Patentschutz mehr genießt.13 Die bislang darüber hinaus bestehende Möglichkeit einer Gruppenbildung von ausschließlich patentgeschützten Arzneimitteln (§ 35a Abs. 1a SGB V a. F.) besteht seit Inkrafttreten des AM-VSG nicht mehr. Sie wurde obsolet, da sich die Preise von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen seit dem 01. 01. 2011 ohnehin nach ihrem Zusatznutzen richten.14 Nach nicht ganz unbestrittener Ansicht15 besteht zwischen den in den §§ 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 bis Nr. 3 SGB V genannten drei Gruppen ein Stufenverhältnis, weswegen vorrangig Gruppen mit denselben Wirkstoffen nach § 35 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 SGB V zu bilden sind.16 Gemäß § 35 Abs. 1 S. 3 SGB V soll bei der Gruppenbildung von Antibiotika die Resistenzsituation berücksichtigt werden. Dabei können für die Versorgung bedeutsame Reserveantibiotika von der Gruppenbildung ausgenommen werden (§ 35 Abs. 1 S. 4 SGB V). Die Zusammenfassung von Arzneimitteln in einer Festbetragsgruppe obliegt gemäß § 92 Abs. 1 Satz 2 Nr. 6 SGB V dem Gemeinsamen Bundesausschuss. Sie erfolgt durch einen verbindlichen (§ 91 Abs. 6 SGB V) Normsetzungsbeschluss und wird auf diese Weise Bestandteil der Arzneimittelrichtlinie. Anschließend setzt der Spitzenverband Bund der Krankenkassen den jeweiligen Festbetrag fest (§ 35 Abs. 3 SGB V), wobei sich seine Höhe an den in § 35 Abs. 5 SGB V genannten Kriterien zu orientieren hat. Bei der Festbetragsfestsetzung handelt es sich um einen der Anfechtung unterliegenden Verwaltungsakt in Form einer Allgemeinverfügung.17 10
10
Grotjahn, JURA – Juristische Ausbildung 2015, S. 373. BSGE 107, 287 (302); Axer, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2017, § 35 Rn. 8. 12 Grotjahn, JURA – Juristische Ausbildung 2015, S. 373. 13 Grotjahn, JURA – Juristische Ausbildung 2015, S. 373; Reese/Stallberg, in: Dieners/ Reese (Hrsg.), Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn. 184; Wodarz, Rechtsbeziehungen zu Apotheken und pharmazeutischen Unternehmen, in: Sodan (Hrsg.), Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 2014, § 27 Rn. 29 – 30. 14 BT-Drs. 18/10208, S. 26; näher dazu: § 4 B. II. 15 Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 53 Fn. 162 m. w. N. 16 Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 67; Reese/Stallberg, in: Dieners/Reese (Hrsg.), Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn. 174. 17 BVerfGE 106, 275 (307); BSGE 107, 287 (293); Axer, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2017, § 35 Rn. 15. 11
§ 4 Arzneimittelpreisbildung
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II. Erstattungsbetragssystem Ist das Festbetragssystem somit ein mittelbar18 oder indirekt19 wirkendes Instrument der Arzneimittelpreissteuerung, nimmt das Erstattungsbetragssystem (§ 130b SGB V) unmittelbaren Einfluss auf den Abgabepreis des pharmazeutischen Unternehmers. So werden die Preise für neu zugelassene Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen oder hierfür neu zugelassenen Anwendungsgebieten ab dem 01. 01. 2011 im Rahmen eines „verhandlungsbasierten Preisfindungsverfahrens“20 gebildet. Abweichend vom Festbetragsverfahren kann der Spitzenverband Bund der Krankenkassen den Erstattungsbetrag aber nicht selbst festlegen, sondern muss sich mit dem pharmazeutischen Unternehmer auf einen, auf seinen Abgabepreis zu gewährenden Rabatt einigen. Eine Einigung, die für alle Krankenkassen und Vertragsärzte gilt und sich im Gewande eines öffentlich-rechtlichen Vertrages im Sinne der §§ 53, 54 SGB X vollzieht.21 Wie beim Festbetragsverfahren ist dem ebenfalls ein Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses vorangegangen. Dieser beschränkt sich aber nicht auf eine bloße Eingruppierung, sondern trifft auch eine qualitative Aussage, indem er den Zusatznutzen des jeweiligen Präparates gegenüber der bisher angewendeten Vergleichstherapie feststellt (§ 35a Abs. 3 S. 3 SGB V). Wenn ein Arzneimittel keinen Zusatznutzen hat und keiner Festbetragsgruppe zugeordnet werden kann, soll der Erstattungsbetrag nicht zu höheren Jahrestherapiekosten führen als die nach § 35a Abs. 1 S. 7 SGB V bestimmte, zweckmäßige Vergleichstherapie (§ 130b Abs. 3 S. 1 SGB V). Von dieser Soll-Vorschrift kann mit Inkrafttreten des AM-VSG in begründeten Einzelfällen zwar abgewichen werden.22 Gilt ein Zusatznutzen hingegen als nicht belegt, weil trotz Aufforderung das zur Nutzenbewertung erforderliche Dossier nicht vorgelegt wurde (§ 35a Abs. 1 S. 5 SGB V), ist ein Erstattungsbetrag zu vereinbaren, der in angemessenem Umfang zu geringeren Jahrestherapiekosten führt als die Vergleichstherapie (§ 130b Abs. 3 S. 5 SGB V). Auch ansonsten kommt dem den Erstattungsbetragsverhandlungen vorgeschalteten Nutzenbewertungsverfahren gemäß § 35a SGB V maßgebliche Bedeutung im Hinblick auf die Verhandlungsposition der Beteiligten zu.
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Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 49. Grotjahn, JURA – Juristische Ausbildung 2015, S. 374. 20 Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 41. 21 Axer, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2017, § 130b Rn. 21; Meier/Czettritz/Gabriel/ Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 116; anders offenbar Janda, Medizinrecht, 2016, S. 280, die Erstattungsbetragsvereinbarungen als Normenverträge qualifiziert, sodass die Vorschriften über öffentlich-rechtliche Verträge unanwendbar sind (dazu: Axer, Normsetzung der Exekutive in der Sozialversicherung, 2000, S. 61 – 62). 22 BT-Drs. 18/10208, S. 35. 19
B. Preisbildung nach dem SGB V
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Tendenziell fällt der vom pharmazeutischen Unternehmer zu gewährende Rabatt um so geringer aus, je größer der erzielte Zusatznutzen ist (vgl. §§ 130b Abs. 1 S. 1, 35a Abs. 3 SGB V, § 5 Abs. 7 AM-NutzenV).23 Das Spektrum reicht dabei von keinem, einem nicht quantifizierbaren, über einen geringen und einen beträchtlichen, bis hin zu einem erheblichen Zusatznutzen. Ist auch sechs Monate nach Veröffentlichung des Beschlusses über die Nutzenbewertung noch kein Erstattungsbetrag vereinbart, setzt eine Schiedsstelle den Vertragsinhalt innerhalb von drei Monaten nach Maßgabe des § 130b Abs. 4 SGB V fest. Um sicherzustellen, dass in jedem Falle ab dem dreizehnten Monat nach Markteinführung des Arzneimittels die kostendämpfenden Wirkungen des Erstattungsbetragssystems eintreten, ordnet § 130b Abs. 4 S. 3 SGB V die Rückwirkung des Schiedsspruches auf diesen Zeitpunkt an.24 Während der ersten zwölf Monate soll das frühe Nutzenbewertungsverfahren durchgeführt werden, sodass der vom pharmazeutischen Unternehmer frei festgelegte Preis gilt. Eine vollkommen freie Preisfestsetzung ist folglich nur für die Dauer dieses ersten Jahres möglich. Das frühe Nutzenbewertungsverfahren selbst beginnt mit dem erstmaligen Inverkehrbringen oder der Zulassung neuer Anwendungsgebiete. Will er nicht Gefahr laufen, dass ein Zusatznutzen gemäß § 35a Abs. 1 S. 5 SGB V als nicht belegt gilt, muss der Hersteller spätestens zu diesem Zeitpunkt den Zusatznutzen seines Präparates gegenüber einer zuvor vom GBA bestimmten zweckmäßigen Vergleichstherapie durch Einreichung eines Dossiers belegen (§ 35a Abs. 1 SGB V). Im Regelfall führt der GBA dann auf dieser Grundlage innerhalb von drei Monaten nach Markteinführung eine frühe Nutzenbewertung durch. Dabei steht es ihm frei, die Nutzenbewertung an Verwaltungshelfer25 in Form von Dritten oder das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) zu delegieren (§ 35a Abs. 2 SGB V). Die Ergebnisse dieser Nutzenbewertung sind dann im Internet zu veröffentlichen (§ 35a Abs. 2 S. 3 SGB V) und können in einem Stellungnahmeverfahren von den Beteiligten kommentiert werden (§ 35a Abs. 3 S. 2 i.V.m. § 92 Abs. 3a SGB V). Nach spätestens drei weiteren Monaten wird dann der, die erste Stufe des Preisfindungsverfahrens abschließende Nutzenbewertungsbeschluss gefasst (§ 35a Abs. 3 S. 1 SGB V) und in die Erstattungsbetragsverhandlungen eingetreten. Kontrovers diskutiert26 werden die gesetzlichen Regelungen, welche die Methodenwahl weitestgehend in die Hände der Bewertenden legen. Das Gesetz be23 Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 116; Meier/ Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 117; Münkler, Kosten-Nutzen-Bewertungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2015, S. 106 – 113. 24 BT-Drs. 17/2413, S. 31; Axer, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2017, § 130b Rn. 17. 25 Martini, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2009, S. 203 – 206. 26 Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Höfling (Hrsg.), Der Schutzauftrag des Rechts, 2011, S. 169 – 176; Köhler, Das gebrochene
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§ 4 Arzneimittelpreisbildung
schränkt sich in den §§ 35b Abs. 1 S. 3, S.4 SGB V darauf, zu fordern, dass sowohl die Kosten für die Versichertengemeinschaft als auch der therapeutische Zusatznutzen – genannt werden eine Verbesserung des Gesundheitszustandes, eine Verkürzung der Krankheitsdauer, eine Verlängerung der Lebensdauer, eine Verringerung der Nebenwirkungen sowie eine Verbesserung der Lebensqualität – angemessen zu berücksichtigen seien. Dem die Bewertungen regelmäßig durchführenden IQWiG wird in § 35b Abs. 1 S. 5 SGB V sogar erlaubt, „auftragsbezogen über die Methoden und Kriterien für die Erarbeitung von Bewertungen […] auf der Grundlage der in den jeweiligen Fachkreisen anerkannten internationalen Standards der evidenzbasierten Medizin und der Gesundheitsökonomie“ zu bestimmen. Was genau darunter zu verstehen ist, bleibt selbst sieben Jahre nach Inkrafttreten des Gesetzes noch umstritten.27 Verwiesen sei hier nur auf die Diskussion, ob es sich um eine indikationsübergreifende oder eine indikationsspezifische Bewertung handeln muss bzw. ob der Verweis auf die internationalen Methoden nicht eine Anwendung des Konzepts der qualitätskorrigierten Lebensjahre (QALYs) nahe legt. Letzteres kann man mit Verweis auf Menschenwürde, Gleichheitssatz und das Solidaritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung ablehnen. Allerdings zielen diese – an sich sehr starken Argumente – in erster Linie auf Rationierungen und nicht auf die Ermittlung eines angemessenen Preises für Arzneimittel ab.28 In jedem Falle wussten das IQWiG bzw. der letztlich entscheidende GBA aber die große Methodenwahlfreiheit zu nutzen und hoben daraufhin das Effizienzgrenzennutzkonzept, eine weltweit einmalige, indikationsspezifische Bewertungsmethode, aus der Taufe. Ein Freiheitsgebrauch, der nicht folgenlos blieb. Im Schatten der, bereits vor Inkrafttreten der gesetzlichen Regelung zur obligatorischen Nutzenbewertung diskutierten, neuralgischen Punkte, die einige allgemeine Probleme von Kosten-Nutzen-Bewertungen zutage förderten,29 führte sie nämlich auch zur Beendigung des sogenannten Bestandsmarktaufrufes. Dabei handelte es sich um eine ins Ermessen des Gemeinsamen Bundesausschusses gestellte und damit fakultative Nutzenbewertung von Arzneimitteln mit neuen Wirkstoffen und neuen Wirkstoffkombinationen, die vor dem 01. 01. 2011 erstmals in den Verkehr gebracht worden waren (§ 35a Abs. 6 S. 1 SGB V a. F.). Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 81 – 99; Martini, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2009, S. 209 – 221; Münkler, Kosten-Nutzen-Bewertungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2015, S. 77 – 105 jeweils m. w. N. 27 Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Höfling (Hrsg.), Der Schutzauftrag des Rechts, 2011, S. 174; Münkler, Kosten-Nutzen-Bewertungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2015, S. 99 – 106 m. w. N. 28 Vgl. Münkler, Kosten-Nutzen-Bewertungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2015, S. 71. 29 Martini, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2009, S. 211 – 221.
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Eine Möglichkeit, die dem GBA mit Wirkung zum 01. 01. 2014 durch das 14. SGB V Änderungsgesetz genommen wurde. In der Bewertungspraxis hatte sich nämlich herausgestellt, dass eine Kosten-Nutzen-Bewertung von Bestandsmarktpräparaten zum einen administrativ und methodisch sehr aufwendig durchzuführen war.30 Zum anderen aber selbst dann, wenn man diesen Aufwand auf sich nahm, nicht zuletzt wegen des vom GBA und IQWiG gewählten indikationsspezifischen Effizienzgrenzennutzkonzeptes sowie den Anforderungen an den Nachweis des Zusatznutzens31 zu methodisch fragwürdigen Ergebnissen führte. Immer dann, wenn das zu bewertende Bestandsmarktpräparat zum allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse avanciert war, hätte es nämlich als zweckmäßige Vergleichstherapie mit sich selbst verglichen werden müssen.32 Die Kosten-Nutzen-Bewertung von Gesundheitsleistungen fraß somit eines ihrer Kinder.
III. Zwangsrabatte Der Gesetzgeber entschied sich dafür, die aus der Bestandsmarktbewertung erhofften, nunmehr definitiv wegfallenden Kostendämpfungseffekte zu kompensieren, indem er den allgemeinen Herstellerabschlag nach § 130a Abs. 1 S. 1 SGB V von sechs auf sieben Prozentpunkte erhöhte. Der allgemeine Herstellerabschlag ist Teil eines ganzen Abschlagsregimes, zu dem auch der Apothekenrabatt (§ 130 SGB V), der Impfstoffabschlag (§ 130a Abs. 2 SGB V), der Generikaabschlag (§ 130a Abs. 3b SGB V) sowie ein Preismoratorium (§ 130a Abs. 3a SGB V) gehören. Bis zum 31. 12. 2013 wurde darüber hinaus für alle verschreibungspflichtigen Arzneimittel, die zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung abgegeben wurden und für die kein Festbetrag galt, ein erhöhter allgemeiner Herstellerabschlag erhoben (§ 130a Abs. 1a SGB V). 1. Apothekenrabatt Der Apothekenabschlag nach § 130 SGB V verpflichtet die Apotheken dazu, den Krankenkassen einen pauschalen oder prozentualen Rabatt auf den Arzneimittelabgabepreis einzuräumen. Er stellt somit eine Kürzung des Vergütungsanspruches des Apothekers gegen die Krankenkasse33 und nicht etwa eine Son-
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Knuf/Eckervogt, NZS 2014, S. 375 – 376; ausführlicher dazu: § 5 A. §§ 35a Abs. 1 S. 6, S. 7 i. V. m. 5 Abs. 3 – 5a AM-NutzenV sowie §§ 35a Abs. 1 S. 8 SGB V i. V. m. 5 Abs. 3, Abs. 4, Abs. 5 Kap. 5 VerfO; ausführlicher dazu: § 5 A. 32 Ausführlicher dazu: § 5 A. 33 BSG, SozR- 4 – 2500 § 130 Nr. 1 Rn. 28; Axer, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2017, § 130 Rn. 2; Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 56. 31
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§ 4 Arzneimittelpreisbildung
derabgabe34 dar. Zu gewähren ist er auf verschreibungspflichtige Fertig- und Standardrezepturarzneimittel in Form eines pauschalen Abschlages in Höhe von derzeit 1,77 Euro35. Für sonstige Arzneimittel oder nicht verschreibungspflichtige Fertigarzneimittel, die ausnahmsweise dennoch zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung verordnet werden durften (§ 34 SGB V), wird ein Rabatt in Höhe von 5% auf den für den Versicherten maßgeblichen Arzneimittelabgabepreis abgezogen. Ist für die Arzneimittel ein Festbetrag festgesetzt, so bemisst sich der Abschlag nach dem Festbetrag (§ 130 Abs. 2 SGB V). Die Abschläge müssen allerdings nur dann gewährt werden, wenn die Apothekenrechnung innerhalb von zehn Tagen nach ihrem Eingang bei der Krankenkasse beglichen wird (§ 130 Abs. 3 S. 1 SGB V). Der sogenannte Apothekenrabatt weist folglich eher den Charakter eines gesetzlich vorgegebenen Apothekenskontos auf.36 2. Allgemeiner Herstellerabschlag Der allgemeine Herstellerrabatt nach § 130a Abs. 1 SGB V führt ebenfalls zu einem reduzierten Erstattungsanspruch des Apothekers gegenüber der Krankenkasse. Die Krankenkasse erstattet dem Apotheker deswegen einen um den Apothekenrabatt und den Herstellerrabatt gekürzten Betrag. Der Apotheker hat allerdings seinerseits einen Erstattungsanspruch gegenüber dem pharmazeutischen Unternehmer in Höhe des allgemeinen Herstellerabschlages (§ 130a Abs. 1 S. 3 SGB V). Es besteht also kein direktes Rechtsverhältnis zwischen dem wirtschaftlich belasteten pharmazeutischen Unternehmer und der wirtschaftlich begünstigten Krankenkasse. Die Abwicklung des Herstellerrabattes findet vielmehr im Dreiecksverhältnis zwischen Krankenkasse, Apotheker und pharmazeutischem Unternehmer statt.37 Letzterer muss den Krankenkassen für Fertigarzneimittel, für die kein Festbetrag festgesetzt ist und deren Apothekenabgabepreis aufgrund von Preisvorschriften nach dem AMG oder aufgrund des § 129 Abs. 5a SGB V bestimmt wird, einen Abschlag in Höhe von 7% seines Nettoabgabepreises gewähren (§ 130a Abs. 1 S. 6 SGB V). Ursprünglich nur für preisgebundene Arz34 Reese/Stallberg, in: Dieners/Reese (Hrsg.), Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn. 219; vgl. § 5 B. I. 35 § 130 Abs. 1 S. 2 SGB V i. V. m. Art. 1 der Vereinbarung zum Apothekenabschlag nach § 130 SGB V vom 30. 06. 2013. 36 BVerfGE 114, 196 (199); Axer, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2017, § 130 Rn. 7; Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 56; Wodarz, Rechtsbeziehungen zu Apotheken und pharmazeutischen Unternehmen, in: Sodan (Hrsg.), Handbuch des Krankenversicherungsrechts, 2014, § 27 Rn. 70; kritisch dazu wegen der Zwangswirkung: Reese/Stallberg, in: Dieners/Reese (Hrsg.), Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn. 219. 37 Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 58; Reese/Stallberg, in: Dieners/Reese (Hrsg.), Handbuch des Pharmarechts, 2010, § 17 Rn. 220.
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neimittel erdacht, findet der Herstellerabschlag gemäß § 130a Abs. 1 S. 6 SGB V zwischenzeitlich auch auf an sich preisungebundene Fertigarzneimittel in parenteralen Zubereitungen Anwendung.38 Zudem ist er auch auf Arzneimittel zu gewähren, die in Krankenhausapotheken im Rahmen einer ambulanten Behandlung nach § 129a SGB V abgegeben werden.39 Aus europarechtlichen Gründen gilt er allerdings nur für Fertigarzneimittel, die dem deutschen Preisrecht unterliegen. Importarzneimittel, die von Versandhausapotheken aus dem Ausland eingeführt werden, unterliegen deshalb nicht der Zwangsrabattierung.40 3. Generikaabschlag Für patentfreie, wirkstoffgleiche Arzneimittel kann die Krankenkasse sogar einen Abschlag in Höhe von 10% des Abgabepreises des pharmazeutischen Unternehmers geltend machen (§ 130a Abs. 3b SGB V). Genau wie beim allgemeinen Herstellerrabatt erfolgt die Abwicklung des Rabattes auch hier im Dreiecksverhältnis zwischen Krankenkasse, Apotheke und Hersteller. Jedoch ist der Generikarabatt auch dann zu gewähren, wenn für das jeweilige Präparat ein Festbetrag festgesetzt ist, es sei denn, der Apothekeneinkaufspreis liegt mindestens 30% unter dem jeweils gültigen Festbetrag (§ 130a Abs. 3b S. 3 SGB V). Nicht festbetragsgebundene Generika können deswegen dem allgemeinen Herstellerabschlag nach § 130a Abs. 1 SGB V und zusätzlich dem Generikaabschlag nach § 130a Abs. 3b SGB V unterliegen.41 4. Impfstoffabschlag Während die bisher vorgestellten Konzepte stets mit einem gleichbleibenden, für den pharmazeutischen Unternehmer unveränderbaren Abschlag auf den Inlandspreis arbeiteten, ist die Höhe des Impfstoffabschlages vom Durchschnitt der tatsächlich gültigen Abgabepreise in vier Referenzländern abhängig. Die Höhe des nach § 130a Abs. 2 S. 1 SGB V zu gewährenden Abschlages besteht dann in 38 Axer, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2017, § 130a Rn. 5; Meier/Czettritz/Gabriel/ Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 58. 39 Kritisch zur ausnahmsweisen Einbeziehung der Krankenhausapotheken: Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 61. 40 BSGE 101, 161 (161); Axer, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2017, § 130a Rn. 4; a. a. O. § 129 Rn. 22; Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 58; a. A. Janda, Medizinrecht, 2016, S. 275, die darauf abstellt, dass die Abgabe eines importierten Arzneimittels im Inland an inländische Verbraucher ein rein inländischer Sachverhalt sei. Ein Export deutscher Staatshoheitsakte für Auslandsapotheken läge deswegen gerade nicht vor. 41 Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 61 – 62; Meier/ Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 61.
§ 4 Arzneimittelpreisbildung
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einer etwaigen Differenz des inländischen Abgabepreises zu dem durchschnittlichen Preis in den Referenzländern. Referenzländer sind die vier Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, die den deutschen Verhältnissen im Hinblick auf die Höhe des Bruttonationaleinkommens und der Kaufkraft am nächsten kommen (§ 130a Abs. 2 S. 2 SGB V). Die Berechnung des Abschlages erfolgt durch den pharmazeutischen Unternehmer nach Maßgabe des § 130a Abs. 2 S. 4 SGB V. Vordergründig liegt der unbestreitbare Charme dieser Lösung darin, dass es der pharmazeutische Unternehmer durch seine Preisgestaltung in den Referenzländern zu einem nicht unerheblichen Teil selbst in der Hand hat, wie hoch der von ihm zu gewährende Impfstoffabschlag letztlich ausfällt. Indes haben erst die im internationalen Vergleich sehr hohen Impfstoffpreise in Deutschland den Gesetzgeber zur Kodifizierung des Impfstoffabschlages bewogen.42 Unter der Prämisse, dass die Impfstoffhersteller auch auf den für den Durchschnittspreis maßgebenden, ausländischen Referenzmärkten bereits Maximalpreise durchgesetzt haben, dürften dortige Preiserhöhungen eher unwahrscheinlich sein. 5. Preismoratorium Im Inland würden Preiserhöhungen wegen des, das Zwangsabschlagsregime flankierenden Preismoratoriums (§ 130a Abs. 3a SGB V) zu einem zusätzlichen Abschlag in Höhe der Preiserhöhung führen. Andernfalls hätten die betroffenen Unternehmen einen starken Anreiz, den Zwangsrabatten durch Preiserhöhungen, die Veränderung von Packungsgrößen oder der Zusammensetzung von Arzneimitteln aus dem Weg zu gehen. § 130a Abs. 3a SGB V friert deswegen den Preisstand zum Stichtag 01. 08. 2009 bis zum 31. 12. 2022 ein. Ursprünglich sollte das seit 01. 08. 2009 geltende Preismoratorium bis zum 31. 12. 2013 laufen. Durch das 13. und 14. SGB V Änderungsgesetz wurde es aber zunächst bis zum 31. 03. 2014 und anschließend bis zum 31. 12. 2017 verlängert. Das am Ende der 18. Legislaturperiode verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung bestimmt nun den 31. 12. 2022 als Endtermin. Darüber hinaus sieht es – beginnend mit dem 01. 07. 2018 – erstmals einen, an den Verbraucherpreisindex gekoppelten, jährlichen Inflationsausgleich vor. Für Arzneimittel, die nach dem 01. 08. 2010 in den Markt eingeführt wurden, gilt gemäß § 130a Abs. 3a S. 3 SGB V der Preis bei Markteinführung. Sonderregelungen bestehen darüber hinaus für Import(§ 130a Abs. 3a S. 6 SGB V) und Festbetragsarzneimittel (§ 130a Abs. 3a S. 1 SGB V). Einer Umgehung des Preisstopps durch Änderungen der Packungsgröße oder der Wirkstärke versuchte der Gesetzgeber durch die §§ 130a Abs. 3a S. 4 und §§ 130a Abs. 3a S. 5 SGB V zu begegnen. Ist eine entsprechende Änderung feststellbar, so ist der Abschlag auf Grundlage des Preises je Mengeneinheit der
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BT-Drs. 17/3698, S. 54.
C. Preisbildung nach dem AMRabG
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Packung zu berechnen, die dem neuen Arzneimittel in Bezug auf die Packungsgröße unter Berücksichtigung der Wirkstärke am nächsten kommt.
C. Preisbildung nach dem AMRabG War die soeben vorgestellte Rabattsystematik bis zum 31. 12. 2010 nahezu ausschließlich für den ambulanten Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung relevant, änderte sich dies mit Inkrafttreten des Arzneimittelrabattgesetzes (AMRabG). Dieses ordnete in seinem § 1 nämlich einen weitestgehenden Gleichlauf zwischen der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung an, indem es die Rabattsystematik der §§ 130a Abs. 1, 1a, 2, 3, 3a und 3b SGB V überträgt. Seitdem müssen die pharmazeutischen Unternehmer den Unternehmen der privaten Krankenversicherung sowie den Kostenträgern nach beamtenrechtlichen Vorschriften (Beihilfe, Fürsorge) für verschreibungspflichtige Arzneimittel ebenfalls entsprechende Abschläge gewähren.43 Mit Inkrafttreten des AM-VSG am Ende der 18. Legislaturperiode besteht darüber hinaus auch ein Anspruch auf Ausgleich des Differenzbetrages zwischen Erstattungsbetrag im Sinne des § 130b SGB V und tatsächlichem Abgabepreis (§ 1a AMRabG).
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Näher dazu: § 5 F. I.
§ 5 Verfassungsmäßigkeit der Kompensationsmaßnahmen A. Ausgangssituation Mit Wirkung zum 01. 01. 2011 müssen Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen, Wirkstoffkombinationen oder Anwendungsgebieten vom GBA obligatorisch bewertet werden (§ 35a Abs. 1 SGB V).1 Darüber hinaus stand es bis 31. 12. 2013 im Ermessen des GBA, eine Nutzenbewertung von Bestandsarzneimitteln durchzuführen. Bestandsarzneimittel waren erstattungsfähige Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen und neuen Wirkstoffkombinationen, die vor dem 01. 01. 2011 erstmals in den Verkehr gebracht worden sind (§ 35a Abs. 6 S. 1 SGB V a. F.). Vorrangig sollten nicht festbetragsfähige Arzneimittel bewertet werden, die im Wettbewerb zu anderen Arzneimitteln standen und für die bereits ein Beschluss zur Nutzenbewertung gefasst worden war. Für die Versorgung bedeutsame Arzneimittel sollten dabei vorrangig bewertet werden (§ 35a Abs. 6 S. 2 SGB V a. F.). Zur Bestimmung der Bedeutsamkeit war insbesondere auf die Anzahl der mit diesem Präparat behandelten Patienten, die Kosten für die gesetzliche Krankenversicherung sowie die Qualität der Versorgung abzustellen.2 Mit Wirkung zum 01. 01. 2014 wurde durch das 14. SGB V Änderungsgesetz die Möglichkeit dieses sogenannten Bestandsmarktaufrufes ersatzlos abgeschafft. Im Gegensatz zur Datenlage bei Neueinführungen existierten weltweit nämlich bereits viele Studien zu den jeweiligen Präparaten. Da Studien primär für Präparate durchgeführt werden, die für die Versorgung von Bedeutung sind, fällt die ohnehin schon hohe Anzahl an weltweit vorhandenen Studien bei den vorrangig zu bewertenden Bestandsmarktarzneimitteln ganz besonders hoch aus. Diese Studien mussten im Nutzenbewertungsverfahren zwar berücksichtigt werden. Allerdings wiesen sie – gemessen an den heutigen Maßstäben – oftmals methodische Mängel, insbesondere in Form einer mangelhaften Evidenzbasierung auf, was das Bewertungsverfahren insgesamt äußerst kompliziert gestaltete. Die Durchführung der Bestandsmarktbewertung war somit bei überschaubarem Einsparpotenzial für alle Beteiligten mit einem ungleich höheren methodischen und administrativen Aufwand verbunden.3 1
Ausführlich dazu: § 4 B. II. BT-Drs. 17/2413, S. 22 – 23. 3 Knuf/Eckervogt, NZS 2014, S. 375 – 376; Stadelhoff, Rechtsprobleme des AMNOG-Verfahrens, 2016, S. 76 – 77. 2
B. Grundrabatterhöhung
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Möglicherweise gravierender könnte aber auch der Umstand gewogen haben, dass es bisweilen sehr schwierig war, den gesetzlichen Vorgaben gerecht zu werden. Diese verlangten zwar eine Bestimmung des Zusatznutzens im Verhältnis zur zweckmäßigen Vergleichstherapie. Gleichzeitig hielten sie aber keine Lösung für den relativ häufigen Fall bereit, dass die zweckmäßige Vergleichstherapie eine Therapie mit dem zu bewertenden Arzneimittel selbst ist. Denn die zweckmäßige Vergleichstherapie sollte diejenige Therapie in dem Anwendungsgebiet sein, die nach dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zum sogenannten medizinischen Goldstandard in dem Anwendungsgebiet zählte, für welches das Arzneimittel zugelassen wurde. Der Vorsitzende des GBA wies deshalb zutreffend darauf hin, dass es praktisch ein hoffnungsloses Unterfangen sei, versuchen zu wollen, die Vergleichstherapie „gerichtsfest“ zu definieren, wenn der zu bewertende Wirkstoff selbst den medizinischen Goldstandard darstellt.4 Abgesehen von diesen rechtlichen Aspekten entschieden sich einige Hersteller auch dazu, Bestandsmarktpräparate nach erfolgtem Aufruf vom Markt zu nehmen, weswegen sich die Versorgungssituation verschlechterte.5 Als Kompensation für die erhofften, nun definitiv wegfallenden Einsparungen aus dem Bestandsmarktaufruf erhöhte der Gesetzgeber den Grundrabatt (§ 130a Abs. 1 SGB V) von sechs auf sieben Prozentpunkte und verlängerte das Preismoratorium (§ 130a Abs. 3a SGB V). Der Abgabepreis von Arzneimitteln bleibt somit bis zum 31. 12. 2017, mit Inkrafttreten des AM-VSG sogar bis zum 31. 12. 20226, auf dem Preisstand des 01. 08. 2009 eingefroren. Aus Sicht der pharmazeutischen Industrie resultieren aus den ergriffenen Kompensationsmaßnahmen eine Vielzahl an verfassungsrechtlich interessanten Fragestellungen, die nachfolgend untersucht werden.
B. Grundrabatterhöhung I. Vereinbarkeit mit der Finanzverfassung Bereits die mit dem Beitragssatzsicherungsgesetz vom 23. 12. 20027 eingeführte Verpflichtung der pharmazeutischen Industrie, Apotheken den Abschlag vom Arzneimittelpreis zu erstatten, den diese wiederum den Krankenkassen gewähren müssen, wurde als unvereinbar mit der Finanzverfassung angesehen. Im 4
Ausschussdrucksache 18(14)0009(2), S. 3. Stadelhoff, Rechtsprobleme des AMNOG-Verfahrens, 2016, S. 76 – 77. 6 Das am Ende der 18. Legislaturperiode verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (AM-VSG) verlängerte das Moratorium dann bis zum 31. 12. 2022; näher dazu bereits: § 4 B. III. 5. 7 BGBl. 2002 I, S. 4637. 5
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§ 5 Verfassungsmäßigkeit der Kompensationsmaßnahmen
Rahmen dessen wurde argumentiert, dass ein die Entlastung der Krankenkassen auf Kosten der pharmazeutischen Industrie bezweckendes Gesetz im Ergebnis einer Sonderabgabe gleichkomme. Gleichzeitig seien aber die für solche besonderen Geldleistungspflichten erforderlichen Zulässigkeitsvoraussetzungen nicht erfüllt.8 Formal lasse sich diese staatlich veranlasste Quersubventionierung zwischen Privaten zwar weder unter den verfassungsrechtlichen Steuertatbestand, noch unter den Tatbestand einer Leistungssubvention subsumieren. In materieller Hinsicht umgehe die in § 130a Abs. 1 S. 3 SGB V angeordnete Quersubventionierung der Krankenkassen durch die pharmazeutische Industrie aber die finanzverfassungsrechtliche Kompetenzenordnung. Der einfache Gesetzgeber könne nicht von den finanzverfassungsrechtlichen Maßstäben entbunden sein, nur weil er sich – anders als beim Kohlepfennig9 – diesmal dafür entschieden habe, den technischen Zwischenschritt der Verbuchung in eigenständigen Fonds zu unterlassen.10 Für die Frage, ob die finanzverfassungsrechtlichen Regelungen einschlägig sind, müsse deshalb primär auf die abgabenähnliche sowie die hieraus resultierende staatlich veranlasste Finanzierungswirkung der quersubventionierenden Zwangsrabatte abgestellt werden. Sämtliche Voraussetzungen staatlicher Einnahmen – also private Belastungswirkung sowie hoheitlich zurechenbare öffentliche Aufkommenswirkung – seien gegeben. Der Zwangsrabatt greife zielgerichtet und zwangsweise durchsetzbar auf private Mittel zu, um sie privaten Dritten zuzuwenden. Diese vergleichbare Wirkungsweise dürfe aber nicht dazu verleiten, die Maßstäbe des Abgabenrechts unbesehen auf nicht abgabenrechtliche Handlungsmittel zu übertragen. Die öffentliche Aufkommenswirkung sei deshalb nur dann gegeben, wenn die Quersubventionierung dem Staat dergestalt zugerechnet werden könne, dass sie als abgekürzter Zahlungsweg einer vorangegangenen staatlichen Mittelvereinnahmung bei sofortiger Weiterleitung an die Begünstigten erscheine. Dies sei bei der Verfolgung von Gemeinwohlbelangen, die außerhalb des Interessenausgleichs im jeweiligen Privatrechtsverhältnis liegen, aber der Fall.11 Die Haushaltsflüchtigkeit erreiche deshalb bei einer solchen 8 Kube/Palm/Seiler, NJW 2003 S. 929 – 930; Morgenthaler, Die Zwangsrabatte der Apotheken, Großhändler und Pharmaunternehmen nach dem Beitragssicherungsgesetz, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 16 – 28; Posser/Müller, NZS 2003 S. 181; Schnapp, VSSR 2003 S. 343 – 362; Wagner, PharmR 2003 S. 416 – 418; Ausschussdrucksache 18(14)0223(17), S. 29 zum Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (AM-VSG); allgemein zu den Zulässigkeitsvoraussetzungen etwa: Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 483 – 484 m. w. N. 9 BVerfGE 91, 186 (201). 10 Kube/Palm/Seiler, NJW 2003 S. 929 – 930; Morgenthaler, Die Zwangsrabatte der Apotheken, Großhändler und Pharmaunternehmen nach dem Beitragssicherungsgesetz, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 24. 11 Kube/Palm/Seiler, NJW 2003 S. 929.
B. Grundrabatterhöhung
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Mittelabschöpfung und -vergabe zur Verfolgung von Gemeinwohlzwecken eine neue Dimension. Das Bundesverfassungsgericht verweigerte dieser Argumentation in seinem Beschluss12 vom 13. 09. 2005 die Gefolgschaft. Die Maßstäbe für die Auferlegung nichtsteuerlicher Abgaben seien nicht auf staatliche Preisreglementierungen wie Mindestvergütungen oder Zwangsrabatte anwendbar. Sinn und Zweck der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu den Sonderabgaben sei es vielmehr, eine Umgehung der Finanzverfassung in den Fällen zu verhindern, in denen der Gesetzgeber unter Rückgriff auf seine Kompetenzen aus den Art. 70 ff. GG den Bürger jenseits der finanzverfassungsrechtlichen Verteilungsregeln mit nichtsteuerlichen Abgaben belegt. Preisinterventionen des Staates würden sich demgegenüber nur im Bereich privatautonom vereinbarter Leistungsbeziehungen auswirken. Der Schutzzweck der Rechtsprechung zu den Sonderabgaben greife deshalb nicht ein. In den Fällen, in denen der Gesetzgeber auf eine Abgabepflicht und entsprechende Finanzierungsinstrumente verzichtet, sei die Finanzverfassung kein Prüfungsmaßstab. Es genüge vielmehr, wenn die entsprechenden Preisinterventionen den übrigen formellen und materiellen Voraussetzungen des Grundgesetzes entsprechen. Der Bürger sei insoweit hinreichend durch die Grundrechte aus Art. 14, aus Art. 12 und gegebenenfalls aus Art. 2 GG geschützt.13 Die zur Kompensation der weggefallenen Vorteile aus der abgeschafften Bestandsmarktbewertung erfolgte Erhöhung des Grundrabattes bzw. seine technische Gewährung im Dreiecksverhältnis zwischen Herstellern, Apothekern und Krankenkassen stünde demnach ebenfalls im Einklang mit der Finanzverfassung. Ungeachtet dessen kam in anderem Kontext in jüngerer Zeit14 erneut die Frage auf, wie eine, nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes grundsätzlich nicht an der Finanzverfassung zu messende, staatliche Preisreglementierung von einer Sonderabgabe abzugrenzen ist. Stein des Anstoßes war eine mit Wirkung zum 01. 01. 2012 erfolgte Novellierung des Erneuerbare Energien Gesetzes. Seitdem ist durch Parlamentsgesetz festgelegt, dass Erzeuger, die Strom aus erneuerbaren Quellen bereitstellen, einen gesetzlich garantierten Mindestpreis erhalten. Der über den jeweiligen Marktpreis hinausreichende Anteil wird – wie bei den Zwangsrabatten in der GKV – über die Wertschöpfungskette hinweg letztlich auf die Stromverbraucher umgewälzt. Ähnlich der bei den Zwangsrabatten 12
BVerfGE 114, 196 (196 ff.). BVerfGE 114, 196 (250); a. A. Dettling, MedR 2006 S. 88, der wegen der Politik der Verschiebebahnhöfe (vgl. § 2 VII) den allgemeinen Staatshaushalt und den Haushalt der GKV als Einheit begreift. 14 Manssen, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2012, S. 170 – 188; Manssen, DÖV 2012 S. 499 – 503; siehe auch: Ausschussdrucksache 18(14)0223(17), S. 29 zum am Ende der 18. Legislaturperiode verabschiedeten Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung in der GKV (AM-VSG). 13
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geführten Diskussion bejahen Teile der Literatur15 die für die Abgabeeigenschaft konstitutive Aufkommenswirkung, „wenn sich das hoheitliche Gemeinwesen mit der Abgabe die Verfügungsgewalt über Finanzmittel verschafft, auch ohne dass die Abgabe in den Haushalt oder ein öffentlich-rechtliches Sondervermögen fließt.“16 Wie dann allerdings eine Abgrenzung zu bloßen staatlichen Preisreglementierungen – verwiesen sei hier nur auf die Tarife zur Personenbeförderung oder die Gebührenordnungen für bestimmte Berufsgruppen – erfolgen soll, bleibt im Dunkeln. Zwangsrabatte oder Mindestpreise aus Gemeinwohlgründen wären mit dieser Begründung stets als abgekürzter Haushaltskreislauf und damit als Sonderabgabe anzusehen. Eine Sonderabgabe stellt aber gerade keinen abgabenrechtlichen Auffangtatbestand dar, sondern einen Tatbestand mit Warnfunktion, dem bei Vorliegen seiner Voraussetzungen rechtfertigende Kraft zukommt.17 Insofern scheint der von den Befürwortern18 eines weiten Abgabenbegriffes befürchtete Verlust an Formenklarheit weniger durch Zwangsrabatt- oder Mindestpreisregelungen als gerade durch die weite Auslegung selbst gefährdet zu sein. Abgesehen davon unterstellen die Befürworter auch, dass die jeweilige Markttransaktion zu einem, den Marktpreis übersteigenden Preis, durchgeführt wird. Nur dann ist es nämlich möglich, dass der den Marktpreis übersteigende Betrag dem Zahlungsempfänger als staatliche Transferleistung zukommt. Eine Prämisse, die man wegen der großen Menge an Arzneimitteln, die die GKV der pharmazeutischen Industrie abnimmt, durchaus in Zweifel ziehen kann. Eine Gewährung von sieben Prozentpunkten Mengenrabatt erscheint nämlich bei einer freien Marktpreisbildung nicht vollkommen fernliegend,19 wenngleich seine Gewährung aber keinesfalls zwingend ist.20 Konsequenterweise müsste dabei aber den, den Löwenanteil abnehmenden, gesetzlichen Kassen, mehr Rabatt gewährt werden als den privaten Kassen. Am Ergebnis ändert das aber nichts. Eine Preisfestsetzung, welche einen Marktteilnehmer in dieser Form subventioniert, um einen Interessensausgleich zu erreichen, den die Marktbedingungen nicht leisten können, mag zwar im Ein15 Manssen, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2012, S. 185; Manssen, DÖV 2012 S. 502; kritisch bereits zur Umlage alter Wälzung: Morgenthaler, Die Zwangsrabatte der Apotheken, Großhändler und Pharmaunternehmen nach dem Beitragssicherungsgesetz, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 26. 16 Manssen, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2012, S. 183. 17 BVerfG, Kammerbeschluss vom 09. Januar 1996 – 2 BvL 12/95 –, Rn. 14 = RdE 1996, S. 106; Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, § 2 Rn. 39. 18 Kube/Palm/Seiler, NJW 2003 S. 929 – 930; Posser/Müller, NZS 2003 S. 181; Wagner, PharmR 2003 S. 420. 19 So auch ausdrücklich die Gesetzesbegründung zur Einführung bzw. Erhöhung des Herstellerabschlages gemäß § 130a SGB V, BT-Drs. 15/28 S. 16 bzw. BT-Drs. 18/201, S. 7. 20 Näher dazu: § 5 B. II. 8. c) aa).
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zelfall weitgehend die gleichen Wirkungen erzielen wie eine Sonderabgabe. Das alleine führt aber – nach wie vor – noch nicht dazu, dass das zu Grunde liegende Gesetz an den Maßstäben der Finanzverfassung zu messen ist.21 Die Abschläge werden nur dann fällig, wenn die Versicherungen die verordneten Präparate auch bezahlen. Sie stehen in einem unlösbaren Zusammenhang mit der Beschaffung von Gütern und werden nur deshalb im Dreiecksverhältnis erhoben, da neben dem Vertriebsweg auch die Handelsspannen gesetzlich vorgegeben sind und daran auch nichts geändert werden soll. Die Kassen kaufen lediglich zum Vorzugspreis ein. Es geht folglich überhaupt nicht um die Generierung von Einkünften, sondern um die Reduktion von Ausgaben. Ein Lenkungs- oder gar Finanzierungszweck ist nicht mit ihnen verbunden.22 Die Erhöhung des Grundrabattes von sechs auf sieben Prozentpunkte zur Kompensation der erhofften weggefallenen finanziellen Vorteile aus der Bestandsmarktbewertung ist deshalb mit der Finanzverfassung vereinbar.
II. Berufsfreiheit der Hersteller von Pharmazeutika Deshalb ist – wie auch im zitierten Beschluss zum Beitragssicherungsgesetz23 ausdrücklich ausgeführt – weiter zu prüfen, ob bzw. inwieweit die Erhöhung des Grundrabattes mit der von Art. 12 Abs. 1 GG geschützten Berufsfreiheit vereinbar ist. 1. Persönlicher Schutzbereich Damit sich die betroffenen Unternehmen der pharmazeutischen Industrie auf dieses Bürgerrecht überhaupt berufen können, muss der persönliche Schutzbereich eröffnet sein. Betroffen sind neben deutschen und innergemeinschaftlichen auch Unternehmen aus Drittstaaten. Damit eine Grundrechtserstreckung dieses Individualgrundrechtes gemäß Art. 19 Abs. 3 GG auf sämtliche Unternehmen der pharmazeutischen Industrie erfolgen kann, muss die Berufsfreiheit wesensmäßig auf sie anwendbar sein. Wie die wesensmäßige Anwendbarkeit bestimmt werden soll, wird nach wie vor kontrovers diskutiert. Insbesondere das Bundesverfas21 BVerfG, Kammerbeschluss vom 09. Januar 1996 – 2 BvL 12/95 –, Rn. 17 = RdE 1996, S. 106; Becker, NZS 2003 S. 568; Wallerath, SGb 2006 S. 508. 22 Becker, NZS 2003 S. 564; Becker, Zwangsrabatte nach dem Beitragssatzsicherungsgesetz – Zulässigkeit nach materiellem Recht, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 36; Hase, Die Rabatte der pharmazeutischen Unternehmer nach § 130a SGB V, in: Butzer/Kaltenborn/Meyer (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat: Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag, 2008, S. 457; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 420 Fn. 181; Wallerath, SGb 2006 S. 508. 23 BVerfGE 114, 196 (250).
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sungsgericht24 sah in der Vergangenheit eine Einbeziehung der juristischen Personen in den Schutzbereich der Grundrechte nur dann als gerechtfertigt an, wenn ihre Bildung und Betätigung Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen war. Dies sollte vor allen Dingen dann gelten, wenn der „Durchgriff“ auf die, hinter den juristischen Personen stehenden Menschen, eine Grundrechtserstreckung als sinnvoll oder erforderlich erscheinen lasse.25 Dem wird entgegengehalten, dass es nicht auf das personale Substrat der Vereinigung ankommen könne. Art. 19 Abs. 3 GG wolle ja gerade eine eigene, vom Schutze natürlicher Personen unabhängige Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen begründen. Deshalb sei danach zu fragen, ob sich die juristische Person in einer, der natürlichen Person vergleichbaren, grundrechtstypischen Gefährdungslage befinde und somit die gleiche Schutzbedürftigkeit wie eine natürliche Person aufweise.26 Dass es sich hierbei um kein theoretisches Problem handelt, zeigt sich beim zweiten, für die Grundrechtserstreckung zu erfüllenden Tatbestandsmerkmal, nämlich dem der inländischen juristischen Person. Juristische Person ist nicht im engen technischen Sinne zu verstehen, sondern mit dem Begriff der Vereinigung im Sinne des Art. 9 Abs. 1 GG gleichzusetzen. Folglich ist jeder, zumindest teilrechtsfähige Personenverband als juristische Person anzusehen.27 Da es um einen, allein nach deutschem Verfassungsrecht zu beurteilenden Anknüpfungspunkt für die Grundrechtserstreckung geht, ist zur Bestimmung der räumlichen Zuordnung einer juristischen Person zum Inland, ungeachtet der EuGH Rechtsprechung28 zum maßgeblichen Gesellschaftsstatut, nach wie vor auf die Sitztheorie zu rekurrieren.29 Nach der Sitztheorie kommt es nicht auf den Ort der Gründung, den satzungsmäßig festgelegten Sitz oder die beim Gründungsakt gewählte Rechtsordnung, sondern auf den effektiven Verwaltungssitz an. Gemeint ist damit das selbst gewählte tatsächliche Aktionszentrum der Organe der juristischen Person.30 Ausgenommen hiervon sind allerdings Gesellschaften mit einem Sitz im EU-Ausland. Für diese gebietet der Anwendungsvorrang der Grundfreiheiten im Binnenmarkt (Art. 26 Abs. 2 AEUV) sowie das allgemeine 24
BVerfGE 21, 362 (369); 68, 193 (205 f.); 75, 192 (196). BVerfGE 21, 362 (369). 26 Dreier, in: Dreier, GG, 2013, Art. 19 Abs. 3 Rn. 34; Tettinger, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 51 Rn. 61. 27 Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 6 Rn. 36 – 37; Schneider, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 113 Rn. 49. 28 EuGH v. 9..3. 1999, Rs. C-212/97, Slg. 1999, I-1459- Centros; v. 5. 11. 2002, Rs. C-208/00, Slg. 2002, I-9919 – Überseering; v. 30. 9. 2003, Rs. C-167/01, Slg 2003, I-10155 – Inspire Art. 29 Tettinger, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 51 Rn. 45. 30 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 21, 207 (209); BVerfG, NJW 2002, 1485; NVwZ 2008, 671; aus der Literatur: Dreier, in: Dreier, GG, 2013, Art. 19 Abs. 3 Rn. 80; Tettinger, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 51 Rn. 42 – 45. 25
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Diskriminierungsverbot aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 18 AEUV) eine Anwendungserweiterung des deutschen Grundrechtsschutzes. Trotz des entgegenstehenden Wortlautes von Art. 19 Abs. 3 GG gelten solche Gesellschaften auch ohne effektiven deutschen Verwaltungssitz im Ergebnis als inländische juristische Personen.31 Regelmäßig handelt es sich bei den in Deutschland tätigten Unternehmen der pharmazeutischen Industrie um juristische Personen im engen technischen Sinne. Diese sind entweder als konzernunabhängige oder konzernverbundene Gesellschaften inländischer oder ausländischer juristischer Personen am deutschen Markt tätig. Zu diesem Zwecke wird in Deutschland in jedem Falle eine gut ausgebaute Vertriebsstruktur unterhalten, die den ebenfalls regelmäßig in Deutschland tätigen Leitungsorganen unterstellt ist. Es handelt sich somit in aller Regel um inländische juristische Personen im Sinne des Art. 19 Abs. 3 GG. Als nicht unproblematisch stellen sich allerdings inländische juristische Personen dar, die von Nicht-EU-Ausländern beherrscht werden. Denn Nicht-EU-Ausländer wären als natürliche Personen von der Grundrechtsausübung ausgeschlossen, nicht aber als Gesellschafter bzw. beherrschende Mitglieder einer inländischen juristischen Person. Die korporative Freiheit würde somit weiter reichen als die individuelle Freiheit.32 Ohne nähere Begründung stellte sich das Bundesverfassungsgericht allerdings auf den Standpunkt, dass es für die Beantwortung der Frage, ob es sich um eine inländische oder eine ausländische juristische Person handelt, allein auf deren Sitz und nicht auf die Staatsangehörigkeit der hinter ihr stehenden Personen ankommen soll.33 Damit steht dann aber auch fest, dass es eines Durchgriffs auf die, hinter den juristischen Personen stehenden, natürlichen Personen nicht bedarf, um die wesensmäßige Anwendbarkeit begründen zu können. Auf das personale Substrat der Vereinigung allein kann es also spätestens jetzt34 nicht mehr ankommen. Für den hier interessierenden Kontext bleibt deshalb festzuhalten, dass auch mehrheitlich von Nicht-EU-Ausländern beherrschte Tochtergesellschaften pharmazeutischer Unternehmen inländische juristische Personen sein können. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, dass das Grundrecht der Berufsfreiheit wesensmäßig auf juristische Personen anwendbar ist. Obwohl man wegen des personalen Gehalts des Grundrechtes durchaus grundsätzliche Zweifel an der wesensmäßigen Anwendbarkeit hegen kann, bezieht das
31 BVerfGE 129, 78 (94 ff.); das gleiche Ergebnis erreicht die Literatur auf methodisch anderen Wegen, dazu: Dreier, in: Dreier, GG, 2013, Art. 19 Abs. 3 Rn. 84; Tettinger, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 51 Rn. 49; jeweils m. w. N. 32 Merten, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 56 Rn. 99 m. w. N. 33 BVerfG, NVwZ 2008, S. 670 – 671. 34 Bereits in den Entscheidungen BVerfGE 45, 63 (79); 61, 82 (102); 106, 28 (43 f.) war von der grundrechtstypischen Gefährdungslage die Rede; dazu auch: Tettinger, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 51 Rn. 35 – 39.
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Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung35 juristische Personen in den Schutzbereich der Berufsfreiheit ein. Geschützt werde die Freiheit, eine Erwerbszwecken dienende Tätigkeit zu betreiben, soweit diese Tätigkeit ihrem Wesen und ihrer Art nach in gleicher Weise von einer juristischen, wie von einer natürlichen Person ausgeübt werden kann.36 Eine Voraussetzung, die das Gericht bei den oftmals sehr großen Unternehmen der pharmazeutischen Industrie bislang immer bejaht hat. Zwar ginge der personale Grundzug des Grundrechts bei Großunternehmen nahezu gänzlich verloren; Unternehmerfreiheit sei im Falle von Großunternehmen aber nicht Element der Ausformung der Persönlichkeit des Menschen. In der hoch entwickelten, leistungsfähigen deutschen Volkswirtschaft nähmen Großunternehmen eine wichtige Rolle ein. Diese Situation dürfe aber nicht dazu führen, kleinen und mittleren Unternehmen das freie Gründen und Führen ihrer Unternehmung grundrechtlich zu garantieren, Großunternehmen hingegen vom Schutzbereich der Berufsfreiheit auszunehmen.37 2. Sachlicher Schutzbereich In sachlicher Hinsicht ist für die Schutzbereichseröffnung lediglich ein berufsbezogenes Verhalten des Grundrechtsträgers erforderlich, sodass der gewährleistete Freiheitsbereich sehr weit ausfällt.38 Entsprechend weit ist deshalb auch die Definition des Berufsbegriffes.39 Beruf ist jede auf eine gewisse Dauer angelegte Tätigkeit, die der Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage dient. Die Tätigkeit darf also nicht per se antiprofitabel sein, wobei der geforderte, dauerhaft lebenserhaltungsorientierte Erwerb ein Streben nach Profit nahelegt.40 Unschädlich ist es jedenfalls, wenn der Grundrechtsträger von seinem Beruf tatsächlich nicht leben kann.41 Für die Eröffnung des Schutzbereiches ebenfalls unschädlich ist es, wenn das einfache Recht die Ausübung einer, die Merkmale des Berufsbegriffs grundsätzlich erfüllenden Tätigkeit verbietet. Eine Schutzbereichsbegrenzung in dem Sinne, dass seine Gewährleistung von vorneherein nur erlaubte Tätigkeiten
35 BVerfGE 50, 290 (363); 97, 228 (253); 102, 197 (213); 105, 252 (265); 115, 205 (229); 126, 112 (136). 36 BVerfGE 30, 292 (312); 50. 290 (363); 65, 196 (209 f.); 74, 129 (148 f.). 37 BVerfGE 50, 290 (363); Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 53. 38 BVerfGE 95, 267 (301). 39 BVerfGE 7, 377 (397). 40 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 231 Fn. 109; a. A. wohl BVerwGE 95, 15 (20), das bei einem gemeinnützigen Verein einen ökonomischen Grundbezug in Form kostendeckenden Arbeitens für ausreichend erachtet hatte. 41 BVerfGE 97, 228 (252 f.); Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 6; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 231; Schneider, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 113 Rn. 55.
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umfasst,42 komme allenfalls bei solchen Tätigkeiten in Betracht, die schon ihrem Wesen nach als verboten anzusehen sind, weil sie aufgrund ihrer Sozial- und Gemeinschaftsschädlichkeit schlechthin nicht am Schutz durch das Grundrecht der Berufsfreiheit teilhaben können.43 Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings der Einwand, dass gesellschaftliche Wertvorstellungen einem stetigen Wandel unterliegen und somit die Grenzen des Schutzbereiches ohne Not unscharf konturiert werden. War die gewerbsmäßige Prostitution viele Jahre das Paradebeispiel für eine sittlich verbotene Tätigkeit, erkennt man sie heute weitestgehend an, um die sich prostituierenden Frauen sozial abzusichern und typische Rotlichtkriminalität besser bekämpfen zu können.44 Abgesehen davon, sind sämtliche menschlichen Verhaltensformen ohne Rücksicht auf ihren sozialen Wert von der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt. Rechtfertigende Begrenzungen derselben sind der Schrankenebene vorbehalten.45 Erkennt man Art. 12 Abs. 1 GG die Funktion zu, die freie Entfaltung der Persönlichkeit im Bereich dauerhafter Erwerbstätigkeit zu sichern, erscheint es nur folgerichtig, Begrenzungen der verbürgten Freiheit ebenfalls erst auf Ebene der Schranken vorzunehmen.46 a) GKV-Leistungserbringer als eigenständiger Beruf Ausgehend von diesen grundlegenden Erwägungen lässt sich zunächst einmal feststellen, dass alle Vorgänge, die zur Herstellung eines Arzneimittels erforderlich sind (vgl. § 4 Abs. 14 AMG), zwar unter einem präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt stehen (§ 13 AMG); sozialschädlich sind sie jedoch keinesfalls. Ferner können sich die Entwicklung, die Herstellung und der Vertrieb von Arzneimitteln schon alleine wegen ihrer langen und aufwendigen Produktentwicklung nicht in einem einmaligen Erwerbsakt erschöpfen. Die Tätigkeit ist deshalb auf gewisse Dauer angelegt. Sie ist ihrem Wesen nach auch nicht antiprofitabel. Vielmehr wird sie in aller Regel von den, ihren Shareholdern verpflichteten, pharmazeutischen Unternehmen sogar mit Gewinnerzielungsabsicht betrieben. Sie ist deshalb in jedem Falle dazu geeignet, sich eine Lebensgrundlage zu erhalten bzw. zu schaffen, weshalb die an einen Beruf, im Sinne des Art. 12 Abs. 1 GG, gestellten Voraussetzungen erfüllt sind. Nicht gesagt ist damit freilich, welcher Beruf ausgeübt wird. So wäre es denkbar, dass die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie als Leistungserbringer der gesetzlichen Krankenver42
In diese Richtung: BVerwGE 87, 37 (40 f.). BVerfGE 115, 276 (301); 117, 126 (137); Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 8. 44 Vgl. BVerwG, NVwZ 2009, S. 909; VG Berlin, NJW 2001, S. 983; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 8; siehe auch § 1 Prostitutionsgesetz vom 20. 12. 2001. 45 BVerfGE 80, 137 (152 ff.). 46 Kämmerer, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 12 Rn. 18; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 232; Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 43. 43
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sicherung einen „Sonderberuf“47 ausüben. Für die Anerkennung als Beruf ist nicht ausschlaggebend, ob der Gesetzgeber bereits ein entsprechendes Berufsbild festgelegt hat. Von der Berufsfreiheit geschützt sind nicht nur traditionell oder gesetzlich fixierte Berufsbilder, sondern auch durch die fortschreitende technische, soziale oder wirtschaftliche Entwicklung neu entstandene Berufe.48 Die ohnehin schon weit konzipierte Berufsfreiheit umfasst damit auch die Freiheit zur Erfindung eines neuen Berufs. Eine gesetzliche Fixierung von Berufsbildern stellt deshalb einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Berufsfreiheit dar.49 Ob eine Tätigkeit ein eigener Beruf oder lediglich ein Teil einer umfassenderen beruflichen Tätigkeit ist, richtet sich nach den realen, die Lebensführung prägenden Lebensumständen, die wiederum an soziale Verhaltensmuster anknüpfen.50 Es ist danach zu fragen, ob es sich um einen in der sozialen Wirklichkeit akzeptierten Beruf handelt.51 Eine Frage, die vom Bundesverfassungsgericht für Kassen(zahn)ärzte ausdrücklich verneint wurde.52 Es könne zwar ärztliche Tätigkeiten geben, die sich in ihrer Aufgabenstellung und durch ihre rechtliche Ausgestaltung so sehr vom Beruf des frei praktizierenden Arztes unterscheiden, dass man sie als besonderen Beruf ansehen müsse. Zu nennen sei hier beispielsweise der Amtsarzt. Allerdings sei „Kassenarzt“ kein eigener Beruf, der sich signifikant von der Tätigkeit eines reinen Privatarztes unterscheide. Die Beschränkungen in der Wahl der Behandlungsweise und bei der Veranlassung von Leistungen Dritter, die ihm aus Rücksicht auf die finanzielle Leistungsfähigkeit der Krankenkassen auferlegt sind, ändere daran nichts. Sie unterschieden sich nur der Form nach von den Beschränkungen, die sich bei der Behandlung von Privatpatienten aus deren individueller finanzieller Leistungsfähigkeit ergäben. Auch der Patientenkreis des Kassenarztes und des nicht zugelassenen Arztes sei rechtlich, wenn auch nicht faktisch derselbe. Der Kassenarzt dürfe jederzeit Privatpatienten behandeln, wie umgekehrt der nicht zur kassenärztlichen Versorgung zugelassene Arzt jederzeit Kassenmitglieder behandeln dürfe, sofern sie bereit sind, ihn selbst zu honorie47
BVerfGE 9, 39 (48). BVerfGE 119, 59 (78); 97, 12 (25 f.). 49 Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 6; Kämmerer, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 12 Rn. 16; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 251; Schneider, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 113 Rn. 57; missverständlich: Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 34, der mit Verweis auf BVerfGE 17, 232 (241 f.) ein Berufserfindungsrecht negiert. Gemeint ist damit wohl, dass kein Raum mehr für eine untypische Berufsbetätigung besteht, wenn der Gesetzgeber das in Rede stehende Berufsbild gesetzlich fixiert hat. 50 BVerfGE 7, 377 (399). 51 BVerfG, NJW 1999, S. 2731; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 251. 52 BVerfGE 11, 30 (41 f.); 12, 144 (147). 48
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ren.53 Nichts anderes kann dann für Unternehmen der pharmazeutischen Industrie gelten. Zwar sprechen auch hier ökonomische Gründe dafür, den Beruf als Leistungserbringer für die GKV auszuüben. Dass Pharmaunternehmen aber mit der Abgabe von Arzneien zulasten der GKV die höchsten Umsätze bzw. Erträge erwirtschaften, führt noch nicht zum spezifischen Beruf des GKV Pharmaunternehmens. Vielmehr weist diese Tätigkeit nach sozialer Anschauung keinerlei Unterschied zur Versorgung von Privatpatienten auf. Der Privatpatient bekommt im Grundsatz exakt das gleiche, auf den selben Vertriebswegen verordnete Präparat wie der Versicherte einer gesetzlichen Krankenkasse. Daran ändern auch Rabattverträge oder das Festbetragssystem nichts. Denn der für das pharmazeutische Produkt charakteristische Wirkstoff bleibt der Gleiche. Selbst beim Preis des Präparates besteht seit Inkrafttreten des Arzneimittelrabattgesetzes ein weitgehender Gleichlauf, wenngleich teurere Originalpräparate bei gesetzlich Versicherten sicherlich zurückhaltender verordnet werden. An der sozialen Wahrnehmung des Berufsbildes „pharmazeutischer Unternehmer“ dürfte dies aber nichts ändern. Etwas anderes könnte allenfalls für den sehr theoretischen Fall gelten, dass es sich um Leistungen handelt, die so nur im Rahmen der GKV erbracht werden können.54 Abgesehen davon bieten pharmazeutische Unternehmen ihre Produkte weltweit an, sodass man schon alleine deshalb berechtigte Zweifel daran hegen kann, ob sie nach sozialer Anschauung einen eigenständigen Beruf des pharmazeutischen Unternehmers für die gesetzliche Krankenversicherung in Deutschland ausüben. b) Einheitlicher Schutzbereich Ausweislich des Wortlautes von Art. 12 Abs. 1 GG ist neben der Berufswahl auch die Berufsausübung geschützt. Weil sich die Phasen der Berufswahl und seiner Ausübung nicht so klar voneinander trennen lassen, dass beide Phasen keinerlei Schnittmenge miteinander aufweisen, wird Art. 12 Abs. 1 GG von der Judikatur als einheitliches Grundrecht der Berufsfreiheit erweiternd ausgelegt.55 Gerade diese, über die bloße Wahlfreiheit hinausreichende, erweiternde Auslegung hat vor allem für die Berufsfreiheit der Unternehmer Bedeutung. Anders als 53 BVerfGE 7, 377 (399); kritisch dazu: Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 34. 54 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 252. 55 BVerfGE 7, 377 (400 f.); Kämmerer, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 12 Rn. 24; Manssen, in: MKS, GG, 2010, Art. 12 Abs. 1 Rn. 51; a. A. Hufen, NJW 1994, S. 2917; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 231 Fn. 105 m. w. N., die – dogmatisch überzeugender – auf den entgegenstehenden Wortlaut und den entgegenstehenden, erkennbaren Willen des Verfassungsgebers verweisen.
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Arbeitnehmer sind sie nämlich Adressat zahlreicher staatlicher Regulierungen.56 Die Berufsausübungsfreiheit umfasst dabei alle tätigkeitsbezogenen Aspekte des Berufs wie seinen Ort seinen Inhalt, seinen Umfang, seine Dauer, sein äußeres Erscheinungsbild, seine Verfahrensweisen und die mit seinen Instrumenten zusammenhängenden Modalitäten. Die Berufsausübungsfreiheit umgreift somit eine ganze Reihe von Einzelfreiheiten,57 die entweder direkt58 als Ausprägung derselben gesehen werden oder aber ihrerseits wiederum der Unternehmer- und der Unternehmensfreiheit zugeordnet59 werden. Unternehmerfreiheit beschreibt das Recht des Einzelnen, Kapital- und Personengesellschaften zu Erwerbszwecken zu gründen, zu unterhalten und zu leiten. Unternehmensfreiheit hingegen umschreibt die Betätigungsfreiheit als Korporation bzw. juristische Person.60 Da die Benennung und Auffächerung spezieller Teilfreiheiten der Berufsfreiheit keinesfalls weder ihren Schutzumfang noch ihre Schutzintensität verändern, wird zu Recht bezweifelt, inwieweit diese Neuschöpfungen die Grundrechtsdogmatik sinnvoll weiterentwickeln.61 Auf eine diesbezügliche Zuordnung wird deswegen weitestgehend verzichtet. aa) Wirtschaftliche Verwertung eigener Leistung Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist insbesondere die wirtschaftliche Verwertung der beruflich erbrachten Leistung von der Berufsfreiheit geschützt. Der sachliche Umfang des grundrechtlichen Schutzes erstrecke sich wegen der existenzsichernden Funktion des Berufes auf all seine Aspekte.62 Das Gericht hatte in dieser Entscheidung über die Verfassungsmäßigkeit eines Landesgesetzes63 zu befinden, das jedem in Europa zugelassenen Fernsehveranstalter ein Recht auf unentgeltliche Kurzberichterstattung im Fernsehen gewährte. Voraussetzung hierfür war lediglich, dass es sich um Veranstaltungen oder Ereignisse handelte, die öffentlich zugänglich und von allgemeinem Informationsinteresse waren. Durch die Pflicht, die Kurzberichterstattung unentgeltlich zu 56 Manssen, in: MKS, GG, 2010, Art. 12 Abs. 1 Rn. 72; Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 53. 57 Kämmerer, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 12 Rn. 27; Mann, in: Sachs, GG, 2014. Art. 12 Rn. 79; Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 53. 58 Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 17 – 25; Mann, in: Sachs, GG, 2014, Art. 12 Rn. 79. 59 Manssen, in: MKS, GG, 2010, Art. 12 Abs. 1 Rn. 69; Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 53. 60 BVerfGE 50, 290 (363); Kämmerer, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 12 Rn. 20; Manssen, in: MKS, GG, 2010, Art. 12 Abs. 1 Rn. 70. 61 Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 53. 62 BVerfGE 97, 228 (253). 63 § 3a a. F. des Gesetzes über den „Westdeutschen Rundfunk Köln“.
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gestatten, sah es die berufliche Dispositionsfreiheit des Ereignisveranstalters betroffen und den wirtschaftlichen Wert der Fernsehübertragung gefährdet. Fernsehveranstalter, die vom Ereignisveranstalter oder einem zwischengeschalteten Rechtehändler die Übertragungsrechte erworben haben, müssten die Kurzberichterstattung durch Konkurrenten hinnehmen und könnten dadurch Zuschauer und Werbeeinnahmen verlieren. Außerdem seien die Mitwirkenden an Veranstaltungen, die von dem Kurzberichterstattungsrecht erfasst werden, in ihrer Berufstätigkeit berührt, sofern sie über eigene Fernsehverwertungsrechte für ihre Leistung verfügen.64 Durchaus ähnlich verhält es sich bei dem gemäß § 130a Abs. 1 SGB V zu gewährenden Zwangsrabatt. Dieser tangiert ebenfalls die berufliche Dispositionsfreiheit der pharmazeutischen Industrie, indem er darauf abzielt, den wirtschaftlichen Wert innovativer Arzneimittel nicht nur zu gefährden, sondern sogar ausdrücklich zu reduzieren. Dabei hat diese staatliche Preisintervention nicht nur innerhalb des Systems der gesetzlichen Krankenversicherung Auswirkungen. Im Wege des international reference pricing (IRP) nimmt der in Deutschland geltende Arzneimittelpreis auch Einfluss auf die in anderen Staaten geltenden Arzneimittelpreise. So wird gemutmaßt, dass der Verlust von einem Euro in Deutschland einen zusätzlichen Verlust durch Referenzpreise von 50 Cent im Ausland nach sich ziehen könne.65 Referenzierte Preise können sich auf Herstellerabgabe‐, Erstattungs-, Apothekeneinkaufs‐ oder Apothekenverkaufspreise beziehen. Berücksichtigt werden können darüber hinaus Höchst- und Festpreise bzw. Höchst- und Festbeträge sowie gewährte Nachlässe. Je nach IRP-System können auch Länderkörbe gebildet oder einzelne Referenzländer ausgewählt werden, in denen entweder alle oder nur bestimmte Arzneimittel betrachtet werden. Insofern hängt die Intensität der tatsächlichen Betroffenheit von der Ausgestaltung des jeweils verwendeten IRP System ab. Betroffen ist die pharmazeutische Industrie durch den von ihr hinzunehmenden Zwangsrabatt aber allemal. Nicht zuletzt auch deshalb, weil der Zwangsrabatt auch wieder Einfluss auf den deutschen Preis nimmt, da § 130b Abs. 9 S. 3 SGB V anordnet, dass bei den Erstattungsbetragsverhandlungen der tatsächliche Abgabepreis in anderen Ländern berücksichtigt werden soll.66
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BVerfGE 97, 228 (254). Vorderwülbecke, Zwangsrabatt nach dem Beitragssicherungsgesetz – Politische, wirtschaftliche und strukturelle Bedeutung für die Pharma-Industrie, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 12; siehe auch: Cassel/Ulrich, AMNOG auf dem ökonomischen Prüfstand, 2015, S. 76 – 77. 66 BT-Drs. 17/2413, S. 31; Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 118; insbesondere zu den Folgeproblemen der Pflicht der regelmäßigen Übermittlung von Abgabepreisen in anderen Ländern: Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 175 – 182. 65
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Die im Regierungsentwurf67 des AM-VSG noch angedachte Entschärfung dieses Problems durch eine vertrauliche Behandlung der vereinbarten Erstattungsbeträge wurde nicht realisiert. Sie hätte ohnehin nur Arzneimittel betroffen, für die ein Nutzenbewertungsbeschluss im Sinne des § 35a Abs. 3 SGB V gefasst wurde. Abgesehen davon ist die wirtschaftliche Verwertung der von den Unternehmen der pharmazeutischen Industrie hergestellten Arzneimittel – also deren beruflich erbrachte Leistung – auch bei vollkommener Ausblendung des IRP vom Zwangsabschlagsregime betroffen. Auf die Schutzbereichseröffnung der Berufsfreiheit hätte die vertrauliche Behandlung der Erstattungsbeträge somit ohnehin keinen Einfluss gehabt. bb) Preisfreiheit als Ausprägung der Vertragsfreiheit Damit steht dann zugleich fest, dass es im Ergebnis nicht mehr darauf ankommt, ob die Preisfreiheit als Teilfreiheit der von der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützten Vertragsfreiheit68 anzusehen ist oder aber eine Ausprägung der Berufsfreiheit69 darstellt. Vertragsfreiheit sei der gemeinsame Oberbegriff für Abschlussfreiheit, Formfreiheit und Inhaltsfreiheit. Inhaltsfreiheit schütze die Freiheit, Leistung und Gegenleistung eines Vertrages selbst festzulegen. Die Vereinbarung einer Gegenleistung gehöre deshalb zu einem unabdingbaren Bestandteil des Austauschvertrages. Nur weil die Vertragsfreiheit für die berufliche Tätigkeit wichtig sei, dürfe sie aber noch nicht dem Schutze der Berufsfreiheit unterstellt werden. Die Vertragsfreiheit sei vielmehr als unbenanntes Freiheitsrecht zu verstehen und als solches der allgemeinen Handlungsfreiheit zuzuordnen.70 Andererseits ist der Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit – und damit auch der aus ihr abgeleitete Schutz der Vertragsfreiheit – subsidiär. Bedeutung für die Unternehmenstätigkeit kann er deshalb erst erlangen, wenn und soweit die spezielleren und stärkeren Grundrechte der Berufsfreiheit oder der Eigentumsga-
67 BT-Drs. 18/10208, S. 20; ausführlich zum Problem der Preistranzparenz: Stadelhoff, Rechtsprobleme des AMNOG-Verfahrens, 2016, S. 298 – 311. 68 BVerfGE 8, 274 (328); Manssen, in: MKS, GG, 2010, Art. 12 Abs. 1 Rn. 70. 69 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 88, 145 (159); 101, 331 (347); 106, 275 (298); 114, 196 (244); 117, 163 (181); BVerfG, NJW 2014, S. 46; NVwZ 2012, S. 697 – 698; aus der Literatur: Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 20; Kämmerer, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 12 Rn. 27; Kluth, ZHR 1998 S. 666; Mann, in: Sachs, GG, 2014, Art. 12 Rn. 79; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 467; Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 6; Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 53. 70 Manssen, in: MKS, GG, 2010, Art. 12 Abs. 1 Rn. 70 mit Verweis auf di Fabio, der aber besonders hervorhebt, dass das Recht zur freien Gestaltung der Vertragsbeziehungen bereits von spezielleren Grundrechten gewährleistet sein kann, di Fabio, in: MD, GG, 2016 (78 EL), Art. 2 Rn. 103.
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rantie nicht einschlägig sind.71 Es handelt sich somit weniger um eine Frage des sachlichen Gewährleistungsgehaltes als mehr um die zutreffende Lösung eines Konkurrenzproblems. Wann genau eine Verdrängungswirkung wegen Spezialität im Verhältnis von allgemeiner Handlungsfreiheit zu speziellen Freiheitsrechten eingreift, wird zwar uneinheitlich beurteilt. Uneingeschränkt bejaht wird sie aber dann, wenn das Verhalten in den Regelungs- und den Schutzbereich des speziellen Freiheitsrechtes fällt.72 Die freie Preisfestsetzung ist, wegen des Rechts auf wirtschaftliche Verwertung der beruflich erbrachten Leistung, wie soeben dargelegt, vom Schutzbereich der Berufsfreiheit erfasst. Entsprechendes gilt für den Lebensbereich dem das Grundrecht gilt, weswegen die freie Preisfestsetzung auch dem Regelungsbereich der Berufsfreiheit zuzuordnen ist. Abgesehen davon ist die Zuordnung von Handlungen unabhängig von ihrem Berufsbezug zur allgemeinen Handlungsfreiheit lebensfremd und impraktikabel. Sie führt nämlich zu einer grundrechtlichen Aufspaltung eines einheitlichen Lebenssachverhaltes, der insbesondere bei Grundrechtsträgern zutage tritt, deren berufliche Tätigkeit vornehmlich vom Vertragsabschluss geprägt ist.73 Schon alleine deshalb ist es absolut überzeugend, im Einklang mit der Judikatur74 die Vertragsfreiheit als Teil der Berufsausübungsfreiheit zu schützen, wenn die zu überprüfende staatliche Maßnahme die berufliche Betätigung betrifft. cc) Preisfreiheit als Ausprägung der Wettbewerbsfreiheit Weil die bestehende Wirtschaftsverfassung den freien Wettbewerb der als Anbieter und Nachfrager auf dem Markt auftretenden Unternehmen als eines ihrer Grundprinzipien enthalte, soll das Verhalten der an diesem Markt agierenden Unternehmer, Teil ihrer Berufsausübung sein.75 Das überrascht, hat sich „der Verfassungsgeber [doch] […] ausdrücklich [nicht] für ein bestimmtes Wirtschaftssystem entschieden“76. Eine staatliche Kommandowirtschaft sozialistischer oder 71 Badura, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 29 Rn. 18; Murswiek, in: Sachs, GG, 2014, Art. 2 Rn. 54; Schneider, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 113 Rn. 177. 72 Di Fabio, in: MD, GG, 2016 (78 EL), Art. 2 Rn. 26 – 27; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 6 Rn. 360 – 363. 73 Kämmerer, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 12 Rn. 44. 74 BVerfGE 23, 50 (56); 33, 171 (191); 68, 193 (223 f.); 116, 202 (221); 117, 163 (181); 118, 1 (15 ff.); 134, 204 (222 f.). 75 BVerfGE 32, 311 (317); Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 5. 76 BVerfGE 4, 7 (18); 7, 377 (400); zur wirtschaftspolitischen Neutralität des Grundgesetzes; Kluth, ZHR 1998 S. 662; Koenig, Die öffentlich-rechtliche Verteilungslenkung, 1994, S. 51 – 53; Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 25; speziell zum Gebiet der Arzneimittelversorgung Sodan, Wirtschaftslenkung im Recht der Arzneimittelversorgung, in: Peter/Rhein (Hrsg.), Wirtschaft und Recht, 1989, S. 94.
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national-autarkistischer Provenienz soll dann allerdings wegen der, von der Berufs- und Eigentumsfreiheit flankierten, grundlegenden Freiheitsidee des Art. 2 Abs. 1 GG aber auch nicht zulässig sein.77 Uneinheitlich wird auch der dogmatische Anknüpfungspunkt beurteilt. Während das Bundesverwaltungsgericht78 die Wettbewerbsfreiheit als Ausprägung der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2 Abs. 1 GG verankert sieht, ordnet sie das Bundesverfassungsgericht79 der Berufsfreiheit zu. In der Literatur hingegen wird erwogen, die Wettbewerbsfreiheit aus Art. 14 GG und Art. 3 Abs. 1 GG oder einer Kombination aus den genannten Normen abzuleiten.80 Große Unklarheiten bestehen auch bezüglich des genauen Gewährleistungsgehaltes der Wettbewerbsfreiheit. Da Konkurrenzschutz als solcher kein Gemeinwohlbelang sei,81 soll sie Freiheit im Wettbewerb, aber nicht von Wettbewerb gewährleisten.82 Wettbewerbsfreiheit soll die Teilhabe am Wettbewerb nach Maßgabe seiner Funktionsbedingungen sichern. Einen Anspruch auf Erfolg im Wettbewerb, die Sicherung künftiger Erwerbschancen, die dem allgemeinen Marktrisiko unterworfen sind oder aber ein Anspruch auf unveränderliche Wettbewerbsbedingungen hingegen, sollen nicht mit ihr verbunden sein.83 Wettbewerbsfreiheit wird deshalb als das Recht auf den Versuch verstanden, sich durch freie Leistungskonkurrenz als Anbieter und Nachfrager auf dem Markt gegenüber anderen durchzusetzen.84 Der Einzelne sei deshalb berechtigt, die näheren Umstände seiner Teilhabe am Marktgeschehen, wie die Art, die Qualität und den Preis seiner Produkte selbst festzulegen.85 Wettbewerbsfreiheit sei zwingende Folge der individuellen Berufsfreiheit und deshalb gewissermaßen als ihr Plural zu verstehen.86 77 Brenner, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 115 Rn. 2; di Fabio, in: MD, GG, 2016 (78 EL), Art. 2 Rn. 76. 78 BVerwGE 17, 306 (309); 30, 191 (198); 60, 154 (159); 65, 167 (174); 79, 326 (329); a. A. allerdings BVerwGE 28, 295 (299); 89, 281 (283). 79 BVerfGE 32, 311 (317); 46, 120 (137); Brenner, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 115 Rn. 9 m. w. N. 80 Koenig, Die öffentlich-rechtliche Verteilungslenkung, 1994, S. 55. 81 BVerfGE 97, 12 (31); 46, 120 (137). 82 Epping, Grundrechte, 2015, S. 184 Rn. 387; Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 31. 83 BVerfGE 32, 311 (317); 46, 120 (137 f.); 105, 252 (265); 106, 275 (299); 115, 205 (229); 116, 135 (152); Hoffmann-Riem, Der Staat 2004 S. 217; Kämmerer, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 12 Rn. 44; Manssen, in: MKS, GG, 2010, Art. 12 Abs. 1 Rn. 71; Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 660; a. a. O. S. 798; a. A. BVerwGE 30, 191 (198); 60, 154 (159); 65, 167 (174), das die Wettbewerbsfreiheit als Teil der Allgemeinen Handlungsfreiheit versteht. 84 Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 4 – 5 m. w. N. 85 BVerfGE 106, 275 (298 f.); Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 31. 86 Hufen, NJW 1994 S. 2915.
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Nicht ganz zu Unrecht wird diesen Formeln entgegengehalten, dass sie ebenso einprägsam wie unzutreffend sind, da sie über den Schutzgegenstand nichts aussagen.87 Die dogmatische Unschärfe führt zur Konturenlosigkeit des Schutzbereiches, die sich auch in der praktischen Umsetzung auswirkt. So wird die Festsetzung von Festbeträgen nicht am Grundrecht der Berufsfreiheit gemessen, da kein Vertrauensschutz bezüglich der herrschenden Wettbewerbsbedingungen bestünde. Hieraus resultierende Belastungen der pharmazeutischen Industrie seien ein bloßer Reflex.88 Gleichzeitig soll das aber nur innerhalb der bestehenden Wirtschaftsordnung gelten,89 obwohl das Grundgesetz, zumindest in den genannten Grenzen, doch wirtschaftspolitisch neutral ist.90 Der Gewährleistungsgehalt des Grundrechtes der Wettbewerbsfreiheit scheint also von der bestehenden, im Wesentlichen frei festlegbaren Wirtschaftsordnung abhängig zu sein.91 Ferner sollen die Bedingungen, unter denen der Wettbewerb stattfindet, zwar nicht vom Schutzbereich umfasst sein. Das hinderte das Bundesverfassungsgericht aber nicht daran, Nachteile im Wettbewerb, die sich für Gastwirte von Einraumgaststätten aus einem Rauchverbot ergeben, als unverhältnismäßig zu qualifizieren.92 Konsequenterweise hätte hier jedoch bereits die Schutzbereichseröffnung abgelehnt werden müssen. Unveränderliche Wettbewerbsbedingungen oder gar Erfolg im Wettbewerb sind ja gerade nicht gewährleistet.93 In einem Nichtannahmebeschluss94 bezüglich der Neugliederung von niedersächsischen Gerichtsbezirken heißt es sogar ausdrücklich, dass Art. 12 Abs. 1 GG beeinträchtigt sei, „wenn die Norm mit Blick auf den Beruf die Rahmenbedingungen verändert, unter denen er ausgeübt werden kann“. Wettbewerb der öffentlichen Hand hingegen soll den Schutzbereich nicht tangieren, solange er nicht jegliche private Konkurrenz ausschließt. Der Staat vermindere durch seine Teilnahme lediglich die Erwerbschancen Privater, was aber eine natürliche und deshalb hinzunehmende Folge von Wettbewerb sei.95 Abgesehen davon, dass sich fiskalische Konkurrenz auch unterhalb dieser Schwelle nicht nur als spürbare Beeinträchtigung, sondern bereits als Eingriff darstellen kann,96 führt eine solche Argumentation 87
Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 235 m. w. N. BVerfGE 106, 275 (299). 89 BVerfGE 106, 275 (298). 90 BVerfGE 4, 7 (18); 7, 377 (400). 91 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 237. 92 BVerfGE 121, 317 (355 ff.). 93 Sondervotum des Richters Masing BVerfGE 121, 317 (383); Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 31. 94 BVerfG, NJW 2000, S. 1325. 95 BVerwGE 39, 329 (336). 96 Brenner, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 115 Rn. 20; Di Fabio, in: MD, GG, 2016 (78 EL), Art. 2 Rn. 118. 88
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zu einer undifferenzierten Vermischung von Schutzbereich, Eingriff und Rechtfertigung.97 Da sich jedenfalls kein, über die allgemeinen Regeln hinausgehender Schutzgehalt aus der Wettbewerbsfreiheit ableiten lässt, spricht doch einiges dafür, sich von diesem Begriff zu verabschieden98 Erkennt man die Wettbewerbsfreiheit ungeachtet dessen dennoch als Teilfreiheit der Berufsfreiheit an, stellt sich die Frage, ob sie durch die Grundrabatterhöhung überhaupt betroffen ist. Zwar wird man die Erhöhung des Grundrabattes im Gegensatz zum Festbetragsurteil nicht als bloßen Reflex qualifizieren können. Immerhin wird durch § 130a Abs. 1 S. 3 SGB V eine ausdrückliche Verpflichtung der pharmazeutischen Industrie statuiert, den Apotheken den Grundrabatt zu erstatten. Allerdings kann man die Vorschrift als wettbewerbliche Rahmenbedingung ansehen, da sie – gegebenenfalls im Zusammenspiel mit §§ 1, 1a AMRabG und der Krankenversicherungspflicht des § 193 Abs. 3 VVG – ausnahmslos für alle Arzneimittel unabhängig vom Versichertenstatus des Patienten gilt. Wettbewerbspositionen, wie der Umsatz oder die erzielten Erträge, unterliegen aber in Abhängigkeit von den Marktverhältnissen dem Risiko laufender Veränderungen.99 Die Marktverhältnisse sind nun aber so, dass der Rabatt für alle gilt. Zudem findet eine wirklich freie Preisbildung so gut wie gar nicht statt. Vielmehr wird der tatsächliche Preis maßgeblich von umfangreichen Regulierungen beeinflusst. Es erscheint deshalb fragwürdig, mit einem rechtlichen Instrument wie der Wettbewerbsfreiheit, das eine freie Leistungskonkurrenz gerade voraussetzt, arbeiten zu wollen.100 Das einzelne Pharmaunternehmen kann de lege lata sein Teilhaberecht am Marktgeschehen in obigem Sinne kaum wahrnehmen. Allenfalls auf die Art der von ihm angebotenen Produkte kann es maßgeblich Einfluss nehmen. Preis und Qualität seiner Produkte sind weitestgehend gesetzlich determiniert. Die Situation auf dem deutschen Markt für Arzneimittel unterscheidet sich grundlegend von der auf Märkten für andere Güter. Insbesondere der Preis bildet sich nur bedingt als Ergebnis des freien Spiels von Angebot und Nachfrage. Es erscheint deshalb zutreffender, § 130a Abs. 1 SGB V im Hinblick auf die Wettbewerbsfreiheit als bloße Wettbewerbsbedingung anzusehen.
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Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 236 m. w. N. Koenig, Die öffentlich-rechtliche Verteilungslenkung, 1994, S. 66 – 67; vorsichtiger Manssen, in: MKS, GG, 2010, Art. 12 Abs. 1 Rn. 71, der ihr kein „besonderes Freiheitssubstrat“ attestiert. 99 BVerfGE 106, 275 (299). 100 So aber zunächst Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 4, der dann aber auf S. 6 umschwenkt und konstatiert, dass Eingriffe in die Preisfreiheit zugleich den Wettbewerb auf dem Arzneimittelmarkt beeinflussen. 98
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dd) Preisfreiheit als Ausprägung der Berufsausübungsfreiheit Ein Rückgriff auf das Institut der Wettbewerbsfreiheit würde ohnehin nur zur zusätzlichen argumentativen Stützung dienen. Zur Schutzbereichseröffnung notwendig ist er keinesfalls, weil Art. 12 Abs. 1 GG die Freiheit der Berufsausübung als Basis der persönlichen und wirtschaftlichen Lebensführung schützt. Das Grundrecht umschließt damit die Freiheit, das Entgelt für berufliche Leistungen verbindlich auszuhandeln. Vergütungsregeln, die maßgeblichen Einfluss auf die beruflich erzielbaren Einnahmen und damit auch auf die Existenzerhaltung nehmen, betreffen deshalb den Schutzbereich der Berufsausübungsfreiheit.101 Jede Preisreglementierung berührt die berufliche Betätigung und enthält deshalb mindestens eine Berufsausübungsregelung.102 Folglich ist die Freiheit, seinen Vertriebsmittlern bzw. letztlich den Krankenversicherungen der jeweiligen Apothekenkunden einen Rabatt zu gewähren, ebenfalls geschützt. Offen bleibt lediglich, ob dieser Preisfreiheit – als unmittelbarer Ausprägung der Berufsausübungsfreiheit – im Verhältnis zur ebenfalls geschützten Vertragsfreiheit und der Freiheit, die eigene Leistung wirtschaftlich zu verwerten, in praktischer Hinsicht eigenständige Bedeutung zukommt. ee) Gewinnerzielungsfreiheit Aus dem von der Berufsfreiheit umfassten Schutz des Vergütungsbegehrens folgt gleichzeitig auch die Freiheit Gewinn zu erzielen. Gewinnerzielungsfreiheit beschreibt die Freiheit, profitabel agieren zu können und Überschüsse – d. h. mehr als bloße Kostenerstattung – zu erwirtschaften. Wie viel „mehr“ erwirtschaftet werden soll, entscheidet allein der Berufsinhaber, indem er festlegt was seinem Gewinn ab- bzw. zuträglich ist. Eine grundrechtliche Freiheit, die im Fernstraßenbauprivatfinanzierungsgesetz bereits ihren Niederschlag gefunden hat. So gesteht § 2 Abs. 1 FStrPrivFinG dem privaten Straßenbaulastträger neben Kostenersatz auch ausdrücklich einen projektangemessenen Unternehmergewinn zu.103 Eine Freiheit, die der einfache Gesetzgeber auch den pharmazeutischen Unternehmern zunächst einmal uneingeschränkt zugesteht, indem er ihnen gestattet, den Abgabepreis ihrer Präparate frei zu wählen. Unmittelbar nach dem Inverkehrbringen durch den pharmazeutischen Unternehmer setzt jedoch die 101 BVerfGE 101, 331 (347); 114, 196 (244); 117, 163 (181); 134, 204 (222); BVerfG; NZS 2008, S. 35; Becker, NZS 2003 S. 566; Brenner, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 115 Rn. 5; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 20; Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 198; Mann, in: Sachs, GG, 2014, Art. 12 Rn. 79; Schneider, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 113 Rn. 99; Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 6. 102 BVerfGE 114, 196 (244); Kluth, ZHR 1998 S. 680. 103 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 256 m. w. N.
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Arzneimittelpreisbildung nach dem AMG104 bzw. die Regulierung der Preise nach dem SGB V und dem AMRabG an. Das 14. SGB V Änderungsgesetz tangiert somit neben der Preisbildungsfreiheit auch die vollständig in ihr aufgehende Gewinnerzielungsfreiheit. 3. Berufswahl- oder Berufsausübungsregelung a) Berufsregelnde Tendenz In sämtliche, vom einheitlichen Grundrecht der Berufsfreiheit erfassten Freiheiten wird durch die Regelung des § 130a Abs. 1 SGB V in klassischer Weise eingegriffen. Dem Apotheker wird durch § 130a Abs. 1 S. 3 SGB V gegenüber dem pharmazeutischen Unternehmen ein Anspruch in Höhe des Betrages eingeräumt, den der Apotheker zuvor der Krankenkasse gewähren musste (§ 130a Abs. 1 S. 1, S. 2 SGB V). § 130a Abs. 1 SGB V stellt deshalb eine die Berufsfreiheit beeinträchtigende Entgeltregelung dar, die sich final auf die berufliche Betätigung bezieht und diese unmittelbar zum Gegenstand hat.105 Die Berufsfreiheit schützt nach wie vor nur vor solchen Beeinträchtigungen, die gerade auf die berufliche Betätigung bezogen sind. Es genügt also nicht, dass eine Rechtsnorm unter bestimmten Umständen Rückwirkungen auf die Berufstätigkeit entfaltet. Art. 12 Abs. 1 GG entfaltet seine Schutzwirkung nur gegenüber solchen Normen oder Akten öffentlicher Gewalt, die sich entweder unmittelbar auf die Berufstätigkeit beziehen oder die zumindest eine objektiv berufsregelnde Tendenz haben.106 Äußerungen107, die darauf schließen ließen, das Gericht nähere sich dem von Teilen der Literatur108 104 Ausweislich des EuGH Urteils vom 19. 10. 2016, C-148/15, Celex-Nr. 62015CJ0148 stellt die Festsetzung einheitlicher Apothekenabgabepreise für verschreibungspflichtige Humanarzneimittel eine Maßnahme mit gleicher Wirkung wie eine mengenmäßige Einfuhrbeschränkung im Sinne des Art. 34 AEUV dar, die nicht mit dem Schutze der Gesundheit und des Lebens von Menschen im Sinne des Art. 36 AEUV gerechtfertigt werden kann. Der Bundesrat befürchtet deswegen (BT-Drs. 18/10608, S. 19), dass sich Versandapotheken aus anderen Mitgliedstaaten durch Gewährung von Boni Wettbewerbsvorteile verschaffen könnten, indem sie – nach deutschem Recht unzulässige – Boni gewähren und sich somit lukrative Geschäftsfelder erschließen, ohne die personal- und zeitaufwendigen Dienstleistungen einer öffentlichen Apotheke in Deutschland erbringen zu müssen. Es wird deswegen erwogen, den Versandhandel verschreibungspflichtigter Präparate insgesamt zu verbieten. Allgemein zu den, mit dem Import von Arzneimitteln verbundenen, europarechtlichen Fragestellungen: Janda, § 9 Arzneimittelrecht, in: Ruffert/Gundel (Hrsg.), Europäisches sektorales Wirtschaftsrecht, Enzyklopädie des Europarechts [Enz EuR] Band 5: Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht, 2013, § 9 Rn. 99 – 126 sowie § 9 Rn. 136 – 138. 105 Vgl. BVerfGE 13, 181 (185); Mann, in: Sachs, GG, 2014, Art. 12 Rn. 93. 106 BVerfGE 95, 267 (302); 97, 228 (253 f.); 111, 191 (213); 113, 29 (48). 107 BVerfGE 61, 291 (308); 109, 64 (85). 108 Manssen, in: MKS, GG, 2010, Art. 12 Abs. 1 Rn. 75 m. w. N.
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geforderten, an der allgemeinen Dogmatik orientierten Eingriffsverständnis an, hat es richtigerweise in nachfolgenden Entscheidungen109 wieder revidiert. Zuzugeben ist diesen Stimmen zwar dogmatische Konsequenz, allerdings würde der Schutzbereich des Grundrechts konturenlos werden, da nahezu jede Regelung unter bestimmten Voraussetzungen Rückwirkungen auf die Berufstätigkeit haben kann.110 Auch die allgemeine Handlungsfreiheit würde durch ein zu weites Eingriffsverständnis an Bedeutung verlieren.111 Der durch § 130a Abs. 1 SGB V erfolgende Eingriff betrifft die Art und Weise der Berufsausübung und erfolgt damit prima facie auf erster Stufe der Drei-Stufen-Theorie.112 Zu seiner Rechtfertigung genügen somit vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls. Das darf aber nicht dazu verleiten, Eingriffe auf niedrigster Stufe per se zu bagatellisieren. Bereits einmalige Eingriffe in die Berufsausübung können derart schwerwiegend sein, dass sie in ihren Wirkungen einer Berufswahlregelung gleichkommen und somit auf zweiter oder gar dritter Stufe anzusiedeln wären.113 b) Dauerhafte Berufsausübungsregelung Das gilt erst Recht bei dauerhaft wirkenden Berufsausübungsregelungen. Während sich der Einzelne mit einer Berufswahlregel regelmäßig nur einmal, nämlich bei der Aufnahme eines Berufes, konfrontiert sieht, können dauerhafte Berufsausübungsregelungen – ggf. in Kombination – ein ganzes Berufsleben erschweren.114 Der gemäß § 130a Abs. 1 SGB V zu gewährende Rabatt ist eine solche dauerhafte Berufsausübungsregel. Aus sich heraus enthält er kein Verfallsdatum. Sieht man ihn jedoch im Zusammenhang mit dem in § 130a Abs. 3a S. 1 SGB V kodifizierten Preismoratorium, könnte er anders zu beurteilen sein. Die Vorschrift schützt den durch die Zwangsrabattierung erfolgenden Kostendämpfungseffekt vor Umgehungen,115 indem sie den Abgabepreis bis zum 109
BVerfGE 95, 267 (302); 97, 228 (253 f.); 111, 191 (213); 113, 29 (48). BVerfGE 97, 228 (253 f.). 111 Kämmerer, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 12 Rn. 46. 112 Grundlegend dazu: BVerfGE 7, 377 (397); ausdrücklich zu Zwagsrabatten: BVerfGE 114, 196 (244); BVerfG, NZS 2008, S. 35; Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 35. 113 BVerfGE 11, 30 (42 f.); 103, 172 (184); Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 15 Rn. 669 – 671; Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 799 – 800; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 21 Rn. 945 – 946. 114 Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 18; Hufen, NJW 1994 S. 2918 m. w. N.; Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 15 Rn. 669 – 671. 115 BT-Drs. 18/201, S. 7; Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 60. 110
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31. 12. 2022116 auf den Preisstand vom 01. 08. 2009 einfriert. Kommt es dennoch zu einer Erhöhung des Abgabepreises, erhalten die Krankenkassen einen zusätzlichen Abschlag in Höhe dieser Preiserhöhung. Ohne das sie flankierende Preismoratorium liefe die Rabattierungsregelung leer. Die Regelungen müssen deshalb in zeitlicher Hinsicht als Einheit verstanden werden. Folglich muss man bei einem über dreizehn Jahre zu gewährenden Zwangsrabatt von einer dauerhaft wirkenden Berufsausübungsregelung ausgehen. aa) Wahlperiodenübergreifender Selbstbindungseffekt Gassner meint sogar, dass sich der Gesetzgeber auch darüber hinaus gebunden habe. Es solle zwar nicht bestritten werden, dass sich der einfache Gesetzgeber verfassungsrechtlich nicht selbst binden könne. Der Wortlaut des Art. 20 Abs. 3 GG, der den Gesetzgeber gerade nicht an das Gesetz bindet, sei insofern eindeutig. Neben dem Vorrang und der Maßstabsfunktion der Verfassung gebiete auch das Demokratieprinzip, notwendige politische Umgestaltungen bei einem veränderten Wählerwillen vorzunehmen. Ferner könne der Grundsatz der Nichtbindung erst recht nicht im Verhältnis zu früheren oder künftigen Gesetzgebern gelten, da sie ihre demokratische Legitimation aus einem jeweils unterschiedlich zusammengesetzten Staatsvolk beziehen. Gleichwohl werde es immer unwahrscheinlicher, dass der Stichtag 01. 08. 2009 jemals wieder revidiert wird, je länger er beibehalten wird. Der Gesetzgeber schaffe sich somit die Rechtfertigung für eine Verlängerung selbst. Im Hinblick auf die zu erwartende Finanzentwicklung stünde es außer Frage, dass künftig nicht auf Kostendämpfungsinstrumente verzichtet werden könne. Dieses Ziel werde bei einer Abschaffung der eingefrorenen Preise durch Nachholeffekte verfehlt. Je länger der Stichtag 01. 08. 2009 beibehalten werde, desto irreversibler sei er. Man könne deshalb durchaus von einem wahlperiodenübergreifenden faktischen Selbstbindungseffekt sprechen.117 Dafür streitet jedenfalls das atemberaubende Tempo, in dem das 13. SGB V Änderungsgesetz verabschiedet wurde. Das gesamte Gesetzgebungsverfahren dauerte in den letzten beiden Kalenderwochen des Jahres 2013 zwölf Tage und verlängerte das eigentlich zum 31. 12. 2013 auslaufende Preismoratorium vorläufig bis zum 31. 03. 2014. Der Gesetzgeber befürchtete nämlich einen deutlichen Anstieg der Arzneimittelausgaben und eine überdurchschnittliche Preisentwicklung durch eben jene Nachholeffekte.118 Aus demselben Grunde wurde der Endtermin des 116 Ursprünglich sollte das Preismoratorium am 31. 12. 2013 enden. Durch das 13. und 14. SGB V Änderungsgesetz wurde es zunächst bis zum 31. 03. 2014 und anschließend bis zum 31. 12. 2017 verlängert. Das am Ende der 18. Legislaturperiode verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung bestimmt nun den 31. 12. 2022 als Endtermin. Näher dazu bereits: § 4 B. III. 5. 117 Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 23 – 24. 118 BT-Drs. 18/200, S. 4.
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Preismoratoriums noch zwei weitere Male nach hinten verschoben und liegt derzeit auf dem 31. 12. 2022. Andererseits blendet die These vom wahlperiodenübergreifenden faktischen Selbstbindungseffekt vollkommen aus, dass dem Gesetzgeber nach Auslaufen des Moratoriums durchaus andere Kostendämpfungsinstrumente zur Verfügung stehen. Eine Senkung des vollen Umsatzsteuersatzes auf Arzneimittel hätte beispielsweise denselben Entlastungseffekt – und zwar ohne in Individualrechte einzugreifen. Ein gänzlicher Verzicht auf ihre Erhebung und das damit verbundene – höchstrichterlich119 eigentlich untersagte – Umleiten von Geldern der Solidargemeinschaft in den allgemeinen Haushalt, würde sogar die Ungleichbehandlung im Verhältnis zu den umsatzsteuerfreien ambulanten und stationären Heilbehandlungen beseitigen.120 Ebenfalls ausgeblendet wird, dass Arzneimittelrabatte bereits in der Ursprungsfassung der RVO aus dem Jahre 1911 enthalten waren. Sie blicken somit auf eine über hundert Jahre zurückreichende Tradition zurück.121 Haben sich die Gründe für ihre Einführung und ihre konkrete Ausgestaltung zwischenzeitlich auch geändert, so gab es immer wieder Perioden, in denen sie gar nicht erhoben wurden. Auch in den letzten Jahren hat der Gesetzgeber durchaus Nachholeffekte zugelassen. Beispielsweise hat er den eingefrorenen Preisstand vom 01. November 2005 auf den jetzt geltenden 01. August 2009 geändert.122 Schließlich sieht die gegen Ende der 18. Legislaturperiode novellierte Vorschrift des § 130a Abs. 3a SGB V nunmehr sogar eine, sich an der Inflationsrate orientierende, obligatorische jährliche Preisanpassung vor.123 Bei näherer Betrachtung kann deshalb von einem wahlperiodenübergreifenden faktischen Selbstbindungseffekt nicht die Rede sein. bb) Umqualifizierung in eine Berufswahlregel An der Dauerhaftigkeit der sich über mehrere Legislaturperioden erstreckenden Regelung ändert das freilich nichts. Allein die Eingriffsintensität fällt schwächer aus, als von Gassner angenommen. Das Bundesverfassungsgericht124 hat bei Vergütungsregelungen die Berufswahl bislang immer nur dann als tangiert angesehen, wenn der Ausübung des Berufs wirtschaftlich die Grundlage entzogen wurde. Das wiederum wäre der Fall, wenn die Leistungen unter dem Selbstkos119
BVerfGE 75, 108 (148); näher dazu bereits: § 2 E. VII. Dettling, MedR 2006 S. 88. 121 Zur historischen Entwicklung der Rabatte: Becker, NZS 2003, S. 563; Becker, Zwangsrabatte nach dem Beitragssatzsicherungsgesetz – Zulässigkeit nach materiellem Recht, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 32 – 35; Schnapp, VSSR 2003 S. 343 – 362. 122 Zur Entwicklung des Preismoratoriums in jüngerer Zeit: Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 60. 123 Näher dazu bereits: § 4 B. III. 5. 124 BVerfGE 86, 28 (39); vgl. 108, 45 (52). 120
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tenpreis angeboten werden müssten oder aber die Existenz ernsthaft infrage gestellt werden würde.125 Eine Situation, für die jeglicher Anhaltspunkt fehlt. Selbst wenn die Berufsausübungsregel des § 130a Abs. 1 S. 1 SGB V ein bestimmtes Unternehmen besonders hart träfe und es faktisch zur Berufsaufgabe zwänge, würde es sich noch nicht um eine Berufswahlregelung handeln. Ein Umschlagen könnte erst dann angenommen werden, wenn sich die Berufsausübungsregelung auf eine ganze Gruppe von Grundrechtsträgern wie eine Berufswahlregelung auswirkt.126 Weil das Vertrauen auf Verdienstmöglichkeiten in einer gewissen Höhe ein sehr wesentlicher, häufig sogar der maßgebliche Grund für die Berufswahl ist, wurde ein solches Umschlagen der Berufsausübungs- in eine Berufswahlregel bereits im Rahmen der erstmaligen Einführung des Herstellerrabattes aktueller Prägung durch das Beitragssicherungsgesetz vom 23. 12. 2002 zum Teil127 bejaht. So seien Verdienstmöglichkeiten letztlich die wirtschaftliche Basis jeglicher Lebensplanung und Lebensführung. Sie hätten maßgeblichen Einfluss auf die individuelle wirtschaftliche und soziale Lebenssituation und wären regelmäßig der Beginn längerfristiger, sich über das gesamte Erwerbsleben hinweg erstreckender, finanzieller Bindungen. Staatliche Eingriffe in diese Verdienstmöglichkeiten können deshalb auch dann, wenn sie nicht existenzvernichtend sind, die gesamte, auf ein berechtigtes Vertrauen aufbauende Lebensplanung bzw. Lebensgestaltung erheblich beeinflussen. Im Extremfall könnten sie diese sogar zerstören und damit schwerwiegende, langfristige Konsequenzen für den Einzelnen mit sich bringen. Dies gelte insbesondere im Rahmen des gegenwärtigen Systems der GKV, die mit ca. 90% Nachfrageanteil den staatlicherseits stark regulierten Markt an Gesundheitsleistungen dominiert. Der Staat habe hohe Standards für die Wahl und die Ausübung von Berufen in diesem Wirtschaftssektor gesetzt. Gleichzeitig habe er somit aber auch ein Ausweichen auf andere berufliche Tätigkeiten erheblich erschwert.128 In den Blick zu nehmen seien dabei auch mittelbare Auswirkungen. Der Gewinn der Unternehmen sei deswegen um die zur wirtschaftlichen Abfederung der Zwangsrabattierung erfolgenden Rationalisierungsmaßnahmen, wie Arbeitsplatzabbau oder aber dem Streichen von bislang freiwillig gewährten Rabatten, zu bereinigen. Berücksichtige man diese, so müsste man bei einem Gewinnrückgang von etwa 50% ein Umschlagen in eine Berufswahlregelung bejahen.129 Bezogen auf die Kompensationsmaßnahmen zur Abschaffung der Be125 Becker, NZS 2003 S. 567; Dettling, MedR 2006 S. 84; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 13. 126 BVerfGE 11, 30 (42 ff.); 30, 292 (313 f.); 32, 1 (34 f.); 36, 47 (58 f.); 82, 209 (228 f.); Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 272. 127 Dettling, MedR 2006 S. 84. 128 Dettling, MedR 2006 S. 84. 129 Dettling, MedR 2006 S. 83 – 84.
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standsmarktbewertung könnte man sich insofern auf den Standpunkt stellen, dass das zum Herstellerabschlag von sechs Prozentpunkten Gesagte doch erst recht für einen Herstellerabschlag von sieben Prozentpunkten gelten müsse. Ausweislich der Gesetzesbegründung130 führt die Erhöhung des Herstellerabschlages von sechs auf sieben Prozentpunkte im Zusammenspiel mit dem verlängerten Preismoratorium zu einer jährlichen Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung von etwa 0,7 Milliarden Euro131. Hiervon entfallen etwa 0,6 Milliarden Euro auf die Verlängerung des Preismoratoriums und etwa 0,1 Milliarden Euro auf den veränderten Herstellerabschlag. In der Privaten Krankenversicherung wird mit einer Entlastung von etwa 70 Millionen Euro132 jährlich kalkuliert. Insgesamt wird die pharmazeutische Industrie somit mit etwa 0,8 Milliarden Euro belastet. Im Gegensatz zur damaligen Situation wird sie aber auch durch das Nichtverlängern des erhöhten Herstellerabschlages von 16 Prozentpunkten gemäß § 130a Abs. 1a S. 1 SGB V gleichzeitig in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro133 entlastet. Daneben soll der ab 01. 07. 2018 obligatorisch durchzuführende Inflationsausgleich die Industrie um 210 Millionen Euro134 je Prozentpunkt des referenzierten Indexes entlasten. Schon alleine deshalb lässt sich das zum 130
BT-Drs. 18/201, S. 5. tatsächliche Belastung könnte deutlich niedriger sein als vom Gesetzgeber angenommen. Ausweislich des Pharmamarktberichtes September 2015 der IMS Health GmbH & Co OHG wird die GKV durch Herstellerabschläge im Zeitraum Januar 2015 bis September 2015 um 1,8 Milliarden Euro entlastet. Auf das gesamte Jahr 2015 hochgerechnet ergibt sich somit eine Belastung der pharmazeutischen Industrie von 2,4 Milliarden Euro. Die Erhöhung um einen Prozentpunkt belastete die pharmazeutische Industrie demnach mit 0,34 Milliarden Euro. Dabei ist das, durch die Kompensationsmaßnahmen nicht betroffene, und deshalb eigentlich herauszurechnende, Einsparvolumen durch Erstattungsbeträge im Gesamtbetrag von 2,4 Milliarden sogar noch enthalten, eigene Berechnungen auf Basis der in: IMS Health GmbH & Co OHG, IMS Health Marktbericht Entwicklung des deutschen Pharmamarktes im September 2015, S. 5 genannten Zahlen. Auch die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/10208, S. 4) zum AM-VSG schätzt das Einsparpotenzial des gesamten Preismoratoriums mit 1,5 bis 2 Milliarden Euro jährlich nunmehr deutlich niedriger ein als die Gesetzesbegründung zum 14. SGB V Änderungsgesetz. 132 Die tatsächliche Belastung könnte deutlich niedriger sein als vom Gesetzgeber angenommen. Ausweislich des Pharmamarktberichtes September 2015 der IMS Health GmbH & Co OHG erhöhten sich die an die PKV wegen der ergriffenen Kompensationsmaßnahmen zu gewährenden Abschläge im Zeitraum Januar 2015 bis September 2015 um 14% auf 233 Millionen Euro. Auf das gesamte Jahr 2015 hochgerechnet ergibt sich somit eine Mehrbelastung der pharmazeutischen Industrie von 44,38 Millionen Euro, eigene Berechnungen auf Basis der in: IMS Health GmbH & Co OHG, IMS Health Marktbericht Entwicklung des deutschen Pharmamarktes im September 2015, genannten Zahlen. Die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/10208, S. 4) zum AM-VSG schätzt das jährliche Einsparpotenzial in der PKV auf etwa 90 Millionen Euro. 133 BT-Drs. 18/201, S. 5. 134 BT-Drs. 18/10208, S. 4. 131 Die
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Herstellerabschlag von sechs Prozentpunkten Gesagte nicht ohne Weiteres auf die aktuelle Situation übertragen – eine gesetzgeberische Einschätzung, die in der Tendenz von aktuell erhobenen Zahlen bestätigt wird. So verringerte das Auslaufenlassen des erhöhten Herstellerabschlages von 16 Prozentpunkten die von den Herstellern zu tragende Gesamtabschlagslast im Vergleich der ersten drei Quartale 2013 zu denen des Jahres 2014 um etwa 40%. Dagegen erhöhte sie sich im Vergleich zu den ersten drei Quartalen 2015 lediglich um etwa 5,3%, wobei die Erstattungsbeträge jeweils keine Berücksichtigung fanden.135 Außerdem entlastet auch die weggefallene Obliegenheit, Nutzendossiers für ihre Bestandsmarktpräparate einzureichen, die Etats der Industrie. Dazu kommt, dass der deutsche Markt für die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie zwar sicherlich nicht unwichtig, aber eben nur ein Markt von vielen ist. Im Gegensatz zu den klassischen freien Heilberufen können sich Regulierungen des deutschen Gesetzgebers deshalb überhaupt nicht in gleicher Weise auswirken. Ein Ausweichen auf andere Märkte ist ihnen, im Gegensatz zum niedergelassenen Vertragsarzt oder Apotheker, problemlos möglich und wird auch nicht erst seit Einführung des Zwangsrabattes gemäß § 130a Abs. 1 S. 1 SGB V rege praktiziert.136 Die Möglichkeit auf fremde Märkte auszuweichen ändert freilich nichts am rechtfertigungsbedürftigen Grundrechtseingriff auf dem heimischen Markt. Der Staat darf den Grundrechtszugang grundsätzlich nicht von Voraussetzungen abhängig machen, auf die er selbst keinen Einfluss nehmen kann.137 Als ein die Eingriffsintensität minderndes Element – und darauf kommt es im Rahmen der Umqualifizierung in eine Berufswahlregelung an – sollte man diese Möglichkeit aber dennoch anerkennen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sie den klassischen freien Heilberufen eben regelmäßig nicht neben ihrer Inlandstätigkeit zur Verfügung steht. Aus den genannten Gründen stellt die Erhöhung des Grundrabattes um einen Prozentpunkt deshalb keine, in eine Berufswahlregelung umgeschlagene Berufsausübungsregel dar. 4. Gesetzgebungskompetenz Legt man – mehr aus pragmatischen als aus dogmatischen Gründen – Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG erweiternd im Sinne eines einheitlichen Grundrechtes der Berufsfreiheit aus, macht es für die grundsätzliche Einschränkbarkeit des Grundrechtes ohnehin keinen Unterschied. Der einfache Gesetzesvorbehalt des Art. 12 Abs. 1 135 Eigene Berechnung auf Basis der in: IMS Health GmbH & Co OHG, IMS Health Marktbericht Entwicklung des deutschen Pharmamarktes im September 2015, S. 34 genannten Zahlen. 136 Vgl. bereits: § 5 B. II. 2. a); aber auch dort sehen sie sich einem zunehmendem Wettbewerb und gewinnminderndenen staatlichen Eingriffen ausgesetzt, dazu: Berndt/Nass/ Kleinrock/Aitken, Health affairs (Project Hope) 2015, S. 245 – 252. 137 Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 801.
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S. 2 GG gestattet dann sowohl Eingriffe in die Freiheit der Berufswahl als auch in die der Berufsausübung. Sie bedürfen freilich einer gesetzlichen Grundlage, die ihrerseits verfassungsmäßig sein muss. Ein unter Missachtung der Gesetzgebungskompetenzen erlassenes Gesetz reicht deshalb nicht.138 Die Gesetzesbegründung zum 14. SGB V Änderungsgesetz stellt ohne nähere Begründung auf die Gesetzgebungskompetenz des Bundes für sozialversicherungsrechtliche Regelungen gemäß Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG ab.139 Dagegen wird angeführt, dass die Zwangsrabattierungsmaßnahmen ausschließlich auf eine Mitfinanzierung der GKV durch die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie gerichtet seien. Sozialversicherung im Sinne der Kompetenznorm umfasse aber nur die Finanzierung durch Sozialversicherungsbeiträge – nicht durch Zwangsrabatte. Beiträge jedoch würden gemäß § 3 SGB V allein von den Mitgliedern und ihren Arbeitgebern erhoben. Die Erhebung der Zwangsrabatte könne deshalb nicht auf den Kompetenztitel des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG gestützt werden.140 Konsequenterweise müsste dies dann aber auch für alle anderen kostendämpfenden legislatorischen Maßnahmen gelten. Eine Ausgestaltung des Leistungskataloges, die nicht zumindest auch anderen Zwecken als der Kostendämpfung dient, würde unmöglich werden. Sie würde unmöglich, obwohl die Leistungserbringung und damit auch die Ausgestaltung des Leistungskataloges wegen des in der GKV geltenden Sachleistungsprinzips umfassend von der Kompetenznorm erfasst ist.141 Dazu kommt, dass Beitrags- und Leistungsaspekte für den Begriff der Sozialversicherung bestimmend sind. Der Kompetenztitel erfasst deshalb auch Finanzierungsregelungen bezüglich der von der Sozialversicherung zu erledigenden Aufgaben. Finanzierungseffekte lassen sich aber sowohl auf der Einnahmen- als auch auf der Ausgabenseite erzielen. Es ist daher nur folgerichtig, nicht nur das Aufbringen der Beiträge im engeren Sinne, sondern auch die Regelungen zur finanziellen Entlastung der Sozialversicherungssysteme zu erfassen.142 Außerdem hätte der Erlass von § 130a Abs. 1 SGB V auch nicht auf Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG gestützt werden dürfen. Die Vorschrift habe nämlich keinerlei wirtschaftsregulierenden oder wirtschaftslenkenden Inhalt. Vielmehr sei sie nur auf Mittelbeschaffung gerichtet, ohne in ihren Belastungswirkungen zu differenzieren.143 Allerdings kommt in Märkten, in denen das freie Spiel von Angebot und 138 Vgl. BVerfGE 6, 32 (41 f.); 106, 62 (104 ff.); Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 125 Rn. 297; Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 104. 139 BT-Drs. 18/201, S. 4. 140 Posser/Müller, NZS 2003 S. 179. 141 Axer, in: BK, GG, 2016 (182 EL), Art. 74 Nr. 12 Rn. 42 – 43; Degenhart, in: Sachs, GG, 2014, Art. 74 Rn. 58. 142 BVerfGE 114, 196 (221). 143 Posser/Müller, NZS 2003 S. 179; Schnapp, VSSR 2003 S. 347.
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Nachfrage wegen umfangreicher Regulierungen weitestgehend ausgeschaltet ist, gerade dem regulierenden Staat die Rolle zu, Marktwirtschaft zu simulieren.144 Dazu kann grundsätzlich einmal auch das Festlegen von Mengenrabatten gehören. Es erscheint deshalb keinesfalls zwingend, Zwangsrabattierungmaßnahmen per se die wirtschaftslenkende Funktion absprechen zu wollen. Sie könnten also durchaus dem, ohnehin sehr weit auszulegenden145 Recht der Wirtschaft zuzuordnen sein.146 Darüber hinaus ergibt sich eine Kompetenz des Bundesgesetzgebers auch aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG, der ihm unter anderem das Recht zur Regelung der Arzneien zugesteht. Gemeint ist damit der Verkehr mit Arzneimitteln im weitesten Sinne, das heißt der gesamte Umsatz und Vertrieb von der Herstellung über den Handel bis zum Verbraucher. Als bestimmendes Element des Handels ist damit auch die Preisbildung umfasst. Regelungen über Rabattverpflichtungen und die Art und Weise ihrer Gewährung und Abwicklung auf den verschiedenen Handelsstufen sind folglich auch von der Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG gedeckt.147 Dagegen lässt sich auch nicht der systematische Zusammenhang der Teilkompetenzen dieser Norm anführen, die offenbar besonders gefahrenträchtiges Verhalten im Blick habe, wozu die Preisbildung aber sicher nicht gehöre.148 Zum einen betrifft der ebenfalls im systematischen Zusammenhang mit Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG stehende Art. 74 Abs. 1 Nr. 19a GG ausdrücklich wirtschaftliche Aspekte. Zum anderen wird selbst von den Befürwortern dieser, vom Wortlaut ohnehin nicht gedeckten, einschränkenden Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG angeführt, dass der die Arzneimittelpreisbildung maßgeblich beeinflussende § 78 AMG auf diesen Kompetenztitel gestützt werden kann. Warum dies dann aber bei Preisabschlägen nicht gelten soll, bleibt offen. Im Ergebnis steht damit fest, dass eine Rechtfertigung des Grundrechtseingriffes nicht an formellen Gründen scheitern wird. 5. Übermaßverbot und Drei-Stufen-Theorie In materieller Hinsicht ist nach der zunehmend als überkommen zu bezeichnenden Auffassung zur Rechtfertigung von Eingriffen in die Berufsfreiheit auf 144 Hase, Die Rabatte der pharmazeutischen Unternehmer nach § 130a SGB V, in: Butzer/Kaltenborn/Meyer (Hrsg.), Organisation und Verfahren im sozialen Rechtsstaat: Festschrift für Friedrich E. Schnapp zum 70. Geburtstag, 2008, S. 451. 145 BVerfGE 5, 25 (28 f.); 8, 143 (148 f.); 28, 119 (146); 68, 319 (330); Degenhart, in: Sachs, GG, 2014, Art. 74 Rn. 44; Rengeling/Szczekalla, in: BK, GG, 2016 (182 EL), Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 Rn. 85. 146 So im Ergebnis auch: Wallerath, SGb 2006, S. 507 – 508. 147 BVerfGE 114, 196 (221); 102, 26 (36 f.). 148 Wallerath, SGb 2006, S. 507 – 508.
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die im Apothekenurteil vom 11. 06. 1958 begründete Drei-Stufen-Theorie zurückzugreifen. Diese unterscheidet je nach Eingriffsintensität zwischen Berufsausübungsregelungen, subjektiven Berufswahlregelungen und objektiven Berufswahlregelungen. Weil der Staat bei Berufsausübungsregelungen nur die Art und Weise der Berufstätigkeit bestimme, sei es ausreichend, wenn vernünftige Erwägungen des Allgemeinwohls die staatliche Maßnahme zweckmäßig erscheinen lasse. Subjektive Berufswahlregelungen hingegen knüpfen an persönliche Eigenschaften des Grundrechtsträgers an und machen bereits die Aufnahme der Berufstätigkeit von der Erfüllung dieser Merkmale abhängig. Eingriffe sollen deshalb nur zugunsten eines überragenden, der Freiheit des Einzelnen vorgehenden Gemeinschaftsgutes gerechtfertigt werden können. Bei objektiven Berufswahlregelungen ist die Erfüllung, der an die Berufsaufnahme geknüpften Voraussetzungen, dem Einfluss des Einzelnen schlechthin entzogen. Zur Eingriffsrechtfertigung sei deshalb eine nachweisbare und höchstwahrscheinlich eintretende schwere Gefahr für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut nötig.149 Dabei müssen Eingriffe stets auf der Stufe vorgenommen werden, die den geringsten Eingriff in die Freiheit der Berufswahl mit sich bringt. Die nächste Stufe darf erst dann betreten werden, wenn mit hoher Wahrscheinlichkeit dargelegt werden kann, dass die befürchteten Gefahren mit verfassungsmäßigen Mitteln auf einer niedrigeren Eingriffsstufe nicht wirksam bekämpft werden können.150 Was genau allerdings ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut zu einem solchen macht und wie es sich von vernünftigen Erwägungen des Gemeinwohls unterscheidet, ist trotz der über fünfzigjährigen Tradition dieser dogmatischen Figur nach wie vor ungeklärt. Die Drei-Stufen-Theorie zeichnet sich deshalb durch eine gewisse Beliebigkeit aus.151 Daran ändert sich auch dann nur wenig, wenn man unter einem überragend wichtigen Gemeinschaftsgut ein verfassungsrechtlich geschütztes Rechtsgut versteht152. Denn was jenseits offensichtlich geschützter Positionen wie den Grundrechten am verfassungsrechtlichen Schutz teilhaben soll, ist ebenfalls zumindest einmal diskussionswürdig. Beispielsweise wurde schon der Bestand und die Funktionsfähigkeit öffentlicher Einrichtungen wie der Bundeswehr oder der Bundespost, inklusive ihrer jeweiligen technischen 149
BVerfGE 7, 377 (405 ff.). BVerfGE 7, 377 (408). 151 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 23 Rn. 682; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 21 Rn. 949; Scholz, in: MD, GG, 2016 (78 EL), Art. 12 Rn. 336; Wimmer, Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 52 – 53. 152 Hufen, NJW 1994 S. 2917; Manssen, in: MKS, GG, 2010, Art. 12 Abs. 1 Rn. 141; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 68 m. w. N. 150
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Anlagen, als verfassungsrechtlich geschützt angesehen.153 Auch die bloße Erwähnung in Gesetzgebungskompetenzen soll ausreichend sein, um einem Gemeinwohlbelang verfassungsrechtlichen Schutz gewähren zu können.154 Dazu kommt, dass die Drei-Stufen-Theorie im Wortlaut des Art. 12 Abs. 1 GG nicht einmal angedeutet wird.155 Zudem erscheint es inkonsequent, auf der Schutzbereichsebene von einem einheitlichen Grundrecht auszugehen, auf der Rechtfertigungsebene aber die dadurch eingeebnete Differenzierung zwischen Berufswahl- und Berufsausübung wieder hervorzuholen und zu unterschiedlichen Rechtfertigungsmaßstäben auszubilden.156 Das war aber nicht der Grund dafür, dass das Bundesverfassungsgericht schon bald nach dem Apothekenurteil damit begonnen hat – zumindest auch – zu einer Verhältnismäßigkeitsprüfung im herkömmlichen Sinne überzugehen. Es ging damit nicht nur um die Zielrichtung der hoheitlichen Maßnahme, sondern vor allen Dingen auch um die Relation von Eingriffsschwere und Gewicht des mit der staatlichen Maßnahme verfolgten Zweckes. Dieser Wandel lässt sich damit erklären, dass zum Zeitpunkt des Apothekenurteils das Übermaßverbot noch nicht vom Polizeirecht in die Grundrechtsprüfung übernommen worden war.157 Die Drei-Stufen-Theorie lässt sich aus heutiger Sicht deshalb als Vorläuferin desselben begreifen. Selbst ihre Schöpferin158 räumt ein, dass sich ihre Bedeutung nunmehr in einer Konkretisierung und Typisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erschöpft. Mangels praktischer Bedeutung scheint es deshalb nur konsequent zu sein, der Drei-Stufen-Theorie ihre dogmatische Existenzberechtigung abzusprechen.159 Gleichwohl wird sie auch als doppelte Verhältnismäßigkeitsprüfung verstanden, bei der zunächst das Schutzniveau abstrakt bestimmt wird, auf dem der Eingriff anzusiedeln ist, bevor die eigentliche Abwägung zwischen dem Eingriffsziel und dem beeinträchtigten Grundrecht erfolgt.160 Diesbezüglich ergangene Entscheidungen sind uneinheitlich. Neben Urteilen161 mit doppelter Verhältnismäßigkeitsprüfung finden sich auch welche, bei denen das Übermaßverbot als 153
BVerfGE 28, 243 (261); 46, 120 (145 f.); BVerwGE 35, 146 (148). BVerfGE 28, 243 (261); 32, 40 (46); 53, 30 (56); 77, 170 (221); a. A. Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 23 Rn. 720; Papier, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 64 Rn. 30; Sachs, in: Sachs, GG, 2014, Vor. Art. 1 Rn. 132 jeweils m. w. N. auch zur Gegenansicht. 155 Hufen, NJW 1994 S. 2917; Mann, in: Sachs, GG, 2014, Art. 12 Rn. 152. 156 Scholz, in: MD, GG, 2016 (78 EL), Art. 12 Rn. 336. 157 Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 29. 158 BVerfGE 46, 120 (138). 159 Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 29; Merten, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 68 Rn. 79; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 23 Rn. 682. 160 Schneider, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 113 Rn. 144. 161 BVerfGE 46, 120 (145 ff.); 71, 183 (198 ff.); 72, 26 (32 f.); 73, 301 (316 ff.); 77, 84 (105 ff.); 80, 269 (278 f.); 116, 202 (223); Mann, in: Sachs, GG, 2014, Art. 12 Rn. 143 m. w. N. 154
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zusätzlicher162 Prüfungspunkt herangezogen wurde. Andere Entscheidungen163 verzichten mitunter164 vollumfänglich darauf, die Drei-Stufen-Theorie auch nur zu nennen. Tendenziell ist die begrüßenswerte Annäherung an die allgemeine Grundrechtsdogmatik aber unverkennbar,165 wobei es zu weit geht, behaupten zu wollen, die Drei-Stufen-Theorie würde vom „Gericht selbst seit Langem nicht mehr benutzt“166. 6. Verfassungsrang der finanziellen Stabilität der GKV Je nachdem wie stark man diese Annäherung im Einzelfall vollzieht, muss die zu überprüfende staatliche Maßnahme somit entweder einem Gemeinwohlbelang im Sinne der Drei-Stufen-Theorie oder einem legitimen Ziel dienen. Legitim ist jedes von der Verfassung nicht verbotene Gemeinwohlanliegen, was letztlich nur eine andere Umschreibung des vernünftigen Gemeinwohlbelangs im Sinne der ersten Rechtfertigungsstufe der Drei-Stufen-Theorie ist.167 Da dort auch die zu untersuchende Zwangsrabattierungsmaßnahme des § 130a Abs. 1 S. 1 SGB V anzusiedeln ist, macht es für den Untersuchungsgegenstand ohnehin keinen Unterschied, ob man der Drei-Stufen-Theorie noch eigenständige Bedeutung beimisst. Dies deckt sich auch mit den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts in seinem Beschluss zum Beitragssicherungsgesetz. Ohne an anderer Stelle gesondert auf die Drei-Stufen-Theorie einzugehen, führt das Gericht aus, dass die Preisreglementierung in Form der Zwangsrabattierung als Berufsausübungsregelung durch vernünftige Gründe des Gemeinwohls gerechtfertigt sein muss.168 Darüber hinaus gehend fordert Kluth169 einen besonders qualifizierten Zweck. Ein Eingriff in den Preisbildungsmechanismus dürfe nur darauf abzielen, Marktversagen in Form vorhandener, unausgewogener Marktstrukturen zu korrigieren und somit einen funktionierenden Wettbewerb wiederherzustellen. Erklärtes Ziel des 14. SGB V Änderungsgesetzes war es, befürchtete Ausgabensteigerungen 162 BVerfGE 76, 196 (207); 85, 248 (259); 95, 173 (183); 99, 202 (211); Mann, in: Sachs, GG, 2014, Art. 12 Rn. 142. 163 BVerfGE 116, 202 (223 ff.); 115, 205 (229 ff.); 118, 1 (22). 164 Anders wiederum die zeitlich nachfolgenden Entscheidungen: BVerfGE 121, 317 (356); 126, 112 (139 ff.); 123, 186 (239). 165 Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 136; Kämmerer, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 12 Rn. 67; Wieland, in: Dreier, GG, 2013, Art. 12 Rn. 97. 166 Hufen, NJW 1994 S. 2917. 167 Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 15 Rn. 653 – 654; Kluth, ZHR 1998 S. 671; Merten, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 68 Rn. 52; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 23 Rn. 678. 168 BVerfGE 114, 196 (244). 169 Kluth, ZHR 1998 S. 682.
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durch Nachholeffekte in der GKV zu verhindern. Zudem sollten auch bisher bestenfalls teilweise realisierte Einsparungen aus dem abgeschafften Bestandsmarktaufruf kompensiert werden,170 indem den Krankenkassen wegen der hohen, von ihnen abgenommenen Mengen ein Mengenrabatt gewährt wird.171 Das 14. SGB V Änderungsgesetz will somit in Form einer Marktsimulation zur Kostenbegrenzung in der gesetzlichen Krankenversicherung beitragen. So man es denn für erforderlich halten möchte, läge auch ein besonders qualifiziertes, keinesfalls von der Verfassung verbotenes Gemeinwohlanliegen ebenfalls vor. Ohnehin zielen Kostendämpfungsmaßnahmen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes172 darauf ab, die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung – eine Gemeinwohlaufgabe, die der Gesetzgeber nicht nur verfolgen darf, sondern der er sich nicht einmal entziehen dürfte – zu sichern. Wurde dieser, vom Gericht ohne nähere Begründung selbst aufgestellte Grundsatz ursprünglich nur zur Rechtfertigung von Berufsausübungsregelungen herangezogen173, ist er mittlerweile zur universellen Rechtfertigungswaffe avanciert, die zuverlässig sogar objektive Berufswahlregelungen174 zu rechtfertigen vermag. Immer dann, wenn der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung herangezogen wurde, wurden die angegriffenen Maßnahmen im Ergebnis aufrecht erhalten. Selbst als die angegriffenen Vorschriften tatsächlich einmal als verfassungswidrig angesehen wurden, wurde die zugehörige Verfassungsbeschwerde aus prozessualen Gründen nicht zur Entscheidung angenommen. Die in Rede stehenden Normen seien bereits außer Kraft getreten und die Rückabwicklung von fünf Jahre zurückliegenden Rechtsverhältnissen sei – wenn überhaupt – nur mit einem unverhältnismäßigen Aufwand möglich. Eine Annahme zur Entscheidung (§ 93a Abs. 2 lit. b BVerfGG) sei deshalb nicht zur Durchsetzung der in § 90 BVerfGG genannten Rechte angezeigt.175 Die rechtfertigende Kraft des Grundsatzes der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung beschränkt sich aber nicht nur auf Kos170
BT-Drs. 18/201, S. 1 – 2. So ausdrücklich die Gesetzesbegründung zur Einführung bzw. Erhöhung des Herstellerabschlages gemäß § 130a SGB V, BT-Drs. 15/28 S. 16 bzw. BT-Drs. 18/201, S. 7; näher dazu: § 5 B. II. 8. c) aa). 172 BVerfGE 68, 193 (218); 70, 1 (25 ff.); 103, 172 (184 f.); 113, 167 (233); 114, 196 (244); zuletzt: BVerfG, NZS 2014, S. 662; auch der EuGH erkennt die finanzielle Stabilität der sozialen Sicherungssysteme als wettbewerbsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigendes Ziel an: Janda, § 9 Arzneimittelrecht, in: Ruffert/Gundel (Hrsg.), Europäisches sektorales Wirtschaftsrecht, Enzyklopädie des Europarechts [EnzEuR] Band 5: Europäisches Sektorales Wirtschaftsrecht, 2013, § 9 Rn. 148. 173 BVerfGE 68, 193 (218 f.). 174 BVerfGE 103, 172 (184); BVerfG, NZS 2014, S. 662; Manssen, in: MKS, GG, 2010 Art. 12 Abs. 12 Rn. 187. 175 BVerfG, SozR 3 – 5407, Art 30 Nr 1 = NJW 2000, 1782. 171
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tendämpfungsmaßnahmen. Sie wurde auch schon zur Rechtfertigung von Beitragserhöhungen herangezogen.176 Es greift deshalb zu kurz, wenn man davon ausgeht177, der Gesetzgeber verfolge primär konjunkturpolitische Ziele, indem er den Beitragssatz und damit die Lohnnebenkosten in Form der Krankenversicherungsbeiträge stabil hält. Die in § 71 Abs. 1 SGB V angeordnete Beitragssatzstabilität scheint vielmehr – je nach Lage des Einzelfalls – zumindest auch verfolgt zu werden. Keinesfalls ist sie jedoch mit der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung gleichzusetzen. Neben der hohen Bedeutung des Grundsatzes der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung betont das Gericht auch regelmäßig, dass dem einfachen Gesetzgeber ein sehr weiter Gestaltungsspielraum zustehe, den er dann aber auch zu nutzen habe. Es ist ihm verwehrt, sich diesem Grundsatz zu entziehen, was in der Sache nichts anderes bedeuten kann, als dass das Gericht die gesetzliche Krankenversicherung stillschweigend als institutionelle Garantie behandelt. Denn wer ihre finanzielle Stabilität fordert, fordert zugleich ihre Existenz. Die finanzielle Stabilität eines nicht existenten Systems kann denklogisch nicht gefordert werden. Allerdings kann der Gesetzgeber nur dann nicht frei darin sein, einen Belang zu verfolgen, wenn ihm dies durch höherrangiges Recht vorgegeben wird. In Ermangelung entsprechender europarechtlicher oder völkerrechtlicher Vorgaben müsste die GKV deshalb Verfassungsrang haben.178 Das wiederum wäre jedenfalls dann der Fall, wenn es sich tatsächlich um eine institutionelle Garantie handeln würde. a) Einrichtungsgarantie Einrichtungsgarantien erkennen im realen Leben existierende, von vorneherein umgrenzte Institutionen verfassungsrechtlich an, weil sie bestimmten – und das ist das Entscheidende – schutzbedürftigen Zwecken und Aufgaben dienen.179 Ihr heutiges Verständnis wurde maßgeblich von der vorkonstitutionellen Grundrechtsinterpretation beeinflusst. Grundrechtsverbürgungen der Weimarer Reichsverfassung waren in den Anfangsjahren nicht mehr als unverbindliche Programmsätze. Daran änderte sich auch wenig, als man einigen Vorschriften im Laufe der Zeit unmittelbare Geltung zugestand. Die verfassungsgebende und die gesetzgebende Gewalt wurden nämlich nach wie vor als Einheit verstanden, weswegen kein normenhierarchischer Vorrang der Verfassung vor dem einfachen Recht bestand. Zudem standen die meisten Grundrechtsverbürgungen der Wei176
BVerfGE 103, 392 (404). Dettling, MedR 2006 S. 85. 178 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 308 – 309; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 62 – 63. 179 Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 108 Rn. 257 – 258; Kloepfer, in: Merten/ Papier, Hdb GR II, 2006, § 43 Rn. 27; Starck, in: MKS, GG, 2010, Art. 1 Abs. 3 Rn. 174. 177
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marer Reichsverfassung unter einem einfachen Gesetzesvorbehalt, weshalb man in ihnen überwiegend nur eine Ausprägung des allgemeinen Prinzips der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung erkannte.180 Vor diesem historischen Hintergrund überrascht es nicht, dass Anstrengungen unternommen wurden, die Grundrechte vor dem unbeschränkten Zugriff des Gesetzgebers zu schützen. Beispielsweise war man besorgt, dass das gemäß Art. 153 WRV geschützte Privateigentum durch Sozialisierungsmaßnahmen der Reichstagsmehrheit zu stark eingeschränkt wurde. Zur Sicherung des Fortbestandes des Eigentums bedurfte es einer juristischen Figur mit Verfassungsrang. Eine Aufgabe, die man den Einrichtungsgarantien überantwortete. Nach wie vor nehmen diese „gelungenen Kunstschöpfungen der Wissenschaft“181 Schutzaufgaben wahr, indem sie den einfachen Gesetzgeber daran hindern sollen, bereits vorhandene Einrichtungen des Privatrechts oder des öffentlichen Rechts grundlegend zu verändern.182 Möchte man auch der gesetzlichen Krankenversicherung diesen Schutz angedeihen lassen, müsste das Grundgesetz unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass es für ihren Fortbestand einstehen will. Andernfalls wäre es in der Tat nicht einzusehen, weshalb Grundrechte zum Schutze einfachrechtlicher Einrichtungen, deren Kreation und Ausgestaltung letztlich im Belieben des einfachen Gesetzgebers steht, eingeschränkt werden könnten.183 Mangels ausdrücklicher diesbezüglicher Anhaltspunkte im Normtext kann nur durch Auslegung ermittelt werden, ob eine derartige Gewährleistung existiert. Starke indizielle Bedeutung kommt dabei der Schutzbedürftigkeit der Einrichtung durch höherrangiges Recht zu. Es ist also danach zu fragen, ob die hinter der Einrichtung stehenden, individuellen oder öffentlichen Interessen zumindest potenziell von staatlichen Angriffen bedroht sind. In Ermangelung gegenwärtiger Anhaltspunkte kann die Gefährdungslage regelmäßig nur anhand vergangener Erfahrungen beurteilt werden.184 Bereits ein kurzer Blick in die Vergangenheit der gesetzlichen Krankenversicherung in Deutschland zeigt allerdings, dass der Staat eher als ihr Schutzpatron agierte und ihren stetigen Ausbau forcierte. War sie zu Bismarcks Zeiten für etwa 14,4% der Bevölkerung als Armenfürsorge im Sinne einer finanziellen
180 Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 17 Rn. 738; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1, 1988, S. 758. 181 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1, 1988, S. 755. 182 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 61, 149 (195); aus der Literatur: Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 17 Rn. 738; Kloepfer, in: Merten/Papier, Hdb GR II, 2006, § 43 Rn. 21; a. a. O. § 43 Rn. 28; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 9 Rn. 378 – 379. 183 Wimmer, Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 52 – 53. 184 Kloepfer, in: Merten/Papier, Hdb GR II, 2006, § 43 Rn. 27 m. w. N.
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Absicherung von krankheitsbedingten Einkommensverlusten gedacht, 185 vollzog sich im Laufe der Jahrzehnte, unter zwangsweiser Einbeziehung immer größerer Bevölkerungsteile, ein Wandel, hin zum heute vorherrschenden Sachleistungsprinzip. Heute gehören ihr – bei höchstrichterlich186 ausdrücklich angeregter steigender Tendenz – etwa 90% der Bevölkerung an.187 Insbesondere unter der Ägide des Grundgesetzes wurde der Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu einer wenige Bedürfnisse offenlassenden Vollversorgung ausgebaut.188 Es fällt deswegen sehr schwer, die für eine Einrichtungsgarantie notwendige Schutzbedürftigkeit zu attestieren. Selbst wenn man die in einigen Bereichen bereits durchgeführten bzw. künftig zu erwartenden Leistungskürzungen berücksichtigt, ändert sich daran nichts. Zum einen sind diese politisch schwierig zu vermitteln, was einem potenziellen staatlichen Angriff und damit einer Gefährdung entgegenwirkt. Zum anderen zementieren Einrichtungsgarantien den Status quo nicht in verfassungsrechtliche Ewigkeit, indem sie sich jeglicher Veränderung entziehen. Das Parlament wäre sonst seiner Gestaltungshoheit über ganze Rechtsgebiete beraubt. Geschützt ist lediglich ein Kernbestand an Strukturprinzipien der Garantie.189 Ohnehin steht man der Schaffung neuer Einrichtungsgarantien eher kritisch gegenüber. Anders als in der Weimarer Republik gelten Grundrechte heute unmittelbar, weswegen sie nicht mehr zu besonders geschützten Einrichtungen verdichtet werden müssen.190 Außerdem kamen alle Bestrebungen, den herkömmlichen Katalog an Einrichtungsgarantien auszudehnen, erst nach Inkrafttreten des Grundgesetzes auf, obwohl die Mitglieder des Parlamentarischen Rates ihre Aufgabe ausdrücklich darin sahen, die Grundrechte im klassischen Sinne zu gestalten.191 Es ist zwar sicher nicht so, dass der gesetzlichen Krankenversicherung als Zwangsversicherung das angeblich allen Einrichtungsgarantien gemeinsame Autonomieelement fehlt.192 Ein solches kann schon alleine deshalb nicht allen Einrichtungsgarantien zu eigen sein, weil das Berufsbeamtentum im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG einhellig den Einrichtungs185 Janda, Migranten im Sozialstaat, 2012, S. 41; ausführlich zur historischen Entwicklung heutiger Wohlfahrtsstaaten: Janda, Migranten im Sozialstaat, 2012, S. 17 – 55. 186 BVerfG, SozR 4 – 2500 § 5 Nr 1 = NZS 2005, S. 481. 187 BVerfGE 11, 30 (43 f.); Bannenberg, Gesetzliche Krankenversicherung, in: Nagel (Hrsg.), Das Gesundheitswesen in Deutschland, 2013, S. 73. 188 Bannenberg, Gesetzliche Krankenversicherung, in: Nagel (Hrsg.), Das Gesundheitswesen in Deutschland, 2013, S. 63 – 68. 189 Kloepfer, in: Merten/Papier, Hdb GR II, 2006, § 43 Rn. 31 – 35; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1, 1988, S. 868 – 869. 190 Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 5 Rn. 18. 191 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1, 1988, S. 832 – 834. 192 So aber: Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 119.
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garantien zugeordnet wird, es aber auf den Erhalt einer staatlichen Einrichtung abzielt. Im Ergebnis ist es aber zutreffend, die gesetzliche Krankenversicherung nicht als Einrichtungsgarantie anzusehen. b) Sozialstaatsprinzip Der notwendige Verfassungsrang der gesetzlichen Krankenversicherung könnte sich aber aus dem Sozialstaatsprinzip ergeben. Diese Staatszielbestimmung gewährt kein subjektives Recht, sondern beinhaltet ein objektives Prinzip, weswegen sich keine konkreten Ansprüche aus ihm ableiten lassen.193 Den Einrichtungsgarantien ähnlich, ist sie ebenfalls normativ verbindlich in seiner konkreten Ausgestaltung aber in besonderem Maße auf den einfachen Gesetzgeber angewiesen.194 Ihm kommt der verfassungsrechtliche Auftrag zu, soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit herzustellen und somit den Schwächeren zu schützen.195 Was nun aber genau unter „sozial“ im Sinne der Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 und 23 Abs. 1 S. 1 GG zu verstehen ist, lässt sich weder aus der verfassungsrechtlichen Tradition noch aus den Beratungen des Parlamentarischen Rates zum Grundgesetz ableiten.196 Entsprechend groß ist die Ungewissheit bezüglich des genauen Gewährleistungsgehaltes des Sozialstaatsprinzips. Es soll Hilfe gegen Not und Armut bieten197, ein menschenwürdiges Existenzminimum sichern198, soziale Gegensätze ausgleichen, für eine gerechte Sozialordnung sorgen199 sowie Sicherheit gegen die Wechselfälle des Lebens bieten200. Zu Recht wird deshalb angemerkt, dass die Schnur, die das Sozialstaatsprinzip in Richtung sozialer Gerechtigkeit ziehen soll, keine Richtschnur, sondern ein Wollknäuel ist.201 Umfasst – und im Rahmen des Existenzminimums sogar verfassungsrechtlich geboten – ist jedenfalls der Aufbau einer sozialen Infrastruktur.202 Damit sind Einrichtungen und Vorkehrungen gemeint, die in einem bestimmten fortgeschrittenen 193 BVerfGE 27, 253 (283); 82, 60 (80); Stern, Das Staatsrecht in der Bundesrepublik Deutschland Band I, 1984, S. 880. 194 BVerfGE 1, 97 (105); 65, 182 (193); 82, 60 (80); 100, 271 (284); Janda, Migranten im Sozialstaat, 2012, S. 198. 195 BVerfGE 50, 57 (108); Sachs, in: Sachs, GG, 2014 Art. 20 Rn. 46. 196 Schnapp, in: Münch/Kunig, GG, 2012 Art. 20 Rn. 49; Stern, Das Staatsrecht in der Bundesrepublik Deutschland Band I, 1984, S. 878. 197 BVerfGE 1, 97 (105). 198 BVerfGE 40, 121 (133); 44, 353 (375); 45, 187 (228). 199 BVerfGE 1, 97 (105); 5, 85 (198); 22, 180 (204); 59, 231 (263); 93, 121 (163). 200 BVerfGE 28, 324 (348); Janda, Migranten im Sozialstaat, 2012, S. 198. 201 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 135; Schnapp, in: Münch/ Kunig, GG, 2012 Art. 20 Rn. 52. 202 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 309; Stern, Das Staatsrecht in der Bundesrepublik Deutschland Band I, 1984, S. 892.
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Entwicklungsstadium der Gesellschaft als Grundausstattung notwendig sind, um eine angemessene wirtschaftliche und persönliche Entfaltungsmöglichkeit zu gewährleisten.203 Das gegenwärtige System der gesetzlichen Krankenversicherung stellt sicherlich eine solche Einrichtung dar. Auch ist der Schutz in Fällen von Krankheit in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der wichtigsten Grundaufgaben des Staates überhaupt.204 Darüber, wie diese Aufgabe zu erfüllen ist, sagt das Sozialstaatsprinzip aber nichts aus. Als Staatszielbestimmung gibt es dem Gesetzgeber nur das Ziel, nicht aber auch den Weg dahin vor.205 Das Gebot des sozialen Rechtsstaats enthält deshalb keinen Anspruch auf soziale Leistungen im Bereich der Krankenversicherung durch ein so und nicht anders aufgebautes Sozialversicherungssystem.206 Garantiert wird nur, dass überhaupt ein Schutzsystem vorgehalten wird.207 Auch aus dem Auftrag, für eine gerechte Sozialordnung sorgen zu müssen, lässt sich kein Schutz der GKV (mehr) herleiten. Einzelnen oder Gruppen, die wegen ihrer persönlichen Lebensumstände oder gesellschaftlicher Benachteiligungen an ihrer persönlichen oder sozialen Entfaltung gehindert sind, muss zwar staatliche Fürsorge zu Teil werden.208 Allerdings hat sich das gegenwärtige Modell der gesetzlichen Krankenversicherung weit von der Armenfürsorge Bismarck‘scher Prägung entfernt. Es ist schlechterdings ausgeschlossen, dass nahezu die gesamte Bevölkerung eines der reichsten Länder dieser Erde hilfsbedürftig ist und deshalb den Wechselfällen des Lebens nicht selbstständig Herr werden kann. Das erkannte auch das Bundesverfassungsgericht, wenngleich es diesen Tatsachenbefund als besonders prägnanten Ausdruck des Sozialstaatsprinzips wertete.209 Erklären lässt er sich mit einer aus der Würde des Menschen ableitbaren Abkehr, weg vom Fürsorge- hin zum Sozialstaat.210 203
Stern, Das Staatsrecht in der Bundesrepublik Deutschland Band I, 1984, S. 892 – 893. BVerfGE 68, 193 (209); 113, 167 (215). 205 BVerfGE 59, 231 (263); Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 77 m. w. N. 206 BVerfGE 39, 302 (315); Leisner, Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung – ein grundgesetzliches Gebot?, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 20; Schmidt-Aßmann, NJW 2004 S. 1690. 207 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 508 – 512; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 308; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 76 m. w. N.; Stern, Das Staatsrecht in der Bundesrepublik Deutschland Band I, 1984, S. 895; Wimmer, Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 53 – 54. 208 BVerfGE 45, 376 (387); 100, 271 (284). 209 BVerfGE 28, 324 (348). 210 Janda, Migranten im Sozialstaat, 2012, S. 44 – 48. 204
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Abgesehen davon werden bzw. wurden beachtliche Anstrengungen unternommen, leistungsfähige Personen in der GKV zwangsweise zu versichern, weil ihre Einkommen für die Finanzierung interessant sind. Verwiesen sei hier nur auf die jährlich erfolgende Erhöhung der Jahresarbeitsentgeltgrenze (§ 6 Abs. 1 Nr. 6 SGB V) sowie das zwischenzeitlich wieder abgeschafften Erfordernis, diese über drei Jahre hinweg überschreiten zu müssen. Weshalb dann aber ausgerechnet die leistungsfähigsten zehn Prozent der Gesellschaft von dieser Art der Finanzmittelbeschaffung verschont werden, erschließt sich nicht einmal auf den zweiten Blick.211 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass sich der Verfassungsrang der gesetzlichen Krankenversicherung nicht aus dem gesetzgeberischen Auftrag, für eine gerechte Sozialordnung sorgen zu müssen, ableiten lässt. c) Schutzpflichtverletzung Auch der Versuch, das Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) zur Begründung des Verfassungsranges der GKV fruchtbar zu machen, scheint untauglich zu sein. Denn das würde voraussetzen, dass die Nichteinführung der gesetzlichen Krankenversicherung in ihrer gegenwärtigen Gestalt eine Schutzpflichtverletzung darstellt. Nach der Rechtsprechung ist die Pflicht des Staates, jedes menschliche Leben zu schützen, unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ableitbar. Sie soll darüber hinaus auch ausdrücklich in der Vorschrift des Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG normiert sein. Die Schutzpflicht des Staates soll umfassend zu verstehen sein. Sie verbiete nicht nur unmittelbare staatliche Eingriffe in das gegebenenfalls noch zu entwickelnde Leben, sondern gebiete dem Staat auch, sich schützend und fördernd vor dieses Leben zu stellen.212 Darin, wie die staatlichen Organe ihre Verpflichtung zu einem effektiven Schutz des Lebens erfüllen, sollen sie aber frei sein. In eigener Verantwortung sollen sie darüber befinden können, welche Schutzmaßnahmen zweckdienlich und geboten sind, um einen wirksamen Lebensschutz zu gewährleisten. Allenfalls dann, wenn ein effektiver Lebensschutz auf andere Weise nicht zu erreichen ist, könnte sich ihre Freiheit in der Wahl der Mittel zur Realisierung des Lebensschutzes auf die Auswahl eines bestimmten Mittels verengen.213 Wegen diesem, dem Gesetzgeber zugestandenen, weiten Einschätzungsspielraum kann regelmäßig weder eine bestimmte Maßnahme geschweige denn ein gesamtes Maßnahmenpaket in Form der GKV gefordert werden. Abgesehen davon wird der Grundsatz der finanziellen Stabilität auch zur Begründung von Rationierungsmaßnahmen herangezo211 Vgl. BVerfGE 123, 186 (264 f.); Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 426; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 81 – 84 m. w. N. 212 BVerfGE 39, 1 (42); 46, 160 (164); 49, 89 (141 f.); 53, 30 (57); 56, 54 (73); 77, 170 (214); 88, 203 (251). 213 BVerfGE 39, 1 (44); 46, 160 (164).
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gen.214 Er scheint also primär eine rein finanzielle und bestenfalls sekundär eine gesundheitsschützende Dimension aufzuweisen. Eine dogmatische Verankerung in der staatlichen Schutzpflicht erscheint deshalb schwierig und nur über Umwege möglich zu sein.215 d) Gesetzgebungskompetenzen Ungeachtet der kontrovers diskutierten grundsätzlichen Frage, ob Kompetenznormen überhaupt ein materiell rechtlicher Gehalt zukommen kann,216 versuchte das Bundessozialgericht217, den Verfassungsrang der gesetzlichen Krankenversicherung mit der Kontinuität ihrer mehr als hundertjährigen Entwicklung, gestärkt durch die Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenztitel des Grundgesetzes (Art. 74 Abs. 1 Nr. 12, Art 87 Abs. 2 GG), zu begründen. Dem wurde entgegenhalten, dass der Wortlaut des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG viel zu weit sei, um ihm einen derartigen Inhalt entnehmen zu können. Darüber hinaus wurde es zum Zeitpunkt der Entstehung des Grundgesetzes überwiegend abgelehnt, Kompetenzbestimmungen materiellen Gehalt zu entnehmen. Neben dem Wortlaut spräche deshalb auch der erkennbare entgegenstehende Wille des historischen Verfassungsgebers, mithin eine zweite absolute Auslegungsgrenze, gegen die Argumentation des Bundessozialgerichtes. Insofern ist dem Bundesverfassungsgericht218 beizupflichten, wenn es der Kompetenzbestimmung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 12 GG keine über die bloße Zuständigkeitsregelung hinausgehende Bedeutung für die gesetzliche Krankenversicherung beimisst. Wenn aber schon aus der Gesetzgebungskompetenz kein Verfassungsrang hergeleitet werden kann, so muss dies erst recht für die keinesfalls weiterreichende Verwaltungskompetenz des Art. 87 Abs. 2 GG gelten.219
214 BVerfG, SozR 3 – 2500 § 47 Nr 8 = NJW 1997, S. 2444; SozR 3 – 2500 § 73 Nr 3 = NJW 1999, S. 2730. 215 Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 100. 216 Dafür: BVerfGE 28, 243 (261); 32, 40 (46); 53, 30 (56); 69, 1 (21 f.); 77, 170 (221); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1, 1988, S. 583; dagegen BVerfGE 69, 1 (59) Sondervotum Mahrenholz und Böckenförde; Böckenförde, Der Staat 2003 S. 170; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 9 Rn. 33; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 19 Rn. 529; Papier, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 64 Rn. 30; Sachs, in: Sachs, GG, 2014, Vor. Art. 1 Rn. 132; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 102 – 110 jeweils m. w. N. auch zur Gegenansicht. 217 BSGE 94, 50 (100). 218 BVerfGE 39, 302 (314 f.); 89, 365 (377). 219 Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 108.
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e) Zwischenergebnis Im Ergebnis steht deshalb fest, dass die gesetzliche Krankenversicherung und damit auch ihre finanzielle Stabilität keinen Verfassungsrang haben kann. Ein Ergebnis, das sich eigentlich nahtlos in die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung220 einfügt. So führt das Gericht in seinem Beschluss221 zum Risikostrukturausgleich vom 18. 07. 2005 ausdrücklich aus: „Faktisch käme dies einem (finanz-)verfassungsrechtlichen Bestandsschutz für das überkommene gegliederte System der gesetzlichen Krankenversicherung gleich. Für die Existenz eines derartigen Bestandsschutzes geben Wortlaut und Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes jedoch keinen Anhaltspunkt. Der bereits vom vorkonstitutionellen Gesetzgeber aus Gründen der Zweckmäßigkeit getroffenen Entscheidung für ein gegliedertes Krankenversicherungssystem mit seinen Vor- und Nachteilen (vgl. BVerfGE 89, 365 [377]) wohnt kein tiefergehender Gerechtigkeitsgehalt inne, der es nahe legen könnte, der Verfassungsgeber habe der einfach-rechtlichen Systementscheidung besonderen Schutz zukommen lassen wollen.“
Zugleich zeigt dies aber auch eindrucksvoll die Sonderstellung des in ständiger Rechtsprechung vertretenen Grundsatzes der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, dem sich der Gesetzgeber nicht entziehen dürfe. Ohne tragfähige oder wenigstens nähere Begründung wird ihm im Ergebnis dennoch Verfassungsrang und damit eine hohe Rechtfertigungskraft beigemessen. Dass dem de constitutione lata nicht so sein kann, wurde soeben nachgewiesen. In Wirklichkeit ist seine rechtfertigende Kraft deutlich geringer als von der höchstrichterlichen Rechtsprechung angenommen. Er dient allein der Mittelbeschaffung sowie der Kostendämpfung bzw. Kostenvermeidung.222 Rein fiskalische Gründe, die nur darauf abzielen, dem Staat Ausgaben zu ersparen, weisen allerdings anerkanntermaßen eine eher geringe Rechtfertigungskraft auf. Insbesondere vermögen sie allein, die Berufswahlfreiheit nicht verfassungsgemäß einzuschränken.223 Das macht das mit dem 14. SGB V Änderungsgesetz verfolgte Gemeinwohlanliegen selbstverständlich nicht illegitim. Sollte sich die Erhöhung des Grundrabattes aber als geeignet und erforderlich erweisen, so müssen deswegen in der Angemessenheitsprüfung keine Verfassungsgüter im Wege der praktischen Konkordanz zu einem möglichst schonenden Ausgleich gebracht werden. Es muss also gerade kein besonderer Wert darauf gelegt werden, nicht eines der 220
BVerfGE 39, 302 (314 f.); 89, 365 (377); 113, 167 (203). BVerfGE 113, 167 (203). 222 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 23 Rn. 684; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 120 m. w. N. 223 BVerfGE 102, 197 (216); 115, 276 (307); Posser/Müller, NZS 2003 S. 179; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 71 m. w. N. 221
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beiden Verfassungsgüter vorschnell zulasten des anderen zu relativieren.224 Sollte sich kein anderes, anerkennenswertes Ziel mit Verfassungsrang finden, wäre es somit durchaus denkbar, dass das fiskalische Interesse an der Kostendämpfung vollkommen hinter der grundrechtlich geschützten – und damit normenhierarchisch betrachtet höherrangigen – Berufsfreiheit zurücktreten muss. 7. Der weite Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich jedoch nicht darauf, das gegenwärtige System der gesetzlichen Krankenversicherung verfassungsrechtlich zu überhöhen. Im gleichen Atemzug gesteht es dem Gesetzgeber ausdrücklich einen ganz besonders weiten gesundheitspolitischen Gestaltungsspielraum zu.225 Ein Zugeständnis, das als widersprüchlich kritisiert wird, weil es dem Gesetzgeber auch verwehrt sein soll, sich der Verfolgung der Gemeinwohlaufgabe „Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung“ zu entziehen. Es sei schlicht unmöglich, gleichzeitig frei und unfrei zu sein.226 Man kann es aber auch so verstehen, dass dem Gesetzgeber ein auf Null reduziertes Einschreitensermessen bei gleichzeitig weitem Auswahlermessen zukommen soll. Ob bzw. inwieweit die den hoheitlichen Maßnahmen zu Grunde liegenden Prognosen verfassungsgerichtlich überprüft werden können, ist damit freilich nicht gesagt. Diese Frage ist deshalb so bedeutsam, weil neben den Tatsachengrundlagen auch häufig die tatsächlichen Auswirkungen des jeweiligen Gesetzes ungewiss sind. Wie so häufig in der forensischen Praxis, werden die Weichen für den Prozesserfolg dann auch im Verfassungsrecht bisweilen eher in der zutreffenden Sachverhaltsermittlung als in der rechtlichen Beurteilung des auf Basis der Prognosen ermittelten Sachverhaltes gestellt. Je nachdem von welchen prognostizierten tatsächlichen Angaben man ausgeht, können von dem, von der Rechtsprechung zugestandenen, besonders weiten Gestaltungsspielraum, entweder die Geeignetheit, die Erforderlichkeit oder sogar die Angemessenheit227 der angegriffenen staatlichen Maßnahme abhängen. Geeignet ist eine Maßnahme dann, wenn sie der Erreichung des angestrebten Zweckes zumindest förderlich ist. Darauf, dass der Erfolg in jedem Einzelfall auch tatsächlich erreicht wird oder jedenfalls erreichbar ist, kommt es nicht an. Die bloße Möglichkeit der Zweckerreichung
224 BVerfGE 51, 324 (345 ff.); 81, 278 (292 f.); Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 9 Rn. 31; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 23 Rn. 710 – 742; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1, 1988, S. 625 – 626. 225 BVerfGE 77, 308 (332); 103, 172 (185); 114, 196 (248). 226 Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 119. 227 BVerfGE 77, 84 (111 f.).
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genügt.228 Daran fehlt es allerdings, wenn der Zweck bereits erreicht wurde oder gar nicht mehr erreicht werden kann. Eine derartige Regelung könnte dann nicht einmal einen teilweisen Beitrag zur Zielerreichung leisten. Verfehlt ein Gesetz seinen Steuerungszweck, weil sich die maßgeblichen Daten geändert haben, so ist es ungeeignet. Es schränkt die Grundrechte zu Unrecht ein und ist rechtsstaatlich untragbar.229 Zweck des 14. SGB V Änderungsgesetzes war es, die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung zu sichern. Am 05. 03. 2014, also nicht einmal einen Monat vor seinem Erlass, gab das Bundesministerium für Gesundheit jedoch bekannt, dass die Finanzreserven der gesetzlichen Krankenversicherung auf insgesamt 30,3 Milliarden Euro angestiegen sind.230 Auch für das Beitragsjahr 2014 attestierte der Bundesgesundheitsminister der gesetzlichen Krankenversicherung wegen ihrer Reserven von rund 28 Milliarden Euro eine gute Finanzlage.231 Das finanzielle Polster falle im Vergleich zum Vorjahr unter anderem deshalb etwas dünner aus, weil der Bundeszuschuss in Höhe von 3,5 Milliarden Euro vorübergehend gesenkt wurde.232 Solange aber derart hohe Überschüsse erwirtschaftet werden, kann die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung eigentlich nicht ernsthaft in Gefahr sein. Der Gesetzgeber hingegen sah die finanzielle Stabilität gerade ohne die ausgabenbegrenzenden Regelungen des 14. SGB V Änderungsgesetzes gefährdet. Im Arzneimittelbereich wäre nämlich mit Ausgabenzuwächsen im deutlich zweistelligen Bereich zu rechnen gewesen.233 Darüber hinaus müsse man bereits für das Jahr 2015 wieder von die Einnahmen übersteigenden Ausgaben ausgehen,234 weshalb die finanzi228 BVerfGE 30, 292 (316); 33, 171 (187); 63, 88 (115); 67, 157 (175); 96, 10 (23); 115, 276 (308); Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 3 Rn. 189. 229 Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 11 m. w. N. 230 Bundesministerium für Gesundheit, Vorläufige Finanzergebnisse 2013 – Gute Ausgangsbasis für die Finanzierungsreform der gesetzlichen Krankenversicherung, Pressemitteilung vom 05. 03. 2014, S. 1. 231 Bundesministerium für Gesundheit, Finanzergebnisse der GKV 2014: Finanz-Reserven der gesetzlichen Krankenversicherung bei 28 Milliarden Euro, Pressemitteilung vom 04. 03. 2015, S. 1. 232 Bundesministerium für Gesundheit, Finanzergebnisse der GKV 2014: Finanz-Reserven der gesetzlichen Krankenversicherung bei 28 Milliarden Euro, Pressemitteilung vom 04. 03. 2015, S. 3. 233 Bundesministerium für Gesundheit, Finanzergebnisse der GKV 2014: Finanz-Reserven der gesetzlichen Krankenversicherung bei 28 Milliarden Euro, Pressemitteilung vom 04. 03. 2015, S. 4. 234 SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands/CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands/CSU Christlich Soziale Union, Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, S. 59; tatsächlich wies die GKV im ersten Halbjahr 2015 ein Defizit von 491 Millionen Euro aus, im ersten Halbjahr 2016 hingegen erzielte sie jedoch wieder einen Überschuss von 598 Millionen Euro (Bundesministerium für Gesundheit, Ergebnisse der GKV im 1. Halbjahr 2016: Krankenkassen erzielen Über-
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elle Stabilität durchaus gefährdet sei. Um die Geeignetheit der Zwangsrabattierungsmaßnahme redlicherweise beurteilen zu können, ist es deshalb notwendig, sich näher mit der verfassungsgerichtlichen Überprüfbarkeit gesetzgeberischer Prognosen auseinanderzusetzen. a) Position der Rechtsprechung Die Rechtsprechung argumentiert, dass es gerade dem Wesen einer jeden Prognose entspräche, sie unter Ungewissheit abzugeben. Diese Ungewissheit sei umso größer, je weitreichender und komplexer die Zusammenhänge sind, auf die sie sich bezieht.235 Ungewissheit über Gesetzesfolgen in einer ebenso ungewissen Zukunft könne aber nicht das Recht des einfachen Gesetzgebers ausschließen, ein Gesetz zu erlassen. Das müsse selbst dann gelten, wenn das Gesetz von großer Bedeutung ist. Umgekehrt reiche Ungewissheit allein nicht aus, dem Gesetzgeber einen verfassungsgerichtlich nicht überprüfbaren Prognosespielraum zuzugestehen. Prognosen gingen nämlich immer auf ein Wahrscheinlichkeitsurteil zurück. Die diesem Wahrscheinlichkeitsurteil zu Grunde liegenden Tatsachen sollen gerichtlich überprüfbar sein und müssten deshalb vom Gesetzgeber benannt und ausgewiesen werden. Im Einzelfall hinge die Kontrolldichte der legislativen Einschätzungsprärogative von Faktoren verschiedenster Art ab. Zu nennen wäre hier insbesondere die Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, die Möglichkeit sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden sowie die Bedeutung der auf dem Spiel stehenden Rechtsgüter.236 Davon ausgehend hat das Gericht zur Beurteilung von gesetzgeberischen Prognosen aus seiner bisherigen Rechtsprechung heraus eine differenzierende Drei-Stufen-Lehre entwickelt. Danach ist zwischen einer Evidenz-237, einer Vertretbarkeits-238 sowie einer intensivierten Kontrolle239 zu unterscheiden.240 Vertretbar soll eine Prognose sein, wenn sich der Gesetzgeber an einer sachgerechten und vertretbaren Beurteilung des erreichbaren Materials orientiert hat. Er hat dabei die ihm zugänglichen Erkenntnisquellen auszuschöpfen, um die zu erwartenden Gesetzesfolgen so zuverlässig wie möglich abschätzen zu können und somit einen Verstoß gegen Verfassungsrecht zu vermeiden. Werden diese eher verfahrensrechtlichen Anforderungen erfüllt, soll die Progno-
schuss von 600 Mio. Euro – Finanzreserven steigen auf über 15 Mrd. Euro, Pressemitteilung vom 05. 09. 2016, S. 1). 235 BVerfGE 50, 290 (331); näher dazu: § 5 B. II. 8. h). 236 BVerfGE 50, 290 (332 f.). 237 BVerfGE 36, 1 (17); 37, 1 (20); 40, 196 (223). 238 BVerfGE 25, 1 (12 f., 17); 30, 250 (263); 39, 210 (225 f.). 239 BVerfGE 7, 377 (415); 11, 30 (45); 17, 269 (276 ff.); 39, 1 (46, 51 ff.); 45, 187 (238). 240 BVerfGE 50, 290 (333).
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seentscheidung inhaltlich vertretbar und von der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers gedeckt sein.241 Nähere Umschreibungen dessen, was unter Evidenz- und intensivierter Kontrolle zu verstehen ist, bleibt das Gericht jedoch schuldig. In der Entscheidung zum Güterkraftverkehrsgesetz hebt es im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung jedoch besonders hervor, dass die diskutierten Alternativvorschläge nur dann als milderes Mittel zu berücksichtigen wären, wenn eine geringere Eingriffsintensität bei gleicher Wirksamkeit so eindeutig gegeben sei, dass das Gericht dazu in der Lage wäre auszusprechen, der Gesetzgeber habe dieses Mittel anstatt des von ihm gewählten einzusetzen.242 Möglicherweise nicht zuletzt wegen der in der Literatur geübten Kritik 243 an der tautologisch bis zirkelschlüssig anmutenden Formulierung „evident ist was offensichtlich ist“, verwendet sie das Gericht in jüngeren Entscheidungen nicht mehr. An seiner gleichbedeutenden Formulierung, dass der Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers erst dann überschritten sein soll, wenn die gesetzgeberischen Erwägungen so fehlsam sind, dass sie vernünftigerweise keine Grundlage für derartige Maßnahmen abgeben können, hält es aber fest.244 Die Verfassungswidrigkeit muss also offensichtlich sein. Bei einer intensivierten Kontrolle hingegen ist nicht nur die Richtigkeit und Vollständigkeit des Verfahrens, sondern auch die des Tatsachenmaterials überprüfbar. Die Annahmen des Gesetzgebers können dabei auch durch eigene Erhebungen des Gerichts ergänzt bzw. ersetzt werden.245 Dies geschah im Apotheken-246, Kassenarzt-247 sowie dem ersten Abtreibungsurteil248 und einer Entscheidung zu Tierarzneimitteln 249. Gassner nimmt deshalb an, dass im Gesundheitssektor stets eine intensivierte inhaltliche Kontrolle durchzuführen sei. Hinsichtlich der Kostenentwicklung einzelner Leistungsbereiche der gesetzlichen Krankenversicherung im Allgemeinen sowie der Kostenentwicklung ohne Kompensationsmaßnahmen aus der abgeschafften Bestandsmarktbewertung im Besonderen könne dem Gesetzgeber in zeitlicher Hinsicht lediglich ein sehr begrenzter Prognosespielraum zugestanden 241
BVerfGE 50, 290 (333 f.). BVerfGE 40, 196 (223); vgl. auch BVerfGE 36, 1 (17); 37, 1 (20); 53, 135 (145 f.). 243 Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 137 – 142 m. w. N.; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 125. 244 BVerfGE 30, 292 (317); 37, 1 (20); 77, 84 (106); 110, 141 (157 f.); 117, 163 (189); BVerfG, NZS 2013, S. 860. 245 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 320 – 321; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 125. 246 BVerfGE 7, 377 (415). 247 BVerfGE 11, 30 (45). 248 BVerfGE 39, 1 (46, 51 ff.). 249 BVerfGE 17, 269 (275). 242
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werden. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil sich gerade der Gesundheitssektor durch eine mangelnde Regelungskontinuität auszeichne. Der Gesetzgeber sei verpflichtet, seine Entscheidungen an den bekannten Tatsachen zu orientieren und im Hinblick auf seine bisher gemachten Erfahrungen zu treffen. Diese zeigen aber, dass die Eigenarten dieses Regelungsbereichs – genannt werden die angebotsinduzierte Nachfrage sowie das heterogene Leistungsangebot der gesetzlichen Krankenversicherung – permanentes legislatives Nachsteuern erforderlich machen. Mittelfristige Prognosen seien deshalb ausgeschlossen.250 Ein Ergebnis, das schwerlich mit der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes in Einklang zu bringen ist. Dieses hat nämlich „sozialpolitische Entscheidungen des Gesetzgebers anzuerkennen, solange seine Erwägungen weder offensichtlich fehlsam noch mit der Wertordnung des Grundgesetzes unvereinbar sind.“251 Insofern ist es aus Sicht des Gerichtes nur konsequent, wenn es in den wenigen Entscheidungen 252 zum Kontrollmaßstab bei der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung mittlerweile nur noch eine Evidenzkontrolle vornimmt.253 b) Kritik der Literatur Die in den genannten Entscheidungen dennoch durchgeführte, intensivierte Kontrolle illustriert eindrucksvoll, weshalb der, vom Gericht auch im Übrigen ubiquitär verwendete, legislative Gestaltungsspielraum deus ex machina zahlreicher verfassungsgerichtlicher Entscheidungen genannt wird.254 Immer dann, wenn im Ergebnis keine Grundrechtsverletzung festgestellt wurde, betonte das Gericht zuvor den weiten, von ihm nicht zu überprüfenden Gestaltungsspielraum, wobei völlig unklar blieb, weshalb der Spielraum im konkreten Fall weiter oder enger sein soll. In Ermangelung entsprechender Kriterien bescheinigte das Gericht dem Gesetzgeber bislang in sehr unterschiedlichen Rechtsgebieten einen besonders weiten Gestaltungsspielraum.255 Umgekehrt wird die Bedeutung des jeweils betroffenen Grundrechtes besonders betont, wenn im Ergebnis eine 250
Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 21. 113, 167 (215); vgl. auch BVerfGE 44, 70 (89 f.); 89, 365 (376); 103, 172 (185); 117, 163 (189); 121, 317 (354); BVerfG, NZS 2013, S. 860. 252 BVerfGE 68, 193 (220); 113, 167 (232 ff.); BVerfG, SozR 3 – 2500 § 311 Nr 1 = DVBl 1991, S. 206; NJW 1994, S. 3007. 253 Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 126 m. w. N. insbesondere zur Rechtsprechungsentwicklung. 254 Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 137 jeweils m. w. N.; a. a. O., S. 166; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 127. 255 Vgl. BVerfGE 4, 157 (168 ff.); 34, 165 (185); 37, 1 (20); 40, 141 (178); 55, 349 (365); 61, 291 (313 f.); 71, 66 (77 ff.); 73, 301 (315 ff.) 251 BVerfGE
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Verletzung desselben bejaht wird.256 Auf diese Weise wurde dem Gesetzgeber in nahezu allen Rechtsgebieten ein besonders großer Spielraum zugestanden und nahezu jedem Grundrecht schon einmal eine besondere Wertigkeit attestiert. Mit der Betonung des Spielraumes ist deshalb so wenig gewonnen wie mit der Hervorhebung der Bedeutung eines Grundrechtes.257 Wie die Drei-Stufen-Theorie zeichnet sich auch der weite Gestaltungsspielraum durch eine gewisse Beliebigkeit aus, die sich auch in der Drei-Stufen-Lehre manifestiert. Eine trennscharfe Abgrenzung zwischen ihren einzelnen Kategorien und insbesondere zwischen der Evidenz- und Vertretbarkeitsstufe ist unmöglich. Das Gericht konnte wegen dieser gleitenden Skala auch nie zu einer einheitlichen und konsistenten Anwendung finden.258 Das gilt ganz besonders für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung, indem das Gericht ohne nähere Begründung oder gar dogmatischem Anker von einer intensivierten inhaltlichen Kontrolle259, über eine Vertretbarkeitskontrolle260, mittlerweile bei einer bloßen Evidenzkontrolle261 angelangt ist. Wählt das Gericht stets diesen Kontrollmaßstab, so setzt es sich auch in Widerspruch zu seiner eigenen Rechtsprechung, zu den Rechtfertigungsanforderungen bei besonders intensiven Grundrechtseingriffen in die Berufsfreiheit. Der gesetzgeberische Gestaltungsspielraum soll nämlich um so geringer sein, je mehr eine Regelung in ihren Auswirkungen einer Berufswahlregelung nahe kommt.262 Das Bundesverfassungsgericht kann seiner Aufgabe als Hüterin der Verfassung nur dann gerecht werden, wenn der zu überprüfende Sachverhalt von ihm nicht als datum hingenommen wird. Der Anspruch des Einzelnen auf Schutz vor normativem Unrecht wäre stark entwertet, wenn es dem Gericht erlaubt wäre, sich selbst von seinen Aufgaben zu dispensieren.263 Seiner originären Aufgabe – der Gewährleistung effektiven Grundrechtsschutzes – kann es nur nachkommen, wenn es wenigstens die Angemessenheitsprüfung selbstständig und ohne 256 Vgl. BVerfGE 22, 180 (219); 39, 1 (42); 59, 231 (265 f.); 61, 14 (17); 76, 1 (51); BVerf GK 7, 87 (87 ff.). 257 Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 127 – 128. 258 Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 137; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 320 – 321; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 124. 259 BVerfGE 7, 377 (415); 11, 30 (45). 260 BVerfGE 68, 193 (220); BVerfG, SozR 3 – 2500 § 311 Nr 1 = DVBl 1991, S. 206. 261 BVerfGE 113, 167 (252 f., 264) mit Verweis auf 77, 84 (106); BVerfG, NJW 1994, S. 3007. 262 BVerfGE 11, 30 (42); 12, 144 (148). 263 Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 348 – 367; Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 38.
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Rekurs264 auf den weiten Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers durchführt. Andernfalls wäre eine Maßnahme des Gesetzgebers verhältnismäßig, wenn er sie – kraft seiner Einschätzungsprärogative – für verhältnismäßig erklärt hat. Die verfassungsgerichtliche Doktrin vom weiten Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers wäre damit mehr als nur „zirkelschlussverdächtig“265. Es ist sicherlich wichtig und richtig, das Gewaltenteilungs- und Demokratieprinzip zu effektuieren, indem sich das Verfassungsgericht einen judicial self-restraint auferlegt und den Gesetzgeber nicht durch zu enge Kontrollen bevormundet. Andernfalls könnte der Gesetzgeber seinem Gestaltungsauftrag nicht mehr nachkommen, da er dann das nicht ausräumbare Risiko von Fehlprognosen in vollem Umfange zu tragen hätte.266 Nicht minder wichtig und richtig ist es aber auch, Grundrechtsträger vor unangemessenen hoheitlichen Eingriffen zu schützen. Das gilt um so mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass das ursprünglich zur Beurteilung von wirtschafts- und sozialpolitischen Lenkungsmaßnahmen entwickelte Instrument der Einschätzungsprärogative mittlerweile auch bei konkreten personenbezogenen Eingriffen angewendet wird. Der Gesetzgeber darf deshalb nicht mit verfassungsgerichtlicher Billigung von unzureichend ermittelten oder unzutreffenden Tatsachen ausgehen. Die Einschätzungsprärogative wirkt andernfalls wie eine Beweislastumkehr zulasten des Grundrechtsschutzsuchenden.267 Ebenso ist es ihm verwehrt, sich entgegen gefestigter Erfahrungssätze auf seinen Prognosespielraum zurückzuziehen. Von einer vertretbaren Prognose muss auch gefordert werden, dass sie die verfügbaren empirischen Erkenntnisquellen ausgewertet hat. Der dem Gesetz zugrunde liegende Sachverhalt muss vollständig ermittelt und ausgewertet sein. Dazu gehört auch die Erwägung möglicher Alternativen.268 Welche Alternative dann letztlich gewählt wird, entzieht sich jedoch soweit gerichtlicher Kontrolle, wie sich die Prognose auf eine nachvollziehbare Einschätzung künftiger Tatsachenentwicklungen stützen kann. Der Gesetzgeber ist damit aber noch nicht aus der Pflicht entlassen. Entwickeln sich die tatsächlichen Umstände entgegen seiner zunächst als vertretbar erachteten Prognose, so muss er prüfen, ob seine ur264
So aber: BVerfGE 77, 84 (112). Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 36; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 15. 266 Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 33 – 34. 267 Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 48; a. a. O., S. 156 – 160; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 36; Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 38. 268 Koenig, Die öffentlich-rechtliche Verteilungslenkung, 1994, S. 365 – 366; Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 34. 265
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sprüngliche Entscheidung auch unter den veränderten Gesichtspunkten aufrecht erhalten werden kann.269 Solange die Prognosen des Gesetzgebers aber lediglich durch Vermutungen und Behauptungen der wirtschaftlich Betroffenen infrage gestellt werden, vermag das Gericht nicht einzugreifen.270 Welche Anforderungen an eine hinreichend substanziierte Einwendung des wirtschaftlich Betroffenen gestellt werden, hat das Gericht bislang offengelassen. Insofern könnte man auf die Idee kommen, dass es die Substanziierungskeule mitunter nur in eine Richtung zu schwingen scheint. Das mag damit zu tun haben, dass bereits zu viele Beschwerdeführer versucht haben, das Gericht von einer Existenzbedrohung durch Kostendämpfungsmaßnahmen zu überzeugen.271 Im Zusammenspiel mit dem verfassungsrechtlich überhöhten Gemeinwohlbelang der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung könnte aber möglicherweise wirklich eine „Beseitigung der Berufsfreiheit auf der Rechtfertigungsebene“272 zu besorgen sein. c) Fazit Bezüglich der zu überprüfenden Maßnahmen kann von der befürchteten Aushöhlung der Berufsfreiheit jedoch keine Rede sein. Seitens der pharmazeutischen Industrie bzw. ihrer jeweiligen Verbände wird nämlich nicht einmal ernsthaft versucht, die der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung zu Grunde liegenden, gesetzgeberischen Prognosen ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Auf Basis der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind die getroffenen Annahmen zu Kostenentwicklung, Einsparpotenzialen oder Kompensationseffekten mit und ohne Bestandsmarktaufruf somit unangreifbar. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle verlagert sich damit in die – auch nach der Rechtsprechung – noch weitestgehend 273 einschätzungsspielraumfreie Angemessenheitsprüfung. 8. Angemessenheit der Zwangsrabattierung Abzuwägen ist der, mit der Zwangsrabattierung verfolgte, fiskalische Belang der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung mit der grundrechtlich gewährleisteten Berufsfreiheit der pharmazeutischen Unternehmen. Dass der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung eine weit 269
Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 34 – 35. BVerfGE 114, 196 (248); so auch: BVerfG, Beschluss vom 07. März 2017 – 1 BvR 1314/12 –, juris Rn. 157 mit Verweis auf: BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2016 – 8 C 6.15 –, juris, Rn. 50; ähnlich bereits: BSG, SozR 4 – 5562 § 8 Nr 1 = GesR 2010, S. 557 – 558; BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 3 KR 11/09 R –, SozR 4 – 5562 § 8 Nr 2 Rn. 26. 271 Steiner, MedR 2003 S. 6. 272 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 318. 273 Anders nur: BVerfGE 77, 84 (112). 270
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geringere Rechtfertigungskraft beizumessen ist als gemeinhin angenommen, wurde bereits nachgewiesen 274. Gegenüber stehen sich somit die – bei abstrakter Betrachtung – höherrangige Berufsfreiheit und ein fiskalischer Belang, dem im Allgemeinen eine eher geringe Rechtfertigungskraft zukommt.275 Zu berücksichtigen ist aber auch, dass der Schutz seiner Bürger in Fällen von Krankheit – und letztlich geht es dem Gesetzgeber doch darum – in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der wichtigsten Grundaufgaben des Staates überhaupt ist.276 Insofern kann man sich mit guten Gründen auf den Standpunkt stellen, dass der Staat mit der Sicherstellung der Bezahlbarkeit eines Systems, das einen angemessenen Schutz vor den Wechselfällen des Lebens wie Krankheit bietet, sogar eine aus dem Sozialstaatsprinzip ergebende Schutzpflicht erfüllt (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2, 1 Abs. 1 GG). Die Gewichte verschieben sich dann zuungunsten der Berufsfreiheit. Denn dann sind mit dem Leben und der Gesundheit auch höchstrangige Verfassungsgüter mitbetroffen. Ob bzw. inwieweit die dem Gesetzgeber durch das Übermaßverbot gesetzten Grenzen auch einer Abwägung anhand der konkreten Eingriffsintensität standhalten, ist damit aber noch nicht entschieden. a) Der gerechte Preis Anders als beim üblicherweise durchzuführenden Interessenausgleich tritt dabei eine – für das gesamte Krankenversicherungsrecht jedoch geradezu typische – besondere Schwierigkeit auf. Sieht man von der Nachkriegszeit einmal ab, sind preisrechtliche Regulierungen im öffentlichen Wirtschaftsrecht eine Ausnahmeerscheinung geblieben.277 Im Gegensatz dazu scheint es im Recht der gesetzlichen und privaten Krankenversicherung parteienübergreifender Grundkonsens zu sein, dass gerechte Preise nur mit Hilfe regulatorischer Kraft zu erzielen seien. „Der gerechte Preis für die Leistung rückt [damit] in den Mittelpunkt [parlamentarischer Debatten].“278 Er wird qua mehr, meist aber weniger stark ausgeprägter, demokratischer Legitimation279 entweder vom Parlament selbst oder aber von korporatistischen Gebilden der funktionalen Selbstverwaltung festgelegt. 274
Näher dazu: § 5 B. II. 6. B. II. 6. e); vgl. BVerfGE 102, 197 (216); 115, 276 (307); Posser/Müller, NZS 2003 S. 179; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 71 m. w. N. 276 BVerfGE 68, 193 (209); 113, 167 (215); näher dazu bereits: § 5 B. II. 6. b). 277 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 290 m. w. N. 278 So MdB Horst Schmidbauer, BT-Plenarprotokoll 14/189 vom 26. 09. 2001, S. 18485 zur DRG-Vergütung. 279 Aus der umfangreichen Literatur vgl. nur: Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 475 – 505; Kingreen, Knappheit und Verteilungsgerechtigkeit im Gesundheitswesen, in: Höfling (Hrsg.), Der Schutzauftrag des Rechts, 2011, S. 176 – 180; 275 § 5
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Weit größere Schwierigkeiten bei der Festlegung eines gerechten Preises haben Wirtschaftstheoretiker aller Epochen und jeglicher Couleur. Während klassische Ökonomen wie Adam Smith und David Ricardo den natürlichen Preis durch die Menge der zur Herstellung benötigten tatsächlichen Arbeit bestimmt sahen, stellte Karl Marx auf die aus gesellschaftlicher Sicht objektiv erforderliche Arbeit ab. Marx vermied somit die schwer zu vermittelnde Tatsache, dass für ein und dasselbe Produkt, je nach Arbeitseinsatz und damit Produktivität des Herstellers, unterschiedlich hohe Preise gelten. Kriterien zur Bestimmung der objektiven Erforderlichkeit blieb er jedoch schuldig. Mit der Österreichischen Schule der Nationalökonomie und der, aus ihr hervorgegangenen, gegenwärtig sehr einfluss reichen Chicago School hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass der Wert einer Leistung immer nur subjektiv bestimmt werden kann. Er hängt vom gestifteten Grenznutzen, mithin von der subjektiven Wertschätzung der jeweils letzten konsumierten Einheit ab.280 Gerecht ist der Preis in den Augen der Chicago School dann, wenn er durch marktförmige Transaktionen zwischen den Rechtsgenossen zustande gekommen ist. Staatliche Marktinterventionen gelte es zu vermeiden.281 Der gerechte Preis einer Gesundheitsleistung hinge demnach unter anderem davon ab, ob sie den subjektiv empfundenen Nutzen des Patienten mehrt. Der gerechte Preis wäre also nicht selten von der Schwere der Erkrankung bzw. den Erfolgsaussichten einer Behandlung des Patienten abhängig. Entsprechendes gilt für die Angebotsseite. Die subjektiven Sichtweisen der Marktteilnehmer nähmen also maßgeblichen Einfluss auf den gerechten Preis. Es dürfte deshalb ein hoffnungsloses Unterfangen sein, in dogmatisch halbwegs überzeugender Weise, aus Grundrechten der pharmazeutischen Industrie genaue Vorgaben für die Festsetzung von Preisen ableiten zu wollen. Subjektive Abwehrrechte gegenüber staatlichen Eingriffen können selbst dann schwerlich zur Bestimmung eines gerechten Preises herangezogen werden, wenn man ihren objektiv rechtlichen Gehalt in den Vordergrund rückt. „Mit dem gerechten Preis [… scheint] es sich ein wenig wie mit dem Licht [zu verhalten]. Man weiß nicht genau, wo es ist. Man merkt nur, wenn es fehlt.“282 Gleichwohl ist die Freiheit, einen Beruf auszuüben untrenn-
Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/ Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegenwart, 2015, S. 227; Schmidt-Aßmann, NJW 2004 S. 1693; auch das BVerfG scheint seit BVerfGE 140, 229 (238) [ausdrücklich offenlassend noch BVerfGE 115, 25 (47)] durchaus gewichtige, generelle und allgemeine Zweifel an der demokratischen Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses als Institution zu hegen; allgemein zur Delegation von Normsetzungskompetenz insbesondere im Mehrebenensystem: Martini, AöR 2008 S. 155 – 190. 280 Vgl. bereits § 2 A. III.; Mankiw/Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 2016, S. 149. 281 Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 157. 282 Martini, DVBl 2008 S. 29.
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bar mit der Freiheit verbunden, dafür eine angemessene Vergütung zu fordern.283 Deswegen ist den Literaturstimmen 284, die argumentieren, dass nur abstrakt gewisse Prinzipien aufgestellt und allgemeine Grenzen gezogen werden können, im Ergebnis beizupflichten. Alles andere liefe darauf hinaus, angemessene Preise von Verfassung wegen festzusetzen. b) Keine Berücksichtigung kompensatorischer Einsparungen Einen Verstoß gegen solch eine allgemeine Grenze könnte die vom Gesetzgeber angestellte rein sektorale Betrachtungsweise darstellen. Im Rahmen derer identifiziert er innovative Arzneimittel als Kostentreiber, ohne die möglichen und tatsächlich erfolgenden Einsparungen mit innovativen Arzneimitteln in anderen Bereichen zu berücksichtigen.285 In der Tat scheint es auf den ersten Blick unangemessen zu sein, dass durch innovative Arzneimittel vermiedene Krankenhauseinweisungen oder Arbeitsunfähigkeitstage keine Berücksichtigung finden. Beispielsweise verhindern innovative Asthma- und COPD Medikamente zuverlässiger akute Atemnot und deshalb erfolgende Krankenhauseinweisungen. Nebenwirkungsarme Antidepressiva ermöglichen nach relativ kurzer Zeit eine erneute Teilnahme des zuvor zur Untätigkeit gezwungenen Erkrankten am Erwerbsleben. Andererseits könnte die rein sektorale Betrachtung des Gesetzgebers auch lediglich das folgerichtige Ergebnis der auf Ebene der Einschätzungsprärogative angestellten Erwägungen bzw. Betrachtungen sein. Stellt der Gesetzgeber hier nur auf die monetäre Kostenentwicklung der Arzneimittel insgesamt ab und nicht etwa auf die monetäre Kostenentwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung als solcher, sämtlicher Sozialkassen oder aber der Kosten im ökonomischen Sinne, dann setzt sich dies auf Angemessenheitsebene zwangsläufig fort. Es stellt sich die grundsätzliche Frage nach den zugrunde zu legenden Nutzenbzw. Kostenbegriffen. So teilen sich der Arbeitgeber, die gesetzliche Krankenkasse, die gesetzliche Unfall- und Rentenversicherung sowie die Bundesagentur für Arbeit die Kosten einer länger anhaltenden Arbeits- bzw. krankheitsbedingten Erwerbsunfähigkeit bzw. die Kosten einer Krankenhauseinweisung. Unter anderem wegen der durch die Zwangsmitgliedschaft erfolgten Gruppenbildung sind unter Kosten sämtliche im System der gesetzlichen Krankenversicherung
283 Wimmer, Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 53 m. w. N. 284 Becker, Zwangsrabatte nach dem Beitragssatzsicherungsgesetz – Zulässigkeit nach materiellem Recht, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 45; Becker, NZS 2003 S. 567; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 12. 285 Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 27.
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anfallenden Ausgaben zu verstehen und nicht etwa die gesamten Sozialkosten.286 Folglich sind von der gesetzlichen Renten- oder Unfallversicherung zu tragende Kosten genauso unbeachtlich wie die Aufwendungen, die den Arbeitgeber- oder Bundeshaushalt belasten. Betrachtet man allerdings lediglich den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung, erscheint es durchaus naheliegend, die vom Bundessozialgericht aufgestellten und in ständiger Rechtsprechung vertretenen Grundsätze zum Parallelproblem der kompensatorischen Einsparungen bei Wirtschaftlichkeitsprüfungen auf die verfassungsrechtliche Ebene zu übertragen. Die Anerkennung kompensierender Einsparungen setzt demnach voraus, dass zwischen dem Mehraufwand auf der einen und den Kostenunterschreitungen auf der anderen Seite ein kausaler Zusammenhang besteht. Es müsse deshalb festgestellt werden, durch welche Präparate der pharmazeutische Unternehmer, in welcher Art von Behandlungsfällen, aus welchem Grunde, welche Einsparungen erzielt hat.287 Ein Verzicht auf das Erfordernis des Nachweises eines kausalen Zusammenhanges oder die Einschränkung der Anforderungen an den Nachweis könne nicht etwa daraus abgeleitet werden, dass es doch letztlich nur auf eine Art Gesamtwirtschaftlichkeit ankomme. Die zu überprüfende kostenauslösende Maßnahme sei nämlich gerade nicht als Teilmenge eines einheitlichen Kostenkomplexes anzusehen. Vollständige oder teilweise Überschreitungen müssen deshalb nicht hingenommen werden, solange der Aufwand in anderen Bereichen nur unterdurchschnittlich ist. Einsparungen in einem Leistungsbereich geben dem pharmazeutischen Unternehmer also keinen Freibrief, um in anderen Leistungsbereichen mehr Aufwendungen zu generieren.288 Vielmehr müsse umfassend wirtschaftlich gehandelt werden. Die Wirtschaftlichkeit müsse deshalb sowohl insgesamt als auch in jedem Teilbereich gegeben sein. Mehraufwand in einem Bereich kann folglich im Hinblick auf anderweitige Einsparungen nur dann hingenommen werden, wenn belegt bzw. nachgewiesen ist, dass gerade durch den Mehraufwand die Einsparungen erzielt werden und dass diese Behandlungsart medizinisch gleichwertig sowie auch insgesamt kostensparend und damit wirtschaftlich ist. Einsparungen müssen sich deshalb statistisch eindeutig belegen lassen oder aus anderen Gründen auf der Hand liegen.289 Weiterhin müsse aufgezeigt werden, aufgrund welchen methodischen Zusammenhanges, durch welche vermehrten Leistungen das Arzneimittel in welcher Art von Behandlungsfällen aus welchem Grund, welche Einsparungen
286 Münkler, Kosten-Nutzen-Bewertungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2015, S. 191; vgl. Martini, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2009, S. 219 – 220. 287 Vgl. BSGE 17, 79 (87 f.); 55, 110 (113); BSG, SozR 3 – 2500 § 106 Nr 42, S. 232. 288 Vgl. BSGE 17, 79 (86 f.); BSG, SozR 3 – 2500 § 106 Nr 42, S. 232. 289 Vgl. BSGE 71, 194 (201); BSG, Beschluss vom 11. Oktober 2005 – B 6 KA 5/05 B –, juris Rn. 11.
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erzielt hat.290 Wegen der hohen Bedeutung des Gebotes gründlicher und sorgfältiger Behandlung müssen die erbrachten Leistungen medizinisch gleichwertig sein.291 Letztlich müsse ein Kostenvergleich – sei es eine Kostenberechnung oder eine plausible Kostenschätzung – ergeben, dass der Mehraufwand insgesamt nicht höher ist als die anderweitig erzielten Einsparungen.292 In prozessualer Hinsicht liegt die volle Darlegungs- und Nachweislast beim pharmazeutischen Unternehmer. Er muss das Vorliegen der Einsparungen, den methodischen Zusammenhang mit dem Mehraufwand, die medizinische Gleichwertigkeit und die kostenmäßigen Einsparungen strukturell darlegen und methodisch nachweisen.293 Das sind derart hohe Anforderungen, dass sie nicht mit vertretbarem Aufwand erfüllt werden können. Selbst das Bundessozialgericht294 räumt ein, dass dieser Nachweis im Einzelfall schwierig zu führen ist, weil der Zusammenhang zwischen Mehraufwendungen einerseits und Einsparungen andererseits nur in bestimmten Konstellationen medizinisch belegbar ist. Die Anerkennung kompensatorischer Einsparungen stellt deshalb die absolute Ausnahme von der Regel dar. Daran würde sich aller Voraussicht nach erst dann etwas ändern, wenn man den pharmazeutischen Unternehmen Beweiserleichterungen zukommen ließe. Beispielsweise wäre es denkbar, wie beim Kausalitätsnachweis von auf Primärschädigungen beruhenden Sekundärschädigungen eine deutlich überwiegende auf gesicherter Grundlage beruhende Wahrscheinlichkeit für den Nachweis des Ursachenzusammenhanges ausreichen zu lassen (§ 287 ZPO). Hier wie dort ist die Kausalität schwierig nachzuweisen, da sie zu einem nicht unerheblichen Teil auf Vorgängen beruht, die im menschlichen Körper stattfinden. Im Ergebnis wird deshalb die Beweislast für ein bestimmtes Vorbringen generell einer Seite aufgebürdet, die von der typischen Art der Fallkonstellation her regelmäßig nicht in der Lage sein kann, den erforderlichen Vollbeweis zu erbringen. Ein Umstand, der das Bundesverfassungsgericht in einer Entscheidung295 zum Arzthaftungsprozess dazu bewogen hat, von Fachgerichten zu fordern, die typische beweisrechtliche Situation nicht aus den Augen zu verlieren und für eine zumutbare Handhabung des Beweisrechts Sorge zu tragen. Es müsse von Mal zu Mal geprüft werden, ob dem Betroffenen nach allem die regelmäßige Beweislastverteilung noch zugemutet werden dürfe. Abzuleiten sei dieses Gebot aus dem verfassungsrechtlichen Erfordernis eines gehörigen, fairen Gerichtsverfahrens, insbesondere aus dem 290
Vgl. BSG USK 95 137, S 739. Vgl. BSGE 22, 218 (220). 292 Vgl. BSGE 17, 79 (87). 293 Vgl. BSG, USK 95 137, S 738. 294 Vgl. BSG, SozR 2200 § 368n Nr 36, S. 119 – 121; SozR 3 – 2500 § 106 Nr 42, S. 234.; Nr. 57, S. 324 – 326; BSG, Beschluss vom 11. Oktober 2005 – B 6 KA 5/05 B –, juris Rn. 11. 295 BVerfGE 52, 131 (131 ff.). 291
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Gebot der Waffengleichheit im Prozess sowie dem Erfordernis der Rechtsanwendungsgleichheit.296 In jedem Falle wirkt die rein sektorale Betrachtungsweise des Gesetzgebers wegen der bestehenden Darlegungs- und Beweislastverteilung als belastendes Element. Sie lässt sich bei isolierter Betrachtungsweise allerdings schon alleine deshalb rechtfertigen, da nur der Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung in die Kostenbetrachtung einzubeziehen ist. Die konkrete Eingriffsintensität fällt deshalb geringer aus als man auf den ersten Blick vermuten könnte. Entsprechendes gilt für die Darlegungs- und Beweis- bzw. Substanziierungslast der pharmazeutischen Unternehmen, deren Vortrag sich in der pauschalen Behauptung kompensatorischer Einsparungen erschöpft. Wenn aber nicht einmal feststeht, welches Arzneimittel kompensatorische Einsparungen erzielt haben soll, kann selbst bei Anwendung der vorgeschlagenen Beweiserleichterungen der notwendige Grad an Wahrscheinlichkeit für den Ursachenzusammenhang nur verneint werden. § 130a Abs. 1 S. 1 SGB V stellt sich deshalb insoweit als angemessen dar. c) Sachlich undifferenzierte Abschlagspflicht Das ändert freilich nichts daran, dass der erhöhte Grundabschlag im Gegensatz zu Fest- und Erstattungsbeträgen nicht an produkt- oder wirkstoffbezogene Kriterien und damit an die unternehmerische Gesamtleistung in Forschung und Entwicklung anknüpft. Eine sachlich differenzierte und damit nachvollziehbare Beschränkung der Erstattungshöhe ist deshalb unmöglich. Vielmehr gilt für alle betroffenen Arzneimittel unterschiedslos eine mehr oder weniger willkürlich festgelegte Abschlagshöhe.297 Das hat die höchstrichterliche Rechtsprechung in ihrem Beschluss zum Beitragssicherungsgesetz wegen der hohen Bedeutung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung in Verbindung mit dem weiten Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zwar bereits dem Grunde nach gebilligt – allerdings betraf dies einen Abschlag von sechs und nicht sieben Prozentpunkten. aa) Mengenrabattierung Darüber hinaus hat sich die Sachlage insoweit verändert, als dass die für die gesetzliche Krankenversicherung geltenden Abschläge ab 01. 01. 2011 auch für die private Krankenversicherung Geltung beanspruchen. Es ist deshalb zumindest einmal inkonsequent, wenn nicht sogar widersprüchlich, den zur Kompen296
BVerfGE 52, 131 (147). Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 41; Hufen, NJW 2004 S. 17; Stallberg, PharmR 2011 S. 38. 297
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sation der weggefallenen finanziellen Vorteile der Bestandsmarktbewertung erhöhten Grundrabatt als Mengenrabatt zu deklarieren.298 Eine Gewährung von 7 Prozentpunkten Mengenrabatt mag zwar bei einer, vom Gesetzgeber im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung simulierten, freien Marktpreisbildung nicht ganz fernliegend sein. Nur dann müsste sich der Gesetzgeber auch beim Wort nehmen lassen und den, den Löwenanteil abnehmenden, gesetzlichen Kassen höhere Rabatte gewähren als seinen eigenen Beihilfestellen und den privaten Versicherungsgesellschaften. Der gegenwärtigen Ausgestaltung haftet deswegen zumindest einmal der Ruch eines Verstoßes gegen das Folgerichtigkeitsgebot an. Abgesehen davon werden Nachlässe gleich welcher Art von einem Kaufmann mit einkalkuliert. Gewährte Rabatte, Skonti oder Boni werden von ihm also ex ante eingepreist und nicht ex post durch einseitige Erklärung einer dritten Person abgezogen. Ein Einpreisen hat der Gesetzgeber aber durch das gleichzeitige Einfrieren der Preise zu verhindern gewusst. Man könnte ihn deshalb so verstehen, dass er offensichtlich davon ausgeht, die ursprünglich aufgerufenen Preise seien ohnehin überhöht, weshalb sie durch das Zwangsabschlagsregime auf einen gerechten Preis zurückzuführen seien.299 Gegen die Deklarierung als Mengenrabatt spricht auch, dass zwischen den wirtschaftlich belasteten Unternehmen der pharmazeutischen Industrie und den wirtschaftlich begünstigten Krankenversicherungen keine direkte Abrechnungsbeziehung besteht. Darüber hinaus führt die Abnahme größerer Mengen in der freien Wirtschaft nicht zwangsläufig zur Gewährung von Mengenrabatten. Insbesondere bei Gütern oder Dienstleistungen in sehr wettbewerbsintensiven Märkten wird häufig größerer Wert darauf gelegt, Neukunden zu akquirieren. Bestands- oder Großkunden kommen deshalb nicht unbedingt in den Genuss besserer Preise, wie ein Blick auf den gegenwärtigen Markt für geschäftlich genutzte Internet- oder Telekommunikationsleistungen zeigt. Auch dem allgemeinen ökonomischen Argument für Mengenrabatte fehlt es bei der Herstellung von Arzneimitteln in der gesetzlichen Krankenversicherung an Überzeugungskraft. Zwar sinken auch hier die Stückkosten mit steigender Absatzmenge; allerdings werden diese Skaleneffekte durch andere Kostendämpfungsinstrumente, wie Fest- oder die mit dem AMNOG eingeführten Erstattungsbeträge wieder aufgezehrt.300 Die Konzeption als Großkundenrabatt stellt deshalb eine nicht ganz vollkommene Marktsimulation dar, die sich bezüglich ihrer unvollkommenen Teile aber aus Praktikabilitätserwägungen heraus rechtfertigen lässt. 298 So aber ausdrücklich die Gesetzesbegründung zur Einführung bzw. Erhöhung des Herstellerabschlages gemäß § 130a SGB V, BT-Drs. 15/28 S. 16 bzw. BT-Drs. 18/201, S. 7. 299 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 422. 300 Oberender/Zerth, Ökonomische Auswirkungen der Rabattregelungen: Implikationen der direkten Vereinbarungen nach § 130a Abs. 8 SGB V, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 122.
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bb) Generika Größere Probleme birgt die sachlich undifferenzierte Abschlagsverpflichtung bezüglich ihres Umgangs mit Herstellern von Generika und ausnahmsweise verordneten, nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln. Diese wurden weder vom Gesetzgeber als Kostentreiber identifiziert noch profitieren sie von der Abschaffung der Bestandsmarktbewertung, da diese nur für Präparate durchgeführt werden sollte, für die noch Unterlagenschutz301 bestand. Auch aus der Abschaffung des erhöhten Herstellerabschlages ziehen die Hersteller von Generika regelmäßig keinen Nutzen, weil dieser gemäß § 130a Abs. 1a S. 2 SGB V keine Anwendung auf Arzneimittel fand, für die der Generikaabschlag gemäß § 130a Abs. 3b S. 1 SGB V zu gewähren war. Im Falle der Generikahersteller kann die prognostizierte302 Zusatzbelastung der pharmazeutischen Industrie von etwa 0,8 Milliarden Euro folglich nicht durch die aus dem Auslaufenlassen des erhöhten Herstellerabschlages in Höhe von 16 Prozentpunkten gezogenen Vorteile in Höhe von mehr als einer Milliarde Euro kompensiert werden. Im Ausnahmefall soll es sogar möglich sein, dass Generikaunternehmen temporär zusätzlich belastet werden, wenn sie neben dem unveränderten Generikarabatt in Höhe von 10 Prozentpunkten (§ 130a Abs. 3b SGB V) auch noch den auf 7 Prozentpunkte erhöhten Herstellerabschlag bezahlen müssen. Dies beträfe vor allen Dingen Generika, die unmittelbar nach Auslaufen des Patentschutzes auf den Markt kommen. Zu diesem Zeitpunkt sei nämlich noch kein Festbetrag vereinbart, sodass § 130a Abs. 3 SGB V nicht greifen kann. Obwohl diese Generika durch ihren Markteintritt überhaupt erst den erstrebten Preiswettbewerb zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherung auslösen, müssten Generikahersteller dann einen Rabatt von insgesamt 17 Prozentpunkten gewähren. Hersteller patentgeschützter Arzneimittel hingegen, für die kein Festbetrag festgesetzt ist, würden mit lediglich 7 Prozentpunkten Abschlag belastet.303 Dabei wird jedoch übersehen, dass patentfreie, wirkstoffgleiche Arzneimittel gemäß § 130a Abs. 1 S. 2 SGB V vom erhöhten 301 Unterlagenschutz bedeutet, dass der Hersteller eines Generikums bei der Zulassung seines Präparates ohne Zustimmung des Originapräparatherstellers auf die Antragsunterlagen des Originalpräparates Bezug nehmen kann, wenn seit dessen Zulassung mindestens acht Jahre vergangen sind (§ 24b Abs. 1 AMG). Auf diese Weise erspart sich der Hersteller des Nachahmerpräparates die, für eine Zulassung in jederlei Hinsicht sehr aufwendigen, klinischen Prüfungen. Abzugrenzen ist der Unterlagenschutz vom zwanzigjährigen Patentschutz gemäß § 16 Abs. 1 PatG. Selbiger kann wirtschaftlich oftmals nur zur Hälfte ausgeschöpft werden, da von der Anmeldung des Patentes bis zur Erstzulassung nicht selten ein Jahrzehnt vergeht, in denen das Präparat die hierfür notwendigen Prüfungen durchläuft. Näher dazu: Grotjahn, JURA – Juristische Ausbildung 2015, S. 371 – 372; J anda, Medizinrecht, 2016, S. 250 – 251. 302 BT-Drs. 18/201, S. 5; die tatsächliche Belastung könnte sogar deutlich niedriger sein als vom Gesetzgeber angenommen. Näher dazu bereits: § 5 B. II. 3. b) bb). 303 Ausschussdrucksache 18(14)0009(1), S. 2.
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Herstellerabschlag ausdrücklich ausgenommen sind. Die skizzierte Ausnahmesituation stellt sich insofern gerade nicht als Folge der Kompensationsmaßnahmen der abgeschafften Bestandsmarktbewertung dar. Sie ist vielmehr das Resultat der Rabattierungssystematik des SGB V, nach der sämtliche gesetzlichen und vertraglichen Rabatte grundsätzlich einmal nebeneinander zu gewähren sind304. Belastender dürfte sich ohnehin auswirken, dass bereits abgeschlossene Rabattverträge nicht berücksichtigt werden. Gemäß § 130a Abs. 8 S. 4 Hs. 2 SGB V kann der erhöhte Herstellerabschlag zwar durch den Abschluss eines Rabattvertrages abgelöst werden; jedoch setzt dies eine ausdrückliche Vereinbarung im jeweiligen Rabattvertrag und damit die Bereitschaft der in der stärkeren Verhandlungsposition befindlichen Krankenkassen voraus. Wurde bei Einführung des erweiterten Herstellerabschlages durch § 130a Abs. 1a S. 3 SGB V noch ausdrücklich angeordnet, dass vertraglich vereinbarte Rabatte auf den erhöhten Herstellerrabatt anzurechnen sind, um dadurch eine Kumulation verschiedener Abschläge zu verhindern,305 ist der pharmazeutische Unternehmer nunmehr vollends auf den guten Willen der Krankenkassenvertreter angewiesen. Denn auch hier gilt, dass sämtliche gesetzlichen und vertraglichen Rabatte grundsätzlich einmal nebeneinander zu gewähren sind. Dazu kommt, dass die vom Gesetzgeber gegebene Begründung im Falle der Generika nicht überzeugt. In der Gesetzesbegründung zum 14. SGB V Änderungsgesetz führt er aus, dass der langjährige Trend zu steigenden Kosten je Arzneimittelverordnung durch die Umstellung auf Arzneimittel mit teureren Wirkstoffen und die Verordnung größerer Packungsgrößen, höherer Dosierungen und anderer Darreichungsformen weiter anhalte und erheblich zu den Ausgabensteigerungen in der Arzneimittelversorgung beitrage.306 Vergleicht man jedoch die Durchschnittspreise einer defined daily dose (DDD), also einer Tagesdosis im Hauptanwendungsgebiet eines Arzneimittels, stellt man fest, dass diese seit 2010 zwischen 0,15 Euro und 0,16 Euro pendelten, während sich die durchschnittlichen Tagestherapiekosten für patentgeschützte Arzneimittel von 2010 bis 2014 von 2,07 Euro auf 3,85 Euro fast verdoppelten.307 Außerdem zeichnen Generika lediglich für 37% des gesamten Arzneimittelumsatzes verantwortlich, obwohl sie etwa 80% sämtlicher Verordnungen ausmachen.308 Ein Ergebnis, was nicht zuletzt auf die durch Rabattverträge zusätzlich gesparten 3,15 Milliarden Euro zurückzuführen sein dürfte. Ohnehin wird der – auf patentgeschützte Präparate zurückgehende – Anstieg der gesamten Arzneimittelaus304 Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 63; a. a. O. § 13 Rn. 6 – 10. 305 BT-Drs. 17/2170, S. 37. 306 BT-Drs. 18/201, S. 4. 307 Statista GmbH, Generika und Biosimilars – Statista-Dossier, 2014, S. 19. 308 Statista GmbH, Generika und Biosimilars – Statista-Dossier, 2014, S. 22; a. a. O. S. 29.
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gaben nahezu vollumfänglich vom Anstieg der – in erster Linie auf generische Präparate – gewährten vertraglichen Rabatte aufgefangen.309 Ferner liegt die als Kostentreiber identifizierte Verordnung höherer Dosierungen, anderer Darreichungsformen oder größerer Packungsgrößen genauso wenig im Einflussbereich der Generikahersteller wie die Umstellung der Patienten auf Arzneimittel mit teureren Wirkstoffen. Abgesehen davon, dass Letztere regelmäßig keine generischen sein dürften, wäre – wenn überhaupt – hier die Ärzteschaft in Anspruch zu nehmen, wobei deren Entscheidungen wiederum in erheblichem Umfange vom Vertrieb der Arzneimittelhersteller beeinflusst werden. Besondere Vertriebsanstrengungen werden jedoch in erster Linie für innovative und eben nicht für generische Arzneimittel unternommen. In jedem Falle wäre auch zu berücksichtigen, dass der Gesetzgeber selbst mit dem AMNOG und der Reform der Packungsgrößenverordnung für erhebliche statistische Verzerrungen gesorgt hat. In der Folge sind die vom Gesetzgeber gewählten Referenzmaßstäbe zur Beurteilung der Kostenentwicklung zumindest einmal diskussionswürdig.310 cc) Biosimilars Die sachlich undifferenzierte Erhöhung des Grundrabattes zur Kompensation der erwarteten finanziellen Vorteile aus der Bestandsmarktbewertung wirkt allerdings nicht nur belastend. Für Hersteller von sogenannten Biosimilars könnte sie sich sogar als vorteilhaft erweisen, weil biotechnologisch hergestellte Arzneimittel nicht so einfach und exakt kopiert werden können. Im Gegensatz zu den auf chemisch-synthetische Weise hergestellten Generika muss bei Biosimilars ein lebendiger Organismus verändert werden. Die Herstellung eines Biosimilars erfordert deshalb größeres Know-how, was unweigerlich mit hohen Entwicklungskosten und deshalb sinkenden Margen verbunden ist. Es steht deshalb nicht zu erwarten, dass biotechnologisch hergestellte Präparate unmittelbar nach Auslaufen des Unterlagenschutzes nachgeahmt werden. Echter (Preis-)Wettbewerb dürfte folglich nicht entstehen. Hiervon ging der Gesetzgeber aber selbstverständlich aus, als er den Bestandsmarktaufruf für beendet erklärte. Er bewertete nämlich das Einsparpotenzial des Bestandsmarktaufrufes in toto als relativ gering, da spätestens im Jahr 2019 ohnehin kein Unterlagenschutz mehr für die zu bewertenden Bestandsmarktpräparate bestanden hätte. Eine Annahme, die sich für die stark wachsende Gruppe der Biosimilars wahrscheinlich nicht bewahrheiten wird. Vielmehr dürfte sich der um einen Prozentpunkt erhöhte Grundrabatt für die Hersteller dieser Produkte als deutlich weniger belastend auswirken. 309 Bundesministerium für Gesundheit, Finanzergebnisse der GKV 2014: Finanz-Reserven der gesetzlichen Krankenversicherung bei 28 Milliarden Euro, Pressemitteilung vom 04. 03. 2015, S. 4. 310 Ausschussdrucksache 18(14)0009(1), S. 3 – 4.
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Der GKV-Spitzenverband fordert deshalb sogar für Bereiche, in denen erkennbar auch nach Auslaufen von Patentrechten kein echter Wettbewerb stattfindet, nach wie vor eine Bestandsmarktbewertung durchzuführen.311 In der Summe dürften aber die belastenden Wirkungen der sachlich undifferenzierten Abschlagspflicht überwiegen. Diese erweist sich ansonsten auch als durchaus konsequent, da sie mit dem ebenfalls sehr weiten, mit dem Gesetz verfolgten, legitimen Ziel der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung korrespondiert. Durch eine möglichst weite Formulierung des legitimen Ziels fällt eine Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen relativ leicht. Dieses weite Verständnis muss sich dann aber auch auf der Angemessenheitsebene wieder finden. Unangemessen wäre es deshalb, eine hieraus resultierende, unbeabsichtigte Begünstigung durch einen gesonderten Gesetzgebungsakt zu beseitigen, ohne gleichzeitig auch die belastenden Wirkungen sachlich undifferenzierter Regelungen zumindest zu überprüfen. Der isolierten Forderung des GKV-Spitzenverbandes ist deshalb nicht nachzugeben, ohne gleichzeitig auch die für Generikahersteller besonders belastenden Wirkungen der sachlich undifferenzierten Abschlagsverpflichtung auf den Prüfstand zu stellen. d) Überkompensation und Dauerhaftigkeit Gegen den erhöhten Herstellerrabatt wird auch vorgebracht, dass eine Überkompensation der durch den Bestandsmarktaufruf weggefallenen Vorteile erfolge. Der Gesetzgeber sei ursprünglich von einem Einsparvolumen von bis zu einer halben Milliarde Euro ausgegangen. Vorsichtigen Berechnungen zu Folge sollen die ergriffenen Kompensationsmaßnahmen jedoch das Dreifache einbringen.312 Diesem pauschal formulierten Einwand lässt sich jedoch in gleicher undifferenzierter Art und Weise entgegenhalten, dass die pharmazeutische Industrie durch den, mit gleichem Gesetz abgeschafften, erhöhten Herstellerabschlag um mehr als eine Milliarde Euro entlastet wird.313 Bei pauschalisierender Betrachtung kann deshalb von einer Überkompensation nicht die Rede sein. Zu erwägen ist allenfalls, ob die Eingriffsintensität höher ausfällt, da der Zwangsabschlag in jedem Falle und unabhängig von Einwirkungsmöglichkeiten des pharmazeutischen Unternehmers erhoben wird. So wurde bis zur Abschaffung des Bestandsmarktaufrufes wegen der methodischen Probleme noch kein einziger Erstattungsbetrag für Bestandsmarktpräparate vereinbart. Selbst der Gesetzgeber hatte deshalb nicht ganz unbegründete Zweifel daran, dass die ursprünglich erwarteten Einsparungen von 500 Millionen Euro tatsächlich realisiert werden können.314 311
Ausschussdrucksache 18(14)0009(13), S. 26. Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 31. 313 BT-Drs. 18/201, S. 5; § 5 B. II. 3. b) bb). 314 Vgl. BT-Drs. 18/201, S. 8. 312
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Andererseits entfällt die gerade für Bestandsmarktpräparate besonders aufwendige Dossiererstellung ersatzlos.315 Vor allen Dingen läuft der pharmazeutische Unternehmer nicht mehr Gefahr, dass ein Zusatznutzen als nicht belegt gilt (§ 35a Abs. 1 S. 5 SGB V), weil er seinen Mitwirkungsobliegenheiten bei der Dossiererstellung nur in insuffizienter Weise nachkam bzw. nachkommen konnte. Der Grund schlechthin, weshalb ein Zusatznutzen als nicht belegt gilt und deshalb kein Erstattungsbetrag, der über den Kosten der Vergleichstherapie liegt, vereinbart werden durfte (§ 130b Abs. 3 S. 1 SGB V a. F.).316 Bei einer Gesamtschau fällt die Eingriffsintensität deshalb nicht höher aus. Außerdem soll die unbefristete Fortführung des Herstellerabschlages einen unangemessenen Eingriff in die Berufsfreiheit darstellen. Gerade durch das Fehlen einer Befristung des Herstellerabschlages werde bereits im Gesetz deutlich, dass keine konkrete finanzielle Gefährdungslage vorliege. Die Zwangsrabattierung als solche sei vielmehr als unzumutbarer Dauereingriff in die Berufsfreiheit der betroffenen pharmazeutischen Unternehmer zu werten, die durch die Erhöhung um einen Prozentpunkt noch einmal verstärkt werden würde.317 Richtig daran ist sicherlich, dass ein Dauereingriff vorliegt. Jedoch wurde bereits dargelegt, dass der in § 130a Abs. 1 S. 1 SGB V kodifizierte Herstellerrabatt in zeitlicher Hinsicht als Einheit mit dem Preismoratorium des § 130a Abs. 3a SGB V zu sehen ist.318 Folglich ist die Zwangsrabattierung durchaus befristet, wenngleich die Befristung am 31. 12. 2022, also drei Jahre nach Auslaufen des Unterlagenschutzes des letzten Bestandsmarktpräparates, im Jahr 2019 enden soll. An der Befristung als solcher ändert dies freilich nichts, sodass eine aus der vermeintlichen Unbefristetheit resultierende Unangemessenheit nach wie vor ausscheidet. e) Existenzgefährdung Unstreitig unangemessen soll es hingegen sein, wenn die Zwangsrabattierung die wirtschaftliche Existenz der betroffenen pharmazeutischen Unternehmen in ihrer Gesamtheit gefährden würde.319
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Dazu bereits: § 5 A. Knuf/Eckervogt, NZS 2014 S. 375; zwischenzeitlich, d.h. nach Inkrafttreten des AM-VSG am Ende der 18. Legislaturperiode, ist gemäß § 130b Abs. 3 S. 5 SGB V ein Erstattungsbetrag zu vereinbaren, der zu in angemessenem Umfang geringeren Jahrestherapiekosten führt als die Vergleichstherapie. 317 Ausschussdrucksache 18(14)0009(7), S. 8; Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 31. 318 § 5 B. II. 3. b) bb). 319 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 108, 45 (51); OLG München, PharmR 2014, S. 306; aus der Literatur: Becker, Zwangsrabatte nach dem Beitragssatzsicherungsgesetz – Zulässigkeit nach materiellem Recht, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den 316
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aa) Laesio enormis Ein nicht näher belegtes Postulat, das sich jedoch neben der Wesensgehaltsgarantie auch mit dem Rechtsgedanken der übermäßigen Schädigung begründen lässt. Das Rechtsinstitut der laesio enormis geht auf den römischen Kaiser Dio kletian zurück und stellt einen zivilrechtlichen Korrekturmechanismus gegen unangemessene Preise für sämtliche Waren, Dienstleistungen, Gehälter und Löhne dar. Diokletian führte in Preisedikten Höchstpreise ein, deren Überschreitung mit der Todesstrafe bedroht war. Außerdem ermöglichte er Grundstücksverkäufern die Vertragsaufhebung, wenn sie weniger als die Hälfte des wahren Wertes als Preis erhalten haben.320 Im öffentlichen Recht ist die Frage nach der Angemessenheit des Verhältnisses von Leistung und Gegenleistung zwar von Haus aus anders zu beurteilen als dort, wo Private einander gegenüberstehen. Wohlwissend um die Schwächen vertraglicher Rechtsinstrumente, zieht das öffentliche Recht der Dispositionsbefugnis des Staates in öffentlich-rechtlichen Vertragsbeziehungen deswegen bewusst besondere Grenzen. Dem Staat ist es zwar nicht verwehrt, in Form des Vertrages zu handeln. Die §§ 56 Satz 2 VwVfG i. V. m. 59 Abs. 2 Nr. 4 VwVfG bzw. §§ 58 Abs. 2 Nr. 4 i. V. m. 55 Abs. 1 Satz 2 SGB X stellen den verwaltungs- bzw. sozialrechtlichen Austauschvertrag aber generell unter den Gültigkeitsvorbehalt der Angemessenheit der Gegenleistung des Preises. Regelungen, die sich zwanglos als Ausdruck des Gedankens materieller Vertragsgerechtigkeit verstehen lassen. Der Schluss liegt deshalb nahe, dass sie die laesio enormis als Schutzinstrument in das Verwaltungs- bzw. Sozialrecht einführen.321 Von dort – es handelt sich ja immerhin um konkretisiertes Verfassungsrecht322 – ist der Sprung in den Grundrechtskatalog dann nicht mehr weit. Das verfassungsrechtliche Verbot des existenzvernichtenden Eingriffs folgt somit auch aus dem Verbot der übermäßigen Schädigung. bb) Abwägung Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit einer wirtschaftsordnenden gesetzlichen Regelung im Bereich der Berufsausübung gilt es aber zu berücksichtigen, dass nicht die Interessenlage des Einzelnen maßgebend ist. Vielmehr ist eine generalisierende Betrachtungsweise geboten, die auf den betreffenden Wirtschaftszweig insgesamt abstellt.323 Die Möglichkeit, dass eine gesetzliche Maßnahme Arzneimittelmarkt, 2003, S. 45; Becker, NZS 2003 S. 567; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 13; Wallerath, SGb 2006 S. 509. 320 Martini, DVBl 2008 S. 21 m. w. N. 321 Martini, DVBl 2008 S. 24 Fn. 28. 322 Werner, DVBl 1959, S. 527 – 533. 323 BVerfGE 68, 193 (219); BVerfG, GesR 2013, S. 605 – 606; a. A. OVG Berlin, PharmR 1988, S. 148, das die Interessen von Generikaherstellern und forschenden Unter-
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im Einzelfall zur Existenzgefährdung oder sogar zur Existenzvernichtung von Betrieben führen könnte, rechtfertigt es noch nicht, sie unter dem Gesichtspunkt der Unzumutbarkeit von Verfassung wegen zu beanstanden.324 Für die Gesamtheit der pharmazeutischen Industrie kann dies aber schon alleine deshalb nicht der Fall sein, weil sie gleichzeitig in betragsmäßig selber Höhe entlastet wurde. Bislang war eine Existenzgefährdung auch nicht feststellbar. Im Gegenteil befindet sich der Pharmasektor doch nach wie vor auf einem steten Wachstumskurs.325 Das könnte unter anderem auch an der erfreulichen Entwicklung im Marktsegment der nicht verschreibungspflichtigen und damit von der Zwangsrabattierung im Wesentlichen ausgenommenen (§§ 31, 34 SGB V), sogenannten over the counter Präparate (OTC) liegen. Ferner gilt das etablierte Zwangsabschlagsregime – sieht man vom Ausnahmefall des § 129a SGB V einmal ab – ohnehin nur für den ambulanten Sektor. Nicht nur dort ist die gesetzliche Krankenversicherung aber ein Umsatzgarant für die Hersteller von Pharmazeutika. Ein Umstand, der nach Ansicht des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Udo Steiner326 im Rahmen der, inflationär gerügten existenzvernichtenden Grundrechtseingriffe durch Kostendämpfungsmaßnahmen in der gesetzlichen Krankenversicherung berücksichtigt werden sollte. Allenfalls für Teilbereiche wie den Generikamarkt könnte man – so man ihn als eigenständigen Wirtschaftszweig anerkennen möchte – darüber nachdenken, eine Existenzgefährdung zu erwägen. Allerdings ist die Geltendmachung von Gewinneinbußen – und letztlich geht es bei sämtlichen Kompensationsmaßnahmen um nichts anderes – keinesfalls gleichzusetzen mit der Existenzgefährdung des Unternehmens.327 Das gilt umso mehr, wenn man sich vor Augen führt, dass die Arzneimittelpreise in Deutschland nach wie vor teils erheblich über denen anderer Länder liegen.328 Auch sind die unzweifelhaft bestehenden Lieferengpässe bei einigen Generika in erster Linie auf Herstellungsprobleme und nicht etwa auf staatliche Eingriffe zurückzuführen,329 zumal Letztere im Falle der Generika ohnehin eher im Generikarabatt (§ 130a Abs. 3b SGB V) und dem Preismoratorium (§ 130a Abs. 3a SGB V) zu sehen wären. Eine nehmen wegen der Gewährleistung gleicher Wettbewerbsfreiheit gegenüberstellte, dazu: Sodan, Wirtschaftslenkung im Recht der Arzneimittelversorgung, in: Peter/Rhein (Hrsg.), Wirtschaft und Recht, 1989, S. 95. 324 BVerfGE 30, 292 (316); 68, 193 (220); 70, 1 (30); BVerfG, GesR 2013, S. 605 – 606; Sodan, Wirtschaftslenkung im Recht der Arzneimittelversorgung, in: Peter/Rhein (Hrsg.), Wirtschaft und Recht, 1989, S. 95. 325 Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 1 Rn. 1; Statista GmbH, Generika und Biosimilars – Statista-Dossier, 2014, S. 7. 326 Steiner, MedR 2003 S. 6 mit Verweis auf: BVerfGE 103, 172 (176). 327 BVerfGE 108, 45 (51). 328 OLG München, PharmR 2014, S. 307; Schwabe, Arzneiverordnungen 2014 im Überblick, in: Schwabe/Paffrath (Hrsg.), Arzneiverordnungs-Report 2015, 2015, S. 33. 329 Ausschussdrucksache 18(14)0009(10), S. 7.
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Unangemessenheit des um einen Prozentpunkt erhöhten Grundrabattes (§ 130a Abs. 1 SGB V) wegen Existenzgefährdung scheidet schon alleine deshalb aus. Naheliegender ist insofern, dass das Preismoratorium den, vor allem auf mittelständischen Generikaherstellern lastenden, inflationär verursachten Kostendruck so stark erhöht, dass er wirtschaftlich untragbar wird. Wegen des in zeitlicher Hinsicht ohnehin bestehenden Regelungszusammenhanges330 erscheint es nur konsequent, die erhöhte Grundrabattierungsverpflichtung und das Preismoratorium auch bezüglich der Existenzgefährdung als einheitlichen Regelungskomplex aufzufassen. Es ist deshalb durchaus nachvollziehbar zu konstatieren, dass umso eher eine unangemessene Regelung vorliegt, je umfänglicher der Preisstopp und der erhöhte Herstellerabschlag existenzbedrohende Auswirkungen für die betroffenen pharmazeutischen Unternehmer haben.331 Allerdings ist ab 01. 07. 2018 ein jährlicher Inflationsausgleich obligatorisch durchzuführen. Spätestens ab dann kann der inflationär verursachte Kostendruck nicht mehr wirtschaftlich untragbar sein. Am tatsächlichen Befund, dass die Inflationsrate trotz massiver Ausweitung der Geldmenge sowie Lohn- und Energiekostensteigerungen jedoch relativ gering ist, ändert dies ohnehin nichts. Es steht also nicht zu erwarten, dass der Inflationsausgleich mit erheblichen Mehrkosten332 verbunden sein wird. Abgesehen davon galt auch schon bis zur Einführung des obligatorischen Inflationsausgleiches durch das AM-VSG, dass das Bundesministerium für Gesundheit das Preismoratorium durch Rechtsverordnung aufzuheben hat, wenn es nach der gesamtwirtschaftlichen Lage nicht mehr gerechtfertigt ist (§ 130a Abs. 4 S. 1 SGB V). Daneben besteht auch weiterhin für den pharmazeutischen Unternehmer bei Vorliegen besonderer Gründe im Sinne des § 130a Abs. 4 S. 2 SGB V die Möglichkeit, einen Befreiungsantrag vom geltenden Preismoratorium zu stellen. Ausweislich der Gesetzesbegründung333 sind besondere Gründe solche, die eine ausnahmslose Anwendung der für alle betroffenen Unternehmer geltenden gesetzlichen Regelungen als nicht sachgerecht erscheinen lassen. Das ist etwa dann der Fall, wenn der erhöhte Abschlag aufgrund einer besonderen Marktsituation die finanzielle Leistungsfähigkeit des Unternehmens gefährden würde. Das Bundesverfassungsgericht334 hält es im Hinblick auf den Subsidiaritätsgrundsatz sogar für geboten, vor Erhebung einer Verfassungsbeschwerde einen entsprechenden Antrag zu stellen. Eine Berufung auf die Ausnahmebestimmung des § 130a Abs. 4 Satz 2 SGB V wäre lediglich dann erkennbar ohne 330
Dazu: § 5 B. II. 3. b); § 5 B. II. 8. d). Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 13. 332 Die Gesetzesbegründung zum AM-VSG (BT-Drs. 18/10208, S. 4) geht von 150 bis 210 Millionen Euro aus. 333 BT-Drs. 17/2170, S. 37; siehe auch: Axer, in: Becker/Kingreen, SGB V, 2017, § 130a Rn. 16. 334 BVerfG, NZS 2011, S. 383. 331
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Aussicht auf Erfolg, wenn der Zwangsrabatt alle pharmazeutischen Unternehmer in vergleichbarem Umfang belasten würde. Solange jedoch nur eine Teilgruppe besonders schwer getroffen wird, sei nicht erkennbar, weshalb es Mitgliedern dieser Teilgruppe verwehrt sein sollte, das Vorliegen eines Ausnahmefalls mit „gruppentypischen“ Gesichtspunkten zu begründen. Selbst wenn also der unwahrscheinliche Fall einträte, dass der inflationär verursachte Kostendruck noch vor dem ersten obligatorisch durchzuführenden Inflationsausgleich derart stark anstiege, dass die wirtschaftliche Existenz eines oder auch sämtlicher Unternehmen gefährdet werden würde, führt dies nicht zwangsläufig zur Unangemessenheit des Gesetzes. Im Falle eines zu Unrecht abgelehnten Antrages wäre das einfache Recht lediglich unrichtig angewendet worden. Eine unterlassene Anpassung des Preismoratoriums bzw. des Herstellerabschlages durch Rechtsverordnung hingegen könnte im Wege der Normerlassklage geltend gemacht werden.335 f) Kostendeckung Auch wenn die Zwangsrabattierung dazu führen sollte, dass die bei der Arzneimittelherstellung anfallenden Kosten nicht mehr vollumfänglich gedeckt wären, würde dies nicht zwangsläufig dazu führen, dass den pharmazeutischen Unternehmern ein unzumutbares Opfer abverlangt werden würde.336 Vielmehr wäre dann zu prüfen, ob der Zwang, Arzneimittel für ein Entgelt abzugeben, das erheblich unter einem kostendeckenden Preis liegt, auf Gemeinwohlgründen beruht, die schwerer wiegen als die Belange der betroffenen Arzneimittelhersteller.337 Für unerhebliche Kostenunterdeckungen sollen offenbar geringere Anforderungen gelten. Mit entscheidend dürfte auch hier die Angemessenheit der Gegenleistung nach dem Rechtsgedanken der laesio enormis338 sein. Das könnte dann auch dazu führen, dass Unangemessenheit wegen Kostenunterdeckung erst dann anzunehmen ist, wenn der erzielte Preis geringer ist als die entstandenen variablen Kosten. Denn bis dahin wird zumindest ein positiver Deckungsbeitrag, das heißt ein Beitrag zur Deckung der ohnehin anfallenden Fixkosten, erzielt. 335
Vgl. BVerwG, NVwZ 2002, S. 1506; NVwZ-RR 2010, S. 578 – 579. aber Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 14; Sodan, GesR 2004 S. 307; Wimmer, Der Grundsatz der Beitragssatzstabilität in der gesetzlichen Krankenversicherung, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 51; in diese Richtung auch Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 35 Rn. 52; Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 32 – 33; Kluth, ZHR 1998 S. 680. 337 Vgl. BVerfGE 47, 285 (321). 338 Dazu bereits: § 5 B. II. 8. e) aa). 336 So
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Wegen der Möglichkeit, einen Befreiungsantrag gemäß § 130a Abs. 4 S. 2 SGB V zu stellen, ist der erhöhte Grundrabatt jedenfalls keinesfalls per se unzumutbar339. Erhebliche, nachvollziehbare Kostenunterdeckungen im Einzelfall ließen sich unter „Ausnahmefall“ im Sinne des § 130a Abs. 4 S. 2 SGB V subsumieren. g) Teilhaberecht Darüber hinaus wird argumentiert, dass den Arzneimittelherstellern als Leistungserbringern in einem weiteren, funktionellen Sinne zumindest einmal so viel Umsatzrendite zugestanden werden müsse, dass ihnen eine funktionsgerechte Teilhabe am System der Arzneimittelversorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung möglich sei.340 Wenn sich der Gesetzgeber dafür entschieden habe, die Herstellung von Arzneimitteln privaten Dritten zu überlassen, so müsse diesen Dritten dann auch ausreichende Verdienstmöglichkeiten bleiben.341 Eine Pflicht zur Gewährleistung einer ausreichenden Ertragslage ergebe sich aus dem arbeitsteilig organisierten Prozess der Versorgung gesetzlich Versicherter, in den die pharmazeutischen Unternehmen in systemdienlicher Weise eingebunden seien. Zwar läge der Fokus des vorordnenden Leistungserbringerrechtes im Arzneimittelbereich eindeutig auf der Preisgestaltung und der Preisregulierung. Beispielsweise würden gesetzlich Versicherte gemäß § 31 Abs. 1 SGB V einen Anspruch auf apothekenpflichtige Arzneimittel (§ 43 Abs. 1 AMG) haben, soweit diese nicht durch Gesetz (§ 34 Abs. 1 – 3 SGB V) oder durch Richtlinien (§ 92 Abs. 1 S. 2 Nr. 6 SGB V) ausgeschlossen sind.342 Allerdings sei Kostenbegrenzung nach der zutreffenden Einschätzung des Bundesverfassungsgerichtes343 nur eines der Ziele, das der Gesetzgeber verfolge, um das System insgesamt funktionsfähig zu erhalten. Gleichzeitig strebe er nämlich auch an, dass die volkswirtschaftlich für vertretbar gehaltene Beitragsbelastung344 – und damit auch das Finanzierungsvolumen der GKV – nicht überschritten werde. Außerdem komme es ihm bei 339 Das erkennt wohl auch Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 32 – 33 an, wenn er fordert das bei allen Sparmaßnahmen jedenfalls der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz einzuhalten sei. 340 Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 13. 341 Becker, NZS 2003 S. 567; Becker, Zwangsrabatte nach dem Beitragssatzsicherungsgesetz – Zulässigkeit nach materiellem Recht, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 45 – 46; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 13; zum Parallelproblem angemessener vertragsärzticher Vergütung: Becker, NZS 1999 S. 526. 342 Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 411. 343 BVerfGE 103, 172 (186). 344 Dazu bereits: § 2 D.
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der Verteilung der Finanzmittel darauf an, der Versorgung der Versicherten mit einem ausreichenden und zweckmäßigen Schutz im Krankheitsfall gerecht zu werden. Dieses Versorgungsziel würde von § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V einfachgesetzlich konkretisiert, wonach Qualität und Wirksamkeit der Leistungen dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen müssen. Dem könne die pharmazeutische Industrie jedoch nur genügen, wenn die beim Medikamentenverkauf erzielten Erlöse ausreichende finanzielle Spielräume für die Produktentwicklung und -herstellung eröffnen. Andernfalls liefe die Funktion von § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V als zentrale materielle Grenze von Kostensenkungsstrategien in der GKV weitestgehend leer.345 Auch die Vorschrift des § 130a Abs. 9 S. 2 SGB V zeige, dass sich der Gesetzgeber einer zumindest teilweisen Innovationsverantwortung nicht entziehen wolle.346 Damit läuft diese Argumentation im Kern darauf hinaus zu konstatieren, dass gesetzlich Krankenversicherte einen Anspruch auf Versorgung mit fortschrittlichen Arzneimitteln haben. Um dieses Ziel auch zu erreichen, müssten den als Leistungserbringern im Sinne des SGB V angesehenen Arzneimittelherstellern Finanzmittel zur Verfügung gestellt werden. Dabei wird jedoch übersehen, dass der Gesetzgeber die Norm seit einer Novelle im Jahre 1988 ausdrücklich nicht mehr in dieser Weise verstanden wissen wollte, was sich auch in der höchstrichterlichen Rechtsprechung347 niedergeschlagen hat. Spätestens seitdem gilt, dass es nicht Aufgabe der Krankenkassen ist, die medizinische Forschung zu finanzieren, und zwar selbst dann, wenn neue Methoden im Einzelfall zu einer Heilung der Krankheit oder Linderung der Krankheitsbeschwerden führen.348 Die Versicherten sollen am medizinischen Fortschritt teilhaben, der Fortschritt selbst wird jedoch vorausgesetzt und soll nicht durch die Beiträge der Versicherten finanziert werden.349 Im Ergebnis wird somit ein Teilhaberecht der pharmazeutischen Industrie aus einem Teilhaberecht der gesetzlich Krankenversicherten abgeleitet. Von der, bei der Ableitung von Teilhaberechten aus Grundrechten gebotenen, generellen Zurückhaltung350 ist bei einer derartigen Interpretation nicht mehr viel erkennbar. Vielmehr wird mit großem interpretatorischem Aufwand versucht, einer genuin abwehrrechtlichen Bestimmung zusätzliche Wirkungen beizulegen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie nach dem Willen des Gesetzgebers ausdrücklich nicht zu den Leis345
Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 13. Stadelhoff, Rechtsprobleme des AMNOG-Verfahrens, 2016, S. 38 – 39. 347 Einerseits: BSGE 63, 102 (102 ff.); andererseits: 76, 194 (194 ff.). 348 BT-Drs. 11/2237, S. 157. 349 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 423. 350 Manssen, in: MKS, GG, 2010 Art. 12 Abs. 1 Rn. 9. 346
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tungserbringern im Sinne des SGB V zählen sollen.351 Eine legislative Grundentscheidung, die mit der faktischen Gleichstellung von Leistungserbringern und funktionellen Leistungserbringern ausgehebelt wird, wobei selbst Erstere kein Teilhaberecht an Forschungsmitteln haben. Denn in der gesetzlichen Krankenversicherung existiert kein Forschungsetat. Es entspricht aber gerade dem Wesen eines Teilhaberechtes, an einer bereits vorhandenen staatlichen Leistung zu partizipieren. Einen Anspruch auf eine, erst noch in ihren Existenzvoraussetzungen zu schaffende Leistung vermögen sie keinesfalls zu begründen.352 Schließlich besteht auch keine staatliche Aufgabe, Arzneimittel herzustellen, die der Staat privaten Dritten überlassen könnte. Bestenfalls im Bereich der Daseinsvorsorge353 bzw. des medizinischen Existenzminimums könnte man erwägen, ob der Staat eine solche Aufgabe zu übernehmen hat. Ungeachtet der Schwierigkeiten bei der Bestimmung des genauen Gewährleistungsgehaltes354 gehören dazu aber keinesfalls hoch entwickelte Arzneimittel der Spitzenpharmazie. Gleichwohl erfolgt die Grundlagenforschung oftmals dennoch an staatlich finanzierten Einrichtungen. Der Staat kommt also seinen etwaig bestehenden Verpflichtungen durchaus nach. Arzneimittelhersteller haben deshalb kein Teilhaberecht an den finanziellen Mitteln der gesetzlichen Krankenversicherung zu Forschungszwecken. Abgesehen davon könnte man den Herstellern von Pharmazeutika damit eher Steine als Brot geben. Das Zwangsabschlagsregime der §§ 130 ff. SGB V ließe sich dann nämlich auch als bloße Einschränkung eines derivativen und deswegen ohnehin unter dem Vorbehalt des finanziell Möglichen stehenden Teilhabeanspruchs verstehen.355 h) Prüfungs- und Beobachtungspflichten Damit kann eine Unangemessenheit des erhöhten Herstellerabschlages nur noch ex post durch eine Veränderung der tatsächlichen Verhältnisse eintreten. Nach ständiger Rechtsprechung356 obliegen dem einfachen Gesetzgeber aus 351
BT-Drs. 11/2237, S. 157 – 158. Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 8 Rn. 14; a. a. O. § 35 Rn. 49; Manssen, in: MKS, GG, 2010 Art. 12 Abs. 1 Rn. 15; vgl. BVerfGE 33, 303 (338); 43, 242 (285). 353 BVerfGE 66, 248 (258); Janda, Die Rechtsstellung nichtärztlicher Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2003, S. 82. 354 Dazu etwa: Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 315 – 359 m. w. N. 355 Vgl. Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 32; Hufen, NJW 2004 S. 15. 356 BVerfGE 16, 147 (181 ff.); 18, 315 (332); 25, 1 (13); 33, 171 (189 f.); 49, 89 (130); 50, 290 (335 f.); 54, 11 (36 ff.); 55, 274 (308); 56, 54 (78 f.); 57, 139 (162 f.); 59, 119 (127); 67, 299 (328); 68, 287 (309); 73, 40 (94); 82, 353 (380); 88, 203 (309 ff.); 110, 141 (169); 111, 10 (42); 122, 1 (35); 123, 186 (266); 130, 151 (199); 133, 277 (371). 352
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Grundrechten sowie dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete Beobachtungs- und Nachbesserungspflichten. Kommt er diesen nicht nach, so kann eine ursprünglich verfassungsgemäße Regelung bei einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse verfassungswidrig werden. Unerheblich ist, ob die Änderung der wesentlichen Umstände auf eine Fehlprognose des Gesetzgebers zurückzuführen ist oder aber vollkommen unvorhersehbar war. In beiden Fällen kann die Regelung nämlich nicht einmal einen teilweisen Beitrag zur angestrebten Zielerreichung leisten. Verfehlt ein Gesetz seinen Steuerungszweck, weil sich die maßgeblichen Daten geändert haben, so schränkt es die Grundrechte zu Unrecht ein und ist rechtsstaatlich untragbar.357 Wie oben bereits näher ausgeführt358, ging der Gesetzgeber bei Verabschiedung des 14. SGB V Änderungsgesetzes davon aus, dass bereits im Jahr 2015 mit höheren Ausgaben als Einnahmen gerechnet werden muss und dadurch die zum Zeitpunkt seines Erlasses erheblichen Finanzreserven der gesetzlichen Krankenversicherung bald aufgezehrt werden würden. Eine Prognose, die sich im Nachhinein als zutreffend erwiesen hat.359 Auch für die Kalenderjahre 2016 und 2017 wurde eine Unterdeckung von 14,4 Milliarden Euro360 erwartet, was ziemlich genau den Anfang des vierten Quartals 2015 vorhandenen Finanzreserven von 15,3 Milliarden Euro361 entsprach. Wäre diese Prognose unzutreffend gewesen, so hätte der Grundrabatt gemäß § 130a Abs. 4 S. 1 SGB V angepasst werden müssen. Ein diesbezügliches Einschreitensermessen des zuständigen Bundesministeriums für Gesundheit besteht schon wegen des klaren Wortlautes („hat“) nicht. Dafür spricht auch, dass für eine Ermessensausübung wegen der auf Tatbestands ebene verwendeten, unbestimmten Rechtsbegriffe der „gesamtwirtschaftliche[n] 357
§ 5 B. II. 7.; Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 11 m. w. N. B. II. 7.; SPD Sozialdemokratische Partei Deutschlands/CDU Christlich Demokratische Union Deutschlands/CSU Christlich Soziale Union, Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, S. 59. 359 Schätzerkreises zur Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung, Bericht des Schätzerkreises zur Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung für die Jahre 2016 und 2017, S. 2; Schätzerkreises zur Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung, Bericht des Schätzerkreises zur Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung für die Jahre 2015 und 2016, S. 2. 360 Schätzerkreises zur Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung, Bericht des Schätzerkreises zur Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung für die Jahre 2016 und 2017, S. 2; Schätzerkreises zur Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung, Bericht des Schätzerkreises zur Entwicklung der Einnahmen und Ausgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung für die Jahre 2015 und 2016, S. 2. 361 Bundesministerium für Gesundheit, Finanz-Reserven der Krankenkassen bei 15,3 Milliarden Ergebnisse der GKV im 1.bis 3. Quartal 2015, Pressemitteilung vom 04. 12. 2015, S. 1. 358 § 5
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Lage“ samt deren „Auswirkung auf die gesetzliche Krankenversicherung“ kein eigenständiger Argumentationshaushalt verbleibt. Zudem weist die zu Grunde liegende und ausdrücklich in Bezug genommene Richtlinie eine hohe normative Dichte auf, weswegen auch unionsrechtliche Gründe gegen ein Einschreitensermessen des Bundesministeriums für Gesundheit sprechen.362 Selbst wenn man ihm aber ein solches zugestehen wollte, wäre es wegen der, mit dem 14. SGB V Änderungsgesetz verbundenen Grundrechtseingriffe in die Berufsfreiheit der pharmazeutischen Industrie auf Null reduziert. Diese lassen sich nämlich nur so lange rechtfertigen, wie die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung tatsächlich gefährdet ist. 9. Zwischenergebnis Nicht vergessen sollte man dabei allerdings, dass die Funktionsfähigkeit der gesetzlichen Krankenversicherung in der gegenwärtigen Ausgestaltung mittelfristig fraglos erheblich gefährdet ist.363 Auch ist die im Moment nicht bestehende gegenwärtige Gefährdung nicht zuletzt gerade auf diverse, bereits ergriffene Sparmaßnahmen zurückzuführen.364 Mit zunehmender künftiger Verschärfung der finanziellen Situation wird man zwar die Beantwortung der grundsätzlichen Frage, ob es überhaupt ein vernünftiger Gemeinwohlbelang sein kann, ein umlagefinanziertes und damit in dieser Form nicht überlebensfähiges System weiter zu stützen, nicht weiter aufschieben können.365 Noch ist dieser Zeitpunkt aber nicht erreicht. Bezüglich des um einen Prozentpunkt erhöhten Grundrabattes kann deshalb festgehalten werden, dass er mit der Berufsfreiheit der pharmazeutischen Unternehmen in ihrer Gesamtheit insbesondere deshalb vereinbar ist, weil diese in etwa gleicher Höhe entlastet werden. Zu begrüßen wäre jedoch eine ausdifferenziertere Betrachtungsweise, die vor allem die aus der sachlich undifferenzierten Abschlagspflicht resultierenden, besonderen Härten abmildert.
362 Näher dazu: Gassner, PharmR 2012 S. 253 – 245; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 22. 363 Ausführlich dazu: § 2. 364 Das übersehen Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 280 – 281, die bezüglich der Übertragung der Rabattierungssystematik auf die PKV durch das AMRabG (näher dazu: § 5 F) mit der gegenwärtig geringen Gefahr für die sozialen Sicherungssysteme argumentieren. 365 Dettling, MedR 2006 S. 85; Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 42 – 43; Hufen, NJW 2004 S. 17.
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III. Eigentumsfreiheit Die nicht zu leugnenden wirtschaftlichen Auswirkungen der Zwangsrabattierung auf patentgeschützte Arzneimittel werfen zudem die Frage nach ihrer Vereinbarkeit mit der von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Eigentumsfreiheit auf. Sinn und Zweck eines Patentrechtes ist es, eine Innovation zu honorieren, indem man dem Berechtigten für eine gewisse Zeitspanne exklusive Verwertungsrechte einräumt. Es besteht somit ein Anreiz, private Forschung und Entwicklung zu betreiben, was letztlich dem Gemeinwohl dient. Die Verwertung des geistigen Eigentums und damit auch die Verwertung von Patentrechten stellt deshalb ein vermögenswertes Recht dar und unterfällt grundsätzlich einmal dem Schutzbereich des Art. 14 Abs. 1 GG.366 Insofern könnte man darüber nachdenken, die Zwangsrabattierungsregelung als Aushöhlung des Patenrechtes und damit als Inhaltsund Schrankenbestimmung anzusehen.367 Allerdings wären auf diese Weise bloße Verdienstaussichten bzw. Erwerbschancen in den Schutzbereich einbezogen und eine trennscharfe Abgrenzung zur Berufsfreiheit deutlich erschwert.368 § 130a Abs. 1 SGB V betrifft ausschließlich Forderungen, die nach seinem Inkrafttreten begründet werden und hat keinerlei Auswirkungen auf bereits entstandene Forderungen. Künftige, möglicherweise entstehende Forderungen unterfallen aber nicht dem Schutz des Art. 14 Abs. 1 GG.369 Der Schutzbereich wäre erst dann eröffnet, wenn die Patentrechte tatsächlich entwertet werden würden. Eine bloße Verschlechterung der Marktsituation ist dafür nicht ausreichend.370
IV. Gleichbehandlung der Profiteure Die Vereinbarkeit mit sämtlichen in Frage kommenden Freiheitsrechten schließt eine Verfassungswidrigkeit wegen eines Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 GG natürlich nicht aus. Allerdings spricht dies schon einmal für eine Ungleichbehandlung geringerer Intensität und damit gegen eine strengere Prüfung auf Rechtfertigungsebene.371 Verletzt ist das Gleichheitsgebot dann, wenn eine Grup366 BVerfGE
36, 281 (291); Depenheuer, in: MKS, GG, 2010 Art. 14 Rn. 149; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 38 Rn. 15. 367 Vgl. Posser/Müller, NZS 2003 S. 181 – 182 zu den Festbetragsregelungen. 368 BVerfGE 28, 119 (142); 30, 292 (334); 81, 29 (31 ff.); Depenheuer, in: MKS, GG, 2010 Art. 14 Rn. 99 – 103. 369 BVerfGE 68, 193 (222 f.); 114, 196 (242); Wallerath, SGb 2006 S. 507. 370 Becker, Zwangsrabatte nach dem Beitragssatzsicherungsgesetz – Zulässigkeit nach materiellem Recht, in: Mummenhoff (Hrsg.), Staatseingriffe in den Arzneimittelmarkt, 2003, S. 51 – 52; Kluth, ZHR 1998 S. 666; Wallerath, SGb 2006 S. 507. 371 Britz, NJW 2014 S. 346 – 351 m. w. N.; Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 74; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 11 Rn. 496 – 497; Wallerath, SGb 2006 S. 510.
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pe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten.372 Argumentum e contrario Art. 3 Abs. 3 GG, der nur bestimmte Differenzierungskriterien verbietet, sind Ungleichbehandlungen nicht als solche verboten. Der allgemeine Gleichheitssatz will nicht alle, zwischen den Individuen bestehenden Unterschiede einebnen. Verboten sind lediglich Ungleichbehandlungen ohne sachlichen Grund. Wesentlich Gleiches darf nicht willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches nicht willkürlich gleich behandelt werden.373 Weil Personen und Sachverhalte nie in allen, sondern stets nur in einzelnen Elementen übereinstimmen – es läge sonst Identität vor – kann eine Gleichheitsaussage immer nur bezüglich bestimmter gemeinsamer Merkmale getroffen werden. Technisch geschieht dies durch die Subsumtion unter einen gemeinsamen Oberbegriff (genus proximum/tertium comparationis). Die Ungleichbehandlung wird dann aufgrund eines Unterscheidungsmerkmales (differentia specifica), der unter den gemeinsamen Oberbegriff fallenden Personen bzw. Sachverhalte festgestellt. Die zur Gruppenbildung notwendige, wesentliche Gleichheit lässt sich nur unter Zuhilfenahme wertender Elemente durchführen.374 Dabei müsse es grundsätzlich dem Gesetzgeber überlassen werden, die Merkmale zu bestimmen, nach denen Sachverhalte als hinreichend gleich anzusehen sind, um sie gleich zu regeln. Er sei lediglich gehalten, Gesetzlichkeiten zu berücksichtigen, die in der Sache selbst liegen. Auch dürfen die fundierten allgemeinen Gerechtigkeitsvorstellungen, insbesondere in Form der in der Verfassung selbst enthaltenen Grund entscheidungen, nicht missachtet werden.375 Wollte man dies anders sehen, so liefe man Gefahr, politische Entscheidungen weg vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber, hin zu einer – unter einem allgemeinen Gleichheitssatz nahezu grenzenlosen – Erkenntniskompetenz der Gerichte zu verlagern.376 Demnach ist nicht zu kritisieren, dass pharmazeutische Unternehmen, die von der Abschaf372 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 55, 72 (88); 60, 123 (133 f.); 74, 9 (24); 81, 1 (8); 81, 108 (118); 88, 87 (96 f.); 93, 386 (397); 99, 367 (388); 100, 104 (127); 100, 195 (205); 102, 41 (54); 103, 225 (235); 105, 73 (110); 107, 27 (45 f.); 110, 412 (431 f.); 129, 49 (69); aus der Literatur: Boysen, in: Münch/Kunig, GG, 2012 Art. 3 Rn. 16; Britz, NJW 2014 S. 347; Heun, in: Dreier, GG, 2013 Art. 3 Rn. 22. 373 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 4, 144 (155); 78, 104 (121); 112, 164 (174); 112, 268 (279); 116, 164 (180); 117, 1 (30); 130, 52 (65); 130, 240 (252); 131, 239 (255); 132, 179 (188); aus der Literatur: Boysen, in: Münch/Kunig, GG, 2012 Art. 3 Rn. 54; Heun, in: Dreier, GG, 2013 Art. 3 Rn. 20. 374 Heun, in: Dreier, GG, 2013 Art. 3 Rn. 25. 375 BVerfGE 3, 225 (240); 6, 273 (280); 13, 225 (228). 376 Boysen, in: Münch/Kunig, GG, 2012 Art. 3 Rn. 19; Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S.68; Pietzcker, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013 § 125 Rn. 54 – 55.
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fung des Bestandsmarktaufrufes profitieren, in die gleiche Gruppe eingeteilt werden wie die pharmazeutischen Unternehmer, die nicht von Abschaffung der Bestandsmarktbewertung profitieren. Hersteller von Altoriginalen, Generika und ausnahmsweise zugunsten der GKV verordnungsfähigen, nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ziehen aus dem Verzicht, Bestandsmarktpräparate zu bewerten zwar keinen unmittelbaren Vorteil. Gleichwohl lassen sie sich zwanglos unter den gemeinsamen Oberbegriff der Arzneimittelhersteller subsumieren. Wesentlich Gleiches würde durch den, die weggefallenen Vorteile der Bestandsmarktbewertung kompensierenden, erhöhten Grundrabatt gleichbehandelt werden.377 Allerdings birgt eine zu weite legislative Einschätzungsprärogative bezüglich der zu wählenden Vergleichsgruppe ähnliche Gefahren wie im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung.378 Sieht man das wesentlich Gleiche nämlich in der gemeinsamen Zugehörigkeit zur Gruppe der Profiteure der abgeschafften Bestandsmarktbewertung,379 würde wesentlich Ungleiches gleich behandelt werden. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob die dann bestehende Gleichbehandlung von wesentlich Ungleichem gerechtfertigt werden kann. Keiner Rechtfertigung bedarf dabei die Gleichbehandlung der Altoriginalhersteller, denn diese profitieren als forschende Arzneimittelunternehmen von der Abschaffung des Bestandsmarktaufrufes. Regelmäßig keiner Rechtfertigung bedarf auch die Gleichbehandlung der Generikahersteller, da diese gemäß § 130a Abs. 1 S. 2 SGB V von der um einen Prozentpunkt erhöhten Abschlagsverpflichtung ausgenommen sind und nicht einmal ausnahmsweise380 vom erhöhten Herstellerrabatt betroffen sind. Rechtfertigungsbedürftig ist deshalb nur noch die Gleichbehandlung der Hersteller von nicht verschreibungspflichtigen Präparaten. Nach der jüngeren Rechtsprechung ergeben sich aus dem allgemeinen Gleichheitssatz in Abhängigkeit vom Regelungsgegenstand und Differenzierungsmerkmal unterschiedliche Grenzen für den Gesetzgeber, die von gelockerten, auf das Willkürverbot beschränkten Bindungen bis hin zu strengen Verhältnismäßigkeitserfordernissen reichen können.381 In jedem Falle würden Differenzierungen allerdings der Rechtfertigung durch sachliche Gründe bedürfen, die in einem angemessenen Verhältnis zum verfolgten Differenzierungsziel und dem Ausmaß 377 BT-Drs. 18/201, S. 8 verweist zur Frage der Abgrenzung, für welche Arzneimittel das Preismoratorium gelten soll, ausdrücklich auf den weiten wirtschafts- und sozialpolitischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers. 378 § 5 B. II. 7. b). 379 Ausschussdrucksache 18(14)0009 (5), S. 31; bezüglich Zwangsrabatten im Allgemeinen auch: Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 41. 380 Dazu bereits: § 5 B. II. 8. c) bb). 381 BVerfGE 110, 274 (291); 117, 1 (30); 122, 1 (23); 126, 400 (416); 129, 49 (68).
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der Ungleichbehandlung stehen. Art. 3 Abs. 1 GG gebiete nicht nur, dass die Ungleichbehandlung an ein der Art nach sachlich gerechtfertigtes Unterscheidungskriterium anknüpft, sondern verlange auch für das Maß der Differenzierung einen inneren Zusammenhang zwischen den vorgefundenen Verschiedenheiten und der differenzierenden Regelung, der sich als sachlich vertretbarer Unterscheidungsgesichtspunkt von hinreichendem Gewicht erweist.382 Dabei gelte ein stufenloser, am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit orientierter, verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab, dessen Inhalt und Grenzen sich nicht abstrakt, sondern nur nach den jeweils betroffenen unterschiedlichen Sach- und Regelungsbereichen bestimmen lasse.383 Eine strengere Bindung des Gesetzgebers sei insbesondere dann anzunehmen, wenn die Differenzierung an Persönlichkeitsmerkmale anknüpft, die sich denen des Art. 3 Abs. 3 GG annähern,384 wobei die Unterscheidung nach personen- und verhaltens- bzw. sachbezogenen Kriterien gegenwärtig in Auflösung begriffen zu sein scheint.385 Wie eingangs bereits dargelegt, kann sich eine strengere Bindung des Gesetzgebers auch aus der hier nicht vorliegenden, gleichzeitigen Betroffenheit von Freiheitsrechten ergeben, die dann als eine Art relatives Differenzierungsverbot wirken würden. Im Übrigen soll das Maß der Bindung unter anderem davon abhängen, inwieweit die Betroffenen in der Lage sind, durch ihr Verhalten die Verwirklichung der Kriterien, nach denen unterschieden wird, zu beeinflussen.386 Der sachliche Grund für die Gleichbehandlung der von der beendeten Bestandsmarktbewertung profitierenden und nicht profitierenden Unternehmen kann in der zusätzlichen Kostenvermeidung und damit in der Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung gesehen werden. Der Gesetzgeber – so die Gesetzesbegründung387 – müsse eine die Krankenkassen und sonstigen Kostenträger übermäßig belastende Ausgabenentwicklung nicht erst eintreten lassen, bevor er Maßnahmen zum Ausgleich solcher Kostensteigerungen ergreift. Er könne deshalb schon im Vorhinein die Maßnahmen ergreifen, die erforderlich und angemessen sind, um eine derartige Entwicklung zu vermeiden. Die Gleichbehandlung knüpft an die persönliche Eigenschaft der Gruppenzugehörigkeit an, die wiederum vom frei gewählten Geschäftsmodell der Unternehmen abhängt, mithin von den Grundrechtsträgern 382
BVerfGE 124, 199 (220), 129, 49 (68 f.). BVerfGE 75, 108 (157); 93, 319 (348 f.); 107, 27 (46); 126, 400 (416); 129, 49 (68 f.); Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 73 – 74. 384 BVerfGE 124, 199 (220); 129, 49 (69). 385 Vgl. BVerfGE 127, 263 (280); Britz, NJW 2014 S. 347. 386 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 60, 123 (134); 82, 126 (146); BVerfGE 88, 87 (96); 127, 263 (280); 129, 49 (69); aus der Literatur: Britz, NJW 2014 S. 350; Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 74; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 11 Rn. 562. 387 BT-Drs. 18/201, S. 8. 383
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theoretisch beeinflusst werden kann. Allerdings bedarf es eines in jeder, vor allen Dingen aber in zeitlicher Hinsicht hohen Aufwandes, ein Unternehmen der forschenden Arzneimittelindustrie aufzubauen, wenn man sich bislang auf die Entwicklung und die Herstellung von nicht verschreibungspflichtigen Arzneimitteln konzentriert hat. Insofern kann das personengebundene Differenzierungsmerkmal jedenfalls mittelfristig von den Betroffenen nicht beeinflusst werden. Geht man deshalb – oder weil man die Unterscheidung zwischen personen- und verhaltens- bzw. sachverhaltsbezogenen Differenzierungen als aufgegeben ansieht388 – zugunsten der betroffenen Unternehmen davon aus, dass eine strenge Verhältnismäßigkeitsprüfung durchgeführt werden muss, dürfte diese keinesfalls anders ausfallen als bei den angesprochenen Freiheitsrechten. Denn dann gälte es auch zu berücksichtigen, dass die Eingriffsintensität aufgrund des Ausnahmecharakters der Verordnung nicht verschreibungspflichtiger Arzneimittel zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung deutlich geringer ausfällt. Selbst wenn man also eine differenzierende Vergleichsgruppe wählen wollte, wäre die nur in diesem Falle bestehende gleichheitswidrige Behandlung gerechtfertigt. Der um einen Prozentpunkt erhöhte Grundrabatt zur Kompensation der weggefallenen Vorteile des abgeschafften Bestandsmarktaufrufes verstößt deshalb nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Die durch § 130a Abs. 1 SGB V erfolgende (erhöhte) Zwangsrabattierung ist somit insgesamt als verfassungsgemäß zu bewerten.
C. Preismoratorium Das die Zwangsrabattierung flankierende Preismoratorium (§ 130a Abs. 3a SGB V) greift in gleicher Weise in die Berufsfreiheit der pharmazeutischen Unternehmer ein, sodass im Wesentlichen auf das zur Zwangsrabattierung Gesagte389 verwiesen werden kann. Zur Vermeidung von Wiederholungen werden deshalb im Folgenden nur hiervon abweichende Aspekte diskutiert.
I. Nicht durchsetzbare Preiserhöhungen Vor allen Dingen von Lobbyvertretern wird vorgebracht, dass das Preismoratorium bei Generika bzw. Altoriginalen nicht erforderlich sei. Im Gegensatz zu innovativen, patentgeschützten Arzneimitteln sei das Geschäft in den vergangenen Jahren sehr wettbewerbsintensiv geworden. Wegen der Festbetragsregelungen und der bereits ausgehandelten Rabattverträge könne es sich kein in diesem Marktsegment tätiger Arzneimittelhersteller erlauben, nennenswerte Preiserhö388 389
Britz, NJW 2014 S. 347. § 5 B.
C. Preismoratorium
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hungen durchzusetzen.390 Erforderlichkeit bedeutet aber nicht nur, dass es ein für den Betroffenen weniger belastendes Mittel gibt. Das Prinzip des geringstmöglichen Eingriffs verlangt darüber hinaus, dass das mildere Mittel gleichermaßen gut geeignet ist, das erstrebte Ziel auch zu erreichen.391 Das ist vorliegend schon alleine deshalb nicht der Fall, weil sich die Höhe der Festbeträge oder der Inhalt bzw. der Umfang der abgeschlossenen Rabattverträge ändern können. Ohnehin ist eine regulatorische Maßnahme wie das Preismoratorium keinen unvorhergesehenen Änderungen unterworfen und damit generell besser geeignet, die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung sicherzustellen. Das bloße Vertrauen darauf, dass sich die gegenwärtige Marktsituation schon nicht ändern werde, lässt die Erforderlichkeit des Preismoratoriums nicht entfallen.
II. Nicht realisierbare Festbetragserhöhungen Dass die Änderung der Marktsituation beileibe kein akademisches Problem ist, zeigen die in den letzten Jahren zur Erhöhung der Versorgungssicherheit durchgeführten Festbetragsanpassungen. Wegen des geltenden Preismoratoriums konnten diese allerdings nicht durch Preiserhöhungen wirtschaftlich realisiert werden, sodass sich nach wie vor kein Hersteller fand, der bereit war zu diesen Konditionen anzubieten.392 Zu Recht wurde diese Widersprüchlichkeit von der Politik zwischenzeitlich als Umsetzungsversehen erkannt und Präparate, für die ein Festbetrag nach § 35 SGB V festgesetzt wurde, vom Preismoratorium ausgenommen (§ 130a Abs. 3a S. 1 Hs. 2 SGB V). Zwingend geboten wäre die aus Vereinfachungsgründen dennoch begrüßenswerte Kodifizierung allerdings nicht gewesen. Pharmazeutischen Unternehmen hätte ja auch hier die Möglichkeit offen gestanden, einen Antrag nach § 130a Abs. 4 S. 2 SGB V zu stellen.
III. Abwälzung Abgaben- und Inflationsrisiko Auch das oftmals vorgebrachte393 Argument, die Fortführung des Preismoratoriums vom 01. April 2014 bis 31. Dezember 2017 mache es den Arzneimittelherstellern unmöglich, eingetretene Kostensteigerungen zu kompensieren, überzeugt nur vordergründig. Bei isolierter Betrachtung der gesetzlichen Regelung des § 130a Abs. 3a SGB V scheint es zwar in der Tat ausgeschlossen, dass seit 390
Ausschussdrucksache 18(14)0009 (5), S. 30 – 31. Bickenbach, Die Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, 2014, S. 326 – 329 m. w. N.; Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 3 Rn. 191 – 192. 392 Ausschussdrucksache 18(14)0009 (1), S. 5 – 6. 393 Ausschussdrucksache 18(14)0009 (1), S. 5; Ausschussdrucksache 18(14)0009 (5), S. 9; Ausschussdrucksache 18(14)0009 (7), S. 9; Ausschussdrucksache 18(14)0009 (10), S. 11; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009 (5), S. 20. 391
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dem relevanten Stichtag (1. August 2009) angestiegene Ausgaben für Energie, Rohstoffe und Personal eingepreist werden können. Eine Inflationsrate von 1,5 Prozentpunkten unterstellt, beliefe sich die tatsächliche Belastung durch das Preismoratorium im Jahr 2017 somit auf 1,9 Milliarden Euro. Dies wiederum entspräche einem Abschlag von 14 Prozentpunkten. Im Ergebnis würde der pharmazeutischen Industrie unter Berücksichtigung des 7 Prozentpunkte betragenden Grundrabattes somit ein effektiver Gesamtrabatt von 21 Prozentpunkten aufgebürdet werden, der den künftigen politischen Handlungsspielraum stark einengen würde.394 Die Gesetzesbegründung395 aber klammere diese im Zeitablauf entstehende Belastungskumulation vollumfänglich aus. Sie beschränke sich darauf, die Belastungswirkung für das Jahr 2014 mit 0,6 Milliarden Euro anzugeben, und verweigere sich somit einer realistischen Prognostizierung der zu erwartenden Gesamtbelastungen.396 Bei näherer Betrachtung kann jedoch weder von einem wahlperiodenübergreifenden faktischen Selbstbindungseffekt397 noch von einer Inflationsquote in Höhe von 1,5 Prozentpunkten ausgegangen werden.398 Selbst wenn man dies anders beurteilen wollte, würde dies wegen der von Amts bzw. Antrags wegen vorgesehenen Anpassungsmöglichkeit des § 130a Abs. 4 SGB V nicht zwangsläufig zur Verfassungswidrigkeit führen.399 Allenfalls dann, wenn diese Regelung nicht in verfassungskonformer Weise ausgelegt werden würde, könnte man erwägen, dass das Preismoratorium wegen der Abwälzung des Abgaben- und Inflationsrisikos unangemessen sein könnte. An der Verfassungsmäßigkeit der Regelung als solcher würde das freilich nichts ändern. Ohnehin scheint das Bundesverfassungsgericht einer Geldentwertung in üblicher Höhe keine verfassungsrechtlich relevante Wirkung beimessen zu wollen. So soll die Besteuerung von Einkünften ohne Rücksicht auf die Geldentwertung nicht gegen Verfassungsrecht verstoßen, da Bewegungen im Preisniveau in einem gewissen Umfange in Kauf genommen werden müssen.400 Allenfalls dann, wenn der regelmäßig sehr schwierig zu führende Nachweis erbracht wird, dass die Inflation gerade auf hoheitliche Wirtschaftslenkung oder Währungspolitik zurückzuführen ist, könnte anderes gelten. Denn dann ist die Inflation kein bloßer Markteffekt, sondern auf Gemeinwohlbeschränkungen der verfassungs-
394
Ausschussdrucksache 18(14)0009 (7), S. 9. BT-Drs. 18/201, S. 5. 396 Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 20. 397 Dazu bereits: § 5 B. II. 3. b). 398 § 5 B. II. 8. e). 399 Vgl. bereits § 5 B. II. 8. e). 400 BVerfGE 50, 57 (77 f.); 97, 350 (371 ff.); BVerfG, StB 1978, 138. 395
C. Preismoratorium
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rechtlich geschützten Rechtsposition des Geldeigentums zurückzuführen.401 Welche Inflationsrate als Geldentwertung in üblicher Höhe hinzunehmen ist, wird nicht weiter ausgeführt. Man sähe sich dabei auch ähnlichen Schwierigkeiten ausgesetzt wie bei der Bestimmung von gerechten Preisen.402 Einen Anhaltspunkt liefert Art. 127 AEUV. Demnach dürfte die, vom Europäischen System der Zentralbanken (ESZB) angestrebte und auch nicht überschrittene, natürliche Inflationsquote403 von unter, aber nahe 2 Prozentpunkten hinzunehmen sein. Bis zu dieser bislang nicht annähernd erreichten und auch von den Betroffenen selbst nicht erwarteten Inflationsquote ist das Preismoratorium somit auf jeden Fall mit höherrangigem Recht vereinbar. Selbstverständlich ist es dem Gesetzgeber aber keinesfalls verwehrt, die Geldwertentwertung durch Indexierungsinstrumente stärker zu berücksichtigten und somit der Lebenswirklichkeit der Rechtsunterworfenen stärker Rechnung zu tragen. Insofern bestehen gegen den ab 01. Juli 2018 von Gesetzes wegen durchzuführenden jährlichen Inflationsausgleich nicht nur keine verfassungsrechtlichen Bedenken. Vielmehr steht spätestens mit dieser, am Ende der 18. Legislaturperiode verabschiedeten Novelle des § 130a Abs. 3a SGB V fest, dass eingetretene Kostensteigerungen durchaus kompensiert werden können. Das Inflationsrisiko wird folglich keinesfalls in unangemessener Weise auf die Hersteller der pharmazeutischen Industrie abgewälzt.
IV. Alleinige Maßgeblichkeit des Wirkstoffes Darüber hinaus wurde die alleinige Maßgeblichkeit des Wirkstoffes in § 130a Abs. 3a S. 3 SGB V als unangemessenes Innovations- und damit Investitionshemmnis identifiziert. Sinn und Zweck der Regelung ist es, eine Umgehung des Preismoratoriums zu verhindern.404 Andernfalls könnten Arzneimittelhersteller ein bereits eingeführtes Präparat formal neu einführen, obwohl sich weder der Wirkstoff noch die Darreichungsform signifikant vom bereits eingeführten Präparat unterscheiden. Den Herstellern werde dadurch aber auch jeglicher Anreiz genommen, zwischenzeitlich erlangte Therapieerfahrungen bezüglich der Darreichungsform, der Dosierung und der Indikation in ihrem Produktportfolio zu berücksichtigen. Stark behindert werde insbesondere die Entwicklung von Kinderarzneimitteln. Regelmäßig handele es sich dabei nämlich um niedrig 401
BVerfGE 105, 17 (30 f.); Leisner, in: Isensee, HStR VIII, 2010, § 173 Rn. 173. § 5 B. II. 8. a). 403 Häde, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 2016, Art. 127 AEUV Rn. 3; nach Mankiw/ Taylor, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, 2016, S. 825 werden sogar erst Inflationsraten jenseits der 5 Prozent mit Sorge betrachtet. 404 BT-Drs. 18/201, S. 7 – 8; Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 11 Rn. 60. 402
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dosierte Änderungen von bereits bei Erwachsenen angewandten Arzneimitteln. Die Einbeziehung von Wirkstärkenänderungen in ein verlängertes Preismoratorium führe zwangsläufig dazu, dass die Forschung und Weiterentwicklung von Arzneimitteln mit bekannten Wirkstoffen massiv beeinträchtigt werde, wovon insbesondere Kinderarzneimittel negativ betroffen seien. Es sei unter keinem Gesichtspunkt zu rechtfertigen, neuzulassungspflichtige Weiterentwicklungen von Arzneimitteln über das Preismoratorium preislich an das unter Umständen bereits seit vielen Jahren im Verkehr befindliche Altarzneimittel anzubinden, zumal dieses oftmals auch noch in generischem Wettbewerb stünde.405 Verfassungswidrig wird das Preismoratorium aber deswegen nicht. Auch im Falle von Kinderarzneien obliegt die Forschungsfinanzierung nicht der gesetzlichen Krankenversicherung.406 Abgesehen davon besteht auch hier407 gemäß § 130a Abs. 4 S. 2 SGB V in Verbindung mit Art. 4 Nr. 2 der Richtlinie 89/105/EWG die Möglichkeit, im Ausnahmefall eine Befreiung vom Preismoratorium zu beantragen. Daneben böte es sich in dieser Fallkonstellation auf einfachgesetzlicher Ebene an, mit einer teleologischen Reduktion zu arbeiten. Praktisch betrachtet läuft das Preismoratorium in seiner gegenwärtigen Ausgestaltung aber ein Stück weit dem von der Verordnung (EG) Nr. 1901/2006 angestrebten Ziel, den off-label use bei Kindern durch eine Verbesserung der Datenlage zurückzudrängen, zuwider. Auf dem Papier bestehen zwar durchaus die intendierten wirtschaftlichen Anreize für die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie in Form eines verlängerten Unterlagenschutzes. Stärker geforscht wird allerdings gerade bei den erprobten älteren Arzneistoffen dennoch nicht, weil das SGB V Kinderarzneien keinen Sonderstatus zubilligt408, der die Planungssicherheit bei den Unternehmen der pharmazeutischen Industrie erhöht. Solange sich Investitionen in alte Wirkstoffe nicht amortisieren können, weil diese Präparate unter Aut-idem-, Festbetrags- oder Rabattregelungen bzw. Preismoratorien fallen, dürfte sich daran auch erst etwas ändern, wenn die aktuell neuzugelassenen Präparate zu älteren, erprobten geworden sind. Denn für noch nicht zugelassene neue Präparate müssen die Hersteller mittlerweile pädiatrische Daten vorlegen.409
405
Ausschussdrucksache 18(14)0009 (5), S. 32 – 33. § 5 B. II. 8. e); § 5 B. II. 8. f); § 5 C. II. 407 BT-Drs. 11/2237, S. 157; ausführlich dazu bereits: § 5 B. II. 8. g). 408 Die durch das AM-VSG erfolgende Lockerung der strengen Evidenzbasierung im frühen Nutzenbewertungsverfahren ist ein erster Schritt in diese Richtung. 409 Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 3 Rn. 254 – 274; PZ Pharmazeutische Zeitung Online, Ausgabe 51/52 2010, EU-Verordnung greift kaum, abgerufen am 29. 04. 2017 unter http://www. pharmazeutische-zeitung.de/?id=36340. 406
D. Im Verfahren der Preisbildung befindliche Arzneimittel: Gliptine
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V. Zwischenergebnis Auch das die erhöhte Grundrabattierung flankierende Preismoratorium stellt sich insgesamt als verfassungsgemäß dar. Dabei kommt der europarechtlich determinierten Regelung des § 130a Abs. 4 SGB V maßgebliche Bedeutung zu. Diese stellt durch ihren Satz 1 zum einen sicher, dass der Gesetzgeber seinen verfassungsrechtlichen Prüfungs- und Beobachtungspflichten nachkommt. Zum anderen gibt sie in ihrem Satz 2 den pharmazeutischen Unternehmen die Möglichkeit, Ausnahmen vom Preismoratorium zu beantragen. Der ab 01. 07. 2018 erstmals durchzuführende obligatorische Inflationsausgleich (§ 130a Abs. 3a SGB V) mildert die Eingriffsintensität zusätzlich ab.
D. Im Verfahren der Preisbildung befindliche Arzneimittel: Gliptine In verfassungsrechtlicher Hinsicht ebenfalls nicht ganz unproblematisch ist der Umgang mit Präparaten, die sich bereits im Verfahren der Preisbildung befinden. Ausweislich des erklärten gesetzgeberischen Willens410 wurde die Bestandsmarktbewertung nur für diejenigen Arzneimittel abgeschafft, für die bis zum 01. 01. 2014 noch kein Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Feststellung eines Zusatznutzens gefasst wurde. Arzneimittel – betroffen sind ausschließlich Antidiabetika aus der Gruppe der sogenannten Gliptine411 – bei denen ein solcher Beschluss bereits gefasst wurde, sollen das weitere Verfahren wie ursprünglich geplant durchlaufen.
410
BT-Drs. 18/201, S. 6.
411 Gliptine (synonym: Dipeptidylpeptidase-4-Inhibitoren, DPP4-Inhibitoren, DPP-IV-
Inhibitoren oder Inkretinverstärker) sind Substanzen, die den Abbau des Hormons Glucagon-like Peptid 1 (GLP-1) durch das Enzym Dipeptidylpeptidase 4 (DPP4) hemmen. Die Insulinausschüttung erfolgt deshalb nur noch nach Nahrungsaufnahme. Ein Wirkprinzip, dass im Gegensatz zur Vergleichstherapie – den sogenannten Sulfonylharnstoffen – das Auftreten potenziell lebensgefährlicher Unterzuckerungen verhindert, vor allen Dingen aber die insulinproduzierenden Zellen nicht übermäßig belastet. Insulin wird dadurch nur bei einem tatsächlichen Bedarf und nicht mehr ständig ausgeschüttet. Der GBA bescheinigte einigen Präparaten wegen der verringerten Häufigkeit von Unterzuckerungen einen geringen Zusatznutzen. Bei anderen Präparaten hingegen konnte kein, den Anforderungen genügendes, Dossier vorgelegt werden, sodass § 35a Abs. 1 S. 5 SGB V griff (dazu bereits: § 5 A. sowie § 5 B. II. 8. d); vgl. auch GBA Gemeinsamer Bundesausschuss, Nr. 36/2013 Erste Bestandsmarktbewertungen abgeschlossen: zwei Gliptine mit geringem Zusatznutzen – Beschlüsse befristet, Pressemitteilung vom 01. 10. 2013, S. 1 – 2.
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I. Ungleichbehandlung von Bestandsmarktpräparaten Obwohl alle Präparate zum Bestandsmarkt gehören, werden sie in unterschiedlicher Weise behandelt. Man könnte sich deshalb auf den Standpunkt412 stellen, dass eine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung von wesentlich Gleichem vorliegt. Da diese Differenzierung an einen bestimmten Sachverhalt – nämlich an einen vor dem 01. 01. 2014 gefassten Beschluss – anknüpft, handelt es sich um keine personenbezogene Differenzierung. Unabhängig davon, ob man überhaupt an der Unterscheidung zwischen sach- und personenbezogenen Kriterien festhalten will,413 ist vorliegend deswegen keine strenge Verhältnismäßigkeitskontrolle durchzuführen. Der zur Rechtfertigung in jedem Falle erforderliche sachliche Grund kann allerdings nicht in der Verfahrensvereinfachung gesehen werden. Zwar wurde der Bestandsmarktaufruf wegen seines hohen administrativen und methodischen Aufwandes beendet.414 Allerdings ist dieser Aufwand bei Präparaten, für die bereits ein Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses über die Feststellung eines Zusatznutzens gefasst wurde, bereits betrieben worden und kann deshalb nicht mehr eingespart werden. Auch die angesprochenen415 Schwierigkeiten bei der gerichtsfesten Definition der Vergleichstherapie können insoweit nicht fruchtbar gemacht werden. Zum einen waren die Gliptine zum Zeitpunkt des Bestandsmarktaufrufes erst einige Jahre auf dem Markt und somit nicht bzw. zumindest nicht zwingend der medizinische Standard. Zum anderen ging man dem Problem der Bestimmung der zweckmäßigen Vergleichstherapie durch die Ungleichbehandlung von Präparaten mit und ohne Nutzenbewertungsbeschluss nicht aus dem Weg. Allerdings kann der sachliche Grund gerade in diesem, bereits mit hohem Aufwand durchgeführten Nutzenbewertungsverfahren, gesehen werden, das – ganz im Gegensatz zum pauschalierenden erhöhten Grundrabatt – im Rahmen des „verhandlungsbasierten Preisfindungsverfahrens“416 stärker nach dem Nutzen differenzierenden Arzneimittelpreisen zugänglich ist. Außerdem würden andernfalls die dafür eingesetzten finanziellen Mittel, darunter auch Versichertenbeiträge, frustrierte Aufwendungen darstellen. Abgesehen davon erscheint es ohnehin überzeugender, in dem Nutzenbewertungsbeschluss eine „klare Zäsur“417 zu sehen, da ab dann mit den Erstattungsbetragsverhandlungen eine neue Verfahrensphase ohne Beteiligung des GBA beginnt. Der gemeinsame Oberbegriff ist dann nicht mehr in der Zugehörigkeit der Präparate 412
Ausschussdrucksache 18(14)0009 (5), S. 29. Vgl. BVerfGE 127, 263 (280); Britz, NJW 2014 S. 347; § 5 B. IV. 414 § 5 A; BT-Drs. 18/201, S. 6. 415 § 5 A. 416 Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 41. 417 Ausschussdrucksache 18(14)0009(2), S. 3; Sodan, Ausschussdrucksache 18(14) 0009(18), S. 8. 413
D. Im Verfahren der Preisbildung befindliche Arzneimittel: Gliptine
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zum Bestandsmarkt, sondern im Vorhandensein eines Nutzenbewertungsbeschlusses zu sehen. So gewendet läge überhaupt keine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung wesentlich Gleichens vor. Dagegen wird vorgebracht, dass in dem Nutzenbewertungsbeschluss keine klare Zäsur gesehen werden könne. So habe das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg in seinen Urteilen418 vom 15. 05. 2013 festgestellt, dass die Aufforderung zur Einreichung von Nutzenbewertungsdossiers zur Bestandsmarktbewertung ein Normsetzungsverfahren einleite. Als reiner Vorbereitungshandlung zur Preisvereinbarung komme ihm deshalb keine Verwaltungsaktsqualität zu. Nachdem Rechtsschutz somit erst nach Abschluss des gesamten Nutzenbewertungsverfahrens gewährt werden könne, verböte es sich, im gefassten Nutzenbewertungsbeschluss ein Unterscheidungsmerkmal zu sehen.419 Eine Argumentation, die schon alleine deshalb gewichtigen Bedenken begegnet, weil die Bestimmung der Merkmale, nach denen Sachverhalte als hinreichend gleich anzusehen sind, mehr Tat- als Rechtsfrage ist. Die Gruppenbildung ist folglich nicht zu beanstanden. Entsprechendes gilt für die Stichtagsregelung zum 01. 01. 2014. Sich aus der formalen Starrheit von Stichtagen ergebende Ungleichheiten sind nämlich unter der Voraussetzung hinzunehmen, dass die Wahl des Zeitpunktes, orientiert am gegebenen Sachverhalt, sachlich vertretbar und deshalb willkürfrei ist.420 Das ist vorliegend wegen des ursprünglich zum 31. 12. 2013 auslaufenden Preismoratoriums (§ 130a Abs. 3a a. F.) der Fall. Sowohl das 13. als auch das 14. SGB V Änderungsgesetz nahmen maßgeblich Bezug auf dieses Datum.
II. Einzelfallgesetz Auch der im gleichen Atemzug mit der Ungleichbehandlung von Bestandsmarkpräparaten gebrachte Einwand421, es handele sich um ein gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG unzulässiges Einzelfallgesetz, verfängt nicht. Bereits die Eröffnung des Anwendungsbereichs der Norm kann mit guten Gründen in Zweifel gezogen werden. Nach der älteren, bislang aber noch nicht aufgegebenen Rechtsprechung422, soll Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG wegen seines systematischen Bezuges zum Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG lediglich für Grundrechte gelten, die von ihrem Text her ausdrücklich durch oder auf Grund eines Gesetzes eingeschränkt 418 LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. Mai 2013 – L 7 KA 105/12KL –, juris; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. Mai 2013 – L 7 KA 112/12KL –, juris. 419 Ausschussdrucksache 18(14)0009 (5), S. 29. 420 BVerfGE 24, 220 (228); 29, 283 (299); 58, 81 (127); 75, 78 (106); 87, 1 (43); 101, 239 (270); Boysen, in: Münch/Kunig, GG, 2012 Art. 3 Rn. 95; Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 9. 421 Ausschussdrucksache 18(14)0009 (5), S. 29. 422 BVerfGE 24, 367 (396).
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werden können. Keine Anwendung hingegen soll er auf lediglich grundrechtsrelevante Regelungen konkretisierender, ausgestaltender oder prägender Art finden. Die hier in Rede stehenden Grundrechte der pharmazeutischen Unternehmer wären somit überhaupt nicht von seinem Anwendungsbereich erfasst423. Ein mit der Gegenansicht424, die alle Grundrechte einschließlich der Gleichheitsrechte sowie der grundrechtsgleichen Rechte einbeziehen wollte, schlechterdings unvereinbares Ergebnis. Nach mittlerweile überwiegend vertretener425 Auffassung in der Literatur, soll Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG unabhängig vom jeweiligen Normtext auf alle Einschränkungsmöglichkeiten von Freiheitsgrundrechten und damit auch auf die Berufsfreiheit anwendbar sein. Folgt man einem der beiden zuletzt genannten Ansätze, so gälte es weiter zu prüfen, ob überhaupt ein grundrechtseinschränkendes Gesetz vorliegt, das nicht allgemein, sondern nur für den Einzelfall gilt. Die Anforderung, dass das Gesetz allgemein zu sein hat, ist erfüllt, wenn wegen der abstrakten Fassung des gesetzlichen Tatbestandes nicht absehbar ist, auf wie viele und welche Fälle das Gesetz Anwendung findet. Das schließt die Regelung eines Einzelfalls jedoch nicht aus, wenn der Sachverhalt so beschaffen ist, dass es nur einen Fall dieser Art gibt und die Regelung dieses singulären Sachverhalts von sachlichen Gründen getragen wird. Das Verbot des einschränkenden Einzelfallgesetzes stellt somit nur eine Konkretisierung des allgemeinen Gleichheitssatzes dar. Deswegen wäre es auch nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass eine etwaige Einzelfallregelung gerechtfertigt werden könne.426 Dabei kommt auch hier427 dem bereits mit hohem Aufwand durchgeführten Nutzenbewertungsverfahren rechtfertigende Wirkung zu. Andernfalls wären die dafür eingesetzten Mittel frustrierte Aufwendungen. Zudem ist das verhandlungsbasierte Erstattungsbetragsverfahren – im Gegensatz zur pauschalisierenden, erhöhten Grundrabattierung – eher differenzierenden Lösungen zugänglich. Die gesetzgeberische Entscheidung, bestehende Nutzenbewertungsbeschlüsse unangetastet zu lassen und nur den Bestandsmarktaufruf als solchen zu beenden, ist somit selbst dann rein sachlicher Natur, wenn tatsächlich nur ein pharmazeutischer Unternehmer davon betroffen wäre. Dazu kommt, dass sämtliche Regelungen des 423
Anders noch BVerfGE 13, 225 (229). Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2, 1994, S. 729 – 730 m. w. N.; in diese Richtung auch BVerfGE 25, 371 (398 f.); differenzierend: Remmert, in: MD, GG, 2016 (78 EL), Art. 19 Abs. 1 Rn. 27 – 34. 425 Dreier, in: Dreier, GG, 2013 Art. 19 Abs. 1 Rn. 11; Krebs, in: Münch/Kunig, GG, 2012 Art. 19 Rn. 13; Lege, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009 § 66 Rn. 13; Sachs, in: Sachs, GG, 2014 Art. 19 Rn. 16 – 18. 426 Aus der Rechtsprechung: BVerfGE 25, 371 (399); 85, 360 (374); 121, 30 (49); 134, 33 (88); LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Mai 2014 – L 1 KR 108/14 KL ER –, juris Rn. 140; aus der Literatur: Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 9 Rn. 27; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 6 Rn. 328 – 329. 427 § 5 D. I. 424
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14. SGB V Änderungsgesetzes ohnehin abstrakt-genereller Natur sind.428 Man könnte allenfalls noch erwägen, dass es sich um ein getarntes und damit unzulässiges Individualgesetz handelt. Ein solches liegt aber nicht schon dann vor, wenn nur der Anlassfall geregelt werden soll und kann, weil es weitere Fälle dieser Art nicht gibt. Ist der Tatbestand eines derartigen Gesetzes abstrakt-generell formuliert, kommt der gesetzgeberischen Intention maßgebliche Bedeutung zu.429 An dieser bestehen im Falle des 14. SGB V Änderungsgesetzes jedoch keinerlei rechtsstaatliche Bedenken. Ein Verstoß gegen Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG ist deswegen unter keinem denkbaren rechtlichen Gesichtspunkt gegeben.
III. Wegfall der Rechtsgrundlage Aufgrund der Aufhebung des § 35a Abs. 6 SGB V a. F. könnte jedoch nachträglich die Rechtsgrundlage für sämtliche von dieser Bestimmung tangierten Verfahren entfallen sein. Unabhängig vom jeweiligen Verfahrensstand könnten deswegen, trotz Vorliegens eines formalen Nutzenbewertungsbeschlusses, keine Erstattungsbetragsverhandlungen gemäß § 130b SGB V aufgenommen werden. Sie verstießen nämlich gegen den Vorbehalt des Gesetzes und wären schlicht verfassungswidrig.430 Tatsächlich scheint die durch das 14. SGB V Änderungsgesetz in das SGB V eingefügte Vorschrift des § 130b Abs. 3a S. 1 SGB V diese Argumentation auf den ersten Blick zu stützen. Heißt es dort doch ausdrücklich, dass ein nach § 130b Abs. 1 SGB V vereinbarter Erstattungsbetrag für alle Arzneimittel mit dem gleichen neuen Wirkstoff gilt, die ab dem 01. Januar 2011 in Verkehr gebracht worden sind.431 Ein Bestandsmarktarzneimittel kann aber per definitionem kein neues Arzneimittel und schon gar nicht nach dem 01. Januar 2011 in Verkehr gebracht worden sein. Denn dann unterläge es der obligatorischen frühen Nutzenbewertung gemäß § 35a Abs. 1 SGB V. Indes liefe eine derartige Auslegung des einfachen Rechts dem ausdrücklich erklärten Willen des Gesetzgebers zuwider. Dieser hob im Gesetzgebungsverfahren bekanntlich besonders hervor, dass Bestandsmarktbewertungsverfahren, bei denen bereits ein Nutzenbewertungsbeschluss gefasst wurde, wie geplant zu Ende geführt werden sollen.432 Zudem war Sinn und Zweck der Neufassung des § 130b Abs. 3a S. 1 SGB V das grundsätzlich nachvollziehbare Anliegen, dass ein Erstattungsbetrag nach § 130b Abs. 1 S. 1 SGB V für alle Arzneimittel mit demselben Wirkstoff 428 LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Mai 2014 – L 1 KR 108/14 KL ER –, juris Rn. 140 – 143. 429 BVerfGE 10, 234 (245); Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 3 Rn. 200 – 201. 430 Ausschussdrucksache 18(14)0009 (5), S. 29. 431 Vgl. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Mai 2014 – L 1 KR 108/14 KL ER –, juris Rn. 130 – 132. 432 BT-Drs. 18/201, S. 6.
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gilt und somit ein Gleichlauf zu der ebenfalls wirkstoffspezifischen Zusatznutzenbewertung hergestellt wird.433 Außerdem wäre es auch aus systematischen Gründen naheliegender, eine derartige Einschränkung in § 130b Abs. 1 SGB V zu regeln.434 Abgesehen von diesen einfach-rechtlichen Gründen, sprechen aber auch spezifisch verfassungsrechtliche Gründe gegen die Annahme, die Rechtsgrundlage für eine Erstattungsbetragsvereinbarung sei entfallen. Recht im Rang unterhalb eines förmlichen Gesetzes bleibt nämlich auch bei nachträglichem Fortfall der Ermächtigungsgrundlage gültig.435 Die in Rede stehenden Nutzenbewertungsbeschlüsse des Gemeinsamen Bundesausschusses sind auf der seinerzeit gültigen Rechtsgrundlage der §§ 35a Abs. 6 a. F., Abs. 3 SGB V gefasst worden und wurden somit Bestandteil der Arzneimittelrichtlinie. Gleichzeitig sind sie Voraussetzung für die Vereinbarung der Erstattungsbeträge nach § 130b Abs. 1 SGB V, der den Spitzenverband Bund der Krankenkassen und den pharmazeutischen Unternehmer unter Zugrundelegung des Nutzenbewertungsbeschlusses sogar dazu verpflichtet, Erstattungsbeträge zu vereinbaren. Im Unterlassensfalle stünde somit seitens des Spitzenverbandes Bund der Krankenkassen sogar ein Verstoß gegen den Vorrang und des Gesetzes im Raum.
E. Bestandsmarktunternehmen im Wettbewerb mit neuen Wirkstoffen Ein anderes gleichheitsrechtliches Problem stellt das ersatzlose Entfallen der Nutzenbewertung von patentgeschützten Bestandsmarktpräparaten dar, die im Wettbewerb mit neu zugelassenen Präparaten stehen. Für diese ist nämlich nach wie vor eine obligatorische Nutzenbewertung gemäß § 35a Abs. 1 S. 1 SGB V durchzuführen. Bescheinigt der Gemeinsame Bundesausschuss diesen Präparaten einen Zusatznutzen und erkennt sie gar noch als Praxisbesonderheiten an, kann dies mit erheblichen wirtschaftlichen Nachteilen für die Hersteller von Bestandsmarktpräparaten aus der selben Substanzklasse oder des gleichen Therapiegebietes verbunden sein. Im Extremfall wäre es denkbar, dass Ärzte das Bestandsmarktpräparat wegen der nicht vorhandenen Privilegierung als anerkannte Praxisbesonderheit (§ 130b Abs. 2 S. 1 SGB V) im Rahmen der Wirtschaftlichkeitsprüfungen überhaupt nicht mehr verordnen. In jedem Falle ist zu erwarten, 433
BT-Drs. 18/606, S. 13 – 14. LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Mai 2014 – L 1 KR 108/14 KL ER –, juris Rn. 130 – 138 mit weiteren Argumenten gegen eine derartige Auslegung des einfachen Rechts. 435 In Bezug auf Ermächtigungsgrundlagen für Rechtsverordnungen: BVerfGE 9, 3 (12); 12, 341 (346 f.); 31, 357 (362 f.); 78, 179 (198); bezüglich der Arzneimittelrichtlinie: BSGE 107, 287 (304); LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15. Mai 2013 – L 7 KA 113/10 KL –, juris Rn. 44. 434
E. Bestandsmarktunternehmen im Wettbewerb mit neuen Wirkstoffen
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dass ein Bestandsmarktpräparat im Wettbewerb mit einem neu zugelassenen Arzneimittel, dem ein Zusatznutzen attestiert wurde, bei einem ähnlichen Preis geringere Marktchancen hat.436 Wesentlich Gleiches in Form der Zugehörigkeit des Arzneimittels zu einer Substanzklasse bzw. eines Anwendungsgebietes wird damit ungleich behandelt. Ein sachlicher Grund dafür ist nicht ersichtlich. Man könnte allenfalls erwägen, dass es sich wegen der Abschaffung zum 01. 01. 2014 um eine aus der formalen Starrheit von Stichtagen resultierende und deshalb hinzunehmende Ungleichbehandlung handelt. Allerdings sahen sich Hersteller von Bestandsmarktpräparaten bereits vor Inkrafttreten mit diesem Problem konfrontiert, da es zu keinem Zeitpunkt in ihrem Ermessen stand, die Durchführung einer Bestandsmarktbewertung ihrer Produkte anzustoßen. Dies stand gemäß § 35a Abs. 6 S. 1 SGB V a. F. im alleinigen Ermessen des Gemeinsamen Bundesausschusses. Man hätte sich aber in derartigen, die Marktchancen stark beeinflussenden Konstellationen, mit guten Gründen auf den Standpunkt stellen können, dass eine Ermessensreduktion auf Null vorliegt und deshalb eine Bestandsmarktbewertung durchzuführen ist. Bei Lichte betrachtet handelt es sich jedenfalls um kein direkt aus der abgeschafften Bestandsmarktbewertung resultierendes Problem. Vielmehr reichen seine Wurzeln auf das AMNOG zurück. Denn dieses schuf das Nebeneinander von obligatorischer Nutzenbewertung neuer Wirkstoffe gemäß § 35a Abs. 1 SGB V und fakultativer Bewertung bereits zugelassener und im Verkehr befindlicher Arzneimittel (§ 35a Abs. 6 S. 1 SGB V a. F.). Ein Umstand, dessen sich offenbar auch der Hersteller des Arzneimittels „Brilique“ mit dem Wirkstoff Ticagrelor zur Behandlung bestimmter Herz-Kreislauferkrankungen bewusst war. Dieser hätte nämlich die Möglichkeit gehabt, durch eine frühere Zulassung seines Präparates die obligatorische Nutzenbewertung zu vermeiden. Stattdessen stellte er sich dem Nutzenbewertungsverfahren, im Rahmen dessen seinem Präparat nicht nur ein beträchtlicher Zusatznutzen, sondern sogar die Anerkennung als Praxisbesonderheit bescheinigt wurde.437 Zur Lösung wurde vorgeschlagen, den Bestandsmarktpräparate herstellenden pharmazeutischen Unternehmen die Möglichkeit zu geben, eine Kosten-Nutzen-Bewertung auf ihren Antrag hin durchzuführen.438 Dogmatisch hätte man dies über eine analoge Anwendung der §§ 139a Abs. 3 Nr. 5 i.V.m. § 92 SGB V439 oder aber der §§ 35a Abs. 5a i.V.m. 130b Abs. 3a S. 4 SGB V begründen können. Der Gesetzgeber hingegen entschied sich in dem gegen Ende der 18. Legislaturperiode verabschiedeten AM-VSG dazu in § 35a Abs. 6 SGB V anzuordnen, dass lediglich dann eine 436
Sträter, Pharmind 2014 S. 2; Wille, Ausschussdrucksache 18(14)0009(14), S. 90. GBA Gemeinsamer Bundesausschuss, Nr. 45/2011 Erster G-BA-Beschluss zur Bewertung des Zusatznutzens eines neuen Arzneimittels: Ticagrelor hat beträchtlichen Zusatznutzen für bestimmte Patientengruppen, Pressemitteilung vom 15. 12. 2011, S. 1. 438 Sträter, Pharmind 2014 S. 2. 439 Wille, Ausschussdrucksache 18(14)0009(14), S. 90. 437
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Nutzenbewertung durchgeführt werden kann, wenn für das Bestandsarzneimittel auch eine neue Zulassung mit neuem Unterlagenschutz erteilt wird. Die Ausgestaltung des näheren Verfahrens überantwortete er dabei der Verfahrensordnung des GBA. Ob bzw. inwieweit somit tatsächlich effektiv Abhilfe geschaffen wird, hängt folglich nicht zuletzt von der konkreten Ausgestaltung der Verfahrensordnung ab.
F. Auswirkungen auf PKV Standen bislang die aus der abgeschafften Bestandsmarktbewertung resultierenden verfassungsrechtlichen Fragestellungen bezüglich der gesetzlichen Krankenversicherung im Fokus, werden nachfolgend die Auswirkungen auf die private Krankenversicherung näher beleuchtet.
I. Gleichlauf zwischen GKV und PKV Gemäß §§ 1, 1a AMRabG haben die pharmazeutischen Unternehmer den Unternehmen der privaten Krankenversicherung sowie den Kostenträgern nach beamtenrechtlichen Vorschriften (Beihilfe, Fürsorge) für verschreibungspflichtige Arzneimittel ebenfalls Abschläge bzw. Differenzbeträge entsprechend den §§ 130a Abs. 1, 1a, 2, 3, 3a, 3b sowie 130b Abs. 1 SGB V zu gewähren. Voraussetzung dafür ist, dass die Versicherer die Kosten tatsächlich ganz oder teilweise erstattet haben. Zur Ermittlung der Beträge sind gemäß § 1 S. 3 AMRabG die von den Versicherten zu tragenden Selbst- und Eigenbehalte nicht zu berücksichtigen. Die Beträge fallen also stets in voller Höhe an, wenn Arzneimittelkosten ganz oder aufgrund von Selbstbehalten auch nur teilweise erstattet wurden. Werden sie aufgrund von Selbstbehalten nur teilweise erstattet, so sind die gewährten Rabatte im Innenverhältnis zwischen PKV und Beihilfe gemäß §§ 1 S. 1, 1a S.1 AMRabG „nach dem Anteil der Kostentragung“ aufzuteilen. Nur dann, wenn etwa aufgrund von Selbstbehalten keinerlei Kosten für das Arzneimittel erstattet wurden, muss der pharmazeutische Unternehmer auch keine Abschläge bzw. Differenzbeträge gewähren.440 Der Einzug der Rabatte erfolgt gemäß § 2 AMRabG über die Zentrale Stelle zur Abrechnung von Arzneimittelrabatten (ZESAR), wobei Einzelheiten zur Abrechnung und zur Zahlungsfrist vertraglich abweichend vereinbart werden können. Die pharmazeutischen Unternehmer können in begründeten Fällen sowie in Stichproben die Abrechnung der Abschläge innerhalb eines Jahres nach Geltendmachung durch einen Treuhänder überprüfen lassen (§ 3 AMRabG). Die vereinnahmten Abschläge dürfen von den Unternehmen der 440 BT-Drs. 17/13770, S. 26; BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 68 – 69; BGH, Urteil vom 12. November 2015 – I ZR 167/14 –, juris Rn. 68 – 69.
F. Auswirkungen auf PKV
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privaten Krankenversicherung ausschließlich zur Vermeidung oder Begrenzung von Prämienerhöhungen oder zur Prämienermäßigung bei den Versichertenbeständen verwendet werden (§ 1 S. 4 AMRabG). Ein gesondertes Kontrollverfahren zur Überprüfung der zweckgebundenen Verwendung ist nicht vorgesehen. Das Arzneimittelrabattgesetz stellt somit weitestgehend einen Gleichlauf zwischen der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung her. Ein Gleichlauf, der bereits bei der Vergütung stationärer Krankenhausleistungen im Rahmen von Fallkostenpauschalen (§ 17b Abs. 2 KHG) oder den gesetzlich vorgegebenen Handelsspannen im Arzneimittelvertrieb (§§ 2 Abs. 1, 3 AMPreisV) per Gesetz erzwungen wurde. Ungeachtet dessen ist er nach wie vor die Ausnahme von der Regel. Üblicherweise haben Selbstzahler für ein und dieselbe Gesundheitsleistung einen deutlich höheren Preis zu bezahlen als gesetzlich Krankenversicherte.
II. Grundrecht der Berufsfreiheit Ein Tatsachenbefund, der neben einer naheliegenden Prüfung des AMRabG am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes auch erneut die Frage nach der Vereinbarkeit mit der Berufsfreiheit der pharmazeutischen Unternehmer aufwirft. Ohne Weiteres kann dabei nicht auf das zur gesetzlichen Krankenversicherung Gesagte verwiesen werden. Die dem Gemeinwohlbelang der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung beigemessene, starke Rechtfertigungskraft kann im Bereich der privaten Krankenversicherung naturgemäß keine durchschlagende Wirkung entfalten. Um so bedauerlicher ist es, dass das Bundesverfassungsgericht eine Urteilsverfassungsbeschwerde, die sich mittelbar gegen § 1 AMRabG richtete, ohne nähere Begründung nicht zur Entscheidung annahm441. Es bleibt abzuwarten, ob es noch einmal die Möglichkeit442 erhält, über den in § 1 AMRabG angeordneten Gleichlauf zwischen PKV und GKV zu entscheiden. 1. Legitimes Ziel des AMRabG Das Gericht müsste dann zunächst einmal den Gemeinwohlbelang herausarbeiten, zu dessen Gunsten in die Berufsausübungsfreiheit der pharmazeutischen Unternehmer eingegriffen wird.
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BVerfG, Beschluss vom 09. 06. 2016 – 1 BvR 2895/15 (BGH). Urteil des OLG Nürnberg vom 15. Juli 2014 – 4 U 286/14 –, unveröffentlicht wurde vom BGH mit Urteil vom 12. November 2015 – I ZR 167/14 –, juris kassiert und zurückverwiesen. Eine Entscheidung darüber steht noch aus. Eine erneute Befassung des BVerfG mit dem AMRabG ist somit derzeit zumindest möglich, wenngleich nicht sehr wahrscheinlich; näher dazu: Butzer, MedR 2017, S. 304. 442 Das
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a) Bezahlbarer Krankenversicherungsschutz Ausweislich der Gesetzesbegründung443 dient § 1 AMRabG dazu, die Funktionsfähigkeit der privaten Krankenversicherung im Interesse einer ausreichenden und bezahlbaren Gesundheitsversorgung der Versicherten dauerhaft zu sichern. Bezahlbar ist sie dann, wenn die dauerhafte Finanzierbarkeit eines kostengünstigen Krankenversicherungsschutzes sichergestellt ist. Ein Ziel, das sich auch zwanglos aus § 1 S. 4 AMRabG ergibt, wonach die erzielten Einsparungen ausschließlich zur Vermeidung oder Begrenzung von Prämienerhöhungen oder zur Prämienermäßigung bei den Versichertenbeständen verwendet werden dürfen. Man könnte allerdings auf die Idee kommen, den auf diese Weise geschützten Versicherungsnehmern die Schutzbedürftigkeit abzusprechen. Auf den ersten Blick scheint es sich doch um finanziell privilegierte Gruppen, wie Beamte, Selbstständige oder Arbeitnehmer mit einem Einkommen oberhalb der Versicherungspflichtgrenze zu handeln, die gerade wegen ihrer fehlenden sozialen Schutzbedürftigkeit versicherungsfrei bzw. nicht gesetzlich krankenversicherungspflichtig sind. Im Ergebnis würde also eine ohnehin schon wirtschaftlich privilegierte Bevölkerungsgruppe finanziell noch besser gestellt werden.444 Dafür spricht, dass die Abschläge dann nicht anfallen, wenn der Versicherte aufgrund von vereinbarten Selbstbehalten keinen Erstattungsanspruch gegen seine private Krankenversicherung hat. Der Gesetzgeber sah ihn offenbar als so leistungsfähig an, dass er diese Beträge selbst aufbringen kann. Man würde dann aber darüber hinweg sehen, dass lediglich ein Fünftel aller Privatversicherten ein Einkommen oberhalb der Jahresarbeitsentgeltgrenze bezieht. Auch unter den beihilfeberechtigten Beamten und Pensionären finden sich zahlreiche Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen. Zudem zeichnen sich beileibe nicht alle privat krankenversicherten Selbstständigen durch eine besondere wirtschaftliche Leistungsfähigkeit aus.445 Umgekehrt finden sich in der Realität auch nur begrenzt Anhaltspunkte dafür, dass sich in der gesetzlichen Krankenversicherung vor allen Dingen Empfänger geringer bis mittlerer Einkommen und damit besonders schutzbedürftige Personen versammeln.446 Dennoch stellt das Ziel, einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz zu gewährleisten, keinesfalls ein von der Ver443
BT-Drs. 17/3698, S. 60 – 61. Binder/Huster/Kluckert, MedR 2016 S. 241; Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 6; Paal/Rehmann, A&R 2011 S. 53. 445 BT-Drs. 17/3698, S. 61; LG Saarbrücken, Urteil vom 12. Mai 2014 – 9 O 221/12 –, unveröffentlicht, S. 11; OLG München, PharmR 2014, S. 304; OLG Nürnberg, Urteil vom 15. Juli 2014 – 4 U 286/14 –, unveröffentlicht, S. 8. 446 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 426 m. w. N. 444
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fassung verbotenes und damit illegitimes Gemeinwohlanliegen dar. Vielmehr ist der Schutz in Fällen von Krankheit in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine der wichtigsten Grundaufgaben des Staates überhaupt.447 Insofern kann man sich mit guten Gründen auf den Standpunkt stellen, dass der Staat mit der Sicherstellung der Bezahlbarkeit eines Systems, das einen angemessenen Schutz vor den Wechselfällen des Lebens wie Krankheit bietet, sogar eine sich aus dem Sozialstaatsprinzip ergebende Pflicht erfüllt (Art. 20 Abs. 1, 28 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 2, 1 Abs. 1 GG). Nur dann ist nämlich im herrschenden zweigliedrigen Versicherungssystem gewährleistet, dass tatsächlich allen seinen Bürgern ein bezahlbarer Krankenversicherungsschutz zuteilwerden kann.448 Zudem sähe sich der Staat unter Umständen dem Vorwurf ausgesetzt, seinen Bürgern Unmögliches abzuverlangen, wenn er einerseits eine Versicherungspflicht in den §§ 5 SGB V bzw. 193 Abs. 2 VVG statuiert, andererseits aber den Weg in die gesetzliche Krankenversicherung für bestimmte Personengruppen versperrt, ohne ihnen zugleich Möglichkeiten zu eröffnen sich privat zu versichern. Auch das Bundesverfassungsgericht449 hat konstatiert, der Gesetzgeber könne sich für das Ziel, allen Bürgern einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz in der gesetzlichen oder privaten Krankenversicherung zu gewährleisten, auf das Sozialstaatsgebot des Art. 20 Abs. 1 GG berufen. Ein dictum, das sich zwar auf die Regelungen zur Einführung eines Basistarifes bezog, mit dem in erster Linie Bürgern, die bislang noch keinen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz besaßen, selbiger ermöglicht werden sollte. Weshalb es dem Staat aber nach erfolgter Einführung des Basistarifes verwehrt sein sollte450, seinen privat versicherten Bürgern eine ausreichende und bezahlbare Gesundheitsversorgung dauerhaft zu sichern, erschließt sich nicht einmal auf den zweiten Blick.451 Dazu kommt, dass es keineswegs jedem Privatversicherten offen steht, von einem anderen Tarif in den Basistarif zu wechseln. Ein Wechsel ist vielmehr nur unter den Voraussetzungen des § 204 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 Hs. 5 VVG möglich.452 447 BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 38; BVerfGE 68, 193 (209); 113, 167 (215); näher dazu bereits: § 5 B. II. 6. b). 448 Butzer/Soffner, NZS 2011 S. 842; Dewitz von, in: Beck’scher OK, SozR, 2015 § 130a Rn. 6; Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 274. 449 BVerfGE 123, 186 (242); BVerfG, GesR 2013, S. 605; näher dazu: § 6 B. III. 4. c) dd). 450 Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 7; Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 199 – 200; wohl auch: Binder/Huster/Kluckert, MedR 2016 S. 237 – 238. 451 BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 36; BGH, Urteil vom 12. November 2015 – I ZR 167/14 –, juris Rn. 29. 452 OLG München, PharmR 2014, S. 303 – 304; OLG Nürnberg, Urteil vom 15. Juli 2014 – 4 U 286/14 –, unveröffentlicht, S. 8.
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b) Moral hazard und Erhalt der PKV Ebenfalls unter das legitime Ziel einer dauerhaften Sicherung eines bezahlbaren Krankenversicherungsschutzes subsumierbar, zumindest aber eng mit ihm verbunden, sind die Ziele der Vermeidung eines moral hazard zulasten der PKV und ihr Erhalt als Gesamtsystem.453 Ohne das AMRabG könnten die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie versucht sein, Preiserhöhungen vorzunehmen, die dann allein zulasten der Privatversicherten gingen. Folglich würden die privaten Krankenversicherer, die Träger der Beihilfe und Heilfürsorge sowie sonstige Kostenträger, zusätzlich belastet werden. Den genannten Kostenträgern stehen jedoch keine angemessenen alternativen Reaktionsmöglichkeiten offen, um überhöhte Preisforderungen effektiv abzuwehren.454 Nicht zuletzt auch deswegen lässt sich das Arzneimittelrabattgesetz auch als Beitrag zum Erhalt des Gesamtkrankenversicherungssystems begreifen. Die privaten Versicherungsunternehmen waren in der Vergangenheit nämlich wiederholt Adressat einschränkender Vorgaben des einfachen Gesetzgebers. Dieser belastete sie insbesondere in ihrer grundrechtlich geschützten Vertrags- und Kalkulationsfreiheit, weswegen das Bundesverfassungsgericht in besagtem Urteil455 zum Basistarif Beobachtungspflichten anordnete. Eine verfassungsgerichtlich angeordnete Abmilderung vorangegangener Eingriffe456 – genannt sei hier nur die erzwungene Einführung eines Basistarifs nebst teilweiser Portabilität der Alterungsrückstellungen – durch kompensierende Instrumente stellt aber einen legitimen Gemeinwohlgrund dar. Sie verteilt die aus der sozialen Verantwortung des Staates resultierenden Lasten besser zwischen den Unternehmen der pharmazeutischen Industrie einerseits und den Unternehmen der Versicherungswirtschaft andererseits. Das Geschäftsmodell der PKV wird durch die Arzneimittelkostensenkung gestärkt. Die angeordnete zweckgebundene Mittelverwendung hilft den Unternehmen der privaten Versicherungswirtschaft, einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz für ihre Versicherten zu gewährleisten.457 453 Ausweislich des BGH, Urteils vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 39 stellt sich das vom Gesetzgeber verfolgte Ziel der dauerhaften Funktionsfähigkeit der privaten Krankenversicherung als Annex des Postulats einer ausreichenden und bezahlbaren Gesundheitsversorgung der Versicherten dar; Butzer, MedR 2016 S. 272. 454 BT-Drs. 17/3698, S. 60 – 61; Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 200 – 201; anders: Butzer/Soffner, NZS 2011 S. 846 sowie Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 274, die aus dem moral hazard Verhalten resultierende, quersubventionierende Effekte zu Gunsten der GKV begrüßen. 455 BVerfGE 123, 186 (266); näher dazu: § 6 B. III. 4. c) dd) sowie Boetius, Die Systemveränderung in der privaten Krankenversicherung (PKV) durch die Gesundheitsreform, 2008, S. 7 – 22. 456 Ausführlich auch zu anderen Eingriffen wie der Versicherungspflicht und dem Kündigungsverbot: Boetius, Die Systemveränderung in der privaten Krankenversicherung (PKV) durch die Gesundheitsreform, 2008, S. 2 – 46.
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c) Entlastung öffentlicher Haushalte aa) Zweckbindung
Soweit es um einen Anspruch der Beihilfeträger selbst geht, vermag dieses Gemeinwohlziel §§ 1 Satz 1, 1a S.1 AMRabG allerdings in der Tat nicht zu rechtfertigen.458 Jedoch ist die Schonung öffentlicher Kassen im Allgemeinen ein anerkanntes legitimes Ziel für Grundrechtseingriffe.459 Lediglich eine – hier nicht vorliegende460 – Einschränkung der Berufswahlfreiheit vermag das fiskalische Argument der Erhöhung staatlicher Einnahmen allein nicht zu rechtfertigen.461 Daran ändert auch die Sportwettenentscheidung462 nichts.463 Das dort aufgestellte Postulat, mehr als nur fiskalische Zwecke verfolgen zu müssen, resultiert nämlich aus einem im Falle des AMRabG nicht bestehenden Zielkonflikt. So mag es den Beihilfeträgern vielleicht noch darauf ankommen, Kosten zu reduzieren; Einnahmen wollen sie aber – im Gegensatz zu staatlichen Wettbüros – sicher nicht erzielen. Auch kann man ihnen kaum unterstellen, die übermäßige, spielsuchtähnliche Züge tragende Inanspruchnahme der Beihilfe bekämpfen zu wollen. Zudem sind Beihilfeberechtigte gemäß § 6 Abs. 1 Nr. 2 SGB V in der gesetzlichen Krankenversicherung versicherungsfrei. Das über die Beihilfeleistungen hinaus gehende Krankheitskostenrisiko wird typischerweise in der privaten Krankenversicherung abgesichert, sodass es nur folgerichtig erscheint, Beihilfeträgern auch Ansprüche nach den §§ 1, 1a AMRabG zu gewähren.464 bb) Sonderabgabe Die Zweckbindung der für die Beihilfeträger generierten Mittel wäre auch erforderlich, wenn man465 in den derart generierten Mitteln eine Sonderabgabe sieht. Anders als bei den zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherung gewährten Rabatten bestünde ja keine privatautonome Leistungsbeziehung zwischen dem 457
BT-Drs. 17/3698, S. 60 – 61; Butzer/Soffner, NZS 2011 S. 842. Paal/Rehmann, A&R 2011 S. 53. 459 BVerfGE 33, 240 (246); 101, 331 (349); BVerfGK 6, 130 (133); OLG München, PharmR 2014, S. 304; Butzer/Soffner, NZS 2011 S. 843; Dewitz von, in: Beck’scher OK, SozR, 2015 § 130a Rn. 6; Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 274. 460 Dazu bereits: § 5B II. 3.; so auch: BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 40; BGH, Urteil vom 12. November 2015 – I ZR 167/14 –, juris Rn. 21. 461 BVerfGE 102, 197 (216); 115, 276 (307). 462 BVerfGE 115, 276. 463 So aber: Binder/Huster/Kluckert, MedR 2016 S. 238; Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 284 – 285. 464 Hierauf weisen auch Binder/Huster/Kluckert, MedR 2016 S. 238 hin. 465 So: Binder/Huster/Kluckert, MedR 2016 S. 238 – 239. 458
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Beihilfeträger und den pharmazeutischen Unternehmen. Gerade diese Leistungsbeziehung sei es aber gewesen, die das Bundesverfassungsgericht seinerzeit dazu veranlasst habe, die zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherung erhobenen Zwangsrabatte als verfassungsgemäß anzusehen.466 Durch die Etablierung eines neuen Sonderschuldverhältnisses zwischen Beihilfeträger und pharmazeutischem Unternehmer würden aber finanzielle Mittel aufkommenswirksam in den allgemeinen Haushalt umgeleitet werden. Die Finanzverfassung würde durch den somit etablierten Schattenhaushalt umgangen werden. Insofern sei im Falle der Beihilfeträger der Schutzzweck der zu den Sonderabgaben ergangenen Rechtsprechung durchaus berührt. Inwieweit das AMRabG dieser genüge, sei jedoch zweifelhaft. So stünde die Gruppe der pharmazeutischen Unternehmen weder in besonderer Sachnähe zum Zweck der Abgabe, noch treffe sie eine Finanzierungsverantwortung für die Schonung der öffentlichen Haushalte. Schließlich ergäben sich auch Bedenken bezüglich der erforderlichen gruppennützigen Verwendung der generierten Mittel.467 Allerdings nutzt die finanzielle Stabilisierung der Beihilfeträger den pharmazeutischen Unternehmen durchaus. Immerhin ist nahezu die Hälfte der Personen mit privater Krankheitskostenvollversicherung beihilfeberechtigt.468 Zudem zeichnen doch gerade hochpreisige, patentgeschützte Präparate für die jüngsten Kostensteigerungen verantwortlich.469 Abgesehen davon knüpfen die §§ 1, 1a AMRabG auch an den vertraglichen Erstattungsvorgang zwischen privater Krankenversicherung und Versicherungsnehmer an. Der Abschlag fällt nämlich auf den Preis des Arzneimittels an, dessen Kosten der Versicherungsnehmer von seiner privaten Krankenversicherung als Aufwendung mindestens teilweise (§ 1 Satz 3 AMRabG) erstattet bekommt. Wegen seiner im Grundsatz freien Preisgestaltung ist der pharmazeutische Unternehmer deswegen durchaus in den Leistungsaustausch miteinbezogen. Eine mittelbare privatautonome Leistungsbeziehung zwischen dem Beihilfeträger und den pharmazeutischen Unternehmen kann deswegen schwerlich verneint werden.470 2. Geeignetheit In jedem Falle müsste der zu den soeben herausgearbeiteten Zwecken erfolgende Grundrechtseingriff zur Zielerreichung geeignet sein. Eine Eignung, die man der Regelung wegen des Fehlens eines gesonderten Kontrollverfahrens zur Überprüfung der zweckgebundenen Mittelverwendung abspricht. Die Ver466
Ausführlich dazu bereits: § 5 B. I. Binder/Huster/Kluckert, MedR 2016 S. 238 – 239. 468 Simon, Das Gesundheitssystem in Deutschland, 2017, S. 130 – 131. 469 Ausführlich dazu bereits: § 2 C. II. 2. 470 BGH, Urteil vom 12. November 2015 – I ZR 167/14 –, juris Rn. 101 – 103. 467
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wendung zur Vermeidung oder Begrenzung von Prämienerhöhungen oder zur Prämienermäßigung bei den Versichertenbeständen werde zwar in § 1 Satz 4 AMRabG angeordnet, eine zweckentsprechende Mittelverwendung sei aber nicht sichergestellt. Das AMRabG lasse deswegen seine Eignung zur Sicherung der Beitragsstabilität in der privaten Krankenversicherung vermissen.471 Dabei wird allerdings übersehen, dass die Unternehmen der privaten Krankenversicherung nach § 1 Abs. 1 VAG der Versicherungsaufsicht unterliegen. Zudem bedürfen nach § 12b Abs. 1 VAG Prämienänderungen der Zustimmung eines unabhängigen Treuhänders. Nach § 12b Abs. 2 VAG hat das Versicherungsunternehmen für jeden, nach Art der Lebensversicherung kalkulierten Tarif zumindest jährlich die erforderlichen mit den kalkulierten Versicherungsleistungen zu vergleichen und gegebenenfalls die Prämienhöhe anzupassen. Ist nach Ansicht des Treuhänders eine Erhöhung oder Senkung erforderlich und erzielt der Treuhänder hierüber kein Einvernehmen mit dem Unternehmen, ist die Aufsichtsbehörde zu unterrichten (§ 12b Abs. 2 Satz 5 VAG). Die Verwendung der Abschläge steht somit keinesfalls im Belieben der PKV.472 Gegen die Geeignetheit des AMRabG wird weiter vorgebracht, dass sich weder nachprüfen noch durchsetzen lasse, ob und in welchem Umfang Zwangsrabatte tatsächlich zu einer Prämienstabilität beitragen. Denn diese sei von einer Vielzahl an Faktoren – genannt werden das individuelle Risiko, das Zinsniveau, Veränderungen des Versichertenbestandes sowie die steuerlichen Rahmenbedingungen – und nicht nur von Arzneimittelkosten abhängig. Es verböte sich deswegen, nur die Hersteller von Pharmazeutika in die Pflicht zu nehmen. Zudem wären sowohl die Versicherungsunternehmen als auch das von ihnen angebotene Produktportfolio nebst des damit bedienten Kundenkreises viel zu heterogen, als dass der gewünschte Erfolg befördert werden könne. Beispielsweise böten die Unternehmen der PKV neben diversen Vollkostentarifen auch Teil- und Zusatzversicherungen für gesetzlich Krankenversicherte an.473 All dies kann aber nicht darüber hinweg helfen, dass in die Prämienhöhe die Kopfpauschale als Rechnungsgrundlage einfließt (§ 1, § 2 Nr. 3 und § 6 KalV). Diese bemisst sich nach den durchschnittlichen Versicherungsleistungen, die in einem bestimmten Beobachtungszeitraum auf einen Versicherten entfallen. In den durchschnittlichen Versicherungsleistungen sind aber unter anderem auch 471 So die Klägerin im Verfahren vor dem OLG München, PharmR 2014, S. 301; kritisch auch: Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 280; vgl. auch: Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 9. 472 OLG München, PharmR 2014, S. 305. 473 Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 6; Paal/Rehmann, A&R 2011 S. 54.
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Arzneimittelkosten enthalten. Dem AMRabG lässt sich deswegen die grundsätzlich ausreichende Möglichkeit der Zweckerreichung schwerlich absprechen.474 Es ist folglich geeignet, das angestrebte Primärziel zu erreichen.475 3. Erforderlichkeit Gegen seine Erforderlichkeit wird vorgebracht, dass die hohe Eingriffsintensität den Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers bei der Wahl seiner Mittel einschränke. Immerhin griffen die zu überprüfenden Preisregulierungen in den Kerngehalt der Berufsfreiheit der pharmazeutischen Unternehmen ein. Als gegenüber Zwangsrabatten milderes Mittel böten sich insbesondere Kosten-Nutzen-Bewertungen der zwangsrabattierten Arzneimittel an. Zudem könnten auch Rabattverträge abgeschlossen werden,476 wenngleich im selben Atemzug auch eingeräumt wird, dass die bereits jetzt bestehende Möglichkeit, Rabattverträge im Sinne des § 78 Abs. 3 Satz 2 AMG abzuschließen, bislang nur sehr verhalten aufgenommen wurde. Wie der ebenfalls vorgeschlagenen Kosten-Nutzen-Bewertung fehlt es ihr auch an der, für ein milderes Mittel aber unbedingt notwendigen, selben Wirksamkeit. Darauf, dass die Patienten oder andere Leistungserbringer wie Ärzte nicht belastet werden, obwohl auch ihre Leistungen zu den Kosten für die Unternehmen der privaten Krankenversicherungen beitragen, kommt es im Rahmen der Erforderlichkeitsprüfung nicht an.477 Auf die Aussage in der Gesetzesbegründung478, es sei sachlich nicht gerechtfertigt, für den Gesundheitsschutz außerhalb der gesetzlichen Krankenversicherung abweichende Abschläge vorzusehen, wird im Rahmen der eingangs bereits angekündigten Prüfung am Maßstab des allgemeinen Gleichheitssatzes zurückzukommen sein. Im Rahmen 474 LG Saarbrücken, Urteil vom 12. Mai 2014 – 9 O 221/12 –, unveröffentlicht, S. 11; OLG München, PharmR 2014, S. 304; im Ergebnis auch: Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 275. 475 So im Ergebnis auch aus der Rechtsprechung: BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 46 – 48; BGH, Urteil vom 12. November 2015 – I ZR 167/14 –, juris Rn. 41; LG Saarbrücken, Urteil vom 12. Mai 2014 – 9 O 221/12 –, unveröffentlicht, S. 11; OLG München, PharmR 2014, S. 304; OLG Nürnberg, Urteil vom 15. Juli 2014 – 4 U 286/14 –, unveröffentlicht, S. 8; aus der Literatur: Butzer/Soffner, NZS 2011 S. 843 – 844; Dewitz von, in: Beck’scher OK, SozR, 2015 § 130a Rn. 6; Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 201. 476 Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 10. 477 So aber: Binder/Huster/Kluckert, MedR 2016 S. 240; Butzer, MedR 2016 S. 271; Paal/Rehmann, A&R 2011 S. 54; näher dazu: § 5 F. III.; dagegen auch: Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 275; Steiner, MedR 2003 S. 6. 478 BT-Drs. 17/3698, S. 60.
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der Prüfung, ob ein milderes Mittel zur Verfügung steht, ist nur auf die konkret belastete Gruppe abzustellen. Genauso wenig wie einer hoheitlichen Maßnahme die Geeignetheit abzusprechen ist, weil die Belasteten an anderen Stellen größere Einsparpotenziale sehen,479 fehlt es ihr auch nicht an der Erforderlichkeit, weil es andere Mittel innerhalb des Systems gibt, die dritte Personen weniger oder alle Betroffenen gleichmäßig belasten würden.480 Zudem ist auch bei dieser Frage dem Gesetzgeber ein Beurteilungsspielraum zuzugestehen. Abgesehen davon zeichneten doch gerade die Arzneimittelausgaben für die Kostensteigerungen verantwortlich,481 sodass es auch in der Sache durchaus überzeugend ist, nur partiell nachzusteuern. 4. Angemessenheit Schließlich müsste sich der vom AMRabG angeordnete Gleichlauf zwischen der privaten und der gesetzlichen Krankenversicherung auch als zumutbar erweisen. Abzuwägen sind die vom Gesetzgeber verfolgten Ziele, den Selbstzahlern einen bezahlbaren Versicherungsschutz zu ermöglichen und die öffentlichen Haushalte zu schonen mit der Berufsfreiheit der pharmazeutischen Unternehmen. a) Spezifischer Abwägungsbelangbezug Unabdingbare Voraussetzung für eine derartige Abwägung ist, dass ein hinreichend spezifischer Bezug zwischen dem Nutzen für das Gemeinwohl und den, den Berufstätigen belastenden Maßnahmen besteht. Je enger der Bezug von Vorschriften zu einem Schutzgut ist, desto eher lassen sich Eingriffe in die Berufsausübungsfreiheit rechtfertigen. Steht dagegen die grundrechtliche Beschränkung nur in einem entfernten Zusammenhang zum jeweiligen Gemeinschaftsgut, so kann es nicht generell Vorrang vor der Berufsausübungsfreiheit beanspruchen.482 Eine Voraussetzung, die mit Blick auf die Einführung eines Total-Zwangsrabatts kaum vorliegen könne. Die grundrechtliche Beschränkung der Arzneimittelhersteller stünde, wenn überhaupt, nur in einem entfernten Zusammenhang zu etwaigen Gemeinschaftsgütern. Namentlich sei es nicht Aufgabe der pharmazeutischen Industrie, die Ertragslage der PKV zu verbessern bzw. das allgemeine Ausgabenbudget von Selbstzahlern zu erhöhen. Einen generellen Vorrang vor der Berufsausübungsfreiheit könne ein Total-Zwangsrabatt daher 479
Steiner, MedR 2003 S. 6; mit Verweis auf: BVerfGE 96, 330, (340); 103, 173 (189). BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 49 – 50; BGH, Urteil vom 12. November 2015 – I ZR 167/14 –, juris Rn. 84 – 86; BVerfGE 103, 72 (83 f.); BVerfGK, 2, 283 (288); OLG München, PharmR 2014, S. 305; OLG Nürnberg, Urteil vom 15. Juli 2014 – 4 U 286/14 –, unveröffentlicht, S. 9. 481 Näher dazu bereits: § 2 D. 482 BVerfGE 85, 248 (261); 107, 186 (197). 480
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keinesfalls beanspruchen.483 Wie bereits ausgeführt484, besteht aber durchaus eine hinreichende Beziehung zwischen der Höhe der Ausgaben und den Beiträgen der Versicherten. Dass die Höhe der Prämien in der privaten Krankenversicherung noch von weiteren Faktoren beeinflusst wird, steht dem nicht entgegen.485 Zudem ist auch die zweckgebundene Verwendung der erlangten finanziellen Mittel sichergestellt. Folglich steht der hinreichend spezifische Bezug zwischen dem Nutzen für das Gemeinwohl und den, den Berufstätigen belastenden Vorkehrungen einer Abwägung nicht entgegen. b) Wertigkeit der Eingriffsziele Dabei kommt dem vom Gesetzgeber verfolgten Ziel, auch allen Privatversicherten einen bezahlbaren Versicherungsschutz zu ermöglichen, erhebliches Gewicht zu. Wie bereits mehrfach ausgeführt486, ist der Schutz des Einzelnen in Fällen von Krankheit in der sozialstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes eine Grundaufgabe des Staates. Der historische Gesetzgeber hat sich, um diesem aus dem Sozialstaatsprinzip resultierenden Auftrag nachzukommen, für ein duales System aus gesetzlicher und privater Krankenversicherung entschieden. Für einen Teil seiner Bürger hat er damit ein prämienfinanziertes Versicherungssystem vorgesehen. Wenngleich man dessen finanzieller Stabilität genauso wenig Verfassungsrang zubilligen kann wie der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, ist die finanzielle Stabilität der privaten Krankenversicherung und damit die Verhinderung unangemessener Beitragssteigerungen durchaus von erheblicher Wichtigkeit.487 Außerdem sind gerade die Arzneimittelausgaben in den vergangenen Jahren besonders angestiegen, was die erhöhte Gefahr eines Anstiegs der Prämien begründet. Hiervon wären aber keinesfalls lediglich besonders Leistungsfähige betroffen. Vor allen Dingen Selbstständige und Beamte mit niedrigeren und mittleren Einkommen sowie Rentner bzw. Pensionäre 483 Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 11. 484 Näher dazu: § 5 F. II. 2. 485 BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 58; OLG München, PharmR 2014, S. 307. 486 Näher dazu: § 5 B. II. 6. b), § 5 F. II. 1. sowie § 6 B. III. 4. c) dd); siehe auch: BVerfGE 115, 25 (43); 123, 186 (242). 487 Aus der Rechtsprechung: LG Saarbrücken, Urteil vom 12. Mai 2014 – 9 O 221/12 –, unveröffentlicht, S. 10; OLG München, PharmR 2014, S. 306; aus der Literatur: Butzer/ Soffner, NZS 2011 S. 844; Dewitz von, in: Beck’scher OK, SozR, 2015 § 130a Rn. 6; im Ergebnis zustimmend, aber offen lassend, ob der Gesetzgeber zur Einführung des AMRabG aus sozialstaatlichen Erwägungen heraus verpflichtet gewesen ist: OLG Nürnberg, Urteil vom 15. Juli 2014 – 4 U 286/14 –, unveröffentlicht, S. 8.
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würden von den erhöhten Prämien wegen ihrer gleichbleibenden Einkommen verhältnismäßig hart getroffen werden. Demgegenüber fällt das Ziel der Schonung öffentlicher Haushalte als bloßer fiskalischer Belang488 zurück.489 Eine gewisse, stark reduzierte Wertigkeit kann man ihm aber dennoch nicht absprechen. c) Eingriffsintensität Bezüglich der konkreten Eingriffsintensität kann zur Vermeidung von Wiederholungen im Wesentlichen auf das zur gesetzlichen Krankenversicherung Gesagte verwiesen werden. Obwohl das Marktvolumen und damit auch die Eingriffsintensität ungleich höher ist, stellte sich die befristete Verlängerung des Preismoratoriums und die Erhöhung des Grundrabattes unter Berücksichtigung der Gesamtumstände als angemessen dar. Nichts anderes kann dann bei isolierter Betrachtung für die private Krankenversicherung gelten, zumal die Eingriffs intensität nicht nur wegen des geringeren Marktvolumens, sondern auch wegen der regelmäßig bestehenden Selbstbehalte ohnehin niedriger ist. Wenn die Arzneimittelkosten vollständig vom Versicherten beglichen werden, fällt deswegen überhaupt kein Abschlag an. Denn dann müssen die Unternehmen der privaten Krankenversicherung bzw. die Beihilfeträger keine Erstattung leisten und können deswegen gemäß § 1 S. 3 AMRabG auch keine Rabattgewährung einfordern. Insgesamt stellt sich der durch das Arzneimittelrabattgesetz erfolgende Eingriff somit als verhältnismäßig dar.490 Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings, dass die tatsächliche Belastung der pharmazeutischen Industrie durch den vom AMRabG angeordneten Gleichlauf von privater und gesetzlicher Krankenversicherung vertieft wird.491 Ob und wenn ja inwieweit dies berücksichtigt werden kann, wird ausführlich in § 6 besprochen werden.
488 § 5 B. II. 6. e); vgl. BVerfGE 102, 197 (216); 115, 276 (307); Posser/Müller, NZS 2003 S. 179; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 71 m. w. N. 489 Butzer/Soffner, NZS 2011 S. 845; Paal/Rehmann, A&R 2011 S. 53. 490 So auch aus der Rechtsprechung: LG Saarbrücken, Urteil vom 12. Mai 2014 – 9 O 221/12 –, unveröffentlicht, S. 10; OLG München, PharmR 2014, S. 303; OLG Nürnberg, Urteil vom 15. Juli 2014 – 4 U 286/14 –, unveröffentlicht, S. 7; aus der Literatur: Butzer/ Soffner, NZS 2011 S. 846 – 847; im Ergebnis auch: Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 202, wobei sie vor allen Dingen auf die Verhinderung einer Quersubventionierung abstellt; genau diese vermag Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 277 nicht zu überzeugen. 491 Das erkennen neben dem OLG München, PharmR 2014, S. 307 auch Butzer/Soffner, NZS 2011 S. 847 an.
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III. Vereinbarkeit mit Art. 3 Abs. 1 GG Daneben scheint es durchaus lohnenswert zu sein, die durch das AMRabG erfolgende Gleichbehandlung von gesetzlich Krankenversicherten und Selbstzahlern bzw. die Gleichbehandlung der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung näher zu untersuchen. 1. Selbstzahler und GKV-Versicherte Die Gruppe der Selbstzahler umfasst die Beihilfe- und Heilfürsorgeberechtigten sowie die in Vollkostentarifen der privaten Krankenversicherung versicherten Personen. Sie bestünde demnach ganz überwiegend aus Personen, die sich freiwillig für diesen in mehrfacher Hinsicht privilegierten Versicherungsstatus entschieden haben. Eine Personengruppe, die sich durch ihre überdurchschnittliche Finanzkraft und den Willen auszeichne, diese auch für eine bessere Gesundheitsversorgung zu investieren. Im Gegensatz zu dem Sachleistungen beziehenden gesetzlich Krankenversicherten kaufe der Privatversicherte die jeweilige Gesundheitsleistung zunächst im eigenen Namen ein. Anschließend erstatte seine private Krankenversicherung die angefallenen Kosten wenigstens teilweise. Ein Prozedere, das bei dem von der gesetzlichen Krankenversicherung bedienten Klientel aus sozialstaatlichen Erwägungen heraus nicht gangbar sei. Sinn und Zweck des Sachleistungsprinzips sei es ja gerade zu gewährleisten, dass jeder gesetzlich Versicherte eine notwendige Gesundheitsleistung erhalte, ohne sie sich selbst erst kostenpflichtig beschaffen zu müssen. Andernfalls sei eine finanzielle Überforderung zu befürchten. Auf sozialstaatlichen Erwägungen beruhe auch der Gedanke der Zwangsversicherung. Eine Pflichtmitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung sei im Hinblick auf Art. 2 Abs. 1 GG aber nur dann zu rechtfertigen, wenn und soweit die davon betroffenen Grundrechtsträger erfahrungsgemäß schutzbedürftig sind. Es müsste ihnen also unmöglich sein, eigenverantwortlich wirksame Vorsorge gegenüber den Wechselfällen des Lebens zu treffen und somit gerade deswegen dieser paternalistisch anmutenden Form der Gesundheitssicherung bedürfen. Mit der Zwangsversicherung solle gerade einkommensschwachen Bevölkerungsteilen ein voller Krankenversicherungsschutz zu moderaten Beiträgen ermöglicht werden. Konsequenterweise seien in der GKV deswegen vor allem abhängig Beschäftigte mit mittleren und niedrigen Einkommen sowie Rentner versichert. Lasse man die Rentner außen vor, so habe die GKV etwa 29 Millionen Pflichtmitglieder, aber nur ca. 4,5 Millionen freiwillige Mitglieder. Pflichtmitglieder seien der gesetzlichen Typisierung nach also Personengruppen, die wegen ihrer niedrigen Einkünfte eines Schutzes für den Fall der Krankheit bedürfen, der durch zwangsweise Eigenvorsorge erreicht werden soll. Dies unterscheide sie von den Personengruppen der Selbstzahler in faktischer und soziologischer Hinsicht. Der einen Gruppe traue der Gesetzgeber die Entscheidung für den einen oder den anderen Versicherungstyp
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zu, die andere Gruppe werde aus den genannten Gründen bevormundet. Diese Unterschiede seien so erheblich, dass sie von einer am Gerechtigkeitsgedanken orientierten Betrachtungsweise nicht ausgeblendet werden dürften. Es verböte sich deswegen, das Ideal eines einheitlichen Arzneimittelpreises für alle Nachfrager und damit die gleiche Behandlung grundverschiedener Personengruppen zu postulieren. Ein einleuchtender Grund für die finanzielle Unterstützung einer ohnehin privilegierten Gruppe der Selbstzahler lasse sich schlechterdings nicht identifizieren.492 Im Kern hebt diese Argumentation also ebenfalls auf die angeblich fehlende Schutzbedürftigkeit Privatversicherter ab. Dass die betroffene Personengruppe aber keinesfalls so homogen ist wie derartige Ausführungen vermuten lassen, wurde bereits ausführlich dargelegt.493 Umgekehrt finden sich in der Realität auch nur begrenzt Anhaltspunkte dafür, dass sich in der gesetzlichen Krankenversicherung vor allen Dingen Empfänger geringer bis mittlerer Einkommen und damit besonders schutzbedürftige Personen versammeln.494 Bestenfalls eine Teilmenge der Beihilfe- und Heilfürsorgeberechtigten bzw. Privatversicherten bedarf keiner „paternalistischen Bevormundung“495 im dargestellten Sinne. Der andere Teil dagegen ist oftmals aus vollkommen anderen Erwägungen heraus Angehöriger der tatsächlich doch eher heterogenen Gruppe der Selbstzahler. Beispielsweise sind Personen, die nach Vollendung des 55. Lebensjahres versicherungspflichtig werden, gemäß § 6 Abs. 3a SGB V nicht etwa versicherungsfrei, weil die finanzielle Leistungsfähigkeit gegen Ende eines Berufslebens erfahrungsgemäß höher ist als am Anfang. Vielmehr soll damit verhindert werden, dass in jüngeren Jahren Privatversicherte den mit dem Lebensalter ansteigenden Prämien durch eine Rückkehr in die gesetzliche Krankenversicherung aus dem Weg gehen. Auf die Leistungsfähigkeit des Einzelnen kommt und kam es dabei zu keinem Zeitpunkt an. Auch bezüglich mancher verbeamteten Beihilfe- und Heilfürsorgeberechtigten wird bisweilen kolportiert, dass sie nur deswegen Beamte seien, weil dies für ihren Dienstherrn zunächst einmal kostengünstiger sei. Während ihrer aktiven Laufbahn erspare er sich auf diese Weise nämlich ansonsten fällige Sozialversicherungsbeiträge. Auf die Entgeltgruppe – und damit die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des einzelnen Beamten – käme es dabei nur insoweit an, als dass 492 Zum Ganzen: Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 15 – 16; in diesem Sinne auch: Paal/ Rehmann, A&R 2011 S. 53. 493 § 5 F. II. 1. a). 494 Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 426 m. w. N. 495 Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 16.
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die zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge von der jeweiligen Eingruppierung abhängig wären. Abgesehen davon lägen mit der Sicherung eines bezahlbaren Krankenversicherungsschutzes, der Schonung öffentlicher Haushalte, der Vermeidung von Ausweichreaktionen zulasten der gesetzlichen Krankenversicherung und der Sicherung der PKV zum Erhalt des Gesamtsystems durchaus vernünftige Erwägungen des Gemeinwohls vor.496 Gemeinwohlerwägungen, die sogar einer Prüfung am strengeren Maßstab der neuen Formel standhalten würden. 2. GKV und PKV Genauso verhält es sich bezüglich der Gleichbehandlung von privater und gesetzlicher Krankenversicherung als solcher. Nach wie vor unterscheiden sich beide Systeme grundlegend. Verwiesen sei hier nur auf die Beitragskalkulation (Äquivalenzprinzip versus Solidaritätsprinzip), die Art der Leistungserbringung (Sachleistung versus Kostenerstattung), die Sicherstellung des Finanzbedarfs (Umlageverfahren versus Kostendeckungsverfahren), die in der GKV fehlende Gewinnerzielungsabsicht sowie die beitragsfreie Mitversicherung von Familienmitgliedern in der GKV. Gemeinsam ist beiden nur die Sicherung ihrer Mitglieder oder Kunden gegen eine individuell unkalkulierbare Gefahrenlage.497 Gleichwohl darf man sich nicht dazu verleiten498 lassen, zu behaupten, die Einführung einheitlicher Arzneimittelpreise durch einen Total-Zwangsrabatt negiere grundlegende Strukturunterschiede und diene letztlich nur dazu, die Unternehmen der PKV in ungerechtfertigter Weise zu subventionieren. Zum einen sind die auf diese Weise erlangten finanziellen Mittel zweckgebunden zum Vorteile der Versicherten einzusetzen, zum anderen kann die Systemwidrigkeit einer gesetzlichen Regelung für sich alleine betrachtet noch keinen Gleichheitsverstoß begründen, sondern allenfalls indizieren. Ein diesbezüglicher Gleichheitsverstoß scheidet allerdings von vorneherein aus, wenn – wie vorliegend – plausible Gründe für die gesetzliche Regelung sprechen.499 Insbesondere zeichnete doch gerade der Arzneimittelbereich für die jüngsten Kostensteigerungen verantwortlich.500 496 BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 85; LG Saarbrücken, Urteil vom 12. Mai 2014 – 9 O 221/12 –, unveröffentlicht, S. 11 mit Verweis auf LG München, PharmR 2013, S. 531 – 538. 497 In diesem Sinne auch: BVerfGE 120, 125 (148); 123, 186 (193); BVerfGK 2, 283 (287). 498 So aber: Gassner, Zur verfassungs- und unionsrechtlichen Zulässigkeit der Einführung eines Herstellerabschlags für Arzneimittel in den Bereichen des privaten Gesundheitsschutzes, Rechtsgutachtliche Stellungnahme erstellt im Auftrag des Bundesverbandes der Pharmazeutischen Industrie e.V., S. 17 – 18; in diesem Sinne auch: Paal/Rehmann, A&R 2011 S. 53 – 54. 499 Vgl. BVerfGE 68, 237 (253); 81, 156 (207). 500 BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 86; näher dazu bereits: § 2 D.
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3. Andere Leistungserbringer Ein Argument, das auch eine etwaige Ungleichbehandlung der pharmazeutischen Unternehmer mit anderen Leistungserbringern im Gesundheitswesen rechtfertigen könnte. Es mag zwar sein, dass bei Arzthonoraren kein derart weitgehender Gleichlauf zwischen der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung gesetzlich angeordnet wurde. Von Verfassung wegen besteht aber auch keine Pflicht des Gesetzgebers, jede Kostensenkungsmaßnahme auf alle Leistungserbringer gleichermaßen zu verteilen. Die Vielgestaltigkeit der für die Kostenentwicklung in den jeweiligen Leistungsbereichen maßgeblichen Faktoren steht einer derart schematischen Gleichbehandlung nämlich entgegen.501 Dazu kommt, dass der pharmazeutische Unternehmer bei Markteinführung den Preis seines Präparates frei festlegen kann und nicht wie die Ärzteschaft an Gebührenordnungen wie die GoÄ gebunden ist.502 Abgesehen davon – und das wird bisweilen übersehen – stehen zulasten der GKV abgerechnete Arzthonorare regelmäßig unter dem Vorbehalt der Rückforderung durch Wirtschaftlichkeitsüberprüfungen oder andere Mengensteuerungsinstrumente. Konsequenterweise müssten diese dann auch auf die Erstattung von Medikamenten übertragen werden. 4. Folgerichtigkeit An der Vereinbarkeit des Arzneimittelrabattgesetzes mit dem allgemeinen Gleichheitssatz ändert sich auch nichts, wenn man Folgerichtigkeitsaspekte in die Betrachtung mit einbezieht. Auf den ersten Blick scheint es allerdings durchaus nicht unproblematisch zu sein, dass die Zwangsrabattierung als solche unter anderem mit den von der gesetzlichen Krankenversicherung abgenommenen Mengen gerechtfertigt wurde. Denn dort sind etwa 90 Prozent der Bevölkerung versichert, während lediglich 10 Prozent privat versichert sind und trotzdem in den Genuss der Vorteile des AMRabG kommen. Konsequenterweise müsste der Gesetzgeber eigentlich den, den Löwenanteil abnehmenden, gesetzlichen Kassen zumindest höhere Rabatte gewähren als seinen eigenen Beihilfestellen und den privaten Versicherungsgesellschaften. Alternativ könnte er Letzteren auch gar keine Mengenrabatte gewähren.503 Allerdings werden sowohl die in der privaten 501 BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 86; BGH, Urteil vom 12. November 2015 – I ZR 167/14 –, juris Rn. 84 – 86; Papier/Krönke, PharmR 2015 S. 273; Butzer, MedR 2016 S. 271 meint der BGH mache es sich hier zu einfach; Binder/Huster/ Kluckert, MedR 2016 S. 240 halten dies sogar für „ganz neben der Sache liegen[d]“. 502 OLG München, PharmR 2014, S. 308. 503 Dazu bereits: § 5 B. II. 8. c) aa); in diese Richtung auch die Revisionsbegründung zum BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 74 – 76 sowie Ausschussdrucksache 18(14)0009 (10), S. 12.
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als auch die in der gesetzlichen Krankenversicherung erzielten Erlöse konsequent dazu eingesetzt, den Versicherten einen bezahlbaren Krankenversicherungsschutz zu ermöglichen. So betrachtet ist der angeordnete Gleichlauf zwischen PKV und GKV nur um so konsequenter, zumal es nach dem Gesetz keine unversicherten Bürger mehr gibt. Ohnehin war der angesprochene Mengenrabatt eher Hilfs- als Hauptbegründung. Im Kern ging es bei jeglicher Zwangsrabattierung neuerer Prägung um die Sicherung der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und damit ebenfalls um die Bereitstellung eines bezahlbaren Krankenversicherungsschutzes. Nichts anderes kann dann auch für die Übertragung dieser Systematik auf die PKV gelten.
IV. Umsatzsteuer Daneben wird gegen den vom Arzneimittelrabattgesetz angeordneten Gleichlauf vorgebracht, dass er zu rechtlichen Unwägbarkeiten führe, die sich in der umsatzsteuerrechtlichen Behandlung manifestiert hätten. Nach derzeitiger Auffassung des Bundesministeriums für Finanzen504 sollen die abzuführenden Zwangsabschläge nach dem AMRabG nämlich zu keiner Minderung des steuerbaren Entgelts aufseiten der pharmazeutischen Unternehmen führen. Die fehlende direkte Leistungsbeziehung zwischen PKV und pharmazeutischen Unternehmen führe im Ergebnis dazu, dass Umsatzsteuer auf ein Entgelt abzuführen ist, das tatsächlich gar nicht erlöst wurde.505 Dem wird – nicht ganz zu Unrecht – entgegengehalten506, dass diese umsatzsteuerrechtliche Handhabung mit keinerlei zusätzlichen Belastungen verbunden ist. Dem pharmazeutischen Unternehmer verbleibt der um den Abschlag verminderte Abgabepreis ohne Umsatzsteuer. Die von ihm auf den Abgabepreis zu entrichtende Umsatzsteuer ist bei wirtschaftlicher Betrachtung nur ein durchlaufender Posten. Der Unternehmer ist gemäß § 13a UStG lediglich Steuerschuldner, der die Empfänger der Lieferungen und Leistungen mit der Mehrwertsteuer belastet und die so vereinnahmten Gelder nach Abzug der Vorsteuer an den Fiskus abführt. Als indirekte Steuer ist die Mehrwertsteuer wirtschaftlich vom Endverbraucher aufzubringen. Für den vorsteuerabzugsberechtigten Unternehmer ist sie kostenneutral. Sieht man einmal von der minimalen Intensivierung des ohnehin erfolgenden Eingriffs in 504 Erlass des BMF vom 14. 11. 2012 IV D 2-S 7200/08/10005, 2012/1041841 –, juris; bestätigt durch das Finanzgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 13. Mai 2015 – 7 K 7323/13 –, juris; entgegen: Finanzgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. September 2015 – 6 K 1251/14 –, juris; sowie nachgehend: BFH, EuGH-Vorlage vom 22. Juni 2016 – V R 42/15 –, juris. 505 Ausschussdrucksache 18(14)0009 (10), S. 12 – 13. 506 BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 27; BGH, Urteil vom 12. November 2015 – I ZR 167/14 –, juris Rn. 22.
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Form der Indienstnahme Privater bei der Steuerhebung ab, zeitigt die umsatzsteuerliche Behandlung der Abschläge keinerlei belastende Wirkungen. Es kann deshalb dahinstehen, ob diese unterschiedliche Behandlung die Vereinbarkeit des umsatzsteuerrechtlichen Erlasses mit höherrangigem Recht betrifft507 oder den durch das AMRabG erfolgenden Grundrechtseingriff vertieft508. Eine andere, davon zu trennende Frage ist, ob die in der privaten Krankversicherung erst nachträglich gewährten Rabatte509 ebenfalls zu einer Änderung der umsatzsteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage (§§ 10, 17 UStG) führen. Sollte dem nämlich nicht so sein und wurden die Zahlungen gleichwohl bereits umsatzsteuermindernd berücksichtigt, laufen die Verantwortlichen Gefahr, sich des Vorwurfs einer – unter Umständen sogar strafbewehrten – Steuerverkürzung auszusetzen. Unabhängig davon, ob die im Bereich der privaten Krankenversicherung gewährten Zwangsrabatte umsatzsteuerrechtlich genauso behandelt werden müssten wie die im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung,510 ändert dies nichts daran, dass die Umsatzsteuer letztlich den Endverbraucher belastet. Hieraus erzielte Vorteile müssen in der Handelskette genauso weitergegeben werden wie erlittene Nachteile (§ 17 Abs. 1 S. 1 UStG). Dass eine Mehrwertsteuernachforderung bei Barzahlungsgeschäften im letzten Glied der Kette, also im Verhältnis Apotheke-Versicherter, faktisch nicht durchsetzbar sein wird, ist – zumindest für den pharmazeutischen Unternehmer – nicht mit Belastungswirkungen verbunden.
V. Rückwirkungsverbot Schließlich könnte man noch erwägen, ob § 1 Satz 3 AMRabG, der mit Wirkung zum 1. Januar 2011 durch Art. 3a des dritten Gesetzes zur Änderung arzneimittelrechtlicher Vorschriften vom 07. August 2013 eingeführt worden ist, gegen das Verbot der Rückbewirkung von Rechtsfolgen verstößt. Dagegen spricht allerdings der rein deklaratorische Charakter der Vorschrift. Sie gibt lediglich die schon zuvor gültige Rechtslage zu Klarstellungszwecken noch einmal ausdrücklich wieder. So bestand bereits nach § 1 S. 1 AMRabG eine Abschlagspflicht in voller Höhe. Genauso wie heute kam es dabei nur darauf an, dass überhaupt Arzneimittelkosten erstattet wurden. Unerheblich war und ist, ob das private Kran507 LG Saarbrücken, Urteil vom 12. Mai 2014 – 9 O 221/12 –, unveröffentlicht, S. 11; OLG München, PharmR 2014, S. 307; OLG Nürnberg, Urteil vom 15. Juli 2014 – 4 U 286/14 –, unveröffentlicht, S. 9. 508 BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 27. 509 Näher dazu: § 4 C.; § 5 F. I. 510 In diesem Sinne: Finanzgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 24. September 2015 – 6 K 1251/14 –, juris; sowie nachgehend: BFH, EuGH-Vorlage vom 22. Juni 2016 – V R 42/15 –, juris.
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kenversicherungsunternehmen bzw. der Beihilfeträger die Arzneimittelkosten voll oder nur teilweise erstattet hat.511
G. Zwischenergebnis Im Ergebnis steht somit fest, dass sämtliche Kompensationsmaßnahmen, die zur Abfederung der erhofften, nun aber definitiv weggefallenen Vorteile des beendeten Bestandsmarktaufrufes bei isolierter Betrachtung verfassungsgemäß sind. Neben der Erhöhung des Grundrabattes sowie der Verlängerung des Preismoratoriums ist insbesondere die Übertragung der Rabattierungssystematik auf die private Krankenversicherung mit der Berufsfreiheit der pharmazeutischen Unternehmer vereinbar. Daran ändert auch die am Ende der 18. Legislaturperiode in Kraft getretene Gesetzesnovelle in Form des AM-VSG nichts. Eine etwaige Verfassungswidrigkeit kann sich folglich nur noch aus dem Zusammenspiel des gesamten Normkomplexes ergeben.
511 BT-Drs. 17/13770, S. 25 – 26; BGH, Urteil vom 30. April 2015 – I ZR 127/14 –, juris Rn. 32.
§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff A. Kompensationsmaßnahmen als Belastungskumulation I. Denkbare kumulierende Einzeleingriffe Es erscheint deswegen mehr als naheliegend zu argumentieren, dass die dauerhaft angelegten, dirigistischen Eingriffe in die Preisbildung sowie die faktische Selbstbindung1 des Gesetzgebers in ihrer Gesamtheit einen additiven Grundrechtseingriff darstellen würden.2 Auch wenn die gegenwärtige Steuer- und Abgabenbelastung der pharmazeutischen Unternehmen sowie die wirtschaftlichen Auswirkungen der bestehenden Kostendämpfungsinstrumente noch als verfassungskonform gewertet werden könnten, sprächen dennoch gute Gründe für die Annahme, dass mit diesen Belastungen in ihrer Kumulation die Grenze des wirtschaftlich Zumutbaren erreicht ist.3 Tatsächlich ist es nicht von der Hand zu weisen, dass sich die pharmazeutische Industrie – wie alle anderen Markteilnehmer des Gesundheitswesens auch – mit einer Vielzahl an in ihre Grundrechte 1
§ 5 B. II. 3. b).
2 Ausschussdrucksache
18(14)0009(5), S. 31; so bereits zur Einführung von Festbeträgen Sodan, Wirtschaftslenkung im Recht der Arzneimittelversorgung, in: Peter/Rhein (Hrsg.), Wirtschaft und Recht, 1989, S. 94 – 96; zum Beitragssicherungsgesetz aus Sicht der Apotheker, der Hersteller und Großhändler von Pharmazeutika, der Vertragsärzte und Zahntechniker: BVerfGE 114, 196 (242); zur Einführung eines Basistarifs und der teilweisen Portabilität der Alterungsrückstellungen aus Sicht der Unternehmen der privaten Krankenversicherung: BVerfGE 123, 186 (265); zu einer im Beitragssicherungsgesetz angeordneten Nullrunde aus Sicht der Vertragsärzte: Sodan, NJW 2003 S. 1763 – 1764; Sodan, GesR 2004 S. 307; in seiner Stellungnahme zum 14. SGB V Änderungsgesetz [Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 1 – 12] erwähnt er diese Figur allerdings mit keinem Wort; zum Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung: Ausschussdrucksache 18(14)0223(22), S. 24; allgemein zu wirtschaftslenkenden Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen: Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 33 – 34; Hufen, NJW 2004 S. 15; Kluth, ZHR 1998 S. 673; Schmidt-Aßmann, NJW 2004 S. 1691 – 1692. 3 Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 19 – 20; vgl. auch OLG München, PharmR 2014, S. 306, das bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des AMRabG im Rahmen einer Gesamtabwägung auch die an die GKV zu gewährenden Rabatte als belastendes Element in die Betrachtung einstellt, die diskussionswürdige, belastende umsatzsteuerliche Behandlung der zu gewährenden Rabatte jedoch inkonsequenterweise nicht als belastendes Element des AMRabG anerkennen will.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
eingreifenden Maßnahmen konfrontiert sieht. Neben Kostendämpfungsaspekten zielen diese vor allen Dingen darauf ab, den Nutzen, die Sicherheit, die Wirksamkeit und die Unbedenklichkeit des Arzneimittels sicherzustellen. Aber auch aus ethischen und fiskalischen Gründen wird in die Grundrechte der Unternehmen der pharmazeutischen Industrie eingegriffen. Im Einzelnen sind insbesondere zu nennen: das Zulassungsverfahren zur Erlangung der Verkehrsfähigkeit des Arzneimittels (§ 21 AMG), absolute und relative Verkehrsverbote (§§ 5, 6a, 7 AMG), die Notwendigkeit einer Herstellungserlaubnis (§ 13 Abs. 1 AMG), die Apotheken- bzw. Verschreibungspflichtigkeit von Arzneimitteln (§§ 43, 48 AMG), Einschränkungen bei der Bewerbung von Arzneimitteln (§§ 3, 4a, 7, 8, 10 HWG), Kennzeichnungs- und Informationspflichten (§§ 10, 11, 11a AMG), Pharmakovigilanzpflichten (§ 63b AMG), die Gefährdungshaftung der Hersteller (§ 84 AMG), Beschränkungen bei der klinischen Prüfung von Arzneimitteln (§§ 40 – 42b AMG), Beschränkungen bei der Entwicklung von Arzneimitteln aus Stammzellen durch das Embryonen- (ESchG) und Stammzellschutzgesetz (StZG) oder die allgemeine Steuer- und Abgabenbelastung. Primär aus Kostendämpfungsgründen werden die Rechte der pharmazeutischen Industrie insbesondere durch folgende Maßnahmen beschränkt: die obligatorische Kosten-Nutzen-Bewertung innovativer Arzneimittel (§ 35a SGB V), die Fortführung des Preismoratoriums (§ 130a Abs. 3a SGB V), den allgemeinen Herstellerrabatt (§ 130a Abs. 1 SGB V), den Generikaabschlag (§ 130a Abs. 3b SGB V), den Impfstoffabschlag (§ 130a Abs. 2 SGB V), die Übertragung der Rabatt- bzw. Erstattungsbetragssystematik auf die private Krankenversicherung (§§ 1, 1a AMRabG), die Reimportförderung (§ 129 Abs. 1 Nr. 2 SGB V), die vorrangige Abgabe rabattbegünstigter Arzneimittel (§ 129 Abs. 1 S. 3 SGB V) und der hieraus resultierende faktische Zwang, Arzneimittelrabattverträge (§ 130a Abs. 8 SGB V) abzuschließen sowie die Aut-Idem-Substitution (§ 129 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 SGB V). Es erscheint deshalb notwendig und gewinnbringend, sich mit dieser, in ihren Voraussetzungen und Wirkungen weitestgehend ungeklärten, ursprünglich aus dem Steuer- 4 und Umweltrecht5 stammenden, dogmatischen Figur aus dem Blickwinkel des Pharma- bzw. Gesundheitsrechtes näher zu befassen. Einigkeit besteht noch darin, dass überhaupt ein grundrechtlicher Schutz gegen Belas4 Vgl. beispielsweise Hohmann, DÖV 2000 S. 406 – 417; Kirchhof, NJW 2006 S. 732 – 736; Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, in: Korinek/Müller/Schlaich (Hrsg.), Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Besteuerung und Eigentum // Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, 1981, S. 213 – 277. 5 Vgl. beispielsweise Kloepfer, VerwArch 1983 S. 201 – 224; Klement, AöR 2009 S. 35 – 82; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 79 – 162 m. w. N.; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 165 – 199 m. w. N.
A. Kompensationsmaßnahmen als Belastungskumulation
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tungskumulationen gewährt werden muss. Grundrechtlich verbürgte Freiheiten könnten andernfalls durch viele kleinere für sich allein genommen gerechtfertigte Eingriffe sukzessive beseitigt werden.6 Der Gesetzgeber soll keine Vorteile aus einer derartigen „Salamitaktik“ ziehen können.7 Die Gemeinsamkeiten enden allerdings bei der Frage, wie dieser aus dem punktuellen Eingriffsverständnis resultierenden Problematik richtigerweise begegnet werden soll. Klärungsbedürftig ist insbesondere, ob eine Gesamtbetrachtung der belastenden Eingriffswirkungen nicht zwangsläufig mit einer Modifikation des herrschenden und insoweit unbestrittenen8 Eingriffsbegriffs einhergeht. Denn dieser untersucht bekanntlich nur eine bestimmte hoheitliche Maßnahme und nicht ein ganzes Maßnahmebündel. Eine Frage, die es in der Verhältnismäßigkeitsprüfung erneut zu beantworten gilt, wenn – wie im Falle des die erhöhte Grundrabattierung flankierenden Preismoratoriums – mehrere Kostendämpfungsinstrumente miteinander kombiniert werden, um einen bestimmten Zweck zu erreichen. Modifiziert man die Verhältnismäßigkeitsprüfung im Sinne einer wie auch immer gearteten Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung, gilt es weiter zu prüfen, ob dann das optimale und nicht nur das relativ mildeste Mittel eingesetzt werden kann, ohne zugleich die Erforderlichkeit der eingreifenden Maßnahme verneinen zu müssen. Es stünde dann ja ein Korrektiv auf der Gesamtverhältnismäßigkeitsebene zur Verfügung, das gleichzeitig dazu dienen könnte, bei einem Adressaten auftretende, be- und entlastende Wirkungen ein und derselben hoheitlichen Maßnahme zu saldieren.9 Ob diese Wirkungen dann zeitgleich auftreten müssen, ist vor allen Dingen auch für die einer etwaigen Saldierung vorgelagerten Frage, wann überhaupt von einem additiven Grundrechtseingriff gesprochen werden kann, entscheidend. Einerseits kann und darf es sich die Grundrechtsdogmatik nicht zur Aufgabe machen, jegliche Mehrfachbelastungen auszuräumen.10 Andererseits setzt eine zu starre Handhabung zumindest einmal einen Anreiz, die eigentlich zu vermeidende Freiheitsverkürzung durch eine geschickte zeitliche Terminierung der be6 Kirchhof, NZS 2015 S. 7; Klement, AöR 2009 S. 75; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 166. 7 Boetius, Die Systemveränderung in der privaten Krankenversicherung (PKV) durch die Gesundheitsreform, 2008, S. 48; Kaltenstein, SGb 2015 S. 371; Ruland, SGb 2012 S. 242. 8 Peine, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009 § 57 Rn. 53; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 8 Rn. 16; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 54 Rn. 20; Kloepfer, VerwArch 1983 S. 210; davon ohne gesonderte Erwähnung ausgehend etwa: Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009 S. 313 – 314; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 6 Rn. 259 – 270; Epping, Grundrechte, 2015, S. 186 – 191 Rn. 390 – 401; Lücke, DVBl 2001 S. 1469. 9 Allgemein dazu beispielsweise: Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007; Hey, AöR 2003 S. 227 – 249; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999,. 10 Klement, AöR 2009 S. 54; Kloepfer, VerwArch 1983 S. 223.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
lastenden Maßnahmen durch die Hintertür doch noch herbeizuführen. Löst man sich von der auch in zeitlicher Hinsicht punktuellen Betrachtungsweise, gilt es Lösungen zu finden, wie mit bestands- oder rechtskräftigen Entscheidungen, die noch dazu von verschiedenen Hoheitsträgern stammen können,11 umzugehen ist. Immerhin ist es mehr als naheliegend, dass der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt, später fällt als diejenigen, die das Fass bis zum Rand gefüllt haben. Man denke nur an einen Rechtsstreit, der erst viele Jahre nach Vornahme anderer belastender Maßnahmen endgültig zuungunsten des Belasteten entschieden wird. Keinesfalls fernliegend wäre es auch, dass der Grundrabatt in einigen Jahren noch einmal deutlich erhöht wird und damit auch die Stimmen, die bereits jetzt die Grenze des wirtschaftlich gerade noch Zumutbaren erreicht oder gar überschritten sehen, noch einmal lauter werden.
II. Gang der weiteren Untersuchung Nachfolgend sollen einige dieser Fragen beantwortet werden. Dabei werden zunächst einmal die verwendeten Begrifflichkeiten und Formen der möglichen Belastungskumulationen im Rahmen einer Bestandsaufnahme nebst Analyse der dazu ergangenen Rechtsprechung herausgearbeitet (§ 6 B). Wie bereits angedeutet wird sich dabei herauskristallisieren, dass die Erfassung und Beseitigung von Belastungskumulationen das gängige grundrechtsdogmatische Instrumentarium vor besondere Herausforderungen stellt (§ 6 B. IV). Eine Herausforderung, die das Schrifttum bislang mit im Detail noch eher unbefriedigenden Lösungsansätzen bewältigt hat (§ 6 D). Zuvor werden aber noch normative Anhaltspunkte (§ 6 C) dafür gesucht, dass der Verfassungsgeber das Entstehen und die Auflösung von Belastungskumulationen überhaupt für möglich bzw. geboten erachtet hat. Entsprechend wird bei Beantwortung der Frage verfahren, ob bzw. inwieweit gleichzeitig mit der Belastungswirkung einhergehende Entlastungen zu berücksichtigen sind (§ 6 E). Auf Basis der bis dahin gewonnenen Erkenntnisse wird anschließend der Versuch unternommen, einen eigenständigen, die Schwächen der bisherigen Lösungsansätze vermeidenden Vorschlag zum Umgang mit Belastungskumulationen zu unterbreiten (§ 6 F). Steht damit fest, welche materiell rechtlichen Konsequenzen sich aus Belastungskumulationen ergeben können, wendet sich § 6 G. der verfassungsprozessualen Seite zu. Abschließend wird geprüft, ob die vom Gesetzgeber ergriffenen Kompensationsmaßnahmen in ihrer Gesamtheit tatsächlich den befürchteten additiven und deswegen verfassungswidrigen Grundrechtseingriff bilden (§ 6 H).
11
Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009 S. 314.
B. Begrifflichkeiten, Abgrenzungen und Formen
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B. Begrifflichkeiten, Abgrenzungen und Formen I. Begriffsklärung Uneinigkeit besteht bereits bei der zu verwendenden Terminologie. Im Anschluss an Teile der Literatur12 bezeichnete die Judikatur13, allen voran das Bundesverfassungsgericht14, die Figur als „additiven Grundrechtseingriff“, wobei der Begriff regelmäßig15 in Anführungszeichen gesetzt wurde. Hieraus wird gefolgert16, dass die Gerichte falsche Assoziationen mit dem mathematischen Begriff der Addition vermeiden wollen. Weder ginge es darum, die Wirkungen mehrerer Eingriffe schlicht zusammenzuzählen, noch zum Ausdruck zu bringen, dass erst ein Bündel von verschiedenen Hoheitsakten in seiner Gesamtheit die nötige Eingriffsqualität aufweise. Vielmehr gelte es, das Zusammenwirken von hoheitlichen Maßnahmen, welche jede für sich schon Eingriffsqualität haben, zu unter12
Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 130 Rn. 308; Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 97 – 98; Lücke, DVBl 2001 S. 1470; Peine, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009 § 57 Rn. 53; Rosch, in: Beck’scher OK, PAG, 2016, Art. 33 Rn. 10a; Winkler, JA 2014 S. 881 – 887; der Begriff geht wahrscheinlich auf Kloepfer zurück, der als Vater des Gedankens der Belastungskumulationen gilt und in seinem Aufsatz aus dem Jahre 1983 von „Eingriffsadditionen“ sprach, siehe: Kloepfer, VerwArch 1983 S. 202. Bereits sechs Jahre zuvor plädierte Schwerdtner, ZFA 1977, S. 68 gegen eine atomisierte Betrachtung von Arbeitgebern auferlegten Geldleistungspflichten. „Solange der Staat die Unternehmen im Rahmen des Mutterschutzes, des Bildungsurlaubes, der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall etc. als Erfüllungsgehilfen staatlicher Sozialpolitik ge- oder mißbraucht, kommt es nicht auf den Enteignungscharakter der atomisierten Einzelleistungen, sondern allein darauf an, ob die Gesamtheit der die Unternehmen treffenden Leistungen eine unternehmerische Entfaltung unmöglich macht.“ 13 BSG, NZS 2010, S. 32; BSG, Urteil vom 21. Januar 2009 – B 12 R 1/07 R –, juris Rn. 46; Bayerisches Landessozialgericht, Urteil vom 21. Oktober 2016 – L 8 SO 246/15 –, juris Rn. 55. 14 BVerfGE 112, 304 (320); 114, 196 (247); 123, 186 (265 f.); 130, 372 (392); BVerfG, DVBl 2016, S. 774. 15 BGHSt 54, 69 (104) = NJW 2009, S. 3458; BSG, Urteil vom 03. September 2014 – B 10 ÜG 2/14 R –, juris Rn. 39; FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07. Juli 2015 – 6 K 6071/12 –, juris Rn. 66 – 67; LG Ellwangen, Beschluss vom 28. Mai 2013 – 1 Qs 130/12 –, juris Rn. 68; LSG Baden-Württemberg, Urteil vom 15. November 2011 – L 11 R 267/11 –, juris Rn. 70; Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 20. Juni 2014 – 96/13 –, juris Rn. 38; Epping, Grundrechte, 2015, S. 191 Rn. 401; Kirchhof, NZS 2015 S. 7; Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014, S. 258 verwenden den Begriff ohne ihn in Anführungszeichen zu setzen. Ebenso das BVerwG, NVwZ 2016, S. 531 (zur Veröffentlichung in BVerwGE 153, 116 – 129 vorgesehen), das allerdings vom „sog. additiven Grundrechtseingriff“ spricht. 16 Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 27 Fn. 84; Klement, AöR 2009 S. 41; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 94.
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suchen.17 Deshalb erscheine es auch fragwürdig im Singular von einem Grundrechts(gesamt)eingriff 18 zu sprechen, wenngleich durch die Tempuswahl auch die neue Qualität des Eingriffs hervorgehoben werden könnte.19 Wo aber mehrere Eingriffe zusammenwirken, sei der Begriff Kumulation von Grundrechtseingriffen 20 treffender. Als Oberbegriff sei die Bezeichnung Belastungskumulation geeignet.21 Dafür, dass sich das Bundesverfassungsgericht tatsächlich vom Begriff des additiven Grundrechtseingriffs distanzieren will, spricht jedenfalls, dass der zweite Senat in seinem, den bisher genannten Entscheidungen zeitlich nachfolgenden, bislang wenig beachteten Beschluss22 zu Maßregelvollzugszeiten vom 27. 03. 2012 ausführt, dass „[k]umulativen oder „additiven“23 Grundrechtseingriffen […] ein spezifisches Gefährdungspotenzial für grundrechtlich geschützte Freiheiten inne [wohnt…]. Ob eine Kumulation24 von Grundrechtseingriffen das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität noch wahrt, hängt von einer Abwägung aller Umstände ab, in die auch gegenläufige Verfassungsbelange einzubeziehen sind.“
Der zweite Senat greift also beide Begrifflichkeiten auf und stellt zunächst einmal klar, dass er in der Sache keinen Unterschied zwischen ihnen erkennen kann. Wie in den vorangegangen Entscheidungen verwendet er auch hier Anführungszeichen für das Adjektiv „additiv“, gebraucht dann allerdings nur noch den Begriff der Kumulation.25 Andererseits führt der erste Senat in einem 17
Klement, AöR 2009 S. 42. Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 54 Rn. 20; Lücke, DVBl 2001 S. 1478. 19 Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 183; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 94. 20 So im Ergebnis ohne nähere terminologische Begründung auch das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 04. Februar 2016 – 14 A 3047/15 –, juris Rn. 18 – 19; VG Köln, Urteil vom 12. Februar 2014 – 24 K 1560/13 –, juris Rn. 55; VG Köln, Urteil vom 09. April 2014 – 24 K 5036/13 –, juris Rn. 131; VG Köln, Urteil vom 09. April 2014 – 24 K 5091/13 –, juris Rn. 46; VG Köln, Gerichtsbescheid vom 25. November 2015 – 24 K 3425/15 –, juris Rn. 124; Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 59; Kirchhof, Beihefter zu DStR Heft 49/2009, S. 136. 21 Klement, AöR 2009 S. 42; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 95; anders wiederum: Greve, Access-Blocking – Grenzen staatlicher Gefahrenabwehr im Internet, 2012, S. 224 Fn. 85, der die Begrifflichkeiten Belastungskumulation und kumulativer Grundrechseingriff synonym verwendet. 22 BVerfGE 130, 372 (392). 23 Fettdruck nicht im Original. 24 Fettdruck nicht im Original. 25 Ähnlich das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 11. Juni 2015 – OVG 1 B 5.13 –, juris, das in den Entscheidungsgründen (Rn. 201) nur vom kumulativen Eingriff spricht, obwohl im Tatbestand bei den Rechtsansichten noch vom additiven Grundrechtseingriff (Rn. 89) bzw. der additiven Grundrechtsbeeinträchtigung (Rn. 72) 18
B. Begrifflichkeiten, Abgrenzungen und Formen
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am 03. 06. 2014, also gut zwei Jahre später ergangenen Nichtannahmebeschluss26 aus: „Auch bei einer additiven27 Betrachtung der die rentenversicherungsrechtliche Rechtsposition der Beschwerdeführer betreffenden gesetzgeberischen Maßnahmen zeigt sich keine Verletzung ihrer verfassungsmäßigen Rechte.“
In dieser Entscheidung ist also ausdrücklich von einer additiven Betrachtung die Rede, wobei der Begriff nicht in Anführungszeichen gesetzt wird. Da auch ansonsten an keiner Stelle von Kumulation gesprochen wird, könnte man auf die Idee kommen, dass es zumindest einmal dem ersten Senat des Bundesverfassungsgerichtes nicht darauf ankommen kann, falsche Assoziationen mit dem mathematischen Begriff der Addition zu vermeiden. Nicht zuletzt auch deshalb, weil eben jener erste Senat in seinem Urteil28 vom 10. 06. 2009 zum PKV-Basistarif noch vom „additiven“ Grundrechtseingriff sprach, schien der von den Kritikern dieser terminologischen Formulierung vorgebrachte Assoziationsvermeidungsgedanke keinesfalls zwingend zu sein. Neue Zweifel säen jedoch die teilweise erfolgreichen Verfassungsbeschwerden29 gegen die Ermittlungsbefugnisse des Bundeskriminalamtes zur Terrorismusbekämpfung. Mit Verweis auf eine besagtem Nichtannahmebeschluss30 vorhergehende Entscheidung31 des zweiten Senates kehrte der erste Senat zwischenzeitlich wieder zum „additiven“ Grundrechtseingriff zurück. In seinem, die Verfassungsbeschwerden gegen landesrechtliche Einschränkungen von Spielhallen zurückweisenden Beschluss vom 07. 03. 2017 sprach er jedoch erstmals von einer „kumulativen Belastung“32. Insofern dürften die Begriffe additiver und kumulativer Grundrechtseingriff nach wie vor synonym verwendet werden.33 gesprochen wird. Seiler, Verfassung in ausgewählten Teilrechtsordnungen: Konstitutionalisierung und Gegenbewegungen im Steuerrecht, in: Volkmann (Hrsg.), Verfassung als Ordnungskonzept, 2016, S. 364 spricht ebenfalls vom kumulativen Grundrechtseingriff, verweist in Fn. 140 aber auf Literatur zum „additiven Grundrechtseingriff“. 26 BVerfG, NJW 2014, S. 3638. 27 Fettdruck nicht im Original. 28 BVerfGE 123 186 (265); explizit hierauf, aber ohne die vermeintlich distanzierenden Anführungszeichen, bezugnehmend auch das BSG, Urteil vom 03. September 2014 – B 10 ÜG 2/14 R –, juris Rn. 39. 29 BVerfG, DVBl 2016, S. 774. 30 BVerfG, NJW 2014, S. 3638. 31 BVerfGE 112, 304 (319 f.). 32 BVerfG, Beschluss vom 07. März 2017 – 1 BvR 1314/12 –, juris Rn. 156; so im Übrigen bereits Gregor Kirchhof in: Kirchhof, FR 2015, S. 778. 33 So auch weite Teile der Rechtsprechung: FG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 07. 07. 2015 – 6 K 6071/12 –, juris Rn. 66 und Rn. 89; FG Bremen, EFG 2014, S. 964 – 968; FG Hamburg, EFG 2014, S. 2098 – 2104; OVG Lüneburg, Urteil vom 28. November 2016 – 9 LC 335/14 –, juris Rn. 39; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen,
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Indes bringen es weder diese beiden noch die ebenfalls verwendeten Begriffe der „summativen Betrachtungsweise“34, der „Addition zeitlich gestufter Grundrechtsbeschränkungen“35 oder des „Summeneffektes“36 auf den Punkt. Es wurde bereits darauf hingewiesen37, dass es keinesfalls Aufgabe der Grundrechtsdogmatik sein kann, sämtliche, vielleicht sogar noch ausdrücklich gewollte Mehrfachbelastungen von Grundrechtsträgern zu beseitigen. In letzter Konsequenz dürfte der Staat dann nämlich genau ein einziges Mal eingreifen, was schon alleine wegen des weiten Verständnisses der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), als Recht zu tun und zu lassen, was man möchte, keinesfalls sachgerecht und handhabbar wäre. Das Zusammentreffen und damit auch das Zusammenwirken mehrerer Eingriffe, also deren Addition, Summierung oder Kumulation, ist somit der Regel- und nicht etwa der Ausnahmefall im Leben eines jeden Grundrechtsträgers. Zum Ausdruck gebracht werden soll aber, dass eine ganze Serie von eigentlich verfassungsmäßigen Eingriffen ab einem gewissen Punkt dennoch in der Verfassungswidrigkeit gipfelt. Es dürfte deshalb treffender sein, das Erreichen dieses Gipfels als kulminierenden Grundrechtseingriff zu bezeichnen. Nur weil mehrere Grundrechtseingriffe kumulativ im Sinne einer Mehrfachbelastung zusammenwirken, kulminiert dies noch nicht in der Verfassungswidrigkeit eines hoheitlichen Aktes. Gegen den vorgeschlagenen Oberbegriff der Belastungskumulation38 bestehen diese Bedenken freilich nicht. Letztlich handelt es sich dabei
Beschluss vom 26. November 2013 – 14 A 2401/13 –, juris Rn. 16 [zwar wird im Nichtzulassungsbeschluss der Berufung des selben Gerichtes (Oberverwaltungsgerichtes für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 17. September 2014 – 14 A 781/14 –, juris Rn. 38 – 40) nur vom kumulativen Grundrechtseingriff gesprochen, allerdings scheint sich diese Formulierung ausschließlich auf die nach Auffassung des Rechtsmittelführers aufgeworfenen klärungsbedürftigen Fragen zu beziehen]; VG Saarland, Urteil vom 12. Dezember 2014 – 1 K 354/13 –, juris Rn. 134; aus der Literatur: Bernsdorff, SGb 2011 S. 122; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 17; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 8 Rn. 16; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 18 Rn. 519; Hufen, Staatsrecht II, 2016; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005; Möstl, in: Isensee, HStR VIII, 2010, § 179 Rn. 22; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 333 – 334. 34 Kluth, ZHR 1998 S. 673; Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 22. 35 Boetius, Die Systemveränderung in der privaten Krankenversicherung (PKV) durch die Gesundheitsreform, 2008, S. 47; Steiner, A&R 2007 S. 148. 36 Brenner, Quo vadis, Jagdrecht?, 2015, S. 89; Brenner, DÖV 2014, S. 239; Leisner, in: Isensee, HStR VIII, 2010, § 173 Rn. 168. 37 § 6 A. I.; Klement, AöR 2009 S. 54. 38 Hofmann, Abwägung im Recht, 2012, S. 411 bevorzugt den Begriff polygonale Gesamtbetrachtung von Belastungen, versteht diesen aber in einem weiteren Sinne, weswegen auch Grundrechte Dritter einbezogen sind.
B. Begrifflichkeiten, Abgrenzungen und Formen
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ohnehin um eine rein terminologische Frage, weswegen man ihr keine allzu große Bedeutung beimessen sollte.39
II. Abgrenzung zur Grundrechtskonkurrenz Klarzustellen ist aber, dass es sich weder beim summativen, additiven, kumulativen noch kulminierenden Grundrechtseingriff im soeben dargestellten Sinne um einen Fall der Grundrechtskonkurrenz handelt.40 Eine Grundrechtskonkurrenz liegt vor, wenn ein Lebenssachverhalt mehrere Tatbestände von Grundrechtsbestimmungen erfüllt und deshalb zu entscheiden ist, ob bzw. inwieweit ein Grundrecht ein anderes verdrängt (unechte Grundrechtskonkurrenz), beide Grundrechte ohne wechselseitige Beeinflussung nebeneinander bestehen bleiben (Idealkonkurrenz) oder sich aus ihrem Zusammenwirken ein neuer Prüfungsmaßstab ergibt (Grundrechtskumulation).41 Anders als bei der Grundrechtskumulation, bei der wie im sogenannten Schächt-Urteil42 ein und derselbe hoheitliche Akt an verschiedenen Grundrechten des Berechtigten gemessen wird, liegen im Falle der Belastungskumulation stets verschiedene, mindestens jedoch zwei Hoheitsakte vor. Die Abgrenzung erfolgt somit über die Figur, genauer die Anzahl der Grundrechtseingriffe.43 Eine Belastungskumulation erfordert mindestens zwei belastende Maßnahmen. Besteht Eingriffsidentität, ist also ein bestimmter Grundrechtsträger durch ein tatsächliches oder rechtliches Verhalten eines Grundrechtsverpflichteten betroffen, so kann nur eine Grundrechtskonkurrenz bestehen. Damit ist freilich nicht gesagt, dass im Einzelfall
39 In diesem Sinne auch Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 182 – 183; wohl auch: Bernsdorff, SGb 2011 S. 122. 40 So aber der missverständliche Titel des Beitrags von Hofmann, AöR 2008 S. 524 – 555: „Grundrechtskonkurrenz oder Schutzbereichsverstärkung? Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum „additiven“ Grundrechtseingriff“, der in seinem Beitrag auf S. 527 – 531, dann aber zwischen Grundrechtskonkurrenzen und Belastungskumulationen differenziert; ausdrücklich in diesem Sinne dann: Hofmann, JURA – Juristische Ausbildung 2008 S. 670 – 671; unklar wiederum: Hofmann, Abwägung im Recht, 2012, S. 409, wo Fälle der Idealkonkurrenz mit Verweis auf Lücke, DVBl 2001, S. 1470 – 1471 als „additiver Grundrechtseingriff“ bezeichnet werden. Im weiteren Verlauf (S. 411) grenzt Hofmann aber ebenfalls anhand des Eingriffes ab. 41 BVerfGE 50, 290 (339 ff.); Epping, Grundrechte, 2015, S. 126 Rn. 262 – 266; Hofmann, AöR 2008 S. 527 – 534; Hofmann, JURA – Juristische Ausbildung 2008 S. 667 – 670; Klement, AöR 2009 S. 51 – 52 m. w. N.; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 52 Rn. 1 – 6; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 50 – 60. 42 BVerfGE 104, 337 (346). 43 Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 8 Rn. 16; Klement, AöR 2009 S. 51 – 52; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 96.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
keine Kombinationen von Belastungskumulationen und Grundrechtskonkurrenzen auftreten können.44
III. Formen der Belastungskumulation Dass es sich bei Belastungskumulationen um keine akademische, sondern eine Frage mit hoher praktischer Relevanz handelt, zeigt ein Blick in die Rechtsprechung der Fachgerichte sowie des Bundesverfassungsgerichtes, anhand dessen zugleich auch die verschiedenen Formen der Belastungskumulationen vorgestellt werden. 1. Vertikale Belastungskumulation a) Wehrdisziplin Das Bundesverfassungsgericht erkannte bereits im Jahre 1967, dass die nebeneinander erfolgende Verhängung von Kriminalstrafen und disziplinaren Laufbahnstrafen wegen desselben Sachverhaltes zwar nicht gegen Art. 103 Abs. 3 GG verstoße, der Arreststrafe sei nämlich zumindest auch disziplinarischer Charakter beizumessen. Ungeachtet dieses Wesensunterschiedes von Kriminal- und Disziplinarrecht sei es jedoch mit rechtsstaatlichen Grundsätzen unvereinbar, wenn ein Soldat nach der Verhängung einer Freiheitsstrafe im Disziplinarverfahren wegen desselben Tatkomplexes noch einmal zusätzlich und ohne Berücksichtigung der Disziplinarstrafe mit einer Freiheitsstrafe des Kriminalrechts belegt wird.45 Betraf diese Entscheidung ein und dieselbe Tathandlung und damit in tatsächlicher Hinsicht einen einheitlichen Vorgang, erwog das Gericht46 kurz darauf, den Anwendungsbereich auf verschiedene Handlungen zu erweitern. Ein wehrpflichtiger, aber noch nicht als Kriegsdienstverweigerer anerkannter Soldat, verweigerte verschiedene Befehle und wurde wegen jeder Befehlsverweigerung mit einem Arrest belegt. Das Gericht diskutierte die Übertragung der zuvor aufgestellten Pflicht zur Berücksichtigung der Gesamtarrestdauer, wollte ein eindeutiges Verbot mehrfacher Ahndung aber nur dann annehmen, wenn die Gegenstände der Verfahren in allen Einzelheiten identisch sind.47 Abgesehen davon sollen sich auch dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit keine generellen Grenzen für die Anzahl zulässiger Arrestmaßnahmen entnehmen lassen. Die Höchstdauer der ge44 Klement, AöR 2009 S. 52; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 96. 45 BVerfGE 21, 378 (383 f.). 46 BVerfGE 28, 264 (280). 47 Das übersieht Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 40, der die Entscheidung als Beleg für die Erweiterung des Anwendungsbereichs anführt.
B. Begrifflichkeiten, Abgrenzungen und Formen
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samten Freiheitsentziehungen hinge nämlich immer auch von dem Verhalten des Betroffenen und den besonderen Umständen des Einzelfalles ab.48 b) Maßregelvollzugszeiten Ähnlich argumentiert es in einem bislang wenig beachteten Beschluss zum Verhältnis von Maßregelvollzug und Kriminalstrafe aus dem Jahre 2012. Ob eine Kumulation von Grundrechtseingriffen das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität noch wahre, hinge von einer Abwägung aller Umstände ab, in die auch gegenläufige Verfassungsbelange einzubeziehen seien.49 In der Sache wandte sich der Beschwerdeführer gegen die auf § 67 Abs. 4 StGB beruhenden Entscheidungen der Strafvollstreckungsbehörde sowie der Strafvollstreckungsgerichte, die Dauer des Vollzugs einer Maßregel der Besserung und Sicherung nicht auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen anzurechnen. Wie in seinem Urteil zur Wehrdisziplin stellte das Gericht zunächst einmal klar, dass Freiheitsstrafen und freiheitsentziehende Maßregeln der Besserung und Sicherung unterschiedliche Zwecke verfolgen und deshalb auch nebeneinander angeordnet werden können. Untereinander müssten sie dann aber so aufeinander abgestimmt werden, dass die Zwecke beider Maßnahmen möglichst weitgehend erreicht werden, ohne dass dabei in das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG mehr als notwendig eingegriffen wird. Schränkt der Gesetzgeber die Möglichkeit der Anrechnung von nebeneinander angeordneten Freiheitsentziehungen ein, müsse er bedenken, dass bei der Kumulation der Maßnahmen die Freiheitsentziehung insgesamt nicht übermäßig wird. Anrechnungsausschlüsse dürften deshalb nicht ohne Beziehung zu Grund und Ziel der Maßregel der Unterbringung erfolgen. Gemessen daran sei die Anrechnungsvorschrift des § 67 Abs. 4 StGB mit Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG insoweit unvereinbar, als dass sie es ausnahmslos ausschließt, die Zeit des Vollzugs einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung auf Freiheitsstrafen anzurechnen. Härtefälle könnten sich nämlich aus der fehlenden Möglichkeit ergeben, die Zeit des Vollzugs einer freiheitsentziehenden Maßregel der Besserung und Sicherung auf Freiheitsstrafen aus einem anderen Urteil als demjenigen, in welchem diese Maßregel angeordnet worden ist, anzurechnen. Die vorhandenen Instrumente würden nicht ausreichen, um Härtefälle zu vermeiden, die sich bei der Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens aus der Kumulation von Freiheitsstrafe und Maßregel ergeben können. Auch anderweitige, einen Härtefall begründende, besondere Gegebenheiten des Einzelfalles könnten durch die fehlende Anrechnungsmöglichkeit von Zeiten des Maßregelvollzugs auf verfahrensfremde Freiheitsstrafen unberücksichtigt bleiben.50 48
BVerfGE 28, 264 (280 f.). BVerfGE 130, 372 (392). 50 BVerfGE 130, 372 (394 f.). 49
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c) U-Haftbedingungen Die ebenfalls auf unterschiedlichen Zwecken beruhenden Belastungskumulationen, denen ein Untersuchungshäftling ausgesetzt war, nahm der Kammerbeschluss51 vom 19. 10. 1993 in den Blick. Der beschwerdeführende Häftling wandte sich gegen zehn Punkte einer landgerichtlichen Sicherungsverfügung, die darauf abzielte, eine Verdunkelung seines Tatbeitrages zu verhindern. Angesichts der Schwere der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Taten hielt das Gericht die getroffenen Maßnahmen auch unter Berücksichtigung ihres kumulierenden Zusammenwirkens für zumutbar. In seine Betrachtung bezog es dabei auch die besonderen Belastungen ein, die dem Untersuchungshäftling aus dem mit sechs Quadratmetern sehr kleinen Haftraum erwuchsen. Aufgrund der getroffenen Sicherungsvorkehrungen hatte der Untersuchungshäftling nämlich keine Gelegenheit zum regelmäßigen Aufenthalt in Arbeits- oder Gemeinschaftsräumen und musste sich deshalb überwiegend in seinem Haftraum aufhalten. Dessen Größe war jedoch ausschließlich von den tatsächlichen Gegebenheiten in der Justizvollzugsanstalt abhängig. Sie stand in keinerlei Zusammenhang zur angenommenen Verdunkelungsgefahr und damit zum Zweck der getroffenen Sicherungsverfügungen. Das Gericht kombinierte somit die sich aus finalen staatlichen Handlungen ergebenden Freiheitseinbußen mit rein faktischen Belastungswirkungen.52 Im Ergebnis konnte das Gericht zwar keine Verfassungswidrigkeit erkennen, allerdings hob es in seiner Begründung auf die vergleichsweise kurze Dauer der U-Haft und die deswegen geringere Eingriffsintensität ab. Ob die mit zunehmender Dauer der Haft wachsende Belastung zu einem späteren Zeitpunkt eine andere Beurteilung gebieten könnte, ließ es ausdrücklich offen. d) Fazit In deutlicher Nähe zum Doppelbestrafungsverbot, dogmatisch aber entweder direkt an das allgemeine Rechtsstaatsprinzip53 oder aber an das zumindest mitunter54 aus ihm abgeleitete Verhältnismäßigkeitsprinzip55 anknüpfend, trägt das Gericht damit den, aus dem punktuellen Eingriffsbegriff resultierenden, besonderen Belastungswirkungen Rechnung. Nach gängiger und diesbezüglich unbe-
51
BVerfG, ZfStrVo 1994, S. 377. Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 41. 53 BVerfGE 21, 378 (383 f.). 54 Beispielsweise BVerfGE 6, 389 (439); 22, 180 (220); 113, 154 (162); Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 92 – 108; Merten, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009 § 68 Rn. 30 jeweils m. w. N. 55 BVerfGE 130, 372 (391). 52
B. Begrifflichkeiten, Abgrenzungen und Formen
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strittener Grundrechtsdogmatik56 wurde und wird eine hoheitliche Maßnahme immer nur punktuell auf ihre Vereinbarkeit mit einem Grundrecht untersucht. Wenn der Rechtsstaat aber lediglich die Grenzen einer einzelnen Maßnahme prüft, ignoriert er die sich aus der Kumulation der verfassungsmäßigen Einzeleingriffe ergebende Gesamtbelastung. Er wähnt sich zu Unrecht innerhalb der ihm gesetzten verfassungsrechtlichen Grenzen.57 Dieses, eigentlich alltägliche Phänomen der Summierung von Einzeleingriffen gegenüber einer Person bezeichnete erstmals Kloepfer58 als vertikale Eingriffsaddition. Sie ist vor allem das Resultat eines gewandelten Eingriffsverständnisses, weg vom Klassischen, hin zum Modernen, das neben tatsächlichen Wirkungen auch ein hoheitliches Unterlassen ausreichen lässt. Aber auch das weite Schutzbereichsverständnis der allgemeinen Handlungsfreiheit führt dazu, dass sich jeder Grundrechtsberechtigte mit einer Vielzahl an Grundrechtseingriffen, mithin einer vertikalen Belastungskumulation, konfrontiert sieht. 2. Echte und unechte Belastungskumulationen Es liegt auf der Hand, dass ein bloßes zeitliches Zusammentreffen verschiedener Eingriffe zwar eine Belastungskumulation ist, ohne Weiteres aber nicht zu einem kulminierenden Grundrechtseingriff führen kann. Alleine wegen ihrer zeitlichen Koinzidenz darf nicht nach einem, die verschiedenen Beeinträchtigungen verklammernden Maßstab gesucht werden. Die Koinzidenz könnte schlicht zufällig und damit unbeachtlich sein.59 Man denke nur an einen pharmazeutischen Unternehmer, der in seinem Jahresurlaub einen Sportbootführerschein als Befähigungsnachweis vorlegen muss, gleichzeitig dabei aber nicht von der in § 94 AMG statuierten Pflicht dispensiert ist, Deckungsvorsorge für Arzneimittelschäden zu betreiben. Beachtlich kann die Belastungskumulation demnach nur sein, wenn weitere Voraussetzungen hinzutreten, die es ermöglichen, die vergleichbare Wirkung der formal getrennten Eingriffe als zwei Seiten eines einheitlichen Vorganges zu sehen.60 Die Belastungen müssen also einen vergleichbaren Gegenstand
56 Lücke, DVBl 2001 S. 1469; Peine, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009 § 57 Rn. 53; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 8 Rn. 16; Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 54 Rn. 20; Kloepfer, VerwArch 1983 S. 210; davon ohne gesonderte Erwähnung ausgehend etwa: Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009 S. 313 – 314; Epping, Grundrechte, 2015, S. 186 – 191 Rn. 390 – 401; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 6 Rn. 259 – 270. 57 Kirchhof, NJW 2006 S. 732; Kirchhof, Beihefter zu DStR Heft 49/2009, S. 136. 58 Kloepfer, VerwArch 1983 S. 214; ihm folgend auch: Klement, AöR 2009 S. 42; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 98. 59 Bernsdorff, SGb 2011 S. 122; Lücke, DVBl 2001 S. 1470. 60 Klement, AöR 2009 S. 43.
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treffen.61 Was genau aber hierunter zu verstehen ist, wird kontrovers diskutiert. Vergleichbar ist in jedem Falle einmal ein zweckidentischer Eingriff in ein und dasselbe Grundrecht. Im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes könnte Vergleichbarkeit aber auch dann gegeben sein, wenn verschiedene Grundrechte betroffen sind,62 bei denen nur eine gewisse oder überhaupt keine Zweckidentität besteht. Andernfalls würden die Belastungswirkungen beim rechtsunterworfenen Grundrechtsberechtigten nicht realitätsgerecht erfasst. Für eine solche Sichtweise und damit gegen – zumindest – vollständige Zweckidentität, sprechen jedenfalls die eingangs vorgestellten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes. Diese kombinieren entweder faktische mit finalen Belastungen oder betonen besonders den Wesensunterschied der Freiheitsentziehungen aus disziplinarischen, präventiven und pönalen Gründen. Die Kriminalstrafe diene neben der Abschreckung und Besserung auch der Vergeltung. Sie ziele mit ihren beiden Hauptstrafen darauf ab, den Täter in seinem Vermögen oder in seiner Freiheit zu treffen, müsse aber – wie der Maßregelvollzug auch – auf Resozialisierung ausgerichtet sein. Die Disziplinarstrafe sei demgegenüber ihrem Wesen nach Zucht- und Erziehungsmittel. Sie bezwecke die Aufrechterhaltung eines geordneten Dienstbetriebes.63 Dabei sollte jedoch nicht übersehen werden, dass sich über die Zwecke von Strafen und Maßregeln trefflich streiten lässt.64 Festzuhalten bleibt jedenfalls, dass nicht jede Belastungskumulation zu einem kulminierenden Eingriff führen kann, weil dieser offenbar von der Erfüllung weiterer Voraussetzungen abhängig ist. Es wird deshalb folgende Differenzierung65 vorgeschlagen: Belastungskumulationen, die zu einem kulminierenden Eingriff führen können, sind als echte Belastungskumulationen zu bezeichnen. Belastungskumulationen, bei denen die noch zu entwickelnden Voraussetzungen für einen kulminierenden Eingriff nicht vorliegen, als unechte Belastungskumulationen oder Mehrfachbelastungen66.
61
Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 28. Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 97; a.A: Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 157; Lücke, DVBl 2001 S. 1474; die eine Belastungskumulation nur annehmen wollen, wenn dasselbe Grundrecht betroffen ist; näher dazu: § 6 D. III. 2. 63 BVerfGE 21, 378 (384). 64 Vgl. Lücke, DVBl 2001 S. 1474 Fn. 32 m. w. N. 65 Vgl. Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung, 2006, S. 111. 66 Bernsdorff, SGb 2011 S. 123; Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 97; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 18; Kirchhof, NJW 2006 S. 732. 62
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3. Horizontale Belastungskumulationen Eine, auf den ersten Blick unechte Belastungskumulation stellt die ebenfalls in Anlehnung an Kloepfer67 so bezeichnete, horizontale Belastungskumulation dar, bei der mehrere Personen von gleichartigen, jeweils gerechtfertigten Grundrechtseingriffen betroffen sind. An sich beschreibt sie den verfassungsrechtlichen Normalfall, da andernfalls ein gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG unzulässiges Einzelfallgesetz vorläge sowie gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG verstoßen werden würde.68 Gleichwohl sah sich das Bundesverfassungsgericht bezüglich mehrerer Landesgesetze zur automatisierten KFZ-Kennzeichenerfassung veranlasst festzustellen, dass die automatische Erfassung von Personen, die keinen Datenerhebungsanlass gegeben haben, zu allgemeinen Einschüchterungseffekten führe. Die Unbefangenheit des Verhaltens werde insbesondere durch die Streubreite der Ermittlungsmaßnahmen gefährdet, wodurch die Grundrechtsausübung beeinträchtigt werden könne. Neben der Beförderung von Missbrauchsrisiken werde auch dem Entstehen eines Gefühls des Überwachtwerdens Vorschub geleistet.69 Ein Zustand, der mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne unvereinbar sei. Dies gelte insbesondere auch deshalb, weil es die angegriffenen Vorschriften aufgrund ihrer unbestimmten Weite erlauben, anlasslose, automatisierte, flächendeckende KFZ-Kennzeichenerfassungen bzw. Auswertungen durchzuführen. Im Ergebnis würden somit verfassungswidrige, grundrechtseingreifende Ermittlungen ins Blaue hinein ermöglicht werden. Eine automatisierte Kennzeichenerfassung, die unterschiedslos jeden nur deshalb treffe, weil er mit einem Fahrzeug eine – ohne besonderen Anlass oder gar dauerhaft eingerichtete – Stelle zur automatisierten Erfassung von Kraftfahrzeugkennzeichen passiert, vermittele zudem den Eindruck ständiger Kontrolle. Das sich einstellende Gefühl des Überwachtwerdens könne besagte Einschüchterungseffekte hervorrufen und in der Folge zu Beeinträchtigungen bei der Ausübung von Grundrechten führen. Hierdurch seien nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen betroffen, sondern auch das Gemeinwohl. Selbstbestimmung sei nämlich eine elementare Funktionsbedingung eines, auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten, freiheitlichen, demokratischen Gemeinwesens.70 Eine Entscheidung, die sich in eine ganze 67
Kloepfer, VerwArch 1983 S. 214. Klement, AöR 2009 S. 45 – 46; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 97. 69 BVerfGE 120, 378 (402); die Argumentationsfigur stammt ursprünglich vom U.S. Supreme Court Dombrowski v. Pfister, 380 U.S. 479 [1965] näher zu diesen sogenannten chilling effects m. w. N. Greve, Access-Blocking – Grenzen staatlicher Gefahrenabwehr im Internet, 2012, S. 226 Fn. 103. 70 BVerfGE 120, 378 (430) mit Verweis auf BVerfGE 65, 1 (43); 100, 313 (381). 68
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Kaskade an Entscheidungen71 zu gefahrenabwehr- oder strafrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen einreiht, aufgrund derer in kurzer Zeit in die Grundrechte einer großen Anzahl an verschiedenen Grundrechtsträgern eingegriffen werden konnte. Zur Bestimmung des Eingriffsgewichts und damit der Angemessenheit des Eingriffs bediente sich das Gericht hier stets der horizontalen Belastungskumulation, wenngleich es diesen Begriff bislang noch nicht gebrauchte. Dies überrascht insofern, als dass der, von den Grundrechten vermittelte, abwehrrechtliche Schutz, ein Schutz individueller Rechte ist. Für den Einzelnen verschlechtert sich nichts, wenn auch andere einen Nachteil erleiden.72 Nachvollziehbar wird die Annahme einer derartigen „verfassungswidrigen Breitenwirkung“73 erst dann, wenn man sich von der isolierten Betrachtung der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte löst und auch ihre objektiv-rechtliche Dimension mit einbezieht. Denn dann erweitert sich das Blickfeld und es ist auf einmal nicht nur die individuelle Fortbewegungsfreiheit (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) eines Grundrechtsträgers betroffen, sondern die Mobilität der Gesellschaft insgesamt.74 Mag man einen Eingriff in die individuelle Fortbewegungsfreiheit aufgrund seiner geringen Intensität sogar noch ablehnen,75 führt die flächendeckende Überwachung zur Verfassungswidrigkeit, weil jedermann, jederzeit Adressat eines auf diese Rechtsgrundlage gestützten Eingriffes werden könnte, ohne auch nur den geringsten Anlass gegeben zu haben. Ein Zustand, der eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungs- und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger gegründeten Gemeinwesens stört76 und dem deshalb durch die teilweise Entindividualisierung der Grundrechte nicht nur begegnet werden kann, sondern auch begegnet werden muss.77 Dogmatisch knüpft das Gericht dabei stets an das Eingriffsgewicht im
71 BVerfGE 100, 313; 113, 29; 115, 320; 121, 1; 122, 120; vgl. 133, 277; ausführlich dazu: Greve, Access-Blocking – Grenzen staatlicher Gefahrenabwehr im Internet, 2012, S. 223 – 228; Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014, S 223 – 262. 72 Klement, AöR 2009 S. 46. 73 So die Formulierung bei Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 31 – 32, der bei horizontalen Belastungskumulationen den Adressatenkreis eines Eingriffs ins Verhältnis zu seinem Nutzen setzen möchte. 74 Zu diesem Gedanken bereits: Kloepfer, VerwArch 1983 S. 214; diesen Gedanken aufgreifend und vertiefend Klement, AöR 2009 S. 47 – 50 m. w. N.; ferner: Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 170; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 98; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 23 Rn. 744. 75 Klement, AöR 2009 S. 48; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 98. 76 BVerfGE 120, 378 (430). 77 Klement, AöR 2009 S. 48 – 49; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 98.
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Rahmen der Angemessenheit an.78 Es verortet die horizontale Belastungskumulation scheinbar in der Verhältnismäßigkeitsprüfung, die ihrerseits zumindest einmal mitunter79 ebenfalls im Rechtsstaatsprinzip dogmatisch verankert wird. Folglich scheint das Gericht neben der vertikalen, auch die horizontale Belastungskumulation aus dem Rechtsstaatsprinzip ableiten zu wollen.80 Da es sich bei den, vom Gesetzgeber durch das 14. SGB V Änderungsgesetz ergriffenen Kompensationsmaßnahmen für den beendeten Bestandsmarktaufruf ausnahmslos um vertikale Belastungskumulationen handelt, wird nachfolgend primär auf diese eingegangen werden. Wegen des entindividualisierenden Ansatzpunktes erscheint es ohnehin erwägenswert, für horizontale Belastungskumulationen eine, von der vertikalen Belastungskumulation verschiedene Dogmatik zu entwickeln.81 4. Verschiedene Hoheitsträger und Gewalten a) Gewaltenübergreifende Belastungskumulation Sowohl die vertikale als auch die horizontale Belastungskumulation können aber auf eine oder mehrere der drei Gewalten bzw. Hoheitsträger zurückzuführen sein. Paradebeispiel für eine solch gewaltenübergreifende Belastungskumulation ist die bereits vorgestellte82 Entscheidung zur Wehrdisziplin, bei der zwei Soldaten von ihren Vorgesetzten mit einer Disziplinarstrafe belegt wurden und anschließend von einem Kriminalgericht zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Erst das Zusammentreffen dieser beiden gewaltenübergreifenden Maßnahmen führte zur Verfassungswidrigkeit der angegriffenen strafgerichtlichen Entscheidung und veranlasste den Gesetzgeber zur Einführung von § 51 StGB.83
78 BVerfGE 100, 313 (375 ff.); 113, 29 (54); 115, 320 (347 ff.); 121, 1 (20); 122, 120 ff.; vgl. a. 133, 277 (348). 79 Vgl. Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014, S. 258, der die horizontale Belastungskumulation überhaupt nicht als Form des kulminierenden Grundrechtseingriffes versteht. 80 Vgl. BVerfGE 120, 378 (430). 81 Anders: Greve, Access-Blocking – Grenzen staatlicher Gefahrenabwehr im Internet, 2012, S. 228, der horizontale Belastungskumulationen ausdrücklich mit dem klassischen Modell bewältigen will. 82 § 6 B. 1. 83 Lücke, DVBl 2001 S. 1471 – 1473; a. A. Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 92, die betont, dass Exekutive und Judikative letztlich nur vorgefundene Normen anwenden und deshalb die Ansicht vertritt, dass nur Parlamentsgesetze und Rechtsverordnungen in der Verfassungswidrigkeit kulminieren können.
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b) Belastungskumulationen aufgrund eines Gesetzes Diese gewaltenübergreifenden Maßnahmen ergingen aufgrund eines Gesetzes. Im Gegensatz zu Belastungskumulationen durch Gesetz folgen die kumulierenden Einzeleingriffe nicht unmittelbar aus dem Gesetz, sondern setzen einen administrativen Vollzugsakt voraus, der allerdings keine gebundene Entscheidung sein darf. Räumt die von der Exekutive angewandte Norm auf der Rechtsfolgenseite nämlich kein Ermessen ein, so ist das eingreifende Handeln vollumfänglich legislativ vorherbestimmt. Positiv formuliert kann eine Belastungskumulation aufgrund eines Gesetzes somit nur vorliegen, wenn der Verwaltung Ermessen eingeräumt wurde. Nur dann liegt die Verantwortung für das Herbeiführen einer Belastungskumulation bzw. eines kulminierenden Eingriffes nicht mehr beim Gesetzgeber allein. Eine Situation, die insbesondere dann mit besonderen Belastungswirkungen verbunden sein kann, wenn verschiedene Exekutivorgane unabhängig voneinander agieren. So lag der Sachverhalt auch, als sich das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12. 04. 2005 erstmals dazu veranlasst sah, von einem „additiven Grundrechtseingriff“ zu sprechen. Die zu Grunde liegende Verfassungsbeschwerde richtete sich gegen die Verwendung und Verwertung von Erkenntnissen aus gleichzeitig durchgeführten Observationsmaßnahmen im Rahmen eines Strafverfahrens. Der, der linksradikalen Szene angehörende Beschwerdeführer war verdächtig, zusammen mit einem weiteren Beschuldigten mehrere Sprengstoffanschläge vorzubereiten. Deshalb wurden der Eingangsbereich des von ihm mitgenutzten Wohnhauses seiner Mutter, ein ebenfalls von ihm mitgenutzter Telefonanschluss und sein Postverkehr überwacht. Zudem observierte ihn das Bundeskriminalamt auch visuell. Zeitgleich hatte allerdings der Verfassungsschutz des Landes Nordrhein-Westfalen eine videogestützte Langzeitbeobachtung durchgeführt, während der Verfassungsschutz der Freien und Hansestadt Hamburg das Wohnhaus eines weiteren Beschuldigten observierte und den von ihm beruflich genutzten Betriebsfunk abhörte. Außerdem versah er den PKW des Mitbeschuldigten, in dem auch der Beschwerdeführer häufiger mitfuhr, mit einem Peilsender. Auf Anordnung des Generalbundesanwaltes wurde in diesem PKW zusätzlich noch ein GPS Empfänger installiert, der es ermöglichte, ein lückenloses Bewegungsprofil zu erstellen. Im Einklang mit den Vorinstanzen84 hielt das Bundesverfassungsgericht zwar auch keine gesonderte gesetzliche Regelung für den parallelen Einsatz mehrerer Ermittlungsmaßnahmen notwendig. Vielmehr dürfe der Gesetzgeber überzeugt sein, dass eine von Verfassung wegen stets unzulässige Rundumüberwachung, mit der ein umfassendes Persönlichkeitsprofil eines Beteiligten erstellt werden könne, durch allgemeine verfahrensrechtliche Sicherungen auch ohne spezifische gesetzliche Regelung grundsätzlich ausgeschlossen werde. Beim Einsatz moderner, insbesondere dem 84
BGHSt 46, 266; OLG Düsseldorf, Urteil vom 1. September 1999, Az: VI 1/97.
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Betroffenen verborgener Ermittlungsmethoden müssen die Strafverfolgungsbehörden mit Rücksicht auf das dem „additiven“ Grundrechtseingriff innewohnende Gefährdungspotenzial aber besondere Anforderungen an das Verfahren beachten. Der Gesetzgeber habe darüber hinaus zu beobachten, ob die bestehenden verfahrensrechtlichen Vorkehrungen auch angesichts künftiger Entwicklungen geeignet sind, den Grundrechtsschutz effektiv zu sichern.85 Das Gericht nimmt damit in erster Linie die Ermittlungsbehörden in die Pflicht. Diese haben eine unkoordinierte Doppelung von Ermittlungsmaßnahmen bzw. die hieraus resultierende Doppelbelastung des Betroffenen durch verfahrensrechtliche Sicherungen in Form von wechselseitiger Information und besserer Dokumentation zu vermeiden.86 Andernfalls liefe man nämlich Gefahr, eine mit Art. 1 Abs. 1 GG unvereinbare Rundumüberwachung durchzuführen. Aus der Menschenwürdegarantie lasse sich folglich das Gebot ableiten, Überwachungsmaßnahmen in quantitativer Hinsicht auf das für eine erfolgreiche Überwachung notwendige Minimum zu beschränken.87 Spätestens mit dieser Entscheidung erkannte das Bundesverfassungsgericht – freilich ohne nähere Begründung – ausdrücklich an, dass die Verfassung auch Schutz gegen kumulative Belastungen bietet, die auf Grundrechtseingriffe aufgrund eines Gesetzes zurückzuführen sind.88 Gleichzeitig stellte es klar, dass Belastungskumulationen keine eigenständige Eingriffsqualität aufweisen und deshalb auch keiner gesonderten Rechtsgrundlage bedürfen. c) Belastungskumulationen durch Gesetz Eine Gewährleistung dieses Schutzes mit verfahrensrechtlichen Sicherungen allein kommt jedoch im Falle von Belastungskumulationen durch Gesetz an ihre Grenzen.89 Denn hier entfaltet das Gesetz selbst seine belastende Wirkung, indem es die Rechtslage entweder unmittelbar selbst gestaltet oder aber die Verwaltung zu einer gebundenen, eingreifenden Entscheidung veranlasst.
85 BVerfGE 112, 304 (319 f.); BVerfG, DVBl 2016, S. 774; ähnlich BVerfGE 123, 186 (266), das Gericht statuierte hier Beobachtungspflichten. 86 Kirchhof, NJW 2006 S. 32; Peine, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009 § 57 Rn. 54; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 27. November 2012 – 3 K 1607/11 –, juris Rn. 42; kritisch zur praktischen Umsetzbarkeit, insbesondere im Hinblick auf datenschutzrechtliche Bestimmungen: Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014, S. 260 – 261. 87 Rosch, in: Beck’scher OK, PAG, 2016, Art. 33 Rn. 10a. 88 Anders offenbar das VG Aachen, Urteil vom 24. August 2016 – 6 K 79/16 –, juris Rn. 119 – 121 = BeckRS 2016, 50439, das u.a. mit Verweis auf besagte Entscheidung des BVerfG vom 12. April 2005 – 2 BvR 581/01 – zur „GPS-Observation“ kulminierende Grundrechtseingriffe nur bei abstrakt-generellen Regelungen, nicht aber bei konkret-generellen Regelungen anerkennen will. 89 Winkler, JA 2014 S 882 – 883.
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aa) Halbteilungsgrundsatz Besonders deutlich wird dies im Steuerrecht. Denn dort entstehen die Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis qua legem, sobald der Steuertatbestand verwirklicht ist, an den die Leistungspflicht geknüpft ist (§ 38 AO). Aufgrund dessen begründen die vielen, oftmals nebeneinander anzuwendenden Einzelsteuergesetze diverse, den Steuerpflichtigen belastende Zahlungsansprüche. Belastungswirkungen, die regelmäßig der Einnahmeerzielung und damit auch dem selben Zweck dienen, wenngleich die Erzielung von Einnahmen (§ 3 Abs. 1 S. 1 AO), wie im Falle von Lenkungssteuern, auch reiner Nebenzweck sein kann (§ 3 Abs. 1 S. 1 Hs. 2 AO). Insofern erschien es durchaus naheliegend, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Vermögenssteuerbeschluss90 seine bisherige Rechtsprechung aufgab und den sogenannten Halbteilungsgrundsatz aus der Taufe hob. Bis dahin galt, dass Geldleistungspflichten Art. 14 GG grundsätzlich unberührt lassen und nur ausnahmsweise eine Verletzung zu erwägen sei, wenn die Vermögensverhältnisse des Grundrechtsträgers im Stile einer Konfiskation in erdrosselender Weise beeinträchtigt würden.91 Nunmehr sei die Gesamtbelastung durch eine Besteuerung des Vermögenserwerbs, des Vermögensbestandes und der Vermögensverwendung vom Gesetzgeber so aufeinander abzustimmen, dass das Belastungsgleichmaß gewahrt und eine übermäßige Last vermieden werden. Dabei sei zu beachten, dass auch der Steuergesetzgeber nicht beliebig auf Privatvermögen zugreifen dürfe. Der Berechtigte habe vielmehr von Verfassung wegen einen Anspruch darauf, dass ihm die Privatnützigkeit des Erworbenen und die Verfügungsbefugnis über geschaffene vermögenswerte Rechtspositionen jedenfalls im Kern erhalten bleibe.92 Das bedeute, dass das geschützte Freiheitsrecht nur so weit beschränkt werden dürfe, dass dem Steuerpflichtigen ein Kernbestand des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich als Ausdruck der grundsätzlichen Privatnützigkeit des Erworbenen und der grundsätzlichen Verfügungsbefugnis über die geschaffenen vermögenswerten Rechtspositionen erhalten wird.93 Die Vermögenssteuer dürfe deshalb zu den übrigen Steuern auf den Ertrag nur hinzutreten, soweit die steuerliche Gesamtbelastung des Sollertrages bei typisierender Betrachtung von Einnahmen, abziehbaren Aufwendungen 90 BVerfGE 93, 121; so bereits Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, in: Korinek/ Müller/Schlaich (Hrsg.), Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Besteuerung und Eigentum // Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, 1981, S. 240. 91 BVerfGE 10, 89 (116 f.); 14, 221 (241); 70, 219 (230); 78, 232 (243); 82, 159 (190); nach BVerfGE 4, 7 (17) sollte ein Steuer- oder anderweitiger Abgabenzugriff überhaupt keinen Eigentumseingriff darstellen, da es sich um eine, aus dem von Art. 14 Abs. 1 GG nicht geschützten Vermögen, zu erfüllende, reine Wertschuld handelte. 92 BVerfGE 93, 121 (135). 93 BVerfGE 93, 121 (137).
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und sonstigen Entlastungen in der Nähe einer hälftigen Teilung zwischen privater und öffentlicher Hand verbleibt.94 Zwar kehrte das Gericht nur kurze Zeit später wieder zu seiner, durch den Vermögenssteuerbeschluss scheinbar aufgegebenen, Rechtsprechung zurück.95 Gleichwohl wird der Halbteilungsgrundsatz nach wie vor als Beleg für die höchstrichterliche Anerkennung kumulativer Grundrechtseingriffe im Steuerrecht angesehen.96 bb) Steuerfreies Familienexistenzminimum Tatsächlich dürfte diese bereits fünf Jahre vorher erfolgt sein, als das Gericht über die Verfassungsmäßigkeit einiger Normen des Bundeskindergeldgesetzes zu befinden hatte. Infolge einer Gesetzesänderung wurde Eltern das Kindergeld gekürzt, das ihnen 25 Jahre zuvor als Ausgleich für die Abschaffung der Kinderfreibeträge im Einkommenssteuerrecht gewährt wurde. Zwar wurden diese einige Jahre später wieder eingeführt. Allerdings war der Betrag von 432,00 DM viel zu gering, um die kindesbedingten Mehraufwendungen in verfassungsgemäßer Weise auszugleichen. Das Bundesverfassungsgericht sah sich deshalb zu folgenden Ausführungen veranlasst: „Das genannte Regelungsdefizit führt zur Verfassungswidrigkeit der zur Prüfung gestellten Norm, auch wenn es sich nicht allein aus dem Kindergeldrecht, sondern erst aus dessen Zusammenhang mit dem (Einkommen-)Steuerrecht ergibt. Dem Gesetzgeber steht es frei, die kindesbedingte Minderung der Leistungsfähigkeit entweder im Steuerrecht zu berücksichtigen oder ihr statt dessen im Sozialrecht durch die Gewährung eines dafür ausreichenden Kindergeldes Rechnung zu tragen oder auch eine Entlastung im Steuerrecht und eine solche durch das Kindergeld miteinander zu kombinieren […] Eine für verfassungswidrig erachtete Rechtslage, die sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Einzelregelungen ergibt und bei der sich deshalb der etwa bestehende verfassungsrechtliche Mangel durch eine Nachbesserung bei der einen oder der anderen Einzelregelung beheben ließe, kann grundsätzlich anhand jeder der betroffenen Normen zur Prüfung gestellt werden. Bei einem solchen Normengeflecht werden in vielen Fällen – wie in den Ausgangsverfahren – nur einzelne der zusammenwirkenden Normen unmittelbar für die Entscheidung erheblich sein. Würde man in diesen Fällen die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Rechtslage, die durch die betroffene Norm mit herbeigeführt wird, mit der Erwägung unterlassen, dass die Einzelnorm Bestand haben könnte, wenn die gesetzliche Nachbesserung an anderer Stelle erfolgte, dann wäre die verfassungsgerichtliche Kontrolle in einem Maße eingeschränkt, die mit dem 94
BVerfGE 93, 121 (138). BVerfGE 95, 267 (300); siehe auch BVerfGE 115, 97 (114). 96 Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 102; Leisner, in: Isensee, HStR VIII, 2010, § 173 Rn. 171 – 172; Lücke, DVBl 2001 S. 1478; Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014, S. 257 Fn. 188; Winkler, JA 2014 S. 886. 95
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
Grundgedanken des Art. 100 Abs. 1 GG nicht mehr vereinbar wäre; denn dieses Argument würde für jede der beteiligten Einzelnormen zutreffen.“97
Das Gericht erkannte also bereits hier die aus dem punktuellen Eingriffsbegriff resultierenden grundrechtlichen Schutzlücken und stellte eine Gesamtbetrachtung beider Normkomplexe an. Maßgebliche Bedeutung kam dabei dem objektiv erkennbar verfehlten Regelungsziel zu.98 Deswegen dürfte es auch keine Rolle gespielt haben, dass hier nicht zwei Belastungen, sondern eine Belastung in Form der Einkommenssteuer und eine weggefallene Vergünstigung in Form der Kindergeldleistung in der Verfassungswidrigkeit kulminierten. Die verfassungsrechtlich eigentlich unbedenkliche Kürzung einer staatlichen Transferleistung stellte sich bei wertender, im inneren Sinnzusammenhang stehender Gesamtbetrachtung, als zusätzliche finanzielle Belastung dar. Einen Ansatz, den das Gericht auch in nachfolgenden Entscheidungen99 verfolgte.100 Außerdem stellte es klar, dass das ebenfalls auf die Überprüfung einer einzelnen, bestimmten Maßnahme ausgerichtete Prozessrecht einer Gesamtschau nicht entgegensteht. Sollte diese Überprüfung ergeben, dass ein kulminierender Grundrechtseingriff vorliegt, sieht es das Heft des Handelns beim Gesetzgeber, der darüber zu entscheiden hat, welche Maßnahme angepasst wird, um eine verfassungsgemäße Gesamtwirkung zu erreichen. Ähnlich der prozessualen Situation nach einem festgestellten Gleichheitsverstoß kann das Gericht deswegen nur die Unvereinbarkeit und nicht etwa die Verfassungswidrigkeit aussprechen. cc) Beitragssicherungsgesetz Wenig Neues brachte dagegen die bereits mehrfach angeführte101 Entscheidung zum Beitragssicherungsgesetz. Das Gericht hatte im Rahmen eines Normenkontrollverfahrens über die Verfassungsmäßigkeit der durch Gesetz eingeführten Zwangsrabatte zugunsten der gesetzlichen Krankenversicherung zu urteilen. Dabei hielt es den Tatsachenvortrag bezüglich des behaupteten additiven Grundrechtseingriffs für zu unsubstanziiert, weshalb es die Verfassungsmäßigkeit der angegriffenen Normen bestätigte.
97
BVerfGE 82, 60 (83 f.). Steuck, NVwZ 2002 S. 52. 99 BVerfGE 99, 202; 99, 246. 100 Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 42. 101 § 5 B. I.; § 5 B. II.; § 5 B. II. 2. dd); § 5 B. II. 4.; § 5 B. II. 6.; § 5 B. II. 7. c); § 5 B. II. 8. c). 98
B. Begrifflichkeiten, Abgrenzungen und Formen
211
dd) Basistarif und Portabilität von Alterungsrückstellungen Ähnlich verhielt es sich in der Entscheidung vom 10. 06. 2009 zur Vereinbarkeit von Vorschriften des Gesetzes zur Stärkung des Wettbewerbs in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz) und des Gesetzes zur Reform des Versicherungsvertragsrechtes (VVG-ReformG). Grundsätzlich sei es zwar möglich, dass verschiedene einzelne, für sich betrachtet geringfügige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche in ihrer Gesamtwirkung zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung führen, die das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschreiten. Eine derartige Wirkung der gesetzlichen Neuregelungen lasse sich jedoch nicht feststellen. Die Darlegungen zweier angehörter, sachkundiger Auskunftspersonen hätten keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die auf drei Jahre verlängerte Versicherungspflicht, der Basistarif und die teilweise Portabilität von Alterungsrückstellungen in ihrem kumulativen Zusammenwirken das Geschäftsmodell der privaten Krankenversicherungsunternehmen aktuell ernsthaft bedrohen würden. Den Gesetzgeber treffe allerdings eine diesbezügliche Beobachtungspflicht.102 Vor allen Dingen deutet das Gericht durch die Formulierung „grundrechtlich geschützte Bereiche“103 erstmalig ausdrücklich an, dass es den Anwendungsbereich des kulminierenden Grundrechtseingriffs offenbar keinesfalls auf ein und dasselbe Grundrecht beschränkt sieht. Dafür spricht auch, dass es in der bereits vorgestellten Entscheidung104 zu den kumulierenden Überwachungsmaßnahmen das Vorliegen eines kulminierenden Eingriffes erwog, obwohl mit der Unverletzlichkeit der Wohnung und dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht die Schutzbereiche mehrerer Grundrechte tangiert waren. ee) Rentenniveau In einer jüngeren Entscheidung zum Phänomen der Belastungskumulationen, einem Nichtannahmebeschluss105 vom 03. 06. 2014, hatte das Gericht über eine Urteilsverfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Bundessozialgerichts106 zu befinden. In der Sache wurden mehrere, sich negativ auf das Rentenniveau der gesetzlichen Rentenversicherungen auswirkende Regelungen angegriffen. Obwohl die Vorinstanz noch ausdrücklich darauf hinwies107, dass es doch an ver102 BVerfGE 123, 186 (266); a. A. Boetius, Die Systemveränderung in der privaten Krankenversicherung (PKV) durch die Gesundheitsreform, 2008, S. 52, der einen kulminierenden Grundrechtseingriff bejaht. 103 BVerfGE 123, 186 (265.); nachfolgend: BVerfG, NJW 2014, S. 3638. 104 BVerfGE 112, 304; § 6 B. III. 4. 105 BVerfG, NJW 2014, S. 3634 – 3639. 106 BSG, NZS 2010, S. 30. 107 BSG, NZS 2010, S. 32.
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lässlichen Kriterien für die Prüfung eines kulminierenden Grundrechtseingriffes fehle, setzte es sich nicht näher damit auseinander. Gleichwohl lehnte es sein Vorliegen mit ausführlicher, auf die Eingriffsintensität abhebender Begründung ab. Dabei nahm es lediglich Bezug auf die bereits vorgestellten Entscheidungen zum Beitragssicherungsgesetz108, zur Einführung einer teilweisen Portabilität von Alterungsrückstellungen und eines Basistarifes in der PKV109 sowie die GPS Entscheidung110. Die gut zwei Jahre zuvor ergangene Entscheidung111 zum Maßregelvollzug, die die Feststellung des kulminierenden Grundrechtseingriffes von einer Abwägung der Gesamtumstände abhängig machen will, thematisiert es nicht weiter. Insofern wurden die nach einer Grundsatzentscheidung zum Umgang mit Belastungskumulationen bereits gehegten Hoffnungen112 nicht nur enttäuscht, sondern es wurde sogar noch zusätzliche Verwirrung gestiftet. Verwirrung, die auf den zweiten Blick freilich doch nicht so stark ist, wie man zunächst meinen könnte. Auch wenn das Gericht weder Bezug auf die Entscheidung zum Maßregelvollzug nimmt noch die Voraussetzung eines kulminierenden Grundrechtseingriffs definiert, führt es in der Sache nämlich nichts anderes als eine Gesamtabwägung anhand der Eingriffsintensität durch. Die im Maßregelvollzugsbeschluss113 aufgestellte Tatbestandsvoraussetzung, dass ein kulminierender Grundrechtseingriff „von einer Abwägung aller Umstände ab[hängt]“, wird deshalb auch hier erfüllt. ff) Spielhallen Ähnlich, wenngleich ohne Hinweis auf irgendeine vorangegangene Entscheidung zum kulminierenden Grundrechtseingriff oder seine Voraussetzungen, verfuhr das Gericht auch in einem Verfahren gegen landesgesetzliche Vorschriften, mit denen die Genehmigungs- und Betriebsvoraussetzungen von Spielhallen verschärft wurden. Die sich aus dem Zusammenspiel der Regelungen ergebende Gesamtbelastung lasse es durchaus möglich erscheinen, dass nicht nur in Einzelfällen Spielhallenbetreiber ihren Beruf aufgeben müssen.114 Die Prognosen der Beschwerdeführer, ein wirtschaftlicher Betrieb von Spielhallen sei durch die Kumulation der verschiedenen belastenden Vorschriften nicht mehr möglich, bewertete das Gericht allerdings als zu unsubstanziiert. Auch wenn durch die angegriffenen Regelungen eine „kumulative Belastung“ entstanden sei, überwiege 108
BVerfGE 114, 196; § 6 B. III. 4. c) cc). BVerfGE 123, 186; § 6 B. III. 4. c) dd). 110 BVerfGE 112, 304; § 6 B. III. 4. b). 111 BVerfGE 130, 372 (392). 112 Bernsdorff, SGb 2011 S. 121; Winkler, JA 2014 S. 885 – 886. 113 BVerfGE 130, 372 (392). 114 BVerfG, Beschluss vom 07. März 2017 – 1 BvR 1314/12 –, juris Rn. 157. 109
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deswegen der mit den angegriffenen Regelungen verfolgte Hauptzweck. So handele es sich bei der Bekämpfung und Verhinderung von Glücksspielsucht nämlich um ein besonders wichtiges Gemeinwohlziel.115 gg) Föderative Belastungskumulationen Höchstrichterlich bislang noch nicht entschieden ist die Behandlung von Belastungskumulationen im Bundesstaat. Unter Rekurs auf die unterschiedlichen Sachkompetenzen der voneinander unabhängigen Gesetzgebungskörperschaften können Belastungskumulationen entstehen. Diese sind auch zu vermeiden, da andernfalls die Regelung des Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 GG nicht erklärbar wäre. Dort heißt es, dass die finanziellen Bedürfnisse des Bundes und der Länder so aufeinander abzustimmen sind, dass eine Überbelastung des Steuerpflichtigen vermieden wird.116 Keine Lösung hält die Verfassung aber für die Frage bereit, welche der von Bund und Ländern getroffenen Maßnahmen letztlich zum kulminierenden Grundrechtseingriff geführt hat. Ungeregelt ist auch, ob sich der zuletzt eingreifende Hoheitsträger das Verhalten der vorher eingreifenden Hoheitsträger zurechnen lassen muss. Wegen seiner Verwandtschaft zur staatlichen Ingerenzverantwortung aus vorangegangenem, grundrechtsgefährdendem Tun wird vorgeschlagen, eine Zurechnung analog der Schutzpflichtendogmatik vorzunehmen. Diese setze nämlich an den Gesamtumständen an, indem sie danach frage, ob ein Grundrechtsträger besonders schonend zu behandeln sei. Ein besonderes Schutzbedürfnis bestünde nur dann, wenn es sich um parallele Beeinträchtigungen verwandter Grundrechte handelt, die denselben Grundrechtsberechtigten belasten. Geht man hingegen von einem zeitlichen Prioritätsprinzip aus, so müsste die zuletzt tätig werdende Gesetzgebungskörperschaft die bestehenden Vorbelastungen berücksichtigen. Sie müsste sich also mit Eingriffen zurückhalten, obwohl die verfassungsmäßige Kompetenzenordnung einer derartigen Verhaltenspflicht entgegenstünde. Begründen lässt sich eine, zur Effektuierung des Grundrechtsschutzes grundsätzlich begrüßenswerte, wechselseitige Zurechnung auf mindestens zwei Wegen. Zum einen kann man Anleihen an das Unionsrecht nehmen, das auf die innerstaatliche Kompetenzenverteilung keine Rücksicht nimmt, sondern lediglich die Gesamtkohärenz beurteilt.117 Zum anderen kann man auch auf den Grundsatz des bundesfreundlichen Verhaltens rekurrieren.118 Dieser ungeschriebene Verfassungsgrundsatz enthält anerkanntermaßen119 eine 115
BVerfG, Beschluss vom 07. März 2017 – 1 BvR 1314/12 –, juris Rn. 158. Näher dazu: § 6 C. II. 117 In diesem Sinne: Koch, ZfWG 2015 S. 328 – 329. 118 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 94; Kluth, ZHR 1998 S. 673 – 674. 119 BVerfGE 1, 299 (315); 34, 9 (20 f.); 81, 310 (339); 98, 106 (118). 116
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Pflicht zur gegenseitigen Rücksichtnahme. Bund und Länder dürfen ihre Kompetenzen nicht in missbräuchlicher Weise nutzen. Bei Angelegenheiten von gesamtstaatlichem Interesse haben Bund und Länder in verständiger Art und Weise zusammenzuwirken und sich gegebenenfalls abzustimmen. Gerade Letzteres wurde vom Bundesverfassungsgericht in seiner jüngst bestätigten120 GPS Entscheidung121 von den Sicherheitsbehörden verlangt, weswegen es durchaus naheliegend erscheint, das Gebot der Bundestreue zur Vermeidung von föderativen Belastungskumulationen122 fruchtbar zu machen. Das gilt vor allen Dingen auch deswegen, weil ein bisweilen zu vernehmender Einwand gegen das Prioritätsprinzip als solches, insbesondere bei föderativen Belastungskumulationen, nicht verfängt. Hielte man – so die Kritiker – nur die zuletzt erlassene Regelung, also diejenige durch die die Gesamtbelastung unzulässig hoch geworden ist, für verfassungswidrig, widerspräche das dem Gedanken des Vorrangs des späteren Gesetzes. Möglicherweise ist nämlich gerade die jüngste Regelung diejenige, die am ehesten dem aktuellen Regelungsbedarf entspricht und darum auch am ehesten gewollt gewesen wäre, wenn bei ihrem Erlass die Verfassungswidrigkeit der Gesamtbelastung erkannt worden wäre. Deswegen sprechen gute demokratiestaatliche Gründe gegen eine Anwendung des Prioritätsprinzipes.123 Das setzt aber implizit voraus, dass es sich – anders als bei föderativen Belastungskumulationen – stets um denselben Gesetzgeber handelt. Nur dann erlangt diese, im Ergebnis auf eine Sicherung des legislativen Gestaltungsspielraums abhebende Begründung ihre volle argumentative Durchschlagskraft. Abgesehen davon dürfte die noch zu erörternde Frage124 der zutreffenden Tenorierung eines kulminierenden Grundrechtseingriffes für die Sicherung des legislativen Gestaltungsspielraumes ungleich bedeutsamer sein. 5. Finale und faktische Belastungskumulationen Schließlich lassen sich Belastungskumulationen nach der Willensrichtung des eingreifenden Hoheitsträgers in gewollte und ungewollte Belastungskumulationen einteilen. Ursprünglich wollte der als Vater des Gedankens125 der Belastungs120
BVerfG, DVBl 2016, S. 774. BVerfGE 112, 304; dazu bereits: § 6 B. III. 4. b). 122 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 18 Rn. 519. 123 Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 193; ebenfalls kritisch bezüglich einer Anwendung des Prioritätsprinzips Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 102. 124 § 6 G. II.; siehe auch: § 6 F. II. 2. 125 Bereits sechs Jahre zuvor plädierte Schwerdtner, ZFA 1977, S. 68 gegen eine atomisierte Betrachtung von Arbeitgebern auferlegten Geldleistungspflichten. „Solange der Staat die Unternehmen im Rahmen des Mutterschutzes, des Bildungsurlaubes, der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall etc. als Erfüllungsgehilfen staatlicher Sozialpolitik ge- oder 121
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kumulation geltende Michael Kloepfer den Anwendungsbereich dieses Instituts auf vom Gesetzgeber nicht gewollte, infolge von normativen Koordinationsdefiziten entstandene Belastungskumulationen begrenzt wissen. Er betrachtete allerdings nur Belastungskumulationen im Abwasserrecht, das der vollziehenden Behörde auf Rechtsfolgenseite ein Beitragserhebungsermessen einräumte. Dieses sei im Falle eines kulminierenden Eingriffes, zugunsten des Belasteten zu nutzen.126 Demgegenüber nehmen einige Fachgerichte und Teile der Literatur einen diametral entgegengesetzten Standpunkt ein, indem sie für einen kulminierenden Eingriff einen gemeinsamen Zweck der kumulierenden belastenden Maßnahmen fordern. Die Rechtsfigur erlaube es nicht, alle für sich betrachtet zulässigen Grundrechtseingriffe gegen einen Grundrechtsträger unter Verhältnismäßigkeitsaspekten in einer Gesamtbetrachtung als unzulässigen kumulativen Grundrechtseingriff zu qualifizieren. Für eine kumulative Gesamtbetrachtung sei es zumindest erforderlich, dass es sich um Eingriffe mit gleichem Regelungsziel in den gleichen Lebensbereich handele.127 Die grundrechtserhebliche, kumulative Gesamtbelastung unterscheide sich unter anderem deshalb von der schlichten Mehrfachbelastung, weil die grundrechtseingreifenden staatlichen Akte im Wesentlichen die gleichen Regelungsziele verfolgen und sich deshalb in ihren wechselseitigen belastenden Wirkungen zu einem Eingriffsbündel verstärken.128 In Ermangelung eines mit ihnen verfolgten Zweckes wären dann aber mittelbar-faktische Belastungswirkungen oftmals kein Teil dieses Eingriffsbündels.129 Vor allen Dingen würde ein kulminierender Grundrechtseingriff auch ein finales Eingriffselement erfordern, was de facto einer Rückkehr zum überholten klassischen Eingriffsbegriff gleich käme. Im Ergebnis liefe dies darauf hinaus, zwischen Belastungskumulationen zu unterscheiden, denen ein Eingriff im klasmißbraucht, kommt es nicht auf den Enteignungscharakter der atomisierten Einzelleistungen, sondern allein darauf an, ob die Gesamtheit der die Unternehmen treffenden Leistungen eine unternehmerische Entfaltung unmöglich macht.“ 126 Kloepfer, VerwArch 1983 S. 224. 127 FG Bremen, EFG 2014, S. 964 – 968; FG Hamburg, EFG 2014, S. 2098 – 2104; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. November 2013 – 14 A 2401/13 –, juris Rn. 17 – 18; VG Saarland, Urteil vom 12. Dezember 2014 – 1 K 354/13 –, juris Rn. 134. 128 Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 130 Rn. 308; Greve, Access-Blocking – Grenzen staatlicher Gefahrenabwehr im Internet, 2012, S. 224; Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 97; Jarass, Neue Dimensionen der Tabakproduktregulierung und Grundrechte sowie Grundfreiheiten/New Dimensions of Tobacco Regulation and Fundamental Rights and Freedoms, 2012, S. 49; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 183; Kaltenstein, SGb 2015 S. 369; Kluth, ZHR 1998 S. 674; Lücke, DVBl 2001 S. 1470; Peine, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 57 Rn. 53. 129 Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 62.
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sischen oder ein Eingriff im modernen Sinne zugrunde liegt. Abgesehen davon begegnet das Kriterium der Zweckidentität auch noch weiteren, ernst zu nehmenden Bedenken grundsätzlicher Art. Der Zweck eines Eingriffs kann nämlich auf verschiedenen Abstraktionshöhen formuliert werden. Nur das, auf der abstraktesten Ebene liegende „Gemeinwohl“ wäre kein tauglicher Eingriffszweck.130 Eingriffszwecke wie die „finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung“ oder „Umweltschutz“ hingegen schon. Auf diese Weise könnten möglichst große Eingriffsbündel geschnürt werden, die in der Verfassungswidrigkeit kulminieren.131 Die Frage, auf welcher Abstraktionsstufe der eingriffsrechtfertigende Zweck angesiedelt wird, stellt sich bei der Prüfung eines Einzeleingriffes aber in gleicher Weise, ohne dass man die Verhältnismäßigkeitsprüfung als solche infrage stellt.132 Zu weit dürfte es jedoch gehen, aus Praktikabilitätsgründen gerade wegen der schwierigen Zweckbestimmung einen kulminierenden Eingriff nur bei Zweckbündelungen auf möglichst hoher Abstraktionsebene annehmen zu wollen.133 Nicht minder problematisch gestaltet sich der Umgang mit Zweckbündeln.134 Beispielsweise sollte die frühe Nutzenbewertung von innovativen Arzneimitteln einerseits der Kostendämpfung und damit der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung dienen. Andererseits sollten aber auch die Versorgungsqualität der Versicherten und das Investitionsklima, bei gleichzeitiger Erhöhung der Arbeitsplatzsicherheit, durch Schaffung verlässlicher Rahmenbedingungen verbessert werden.135 Begegnen ließe sich dem durch eine Abschwächung des Zweckkriteriums im Sinne einer partiellen Zweckidentität der kumulierenden Maßnahmen. Andernfalls würde der Prüfungsmaßstab eines kulminierenden Eingriffs regelmäßig auf die gesetzlichen Regelungen eines einzigen Gesetzes beschränkt.136 Wie der Zweck einer hoheitlichen Maßnahme objektivierbar bestimmt werden soll und welche Perspektive dabei einzunehmen ist, ist damit aber nicht gesagt. Grundsätzlich denkbar wäre es, die Zweckbestimmung subjektiv oder objektiv, aus Sicht des Eingreifenden oder des Belasteten, ex ante oder ex post durchzuführen. Im Falle von kumulierenden Parlamentsgesetzen wäre es freilich naheliegend, zur Zweckbestimmung auf die Gesetzesbegründung zu rekurrieren. Gleichzeitig schüfe man damit aber einen wohl nicht zu unterschätzenden Anreiz, einen kulminierenden Eingriff durch eine sehr 130
Winkler, JA 2014 S. 884; vgl. Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1976, S. 17 – 18. Klement, AöR 2009 S. 64 – 65; Schaks, DÖV 2015 S. 823. 132 Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 184; vgl. auch § 5 B. II. 6. 133 Kluth, ZHR 1998 S. 674. 134 Klement, AöR 2009 S. 65. 135 BT-Drs. 17/3116, S. 1. 136 Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 145. 131
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begrenzte Gesetzesfolgenabschätzung zu vermeiden.137 Dieser Anreiz ließe sich vielleicht noch dadurch abschwächen, indem man dem Gesetzgeber eine bislang nicht bestehende138 Pflicht zur Gesetzesfolgenabschätzung auferlegt. Selbst dann erscheint es allerdings immer noch diskussionswürdig, den Grundrechtsschutz von der Prognosefähigkeit und der Prognosewilligkeit des Grundrechtsverpflichteten abhängig zu machen. Die Grundrechte verlören zumindest ein Stück weit ihre klassische Funktion als subjektive Abwehrrechte. Sie würden zu etwas vom Staat Gewährten. Entscheidend dürfte aber sein, dass unterschiedliche Zwecke für die Betroffenheit der Bürger und damit den Gegenstand der Grundrechtsprüfung bedeutungslos sind,139 was sich ganz besonders bei den dann nicht erfassten, mittelbar-faktischen Belastungen und kumulierenden Gleichheitsverstößen140 auswirken würde. Es verdient deshalb uneingeschränkte Zustimmung, dass das Bundesverfassungsgericht in seiner U-Haft Entscheidung141 keinen Unterschied zwischen finalen Belastungswirkungen aus der landgerichtlichen Sicherungsverfügung und faktischen Belastungswirkungen aus der Größe des Haftraumes machte. Entsprechendes gilt für die Entscheidungen142, die Freiheitsentziehungen aus präventiven und repressiven Gründen zum Gegenstand hatten. Im Einklang mit Teilen der Literatur143 scheint es dem Gericht im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes zu Recht nicht darauf anzukommen, was der Grundrechtsverpflichtete mit seiner eingreifenden Maßnahme bezweckte. Für das Vorliegen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes kann es deshalb keinen Unterschied machen, ob es sich um eine gewollte oder ungewollte Belastungskumulation handelt.
137 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 96; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 146. 138 BVerfGE 50, 290 (333 f.); dazu bereits: § 5 B. II. 7. a); Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 157 – 158 m. w. N. 139 Bernsdorff, SGb 2011 S. 122; Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 96; Kirchhof, NJW 2006 S. 734; Schaks, DÖV 2015 S. 823. 140 BSG, NZS 2010, S. 32 bezweifelt, ob ein kulminierender Eingriff überhaupt im Verbund aus Freiheitsrechten und dem allgemeinen Gleichheitssatz entstehen kann. Die Belastung resultierte nämlich aus einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung (BVerfGE 105, 73), die eine unterschiedliche Behandlung verbot. 141 BVerfG, ZfStrVo 1994, S. 377; § 6 B. III. 1. c). 142 BVerfGE 21, 378; 28, 264; 130, 372; § 6 B. III. 1. a); § 6 B. III. 1. b). 143 Bernsdorff, SGb 2011 S. 122; Boetius, Die Systemveränderung in der privaten Krankenversicherung (PKV) durch die Gesundheitsreform, 2008, S. 49; Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 95 f.; Hufen, Die Grundrechte und der Vorbehalt der Gesetzes, in: Grimm/Hagenah (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben--sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 279; Kirchhof, NJW 2006 S. 734; Klar, Datenschutzrecht und die Visualisierung des öffentlichen Raums, 2012, S. 95; Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 62.
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6. Zusammenfassung Im Ergebnis steht somit fest, dass die Existenz eines kulminierenden Eingriffes, nach eher verhaltenem Beginn, mittlerweile zum gesicherten Bestand der verfassungsgerichtlichen Grundrechtsdogmatik gezählt werden muss. Dabei soll es sich um keinen, eine gesonderte Rechtsgrundlage erfordernden, neuen Eingriff handeln. Das Gericht betrachtet die Möglichkeit eines kulminierenden Eingriffes vielmehr als unselbstständiges, im Rahmen einer Gesamtabwägung aller Umstände144, allgemein zu berücksichtigendes Element einer jeden Grundrechtsprüfung. Allein das Bestehen weiterer Belastungen ohne wechselseitigen Bezug zueinander soll für einen kulminierenden Eingriff allerdings nicht ausreichend sein. Eine echte Belastungskumulation setzt im einfachsten Falle, ohne dass dies aber notwendig wäre, die gleiche Zwecksetzung der belastenden hoheitlichen Maßnahmen, wenigstens aber eine aus den rechtlichen oder tatsächlichen Anknüpfungspunkten resultierende Verbindung voraus. Unerheblich ist, ob die Belastungen auf ein und dieselbe Gewalt oder verschiedene Hoheitsträger zurückzuführen sind.145 Es besteht offenbar eine Art Gesamtschuldverhältnis im Sinne einer Einheit der öffentlichen Hand, aufgrund dessen ein Hoheitsträger auch für die von anderen Hoheitsträgern zu verantwortenden Grundrechtseingriffe einzustehen hat. Obwohl es sich bislang hauptsächlich um Eingriffe in ein und dasselbe Grundrecht handelte, scheint das Gericht den Anwendungsbereich des kulminierenden Eingriffs nicht auf ein und dasselbe Grundrecht beschränkt wissen zu wollen.146 Dogmatisch verortete es ihn zunächst im Rechtsstaatsprinzip, bevor es in den nachfolgenden Entscheidungen dazu überging, Belastungskumulationen als Annex der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu begreifen.147 Daneben deuten Formulierungen wie „stets unzulässige staatliche Rundumüberwachung“148, die Erhaltung „eines Kernbestandes des Erfolges eigener Betätigung im wirtschaftlichen Bereich [… bzw.] des Bestandsschutzes für den Vermögensstamm“149 sowie das Verbot des „zeitlich unbegrenzten Freiheitsentzuges“150 auf eine parallele Verankerung in der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG hin. In seinem Nichtannahmebeschluss151 vom 03. 06. 2014 widmet es der Belastungskumulati144
§ 6 B. III. 1. b); § 6 B. III. 4. c) ee). § 6 B. III. 4. 146 § 6 B. III. 4. c). 147 Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 17; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 314; Voßkuhle/Kaiser, JuS 2009 S. 314. 148 BVerfGE 112, 304 (319); dazu: § 6 B. III. 4. b); vorsichtiger: Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014, S. 259. 149 BVerfGE 93, 121 (137); dazu: § 6 B. III. 4. c) aa). 150 BVerfGE 28, 264 (281); dazu: § 6 B. III. 1. a). 151 BVerfG, NJW 2014, S. 3638. 145
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on ohne nähere Begründung einen eigenen Hauptgliederungspunkt auf Begründetheitsebene. Der kulminierende Eingriff begegnet den geprüften Einzelmaßnahmen damit auf Augenhöhe, was aus dogmatischer Sicht nicht inkonsequent erscheint.
IV. Unzulängliche dogmatische Erfassung 1. Punktualität So ist die gesamte Grundrechtsprüfung darauf ausgelegt, eine einzelne, bestimmte hoheitliche Maßnahme zu überprüfen. Insbesondere in der Verhältnismäßigkeitsprüfung spiegelt sich der Eingriff und damit auch dessen punktuelles Verständnis wider. Dies liegt daran, dass sich die gängige Grundrechtsdogmatik anhand der stets einzelfallbezogenen Handlungsformen der Exekutive und Judikative herausgebildet hat. Beide Gewalten treffen mit Urteilen, Beschlüssen und Verwaltungsakten gegenüber dem Grundrechtsberechtigten stets konkret-individuelle Entscheidungen. Schon alleine deshalb ist der Prüfungsgegenstand der Grundrechtsprüfung stets eine punktuelle und nicht etwa eine allgemeine (Gesamt-) Belastungswirkung.152 Daran ändert sich auch nichts, wenn man einen, in der Regel abstrakt-generellen Akt der Legislative zur Prüfung stellt. Denn auch hier erfolgt keine ganzheitliche Prüfung im Sinne einer, mit einem Normenbündel verbundenen Gesamtbeeinträchtigungsprüfung. Anstelle dessen beschränkt sich die Prüfung ebenfalls auf die von einzelnen Bestimmungen eines Gesetzes ausgehenden Einzelbeeinträchtigungen, wozu die in praxi eher enge, in dem nachvollziehbaren Bestreben der Flut der Verfahren Herr zu werden, erfolgende Auslegung der Voraussetzungen verfassungsprozessualer Rechtsbehelfe ihr Übriges tut.153 2. Bipolarität Abgesehen davon sind Grundrechte nach klassischem Verständnis subjektive Abwehrrechte, die die Freiheit des grundrechtsberechtigten Bürgers gegen ungerechtfertigte Eingriffe des grundrechtsverpflichteten Staates schützen sollen. Diese auch in Art. 19 Abs. 4 GG zum Ausdruck kommende Bipolarität ist die 152 Hufen, NJW 1994 S. 2916; Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 3 Rn. 154; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 166 – 167; Klement, AöR 2009 S. 39; Kloepfer, VerwArch 1983 S. 210; Lücke, DVBl 2001 S. 1469 – 1470; Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 55. 153 Bernsdorff, SGb 2011 S. 125; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 108 – 109; Lücke, DVBl 2001 S. 1470; vgl. auch: Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 60.
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Basis einer jeden Verfassungsbeschwerde. Die Freiheit des Einzelnen kann jedoch nicht nur durch die öffentliche Gewalt, sondern auch durch Dritte beeinträchtigt werden, an deren Verhalten sich der Grundrechtsverpflichtete beteiligt. Die idealtypische Unterscheidung zwischen hoheitlichen und nicht hoheitlichen Beeinträchtigungen wird konturenlos, wenn sich der Hoheitsträger am Verhalten privater Dritter beteiligt, sei es, dass er dieses veranlasst, fördert, genehmigt, unterstützt oder auch nur duldet. Die Zurechnung gestaltet sich schwierig, da die in Rede stehenden Grundrechtsbeeinträchtigungen auf eine Vielzahl von, voneinander abhängigen bzw. kooperierenden staatlichen, teilstaatlichen oder privaten Akteuren zurückgehen.154 Man denke nur an Luftverunreinigungen, die von genehmigten Industriebetrieben ausgehen und sich erst auf lange Sicht negativ auf die Gesundheit der Anwohner auswirken.155 Eine Problematik, die vor allen Dingen in Rechtsgebieten wie dem stark zersplitterten Umweltrecht zutage tritt. Denn dort wurde zum einen das staatliche Handlungsinstrumentarium erheblich erweitert, zum anderen besteht auch die unverkennbare Tendenz die staatliche Eingriffsschwelle weg von der reinen Gefahrenabwehr, hin zur Risikominimierung vorzuverlagern.156 Aber auch das deutsche Gesundheitswesen ist mit seinen vielen, teilweise unabhängig voneinander Recht setzenden Akteuren auf der Mesoebene157, nicht gefeit vor diesen besonderen Belastungswirkungen, wenngleich hier natürlich mit dem SGB V eine harmonisierende Kodifizierung besteht und auch ansonsten weniger verhaltenssteuernde Instrumente miteinander kombiniert werden. Es kann aber festgehalten werden, dass die klassische Grundrechtsdogmatik in multipolaren Fallkonstellationen einen relativ geringen tatsächlichen Schutz bietet.158
154 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 406 – 407; Hufen, Die Grundrechte und der Vorbehalt der Gesetzes, in: Grimm/Hagenah (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben--sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 277; Hoffmann-Riem, Der Staat 2004 S. 209; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 106; Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 68 – 69. 155 Hufen, Die Grundrechte und der Vorbehalt der Gesetzes, in: Grimm/Hagenah (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben--sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 277; Winkler, JA 2014 S. 881. 156 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 153 – 249; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 298 – 300; a. a. O. S. 19 – 105; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 106 – 107. 157 § 3 C. II. 158 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 344 – 368; Hufen, Die Grundrechte und der Vorbehalt der Gesetzes, in: Grimm/Hagenah (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben--sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 280.
C. Normative Anhaltspunkte
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3. Individualität Dasselbe gilt für Konstellationen, wie sie horizontalen Belastungskumulationen zugrunde liegen. Nach herkömmlicher Dogmatik werden Eingriffsziele und Eingriffsgrenzen stets am Einzelnen gemessen.159 Einen kulminierenden horizontalen Grundrechtseingriff vermag sie deshalb nur unter Rückgriff auf die objektive grundrechtliche Werteordnung zu erklären.160 Denn hier werden Eingriffsziele und seine Grenzen an der gesamtgesellschaftlichen Belastung gemessen. Die Perspektive ändert sich. Der Rechtsanwender wendet sich von der in Art. 19 Abs. 4 GG angelegten, individuellen Betrachtungsweise ab und legt kollektivistische Bewertungsmaßstäbe an. Nicht mehr der Einzelne, sondern die Gemeinschaft rückt in den Mittelpunkt der Diskussion. 4. Aktualität Erschwerend hinzukommt, dass dem Aspekt der zeitlichen Intensivierung von Grundrechtseingriffen nicht hinreichend Rechnung getragen wird. Hoheitliche Eingriffe können nicht nur verfassungswidrig sein, sondern auch verfassungswidrig werden.161 Ein Problem, dass man durch die Statuierung von verfassungsrechtlichen Beobachtungspflichten162 nur dann zufriedenstellend lösen kann, wenn man diese auch auf das mögliche Entstehen von kulminierenden Eingriffen erstreckt.
C. Normative Anhaltspunkte Aufgrund seiner unzulänglichen Erfassung durch die herkömmliche Grundrechtsdogmatik, bestehen in der Spruchpraxis der Gerichte erhebliche Unklarheiten. Wie soeben dargestellt163 betreffen diese zum einen die für einen kulminierenden Grundrechtseingriff zu erfüllenden Voraussetzungen, zum anderen seine dogmatische Verankerung in der Verfassung. Dafür dass der Verfassungsgeber das Entstehen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes für möglich erachtet 159 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 407; Hufen, Die Grundrechte und der Vorbehalt der Gesetzes, in: Grimm/Hagenah (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben--sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 277; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 23 Rn. 744; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2, 1994, S. 82 – 127. 160 Dazu: § 6 B. III. 0. 161 Hufen, Die Grundrechte und der Vorbehalt der Gesetzes, in: Grimm/Hagenah (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben--sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 284. 162 Dazu: § 5 B. II. 8. h) m. w. N. 163 § 6 B. III.
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hat, finden sich jedoch diverse Anhaltspunkte an verschiedenen Stellen des Grundgesetzes.
I. Ne bis in idem Den vermutlich bekanntesten Hinweis darauf, dass der Verfassungsgeber die Möglichkeit des Entstehens von Belastungskumulationen bedacht hat, liefert das in Art. 103 Abs. 3 GG kodifizierte grundrechtsgleiche Recht des Doppelbestrafungsverbotes. Dem zur Folge darf niemand wegen derselben Tat, aufgrund der allgemeinen Strafgesetze, mehrmals bestraft werden. Der Einzelne wird davor bewahrt, sich nach einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Entscheidung erneut verantworten zu müssen.164 Das Verbot löst das, zwischen der Rechtssicherheit auf der einen und der materiellen Gerechtigkeit auf der anderen Seite bestehende Spannungsverhältnis zugunsten der Rechtssicherheit auf. Daneben dient der auf diese Weise verfassungsrechtlich abgesicherte Strafklageverbrauch auch dem individuellen Freiheitsschutz (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG), indem er eine übermäßige Gesamtbelastung des Einzelnen verhindert.165
II. Finanzverfassungsrechtliches Überbelastungsverbot Ausdrücklich normiert Art. 106 Abs. 3 S. 4 Nr. 2 GG ein Überbelastungsverbot des Steuerpflichtigen. Ein Fehlbedarf im Bundes- oder Länderhaushalt darf demnach erst durch Steuererhöhungen gedeckt werden, wenn keine andere Möglichkeit zur Deckung besteht. Als einzige finanzverfassungsrechtliche Norm unterstreiche sie an systematisch unpassender Stelle die verfassungsrechtliche Selbstverständlichkeit, dass eine Überbelastung des Steuerpflichtigen nicht nur zu vermeiden sei, sondern sogar als verfassungsrechtlicher Grundsatz zu gelten habe.166 Das setzt aber zwangsläufig die kumulative Betrachtung der grundrechtsbeeinträchtigenden Wirkungen einzelner Steuergesetze voraus.167 Der Verfassungsgeber ging offenbar davon aus, dass es zumindest einmal im Steuerrecht vertikale Belastungskumulationen durch verschiedene Hoheitsträger geben kann, vor denen der Grundrechtsträger – soweit es irgend möglich ist – zu schützen ist. Das Grundgesetz gäbe somit zu erkennen, dass es Schutz gegen übermäßige Freiheitseinschränkungen und Belastungen bieten will, die sich erst aus mehreren Eingriffsakten in ihrer Verbundenheit ergeben.168 164 Epping, Grundrechte, 2015, S. 465 – 468 Rn. 976 – 985; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 21 Rn. 65 – 67; vgl. § 6 B. III. 1. 165 Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 105; Rüping, in: BK, GG, 2016 (182 EL), Art. 103 Abs. 3 Rn. 11. 166 BVerfGE 115, 97 (115 f.). 167 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 75.
C. Normative Anhaltspunkte
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III. Kompetenzenordnung
Auch die grundgesetzliche Kompetenzenordnung dient zusammen mit den auf ihr aufbauenden Kollisionsregelungen nicht zuletzt der Vermeidung von Belastungskumulationen. Grundsätzlich sei die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit zwar unbeschränkt. Aus diesem Grunde bliebe es dem Gesetzgeber beispielsweise unbenommen, ein Rechtsgut durch mehrere Gesetze oder Instrumentarien zu schützen. Ein verfassungsrechtlicher Freibrief für eine beliebige Kumulation von belastenden gesetzlichen Maßnahmen sei ihm deswegen aber auch nicht erteilt worden.169 Allen voran setze das abgestufte System der bundesstaatlichen Kompetenzenordnung seiner Gestaltungsfreiheit deutliche Grenzen, welche insbesondere bei konfligierenden bundes- und landesgesetzlichen Regelungen zum Tragen kämen. Beispielsweise müssen die Länder neben den aus der Bundestreue abgeleiteten Abstimmungs- und Koordinationspflichten170 ohnehin gemäß Art. 72 Abs. 1 GG ihre Gesetzgebungsvorhaben mit den bereits vorhandenen Bundesgesetzen abstimmen. Nur wenn und soweit der Bundesgesetzgeber von seiner Kompetenz noch keinen erschöpfenden Gebrauch gemacht hat, ist das Land überhaupt regelungsbefugt. Belastungskumulationen und etwaige hieraus resultierende, kulminierende Eingriffe werden somit bereits aus formellen Gründen ausgeschlossen.
IV. Wesensgehaltsgarantie Im Gegensatz dazu erfordert der bereits erwähnte Ansatz171 der normativen Verankerung des kulminierenden Grundrechtseingriffes in der Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG materielle Kriterien – und zwar unabhängig davon, ob man ein absolutes oder ein relatives Verständnis des Wesensgehaltes zugrunde legt. Ausweislich des Wortlautes von Art. 19 Abs. 2 GG macht es keinen Unterschied, ob der Wesensgehalt durch einen punktuellen oder einen kulminierenden Grundrechtseingriff angetastet wird. Beides wäre zu Recht unzulässig.172 Es kann sich dabei jedoch immer nur um den Wesensgehalt eines bestimmten Grundrechtes handeln. Wollte man die normative Verankerung des kulminierenden Eingriffes primär in der Wesensgehaltsgarantie sehen, wäre damit gleichzeitig ent168
Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 99; Lücke, DVBl 2001 S. 1477. Kloepfer, VerwArch 1983 S. 210. 170 BVerfGE 1, 299 (315); 34, 9 (20 f.); 81, 310 (339); 98, 106 (118); dazu bereits: § 6 B. III. 4. c) gg). 171 § 6 B. III. 6.; Huber, VSSR 2000 S. 386 – 387; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 192; Schaks, DÖV 2015 S. 825; Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 46; a. a. O. S. 68. 172 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 73. 169
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schieden, dass ein kulminierender Eingriff nur bei Eingriffen in ein und dasselbe Grundrecht auftreten kann. Art. 19 Abs. 2 GG spricht nämlich davon, dass ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet wird. Nimmt man die, durch den Wortlaut als äußerste Grenze einer jeden Auslegung gesetzte Grenze ernst, so könnte ein kulminierender Eingriff nicht aufgrund einer Belastungskumulation verschiedener Freiheitsrechte und schon gar nicht in Kombination mit Gleichheitsrechten entstehen.173 Dazu kommt, dass auch noch umstritten ist, auf welche Grundrechte Art. 19 Abs. 2 GG überhaupt anwendbar ist,174 sodass dem kulminierenden Grundrechtseingriff ein relativ geringer Anwendungsbereich verbliebe. Seinem Sinn und Zweck nach zielt Art. 19 Abs. 2 GG – sofern nicht ausschließlich ein objektives Verständnis zugrunde gelegt wird – jedoch eindeutig darauf ab, die Grundrechte vor einer substanziellen Aushöhlung bzw. Entleerung durch staatliche Zugriffe zu bewahren. Die Wesensgehaltsgarantie dient damit dem tatsächlichen Erhalt einer individuellen Freiheitssubstanz.175 Sie lässt sich als Schutzvorkehrung dagegen auffassen, dass Grundrechte ihrer Geltung durch eine Vielzahl von gesetzgeberischen Einwirkungen faktisch beraubt werden.176 Deshalb lässt sich jedenfalls ihr Grundgedanke zur normativen Untermauerung des kulminierenden Grundrechtseingriffes durchaus heranziehen.
V. Selbstverwaltungsgarantie In eine ähnliche Richtung argumentieren jene, die Anhaltspunkte zur Bewältigung kumulativer Belastungen in der von Art. 28 Abs. 2 GG garantierten kommunalen Selbstverwaltung sehen wollen. Jenseits staatlicher Eingriffe in die Allzuständigkeit der Gemeinden für Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft, gehe die Rechtsprechung von der Kernbereichstheorie aus. Eingriffe in die Eigenverantwortlichkeit der Gemeinden sind demnach solange zulässig, als ihnen noch ein Kernbereich an Eigenverantwortung verbleibt.177
173 Insofern konsequent: Schaks, DÖV 2015 S. 822; näher zum Erfordernis der Grundrechtsidentität: § 6 D. III. 2. 174 Hierauf weist auch Schaks, DÖV 2015 S. 822 m. w. N. hin, der dann aber eine extensive Auslegung befürwortet. 175 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2, 1994, S. 864; das erkennen auch Schaks, DÖV 2015 S. 824 – 825 und Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 60 – 61 an. 176 Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 3 Rn. 219; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 106. 177 Huber, VSSR 2000 S. 389.
D. Vorgeschlagene Modifikationen der Grundrechtsprüfung
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VI. Wesen der Grundrechte Schließlich ist der bei punktuellen Grundrechtseingriffen entstehende Rechtfertigungszwang kein Selbstzweck. Er dient der Sicherung staatsfreier Räume und damit der individuellen Selbstverwirklichung der Bürger. Sinn und Zweck der subjektiv-rechtlich geprägten Abwehrdimension ist es nicht nur, staatliche Ingerenz zu rationalisieren oder zu formalisieren.178 Die in den subjektiven Abwehrrechten zum Ausdruck kommende Freiheitsgewährleistung zielt auch darauf ab, den effektiven Schutz der in den Grundrechten verankerten Freiheitssubstanz zu gewährleisten. Sie unterliegt damit einer am tatsächlichen Sicherungserfolg gemessenen Zwecksetzung. Das grundrechtlich gesicherte Wertesystem darf deshalb keinesfalls auf eine reine Handlungskontrolle reduziert werden, sondern ist auch auf den Erhalt und die Sicherung der grundrechtlichen Geltungswirklichkeit angelegt.179 Bei Lichte besehen ergibt sich das Verbot einer übermäßigen Gesamtbelastung des Bürgers somit bereits aus der für ihn streitenden Freiheitsvermutung und damit aus dem Wesen der Grundrechte selbst. Erst seine Anerkennung stellt sicher, dass der Bürger nicht Stück für Stück durch eine Vielzahl einzelner Grundrechtseingriffe vom Staat um diese Freiheit gebracht werden kann. Der kulminierende Grundrechtseingriff genießt deshalb ebenso Verfassungsrang wie das allgemein anerkannte Übermaßverbot.180
D. Vorgeschlagene Modifikationen der Grundrechtsprüfung In der Literatur wurden bislang verschiedene Vorschläge unterbreitet, das in der Spruchpraxis der Gerichte längst angekommene Phänomen des kulminierenden Grundrechtseingriffes dogmatisch zu erfassen bzw. sein Entstehen von vorneherein zu verhindern.
178 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 66 – 68; Hoffmann-Riem, Der Staat 2004 S. 226 – 227; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/1, 1988, S. 1257 – 1258. 179 Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2, 1994, S. 865; Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 60; in diesem Sinne auch: Boetius, Die Systemveränderung in der privaten Krankenversicherung (PKV) durch die Gesundheitsreform, 2008, S. 52. 180 Lücke, DVBl 2001 S. 1477.
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I. Trennung von Schutz- und Lebensbereich 1. Freiheitsverluste trotz Schutzbereichserweiterung Erwogen wird durch eine schärfere Konturierung der Schutzbereiche, vermittels einer Trennung der jeweils zugrunde liegenden Sach- und Lebensbereiche das Entstehen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes auszuschließen. Der Sach- und Lebensbereich erfasse als beschreibendes Element den sachlichen Einzugsbereich, auf den sich das Grundrecht erstreckt oder bezieht, der Schutzbereich als normatives Element hingegen die eigentliche grundrechtliche Gewährleistung.181 Sinn und Zweck des grundrechtlichen Schutzbereiches sei es, eine bestimmte Verhaltensweise oder ein bestimmtes Rechtsgut einem Grundrecht zuzuweisen. Neben dieser Zuordnungsfunktion sei ein eröffneter Schutzbereich auch condicio sine qua non der anschließenden Grundrechtsprüfung. Erst nach seiner Eröffnung stellen sich Fragen nach dem Grundrechtseingriff oder seiner Rechtfertigung. Grundrechtlichen Schutzbereichen komme deshalb eine Schleusenfunktion zu.182 Sie wären deshalb als Weichenstellungen der Freiheit anzusehen,183 die unter dem herrschenden extensiven Schutzbereichsverständnis, der Ausweitung des Gehalts grundrechtlicher Verbürgungen, der Neuschöpfung von Grundrechten sowie der Erweiterung der Grundrechtsbindung bzw. -geltung leiden. Zu denken sei hier insbesondere an die frühzeitig erfolgte Auslegung des Art. 2 Abs. 1 GG als allgemeine Handlungsfreiheit184 oder die Bündelung der Einzelgewährleistungen von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu einem einheitlichen Recht auf glaubensgeleitetes Verhalten in allen Lebensbereichen185. Auch die Kreation neuer Grundrechte, wie des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung186 oder des Grundrechts auf Gewährleistung der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme187 trüge maßgeblich dazu bei, dass der Schutzbereich seine Schleusenfunktion zunehmend schwieriger erfüllen kann. Erschwerend komme hinzu, dass einige grundrechtliche Begriffe wie Ehe oder Familie einen veränderten, regelmäßig erweiterten Inhalt erhielten oder gerade dabei sind zu erhalten.188 Im Zusammenspiel mit dem modernen Ein181 Böckenförde, Der Staat 2003 S. 165; Hoffmann-Riem, Der Staat 2004 S. 215; Kahl, Der Staat 2004 S. 178 jeweils m. w. N.; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 6 Rn. 220 – 223. 182 Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 118; Volkmann, JZ 2005 S. 265. 183 Merten, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 56 Rn. 1. 184 BVerfGE 6, 32 (36). 185 BVerfGE 32, 98 (106). 186 BVerfGE 65, 1 (43). 187 BVerfGE 120, 274 (302). 188 Hoffmann-Riem, Der Staat 2004 S. 208.
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griffsbegriff würden die auf diese Weise stark ausgedehnten Schutzbereiche zu einer gesetzlichen Ausgestaltung des gesamten gesellschaftlichen Lebens führen. Neben der exzessiven Inanspruchnahme bereits bestehender Gesetzesvorbehalte hätte man unter dem Damoklesschwert der drohenden Verfassungswidrigkeit eine Vielzahl an Sonderregelungen und Ausnahmetatbeständen schaffen müssen. Dem Grundrechtsträger verspräche man somit auf Schutzbereichsebene potenziellen Grundrechtsschutz, obwohl keinerlei realistische Chance bestünde, dieses Versprechen dann auch einzulösen.189 Dabei würden auch vorbehaltlos gewährleistete Grundrechte in einer Art und Weise eingeschränkt werden, die ihrer besonderen Bedeutung nicht hinreichend Rechnung trügen.190 Im Ergebnis führe diese Banalisierung der Grundrechte zu einem Verlust und nicht zum erhofften Gewinn an Freiheit. Von der Trennung des Schutzbereichs vom Sach- und Lebensbereich erhoffte man sich eine Reanimation der Freiheit spendenden Kraft der Grundrechte.191 2. Anhaltspunkte in der Rechtsprechung Anhaltspunkte für eine solche Trennung finden sich bereits in einigen verfassungsgerichtlichen Entscheidungen192, wobei aber auch gegenläufige Tendenzen feststellbar sind.193 Für eine Trennung lässt sich der Fall eines Züricher Graffitisprayers anführen, der sich gegen ein Auslieferungsbegehren seines Heimatlandes wandte. Das Gericht194 argumentierte, dass es sich bei den Graffiti zwar fraglos um Kunst handele, die eigenmächtige Inanspruchnahme fremden Eigentums unterfiele jedoch nicht dem Schutzbereich der Kunstfreiheit. In einer anderen Entscheidung195 betonte es, dass der Schutzbereich der Versammlungsfreiheit nur dann eröffnet sei, wenn es den Teilnehmern primär um Meinungsbildung und deren Kundgabe im öffentlichen Raum ginge. Die nur gelegentliche Einflussnahme auf die öffentliche Meinungsbildung im Rahmen von Veranstaltungen mit Eventcharakter wie der Love-Parade, die von ihrem Gesamtgepräge her primär auf Spaß und Unterhaltung ausgerichtet seien, genüge dem aber nicht. 189 Vgl. Sondervotum Grimm BVerfGE 80, 137 (164); kritisch dazu etwa: Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 18 Rn. 770 – 771. 190 Böckenförde, Der Staat 2003 S. 170; Hoffmann-Riem, Der Staat 2004 S. 210 – 211; a. a. O. S. 230. 191 Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 15. 192 BVerfGE 54, 208; 61, 1; 74, 102; 85, 1; 90, 1; 90, 241; 99, 185; 103, 44; 104, 92; 104, 337; 105, 252; 105, 279; BVerfG, NJW 1984, S. 1293; NJW 2001, S. 2459; NJW 2002, S. 3458. 193 BVerfGE 24, 236; 32, 54; 32, 98; 33, 22; 41, 29; 42, 212; 44, 353; 93, 1; 93, 352; 102, 347; dazu: Kahl, Der Staat 2004 S. 174. 194 BVerfG, NJW 1984, S. 1294. 195 BVerfG, NJW 2001, S. 2460 – 2461.
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Auch der zum Teil heftig kritisierte Glykol-Beschluss196 lässt sich im Sinne einer Trennung von Lebens- und Schutzbereichen verstehen. Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG schütze nicht vor der Verbreitung zutreffender und sachlich gehaltener Informationen am Markt, die für das wettbewerbliche Verhalten der Marktteilnehmer von Bedeutung sein können. Dies gelte selbst dann, wenn sich deren Inhalte auf einzelne Wettbewerbspositionen nachteilig auswirken. Die grundrechtliche Gewährleistung umfasse nämlich keinen Schutz vor Einflüssen auf die wettbewerbsbestimmenden Faktoren.197 3. Kritik Gegen eine schärfere Konturierung der Schutzbereiche im Wege der richterlichen Abtrennung des zugehörigen Lebensbereiches wird vorgebracht198, dass solch ein Freiheitsrichtertum schwerlich mit der Unantastbarkeit der Menschenwürde in Einklang zu bringen sei. Art. 1 Abs. 1 GG erkenne den Menschen in seiner Individualität, Autonomie und Gleichheit an. Dem Kriterium des Selbstverständnisses des Einzelnen komme deshalb eine wichtige Bedeutung zu. Verkürze man die sachlichen Schutzbereiche a priori durch Richterhand, konfligiere dies zwangsläufig mit dem Menschenbild des Grundgesetzes. Es komme nämlich maßgeblich auf die Wertung des Grundrechtsträgers an. Eine alleinstehende Frau, die täglich im Park die Tauben füttert, wird die Bedeutung ihres Verhaltens im Zweifel anders bewerten, als die Richter des Bundesverfassungsgerichtes. Außerdem sei unklar, ob für ein Verhalten, das zwar in den Lebens-, nicht aber in den Schutzbereich eines speziellen Freiheitsgrundrechtes fällt, subsidiär auf die allgemeine Handlungsfreiheit zurückgegriffen werden könne. Es drohe das Entstehen von Schutzlücken im Grundrechtssystem, zumal die Vertreter einer Trennung von Lebens- und Schutzbereich auch Sympathien für eine Aufgabe der Elfes-Doktrin erkennen ließen. Ferner leide eine solche Trennung durch Richterhand an einem Rationalitätendefizit. Die Entscheidung, ob ein Verhalten rechtlich schutzwürdig ist oder nicht sei letztlich blanker Dezisionismus. Dezisionismus sähe sich aber – schon alleine wegen des Fehlens eines durchgängig praktizierten Kanons an Verfassungsauslegungsmethoden – stets dem Vorwurf der Subjektivität bis hin zur Manipulation oder gar Willkür ausgesetzt. Ohne dezisionistische Entscheidungen käme man zwar auch in der klassischen Grundrechtsprüfung nicht aus, sie würden allerdings in transparenterer Weise auf Rechtfertigungsebene getroffen. Abstrakt genereller Interpretations-Dezisionismus auf der Schutzbereichsebene sei das ungleich größere Übel als konkret-individueller Abwägungsdezisionismus auf der Rechtfertigungsebene. Bei Lichte betrachtet käme es ohnehin nur zu einer 196
BVerfGE 105, 252. BVerfGE 105, 252 (265). 198 Kahl, Der Staat 2004 S. 184 – 199. 197
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Verlagerung der bislang auf Rechtfertigungsebene vorgenommenen Wertungen und Abwägungen auf die Schutzbereichsebene. Daneben befürchten die Kritiker einer Trennung einen Verlust an Einzelfallgerechtigkeit, Bestimmtheit und Rechtssicherheit sowie eine Abkoppelung von der ansonsten in der Europäischen Union gebräuchlichen Grundrechtsdogmatik. Schließlich schwinge sich ein nach Lebens- und Schutzbereichen differenzierendes Verfassungsgericht zum pouvoir constitué auf. Eine verfassungswidrige Gewaltenverschränkung sei deshalb zu befürchten. 4. Relevanz für den Untersuchungsgegenstand Ohne diese lebhaft geführte Kontroverse entscheiden zu wollen, lässt sich jedenfalls sagen, dass eine Trennung von Lebens- und Schutzbereichen durch Richterhand den Charakter der Grundrechte entscheidend verändern würde. Sie würden tendenziell selber zu etwas vom Staat Gewährten bzw. Zugeteilten und damit zu etwas, das auch wieder entzogen werden kann.199 Bezüglich der aufgeworfenen Ausgangsfrage der Vermeidung bzw. der sachgerechten dogmatischen Erfassung eines kulminierenden Grundrechtseingriffes hilft eine Trennung von Schutz- und Lebensbereich aber ohnehin nur bedingt weiter. Selbst wenn man nämlich eine Trennung von Schutz- und Lebensbereich – gegebenenfalls auch durch Richterhand – durchführen würde, schlösse dies das Entstehen von Belastungskumulationen nicht vollumfänglich aus. In Abhängigkeit von der Weite des Schutzbereiches richterlicher Prägung träten Belastungskumulationen bestenfalls seltener auf. Gleichwohl ist der Ansatz für den Untersuchungsgegenstand nicht uninteressant, weist er doch gewisse Parallelen zu Gregor Kirchhofs Lehre von der Normwirklichkeit auf.
II. Lehre von der Normwirklichkeit 1. Realitätsgerechte Erfassung von Belastungskumulationen Kirchhof meint, dass die für die Rechtserörterung notwendige Trennung nach Norminhalten oder Gesetzesvorbehalten den realitätsgerechten, umfassenden Blick auf die Betroffenheit des Grundrechtsträgers versperre. Für den Betroffenen sei es im Ergebnis unerheblich, dass jeder singuläre Eingriff für sich genommen eine geringe Eingriffsintensität aufweise, wenn die Gesamtlast die Grenzen des Zumutbaren überschreite.200 Wolle man die zusammenwirkenden von den nur nebeneinander bestehenden Belastungen abgrenzen, so müsse man 199
Volkmann, JZ 2005 S. 265. Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 27 – 28; Kirchhof, Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, 2005, S. 211. 200
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die Normwirklichkeit in den Blick nehmen. Den verschiedenen grundrechtlichen Schutzbereichen käme insofern nur eine indizierende Bedeutung zu. Keinesfalls würden sie unüberbrückbare Grenzen setzen. Maßgeblich sei der Wirkungszusammenhang. Würden Maßnahmen getrennt voneinander wirken, beträfe ein Eingriff also beispielsweise allein die Privatsphäre, ein anderer Eingriff hingegen ausschließlich den Bereich des Erwerbs, ergänzen sich die belastenden Wirkungen dieser Maßnahmen nicht. Anders verhielte es sich jedoch bei lohnsteuerrechtlichen, sozialrechtlichen und kommunikationsrechtlichen Verwaltungslasten des Arbeitgebers. Hier wäre der Arbeitgeber nämlich stets in seinem Betrieb und damit in der Normwirklichkeit der Erwerbstätigkeit betroffen.201 Eine kumulative Belastung könne nur dann angenommen werden, wenn die hoheitlichen Maßnahmen einen vergleichbaren Gegenstand und den selben Adressaten träfen. Folglich könne ein Schächtverbot als Eingriff in die Berufsfreiheit eines muslimischen Schlachters durchaus die Wirkung von Eingriffen verstärken, die ausschließlich seine Religionsfreiheit betreffen. Soll seine Schlachterei einer neuen Straße weichen und er deshalb enteignet werden, könne die Enteignung durchaus mit dem Schächtverbot kumulieren. Selbiges schiede aber von vorneherein aus, wenn das Ferienhaus des Schlachters betroffen wäre. Entscheidend sei nicht, ob die Maßnahmen das gleiche Ziel verfolgen oder das gleiche Grundrecht berühren, sondern ob sich ihre Wirkungen ergänzen. In der gleichen Normwirklichkeit des privaten Bereiches des Bürgers könnten auch das allgemeine Persönlichkeitsrecht einer Privatperson, die grundrechtliche Gewährleistung des Postgeheimnisses und die Freiheit der Wohnung wirken.202 Die Verfassung zöge aber keine klare Grenze, wann eine derart ermittelte Belastungskumulation das Maß des Zumutbaren überschreite. Dieses sei vielmehr für jeden Fall gesondert zu bestimmen. So wöge ein Eingriff in die Religionsfreiheit regelmäßig schwerer als eine Berufsausübungsregelung, selbst wenn diese den Schlachter in einem Bereich träfe, der für ihn auch religiöse Bedeutung hat. Zu berücksichtigen sei auch, ob bzw. inwieweit der Grundrechtsträger das eingreifende, hoheitliche Verhalten durch eigenes Verhalten provoziert hat. Keinesfalls führe die Figur aber dazu, dass ein Grundrechtsträger, der bereits durch zahlreiche staatliche Maßnahmen beeinträchtigt ist, mit keinerlei weiteren Lasten mehr zu rechnen habe. Zudem sei es sehr sinnvoll, dass sich die verschiedenen Hoheitsträger untereinander besser abstimmen, um somit etwaige Belastungskumulationen bereits im Vorfeld aus-
201 Kirchhof, NJW 2006 S. 735; Kirchhof, FR 2015, S. 778 – 779; Klar, Datenschutzrecht und die Visualisierung des öffentlichen Raums, 2012, S. 96. 202 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 96; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 17 – 19; Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 28 – 29; Kirchhof, NJW 2006 S. 735.
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zuräumen.203 Ähnlich argumentiert auch Winkler204, die es jedoch vorzieht, von grundrechtlichen Schutzgütern zu sprechen. 2. Bewertung Problematisch an der Lehre von der Normwirklichkeit ist, dass nicht recht klar werden will, wie genau kulminierende Eingriffe behandelt werden sollen. So wäre es einerseits denkbar, die Normwirklichkeit als Ersatz für den herkömmlichen Schutzbereich anzusehen.205 Es wäre aber auch möglich sie – ähnlich der bereits diskutierten Trennung von Schutz- und Lebensbereichen – der klassischen Grundrechtsprüfung voranzustellen.206 Zudem ist die Analyse der tatsächlichen Belastungssituation zweifelsfrei ein wichtiger Aspekt, ob es allerdings auch der einzige Aspekt bleiben kann, um das Problem der Belastungskumulationen zutreffend zu lösen, wird zu Recht bezweifelt.207 Gegen Kirchhofs Ansatz spricht außerdem, dass eine, im Prüfungsaufbau wo auch immer zu verortende, neue Kategorie der „Normwirklichkeit“ oder des „vergleichbaren Gegenstandes“ in Verbindung mit der Auflösung bzw. der Zusammenführung der herkömmlichen Schutzbereiche erhebliche Rechtsunsicherheit hervorrufen würde. Eine Rechtsunsicherheit, die durch das Fehlen klarer Kriterien zur Bestimmung der Normwirklichkeit noch einmal verstärkt werden würde208, stellen sich hier doch ähnliche Fragen wie bei der Bestimmung eines gemeinsamen Oberbegriffes209 im Rahmen des allgemeinen Gleichheitssatzes. Abgesehen davon wird dann auch die bestehende Schrankensystematik eingeebnet.210 Dies wiederum macht weitere 203
Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 29 – 30. Winkler, JA 2014 S. 884 – 886. 205 So wird man Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 30 und wohl auch Kirchhof, Beihefter zu DStR Heft 49/2009, S. 136 – 137 verstehen müssen, wenn er davon spricht, dass auch die modifizierte Grundrechtsdogmatik weiterhin grundsätzlich einen Eingriff am Maßstab der Verfassung prüfe, dabei aber die Perspektive erweitere, um eine kumulative Belastung erörtern zu können; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 137 – 138; in diese Richtung auch: Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 59 – 60. 206 Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 168 Fn. 285; so ausdrücklich: Kirchhof, Die Erfüllungspflichten des Arbeitgebers im Lohnsteuerverfahren, 2005, S. 211; Kirchhof, NJW 2006 S. 734 – 735; Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 61. 207 Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 168 Fn. 285. 208 Schaks, DÖV 2015 S. 822. 209 Dazu: Boysen, in: Münch/Kunig, GG, 2012. Art. 3 Rn. 52; Pietzcker, in: Merten/ Papier, Hdb GR V, 2013, § 125 Rn. 3 – 7. 210 Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 138 – 139. 204
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
Modifikationen der gängigen Grundrechtsprüfung erforderlich,211 was letztlich auf eine völlige Neukonzeptionierung hinausliefe. Schließlich vermag die Lehre von der Normwirklichkeit, horizontale Belastungskumulationen nicht zu erklären, da sie verlangt, dass der Eingriffsadressat stets der gleiche Grundrechtsträger sein muss. Die Lehre von der Normwirklichkeit kann deshalb bestenfalls ein Baustein, nicht aber die alleinige Lösung des dogmatischen Problems kulminierender Grundrechtseingriffe sein.
III. Bildung eines Gesamteingriffes Ähnlich dürfte es sich mit der von weiten Teilen der Fachgerichtsbarkeit und des Schrifttums offenbar favorisierten Lösung verhalten. Für eine kumulative Gesamtbetrachtung sei es zumindest erforderlich, dass es sich um Eingriffe mit gleichem Regelungsziel in den gleichen Lebensbereich handele.212 Die grundrechtserhebliche kumulative Gesamtbelastung unterscheide sich unter anderem deshalb von der schlichten Mehrfachbelastung, weil die grundrechtseingreifenden staatlichen Akte im Wesentlichen die gleichen Regelungsziele verfolgen und sich deshalb in ihren wechselseitigen, belastenden Wirkungen zu einem Eingriffsbündel verstärken.213 Beide beziehen sich dabei auf Lücke, der erstmals214 explizit die Frage aufwarf, ob nicht die aus mehreren punktuellen Grundrechtseingriffen resultierenden Einzelbeeinträchtigungen zu einem mehrteiligen Gesamteingriff zusammengefasst werden können. Voraussetzung hierfür sei, dass ein und dieselbe Person(engruppe) durch mehrere bis in die Gegenwart fortwirkende Eingriffe in dasselbe Grundrecht(sgut) betroffen ist und diese Eingriffe im Wesentlichen dieselben Zwecke verfolgen. Ein auf diese Weise entstandener kulminierender Grundrechtseingriff nehme eine Vielzahl punktueller Grundrechtseingriffe in sich auf und summiere diese zu einer Gesamtbeeinträchtigung. Er verkörpere 211
Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 25 – 26. FG Bremen, EFG 2014, S. 964 – 968; FG Hamburg, EFG 2014, S. 2098 – 2104; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. November 2013 – 14 A 2401/13 –, juris Rn. 17 – 18; VG Saarland, Urteil vom 12. Dezember 2014 – 1 K 354/13 –, juris Rn. 134. 213 Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 130 Rn. 308; Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 97; Kluth, ZHR 1998 S. 674; Lücke, DVBl 2001 S. 1470; in diese Richtung zunächst auch Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 143 – 144; a. a. O. S. 157, die dann aber einen eigenständigen Ansatz entwickelt; Peine, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 57 Rn. 53 – 54; auch Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 133, bezog sich zunächst u.a. auf Lücke, möchte seit Schaks, DÖV 2015 S. 822 aber ausdrücklich nicht mehr das Übermaßverbot zur Begründung heranziehen. 214 Zuvor hatte bereits Kluth, ZHR 1998 S. 674 einen von den Voraussetzungen her ähnlichen Ansatz rudimentär skizziert. 212
D. Vorgeschlagene Modifikationen der Grundrechtsprüfung
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deswegen das Gewicht aller Einzeleingriffe, aus denen er sich zusammensetzt. Infolge dessen weise er zwangsläufig eine höhere Eingriffsintensität auf als seine einzelnen Komponenten. Diese Potenzierung habe Folgen für das Gebot der Verhältnismäßigkeit. Sie führe dazu, dass die Gewichte des auf eine Abwägung des Eingriffsinteresses (Eingriffszweck) mit dem Freiheitsinteresse (Eingriffsintensität) zielenden Gebotes der Verhältnismäßigkeit zugunsten der Freiheit des Bürgers verschoben würden. Der Eingriffszweck bliebe im Gegensatz zur gesteigerten Eingriffsintensität ja unverändert.215 1. Statisches Eingriffsinteresse Dem ist – wie bereits ausgeführt216 – zunächst einmal entgegenzuhalten, dass es auf die Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes nicht ankommen kann, weil dies einer Abkehr vom herrschenden, kein finales Element erfordernden, modernen Eingriffsbegriff gleich käme. Außerdem scheint der Ansatz einen falschen Schluss zu ziehen. Bei einer Gesamtbetrachtung erhöht sich nämlich nicht nur das Gewicht des Erhaltungsinteresses, während das Gewicht des Eingriffsinteresses unverändert bleibt. Regelmäßig wird eine Kombination von Grundrechtseingriffen die Effektivität der Zielerreichung steigern, weswegen auf Seite des Eingriffs interesses ein höheres Maß an Geeignetheit festzustellen ist. Dazu kommt, dass eine Kombination von Grundrechtseingriffen, die einen bestimmten Zweck nicht besser als eine Einzelmaßnahme fördert, zumindest einmal bezüglich einiger kumulierender Maßnahmen schon nicht erforderlich sein kann.217 2. Grundrechtsidentität a) Freiheitsrecht und Freiheitsrecht Daneben scheint auch die Mehrzahl derer, die sich auf Lücke beziehen, das von ihm aufgestellte Erfordernis des Eingriffs in dasselbe Grundrecht(sgut) abzulehnen und sich – ohne dies näher auszuführen oder sich ausdrücklich auf sie 215 Bernsdorff, SGb 2011 S. 123; Jarass, Neue Dimensionen der Tabakproduktregulierung und Grundrechte sowie Grundfreiheiten/New Dimensions of Tobacco Regulation and Fundamental Rights and Freedoms, 2012, S. 49; Lücke, DVBl 2001 S. 1478 mit Bezug auf Kirchhof, Besteuerung und Eigentum, in: Korinek/Müller/Schlaich (Hrsg.), Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen. Besteuerung und Eigentum // Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, 1981, S. 240, der im Hinblick auf Steuerhäufungen eine gestufte Verfassungsprüfung für notwendig erachtet. Zunächst müsse die Angemessenheit der punktuellen Belastung des speziellen Steuergegenstandes geprüft werden, daran anschließend die Gesamtbelastung des Vermögens des Steuerpflichtigen. 216 § 6 B. III. 5. 217 Klement, AöR 2009 S. 65.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
zu beziehen – eher an der Lehre von der Normwirklichkeit zu orientieren. Die Eingriffsakte müssten nicht notwendigerweise dasselbe Grundrecht, wohl aber den gleichen Lebensbereich betreffen.218 Eine Voraussetzung, die sich nahtlos in die bisher ergangene verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum kulminierenden Grundrechtseingriff einfügt.219 Diese betraf zwar oftmals220 ein und dasselbe Grundrecht, sodass zu dieser Frage nie ausdrücklich Stellung bezogen werden musste. In seiner GPS-Entscheidung221 ging das Gericht aber ganz selbstverständlich davon aus, dass Eingriffe in die Unverletzlichkeit der Wohnung und das allgemeine Persönlichkeitsrecht in der Verfassungswidrigkeit kulminieren können, weswegen es verfahrensrechtliche Sicherungen einforderte. Eine Linie, die das Gericht bezüglich der Überwachungsbefugnisse des Bundeskriminalamtes zur Terrorabwehr bestätigte. So sollen Koordinierungsmaßnahmen das Ausmaß der Überwachung beim Einsatz moderner, insbesondere dem Betroffenen verborgener Ermittlungsmethoden insgesamt beschränken.222 Deutlicher positionierte sich das Gericht in seiner PKV Entscheidung. Grundsätzlich sei es „möglich, dass verschiedene einzelne, für sich betrachtet geringfügige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche223 in ihrer Gesamtwirkung zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung führen, die das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschreitet“224.
Für ein solches Verständnis und damit gegen die von Lücke geforderte Grundrechtsidentität spricht auch der Grundgedanke des kulminierenden Eingriffes. Sinn und Zweck der verfassungsrechtlichen Berücksichtigung von Belastungskumulationen ist es, einer scheibchenweisen Beseitigung von Freiheit vorzubeugen. Ein Ziel, das bei Grundrechtsidentität nur teilweise erreicht werden kann. Die 218 FG Bremen, EFG 2014, S. 964 – 968; FG Hamburg, EFG 2014, S. 2098 – 2104; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. November 2013 – 14 A 2401/13 –, juris Rn. 17 – 18; VG Saarland, Urteil vom 12. Dezember 2014 – 1 K 354/13 –, juris Rn. 134; Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 97; Kaltenstein, SGb 2015 S. 370; ausdrücklich für Grundrechtsidentität: Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 130 Rn. 308; Schaks, DÖV 2015 S. 822, der sich allerdings nicht mehr wie in Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 133 auf Lückes, im Übermaßverbot wurzelnden Ansatz bezieht; ebenfalls ohne Bezug auf Lücke wollen Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 60 nur sachlich oder funktionell verwandte Grundrechte einer holistischen Betrachtung unterziehen, wobei dieselbe Maßnahme in zwei verschiedene Grundrechte eingreifen muss. 219 Dazu bereits: § 6 B. III. 4. c). 220 Dazu: § 6 B. III. 1. bis § 6 B. III. 4. c). 221 BVerfGE 112, 304; näher dazu: § 6 B. III. 4. b). 222 BVerfG, DVBl 2016, S. 774. 223 Hervorhebung nicht im Original. 224 BVerfGE 123, 186 (265 f.); näher dazu: § 6 B. III. 4. c).
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tatsächliche Belastung des Grundrechtsträgers würde nur unzureichend abgebildet werden. Die aus dem punktuellen Eingriffsverständnis resultierende isolierte Betrachtung würde fortgesetzt werden, obwohl es gerade sie aufzulösen galt. Die Betroffenheit im selben Freiheitsgrundrecht kann deshalb keine, für einen kulminierenden Grundrechtseingriff zwingend zu erfüllende Voraussetzung sein.225 b) Freiheitsrecht und Gleichheitsrecht Mit Blick auf die tatsächliche Belastungssituation des Rechtsunterworfenen muss dies auch für die grundsätzliche Möglichkeit des Entstehens eines kulminierenden Eingriffes durch Belastungskumulationen von Freiheits- und Gleichheitsrechten gelten.226 Freiheit ohne Gleichheit behindert die Freiheit all derer, die über weniger Ressourcen, ungleiche Chancen oder keine Privilegien verfügen. Folglich kann – wie bereits Jean-Jacques Rousseau in anderem Zusammenhang konstatierte – Freiheit nicht ohne Gleichheit bestehen. Beides sind Grundwerte einer Demokratie, die sich notwendigerweise ergänzen, gegenseitig regieren, zugleich aber auch in einem dialektischen Spannungsverhältnis stehen.227 Auch das Bundesverfassungsgericht sprach in einer jüngeren Entscheidung zum kulminierenden Grundrechtseingriff ausdrücklich von Eingriffen in „verschiedene228 einzelne, für sich betrachtet geringfügige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche“229. Mit dieser, im Vergleich zur PKV Entscheidung veränderten Formulierung, könnte es die, von der Vorinstanz230 noch gehegten Bedenken bezüglich der grundsätzlichen Möglichkeit der Belastungskumulation von Freiheits- und Gleichheitsrechten zerstreuen wollen. Dagegen ließe sich allerdings anführen, dass in Gleichheitsrechte nicht eingegriffen werden kann. Auch könnte man versucht sein zu kontern, dass man dann in letzter Konsequenz eine Gleichbehandlung von verschiedenen Hoheitsträgern verlangen würde. So wäre es nach dem
225 So im Ergebnis auch: Bernsdorff, SGb 2011 S. 122; Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 89; Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 97; Klar, Datenschutzrecht und die Visualisierung des öffentlichen Raums, 2012, S. 96; Michael/ Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 60. 226 Hofmann, JURA – Juristische Ausbildung 2008 S. 671; Kirchhof, Beihefter zu DStR Heft 49/2009, S. 136; vgl. Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 121; wohl auch: Seiler, Verfassung in ausgewählten Teilrechtsordnungen: Konstitutionalisierung und Gegenbewegungen im Steuerrecht, in: Volkmann (Hrsg.), Verfassung als Ordnungskonzept, 2016, S. 364. 227 Zitiert nach: Gerhard/Ackermann/Altenbockum von, APuZ 2013 S. 20 – 21. 228 Hervorhebung nicht im Original. 229 BVerfG, NJW 2014, S. 3638. 230 BSG, NZS 2010, S. 32.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
oben Gesagten 231 zur Einheit der öffentlichen Hand im Sinne einer wechselseitigen Zurechnung belastender Maßnahmen zu unterschiedlichen Hoheitsträgern durchaus vorstellbar, dass beispielsweise der Bund für von Ländern und Kommunen vorgenommene Diskriminierungen in die Pflicht genommen wird. Ein Ergebnis, dass schwerlich mit dem anerkanntermaßen bestehenden Grundsatz232, der Gleichbehandlung immer nur vom selben Hoheitsträger fordert, in Einklang zu bringen ist. Im Interesse einer möglichst realitätsgerechten Abbildung der tatsächlichen Belastungssituation sollte (nur) für den Fall eines kulminierenden Grundrechtseingriffes, der zumindest auch aus dem Zusammenwirken unterschiedlicher Hoheitsträger im Rahmen von Gleichheitsrechten resultiert, jedoch insofern eine Ausnahme gemacht werden. Ein kulminierender Grundrechtseingriff kann deshalb durchaus sowohl im Verbund von Freiheits- als auch im Verbund von Freiheits- und Gleichheitsrechten auftreten. 3. Aktualität Im Grundsatz sicherlich zutreffend ist aber, keine abgeschlossenen Beeinträchtigungen in der Verfassungswidrigkeit kulminieren zu lassen. In der Vergangenheit erfolgte Grundrechtseingriffe müssen deshalb – zumindest in abgewandelter Form – bis in die Gegenwart fortwirken. Der kulminierende Grundrechtseingriff zielt in erster Linie darauf ab, die aus dem punktuellen Eingriffsverständnis resultierenden Schutzlücken zu schließen. Keinesfalls soll er die für seine Existenz notwendige Gegenwärtigkeit oder Aktualität des Grundrechtseingriffes korrigieren.233 Würde man keine aktuelle Belastungswirkung mehr zeitigende Eingriffe bei der Bildung eines kulminierenden Eingriffes berücksichtigen, ginge dies zwangsläufig damit einher, die tatsächliche Belastungssituation zu ignorieren. 231
§ 6 B. III. 6. Boysen, in: Münch/Kunig, GG, 2012, Art. 3 Rn. 67; Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 19 Rn. 800. 233 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 90; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 186; Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 28; Kirchhof, NJW 2006 S. 734; Kirchhof, Beihefter zu DStR Heft 49/2009, S. 137; Klar, Datenschutzrecht und die Visualisierung des öffentlichen Raums, 2012, S. 95; Klement, AöR 2009 S. 42; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 157; Lücke, DVBl 2001 S. 1470 – 1471; wohl auch: Schaks, DÖV 2015 S. 819 – 820 und Winkler, JA 2014 S. 882; anders: Boetius, Die Systemveränderung in der privaten Krankenversicherung (PKV) durch die Gesundheitsreform, 2008, S. 49, der erst dann auf die Intensität der kumulierenden Eingriffe sowie das betroffene Freihheitsrecht abstellt, wenn zwischen den, die Belastungskumulation bildenden Einzeleingriffen sehr lange Pausen bestehen. Ansonsten soll es auf die Umstände des Einzelfalles ankommen, wobei er kurz aufeinander folgenden Eingriffen, die sich als „inhaltlich zusammenhängende Kette“ darstellen, indizielle Bedeutung für die Aktualität beimisst. 232
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Der kulminierende Grundrechtseingriff würde die tatsächliche Belastungssituation unzutreffend abbilden und hätte nicht nur seinen Zweck verfehlt, sondern wäre wegen seiner uferlosen Weite auch kaum mehr praktikabel handhabbar. Es verbietet sich deshalb beispielsweise einen, die aktuelle Berufsausübung betreffenden, kulminierenden Grundrechtseingriff durch nicht mehr fortwirkende Belastungen, die sich auf den in der Vergangenheit liegenden Berufszugang beziehen, zu konstruieren. Auch künftige Beeinträchtigungen scheiden deshalb aus.234 In Anlehnung an die zur unmittelbaren Beschwer bei Verfassungsbeschwerden anerkannten Ausnahmen sollte man jedoch erwägen, erst künftig eintretende Belastungswirkungen dennoch zu berücksichtigen, wenn ein Abwarten bis zum tatsächlichen Belastungseintritt unzumutbar ist. Das wäre beispielsweise bei Straf- und Ordnungswidrigkeiten der Fall. Vom Rechtsunterworfenen kann nicht verlangt werden, erst gegen diese Gesetze zu verstoßen, um den vollständigen, tatsächlichen Belastungseintritt herbeizuführen.235 Entsprechendes sollte für künftig eintretende Belastungen gelten, die bereits heute zu irreversiblen Dispositionen zwingen.236 Ohne Weiteres können aber nicht alle, im Laufe eines Berufslebens getroffenen Berufswahl- oder Berufsausübungsregelungen, zu einem Zeitpunkt, zu dem sich noch nicht alle Belastungswirkungen tatsächlich realisiert haben, in der Verfassungswidrigkeit kulminieren.237 Dem davon zu unterscheidenden Problem der grundsätzlich denkbaren Intensivierung von Grundrechtseingriffen im Zeitablauf wurde durch die Statuierung von Prüfungs- und Beobachtungspflichten bereits hinreichend Rechnung getragen.238
IV. Mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnisse Zielten die bisher vorgestellten Ansätze darauf ab, die aus dem punktuellen und individuellen Eingriffsverständnis resultierende, unzureichende dogmatische Erfassung von Belastungskumulationen zu beheben, setzt Calliess an der Bipolarität239 an. Seiner Meinung nach sei das insbesondere im Umweltrecht beste234 Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 130 Rn. 308; Lücke, DVBl 2001 S. 1470 – 1471. 235 Vgl. BVerfGE 20, 283 (290); 46, 246 (256); 81, 70 (82 f.); 97, 157 (165); Benda/Klein/ Klein, Verfassungsprozessrecht, 2012, § 19 Rn. 562; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 2015, § 3 Rn. 204 – 204a. 236 Vgl. BVerfGE 68, 287 (300); 70, 35 (53); 72, 39 (44); 90, 128 (136), 97, 154 (164); Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 1991, § 12 Rn. 36. 237 In diese Richtung aber Hufen, Der Grundrechtseingriff Aussprache, in: Bethge/ Weber-Dürler (Hrsg.), Der Grundrechtseingriff, 1998, S. 132. 238 Hufen, Die Grundrechte und der Vorbehalt der Gesetzes, in: Grimm/Hagenah (Hrsg.), Wachsende Staatsaufgaben--sinkende Steuerungsfähigkeit des Rechts, 1990, S. 284; dazu: § 6 B. IV. 4. 239 Dazu: § 6 B. IV. 2.
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hende Spannungsverhältnis zwischen der Wirtschaftsfreiheit eines Begünstigten, dem Schutzbedürfnis der Personen, die von den Auswirkungen der staatlichen Eingriffsbeteiligung negativ betroffen sind und dem betroffenen Gemeinwohlbelang durch eine mehrpolige Verhältnismäßigkeitsprüfung aufzulösen. Es wäre deswegen wünschenswert, die herkömmliche Verhältnismäßigkeitsprüfung wie folgt zu modifizieren:240 2. Geeignetheit a) Übermaßverbot aus Sicht des Begünstigten b) Untermaßverbot aus Sicht des Betroffenen c) Untermaßverbot aus Sicht des betroffenen Gemeinwohlbelangs 3. Erforderlichkeit a) Übermaßverbot aus Sicht des Begünstigten b) Untermaßverbot aus Sicht des Betroffenen c) Untermaßverbot aus Sicht des betroffenen Gemeinwohlbelangs 4. Ausgleich wechselbezüglicher Rechtspositionen durch mehrpolige Güter abwägung Vorab sei aber zu prüfen, ob überhaupt ein auf Grund des Art. 20a GG notwendiges staatliches Schutzkonzept vorliege, worauf sich die angegriffene Vorsorgemaßnahme stützen lasse. Ferner müsse es sich um ein stimmiges Schutzkonzept handeln, da seine Wirkungen andernfalls undifferenzierte und unreflektierte Grundrechtseingriffe provozieren könnten.241 Eine Lösung, die ersichtlich darauf zugeschnitten ist, einen Interessenausgleich zwischen Schutzpflichten und Eingriffen im Verhältnis von Staat, Allgemeinheit und zwei Grundrechtsträgern durchzuführen. Dabei nimmt sie weniger einzelne, direkt oder indirekt wirkende Maßnahmen, sondern die unabgestimmte Kumulation verschiedenster Gebote, Belastungen und Verhaltenserwartungen in den Blick.242 Vor allen Dingen setzt sie aber eine Vierecksbeziehung zwischen den Akteuren voraus. Einfache vertikale Belastungskumulationen im Verhältnis Staat – Bürger vermag sie ohne weitere Modifikationen genauso wenig zu erklären wie horizontale Belastungskumulationen. Ihr Anwendungsbereich ist im Hinblick auf die Ausgangsfrage relativ schmal.
240 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 408 – 409; a. a. O. S. 578 – 580; im Ansatz ähnlich: Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 59 sowie Hofmann, Abwägung im Recht, 2012, S. 411. 241 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 408 – 410. 242 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 408.
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V. Zurechenbarkeit des Eingriffs Lothar Michael hingegen will die Berücksichtigung von vertikalen Belastungskumulationen von der Zurechenbarkeit der Belastungswirkung zu irgendeinem, also nicht notwendigerweise demselben Hoheitsträger abhängig machen. Die viel diskutierte Finalität sei hier keinesfalls das einzig denkbare Kriterium. Wie ein Seitenblick in das Privat- und Strafrecht zeige, erschiene es vielmehr sinnvoll, auch Kausalitätsfragen stärker in den Fokus zu nehmen. Eine Zurechnung könne dann nach Äquivalenz-, Adäquanz-, Risikoerhöhungs- und bzw. oder normativen Gesichtspunkten erfolgen. Kooperiert der Staat mit Privaten, die in Grundrechte Dritter eingreifen, könne eine Zurechnung anhand des status negativus cooperationis erfolgen. Kehrseite der hoheitlichen Kooperationsbefugnisse sei nämlich eine hoheitliche Mitverantwortung, die sämtliche, aus Kooperationen erwachsende, absehbare Grundrechtsbeeinträchtigungen umfasse.243 Dogmatisch knüpft Michael an das Verhältnismäßigkeitsprinzip an, indem er im Rahmen der Zumutbarkeitsprüfung eine Gesamtfreiheitsbilanz zieht, die neben der Eingriffsintensität auch vermindernde Entlastungen berücksichtigt.244 Er nimmt dabei allerdings nur Belastungskumulationen in den Blick, die auf Grund eines Formen- und Instrumentenmixes entstehen.245 Werden beispielsweise klassische ordnungsrechtliche Instrumentarien, wie Verbote mit Lenkungsabgaben und ökonomischen Anreizen wie Subventionen oder Zertifikaten verknüpft, sollen die sich hieraus ergebenden Belastungen in der Verfassungswidrigkeit kulminieren, wenn sie dem Staat zugerechnet werden können. Die Abgrenzung zur unechten Belastungskumulation, also der schlichten Mehrfachbelastung, soll dann aber doch wieder anhand des einen kulminierenden Eingriff nur indizierenden 246 Finalitätskriterium erfolgen. Denn eine Kumulation sei rechtsstaatlich unbedenklich, wenn verschiedene Ziele mit verschiedenen Mitteln erreicht werden sollen. Problematisch werde sie dann, wenn dasselbe Ziel mit unabgestimmten Mitteln oder sich widersprechende Ziele verfolgt werden.247 Im Ergebnis kann deshalb festgehalten werden, dass weder der vertikale noch der horizontale kulminierende Eingriff anhand des Zurechenbarkeitskriteriums überzeugend gelöst werden kann. Horizontale Belastungskumulationen können nicht erklärt werden, weil es sich stets um denselben Grundrechtsträger handeln muss. Vertikale Be243 Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 119. 244 Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 123 – 124. 245 Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 1 – 26. 246 § 6 B. III. 5. 247 Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/ Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 123 – 124.
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lastungskumulationen ebenfalls nicht, da eine Abgrenzung zwischen echten und unechten Belastungskumulationen anhand des einen kulminierenden Eingriff nur indizierenden Finalitätskriteriums erfolgen soll. Richtig ist aber sicherlich, dass nur solche Maßnahmen in der Verfassungswidrigkeit kulminieren können, für die der Hoheitsträger einzustehen hat, weil sie ihm zurechenbar sind. Dass dabei kein Unterschied zwischen den Hoheitsträgern gemacht wird, sondern im Grundsatz von einer Einheit der öffentlichen Hand ausgegangen wird, ist im Interesse einer realitätsgerechten Erfassung der Belastungswirkungen zu begrüßen und liegt voll auf der von der Rechtsprechung bislang vorgezeichneten Linie248. Es lässt sich deswegen sagen, dass das Zurechenbarkeitskriterium eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für die sachgerechte dogmatische Erfassung des kulminierenden Grundrechtseingriffes ist. Vielleicht nicht zuletzt deshalb scheint Lothar Michael249 selbst Zweifel zu hegen.
VI. Holistischer Ansatz Nach dem von Lothar Michael zusammen mit Martin Morlok vorgeschlagenen holistischen Ansatz250 sollen nicht alle denkbaren Aspekte der Freiheitsbeschränkung nebeneinander geprüft werden. Im Rahmen der Schutzbereichsprüfung und der Zurechnung müsse jeweils erörtert werden, welches Grundrecht überhaupt einschlägig sei. Liege Idealkonkurrenz vor, so sei für jedes Grundrecht eine gesonderte Rechtfertigungsprüfung anzustellen. Anschließend müsse im Rahmen einer Gesamtabwägung der Frage nachgegangen werden, ob die Schwere der gleichzeitig betroffenen Grundrechte zusammengenommen durch die Zwecke der eingreifenden Maßnahme gerechtfertigt werden könne. Entscheidend für eine solche Gesamtabwägung spräche, dass auch auf der die Grundrechtseingriffe möglicherweise rechtfertigenden Zweckebene kumulativ sämtliche einschlägigen Belange zu berücksichtigen seien. Neben Gemeinwohlinteressen könnten dies auch Grundrechte Dritter sein. Eine isolierte Prüfung jedes einzelnen Grundrechtes führe bei der Abwägung strukturell zu einer Asymmetrie zulasten der Grundrechte insgesamt. Eigenständige Bedeutung habe eine solche Gesamtabwägung allerdings nur dann, wenn in zwei verschiedene Grundrech248 § 6 B. III. 6.; im Grundsatz zustimmend aus der Literatur: Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 94 – 95; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 197; Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 119; Kirchhof, Beihefter zu DStR Heft 49/2009, S. 136; Kluth, ZHR 1998 S. 673 – 674; Koch, ZfWG 2015 S. 327; Schaks, DÖV 2015 S. 821; a. A. Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 68. 249 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 59 – 60. 250 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 59 – 60.
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te eingegriffen werde. Denn dann habe sich die Eingriffstiefe insgesamt erhöht. Unabdingbare Voraussetzung für eine derartige gegenseitige Verstärkung der Eingriffsintensität sei aber die sachliche oder funktionelle Verwandtschaft der Grundrechte. Sachlich verwandt seien etwa die – zumindest auch – die Privatsphäre betreffenden Rechte aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG, Art. 10 GG und Art. 13 GG. Funktionell verwandt seien die politischen Grundrechte der Art. 5 Abs. 1 GG, Art. 8 GG und gegebenenfalls Art. 9 Abs. 1 GG oder die wirtschaftlichen Grundrechte aus Art. 12, Art. 14 und Art. 2 Abs. 1 GG. Auch der Schutz von Geschäftsräumen nach Art. 13 GG könne mit Art. 12 GG funktionell zusammenwirken. Wenn aber beispielsweise baurechtliche Vorschriften im Falle eines Gotteshauses gleichzeitig in Art. 14 GG und in Art. 4 Abs. 1 GG eingriffen, dann müssten die eigentumsrechtlichen und die religionsrechtlichen Belange bei der Abwägung voneinander getrennt werden. Die Rechtfertigung des Eingriffs in das Eigentum sei nämlich ebenso unabhängig davon, dass es sich um ein religiöses Gebäude handele, wie die Rechtfertigung des Eingriffs in die Religionsfreiheit unabhängig von den Eigentumsverhältnissen des Gebäudes sei. Auch die Rechtsprechung habe bei der Gewichtung von Grundrechtseingriffen das Zusammentreffen mehrerer Schutzbereiche bisweilen berücksichtigt, wenngleich sie von einer konsequenten holistischen Betrachtungsweise noch weit entfernt sei. Beispielsweise wurden Durchsuchungsmaßnahmen in Redaktionen schon kumulativ am Schutz der Geschäftsräume nach Art. 13 GG und der Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG gemessen. Weil Art. 13 GG dem Schutz der Pressefreiheit funktionell diene, falle Letztere zusätzlich ins Gewicht und mache eine allseitige Abwägung erforderlich.251 Auch beim Nichtraucherschutz habe sich das Bundesverfassungsgericht252 im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung des Eingriffs in die Berufsfreiheit der Gastwirte durch ein gaststättenrechtliches Rauchverbot nicht darauf beschränkt, den Schutz der Gesundheit der Passivraucher abzuwägen. Daneben bezog es auch die allgemeine Handlungsfreiheit der rauchenden Gäste mit in die Betrachtung ein. Bei einer holistischen Betrachtung der Beeinträchtigung sämtlicher, durch ein und dieselbe Maßnahme betroffener Grundrechte sei somit im Rahmen einer Gesamtabwägung die Schwere der zugleich betroffenen Grundrechte zusammenzuaddieren. Auch bei mehreren Maßnahmen könne eine Kumulation der Schwere der erlittenen Beeinträchtigung erfolgen. Umgekehrt müssten dann aber auch erleichternde, begünstigende Maßnahmen im Wege der Saldierung berücksichtigt werden, wenn die Angemessenheit einer hoheitlichen Maßnahme geprüft wird.253 251 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 60 verweisen hier auf: BVerfGE 20, 162 (187); BVerfG, NJW 1998, S. 2131. 252 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 60 verweisen hier auf: BVerfGE 121, 317 (359). 253 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 23 Rn. 744.
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Der Verdienst dieser Anleihen an Calliess254 und Kirchhof 255 nehmenden, holistischen Betrachtungsweise kann darin gesehen werden, dass er die Lehre von der Normwirklichkeit ein Stück weit dogmatisch handhabbarer macht. Die geforderte sachliche oder funktionelle Verwandtschaft der Grundrechte beseitigt die, bei der Lehre von der Normwirklichkeit noch kritisierte, Rechtsunsicherheit zumindest teilweise. Dass eine holistische Betrachtungsweise aber Eingriffe in zwei verschiedene Grundrechte voraussetzen soll, erscheint nicht zwingend. So kann die tatsächliche Belastungssituation des Grundrechtsträgers genauso hoch sein, wenn immer nur in dasselbe Grundrecht eingegriffen und die verbürgte Freiheit scheibchenweise beseitigt wird.256 Eine Antwort darauf, wie einfache Mehrfachbelastungen von echten Belastungskumulationen abzugrenzen sind, bleiben Michael und Morlok genauso schuldig wie bezüglich der Bedeutung des Finalitätskriteriums. Vor allen Dingen bleibt aber auch unklar, ob der soeben dargestellte holistische Ansatz überhaupt ein Modell zur Auflösung von Belastungskumulationen oder ein Alternativmodell zu den von der Rechtsprechung bisweilen praktizierten Schutzbereichsverstärkungen im Sinne einer Grundrechtskumulation257 sein soll. Für ein Verständnis im Sinne eines kulminierenden Grundrechtseingriffes sprechen neben den bereits genannten Anleihen an Gregor Kirchhof und Christian Calliess, die Bezeichnung als „holistisch“ sowie die ausdrückliche Bezugnahme auf Jan Henrik Klements Aufsatz258. Dagegen lassen sich die, zur argumentativen Stützung des holistischen Ansatzes genannten Gerichtsentscheidungen zum Rauchverbot und der Durchsuchung von Presseräumen anführen. Denn diese behandeln den kulminierenden Grundrechtseingriff mit keinem Wort. Dazu kommt, dass im Rahmen eines nachfolgenden, sich eindeutig auf den kulminierenden Grundrechtseingriff beziehenden Abschnitts kein Rückbezug auf den eigenen holistischen Ansatz genommen wird. Anstelle dessen wird nur auf den bereits vorgestellten259 Zurechenbarkeitsansatz und einige andere Arbeiten260 bzw. Ge-
254 Calliess, Rechtsstaat und Umweltstaat, 2001, S. 408 – 409; a. a. O. S. 578 – 580; dazu bereits: § 6 D. IV. 255 Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 27 – 28; Kirchhof, NJW 2006 S. 735; dazu bereits: § 6 D. II. 256 Vgl. bereits zum Erfordernis der Grundrechtsidentität: § 6 D. III. 2. 257 Siehe dazu: § 6 B. II. 258 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 59 Fn. 44 verweisen hier auf: Klement, AöR 2009 S. 63. 259 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 18 Rn. 519 Fn. 30 verweisen hier auf: Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41; dazu bereits: § 6 D. V. 260 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 18 Rn. 519 Fn. 26 – 27 verweisen hier auf: Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 78; Hufen, Staatsrecht II, 2014 § 8 Rn. 16; Kirchhof, NJW 2006 S. 732; Lücke, DVBl 2001 S. 1469.
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richtsentscheidungen261 verwiesen. Weitere Zweifel daran, dass tatsächlich der kulminierende Grundrechtseingriff gemeint gewesen sein sollte, weckt auch der Satz: „Die Forderungen nach einer möglichst umfassenden Grundrechtsprüfung und die Ansätze zu einer Schutzbereichsverstärkung ließen sich auch zu einem holistischen Ansatz weiterentwickeln.“262 Letztlich kann es aber auch offenbleiben, ob der holistische Ansatz in dem einen oder anderen Sinne zu verstehen ist. Eine allgemeingültige Lösung für den sachgerechten Umgang mit Belastungskumulationen hält nämlich auch der weiterentwickelte holistische Ansatz aus den genannten Gründen nicht bereit.
VII. Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung Selbige meint Lee, in der von ihr entwickelten Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung gefunden zu haben. Diese setze zunächst einmal voraus, dass in dasselbe Grundrecht desselben Grundrechtsträgers zu zumindest teilweise gleichen Zwecken eingegriffen wird und die Eingriffe noch simultan wirken.263 Anschließend sei die Verfassungsmäßigkeit jeder Einzelmaßnahme nach dem üblichen Schema zu prüfen. In einem zweiten Schritt sei dann eine zweite, vollständige Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung unter Einbeziehung aller kumulierend wirkenden Maßnahmen durchzuführen. Im Rahmen derer entfiele dann die Geeignetheit, wenn sich die Wirkungen verschiedener kumulierender Maßnahmen gegenseitig aufheben.264 Insofern scheint es bei der Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung im Kern dann doch wieder um Einzeleingriffe und nicht etwa um die sich hieraus ergebende Gesamtbelastung zu gehen.265 Vor allen Dingen sollen aber nur solche Belastungskumulationen herangezogen werden, bei denen eine Zwecküberschneidung besteht.266 Abgesehen davon, dass somit erneut den nur indizielle Bedeutung zukommenden Merkmalen des gleichen Zweckes und des gleichen Grundrechts Tatbestandsqualität zuerkannt wird, bleibt auch offen, weshalb überhaupt eine vollständige viergliedrige Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung 261
Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 18 Rn. 519 Fn. 26 – 30 verweisen hier auf die Entscheidungen zur Wehrdisziplin in BVerfGE 21, 378 (388); zum Halbteilungsgrundsatz in BVerfGE 93, 121 (134 ff.); 115, 197 (108) sowie zur GPS-Überwachung in BVerfGE 112, 304 (320). 262 Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 4 Rn. 59. 263 Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 157; ähnlich: Kaltenstein, SGb 2015 S. 370. 264 Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 148. 265 Michael, Die Verwaltung 2014 S. 450 – 451. 266 Kaltenstein, SGb 2015 S. 369; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 147 – 148.
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durchzuführen ist.267 Im Interesse einer möglichst realitätsgerechten Abbildung der Belastungssituation wäre es vielmehr wünschenswert, eine isolierte Zumutbarkeitsprüfung – dann allerdings ohne das Erfordernis der zumindest teilweisen Zweckidentität – durchzuführen.
VIII. Dreiteiliges Schutzkonzept In Unkenntnis der soeben vorgestellten Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung setzt hier das von Jesse, ebenfalls am Beispiel des Formen- und Instrumentenmixes entwickelte, dreiteilige Schutzkonzept an. Auch hier müssen zunächst sämtliche Einzeleingriffe für sich genommen verhältnismäßig sein. Synergieeffekte, Vergünstigungen und weitere, die Eingriffsintensität vermindernde Umstände anderer Instrumente seien zwar zu berücksichtigen; außer Betracht blieben auf dieser Ebene aber durch andere Instrumente hinzutretende Belastungen. Diese würden nämlich die Schwere des jeweils zu rechtfertigenden Eingriffes nicht erhöhen, sondern müssten ihrerseits auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft werden. Andernfalls würden die Grenzen der abzuwägenden Belange zu sehr miteinander vermengt. Eine Prüfung wäre nicht mehr praktikabel durchführbar. Die Gesamtbelastung sei dann in einem zweiten Schritt auf ihre Verhältnismäßigkeit hin zu überprüfen. Wie bei der Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung werden dabei nur solche Belange in die Prüfung eingestellt, die im Wesentlichen gleiche Zwecke verfolgen und zumindest partiell zeitgleich wirken. Wenn Belastungskumulationen diese Kriterien nicht erfüllen, also insbesondere mehrere Maßnahmen unterschiedliche Zwecke verfolgen, sei dann aber auf grundrechtliche Schutzpflichten zu rekurrieren.268 Richtig daran ist sicherlich, dass es aus Sicht des Adressaten keinen Unterschied macht, ob die in Rede stehenden belastenden Maßnahmen denselben Zweck verfolgen, in dasselbe Grundrecht eingreifen oder sonst im Zusammenhang stehen.269 Andererseits lässt sich nicht aus jedem subjektiven Abwehrrecht eine objektive Schutzpflicht ableiten. Mag man dies für Leben, Gesundheit, Familie, Eigentum und Beruf noch anerkennen, wäre ein kulminierender Eingriff bei allen anderen grundrechtlichen Schutzgütern nicht möglich. Abgesehen davon ist eine zu starke Betonung der objektiven Verpflich267 Vgl. Michael, Die Verwaltung 2014 S. 450 – 451, der – obwohl dies bezüglich Lees Grundprämisse nur zumindest partiell zweckidentische Maßnahmen überhaupt in der Verfassungswidrigkeit kulminieren zu lassen nur konsequent ist – darüber hinaus kritisiert, dass bei der Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung nur zumindest partiell zweckidentische Maßnahmen in die Betrachtung einbezogen werden. 268 Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 199; Schomerus, Die Verwaltung 2014 S. 453. 269 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 96; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 192; Kirchhof, NJW 2006 S. 734.
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tung des Gesetzgebers zum Grundrechtsschutz ohnehin nicht ganz unproblematisch. Eine zu starke Bindung schränkt nämlich nicht nur demokratisch legitimierte Entscheidungsspielräume, sondern auch die Freiheit des Bürgers ein. Aus Schutzpflichten des Staates würden dann Grundrechtsschranken des Bürgers werden.270 Der eigentliche Zweck des kulminierenden Grundrechtseingriffes – nämlich die Verhinderung der scheibchenweisen Beseitigung von Freiheit – würde verfehlt werden.
IX. Modifizierte klassische Verhältnismäßigkeitsprüfung Viele andere Literaturstimmen271 hingegen lehnen eine weitergehende Modifikation der gängigen Prüffolge ab. Wie das Bundesverfassungsgericht in seiner Spielhallenentscheidung272 versuchen sie stattdessen, kumulative Belastungswirkungen im Rahmen der klassischen Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen. Damit sei aber nicht gesagt, dass keine Bezugnahme auf das möglich wäre, was um den Eingriff herum geschehe. Wirke parallel zu dem geprüften Grundrechtseingriff ein anderer Grundrechtseingriff, so sei dieser als Teil des relevanten Eingriffsumfeldes – gemeint sind die Wirkungen und die verfassungsrechtliche Bewertung des Grundrechtseingriffes – zu berücksichtigten.273 Die punktuelle Ausrichtung der grundrechtlichen Abwehrdimension verbiete es, verschiedene Eingriffe zu bündeln. Allenfalls im Hinblick auf die Wesensgehaltsgarantie ließe sich auf abwehrrechtlicher Ebene eine ausschließlich am Erhalt der Grundrechtssubstanz orientierte Pflicht zur uneingeschränkten Berücksichtigung aller Vorbelastungen formulieren. Dies allerdings nur, wenn und soweit sich die Gesamtheit aller Freiheitsbeeinträchtigungen auf den Kernbereich des Grundrechtes auswirke und dadurch den absoluten Bestand individueller Freiheit 270 Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 5 Rn. 5 – 6; Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 2 Rn. 105 – 109 jeweils m. w. N. 271 Broß, Humboldt Forum Recht 2009 S. 18; Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 130 Rn. 308; Greve, Access-Blocking – Grenzen staatlicher Gefahrenabwehr im Internet, 2012, S. 228; Hofmann, JURA – Juristische Ausbildung 2008 S. 671; Hufen, NJW 1994 S. 2916; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 8 Rn. 16; Jarass, Neue Dimensionen der Tabakproduktregulierung und Grundrechte sowie Grundfreiheiten/New Dimensions of To bacco Regulation and Fundamental Rights and Freedoms, 2012, S. 49; Klement, AöR 2009 S. 64 – 66; Koch, ZfWG 2015 S. 329; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 334; Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 70, wohl auch: Ruland, SGb 2012 S. 242 – 243; Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014, S. 261 sowie Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, BVerfGG, 2016 (49 EL), § 90 Rn. 223 – 224. 272 BVerfG, Beschluss vom 07. März 2017 – 1 BvR 1314/12 –, juris Rn. 155 – 159; näher dazu: § 6 B. III. 4. c) ff). 273 Klement, AöR 2009 S. 66.
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gefährde.274 Ansonsten spräche die auf Einzeleingriffe ausgerichtete punktuelle Struktur der grundrechtlichen Abwehrdimension dafür, Zusatzbelastungen bei der Bestimmung der konkreten Eingriffsintensität auf diejenigen Eingriffe zu beschränken, die mit dem zu rechtfertigenden Eingriff in einem Konnexitätsverhältnis stünden, d. h. mitursächlich sind.275 Dagegen spricht allerdings, dass doch gerade das punktuelle Eingriffsverständnis als Hauptursache für das Entstehen von Belastungskumulationen identifiziert wurde. So anerkennenswert das erkennbare Bestreben ist, ein bekanntes und bewährtes System nur minimal invasiv ändern zu wollen, dürfte dies im Falle des kulminierenden Grundrechtseingriffes unmöglich sein. Das klassische Übermaßverbot ist schlicht ungeeignet, einen kulminierenden Grundrechtseingriff – ein Kind des fortgeschrittenen Verfassungsstaates – adäquat abzubilden.276 Eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ist vielmehr darauf ausgelegt, einen punktuellen Eingriff auf seine Rechtmäßigkeit hin zu überprüfen. Die sich aus dem Zusammenspiel von mehreren, für sich genommen gerechtfertigten, punktuellen Eingriffen ergebenden Belastungswirkungen, vermag sie nicht zu erfassen. Sie kommt dabei zwangsläufig an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit und wird genau genommen zweckentfremdet.
X. Grundrechtsspezifische Ansätze Der Vollständigkeit halber seien auch noch drei grundrechtsspezifische Ansätze erwähnt, die aber – das folgt aus der Natur der Sache – keine allgemeingültige Lösung für die Behandlung von Belastungskumulationen bereit halten. 1. Grundrechte zum Schutze personenbezogener Daten Puschke, der die GPS Entscheidung277 zum Anlass nahm, die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen in Strafverfahren zu untersuchen, hält es für möglich, dass durch die Bündelung verschiedener Überwachungsmaßnahmen ein qualitativ andersartiger Eingriff entstehen kann. Bei Grundrechten, die eine allgemeine oder spezielle Ausgestaltung des Persönlichkeitsrechts darstellen, erscheint ihm dabei eine Bezugnahme auf sphärentheore-
274 Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 66. 275 Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 64. 276 Das erkennt auch Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 8 Rn. 16 an, der den kulminierenden Grundrechtseingriff dann aber dennoch als Bestandteil der Zumutbarkeitsprüfung ansieht; Michael, Die Verwaltung 2014 S. 449 – 450. 277 BVerfGE 112, 304; näher dazu: § 6 B. III. 4. b).
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tische Überlegungen sinnvoll zu sein.278 Zur Bewertung der Eingriffsintensität seien Art und Umfang der erhobenen personenbezogenen Daten sowie die Verwendungs- und Verarbeitungsmodalitäten inklusive der Verwendungsintention, der grundsätzlichen Möglichkeiten zur Verwendung und Verarbeitung sowie die Missbrauchsgefahr heranzuziehen. Die Grenze für einen nicht mehr zu rechtfertigenden Eingriff liege im Menschenwürdekern. Überschritten werde sie, wenn durch eine Belastungskumulation direkt Informationen aus der Intimsphäre des Betroffenen erlangt werden. Verletzt wäre sie aber auch durch indirekte Maßnahmen wie einer exzessiven Datensammlung oder durch die Kombination verschiedener Datensätze, wenn dadurch die Gefahr einer Persönlichkeitsprofilerstellung entstünde.279 Die vom Bundesverfassungsgericht erwogene Korrektur im Rahmen der Verhältnismäßigkeit sei jedoch genauso wenig ausreichend wie die ausschließlich auf Interessenabwägung basierende Möglichkeit eines Beweisverwertungsverbotes. Unzulässige Grundrechtseingriffe müssten nämlich bereits ex ante verhindert werden. Zudem würden auch das Bestimmtheitsgebot und die Rechtsschutzgarantie dafür streiten, neue Vorschriften zu schaffen, die Eingriffe in den absolut geschützten Lebensbereich von vorneherein ausschließen. Konkret sei dabei an Richtervorbehalte, spezielle Beweiserhebungsverbote, Subsidiaritätsklauseln und detaillierte Tatbestandskataloge für denkbare Eingriffe zu denken. Ferner seien Beweisverwertungsverbote und Benachrichtigungspflichten für den Fall der missbräuchlichen Verwendung von dennoch erlangten Daten zu kodifizieren.280 Puschke sieht das Heft des Handelns vor allen Dingen beim Gesetzgeber. Er beschränkt sich darauf, die Grenze zwischen verfassungsrechtlich (gerade noch) zulässigem Handeln und einem kulminierenden Grundrechtseingriff zu beschreiben. Durch seine Formulierung „qualitativ andersartiger Eingriff“ geweckte Erwartungen an eine wie auch immer geartete Modifikation der herkömmlichen Dogmatik werden jedoch weitestgehend enttäuscht. 2. Berufsfreiheit Ebenfalls ohne Modifikation kommen Teile der Literatur aus, die kumulierenden Berufsausübungsregelungen die Qualität von objektiven Berufswahlregelungen zugestehen wollen, weil sie in ihrem Zusammenwirken eine neue Dimension der Eingriffswirkung erzeugen sollen.281 Dies gelte nicht nur dann, 278 Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung, 2006, S. 79. 279 Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung, 2006, S. 96. 280 Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung, 2006, S. 160 – 161. 281 Hufen, Der Grundrechtseingriff Aussprache, in: Bethge/Weber-Dürler (Hrsg.), Der Grundrechtseingriff, 1998, S. 132; Hufen, Die Einschränkung des gewerblichen
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wenn dasselbe Ziel verfolgt werde. Zusätzlich seien auch die Auswirkungen der Berufsausübungsregelungen auf die berufliche Existenz einzubeziehen. Diese können nämlich wie ein, die berufliche Existenz bedrohender, kumulativer Eingriff in die Freiheit der Berufswahl wirken. Im Rahmen dessen sei auch die bereits bestehende Regulierungsdichte der jeweils betroffenen Branche zu berücksichtigen. Beispielsweise gehöre das gewerbliche Geld-Gewinnspiel bereits jetzt zu den wohl am meisten regulierten und restriktiv behandelten Branchen der Unterhaltungsindustrie. Neben der GewO und der SpielV jeweils in Verbindung mit den zugehörigen Verwaltungsvorschriften wirke hier auch das Bauplanungs-, Bauordnungs- und Vergnügungssteuerrecht sowie zahllose Sperrzeitenregelungen, Unfallverhütungsvorschriften und das Jugendschutzgesetz belastend. Hinzu kämen erhebliche Belastungen durch Steuern und Abgaben sowie ähnlich wirkende Eingriffe wie das Rauchverbot. Der einzelne Grundrechtsträger habe dabei keine Möglichkeit, die vorgenommenen Einschränkungen durch in seiner Person liegende Eigenschaften zu beeinflussen. Weitere, das gewerbliche Geld-Gewinnspiel einschränkende Regelungen, seien wegen der gebotenen kumulativen Betrachtung deshalb als objektive Berufszulassungsregelung zu behandeln.282 Der Schwerpunkt liege insofern auf der verbleibenden und nicht auf der genommenen Freiheit.283 Problematisch an diesem Ansatz ist allerdings, dass er nicht zu erkennen gibt, wie eine Abgrenzung zur unechten Belastungskumulation erfolgen soll. Die Grundrechtsdogmatik darf es sich aber nicht zur Aufgabe machen, vom Gesetzgeber unter Umständen sogar ausdrücklich gewollte Mehrfachbelastungen zu beseitigen. Nicht jegliche Belastungskumulation soll aus dem Weg geräumt werden, sondern nur diejenige, die das Maß des rechtsstaatlich Hinnehmbaren übersteigt.284 Es verbietet sich deswegen, sämtliche für eine bestimmte Branche belastend wirkenden, bisweilen sehr heterogenen Berufsausübungsregelungen zusammenzufassen, um somit die dem Gesetzgeber obliegende Rechtfertigungslast zu erhöhen. Abgesehen davon hält dieser Ansatz auch keine Lösung für Belastungskumulationen bereit, die durch Eingriffe in verschiedene Grundrechte entstehen. Hierüber könnte zwar hinweghelfen, wenn man den Gedanken der Ge-
Geld-Gewinnspiels, 2012, S. 26; Kluth, ZHR 1998 S. 673; Sodan/Kluckert, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2009 2013 S. 179; allgemein zur Umqualifizierung von Berufsausübungsregelungen bereits: § 5 B. II. 3. b) bb). 282 Hufen, Die Einschränkung des gewerblichen Geld-Gewinnspiels, 2012, S. 25 – 26; Sodan/Kluckert, GewArch Beilage WiVerw Nr. 04/2009 2013 S. 179; vgl. Hohmann, DÖV 2000 S. 415; Hufen, NJW 1994 S. 2917 – 2918. 283 Hufen, NJW 1994 S. 2917 – 2918; Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 64 – 65. 284 § 6 B. III. 5.
E. Saldierung
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samtsaldierung verallgemeinert,285 an den fehlenden Abgrenzungskriterien zur Mehrfachbelastung ändert dies freilich nichts. 3. Eigentumsbelastungen Außerdem wird aus der Rechtsprechung zum Halbteilungsgrundsatz286 gefolgert, dass Vorbelastungen durch Gemeinwohlbeschränkungen eines Eigentumsobjekts stets zu berücksichtigen seien. Unerheblich sei, ob sich diese Gemeinwohlbeschränkungen stets so klar quantitativ-monetarisiert bemessen lassen, wie im Falle von Abgaben. Auch die zwischenzeitlich erfolgte Aufgabe des Halbteilungsgrundsatzes soll bedeutungslos sein. Eine Berücksichtigung nur ähnlicher Vorbelastungen lasse sich aber trotz der grundsätzlich anzustrebenden eigentumsfreundlichen Lösung des Kumulationsproblems jedoch nicht begründen.287 Abgesehen davon, dass gerade diese Einschränkung eine reale Abbildung der Belastungssituation des Grundrechtsträgers zu verhindern droht, vermag der Ansatz insgesamt keine Abgrenzung zur schlichten Mehrfachbelastung zu leisten.
E. Saldierung Zudem geben alle bislang vorgestellten Lösungsvorschläge auch keine Antwort auf die grundsätzliche Frage, ob und wenn ja wie entlastende Elemente berücksichtigt werden können. Oftmals dürfte nämlich ein in Grundrechte eingreifendes Maßnahmebündel nicht nur mit belastenden, sondern auch mit gleichzeitig entlastenden Wirkungen verbunden sein. Ein Umstand, der auch in Gesetzesbegründungen regelmäßig besonders hervorgehoben wird.288 Verwiesen sei hier nur auf den, im gleichen Atemzug mit dem eingeführten erhöhten Grundrabatt abgeschafften, erhöhten Herstellerabschlag gemäß § 130a Abs. 1a SGB V.289 Es gilt deshalb zu klären, ob es sich dabei nur um ein Instrument politischer Rechtfertigung oder ein Argument von verfassungsrechtlicher Bedeutung handelt. Erst wenn feststeht, ob und wenn ja wie eine Saldierung von Be- und Entlastungen zu erfolgen hat, kann eine die Schwächen der bisher vorgestellten Modifikationsansätze der Grundrechtsdogmatik vermeidende Lösung entwickelt werden.
285 So versteht ihn etwa Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 64 – 65 mit Verweis auf Hohmann, DÖV 2000 S. 416. 286 Näher dazu bereits: § 6 B. III. 4. c) aa). 287 Brenner, Quo vadis, Jagdrecht?, 2015, S. 89 – 91; Leisner, in: Isensee, HStR VIII, 2010, § 173 Rn. 172. 288 Hey, AöR 2003 S. 229; BT-Drs. 18/201, S. 7. 289 Näher dazu bereits: § 5 B. II. 3. b) bb).
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I. Grundrechtskompensation und Saldierung Anders als das Instrument der Abwägung versucht die Saldierung einen Inter essenausgleich nicht erst auf Rechtfertigungs-, sondern bereits auf Tatbestands ebene durchzuführen, indem Vor- und Nachteile miteinander verrechnet werden. Sie zielt also nicht darauf ab, einen Kompromiss zwischen mehreren konkurrierenden Rechtsgütern oder gesetzgeberischen Zielen zu finden. Stattdessen wird der Grundrechtseingriff selbst beseitigt, indem eine verfassungswidrige Belastung durch eine entsprechende Begünstigung ausgeglichen wird. In der Literatur290 wird der Saldierungsgedanke unter dem allgemein gehalteneren Oberbegriff der (Grundrechts-)Kompensation diskutiert. Neben der Quantifizierbarkeit der Vor- und Nachteile setzt er auch ihre Kommensurabilität voraus, ohne dass dies in einem streng arithmetischen Sinn zu verstehen sein soll. Das führt dazu, dass Kompensation und Saldierung genauso wie Abwägung letztlich dann doch wieder das Resultat wertender Betrachtung sind.291
II. Kompensation als Rechtsfigur Wollte man dies anders sehen, so könnte erlittenes Unrecht durch eine Kriminalstrafe genauso wenig kompensiert werden wie ein von hoheitlicher Hand verursachter Schaden im Wege der Amtshaftung. Einzig bei vollständiger Vergleichbarkeit von Vor- und Nachteilen, wie bei der zivilrechtlichen Aufrechnung, wäre dann eine Kompensation möglich.292 Auch dem Verfassungsrecht ist der Kompensationsgedanke als Argumentations- und Denkfigur durchaus geläufig. So entschied das Bundesverwaltungsgericht293 bereits sehr früh dass die, mit einer Nebenbestimmung verbundenen Belastungswirkungen durch die Vorteile eines subventionsgewährenden Hauptverwaltungsaktes mehr als ausgeglichen werden. Seitdem gilt für belastende Nebenbestimmungen, die die Verwendung einer Subvention konkretisieren, ein abgeschwächter Gesetzesvorbehalt. In jüngerer Zeit werden vor allem Kompetenzkompensationen, also der Ausgleich von Beschränkungen grundgesetzlich zugewiesener Kompetenzen durch die Beteiligung des Kompetenzverlierers auf höherer Ebene kontrovers diskutiert.294 Denn 290 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 97; Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 34 – 35; Hey, AöR 2003 S. 230; Klein, DVBl 1981 S. 661; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 171. 291 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 97 – 98; Hey, AöR 2003 S. 230; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 48. 292 Weitere Beispiele für den Kompensationsgedanken im Recht bei: Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 35 – 60. 293 BVerwGE 6, 282 (288).
E. Saldierung
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dann würde insbesondere den im Mehrebenensystem von Bund, Ländern und Europäischer Union zunehmend um Bedeutung ringenden Länderparlamenten ein Ausgleich gewährt und der Grundregel des Art. 30 GG größere Geltungskraft verschafft werden. Ausdrücklichen Eingang in die Verfassung hat der Kompensationsgedanke im staatlichen Entschädigungsrecht gefunden. Ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen, finanzielle Kompensation des staatlicherseits Indienstgenommenen sowie Enteignungsentschädigungen gemäß Art. 14 Abs. 3 S. 2 GG sind spezielle Ausprägungen eines allgemeinen Opferausgleichsprinzips. Ohne diese Kompensationsmöglichkeiten würde ein unverhältnismäßiges und damit verfassungswidriges Sonderopfer erbracht werden.295 Allerdings kann Freiheit nicht bezüglich eines Rechts eingeschränkt und bezüglich eines anderen Rechtes ausgeweitet werden, ohne sich dabei zu verändern. Im Gegensatz zu Gleichheit ist sie nicht messbar.296 Der Eingriff in ein Freiheitsrecht und staatliche Geldleistungen lassen sich folglich mangels Gleichartigkeit nicht saldieren. Die finanzielle Kompensation reduziert aber die Eingriffsintensität und stellt auf diese Weise Verhältnismäßigkeit und damit den eingangs erwähnten Kompromiss zwischen mehreren konkurrierenden Rechtsgütern her.297 Wesentlich seltener finden sich dagegen normative Anhaltspunkte für die Figur der Saldierung von Be- und Entlastungen. Der Haushaltsgrundsatz der Einheit und Vollständigkeit des Haushaltsplans (Art. 110 Abs. 1 GG) verbietet es sogar, Einnahmen und Ausgaben zu saldieren, um eine lückenlose und unverkürzte Aufnahme sämtlicher Einnahmen und Ausgaben sicherzustellen.298 Entsprechendes gilt für die steuer- und handelsrechtlichen Saldierungsverbote der §§ 246 Abs. 2 HGB bzw. 5 Abs. 1a S. 1 EStG. Andererseits liegt dem praktizierten Modell des Handels mit Emissionszertifikaten genau dieser Saldierungsgedanke zugrunde. Dem Betreiber emittierender Anlagen wird dadurch die Möglichkeit eröffnet, von gesetzlich vorgegebenen Umweltstandards in einzelnen Fällen abzuweichen, ohne dass global betrachtet eine Verschlechterung der Umweltsituation eintritt.299 Die offenbar eher zurückhaltende normative Verankerung des Saldierungsgedankens in der Rechtsordnung kann man mit grundsätzlichen Erwägungen er294
Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 52 – 53; Klein, DVBl 1981 S. 661 – 662; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 30 – 41. 295 Depenheuer, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 111 Rn. 88 – 94; Hey, AöR 2003 S. 230. 296 Klein, DVBl 1981 S. 663. 297 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 98; Hey, AöR 2003 S. 230 – 231.; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 50. 298 Kloepfer, Finanzverfassungsrecht mit Haushaltsverfassungsrecht, 2014, § 10 Rn. 15 m. w. N. 299 Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, S. 758 – 761; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 172.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
klären. So wurde bereits darauf hingewiesen, dass Freiheitsverluste nicht durch Freiheitsgewinne oder Kompensationsleistungen vollumfänglich ausgeglichen werden können. Das Verbot, einen bestimmten Glauben ausleben zu können, kann schwerlich durch Geldzahlungen oder das Recht, einen anderen Glauben zu haben und danach zu handeln kompensiert werden. Im Falle finanzieller Ausgleichszahlungen entstünde sogar der Eindruck, der Staat wolle Grundrechtsschutz abkaufen.300 Darüber hinaus ebnet der tatbestandsseitig anknüpfende Mechanismus der Saldierung die bestehende Schrankensystematik ein.301 Auch die für die Verhältnismäßigkeitsprüfung wichtige Eingriffsintensität kann durch ein derartiges Manöver maßgeblich reduziert werden. Der Verlust von Freiheit würde unter einem schwer zu durchdringenden Nebel behaupteten Ausgleichs verborgen werden.302 Auch darf Kompensation nicht dazu führen, dass sich die Verwaltung ihrer Gesetzesbindung entzieht. Eine Kompensation wird deshalb nur für zulässig erachtet, wenn das Gesetz selbst die Möglichkeit hierzu eröffnet.303
III. Saldierung im Spiegel der Rechtsprechung Ungeachtet dessen spiegelt sich der Saldierungsgedanke in vielen, vornehmlich zum Gleichheitssatz ergangenen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts wider. Zugrunde lagen häufig sozialversicherungs- und steuerrechtliche Sachverhalte, bei denen eine Saldierung von Vor- und Nachteilen wegen der Gleichartigkeit von Geldleistungsansprüchen unproblematisch möglich war. Beispielsweise304 wurde schon argumentiert, dass sich das Gewicht eines Steuer- oder Abgabennachteils nicht aus der einzelnen Norm zu ergeben brauche. Dieser könne sich auch erst aus dem Zusammenhang des ganzen Gesetzes oder sogar einer Gruppe von Gesetzen ergeben. Umgekehrt gelte aber auch, dass die Erhöhung einer Steuer durch korrespondierende Steuerersparnisse an anderer Stelle oder anderweitige Steuervergünstigungen ausgeglichen werden könne. Weniger großzügig verfährt der Europäische Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung305, der eine steuerliche Benachteiligung, die gegen die Grundfreiheiten verstößt, nur ausnahmsweise aus Kohärenzgründen durch anderweitige Steuer300 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 101; Hey, AöR 2003 S. 231; Depenheuer, in: Merten/Papier, Hdb GR V, 2013, § 111 Rn. 89; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 373 – 386. 301 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 102. 302 Klein, DVBl 1981 S. 663. 303 Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 66 – 67; Voßkuhle, Das Kompensationsprinzip, 1999, S. 357 – 360. 304 BVerfGE 13, 331 (341 f.); 34, 118 (129 f.); 40, 109 (118); 79, 87 (99); 96, 1 (8). 305 EuGH v. 15. 7. 2004, Rs. C-315/02, Slg 2004, I-7063; Hey, AöR 2003 S. 234 Fn. 242 m. w. N.
E. Saldierung
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vorteile gerechtfertigt sieht.306 Aber auch bei Freiheitsrechten hat das Bundesverfassungsgericht307 bereits früh erwogen, ob eine Kompensation von Vor- und Nachteilen einer gesetzlichen Regelung, die in die allgemeine Handlungsfreiheit eingriff, erfolgen muss. Es sei zu beachten, ob die Regelung für die Betroffenen Vorteile mit sich bringt, welche die Nachteile zumindest teilweise kompensieren. Die gesetzliche Rentenversicherung der Angestellten weise gegenüber anderen, privatwirtschaftlichen Sicherungsformen unbestreitbare Vorteile auf. Stellt die Vorsorge in der gesetzlichen Rentenversicherung im Allgemeinen eine besonders sichere Grundlage für eine Vorsorge dar, so werde durch die Einbeziehung in die Rentenversicherung die freie Entfaltung der Persönlichkeit zwar einerseits eingeschränkt, auf der anderen Seite aber insofern gefördert, als den Pflichtversicherten in der Gegenwart die Sorge vor künftiger materieller Not in besonders wirksamer Weise genommen wird. Ähnlich argumentierte das Gericht auch in seinem Vermögenssteuerbeschluss308, woraus auf die Notwendigkeit der Saldierung von steuerlichen Vor- und Nachteilen geschlossen wird.309 Dennoch lassen sich den Ausführungen des Bundesverfassungsgerichtes keine eindeutigen Hinweise bezüglich der Voraussetzungen und der dogmatischen Einordnung von Kompensation entnehmen. Insbesondere bleibt unklar, ob Kompensation nun rechtfertigend310 oder tatbestandsausschließend311 wirken soll und an welche Voraussetzungen sie geknüpft ist. Bisweilen scheint dem Gericht die dem Kompensationsgedanken immanente Überzeugungskraft auszureichen.312 So formulierte es in einem die Abschlagspflicht auf die Abgabepreise für Generika betreffenden Nichtannahmebeschluss313 vom 28. 04. 2007: „Auch die Angemessenheit begegnet keinen durchgreifenden Bedenken. Zu berücksichtigen ist insoweit, dass die Arzneimittelhersteller zwar Belastungen unterworfen 306 Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 309 – 311; Hey, AöR 2003 S. 234. 307 BVerfGE 29, 221 (237). 308 BVerfGE 93, 121; näher zum sogenannten Halbteilungsgrundsatz bereits: § 6 B. III. 4. c). 309 Hey, AöR 2003 S. 239; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 113. 310 BVerfGE 12, 151 (167 f.); 13, 331 (339 ff.); 18, 97 (108); 34 118, (134); 37, 154 (165 f.); 40, 109 (117 f.); 74, 9 (25); 105, 73 (113 f.); BVerfGK 1, 198. 311 BVerfGE 9, 124 (136); 15, 328 (333), 23, 327 (343); 35, 283 (291 f.); 79, 87 (99); 84, 348 (362 f.); 96, 1 (8). 312 Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 304. 313 BVerfG, NZS 2008, S. 35 mit Verweis auf: BVerfGE 114, 196 (246); BVerfG, NJW 2000, S. 1782; DtZ 1991, S. 93; vgl. auch: BVerfGE 11, 50 (59 f.); in der Tendenz ähnlich: Steiner, MedR 2003 S. 6; kritisch zur Darstellung der Leistungserbringer als nicht hinreichend zur Kasse gebetene Profiteure des Systems: Hufen, NJW 2004 S. 14 – 18.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
sind, sie aber zugleich von der Einbindung in das System der gesetzlichen Krankenversicherung profitieren […] Insofern sind Belastungen grundsätzlich hinzunehmen, soweit sie die Betroffenen nicht unzumutbar belasten[…].“
Auch die jüngere, explizit zum kulminierenden Grundrechtseingriff ergangene, verfassungsgerichtliche Rechtsprechung lässt bezüglich der Voraussetzungen, unter denen eine Saldierung von Be- und Entlastungen möglich ist, Raum zur Interpretation: „Ob eine Kumulation von Grundrechtseingriffen das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität noch wahrt, hängt [nämlich] von einer Abwägung aller Umstände ab, in die auch gegenläufige Verfassungsbelange einzubeziehen314 sind.“315
Dass eine mit einer Belastung verbundene Entlastung gegenläufig ist, bedarf keiner weiteren Begründung. Inwieweit die Entlastungswirkung ein Verfassungsbelang sein kann dagegen schon. Zwar deutet die Verwendung des Begriffes „Belang“ darauf hin, dass die entlastende Maßnahme keinen Verfassungsrang haben muss, insofern also weiter zu verstehen ist. Einen Verfassungsbezug wird sie allerdings dennoch aufweisen müssen. Dabei dürfte es sich als hoffnungsloses Unterfangen erweisen, einen unmittelbaren Verfassungsbezug für sämtliche denkbaren, doch sehr heterogenen, entlastenden Maßnahmen herstellen zu wollen. Man könnte aber erwägen, sie unter dem Dach der legislativen Gestaltungsfreiheit und damit dem Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 1 GG zusammenzufassen. Wie im Rahmen der Entscheidung zum steuerfreien Familienexistenzminimum bereits ausgeführt316, steht es dem Gesetzgeber frei, die Verfassungsmäßigkeit einer eigentlich verfassungswidrigen Maßnahme durch eine zweite entlastende Maßnahme wieder herzustellen. Würde man entlastende Maßnahmen bei der Prüfung eines kulminierenden Grundrechtseingriffes ausblenden, so nähme man dem Gesetzgeber diese Möglichkeit. Eine bestimmte hoheitliche Maßnahme könnte in der Verfassungswidrigkeit kulminieren, obwohl der Gesetzgeber die Verfassungsmäßigkeit durch eine zweite entlastende Maßnahme herbeiführen wollte und eigentlich auch herbeigeführt hätte, wenn man die entlastende Maßnahme nur berücksichtigt hätte.317 Selbst wenn es einem zu weit gehen mag, aus den wenigen vom Gericht bislang auch nur einmal verwendeten Worten ein Postulat der Saldierung von Be- und Entlastungen abzuleiten, 314
Hervorhebung nicht im Original. 130, 372 (392); anders wiederum der nachfolgende Nichtannahmebeschluss, BVerfG, NJW 2014, S. 3638, der nur Bezug auf BVerfGE 112, 304 (319 f.); 114, 196 (247); 123, 186 (265 f.) nimmt und einen kulminierenden Grundrechtseingriff mit ausführlicher, auf die Eingriffsintensität abhebender, Begründung ablehnt, ohne sich näher zu seinen Voraussetzungen zu äußern, näher dazu: § 6 B. III. 4. c) ee); § 6 F. II. 316 BVerfGE 82, 60; § 6 B. III. 4. c) bb). 317 Ausführlicher zu diesem Aspekt: § 6 F. II. 2. 315 BVerfGE
E. Saldierung
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sind entlastende Elemente aus teleologischen Gründen im Prüfprogramm eines kulminierenden Grundrechtseingriffes zu berücksichtigen. Sinn und Zweck der Anerkennung eines kulminierenden Grundrechtseingriffes ist es, die aus dem punktuellen Eingriffsverständnis resultierenden Belastungen realitätsgerecht abzubilden. Dieses Ziel würde erkennbar verfehlt werden, ließe man gleichzeitig entlastende Wirkungen bei der Betrachtung außen vor. Insofern ist die, gegen die Grundrechtskompensation vorgebrachte, grundsätzliche Kritik für den Fall des kulminierenden Grundrechtseingriffes zu relativieren. Insbesondere muss eine Saldierung hier auch ohne gesonderte gesetzliche Grundlage möglich sein. Im Ergebnis muss deshalb im Einklang mit weiten Teilen318 der Literatur und der nationalen Rechtsprechung eine Saldierung von Be- und Entlastungswirkungen im Rahmen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes nicht nur möglich sein, sondern auch tatsächlich durchgeführt werden.
IV. Voraussetzungen einer Saldierung Genauso wenig wie sämtliche Mehrfachbelastungen eines Grundrechtsträgers in der Verfassungswidrigkeit kulminieren können, dürfen dabei auch nicht sämtliche entlastenden Momente subtrahiert werden. Es gilt deswegen, die Voraussetzungen und Grenzen einer Saldierung herauszuarbeiten. Trotz der in der Rechtsprechung bestehenden Unklarheiten bezüglich der Voraussetzungen, unter denen eine Saldierung von Be- und Entlastungen möglich ist, bietet es sich an, auf die von ihr immer wieder genannten Kriterien zurückzugreifen. Im Wesentlichen handelt es sich dabei um: Personenidentität, Artgleichheit von Vor- und Nachteil sowie einen inneren Funktionszusammenhang und die Verfassungsmäßigkeit der zum Ausgleich gebrachten Normen. 1. Personenidentität Personenidentität liegt vor, wenn die gesetzlichen Vorteile der von der Benachteiligung konkret betroffenen Person zugutekommen. Vor- und Nachteil müssen in einer Person zusammenfallen. Andernfalls kann der von der Kompensation
318 So im Ergebnis auch: Bernsdorff, SGb 2011 S. 123; Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 101; Hofmann, AöR 2008 S. 539 – 540; vgl. zur Schutzbereichskumulation Hofmann, AöR 2008 S. 547; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 176; Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 125 – 126; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 23 Rn. 744; Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 20 – 21; neutral dazu, obwohl sie das Problem sieht: Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 132.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
bezweckte Ausgleich von vorneherein nicht erreicht werden.319 Eine Vorteilsgewährung zugunsten von Personen, die von der Benachteiligung nicht betroffen sind, reicht nicht aus.320 Ebenso wenig vermag eine allgemein familienfreundliche Tendenz eines Gesetzes, eine die Familien benachteiligende Regelung zu rechtfertigen. 2. Innerer Funktionszusammenhang Auch kann eine, die Familie in steuerrechtlicher Hinsicht benachteiligende Norm nicht ohne Weiteres mit familienfreundlichen Bestimmungen anderer Steuergesetze oder gar des gesamten Rechtssystems verrechnet werden.321 Andererseits sollen aber die, durch Gesetze letztlich willkürlich gezogenen, formalen Grenzen per se einer Saldierung auch nicht im Wege stehen. Der Saldierungsgedanke rückt ja gerade den materiellen Belastungserfolg und nicht die formale Gesetzestechnik in den Fokus der Betrachtung. Es kann deshalb nicht darauf ankommen, dass die zum Ausgleich gebrachten Normen unterschiedlichen Gesetzen entstammen. Ob gesetzes- oder gar rechtsgebietsübergreifend322 saldiert werden kann, ist vielmehr Wertungsfrage. Entscheidend soll dabei sein, dass der selbe Lebenssachverhalt betroffen323 und ein Legitimationszusammenhang besteht. Letzteres soll wiederum dann der Fall sein, wenn ein zwingender, unmittelbarer Zusammenhang zwischen dem Vorteil einerseits und dem Nachteil andererseits besteht. Keinesfalls ausreichend sei eine ausschließlich argumentative Verknüpfung durch die Gesetzesbegründung. Der Zusammenhang müsse sich vielmehr aus der Gesetzessystematik ergeben. Ist er gegeben und wird eine Belastung angegriffen, ohne auf die gleichzeitig bestehende Begünstigung hinzuweisen, müsse sich der Angreifende den Vorwurf gefallen lassen, er picke sich nur die Rosinen heraus.324
319 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 103; Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 305 – 306; Hey, AöR 2003 S. 242 – 243. 320 BVerfGE 63, 119 (128); 67, 186 (198). 321 BVerfGE 12, 151 (168). 322 Anderer Ansicht ist Haller, Die Verrechnung von Vor- und Nachteilen im Rahmen von Art. 3 Abs. 1 GG, 2007, S. 307, der nur das konkret in Rede stehende Regelungssystem beurteilen möchte. 323 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 103; Hey, AöR 2003 S. 244 – 245. 324 Hey, AöR 2003 S. 245 – 246.
E. Saldierung
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3. Gleichartigkeit und Gleichwertigkeit Oftmals scheitere eine Saldierung von Vor- und Nachteilen aus unterschiedlichen Rechtsgebieten allerdings ohnehin an der zusätzlich geforderten Bedingung der Artgleichheit von Vor- und Nachteil. Insofern verdiene eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts325 Kritik, die den Nachteil der Gewerbesteuerpflichtigkeit eines Handelsvertreters mit den Vorteilen seiner Selbstständigkeit verrechnet und deshalb die Mehrbelastung gegenüber unselbstständig beschäftigten Vertretern als gerechtfertigt ansah. Ein finanzieller Nachteil in Form der Gewerbesteuerpflicht könne nicht mit sonstigen immateriellen Vorteilen, wie der Möglichkeit für mehrere Unternehmen tätig zu werden oder gleichzeitig ein eigenes produzierendes, Unternehmen zu betreiben, saldiert werden. Es fehle an der Gleichartigkeit des Saldierungsgegenstandes.326 Andererseits gilt es auch hier die, bereits angesprochenen Besonderheiten des kulminierenden Grundrechtseingriffes zu berücksichtigen. Wollte man tatsächlich nur gleichartige Vorteile in die Saldierungsbetrachtung miteinbeziehen, so würde auch hier die Gesamtbelastungssituation nicht realitätsgerecht erfasst und der legislative Gestaltungsfreiraum unter Umständen eingeengt werden. Insofern kann es auf die Gleichartigkeit der entlastenden Maßnahmen, zumindest im Zusammenhang mit dem kulminierenden Grundrechtseingriff, nicht ankommen. Richtschnur muss hier die realitätsgerechte Abbildung der Belastungssituation sein. Daraus folgt zweierlei: Erstens muss im Vergleich zur singulären Eingriffsrechtfertigungsprüfung ein eigenständiger Argumentationshaushalt verbleiben. Entlastende Elemente, die bereits auf dieser Ebene berücksichtigt wurden, dürfen nicht noch einmal auf Ebene des kulminierenden Grundrechtseingriffes saldiert werden. Es besteht insofern ein Saldierungsverbot. Zweitens müssen die zu saldierenden entlastenden Maßnahmen das Spiegelbild der gegebenenfalls in der Verfassungswidrigkeit kulminierenden Maßnahmen sein. Die Berücksichtigungsfähigkeit entlastender Wirkungen auf Saldierungsebene kann deshalb nicht losgelöst von den Kriterien beurteilt werden, die mehrere an sich verfassungsgemäße Maßnahmen in der Verfassungswidrigkeit kulminieren lassen. Sie stehen in einer Art Wechselwirkungsverhältnis zueinander327.
325
BVerfGE 46, 224 (239). Hey, AöR 2003 S. 245. 327 Näher dazu später im Text unter: § 6 H. II. 2. a). 326
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
F. Eigener Ansatz Nachfolgend wird deshalb versucht eine Lösung zu entwickeln, welche die Schwächen der bisher vorgestellten Modifikationsansätze der Grundrechtsdogmatik zur Bestimmung des kulminierenden Grundrechtseingriffes vermeidet.
I. Dogmatischer Standort Diskussionswürdig ist dabei bereits der Standort in der Grundrechtsprüfung, an dem ein etwaiger kulminierender Grundrechtseingriff sinnvollerweise zu thematisieren ist. Wie soeben dargelegt, verorten weite Teile der Lehre328 und Judikatur329 den kulminierenden Grundrechtseingriff – auch wenn die verwendete Terminologie anderes vermuten lässt – dogmatisch nicht im Eingriff, sondern im Übermaßverbot. Wäre es allerdings so einfach, das gängige Instrumentarium auf dieses verhältnismäßig junge Kind des fortgeschrittenen Verfassungsstaates anzuwenden, so hätte es die gleichzeitig insoweit als unzureichend angesehene Grundrechtsdogmatik längst getan. Immerhin wurde der Gedanke der Belastungskumulation erstmals vor über dreißig Jahren zur Diskussion gestellt. Das Problem liegt vielmehr gerade darin, dass die klassischen Fragestellungen des Übermaßverbotes überhaupt keine zufriedenstellende Antwort auf die besondere Situation des kulminierenden Grundrechtseingriffes geben können.330 Ein kulminierender Grundrechtseingriff setzt per definitionem die Verhältnismäßigkeit der einzelnen, in der Verfassungswidrigkeit kulminierenden Grundrechtseingriffe voraus. Wollte man dies anders sehen, so würde man ihn seiner Existenzberechtigung berauben, denn dann wären bereits die Einzeleingriffe verfassungswidrig. Das punktuelle Eingriffsverständnis setzt sich auf Rechtfertigungsebene fort. Der Rechtsanwender überprüft eine hoheitliche Maßnahme auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin. Auf die Überprüfung mehrerer, für sich genommen verfassungsmäßiger und noch dazu verschiedene oder gar keine Zwecke verfolgende, Eingriffe in unterschiedliche Grundrechte ist das Übermaßverbot ersichtlich nicht zugeschnitten. Die Durchführung einer Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung oder einer leicht modifizierten Verhältnismäßigkeitsprüfung wurde deshalb bereits abgelehnt.331 Hinzu kommt, dass bei einer dogmatischen Verankerung im Übermaßverbot ein kulminierender Grundrechtseingriff durch einen Gleichheitsverstoß nur bei Anwendung der neuen Formel entstehen kann. 328 Ausführlich dazu bereits: § 6 D. III.; § 6 D. IV.; § 6 D. VII.; § 6 D. VIII.; § 6 D. IX.; § 6 D. X. 329 Ausführlich dazu bereits: § 6 D. III. 2. a) m. w. N.; § 6 B. III. 6. 330 Michael, Die Verwaltung 2014 S. 449 – 450; Rixen, Sozialrecht als öffentliches Wirtschaftsrecht, 2005, S. 334. 331 § 6 D. VII.; § 6 D. IX.
F. Eigener Ansatz
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Ungleichbehandlungen geringeren Gewichtes könnten somit niemals in der Verfassungswidrigkeit kulminieren. Eine der punktuellen Angemessenheitsprüfung nachfolgende332 Gesamtangemessenheitsprüfung begegnet deshalb ebenfalls Bedenken. Erschwerend kommt hinzu, dass die im Rahmen der Angemessenheitsprüfung anzustellende Gesamtabwägung zwischen der Schwere des Eingriffs und dem Gewicht der ihn rechtfertigenden Gründe nur ein Aspekt der Zumutbarkeitsprüfung ist. Darüber hinaus ist nämlich zu prüfen, ob Zweck und Mittel in einer vernünftigen Relation zueinander stehen.333 Der Verfolgung eines gemeinsamen Zweckes kommt aber, nach der hier vertretenen Auffassung334, im Hinblick auf das Entstehen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes nur indizielle Bedeutung zu. Dasselbe gilt für das Erfordernis der Grundrechtsidentität.335 Die Durchführung einer Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung mit den üblichen Bezugspunkten gestaltet sich bei Belastungskumulationen durch zweckverschiedene Eingriffe in verschiedene Grundrechte insofern sehr schwierig und würde weitergehender Modifikationen bedürfen. Es spricht deshalb viel dafür, den kulminierenden Grundrechtseingriff nicht in das Korsett der klassischen Grundrechtsdogmatik zu zwängen. Vielmehr sollte man ihm die Möglichkeit eröffnen, sich in einer eigenständigen Kategorie, befreit vom Ballast der durch und durch auf punktuelle Eingriffe zugeschnittenen, herkömmlichen Grundrechtsdogmatik, weiter zu entwickeln. Dabei wäre es einerseits denkbar, dem kulminierenden Grundrechtseingriff – wie vom Bundesverfassungsgericht336 bisweilen praktiziert – einen eigenen Hauptgliederungspunkt auf der Begründetheitsebene zu widmen. Der kulminierende Eingriff begegnet den betroffenen Grundrechten damit auf Augenhöhe, was aus dogmatischer Sicht wegen seiner unvollkommenen Erfassung durch die gängige Grundrechtsdogmatik nicht inkonsequent erscheint. Andererseits erlegt der kulminierende Grundrechtseingriff dem Gesetzgeber Beschränkungen auf, wenn dieser den Grundrechtsgebrauch über Gebühr einschränkt. Das wiederum entspricht der Definition einer Schranken-Schranke. Ein Begriff, der nicht vom Grundgesetz vorgegeben ist. Vielmehr konstatierte Karl August Bettermann im Rahmen eines vor der Berliner Juristischen Gesellschaft am 04. 11. 1964 gehaltenen Vortrags erstmals:
332
Michael, Die Verwaltung 2014 S. 451. Merten, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 68 Rn. 71 m. w. N. 334 § 6 B. III. 5.; § 6 D. III. 1. 335 § 6 D. III. 2. 336 BVerfG, NJW 2014, S. 3638. 333
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
„Schon die französische Grundrechtsdeklaration enthält eine solche allgemeine Begrenzung337 in dem Satz: ,Das Gesetz hat nur das Recht, solche Handlungen zu verbieten, die der Gesellschaft schädlich sind.‘ Unser Grundgesetz zieht eine allgemeine Schrankenschranke in dem Satz, daß ,in keinem Falle ein Grundrecht in seinem Wesensgehalt angetastet werden darf‘ (Art. 19 II). Ebenso unantastbar ist nach Art. 1 I GG die Würde des Menschen, die alle staatliche Gewalt zu achten und zu schützen hat. Dieser meist am falschen Ort zitierte Eingangsartikel unserer Grundgesetze gewährt kein Grundrecht, sondern bezeichnet eine allgemeine ,Schrankenschranke‘; er setzt eine Grenze für alle staatlichen Grundrechtseingriffe.“ 338
Auch das Gemeinwohl oder öffentliche Interesse soll nicht Schranke, sondern Schrankenschranke der Grundrechte sein.339 Die Verwendung des Begriffs Schranken-Schranke beruht folglich auf bloßer Konvention.340 De constitutione lata kann er deswegen nicht auf punktuelle Eingriffe beschränkt sein. Dass die gemeinhin341 unter seiner Überschrift diskutierten Punkte, also das Übermaßverbot, die Wesensgehaltsgarantie, das Verbot des einschränkenden Einzelfallgesetzes sowie das Zitiergebot, einen punktuellen Eingriffsbezug aufweisen, folgt also nicht etwa aus dem punktuellen Eingriffsverständnis, sondern ist eher eine Art Reflex desselben. Dafür spricht auch das ebenfalls als Schranke-Schranke angesehene Bestimmtheitsgebot. Denn dieses rechtsstaatliche Gebot, Tatbestand und Rechtsfolge von Gesetzen klar und bestimmt zu fassen, weist keinerlei Eingriffsbezug auf. Obwohl dies üblicherweise anders gehandhabt wird, könnte man unter der Überschrift der Schranke-Schranke genauso gut die Gesetzgebungskompetenz oder das Gesetzgebungsverfahren diskutieren.342 Der Parlamentsvorbehalt hingegen wird nur bisweilen als Schranke-Schranke qualifiziert,343 was ebenfalls 337 Gemeint ist eine generelle Limitierung aller grundrechtseinschränkenden Gesetzesvorbehalte. 338 Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1976, S. 5 – 6. 339 Bettermann, Grenzen der Grundrechte, 1976, S. 18. 340 Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 6 Rn. 293 hier wird allerdings – anders als in einer der Vorauflagen Pieroth/Schlink, Grundrechte Staatsrecht II, 2004, § 6 Rn. 275 – nicht mehr ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei der Begrifflichkeit um eine bloße Konvention handelt; Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2, 1994, S. 711 – 712; distanzierend vom Begriff der Schranke-Schranke sowie der ansonsten in der Grundrechtsprüfung geläufigen Termiologie im Übrigen: Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 3 Rn. 118; § 3 Rn. 183. 341 Ohne nähere Begründung etwa: Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 125 – 135 Rn. 298 – 314; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 9 Rn. 14 – 29; Ipsen, Staatsrecht II, 2016, § 3 Rn. 182 – 220; Merten, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 66-§ 70. 342 Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 6 Rn. 296; so ausdrücklich: Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 51 Rn. 72. 343 Dafür: Epping, Grundrechte, 2015, S. 192 Rn. 404 – 405; Kingreen/Poscher, Grundrechte Staatsrecht II, 2016, § 6 Rn. 288; dagegen: Kloepfer, Verfassungsrecht II, 2010, § 51 Rn. 71 – 105.
F. Eigener Ansatz
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die definitorische Offenheit des Begriffes unterstreicht. Es spricht deshalb nicht nur nichts dagegen, den kulminierenden Grundrechtseingriff als neue Schranke-Schranke anzusehen, es dürfte bei Freiheitsrechten sogar die minimal invasive Lösung sein. Denn dann fügt sich der kulminierende Grundrechtseingriff, sei er nun vertikal oder horizontal, auf einmal doch wieder ohne all zu große Modifikationen in das herkömmliche Grobgerüst der Grundrechtsprüfung ein. Dabei macht es in der Sache zunächst einmal keinen Unterschied, ob eine Ungleichbehandlung in der Verfassungswidrigkeit kulminiert, denn auch hier beanspruchen die bei Freiheitsrechten unter der Überschrift „Schranken-Schranken“ diskutierten Verfassungsnormen grundsätzlich einmal Geltung. Im gegenwärtigen fachsprachlichen Gebrauch ist es freilich eher344 unüblich, bei Gleichheitsrechten von Schranken-Schranken zu sprechen.
II. Kombinationsbetrachtung Steht damit fest, an welcher Stelle der Grundrechtsprüfung ein etwaiger kulminierender Grundrechtseingriff zu thematisieren ist, gilt es zu klären, anhand welcher Kriterien sein Vorliegen festzustellen ist. In jedem Falle sind dafür die Eingriffsqualität bzw. im Falle von Gleichheitsverstößen die Ungleichbehandlung nebst Rechtfertigung jeder einzelnen kumulierenden belastenden Maßnahme, eine im Grundsatz aktuelle Belastungswirkung sowie die Zurechenbarkeit zu irgendeinem grundrechtsverpflichteten Hoheitsträger erforderlich.345 Als zu starr haben sich sämtliche Ansätze erwiesen, die darüber hinaus zweckidentische Eingriffe durch Gesetz in dasselbe Grundrecht durch denselben Hoheitsträger verlangen.346 Eine realitätsgerechte Erfassung der tatsächlichen Belastungswirkungen würde dann nämlich von vorneherein vereitelt werden, da dann nur klassische Eingriffe in dasselbe Grundrecht in der Verfassungswidrigkeit kulminieren könnten. Realitätsgerecht erfasst würden sie zwar durch die vom Grundgedanken her durchaus interessante Lehre von der Normwirklichkeit. Sie erfolgt dann aber um den Preis einer völligen Neukonzeptionierung, fast schon tabula rasa mit der gängigen Grundrechtsdogmatik machenden Modifikation der herkömmlichen Grundrechtsdogmatik.347
344 Vgl. aber Martini, Der Markt als Instrument hoheitlicher Verteilungslenkung, 2008, der auf S. 79 – 81 m. w. N. einen von Huster im Anschluss an Rüfner entwickelten Ansatz vorstellt, der die für die Freiheitsrechte entwickelte Schrankendogmatik auf Gleichheitsrechte überträgt. 345 § 6 B. III. 4.; § 6 B. III. 5.; § 6 D. III. 3. 346 § 6 B. III. 5.; § 6 D. III. 1.; § 6 D. III. 2.; § 6 D. III. 3.; § 6 D. V. 347 § 6 D. II. 2.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
1. Indizienkatalog Gemeinsam ist diesen Kriterien jedoch, dass man ihnen eine indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes kaum absprechen kann. So liegt es – trotz des aufgegebenen Finalitätskriteriums – mehr als nahe, das Vorliegen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes bei zweckidentischen Eingriffen in dasselbe Grundrecht desselben Grundrechtsträgers zu erwägen. Dabei kann es sich jedoch nur um eine Teilmenge aller denkbaren kulminierenden Grundrechtseingriffe handeln. Genauso gut könnten es auch zweckidentische Eingriffe in verschiedene Grundrechte oder zweckverschiedene Eingriffe in dieselbe Normwirklichkeit sein. Ein Minus in einem Bereich kann also durch ein Plus in einem anderen Bereich ausgeglichen werden. Das gilt vor allen Dingen auch im Hinblick auf eine ebenfalls zu berücksichtigende Saldierung von Be- und Entlastungen. Ob ein kulminierender Grundrechtseingriff vorliegt, kann folglich nur anhand einer wertenden Gesamtbetrachtung festgestellt werden. Nur auf diese Weise lassen sich alle möglichen mit dem Eingriff verbundenen Entlastungen berücksichtigten sowie etwaige Belastungswirkungen aus gerechtfertigten Gleichheitsverstößen in die Abwägung miteinstellen. Gleichzeitig ergäbe sich auch Raum, nicht nur vertikale, sondern auch horizontale Belastungskumulationen zu diskutieren, wenngleich ihr entindividualisierender Ansatzpunkt es zumindest einmal diskussionswürdig erscheinen lässt, eine von der vertikalen Belastungskumulation verschiedene Dogmatik zu entwickeln. Dem Bundesverfassungsgericht348 ist deswegen insoweit beizupflichten, wenn es formuliert: „Ob eine Kumulation von Grundrechtseingriffen das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität noch wahrt, hängt von einer Abwägung aller Umstände ab, in die auch gegenläufige Verfassungsbelange einzubeziehen sind.“
Sein Bewenden darf es damit allein dann aber nicht haben. Zu Recht sähe man sich dem Einwand ausgesetzt, dass eine solche Freiheitsgesamtbilanz, im Sinne eines globalen Kosten-Nutzen-Vergleiches kaum justiziabel wäre. Der im Normsetzungsverfahren geführte politische Diskurs würde im Normenkontrollverfahren fortgeführt werden.349 Der Figur des kulminierenden Grundrechtseingriffs würde es an Bestimmtheit mangeln. Sie verkäme zum dezisionistischen Billigkeitsinstrument. Dem lässt sich durch Aufstellen eines Indizienkataloges entge348 BVerfGE 130, 372 (392); anders wiederum der nachfolgende Nichtannahmebeschluss, BVerfG, NJW 2014, S. 3638, der nur Bezug auf BVerfGE 112, 304 (319 f.); 114, 196 (247); 123, 186 (265 f.) nimmt und einen kulminierenden Grundrechtseingriff mit ausführlicher, auf die Eingriffsintensität abhebender, Begründung ablehnt, ohne sich näher zu seinen Voraussetzungen zu äußern, dazu bereits: § 6 B. III. 4. c) ee). 349 Klement, AöR 2009 S. 65; Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 122 m. w. N.
F. Eigener Ansatz
263
genwirken. Umso mehr Indizien erfüllt sind, umso eher ist dann eine holistische Betrachtungsweise der einzelnen Grundrechtseingriffe angezeigt. Angezeigt kann sie aber auch sein, wenn ein besonders stark ausgeprägtes Indiz weniger stark ausgeprägte oder gänzlich fehlende Indizien kompensiert. Starke indizielle Bedeutung ist dabei zweckidentischen, intensiven Eingriffen in dasselbe Grundrecht beizumessen. Aber auch die Betroffenheit sachlich oder funktionell verwandter Grundrechte sowie das Berühren derselben Normwirklichkeit verschiedener Grundrechte kann auf diese Weise eine realitätsgerechte Erfassung der Belastungswirkungen sicherstellen. Auch die vom Bundesverfassungsgericht350 in jüngerer Zeit zur Bestimmung eines kulminierenden Grundrechtseingriffes herangezogene objektivierbare Gesamteingriffsintensität kann ein gewichtiges Indiz für sein Vorliegen sein. Neben diesen allgemein verwendbaren Indizien können auch grundrechtsspezifische herangezogen werden, wobei es dann im Einzelfall Überschneidungen zum Indiz derselben Normwirklichkeit geben kann. Beispielsweise wäre es bei Eingriffen in die Berufsfreiheit denkbar, danach zu fragen, ob die Ausübung des Berufes – trotz der Summe der für sich genommen gerechtfertigten Eingriffe – noch eine angemessene wirtschaftliche Teilhabe am Markt ermöglicht.351 Der bereits in anderem Zusammenhang formulierte Gedanke352 des Teilhaberechtes würde somit aufgegriffen, ohne dabei zum Vollrecht zu erstarken. Was allerdings genau unter angemessener wirtschaftlicher Teilhabe zu verstehen ist, bedarf zwar ebenfalls einer wertenden Betrachtung. Im Zusammenspiel mit den übrigen Indizien ist die somit verbleibende Unbestimmtheit bei der Prüfung eines kulminierenden Grundrechtseingriffs aber dennoch nicht größer als bei anderen ausfüllungsbedürftigen Rechtsfiguren. Verwiesen sei hier nur auf das bereits angesprochene353 Problem der Bildung eines tertium comparationis. Nachvollziehbarere, berechenbarere und damit in rechtsstaatlicher Hinsicht bessere Ergebnisse als bei der vom Bundesverfassungsgericht354 vorgeschlagenen Gesamtabwägung aller Umstände sind auf diese Weise jedoch allemal zu erzielen. Gleichzeitig eröffnet eine dergestalt strukturierte Abwägungsentscheidung aber auch den zur adäquaten Abbildung der tatsächlichen Belastungssituation erforderlichen Freiraum. Die ohnehin jeder Abwägungsentscheidung immanente, verbleibende Unbestimmtheit ist deshalb noch tolerabel.
350
BVerfG, NJW 2014, S. 3638 – 3639. Koch, ZfWG 2015 S. 327; BVerfG, Beschluss vom 07. März 2017 – 1 BvR 1314/12 –, juris Rn. 156 – 157. 352 § 5 B. II. 2. b) cc); § 5 B. II. 8. g). 353 § 6 D. II. 2. 354 BVerfGE 130, 372 (392). 351 Vgl.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
2. Konstitutionalisierung der Rechtsordnung Nimmt man das Bundesverfassungsgericht beim Wort, sind in die Abwägung allerdings auch „gegenläufige Verfassungsbelange“355 einzustellen. Darunter kann man zum einen die bereits diskutierten356 Fragestellungen rund um die Saldierung von gleichzeitig mit Belastungen einhergehenden Entlastungen verstehen. Zum anderen kann man auch eine demokratieorientiertere Perspektive einnehmen. Von dieser Warte aus betrachtet muss dann entschieden werden, ob es sich beim kulminierenden Grundrechtseingriff um eine berechtigte Antwort auf den modernen Gesetzgeber handelt oder umgekehrt, um eine weitere bedenkliche Einengung der Spielräume des ohnehin um seine Bedeutung ringenden Parlamentes.357 So haben viele Jahrzehnte an materieller Verfassungsrechtsfortbildung zu einem immer mehr zunehmenden Verlust an Eigenständigkeit des einfachen Rechts geführt. Verfassungskonforme Auslegung einfachen Rechts358, eine den Grundrechten beigemessene Drittwirkung359, richterrechtlich erfundene Schutzpflichten360 sowie die Gebote der Folgerichtigkeit361 und der Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung362 führten im Laufe der Dekaden zu einer Vielzahl an materiellen Vorfestlegungen.363 Durch die Anerkennung des kulminierenden Grundrechtseingriffs kommt eine weitere dazu. Sie wird die ohnehin schon mit Sorge
355
BVerfGE 130, 372 (392). § 6 E. 357 Vgl. Lepsius, Der Staat 2013 S. 181 – 182; Michael, Die Verwaltung 2014 S. 450; Seiler, Verfassung in ausgewählten Teilrechtsordnungen: Konstitutionalisierung und Gegenbewegungen im Steuerrecht, in: Volkmann (Hrsg.), Verfassung als Ordnungskonzept, 2016, S. 342; ähnlich: Steiner, A&R 2007 S. 148, der vor allen Dingen die Politik berufen sieht Belastungskumulationen aufzulösen; neutraler: Winkler, JA 2014 S. 887, die eine durch den kulminierenden Grundrechtseingriff forcierte „funktionale Kräfteverschiebung zwischen verfassungsgerichtlicher und parlamentarischer Gewalt“ als notwendige Folge seiner Anerkennung zu akzeptieren scheint; Boetius, Die Systemveränderung in der privaten Krankenversicherung (PKV) durch die Gesundheitsreform, 2008, S. 49 hält es sogar für unbeachtlich das bestimmte, die Belastungskumulation bildende Eingriffe vom Gesetzgeber ausdrücklich gewollt sein könnten. 358 Praktiziert seit BVerfGE 2, 266 (282); Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland Band III/2, 1994, S. 1706 – 1709. 359 BVerfGE 7, 198 (204 ff.). 360 Beispielsweise BVerfGE 39, 1 (42); 88, 203 (251); Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 109 Rn. 259 – 260; Hufen, Staatsrecht II, 2016, § 5 Rn. 5 – 6 m. w. N. 361 BVerfGE 84, 239 (271); 105, 73 (126); 107, 27 (46); 117, 1 (31); 121, 317 (362 ff.); 122, 210 (231). 362 BVerfGE 98, 83 (97 f.); 98, 106 (118 ff.); kritisch dazu beispielsweise Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 82 – 85. 363 Lepsius, Der Staat 2013 S. 182. 356
F. Eigener Ansatz
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geführte Diskussion364 um eine Konstitutionalisierung der Rechtsordnung noch einmal anheizen. Die Gefahr wird größer, sich nicht nur aufseiten des Grundrechtsberechtigten, sondern auch aufseiten des Grundrechtsverpflichteten mit Belastungskumulationen auseinandersetzen zu müssen. Anders als der Gesetzgeber kann ein Gericht frühere Entscheidungen nicht durch den berühmten Federstrich korrigieren. Seine Entscheidungszuständigkeit setzt einen anhängigen Rechtsstreit voraus, der – selbst wenn er zu einer neuen Entscheidung führt – die frühere Entscheidung nicht korrigiert. Ihre Rechts- bzw. Gesetzeskraft (§ 31 Abs. 2 BVerfGG) bleibt durch das neue Urteil unberührt. Im Gegensatz zum Parlament, in dem Gesetzesänderungen bei veränderten Mehrheiten gerade Ausdruck seiner Funktionsfähigkeit sind, geht das Eingestehen eines Rechtsirrtums durch ein Gericht mit einem Verlust an institutioneller Autorität365 einher. Es bleibt ihm deshalb nur die Argumentation mit dem Sachverhalt und die apodiktische Feststellung, dass der zu entscheidende Fall eben anders liege und deshalb auch anders zu entscheiden sei. Im Ergebnis behalten folglich nicht nur alle früheren Verfassungsinterpretationen ihre Gültigkeit, sondern nehmen durch neue Interpretationen und Figuren auch noch beständig zu. Eine Spruchpraxis die, obwohl sicher nicht intendiert, zu einer Einengung politischer Gestaltungsspielräume führt. Es gilt, deshalb Techniken zu finden, wie derartige materielle Vorfestlegungen durch Verfassungsinterpretation wieder aufgehoben werden können. Andernfalls werden in den Fünfzigerjahren des vergangenen Jahrhunderts bezüglich eines bestimmten Problems ergangene Entscheidungen ewiger Bestandteil der gegenwärtigen Verfassungsinterpretation bleiben. Bezüglich des Untersuchungsgegenstandes dieser Arbeit kann allerdings festgehalten werden, dass sich das Bundesverfassungsgericht der aus der Konstitutionalisierung des einfachen Rechts resultierenden Einschränkung des legislativen Gestaltungsspielraumes durchaus bewusst zu sein scheint. So gesteht es dem Gesetzgeber doch ausdrücklich einen ganz besonders weiten gesundheitspolitischen Gestaltungsspielraum zu.366 Es steht also zu erwarten, dass die Rechtsprechung verantwortungsbewusst mit dem Freiraum umgehen wird, den ihr der vorgeschlagene Kombinationsansatz eröffnet. Eine überbordende verfassungsrechtliche Überformung des einfachen Rechts wird die Judikatur deshalb zu verhindern wissen.
364 Lepsius, Der Staat 2013 S. 181 – 183 m. w. N.; Michael, Die Verwaltung 2014 S. 449 – 450. 365 Allgemein zur Autorität des Gerichts: Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 2015, § 1 Rn. 45 – 45b. 366 Ausführlich dazu bereits: § 5 B. II. 7. a).
266
§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
3. Zusammenfassung Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten, dass der vertikale kulminierende Grundrechtseingriff eine eigene Schranken-Schrankenkategorie darstellt. Er setzt bei Freiheitsrechten die Eingriffsqualität, bei Gleichheitsrechten die Diskriminierung jeder einzelnen kumulierenden belastenden und für sich genommen gerechtfertigten Maßnahme, die Zurechenbarkeit zu einem grundrechtsverpflichteten Hoheitsträger sowie eine im Grundsatz aktuelle Belastungswirkung voraus. Der Grundrechtsträger muss also schon oder noch betroffen sein. Künftig eintretende Belastungswirkungen können ausnahmsweise dennoch berücksichtigt werden, wenn ein Abwarten bis zum tatsächlichen Belastungseintritt, wie bei Strafgesetzen oder dem Treffen irreversibler Dispositionen, unzumutbar ist. Darauf, dass die eingreifenden Maßnahmen stets auf denselben Hoheitsträger zurückzuführen sind, kommt es nicht an. Grundsätzlich können sowohl Freiheitsals auch Gleichheitsrechte in der Verfassungswidrigkeit kulminieren. In beiden Fällen sind mit den angegriffenen Belastungen einhergehende Entlastungen aber zu berücksichtigen. Ob ein kulminierender Grundrechtseingriff vorliegt, ist unter anderem deshalb anhand einer wertenden Gesamtbetrachtung zu ermitteln. Indizielle Bedeutung kommt dabei dem gleichen Eingriffszweck, der Betroffenheit desselben Grundrechts, dem Betreffen derselben Lebenswirklichkeit und einer hohen Gesamtbelastungsintensität zu. Darüber hinaus können auch grundrechtsspezifische Kriterien, wie eine angemessene wirtschaftliche Teilhabe in die Betrachtung eingestellt werden. Eine Konstitutionalisierung des einfachen Rechts und damit eine zu starke Beschränkung des parlamentarischen Gesetzgebers gilt es jedoch zu vermeiden. Der horizontale kulminierende Grundrechtseingriff fügt sich zwar auch in dieses Schema ein, allerdings wäre es im Hinblick auf die mit ihm verbundene Entindividualisierung der Grundrechte zu erwägen, einen eigenständigen Ansatz zu entwickeln. 4. Rückwirkung auf den Einzeleingriff Versteht man den kulminierenden Grundrechtseingriff in diesem Sinne, so hat er keinerlei Rückwirkung auf die Verhältnismäßigkeitsprüfung. Das gilt insbesondere für den beim singulären Grundrechtseingriff erwogenen367 Einsatz des optimalen und nicht nur des relativ mildesten Mittels. Zwar stünde mit dem kulminierenden Grundrechtseingriff dann tatsächlich ein Korrektiv zur Verfügung, unverhältnismäßige Gesamtbelastungen wieder auf ein verfassungsrechtlich hinnehmbares Maß zu reduzieren. Hauptzweck seiner Anerkennung ist es aber ceteris paribus, die aus dem punktuellen Eingriffsverständnis resultieren367 Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 93 – 94; dazu bereits: § 6 A. I.
G. Verfassungsprozessuale Konsequenzen
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den Schutzlücken zu schließen und den Grundrechtsschutz des Individuums zu effektuieren. Keinesfalls sollen absichtlich neue Schutzlücken aufgerissen werden. Genau dies geschähe aber, wenn die Verhältnismäßigkeitsprüfung des Einzeleingriffes dahingehend modifiziert werden würde, dass nicht mehr das relativ mildeste, sondern stets das optimale Mittel eingesetzt werden könnte. Es stünde zu befürchten, dass der kulminierende Grundrechtseingriff vom Ausnahme- zum Regelfall würde. Die Verhältnismäßigkeitsprüfung des Einzeleingriffes hat deshalb unberührt zu bleiben.
G. Verfassungsprozessuale Konsequenzen Die Anerkennung eines kulminierenden Grundrechtseingriffes hat aber nicht nur materiell rechtliche Folgen.
I. Belastungskumulationen im Mehrebenensystem 1. Supra- und nationale Belastungskumulationen Insbesondere bei zusammentreffenden Belastungen supranationaler und nationaler Rechtsetzungsebenen gilt es zunächst einmal, den zutreffenden Prüfungsmaßstab zu ermitteln und anzulegen. Soweit nämlich bei einem Grundrechtsträger Belastungen zusammentreffen, die von Maßnahmen der Europäischen Union und von Maßnahmen eines Mitgliedsstaates herrühren, die nicht der Durchführung des Rechts der Union dienen, fehlt es an einem gemeinsamen grundrechtlichen Maßstab. Gemäß Art. 51 Abs. 1 GRCh sind die Mitgliedstaaten nämlich ausschließlich beim Vollzug von Unionsrecht an die Unionsgrundrechte gebunden. Setzt sich die zu überprüfende Belastungskumulation aus unionsrechtlichen und nationalen Regelungen zusammen, sollten deshalb zunächst nur die einzelnen eingreifenden, unionsrechtlichen, inklusive der vollständig unionsrechtlich determinierten nationalen Regelungen auf ihre Vereinbarkeit mit den Unionsgrundrechten hin überprüft werden. Bekanntlich übt das Bundesverfassungsgericht seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Gemeinschaftsrecht nicht aus, solange ein, dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotener Grundrechtsschutz, im Wesentlichen gleichzuachtender Schutz der Grundrechte auf europäischer Ebene, generell gewährleistet wird.368 Nur dann, wenn der Mitgliedsstaat einen verbleibenden Umsetzungsspielraum auch tatsächlich nutzt oder darüber hinaus gehende Regelungen trifft, kann die mitgliedsstaatliche Regelung überhaupt am Maßstab des Grundrechtskataloges des Grundgesetzes gemessen werden. Andernfalls ist die Eingriffswirkung dem Unionsgesetzgeber 368
BVerfGE 73, 339 (387); 118, 79 (95); 123, 267 (335).
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
zuzurechnen, was zugleich seine Zuständigkeit für die Wiederherstellung einer grundrechtskonformen Rechtslage begründet. Demnach wäre eine Gesamtbetrachtung der realen Belastungssituation des Grundrechtsträgers am Maßstab des Grundgesetzes unmöglich. Die europarechtlich determinierten Belastungsbeiträge wären gerade nicht an ihm zu messen. Aus Sicht des Grundrechtsträgers macht es allerdings keinen Unterschied, wem die singulären Eingriffe zuzurechnen sind. Es stellt sich deshalb die Frage, ob der im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes bereits aufgestellte369 Grundsatz der Einheit der öffentlichen Hand auch auf supranationale und nationale Belastungskumulationen erstreckt werden kann. Denn dann würden die europarechtlich determinierten und damit nicht dem Mitgliedsstaate zurechenbaren Belastungen in die Prüfung miteinbezogen. Sinn und Zweck des kulminierenden Grundrechtseingriffes ist es, die aus dem punktuellen Eingriffsverständnis resultierende, unvollkommene Abbildung der Belastungssituation des Grundrechtsträgers zu beseitigen. Ein Ziel, das in vielen Fällen nicht erreicht werden könnte, wollte man die oftmals europarechtlich determinierten belastenden Regelungen ausklammern. Andererseits sind diese Regelungen gerade nicht am Maßstab des nationalen Verfassungsrechts zu messen. Ein etwaiger Grundrechtsverstoß kann somit von vorneherein nur zur Verfassungswidrigkeit der mitgliedsstaatlichen Maßnahme führen. Hier steht es dem einzelnen Mitgliedsstaat allerdings frei, auch europarechtlich determinierte Belastungsbeiträge mit einzubeziehen. Im Ergebnis findet somit, bei einem Zusammentreffen von europarechtlichen und deutschen Belastungsbeiträgen, eine Prüfung der Gesamtbelastung am Maßstab des Grundgesetzes statt. Diese kann aber bestenfalls in der Verfassungswidrigkeit der nationalen Maßnahme kulminieren und dies auch nur, wenn eine vorgeschaltete Prüfung am Maßstab der Unionsgrundrechte zur Zumutbarkeit der Einzelbelastungen gekommen ist. Analog zu dem, zu föderativen Belastungskumulationen Gesagten, besteht damit eine Obliegenheit des nationalen Gesetzgebers, auch auf europarechtliche Regelungen Rücksicht zu nehmen.370
369 § 6 B. III. 4. c) gg); § 6 B. III. 6.; § 6 D. V.; im Grundsatz zustimmend: Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 94 – 95; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 197; Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 119; Kluth, ZHR 1998 S. 673 – 674; Koch, ZfWG 2015 S. 327; Schaks, DÖV 2015 S. 821; a. A. Würsig, Die Steuerung von Summenbelastungen im öffentlichen Immissionsschutzrecht, 2009, S. 68. 370 Zum gesamten Problemkomplex supra- und nationaler Belastungskumulationen: Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 194 – 198.
G. Verfassungsprozessuale Konsequenzen
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2. Föderative Belastungskumulationen Aber auch bei Vorliegen eines gemeinsamen Maßstabes in Form des Grundgesetzes sind Belastungskumulationen im Mehrebenensystem von Bund und Ländern im Hinblick auf die Rechtsfolgen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes nicht unproblematisch. So kommt dem Europarecht gegenüber dem nationalen Recht ein umfassender Anwendungsvorrang zu. Für das Rangverhältnis von Bundes- und Landesrecht hingegen ist Art. 31 GG einschlägig. Eine Norm, die nur echte Normwidersprüche im Sinne des Bewirkens unterschiedlicher Rechtsfolgen erfasst.371 Gerade ein Normwiderspruch dürfte aber bei einem kulminierenden Grundrechtseingriff idealtypischer Ausprägung die absolute Ausnahme sein. Regelmäßig dürften hier zwei harmonisch ineinandergreifende Regelungen im Hinblick auf das mit ihnen verfolgte Ziel eine perfekte Symbiose bilden, wobei genau dieses, für das verfolgte Ziel vorteilhafte Zusammenwirken der Normen, zum kulminierenden Grundrechtseingriff führt.372 Art. 31 GG hilft bei der Auflösung von Belastungskumulationen folglich nicht weiter. Genauso wenig lässt sich aus ihm ableiten, dass im Falle eines kulminierenden Grundrechtseingriffes stets die landesgesetzliche Regelung zu weichen hätte. Die Verfassung geht vielmehr von einer Koexistenz kompetenzgerecht erlassenen, nicht konfligierenden Bundes- und Landesrechtes aus. Denkbar wäre, dass die zuletzt tätig werdende Gesetzgebungskörperschaft die bestehenden Vorbelastungen berücksichtigt und sich – entgegen der verfassungsmäßigen Kompetenzenordnung – mit Eingriffen zurückhält.373 Da landesgesetzliche Regelungen bezüglich der gesetzlichen Krankenversicherung im Allgemeinen und bezüglich der Kompensationsmaßnahmen des beendeten Bestandsmarktaufrufes im Speziellen keine nennenswerte Rolle spielen, wird auf eine eingehendere Diskussion der Problematik an dieser Stelle verzichtet. 3. Pouvoir constituant constitué Dasselbe gilt für die Frage, ob es tatsächlich allen drei Gewalten vollkommen untersagt ist, einen kulminierenden Grundrechtseingriff vorzunehmen oder zumindest der verfassungsändernde Gesetzgeber davon auszunehmen ist. Gegen eine Bindung des pouvoir constituant constitué spricht, dass der kulminierende Grundrechtseingriff ein scheibchenweises Beseitigen der grundrechtlich verbürgten Freiheiten verhindern soll, Grundrechtsänderungen selbst jedoch nur
371
Sachs, in: Sachs, GG, 2014, Art. 31 Rn. 18 – 19 m. w. N. Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 198. 373 Näher dazu bereits: § 6 B. III. 4. c) gg). 372
270
§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
den Schranken des Art. 79 Abs. 3 GG unterliegen.374 Andererseits sind die Menschenwürdegarantie sowie die in Art. 20 GG niedergelegten Grundsätze gerade Teil der Ewigkeitsgarantie. Je nachdem wo man den kulminierenden Grundrechtseingriff dogmatisch verankert sieht, scheint dieses teleologische Argument deshalb keinesfalls zwingend zu sein. Bekanntlich wurde er bereits375 aus dem Rechtsstaatsprinzip und damit einem Grundsatz des Art. 20 Abs. 1 GG abgeleitet. Ähnlich kann es sich verhalten, wenn man den kulminierenden Grundrechtseingriff schwerpunktmäßig im Wesen der Grundrechte376 verankert sehen will und dabei besondere Betonung auf den Menschenwürdekern legt. Schließlich lässt sich auch die grundgesetzliche Gesetzgebungskompetenzenordnung zur dogmatischen Begründung des kulminierenden Grundrechtseingriffes fruchtbar machen377. Eine Gliederung des Bundes in Bundesländer mit jeweils eigener Staatsqualität setzt jedoch ein bestimmtes Maß an Gesetzgebungskompetenzen voraus. Die Kompetenzenordnung ist deshalb im Grundsatz als Teil der Gliederung des Bundes in Länder ebenfalls von Art. 79 Abs. 3 Var. 1 GG geschützt.
II. Tenorierung Hohe praktische Relevanz, auch über den Untersuchungsgegenstand hinaus, weist dagegen die Frage nach der Tenorierung eines festgestellten kulminierenden Grundrechtseingriffes auf. 1. Materielle Rechtsfolgen Die Tenorierung darf aber keinesfalls mit den materiell-rechtlichen Folgen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes verwechselt werden. So sind mehrere singuläre Grundrechteingriffe, die erst bei kumulativer Betrachtung gegen die Verfassung verstoßen, jeweils für sich genommen verfassungswidrig.378 Ob und wenn ja wie dies auch in der Urteilsformel so zum Ausdruck kommt oder sich diese – wie üblich – auf den Verfahrensgegenstand beschränken sollte, ist damit allerdings noch nicht entschieden. Abgesehen davon könnte man auch in materiell-rechtlicher Hinsicht im Sinne einer geltungserhaltenden Reduktion erwägen, nur so viele der Eingriffe als verfassungswidrig zu qualifizieren, dass der verbleibende Rest gerade noch verfassungsmäßig ist. Die dafür notwendigen Auswahl374
Schaks, DÖV 2015 S. 821. Näher dazu bereits: § 6 B. III. 1. a). 376 Näher dazu bereits: § 6 C. VI. 377 Näher dazu bereits: § 6 C. III. 378 Hufen, NJW 1994 S. 2916 mit Verweis auf die im Ansatz ähnliche BVerfGE 82, 60 (84); Klement, AöR 2009 S. 79; Schaks, DÖV 2015 S. 825; kritisch: Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014, S. 262. 375
G. Verfassungsprozessuale Konsequenzen
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kriterien gälte es dann aber noch zu entwickeln.379 Zudem würde in jedem Falle ein Anreiz dafür geschaffen werden, möglichst intensive Grundrechtseingriffe vorzunehmen, bzw. umgekehrt der Anreiz reduziert, Belastungskumulationen soweit als möglich zu vermeiden. Der Grundrechtsverpflichtete hätte ja dann die Gewissheit, dass das verfassungsrechtlich gerade noch zulässige Maximum in jedem Falle Bestand hätte. Um die Durchführung eines Strafverfahrens nicht unmöglich zu machen, wird mit Blick auf die GPS-Entscheidung380 dennoch vertreten, dass nur diejenigen Erkenntnisse einem Beweisverwertungsverbot unterliegen sollen, die das Fass letztlich zum Überlaufen gebracht haben.381 Weil es sich dabei regelmäßig um die zeitlich zuletzt erlangten Erkenntnisse handelt, liefe dies auf die Statuierung eines zeitlichen Prioritätsprinzips382 hinaus. Dagegen wird angeführt, dass die Verfassungsmäßigkeit doch nicht davon abhängen könne, wann welche Ermittlungsbehörde eine eingreifende Maßnahme ergriffen hat. Zudem müssten dann zwei zeitgleich eingeleitete Maßnahmen, mit Blick auf die jeweils andere, als verfassungswidrig erklärt werden. Unklar sei auch, wie mit Fernwirkungen von derartigen Beweisverwertungsverboten umzugehen sei. Beispielsweise wäre es denkbar, dass Erkenntnisse aus unzulässigen Maßnahmen zur Begründung weiterer Ermittlungsschritte gedient haben.383 Dem wiederum lässt sich zwar entgegenhalten, dass die Fernwirkungsproblematik ein allgemeines strafprozessuales Problem ist und das Prioritätsprinzip, im Gegensatz zu anderen denkbaren Möglichkeiten, berechenbare Ergebnisse bei einfacher Handhabung liefert. Verwiesen sei hier nur auf die ansonsten bei Beweisverwertungsverboten anzustellende Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an einer funktionsfähigen Strafrechtspflege und den Individualrechten des Angeklagten. Im Ergebnis kann dies aber offen bleiben, weil eine geltungserhaltende Reduktion auf das gerade noch zulässige Maximum aus den genannten grundsätzlichen Gründen ohnehin abzulehnen ist. 2. Nichtigkeit oder Unvereinbarkeit Damit sind sämtliche in der Verfassungswidrigkeit kulminierenden Einzeleingriffe bereits für sich genommen verfassungswidrig. Wie bereits angedeutet, ist 379 Klement, AöR 2009 S. 79; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 161; Tanneberger, Die Sicherheitsverfassung, 2014, S. 262. 380 BVerfGE 112, 304; ausführlich dazu bereits: § 6 B. III. 4. b). 381 Puschke, Die kumulative Anordnung von Informationsbeschaffungsmaßnahmen im Rahmen der Strafverfolgung, 2006, S. 160 – 161; näher dazu bereits: § 6 D. X 1. 382 Vgl. bereits zum Problem der Zurechnung von Belastungskumulationen zu verschiedenen Hoheitsträgern § 6 B. III. 4. c) gg); § 6 D. V.; § 6 G. I. 2. 383 Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 161 – 162.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
deshalb zu klären, ob das Kulminieren auch in der Urteilsformel zum Ausdruck kommt oder sie sich – wie üblich – auf den Verfahrensgegenstand beschränkt. Dabei bietet es sich an, die mit der Antwort hierauf eng verbundene Folgefrage nach einer Nichtigkeits- oder einer Unvereinbarkeitstenorierung im gleichen Atemzuge mit abzuhandeln. a) Primat verfassungskonformer Auslegung Beide setzen allerdings voraus, dass eine verfassungskonforme Auslegung nicht möglich ist.384 Eine verfassungskonforme Auslegung einer Norm ist immer dann geboten, wenn unter Berücksichtigung von Wortlaut, Entstehungsgeschichte, Gesamtzusammenhang und Zweck mehrere Deutungen möglich sind, von denen nicht alle, aber zumindest eine zu einem verfassungsgemäßen Ergebnis führt.385 Ein Normverständnis, das im Widerspruch zu dem klar erkennbar geäußerten Willen des Gesetzgebers treten würde, kann allerdings auch nicht im Wege verfassungskonformer Auslegung begründet werden.386 Andernfalls greife das Bundesverfassungsgericht der rechtspolitischen Entscheidung des demokratisch legitimierten Gesetzgebers vor.387 Das mit diesen Worten begründete Primat verfassungskonformer Auslegung dürfte nach der hier vorgeschlagenen Ermittlung eines kulminierenden Grundrechtseingriffes in der Praxis keine Rolle spielen. Dieser setzt ja gerade voraus, dass jeder seiner singulären Eingriffe gerechtfertigt ist, was die Verfassungsmäßigkeit der zu Grunde liegenden Rechtsgrundlagen zwingend mit einschließt. Eine verfassungskonforme Auslegung des, durch eine wertende Gesamtbetrachtung ermittelten, kulminierenden Grundrechtseingriffs ist jedoch ebenfalls kaum denkbar. Wenn überhaupt, so handelt es sich um eine sehr theoretische Möglichkeit, die Verfassungswidrigkeit noch abwenden zu können. b) Nichtigkeit versus Unvereinbarkeit In aller Regel gilt es, deswegen zu entscheiden, ob und wenn ja wie sich der kulminierende Grundrechtseingriff im Tenor widerspiegelt. Für eine Beschränkung auf den Verfahrensgegenstand nebst Aufhebung der angegriffenen Maßnahme bzw. Unvereinbarkeitserklärung und gegebenenfalls anschließender Nichtig-
384 BVerfGE 2, 266 (282); 54, 251 (275); 64, 229 (242); 98, 1 (15 ff.); 99, 341 (358); Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2012, § 39 Rn. 1411; Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 2015, § 6 Rn. 536 – 537; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 160. 385 BVerfGE 112, 164 (182 f.). 386 BVerfGE 95, 64 (93); 99, 341 (358); 101, 312 (329): 112, 164 (183). 387 BVerfGE 8, 71 (79), 112, 164 (183).
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keitserklärung bei Gesetzen388 streitet zunächst einmal der Wortlaut der §§ 82 Abs. 1 i.V.m. 78 S. 1 bzw. 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG.389 Die angegriffene Regelung dürfte dann nicht mehr angewendet werden. Bestenfalls ein Teil eines Gesetzes könnte bei einer Teilnichtigkeit weiter Wirkung für sich beanspruchen, sofern es einen selbstständigen Regelungsgehalt aufweist und auch ohne den nichtigen Teil angewendet werden kann.390 Andererseits wird dann ein weiteres Mal in den legislativen Gestaltungsspielraum eingegriffen. Denn bereits aus der Natur des kulminierenden Grundrechtseingriffes folgt, dass die verfassungswidrige Belastung nicht nur durch die Beseitigung der angegriffenen hoheitlichen Maßnahme behoben werden kann. Genauso gut können verfassungsgemäße Zustände auch durch die Aufhebung der Belastungswirkung einer der anderen, nicht explizit angegriffenen Grundrechtseingriffe wiederhergestellt werden.391 Das gilt umso mehr, wenn man sich daran erinnert, dass bei der vorgestellten Entscheidung392 zum steuerfreien Familienexistenzminimum eine zusätzliche, vom Gesetzgeber geschaffene, materielle Begünstigung die Verfassungsmäßigkeit einer steuerlichen Belastung zunächst einmal sicherstellte.393 Die besseren Gründe sprechen deshalb dafür, einen kulminierenden Grundrechtseingriff lediglich für unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären. Für die in Rede stehenden Normen ergeben sich dann keine unmittelbaren Konsequenzen. Vielmehr ist der Gesetzgeber dann dazu aufgerufen, die verfassungswidrige Gesamtbelastung nach seinem Ermessen aufzulösen. Sicher, selbst eine Nichtigerklärung sämtlicher, in der Verfassungswidrigkeit kulminierender Normen würde es dem Gesetzgeber
388 So Kloepfer, VerwArch 1983 S. 223 bezüglich seines stark eingeschränkten Untersuchungsgegenstandes. 389 Klement, AöR 2009 S. 80. 390 Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2012, § 39 Rn. 1387 – 1390. 391 Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 102; Jesse, Instrumentenverbund als Rechtsproblem am Beispiel effizienter Energienutzung, 2014, S. 194; Kaltenstein, SGb 2015 S. 371; Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 30 – 31; Kirchhof, NJW 2006 S. 733; Kirchhof, Beihefter zu DStR Heft 49/2009, S. 137; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 164; Leisner, in: Isensee, HStR VIII, 2010, § 173 Rn. 170; Michael, Die Verwaltung 2014 S. 451; Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 126; Michael/Morlok, Grundrechte, 2016, § 18 Rn. 519; Schaks, DÖV 2015 S. 826; so auch Ruland, SGb 2012 S. 242, der den Gesetzgeber aber nur dann in der Pflicht sieht, die Belastungskumulation aufzulösen, wenn mehrere Einzelmaßnahmen ein und desselben Gesetzes in der Verfassungswidrigkeit kulminieren. Ansonsten soll automatisch die jeweils letzte Maßnahme verfassungswidrig sein, da die Verfassungsmäßigkeit der vorhergehenden, die gesamte Belastungskumulation bildenden Grundrechtseingriffe schon positiv festgestellt worden sein könnte. 392 BVerfGE 82, 60; § 6 B. III. 4. c) bb). 393 Vgl. Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 102.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
nicht verbieten, eine Norm in einem von ihm selbst veränderten normativen Kausalkontext neu zu erlassen. Daraus aber folgern394 zu wollen, dass die gesetzgeberische Gestaltungsfreiheit noch besser gewahrt werde, wenn nur Normen für unvereinbar oder nichtig erklärt werden würden, die auch Angriffsgegenstand des verfassungsgerichtlichen Verfahrens waren, überzeugt insofern nicht, als dass das Bundesverfassungsgericht ohnehin auf die Folgebereitschaft der Politik angewiesen ist. Dem Gericht ist es aber gelungen, sich soviel Autorität zu verschaffen, dass seinen Entscheidungen bislang stets der notwendige Respekt entgegengebracht wurde, der den angesprochenen faktischen Verstoß gegen das Verbot der Normwiederholung395 praktisch ausschließt.396 Es kann deswegen auch erwartet werden, dass eine verfassungsgerichtliche Verpflichtung zur Auflösung von Belastungskumulationen auch dann befolgt wird, wenn der Abstimmungsaufwand größer ist, weil es sich um in der Verfassungswidrigkeit kulminierende Normen verschiedener Hoheitsträger handelt.397 Aus demselben Grunde steht deswegen auch nicht zu erwarten, dass der Gesetzgeber eine ihm gesetzte Frist zur Rücknahme der Gesamtbelastung ungenutzt verstreichen lässt. Sollte dies aber dennoch geschehen, so könnte man ihm das als Verzicht auf die Wahrnehmung seines Gestaltungsspielraumes auslegen. Ein Verzicht, der sich zwangsläufig nur auf die angegriffene Regelung beziehen kann und diese endgültig unwirksam macht.398 Alle anderen kumulierenden Normen blieben davon unberührt. Es wäre also klar, was gelten soll, wenn die zur Rücknahme der Gesamtbelastung gesetzte Frist ungenutzt verstreicht. Gegen eine Unvereinbarkeitserklärung399 lässt sich diese vermeintliche Unklarheit deswegen nicht anführen. Auch die bisherige Spruchpraxis des Bundesverfassungsgerichtes zu Unvereinbarkeitserklärungen weist in dieselbe Richtung. Eine Unvereinbarkeitserklärung nach § 31 Abs. 2 S. 2 und S. 3 BVerfGG zieht es unter anderem dann einer Nichtigkeitserklärung vor, wenn die geprüfte Rechtsnorm erst wegen einer Veränderung der tatsächlichen Umstände verfassungswidrig geworden ist. Hierunter subsumiert es auch den Fall, dass sich eine verfassungswidrige Rechtslage erst aus dem Zusammenwirken mehrerer Einzelregelungen ergibt, weswegen verfassungsgemäße Zustände sowohl durch 394
Klement, AöR 2009 S. 80. Normwiederholungsverbot: Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2012, § 40 Rn. 1464 – 1473; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 1991, § 20 Rn. 85. 396 Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2012, § 41 Rn. 1498; Hillgruber/ Goos, Verfassungsprozessrecht, 2015, § 1 Rn. 32; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 1991, § 19 Rn. 6; a. a. O. § 19 Rn. 12. 397 Zweifelnd: Klement, AöR 2009 S. 80. 398 Im Ergebnis auch Leisner, in: Isensee, HStR VIII, 2010, § 173 Rn. 170; wohl auch: Brenner, Quo vadis, Jagdrecht?, 2015, S. 89. 399 Klement, AöR 2009 S. 80. 395 Zum
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die Beseitigung der einen als auch durch die Beseitigung der anderen Regelung wiederhergestellt werden können. In seiner Entscheidung400 zum steuerfreien Familienexistenzminimum führte es deswegen aus: „Die Möglichkeit, daß der Gesetzgeber den verfassungsrechtlichen Mangel auch in einer Weise beheben könnte, daß die beanstandete Norm im Endergebnis bestehen bleibt, hat lediglich zur Folge, daß das Bundesverfassungsgericht die Norm nicht für nichtig erklären, sondern nur ihre Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz feststellen kann.“
Gründe, weshalb das Gericht den sehr ähnlich gelagerten Fall eines kulminierenden Grundrechtseingriffes anders beurteilen sollte, sind nicht ersichtlich. Es wird deshalb die Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz feststellen. c) Appellentscheidung Für den Fall, dass sich der Antrag nicht gegen eine Belastungskumulation als solche richtet, wird der Erlass einer sogenannten Appellentscheidung vorgeschlagen. Das Gericht könnte dann im Tenor zu einer Reduktion der verfassungswidrigen Gesamtbelastung aufrufen, ohne den Antragsgegenstand eigenmächtig ausweiten zu müssen.401 Dagegen wird zwar angeführt, dass eine Appellentscheidung dadurch definiert sei, dass das Gericht die Rechtslage als noch verfassungsgemäß bewertet, es aber begründeten Anlass zur Sorge hat, dass künftig Verfassungswidrigkeit eintreten könnte.402 Tatsächlich ist es jedoch keinesfalls so eindeutig, was genau eine „Appellentscheidung“ auszeichnet. Häufig werden nämlich sämtliche Entscheidungen – also auch solche bei denen die Verfassungswidrigkeit festgestellt wurde – unter diesem Begriff zusammengefasst. Der Gesetzgeber müsse nur dazu aufgerufen worden sein, eine Neuregelung zu beschließen und in Kraft zu setzen.403
III. Erweiterung des Beschwerdegegenstandes Abgesehen davon dürfte es sich ohnehin um eine eher theoretische Fragestellung handeln. So wird die Verfassungsmäßigkeit eines Grundrechtseingriffes regelmäßig nicht unter allen erdenklichen Gesichtspunkten, sondern nur unter den gerügten und begründeten Punkten geprüft. Diese Hürde ließe sich frei400 401
BVerfGE 82, 60 (84); dazu bereits. § 6 B. III. 4. c) bb). Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 30 – 31; Kirchhof, NJW 2006
S. 735. 402 Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 164; in diesem Sinne: Hillgruber/Goos, Verfassungsprozessrecht, 2015, § 6 Rn. 544a; Pestalozza, Verfassungsprozessrecht, 1991, § 20 Rn. 32. 403 Benda/Klein/Klein, Verfassungsprozessrecht, 2012, § 39 Rn. 1405 m. w. N.
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lich überwinden, wenn man in jeder gerügten Einzelbeeinträchtigung zugleich eine Manifestation des kulminierenden Grundrechtseingriffes sähe. Denn dann enthielte jede gerügte Einzelbelastung zugleich einen gerügten kulminierenden Grundrechtseingriff. Begründen ließe sich eine solch erweiternde Auslegung mit § 78 S. 2 BVerfGG, der bereits jetzt bei mittelbaren Rechtssatzverfassungsbeschwerden entsprechend angewendet werden kann. Solange es nicht zu einer mittelbaren Normenkontrolle von Amts wegen kommt, kann das Gericht deswegen vom Verfassungsbeschwerdeantrag abweichen und diesen sinnvoll ergänzen. Die grundsätzliche Abhängigkeit des Beschwerdegegenstandes vom gestellten Antrag wird damit aufgeweicht.404 Folglich wäre es eine dem Verfassungsprozessrecht durchaus geläufige Konstruktion, wenn man diesen Gedanken auf kulminierende Grundrechtseingriffe übertrüge. Ob es allerdings tatsächlich zu einer solchen, im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes durchaus begrüßenswerten, Weiterentwicklung des Prozessrechtes kommt, muss bezweifelt405 werden. Der Berliner Verfassungsgerichtshof406 lehnte es jedenfalls ab, im Rahmen einer mittelbaren Rechtssatzverfassungsbeschwerde über einen kulminierenden Grundrechtseingriff zu entscheiden. Beim additiven Grundrechtseingriff seien die Auswirkungen des gesamten Gesetzes zu betrachten und nicht nur die der zunächst mit der Verfassungsbeschwerde angegriffenen. Die nach Fristablauf für die Erhebung der Verfassungsbeschwerde geltend gemachte Belastungskumulation sei als Einführung eines neuen Streitstoffes zu werten, der die inzidente Überprüfung des angegriffenen Gesetzes erheblich ausdehne. Der Verfahrensgegenstand würde nach Fristablauf in unzulässiger Weise erweitert werden. Im Übrigen bestünden auch ernst zu nehmende Zweifel an der Wahrung des Subsidiaritätsgrundsatzes. Der Beschwerdeführer habe es nämlich versäumt, die nun gerügte Belastungskumulation im Verwaltungsverfahren geltend zu machen. Jeder Beschwerdeführer ist deswegen gut beraten, Belastungskumulationen so früh und substanziiert wie möglich zu rügen. Keinesfalls sollte er sich darauf verlassen, das erkennende Gericht werde von einer – im besten Falle – ohnehin nur begrenzt bestehenden Möglichkeit der Erweiterung des Verfahrensstoffes Gebrauch machen.
IV. Anforderungen an die Beschwerdebegründung Ausreichend, aber auch notwendig scheint es zu sein, dass zumindest eine belastende Maßnahme zur Prüfung gestellt und gleichzeitig darauf hingewiesen 404
Bernsdorff, SGb 2011 S. 124 – 125. dieser Frage neutraler der Vorsitzende des Ersten Senates des Bundesverfassungsgerichtes Ferdinand Kirchhof, NZS 2015 S. 7. 406 Verfassungsgerichtshof des Landes Berlin, Beschluss vom 20. Juni 2014 – 96/13 –, juris Rn. 38. 405 Zu
H. Kulminierender Eingriff durch die Kompensationsmaßnahmen
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wird, dass der so bestimmte Beschwerdegegenstand nur ein Teil eines ebenfalls näher zu bezeichnenden Belastungsbündels ist. Zumindest genügte dies dem Gericht, um Subsidiarität und Rechtswegerschöpfung zu bejahen, als ein Beschwerdeführer seine steuerliche Gesamtbelastung zur Prüfung stellte und dabei nur gegen seinen Einkommenssteuerbescheid fach- und verfassungsgerichtlich vorging. Der bestandskräftige Gewerbesteuerbescheid erwies sich nicht als Hindernis, weil der Beschwerdeführer von Anfang an geltend gemacht hatte, dass er sich durch seine gesamtsteuerliche Belastung oberhalb von 50% in seiner Eigentumsfreiheit verletzt sah.407 Nur dann ist es auch möglich, dass „[e]ine für verfassungswidrig erachtete Rechtslage, die sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Einzelregelungen ergibt […] anhand jeder der betroffenen Normen zur Prüfung gestellt werden [kann].“408
V. Darlegungs- und Beweislast Dabei erscheint es in der Tat nicht zu viel verlangt, dem Rechtsschutz suchenden Grundrechtsträger die Darlegungslast für die, einen, seiner Ansicht nach, kulminierenden Grundrechtseingriff statuierenden, tatsächlichen Umstände aufzuerlegen. Immerhin weiß er am besten, von welchen hoheitlichen Maßnahmen er in welcher Weise belastet wird. Ob bzw. inwieweit man ihm dann aber auch die volle Beweislast dafür auferlegen muss409, erscheint jedoch zweifelhaft. Zumindest sollte man nicht zulasten des Grundrechtsträgers von den allgemeinen Regelungen, die ja durchaus den Grundsatz der Amtsaufklärung (§ 26 BVerfGG) des Gerichtes vorsehen, abweichen.
H. Kulminierender Eingriff durch die Kompensationsmaßnahmen Nachdem nun feststeht, anhand welcher Kriterien das Vorliegen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes zu prüfen ist, soll abschließend noch die eingangs410 aufgeworfene Frage beantwortet werden. Gefragt wurde, ob die dau-
407
BVerfGE 115, 97 (107); näher dazu bereits: § 6 B. III. 4. c) aa). BVerfGE 82, 60 (84); vgl. § 6 B. III. 4. c) bb); das übersieht Bernsdorff, SGb 2011 S. 123, der mit Verweis auf Lücke, DVBl 2001 S. 1473 Fn. 27 und S. 1476 meint, es sei noch nicht entschieden, ob eine additive Betrachtung grundrechtserheblich kumulierender legislativer Maßnahmen voraussetzt, dass alle dieser Einzelmaßnahmen zur Überprüfung gestellt sind; neutraler auch: Kirchhof, NZS 2015 S. 7. 409 Schaks, DÖV 2015 S. 826. 410 § 6 A. I. 408
§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
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erhaft angelegten, dirigistischen Eingriffe in die Preisbildung411 in ihrer Gesamtheit einen additiven Grundrechtseingriff darstellen412 und deshalb gute Gründe dafür sprechen, dass die, für sich genommen verfassungsgemäßen Kompensationsmaßnahmen, in ihrer Kumulation die Grenze des wirtschaftlich Zumutbaren überschreiten.413
I. Grundvoraussetzungen Ein vorliegend allein in Betracht kommender, vertikaler kulminierender Grundrechtseingriff setzt die Eingriffsqualität jeder einzelnen kumulierenden und für sich genommen gerechtfertigten Maßnahme, die Zurechenbarkeit zu irgendeinem grundrechtsverpflichteten Hoheitsträger sowie eine im Grundsatz aktuelle Belastungswirkung voraus. Der Grundrechtsträger muss also schon oder noch betroffen sein. Dabei können sowohl Freiheits- als auch Gleichheitsrechte in der Verfassungswidrigkeit kulminieren. In beiden Fällen sind mit den angegriffenen Belastungen einhergehende Entlastungen zu berücksichtigen. Dass die zur Kompensation der erhofften, durch die Beendigung des Bestandsmarktaufrufes aber definitiv weggefallenen, Kostendämpfungseffekte vorgenommenen Grundrechtseingriffe – also insbesondere die Grundrabatterhöhung und die Verlängerung des Preismoratoriums – für sich genommen gerechtfertigt sind, wurde in 411
§ 5 B. II. 3. b).
412 Ausschussdrucksache
18(14)0009(5), S. 31; so bereits zur Einführung von Festbeträgen Sodan, Wirtschaftslenkung im Recht der Arzneimittelversorgung, in: Peter/Rhein (Hrsg.), Wirtschaft und Recht, 1989, S. 94 – 96; zum Beitragssicherungsgesetz aus Sicht der Apotheker, der Hersteller und Großhändler von Pharmazeutika, der Vertragsärzte und Zahntechniker: BVerfGE 114, 196 (242); zur Einführung eines Basistarifs und der teilweisen Portabilität der Alterungsrückstellungen aus Sicht der Unternehmen der privaten Krankenversicherung: BVerfGE 123, 186 (265); zu einer im Beitragssicherungsgesetz angeordneten Nullrunde aus Sicht der Vertragsärzte: Sodan, NJW 2003 S. 1763 – 1764; Sodan, GesR 2004 S. 307; in seiner Stellungnahme zum 14. SGB V Änderungsgesetz [Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 1 – 12] erwähnt er diese Figur allerdings mit keinem Wort; zum Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung: Ausschussdrucksache 18(14)0223(22), S. 24; allgemein zu wirtschaftslenkenden Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen: Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 33 – 34; Hufen, NJW 2004 S. 15; Kluth, ZHR 1998 S. 673; Schmidt-Aßmann, NJW 2004 S. 1691 – 1692. 413 Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 19 – 20; vgl. auch OLG München, PharmR 2014, S. 306 – 307, das bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des AMRabG im Rahmen einer Gesamtabwägung auch die an die GKV zu gewährenden Rabatte als belastendes Element in die Betrachtung einstellt, die diskussionswürdige, belastende umsatzsteuerliche Behandlung der zu gewährenden Rabatte jedoch inkonsequenterweise nicht als belastendes Element des AMRabG anerkennen will.
H. Kulminierender Eingriff durch die Kompensationsmaßnahmen
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§ 5 bereits ausführlich dargelegt. Als geltendes Recht zeitigen diese dem Bundesgesetzgeber zurechenbaren Grundrechtseingriffe, auch eine aktuelle Belastungswirkung. Dasselbe müsste grundsätzlich zwar auch bezüglich der bislang noch nicht gesondert untersuchten, im Rahmen der Problemstellung genannten414, hoheitlichen Maßnahmen gelten. Allerdings müssten dann auch sämtliche dieser Maßnahmen zusammengefasst werden können, um dann in der Verfassungswidrigkeit der ergriffenen Kompensationsmaßnahmen zu kulminieren. Abgesehen davon dürften auch keine ernsthaften Zweifel daran bestehen, dass die meisten Regelungen, die darauf abzielen die Sicherheit, die Unbedenklichkeit, die Wirksamkeit oder den Nutzen eines Arzneimittels sicherzustellen, gerechtfertigt werden können.
II. Kombinationsbetrachtung Im Rahmen der durchzuführenden wertenden Gesamtbetrachtung ist deshalb vorab zu ermitteln, welche hoheitlichen Maßnahmen als Belastungskumulation zusammengefasst werden. Anschließend gilt es zu prüfen, ob ein kulminierender Grundrechtseingriff vorliegt. Indizielle Bedeutung kommt dabei dem gleichen Eingriffszweck, der Betroffenheit desselben Grundrechts, dem Betreffen derselben Lebenswirklichkeit und einer hohen Gesamtbelastungsintensität zu. Darüber hinaus können auch grundrechtsspezifische Kriterien, wie eine angemessene wirtschaftliche Teilhabe, in die Betrachtung eingestellt werden. Eine Konstitutionalisierung des einfachen Rechts – und damit eine zu starke Beschränkung des parlamentarischen Gesetzgebers – gilt es jedoch zu vermeiden. 1. Feststellung der kumulierenden Einzelmaßnahmen Neben Kostendämpfungsaspekten zielen die, in die Betrachtung einzubeziehenden Maßnahmen primär darauf ab den Nutzen, die Sicherheit, die Wirksamkeit, die Unbedenklichkeit sowie die ethisch vertretbare Anwendung bzw. Entwicklung des Arzneimittels sicherzustellen. Daneben sollen auch Einnahmen erzielt werden. Die in Rede stehenden Kompensationsmaßnahmen zielen eindeutig und ausschließlich darauf ab, Kosten zu dämpfen, und mindern somit den wirtschaftlichen Ertrag der pharmazeutischen Industrie. Sie greifen in die Berufsfreiheit der pharmazeutischen Industrie ein und betreffen deren Erwerbstätigkeit. Dabei ergänzen sich die Wirkungen des erhöhten Grundrabattes, des Generikaabschlages, des Impfstoffabschlages und des Preismoratoriums sowie deren Übertragung auf die private Krankenversicherung in geradezu idealer Weise. Dasselbe gilt für die Aut-Idem-Substitution bzw. die Reimportförderung und die vorrangige Abgabe rabattbegünstigter Arzneimittel. Denn dadurch wurde 414
§ 6 A. I.
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§ 6 Kulminierender Grundrechtseingriff
ein starker Anreiz415, wenn nicht sogar ein wirtschaftlicher Zwang der Hersteller dafür geschaffen, Arzneimittelrabattverträge abzuschließen. Diese wirken sich ebenfalls ergebnismindernd für die pharmazeutische Industrie aus. Auch der obligatorischen Kosten-Nutzen-Bewertung innovativer Arzneimittel mit den nachgeschalteten Erstattungsbetragsverhandlungen kommt eine derartige Wirkung zu. Wegen der nur indiziellen Bedeutung des Finalitätskriteriums für das Vorliegen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes ändern daran auch die, neben der Erzielung von Kostendämpfungseffekten intendierte416 Maximierung des Patientennutzens bzw. der Investitionssicherheit nichts. In der Rechtswirklichkeit scheint der Kostendämpfungsaspekt der obligatorischen Kosten-Nutzen-Bewertung von Arzneimitteln ohnehin dominierend zu sein. Mangels Eingriffsqualität muss das fraglos ergebnismindernde Festbetragssystem außerhalb der Gesamtbetrachtung bleiben. Die Festbetragsfestsetzung ist nicht am Grundrecht der Berufsfreiheit der Pharmaunternehmen zu messen. Der Schutzbereich des Art. 12 Abs. 1 GG ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichtes nicht eröffnet, weil den §§ 35, 36 SGB V über die faktisch mittelbaren Folgen für Hersteller und Leistungserbringer hinaus keine berufsregelnde Tendenz zukommt. Die Auswirkungen auf die Berufsausübung sind bloßer Reflex der auf das System der gesetzlichen Krankenversicherung bezogenen Regelung.417 Durch die Festbeträge würden lediglich die Rahmenbedingungen des Wettbewerbs verändert werden, auf deren unveränderte Aufrechterhaltung kein Anspruch besteht.418 Anders verhält es sich wiederum bei der allgemeinen Steuer- und Abgabenbelastung. Diese stellt einen klassischen Eingriff419 dar, der sich unmittelbar ergebnismindernd 415
Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 12 Rn. 15 – 17. BT-Drs. 17/2413, S. 1. 417 BVerfGE 106, 275 (298 f.); dazu bereits: § 4 B. I.; eine Argumentation, die sich grundsätzlich auch auf die Aut-Idem-Substitution und die Reimportförderung übertragen ließe. Das BVerfG, NJW 2002, S. 2772 hat eine Reflexwirkung bezüglich der Aut-Idem-Substitution allerdings ausdrücklich offen gelassen. Ähnlich äußerte sich das BVerfG, NZS 2011, S. 581 zur Ausschreibung von Rabattverträgen gemäß § 130a Abs. 8 SGB V: „Etwaige Auswirkungen auf die allgemeine Preisgestaltung der am Vergabeverfahren teilnehmenden pharmazeutischen Unternehmen stellen sich lediglich als Reflex dar. […] Auch die besondere Marktmacht der Allgemeinen Ortskrankenkassen ändert an der Beurteilung nichts.“ Bezüglich eines beschwerdeführenden Apothekers hat es in NZS 2014, S. 661 die Aut-Idem-Substitution hingegen als gerechtfertigten Eingriff in dessen Berufsausübungsfreiheit angesehen, wobei dieser wegen Verstößen gegen die Aut-Idem-Substitutionspflicht einen pauschalen Vergütungsausschluss hinnehmen musste. 418 BSGE 94, 1 (5); 107, 261; Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 52; vgl. auch: § 5 B. II. 2. b) cc). 419 Eine Abgabepflicht ohne konfiskatorische Wirkung greift jedenfalls in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG ein, BVerfGE 75, 108 (154); 78, 232 (245) 82, 159 (190) 115, 97 (113); vgl. aber die etwas kryptische, in die entgegengesetzte Richtung weisende Formulierung in BVerfGE 12, 341 (347), dass die Auferlegung einer Steuer 416
H. Kulminierender Eingriff durch die Kompensationsmaßnahmen
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auswirkt. Eine Eigenschaft, die man den übrigen, ebenfalls die Erwerbstätigkeit der pharmazeutischen Industrie betreffenden Regelungen absprechen muss. Beispielsweise wirken sich Werbeverbote und Überwachungspflichten nur mittelbar negativ auf das Ergebnis aus. Es kann deshalb festgehalten werden, dass mit Ausnahme der allgemeinen Steuer- und Abgabenbelastung stets zu Kostendämpfungszwecken in die Berufsfreiheit der pharmazeutischen Industrie eingegriffen wird. Außerdem ergänzen sich alle hoheitlichen Maßnahmen in ihren Wirkungen dahingehend, dass sie das wirtschaftliche Ergebnis der Unternehmen der pharmazeutischen Industrie unmittelbar und ohne Zwischenschritte mindern. Sie betreffen folglich dieselbe Normwirklichkeit. Zu weit ginge es, sämtliche Eingriffe unter der Normwirklichkeit der Erwerbstätigkeit der pharmazeutischen Industrie zusammenzufassen. Denn dann wäre keinerlei Unterscheidung zwischen echten und unechten Belastungskumulationen mehr möglich. Aufgabe der Grundrechtsdogmatik kann und darf es aber nicht sein, sämtliche, vom Gesetzgeber unter Umständen ausdrücklich gewollte, Mehrfachbelastungen aus dem Weg zu räumen. Der legislative Gestaltungsspielraum würde dadurch zu stark eingeschränkt werden. Darüber hinaus müsste dann ohnehin zunächst einmal die Vereinbarkeit dieser oftmals europarechtlich determinierten Normen des Arzneimittelrechtes am Maßstab der Unionsgrundrechte gemessen werden. Damit ergibt sich folgendes Zwischenergebnis: Die zu Überprüfung gestellte, echte Belastungskumulation setzt sich aus den in § 5 geprüften und für verfassungsgemäß befundenen Kompensationsmaßnahmen sowie allen anderen, unmittelbar auf das wirtschaftliche Ergebnis der pharmazeutischen Industrie wirkenden Grundrechtseingriffen, zusammen. An der Verfassungsmäßigkeit der, im Rahmen dieser Arbeit nicht gesondert geprüften Einzeleingriffe, besteht auf Basis der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes kein Zweifel. Entweder wurden sie bereits ausdrücklich vom Verfassungsgericht gebilligt420 oder aber die finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung entfaltet ihre außergewöhnlich starke rechtfertigende Kraft421. Schließlich ist auch die allgezwar die wirtschaftliche Freiheit des Einzelnen berühre, aber nicht in den durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten Bereich eingreife, solange dem Betroffenen angemessener Spielraum verbleibe sich als verantwortlicher Unternehmer wirtschaftlich frei zu entfalten. 420 Zur Aut-Idem-Substitution bezüglich eines beschwerdeführenden Apothekers: BVerfG, NZS 2014, S. 661; bezüglich eines pharmazeutischen Unternehmer BVerfG, NJW 2002, S. 2773, wobei bereits die Beschwerdebefugnis verneint wurde. 421 Ausführlich dazu: § 5 B. II. 6.; zur obligatorischen frühen Nutzenbewertung: LSG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 22. Mai 2014 – L 1 KR 108/14 KL ER –, juris Rn. 85 m. w. N.; Köhler, Das gebrochene Preismonopol der Pharmaindustrie, 2013, S. 156 – 159; oftmals wird die Verfassungsmäßigkeit sogar nur aus Patientensicht beurteilt und im Hinblick auf die Rechte der Unternehmen der pharmazeutischen Industrie gewissermaßen vorausgesetzt: Martini, Wie viel ökonomische Rationalität verträgt der Gesundheitsschutz?, in: Baer/Lepsius/Schönberger u. a. (Hrsg.), Jahrbuch des Öffentlichen Rechts der Gegen-
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meine Steuer- und Abgabenbelastung der Unternehmen der pharmazeutischen Industrie im Grundsatz als verfassungsgemäß zu beurteilen.422 2. Wertende Gesamtbetrachtung Ob die auf diese Weise zu einer echten Belastungskumulation zusammengefassten Einzeleingriffe in der Verfassungswidrigkeit zumindest einer, der zur Abschaffung der Bestandsmarktbewertung ergriffenen Kompensationsmaßnahmen kulminieren, ist im Übrigen im Wege einer wertenden Gesamtbetrachtung zu ermitteln. a) Saldierung Dabei sind, spiegelbildlich mit den angegriffenen Belastungen, einhergehende Entlastungen zu berücksichtigen. Entlastende Wirkungen können nicht losgelöst von den Kriterien beurteilt werden, die mehrere an sich verfassungsgemäße Maßnahmen zu einer echten Belastungskumulation werden lassen. Sie stehen in einer Art Wechselwirkungsverhältnis zueinander. Analog zu dem soeben zur Feststellung der echten Belastungskumulation Gesagten ist deswegen danach zu fragen, ob etwaige Entlastungen den selben Grundrechtsträger im selben Grundrecht zu Entlastungszwecken bzw. in der selben Normwirklichkeit betreffen, wobei den genannten Kriterien ebenfalls nur indizielle Bedeutung zukommt. Richtschnur muss auch hier die möglichst realitätsgerechte Abbildung der tatsächlichen Entlastungssituation sein. aa) Kostenerstattungsmöglichkeit Gemessen an diesen Maßstäben ist die durch das AMNOG geschaffene Möglichkeit des Versicherten, anstelle der Sachleistung in Form des Aut-Idem-Rabattarzneimittels Kostenerstattung zu wählen, als entlastendes Element zu werten (§§ 13 Abs. 2 S. 11, 129 Abs. 1 S. 5 SGB V). Die Versicherten sind dadurch nicht mehr an diejenigen Arzneimittel gebunden, über die ihre Krankenversicherung mit dem Hersteller einen Rabattvertrag nach § 130a Abs. 8 SGB V geschlossen hat bzw. die nach den Bestimmungen des Rahmenvertrages als preisgünstigstes Arzneimittel abzugeben wären. Entstehen der Krankenkasse durch die Wahl des Versicherten keine Mehrkosten, ist es ihr untersagt, die von ihren Versicherten
wart, 2015, S. 213 – 250; Münkler, Kosten-Nutzen-Bewertungen in der gesetzlichen Krankenversicherung, 2015, 237 – 323. 422 Zur Rechtfertigung der allgemeinen Steuer- und (Sozial-)Abgabenbelastung: Heinig, Der Sozialstaat im Dienst der Freiheit, 2008, S. 555 – 580; Schmidt-Aßmann, NJW 2004 S. 1692 jeweils m. w. N.
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geltend gemachten Kostenerstattungsansprüche zu kürzen.423 Die von den Herstellern als belastend empfundene, zwangsweise durchgeführte Aut-Idem-Substitution sowie die mit ihr verbundene Anreizwirkung, deswegen selbst Rabattverträge abschließen zu müssen, wird zwar nicht vollständig kompensiert, aber doch merklich abgemildert. Das Heft des Handelns liegt damit wieder beim pharmazeutischen Unternehmer, der den Patienten und seinen Behandler von den besonderen, einen Aufpreis rechtfertigenden Vorzügen seines Präparates überzeugen kann. Diese Möglichkeit wurde durch das AMNOG und damit durch dasselbe Gesetz geschaffen, durch das die obligatorische frühe Nutzenbewertung von innovativen Arzneimitteln – und damit ein Teil der zu überprüfenden Belastungskumulation – verbindlich eingeführt wurde. Sie betrifft auch mittelbar-faktisch424 das Grundrecht der Berufsfreiheit der pharmazeutischen Unternehmen. Wenngleich sie nicht unmittelbar ergebniswirksam ist – die Entscheidung über die Zuzahlung liegt beim Versicherten – kann man bei wertender Betrachtung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände dennoch sagen, dass dieselbe Normwirklichkeit betroffen ist. bb) Erhöhter Herstellerrabatt Dasselbe müsste für den nicht verlängerten, erhöhten Herstellerrabatt von 16 Prozentpunkten (§ 130a Abs. 1a S. 1 SGB V) gelten, wenn man – zusammen mit der Gesetzesbegründung425 zum 14. SGB V Änderungsgesetz – den der pharmazeutischen Industrie auf diese Weise wieder zugeflossenen Betrag von über einer Milliarde Euro als entlastendes Moment berücksichtigen will. Gelänge dies, so würde die Erhöhung des Herstellerabschlages von sechs auf sieben Prozentpunkte im Zusammenspiel mit dem verlängerten Preismoratorium nicht nur vollständig kompensiert, sondern sogar noch ein Überschuss von etwa 200 Millionen Euro erwirtschaftet werden. Ausweislich der Gesetzesbegründung426 führen die ergriffenen Kompensationsmaßnahmen zu einer jährlichen Entlastung der gesetzlichen Krankenversicherung von etwa 0,7 Milliarden Euro427. Hiervon entfallen etwa 0,6 423 BT-Drs. 17/2413, S. 18; Meier/Czettritz/Gabriel/Kaufmann, Pharmarecht, 2014, § 12 Rn. 20. 424 Siehe aber: Fn. 417. 425 BT-Drs. 18/201, S. 5; siehe auch: § 5 B. II. 3. b) bb). 426 BT-Drs. 18/201, S. 5. 427 Die tatsächliche Belastung könnte deutlich niedriger sein als vom Gesetzgeber angenommen. Ausweislich des Pharmamarktberichtes September 2015 der IMS Health GmbH & Co OHG wird die GKV durch Herstellerabschläge im Zeitraum Januar 2015 bis September 2015 um 1,8 Milliarden Euro entlastet. Auf das gesamte Jahr 2015 hochgerechnet ergibt sich somit eine Belastung der pharmazeutischen Industrie von 2,4 Milliarden Euro. Die Erhöhung um einen Prozentpunkt belastete die pharmazeutische Industrie demnach mit 0,34 Milliarden Euro. Dabei ist das durch die Kompensationsmaßnahmen nicht
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Milliarden Euro auf die Verlängerung des Preismoratoriums und etwa 0,1 Mrd. Euro auf den um einen Prozentpunkt erhöhten Herstellerabschlag. In der Privaten Krankenversicherung wird mit einer Entlastung von etwa 70 Millionen Euro428 jährlich kalkuliert. Insgesamt wird die pharmazeutische Industrie deswegen mit etwa 0,8 Milliarden Euro durch die Kompensationsmaßnahmen belastet. Nachdem soeben Gesagten spricht diese unmittelbare Ergebniswirksamkeit für die Unternehmen der pharmazeutischen Industrie – genauer für die Unternehmen der forschenden Arzneimittelindustrie, denn Hersteller von festbetragsfähigen oder generischen Arzneimitteln waren ausgenommen – dafür, von derselben Normwirklichkeit auszugehen. Diese Grundrechtsträger sind davon auch in denselben Ausprägungen der Berufsfreiheit betroffen wie durch die Kompensationsmaßnahmen. Auch schließen sich die ergriffenen Kompensationsmaßnahmen in zeitlicher Hinsicht nahtlos an das Auslaufen des erhöhten Herstellerrabattes an, weswegen viel dafür spricht, dem in der Gesetzesbegründung anklingenden Kompensationsgedanken nicht nur politische, sondern auch rechtliche Bedeutung beizumessen. Allerdings verbleibt im Vergleich zur Rechtfertigung der punktuellen Einzeleingriffe bestenfalls ein sehr geringer eigenständiger Argumentationshaushalt. Die gleichen Argumente wurden im Wesentlichen bereits bei der Rechtfertigung der Einzeleingriffe angeführt429. Deswegen können diese Entlastungen im Rahmen der Saldierung auf Ebene des kulminierenden Grundrechtseingriffes nicht noch einmal zur Saldierung der Gesamtbelastung herangezogen werden. cc) Dossiererstellung, Erstattungsbeträge, Biosimilars Dasselbe gilt auch für den Wegfall der ebenfalls unmittelbar ergebniswirksamen und relativ aufwendigen Dossiererstellung sowie der aus dem Bestandsbetroffene und deshalb eigentlich herauszurechnende Einsparvolumen durch Erstattungsbeträge im Gesamtbetrag von 2,4 Milliarden sogar noch enthalten, eigene Berechnungen auf Basis der in: IMS Health GmbH & Co OHG, IMS Health Marktbericht Entwicklung des deutschen Pharmamarktes im September 2015, S. 5 genannten Zahlen. Auch die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/10208, S. 4) zum AM-VSG schätzt das Einsparpotenzial des gesamten Preismoratoriums mit 1,5 bis 2 Milliarden Euro jährlich nunmehr deutlich niedriger ein, als die Gesetzesbegründung zum 14. SGB V Änderungsgesetz. 428 Die tatsächliche Belastung könnte deutlich niedriger sein als vom Gesetzgeber angenommen. Ausweislich des Pharmamarktberichtes September 2015 der IMS Health GmbH & Co OHG erhöhten sich die an die PKV wegen der ergriffenen Kompensationsmaßnahmen zu gewährenden Abschläge im Zeitraum Januar 2015 bis September 2015 um 14% auf 233 Millionen Euro. Auf das gesamte Jahr 2015 hochgerechnet ergibt sich somit eine Mehrbelastung der pharmazeutischen Industrie von 44,38 Millionen Euro, eigene Berechnungen auf Basis der in: IMS Health GmbH & Co OHG, IMS Health Marktbericht Entwicklung des deutschen Pharmamarktes im September 2015, genannten Zahlen. Die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/10208, S. 4) zum AM-VSG schätzt das jährliche Einsparpotenzial in der PKV nunmehr auf etwa 90 Millionen Euro. 429 § 5 B. II. 8. d).
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marktaufruf resultierenden finanziellen Nachteile. Der Grundrabatt wurde nicht nur ausdrücklich wegen des Wegfalls der erhofften finanziellen Vorteile aus der abgeschafften Bestandsmarktbewertung angehoben. Er betrifft darüber hinaus auch dasselbe Grundrecht in den exakt gleichen Ausprägungen der jeweiligen punktuellen Eingriffe sowie dieselbe Normwirklichkeit. Jedoch wurden auch hier die gleichen Argumente ebenfalls bereits bei der Rechtfertigung der Einzeleingriffe angeführt430. Genauso verhält es sich mit den Vorteilen431 für die Hersteller von Biosimilars. b) Konstitutionalisierung Unabhängig davon zu beurteilen ist allerdings, ob die Annahme eines kulminierenden Grundrechtseingriffes im Falle der ergriffenen Kompensationsmaßnahmen den legislativen Gestaltungsspielraum noch hinreichend respektieren würde. So hat sich der Gesetzgeber bewusst dafür entschieden, einerseits die aus dem Bestandsmarktaufruf und dem erhöhten Herstellerrabatt resultierenden finanziellen Belastungen der Unternehmen zu beseitigen. Gleichzeitig sollten sie aber durch den um einen Prozentpunkt erhöhten Grundrabatt und die Verlängerung des Preismoratoriums belastet werden. Dem Gesetzgeber steht es allerdings frei, eine zu stark belastende und deshalb für verfassungswidrig erachtete Rechtslage, die sich aus dem Zusammenwirken mehrerer Einzelregelungen ergibt, entweder durch Beseitigung einer der zusammenwirkenden Belastungen oder aber durch das Schaffen neuer Begünstigungen zu beheben.432 Abgesehen davon, dass die Verfassungswidrigkeit bislang sowohl bei punktueller als auch bei holistischer Betrachtungsweise fragwürdig erscheint, hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, die Belastungsverteilung innerhalb des betroffenen Wirtschaftssektors zu verschieben, ohne dass die Gesamtbelastung für den betroffenen Sektor signifikant steigt. Durch die Beendigung des Bestandsmarktaufrufes sowie den Verzicht auf die Verlängerung des erhöhten Herstellerrabattes werden vor allen Dingen die forschenden Arzneimittelunternehmen entlastet, während die Verlängerung des Preismoratoriums und der erhöhte Grundrabatt grundsätzlich einmal den gesamten Wirtschaftssektor belasten. Diese gesetzgeberische Grund entscheidung würde missachtet werden, wenn man die ergriffenen Kompensationsmaßnahmen in der Verfassungswidrigkeit kulminieren ließe.
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§ 5 B. II. 8. d). § 5 B. II. 8. c) cc). 432 BVerfGE 82, 60 (83 f.); § 6 B. III. 4. c) bb). 431
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c) Gesamtbelastungsintensität Trotzdem wäre es im Wege der anzustellenden wertenden Gesamtbetrachtung noch möglich, dass dennoch ein kulminierender Grundrechtseingriff vorliegt. Grundsätzlich einmal kann ein „Minus“ in einem Bereich durch ein „Plus“ in einem anderen Bereich ausgeglichen werden. Ein solches „Plus“ könnte die vom Bundesverfassungsgericht433 zuletzt zur Bestimmung eines kulminierenden Grundrechtseingriffes herangezogene, objektivierbare Gesamtbelastungsintensität sein. Durch die zur Überprüfung gestellten Kompensationsmaßnahmen, die letztlich nur eine Umverteilung der Gesamtbelastung innerhalb des betroffenen Wirtschaftssektors bewirken, wird die Gesamtbelastungsintensität jedoch keinesfalls signifikant erhöht. In Zahlen ausgedrückt hat sich der Gesetzgeber dafür entschieden, die gesamte pharmazeutische Industrie mit etwa 0,8 Milliarden Euro434 zu belasten, sie aber gleichzeitig mit etwa 1,5 Milliarden Euro zu entlasten. Auch wenn sich die vom Gesetzgeber selbst gehegten Zweifel435 an der tatsächlichen Realisierbarkeit der durch die Bestandsmarktbewertung erhofften Einsparungen in Höhe von 500 Millionen Euro bewahrheitet hätten, wäre noch ein Überschuss von 200 Millionen Euro zugunsten der pharmazeutischen 433
BVerfG, NJW 2014, S. 3638 – 3639. Die tatsächliche Belastung könnte sogar deutlich niedriger sein als vom Gesetzgeber angenommen. Ausweislich des Pharmamarktberichtes September 2015 der IMS Health GmbH & Co OHG wird die GKV durch Herstellerabschläge im Zeitraum Januar 2015 bis September 2015 um 1,8 Milliarden Euro entlastet. Auf das gesamte Jahr 2015 hochgerechnet ergibt sich somit eine Belastung der pharmazeutischen Industrie von 2,4 Milliarden Euro. Die Erhöhung um einen Prozentpunkt belastete die pharmazeutische Industrie demnach mit 0,34 Milliarden Euro. Dabei ist das durch die Kompensationsmaßnahmen nicht betroffene, und deshalb eigentlich herauszurechnende, Einsparvolumen durch Erstattungsbeträge im Gesamtbetrag von 2,4 Milliarden sogar noch enthalten, eigene Berechnungen auf Basis der in: IMS Health GmbH & Co OHG, IMS Health Marktbericht Entwicklung des deutschen Pharmamarktes im September 2015, S. 5 genannten Zahlen. Auch die Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/10208, S. 4) zum AM-VSG schätzt das Einsparpotenzial des gesamten Preismoratoriums mit 1,5 bis 2 Milliarden Euro jährlich nunmehr deutlich niedriger ein als die Gesetzesbegründung zum 14. SGB V Änderungsgesetz. Der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 18/10208, S. 4) zum AM-VSG gemäß, soll das jährliche Einsparpotenzial in der PKV bei etwa 90 Millionen Euro liegen. Tatsächlich könnte die erhoffte jährliche Einsparung aber deutlich geringer als die avisierten 70 bzw. 90 Millionen Euro ausfallen. Ausweislich des Pharmamarktberichtes September 2015 der IMS Health GmbH & Co OHG erhöhten sich die an die PKV wegen der ergriffenen Kompensationsmaßnahmen zu gewährenden Abschläge im Zeitraum Januar 2015 bis September 2015 um 14% auf 233 Millionen Euro. Auf das gesamte Jahr 2015 hochgerechnet ergibt sich somit eine Mehrbelastung der pharmazeutischen Industrie von 44,38 Millionen Euro pro Prozentpunkt Herstellerabschlag, eigene Berechnungen auf Basis der in: IMS Health GmbH & Co OHG, IMS Health Marktbericht Entwicklung des deutschen Pharmamarktes im September 2015, genannten Zahlen. 435 Vgl. BT-Drs. 18/201, S. 8. 434
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Industrie festzustellen gewesen. Die Gesamtbelastungsintensität wurde folglich eher gemindert als verstärkt. Dies gilt umso mehr, wenn man auch die entlastende Wirkung des aufgrund des AM-VSG mit Wirkung zum 01. 07. 2018 jährlich durchzuführenden Inflationsausgleichs berücksichtigt. Einen deutlich gravierenderen Effekt zeitigte die, durch das AMNOG eingeführte, obligatorische Kosten-Nutzen-Bewertung innovativer Arzneimittel, wenngleich man mit derzeit ca. 442,7 Millionen Euro436 noch weit von den ursprünglich avisierten 2 Milliarden Euro437 entfernt ist. Eine Belastung, die für sich genommen aber noch keinen kulminierenden Grundrechtseingriff zu begründen vermag, selbst wenn man ihre deutlich steigende Tendenz mitberücksichtigt. Gegenüber dem punktuellen Eingriff durch das AMNOG bleibt die Eingriffsintensität nämlich unverändert. An diesem Befund ändert sich auch nichts, wenn man die zeitliche Komponente in die Betrachtung mit einbezieht. So ist es sicher richtig, dass sich die aus dem Bestandsmarktaufruf resultierenden – ohnehin nur potenziellen – Belastungen mit dem sukzessiven Auslaufen des Unterlagenschutzes (§ 24b AMG) für das letzte Bestandsmarktpräparat bis spätestens 31. 12. 2018438 qua Zeitablauf erledigt hätten. Daraus darf aber nicht geschlossen werden, dass die ergriffenen Kompensationsmaßnahmen die Gesamtbelastungsintensität erhöhen, weil es an einer solchen, gewissermaßen natürlichen, zeitlichen Begrenzung fehlt. Die Zwangsrabattierungsinstrumente und das ursprünglich bis zum 31. 12. 2017 zeitlich befristete Preismoratorium sind nämlich als eine Funktionseinheit zu sehen.439 Dabei hat der Gesetzgeber in der Vergangenheit durchaus Nachholeffekte zugelassen, weswegen man ihm nicht einmal in praktischer Hinsicht unterstellen kann, er habe sich bereits jetzt, über diesen Termin hinaus, faktisch gebunden. Von der Warte des Gesetzgebers aus, der das 14. SGB V Änderungsgesetz verabschiedet hat, endeten die mit der Abschaffung des Bestandsmarktsaufrufes ergriffenen Kompensationsmaßnahmen damit ein Jahr vor Ablauf des letzten Schutzrechtes für Bestandsmarktpräparate. Die sich aus dem sukzessiven Ablauf der Schutzrechte ergebende Erhöhung der Gesamtbelastungsintensität – immerhin wird das ein oder andere Präparat be436 Schaufler/Telschow, Ökonomische Aspekte des deutschen Arzneimittelmarktes 2014, in: Schwabe/Paffrath (Hrsg.), Arzneiverordnungs-Report 2015, 2015, S. 225 – 226; die aus Erstattungsbeträgen resultierenden Einsparungen scheinen sich aber in den ersten drei Quartalen des Jahres 2015 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 119% gesteigert zu haben, dazu: IMS Health GmbH & Co OHG, IMS Health Marktbericht Entwicklung des deutschen Pharmamarktes im September 2015, S. 34. 437 BT-Drs. 17/2413, S. 38, wobei dieses Einsparvolumen einen gleichzeitigen Bestandsmarktaufruf und eine vollständige Marktdurchdringung innovativer Arzneimittel nach ihrem Markteintritt voraussetzte. 438 Ausschussdrucksache 18(14)0009(7), S. 5; Ausschussdrucksache 18(14)0009(10), S. 1; vgl. Wille, Ausschussdrucksache 18(14)0009(14), S. 1 – 2. 439 Ausführlich zu diesem Aspekt: § 5 B. II. 3. b).
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reits weit vor dem 31. 12. 2017 dem generischen Wettbewerb ausgesetzt sein – erschien ihm vernachlässigbar. Das am Ende der 18. Legislaturperiode verabschiedete Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung bestimmt zwar nun den 31. 12. 2022 als Endtermin und geht damit deutlich über den 31. 12. 2018 hinaus. Gleichzeitig führt es aber auch einen, an den Verbraucherpreisindex gekoppelten, von Gesetzes wegen jährlich durchzuführenden Inflationsausgleich ein. Abgesehen davon ist die wirtschaftliche Situation der pharmazeutischen Industrie nach wie vor gut440, wenngleich die zunehmende staatliche Kostenkontrolle, der rapide wachsende Generikamarkt, das zunehmende Aufkommen biopharmazeutischer Präparate sowie der stark gestiegene Innovationswettbewerb der Unternehmen nebst entsprechend steigenden Kosten für Forschung und Entwicklung durchaus ihre Spuren in den Unternehmensbilanzen hinterlassen haben.441 3. Ergebnis Im Ergebnis steht fest, dass die angeblich dauerhaft angelegten, dirigistischen Eingriffe in die Preisbildung sowie die faktische Selbstbindung des Gesetzgebers in ihrer Gesamtheit nicht in der befürchteten Verfassungswidrigkeit der ergriffenen Kompensationsmaßnahmen kulminieren. Die für sich genommen verfassungsgemäßen Maßnahmen zur Kompensation der weggefallenen, erhofften kostendämpfenden Effekte aus dem Bestandsmarktaufruf, überschreiten in ihrer kumulativen Belastungswirkung die Grenze des wirtschaftlich Zumutbaren nicht. Sie sind vollumfänglich verfassungsgemäß.
440 Siehe beispielsweise: Statista GmbH, Top 20 Pharmaunternehmen nach Gewinnspanne in den Jahren 2012 bis 2014, S. 1; speziell zu den Umsatzzahlen der einzelnen Unternehmen in Deutschland: Schaufler/Telschow, Ökonomische Aspekte des deutschen Arzneimittelmarktes 2014, in: Schwabe/Paffrath (Hrsg.), Arzneiverordnungs-Report 2015, 2015, S. 253 – 257. 441 Berndt/Nass/Kleinrock/Aitken, Health affairs (Project Hope) 2015, S. 250 – 251.
§ 7 Resümee § 7 Resümee
Der Umgang mit Belastungskumulationen stellt die herkömmliche Grundrechtsdogmatik vor besondere Herausforderungen. Herausforderungen, die angesichts der umfangreichen, vermeintlich keine Schutzlücken aufkommen lassenden Weite grundrechtlicher Schutzbereiche, im Zusammenspiel mit dem modernen Eingriffsverständnis künftig eher zu- als abnehmen werden. So sieht sich jeder Grundrechtsträger und insbesondere die im öffentlich-rechtlich dominierten Gesundheitswesen tätigen Leistungserbringer, mit einer Vielzahl an gerechtfertigten, gleichwohl aber belastenden Grundrechtseingriffen konfrontiert. Diese zielen insbesondere darauf ab, Kosten zu dämpfen sowie den Nutzen, die Sicherheit, die Wirksamkeit und die Unbedenklichkeit einer Gesundheitsleistung zu gewährleisten. Daneben wird auch aus ethischen und fiskalischen Gründen sehr häufig in die Grundrechte von im Gesundheitswesen tätigen Unternehmern bzw. Unternehmen eingegriffen. Es ist deswegen begrüßenswert, wenn Rechtsprechung und Literatur auch Grundrechtsschutz gegen kulminierende Grundrechtseingriffe1 gewähren wollen. Verschiedene einzelne, für sich betrachtet geringfügige Eingriffe in grundrechtlich geschützte Bereiche können nämlich in ihrer Gesamtwirkung zu einer schwerwiegenden Beeinträchtigung führen, die das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität überschreitet.2 Andererseits darf es sich die Grundrechtsdogmatik auch nicht zur Aufgabe machen, jegliche Mehrfachbelastung mit Verweis auf eine vermeintlich unzumutbare Belastungskumulation aus dem Weg zu räumen.3 Der legislative Gestaltungsspielraum würde zu stark eingeengt werden. Aufgabe der Grundrechtsdogmatik ist es vielmehr, zwischen diesen beiden Polen zu vermitteln und eine tragfähige Lösung für das, primär aus dem punktuellen Eingriffsverständnis resultierende Phänomen der Belastungskumulation zu finden. Dabei darf man allerdings nicht der Versuchung erliegen, die Abgrenzung zwischen zulässiger Mehrfachbelastung und dem Kulminieren in der Verfassungswidrigkeit anhand der gerne verwendeten Formel vom zweckidentischen Eingriff vorzunehmen. Für eine kumulative Gesamtbetrachtung ist es nicht erforderlich, dass es sich um Eingriffe mit gleichem Regelungsziel in dasselbe Grund1 Ausführlich zu den synonym zu verwendenden Begrifflichkeiten des additiven, kumulativen oder summativen Grundrechtseingriffes: § 6 B. I. 2 BVerfGE 123, 186 (266); 130, 372 (392). 3 Klement, AöR 2009 S. 54; Kloepfer, VerwArch 1983 S. 223.
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recht4 oder den gleichen Lebensbereich5 handelt. Auch ist die Abgrenzung zur schlichten Mehrfachbelastung nicht anhand der, im Wesentlichen die gleichen Regelungsziele verfolgenden, in ihren belastenden Wirkungen wechselseitig verstärkenden, hoheitlichen Akte durchzuführen.6 Denn dies liefe auf eine Rückkehr zum klassischen, ein finales Element erfordernden Eingriffsbegriff hinaus. Man gäbe dem Grundrechtsträger Steine statt Brot, wenn man ihm keinen Schutz gegen mittelbar-faktische Belastungskumulationen gewähren wollte. Der Zweck des kulminierenden Grundrechtseingriffes, nämlich die realitätsgerechte Abbildung und Berücksichtigung der tatsächlichen Gesamtbelastungssituation, würde verfehlt werden. Gleichwohl ist dem, erstmals von Jörg Lücke7 explizit formulierten Gedanken des zweckidentischen Grundrechtsgesamteingriffes, eine natürliche Überzeugungskraft immanent. Was liegt näher, als bei mehreren, für sich genommen gerechtfertigten Grundrechtseingriffen in dasselbe Grundrecht, zur Erreichung eines einheitlichen gemeinsamen Zweckes, das Vorliegen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes zu erwägen? Ähnlich verhält es sich mit der auf eine völlige Neukonzeption der Grundrechtsdogmatik hinauslaufenden Lehre von der Normwirklichkeit. Eine unzumutbare kumulative Belastung sei demnach zu bejahen, wenn die hoheitlichen Maßnahmen einen vergleichbaren Gegenstand und denselben Adressaten in derselben Normwirklichkeit treffen. Maßgeblich sei der Wirkungszusammenhang. Würden Maßnahmen getrennt voneinander wirken, beträfe ein Eingriff also beispielsweise allein die Privatsphäre, ein anderer Eingriff hingegen ausschließlich den Bereich des Erwerbs, ergänzten sich die belastenden Wirkungen dieser Maßnahmen nicht. Anders verhielte es sich jedoch bei lohnsteuerrechtlichen, sozialrechtlichen und kommunikationsrechtlichen 4 So aber: Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 130 Rn. 308; Lücke, DVBl 2001 S. 1470; Schaks, DÖV 2015 S. 822; ausführlich zum Erfordernis der Grundrechtsidentität: § 6 D. III. 2. 5 So aber: FG Bremen, EFG 2014, S. 964 – 968; FG Hamburg, EFG 2014, S. 2098 – 2104; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 26. November 2013 – 14 A 2401/13 –, juris Rn. 17 – 18; VG Saarland, Urteil vom 12. Dezember 2014 – 1 K 354/13 –, juris Rn. 134; Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 97. 6 So aber: Detterbeck, Öffentliches Recht, 2015, S. 130 Rn. 308; Hillgruber, in: Isensee, HStR IX, 2011, § 200 Rn. 97; Kluth, ZHR 1998 S. 674; Lücke, DVBl 2001 S. 1470; in diese Richtung zunächst auch Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 143 – 144; a. a. O. S. 157, die dann aber einen eigenständigen Ansatz entwickelt; Peine, in: Merten/Papier, Hdb GR III, 2009, § 57 Rn. 53 – 54; Schaks, Der Grundsatz der finanziellen Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung, 2007, S. 133. 7 Lücke, DVBl 2001 S. 1470; ausführlich dazu: § 6 D. III.; zuvor hatte bereits Kluth, ZHR 1998 S. 674 einen von den Voraussetzungen her ähnlichen Ansatz rudimentär skizziert.
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Verwaltungslasten des Arbeitgebers. Hier wäre der Arbeitgeber nämlich stets in seinem Betrieb und damit in der Normwirklichkeit der Erwerbstätigkeit betroffen.8 Es spricht deshalb viel dafür, dem gleichen Eingriffszweck, der Betroffenheit desselben Grundrechts, dem Betreffen derselben Lebenswirklichkeit und einer hohen Gesamtbelastungsintensität indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes beizumessen. Keine indizielle Bedeutung für das Vorliegen eines kulminierenden Grundrechtseingriffes kommt der Betroffenheit desselben Grundrechtsträgers zu. Anders als die vorangegangenen Ausführungen vermuten lassen, kann ein solcher Eingriff nämlich auch dann vorliegen, wenn mehrere Personen vom selben, jeweils gerechtfertigten Grundrechtseingriff betroffen sind. Das überrascht insofern, als dass diese Situation den verfassungsrechtlichen Normalfall darstellt. Andernfalls stünden nämlich Verstöße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) sowie das Erfordernis eines allgemeinen und nicht nur für den Einzelfall geltenden Gesetzes (Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG) im Raum.9 Außerdem verschlechtert sich für den Einzelnen nichts, wenn auch andere einen Nachteil erleiden.10 Nachvollziehbar wird die Annahme einer derartigen „verfassungswidrigen Breitenwirkung“11 erst dann, wenn man sich von der isolierten Betrachtung der Grundrechte als subjektive Abwehrrechte löst. Bezieht man ihre objektiv-rechtliche Dimension mit ein, lässt sich erklären, weshalb eine ganze Kaskade an Entscheidungen12 die Verfassungswidrigkeit diverser gefahrenabwehr- oder strafrechtlichen Ermächtigungsgrundlagen feststellten. Sie ermöglichten dem Staat nämlich anlasslose, grundrechtseingreifende Ermittlungen gegenüber Jedermann ins Blaue hinein. Beispielsweise soll eine automatisierte Kennzeichenerfassung, der jedermann nur deshalb ausgesetzt ist, weil er mit einem Fahrzeug eine anlasslos oder gar dauerhaft eingerichtete Kontrollstelle passiert, den Eindruck ständiger Kontrolle erwecken. Durch das sich einstellende Gefühl des Überwachtwerdens entstünden Einschüchterungseffekte, die nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beträfen, sondern die Fortbewegungsfreiheit der Gesellschaft insgesamt.13 Wegen dieser entindividualisierenden Grundrechtsauslegung 8 Bronkars, Kumulative Eigentumseingriffe, 2007, S. 96; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 17 – 19; Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 28 – 29; Kirchhof, NJW 2006 S. 735; sehr ähnlich auch: Winkler, JA 2014 S. 884 – 886; ausführlich zur Lehre von der Normwirklichkeit: § 6 D. II. 9 Klement, AöR 2009 S. 45 – 46; Lee, Umweltrechtlicher Instrumentenmix und kumulative Grundrechtseinwirkungen, 2013, S. 97. 10 Klement, AöR 2009 S. 46. 11 Kirchhof, Grundrechte und Wirklichkeit, 2007, S. 31 – 32. 12 BVerfGE 100, 313; 113, 29; 115, 320; 120, 378 (430); 121, 1; 122, 120; vgl. 133, 277. 13 BVerfGE 120, 378 (430); ausführlich dazu: § 6 B. III. 3. sowie Greve, Access-Blocking – Grenzen staatlicher Gefahrenabwehr im Internet, 2012, S. 226 Fn. 103.
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kann der Betroffenheit desselben Grundrechtsträgers für das Vorliegen eines derartigen als horizontal bezeichneten, kulminierenden Grundrechtseingriffes keine indizielle Bedeutung zukommen. Ohnehin scheint es diese Auslegung nahezulegen, für den horizontalen Grundrechtseingriff eine eigene Dogmatik zu entwickeln. Steht allerdings der eingangs geschilderte vertikale, kulminierende Grundrechtseingriff zur Diskussion, geht es um die Berücksichtigung der tatsächlichen Belastungssituation eines bestimmten Grundrechtsträgers. Die Betroffenheit desselben Grundrechtsträgers ist somit Grundvoraussetzung dafür, um überhaupt in die Diskussion einsteigen zu können. Darüber hinausgehende Indizwirkungen vermag man ihr deshalb nicht zuzuerkennen. Ob aber ein, in der Verfassungswidrigkeit einer Eingriffsserie gipfelnder, vertikaler, kulminierender Grundrechtseingriff vorliegt, ist selbst bei Vorliegen sämtlicher Indizien noch nicht entschieden. Im Interesse einer möglichst realitätsgerechten Abbildung der aktuellen14 tatsächlichen Belastungssituation sind nämlich mit der Eingriffsserie einhergehende, entlastende Elemente genauso zu berücksichtigen15 wie gerechtfertigte Diskriminierungen16. Zudem gilt es auch, die bereits angedeutete, mit einer weiteren Konstitutionalisierung der Rechtsordnung verbundene Einengung der Handlungsspielräume des ohnehin um seine Bedeutung ringenden Parlamentes, zu vermeiden.17 Condicio sine qua non für das Vorliegen eines vertikalen kulminierenden Grundrechtseingriffes ist, dass sämtliche, in der zu überprüfenden Belastungskumulation, zusammengefassten Maßnahmen, einem Hoheitsträger zurechenbar sind. Dabei ist im Grundsatz von einer Einheit der öffentlichen Hand auszugehen, weswegen es nicht darauf ankommt, dass die kumulierenden Maßnahmen stets auf denselben Hoheitsträger zurückzuführen sind.18 Die Summe der sehr heterogenen, an die Figur des kulminierenden Grundrechtseingriffes gestellten Anforderungen, zwingt dazu, neue Wege zu beschreiten. Insofern ist dem Bundesverfassungsgericht19 beizupflichten, wenn es formuliert: 14
Ausführlich dazu: § 6 D. III. 3. Ausführlich dazu: § 6 E. 16 Ausführlich dazu: § 6 D. III. 2. b). 17 Vgl. Lepsius, Der Staat 2013 S. 181 – 182; Michael, Die Verwaltung 2014 S. 450, neutraler: Winkler, JA 2014 S. 887, die eine durch den kulminierenden Grundrechtseingriff forcierte „funktionale Kräfteverschiebung zwischen verfassungsgerichtlicher und parlamentarischer Gewalt“ als notwendige Folge seiner Anerkennung zu akzeptieren scheint; ausführlich dazu: § 6 F. II. 2. 18 Ausführlich dazu: § 6 B. III. 4. c) gg). 19 BVerfGE 130, 372 (392); anders wiederum der nachfolgende Nichtannahmebeschluss, BVerfG, NJW 2014, S. 3638, der nur Bezug auf BVerfGE 112, 304 (319 f.); 114, 196 (247); 123, 186 (265 f.) nimmt und einen kulminierenden Grundrechtseingriff mit aus15
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„Ob eine Kumulation von Grundrechtseingriffen das Maß der rechtsstaatlich hinnehmbaren Eingriffsintensität noch wahrt, hängt von einer Abwägung aller Umstände ab, in die auch gegenläufige Verfassungsbelange einzubeziehen sind.“
Sein Bewenden darf es damit allein dann aber nicht haben. Zu Recht sähe man sich dem Einwand ausgesetzt, dass eine solche Freiheitsgesamtbilanz, im Sinne eines globalen Kosten-Nutzen-Vergleiches, kaum justiziabel wäre. Der im Normsetzungsverfahren geführte politische Diskurs würde im Normenkontrollverfahren fortgeführt werden.20 Der Figur des kulminierenden Grundrechtseingriffs würde es an Bestimmtheit mangeln. Sie verkäme zum reinen Billigkeitsinstrument. Dem lässt sich durch das Verwenden besagter Indizien entgegenwirken. Umso mehr Indizien erfüllt sind, umso eher ist dann eine holistische Betrachtungsweise der einzelnen Grundrechtseingriffe angezeigt. Angezeigt kann sie aber auch sein, wenn ein besonders stark ausgeprägtes Indiz weniger stark ausgeprägte kompensiert. Umgekehrt wird somit auch berechenbarer, welche entlastenden Elemente berücksichtigt werden müssen. Die Berücksichtigungsfähigkeit entlastender Wirkungen auf Saldierungsebene kann nämlich nicht losgelöst von den Kriterien beurteilt werden, die mehrere, an sich verfassungsgemäße Maßnahmen in der Verfassungswidrigkeit kulminieren lassen können. Sie stehen in einer Art Wechselwirkungsverhältnis21 zueinander. Schließlich ermöglicht eine wertende Gesamtbetrachtung auch, einer übermäßigen Konstitutionalisierung der Rechtsordnung entgegenzuwirken. Auch wenn Bezeichnungen wie additiver, kumulativer, summativer oder kulminierender Grundrechtseingriff anderes vermuten lassen, ist der herkömmliche Eingriffsbegriff dazu keinesfalls zu modifizieren. Zudem scheint auch das Übermaßverbot wegen seines Zuschnitts auf singuläre Eingriffe nicht der richtige Ort für dieses Kind des fortgeschrittenen Verfassungsstaates zu sein.22 Vielmehr spricht einiges dafür23, den kulminierenden Grundrechtseingriff nicht in das Korsett der klassischen Grundrechtsdogmatik zu zwängen. Stattdessen ist es vorzugswürdig, ihm die Möglichkeit zu eröffnen, sich in einer eigenständigen Kategorie, befreit von der durch und durch auf punktuelle Eingriffe zugeschnittenen, herkömmlichen Grundrechtsdogmatik weiterzuentwickeln. Da der kulminierende Grundrechtseingriff dem Gesetzgeber Beschränkungen auferlegt, wenn führlicher, auf die Eingriffsintensität abhebender, Begründung ablehnt, ohne sich näher zu seinen Voraussetzungen zu äußern, näher dazu: § 6 B. III. 4. c) ee) sowie § 6 F. II. 1. 20 Klement, AöR 2009 S. 65; Michael, Formen- und Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts Band II, 2012, § 41 Rn. 122 m. w. N. 21 Ausführlich dazu: § 6 H. II. 2. a). 22 So aber weite Teile der Literatur und Judikatur, ausführlich dazu: § 6 B. III. 6.; § 6 D. III.; § 6 D. III. 2. C a) m. w. N.; § 6 D. IV.; § 6 D. VII.; § 6 D. VIII.; § 6 D. IX.; § 6 D. X. 23 Ausführlich dazu: § 6 F. I.
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dieser den Grundrechtsgebrauch über Gebühr einschränkt, bietet es sich an, ihn als eigenständige Schranke-Schranke zu verstehen. Gemessen an diesen Maßstäben haben sich die im Gesetzgebungsverfahren zum 14. SGB V Änderungsgesetz gehegten Befürchtungen24 nicht bestätigt. Die zur Kompensation der erhofften Vorteile aus der beendeten Bestandsmarktbewertung ergriffenen Kostendämpfungsmaßnahmen in Form des erhöhten Grundrabattes (§ 130a Abs. 1 S. 1 SGB V) nebst Verlängerung des bestehenden Preismoratoriums (§ 130a Abs. 3a S. 1 SGB V) stellen keinen kulminierenden Grundrechtseingriff dar. Seine Grundvoraussetzungen sind zwar erfüllt. Insbesondere sind sowohl die im 14. SGB V Änderungsgesetz ergriffenen Kompensationsmaßnahmen 25, als auch der in §§ 1, 1a AMRabG angeordnete kostentechnische Gleichlauf 26 zwischen privater und gesetzlicher Krankenversicherung bei punktueller Betrachtung verfassungsgemäß. Allerdings bleibt die Eingriffsintensität gegenüber den, die gesamte Belastungskumulation bildenden, punktuellen Eingriffen, im Wesentlichen unverändert. Ein Ergebnis, das in erster Linie auf gleichzeitig mit den Belastungen einhergehenden Entlastungen zurückzuführen ist.27 In Anbetracht der sich dramatisch zuspitzenden finanziellen Situation der gesetzlichen Krankenversicherung28 ist es jedoch nur eine Frage der Zeit, bis die erste hoheitliche Maßnahme in der Verfassungswidrigkeit kulminieren wird.
24 Ausschussdrucksache
18(14)0009(5), S. 31; Gassner, Ausschussdrucksache 18(14)0009(5), S. 19 – 20; so bereits zur Einführung von Festbeträgen Sodan, Wirtschaftslenkung im Recht der Arzneimittelversorgung, in: Peter/Rhein (Hrsg.), Wirtschaft und Recht, 1989, S. 94 – 96; zum Beitragssicherungsgesetz aus Sicht der Apotheker, der Hersteller und Großhändler von Pharmazeutika, der Vertragsärzte und Zahntechniker: BVerfGE 114, 196 (242); zur Einführung eines Basistarifs und der teilweisen Portabilität der Alterungsrückstellungen aus Sicht der Unternehmen der privaten Krankenversicherung: BVerfGE 123, 186 (265); zu einer im Beitragssicherungsgesetz angeordneten Nullrunde aus Sicht der Vertragsärzte: Sodan, NJW 2003 S. 1763 – 1764; Sodan, GesR 2004 S. 307; in seiner Stellungnahme zum 14. SGB V Änderungsgesetz [Sodan, Ausschussdrucksache 18(14)0009(18), S. 1 – 12] erwähnt er diese Figur allerdings mit keinem Wort; zum Gesetz zur Stärkung der Arzneimittelversorgung: Ausschussdrucksache 18(14)0223(22), S. 24; allgemein zu wirtschaftslenkenden Kostendämpfungsmaßnahmen im Gesundheitswesen: Hufen, Grundrechte der Leistungserbringer in der gesetzlichen Krankenversicherung Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, in: Sodan (Hrsg.), Finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung und Grundrechte der Leistungserbringer, 2004, S. 33 – 34; Hufen, NJW 2004 S. 15; Kluth, ZHR 1998 S. 673; Schmidt-Aßmann, NJW 2004 S. 1691 – 1692. 25 Ausführlich dazu: § 5; siehe auch: § 6 H. II. 1. 26 Ausführlich dazu: § 5 F. 27 Näher dazu: § 6 H. II. 2. 28 Näher dazu: § 2.
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Ob davon dann die Versichertenseite oder aber die Leistungserbringerseite betroffen sein wird, lässt sich schwerlich prognostizieren. Beide Seiten haben nämlich in naher Zukunft mit erheblichen, in ihre Grundrechte eingreifenden Kostendämpfungsmaßnahmen zu rechnen.29
29
Näher dazu: § 3 sowie § 2.
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Sachwortregister Sachwortregister
14. SGB V Änderungsgesetz 17, 18, 19, 21, 79, 82, 84, 104, 106, 109, 111, 116, 124, 141, 153, 165, 167, 189, 205, 278, 283, 284, 286, 287, 294 Abrechnungswesen
45, 46, 49
additiven Grundrechtseingriff 17, 189, 191, 193, 194, 206, 276, 278 Aktualität 24, 221, 236, 303 allgemeine Herstellerabschlag Allokationsebenen
79
61
AMNOG 35, 36, 73, 74, 84, 85, 97, 98, 139, 142, 150, 169, 282, 287, 299, 311, 313, 314 AMRabG 14, 19, 20, 83, 102, 104, 153, 170, 171, 172, 174, 175, 176, 177, 179, 180, 181, 182, 185, 186, 187, 189, 190, 278, 294, 299 Angebotsinduzierte Nachfrage 42 Anspruchsdenken
46, 49
Apothekenrabatt 73, 79, 80, 313 Apothekenurteil 113, 114 83, 95, 185
Bedarfsprinzip 39, 51 Beitragssatzprojektionen
Belastungskumulationen 16, 21, 191, 192, 193, 197, 198, 200, 201, 202, 203, 204, 205, 206, 207, 211, 213, 214, 215, 218, 221, 222, 223, 229, 230, 231, 234, 235, 237, 238, 239, 242, 243, 244, 246, 248, 259, 262, 264, 265, 267, 268, 269, 271, 274, 276, 281, 289, 290, 307 Beobachtungspflichten 207, 221, 237 Berufswahlregelung
151, 163, 174,
105, 108, 110, 130
Bestandsmarktaufruf 18, 19, 85, 116, 132, 142, 143, 164, 166, 205, 285, 287, 288 Bevölkerungsentwicklung Beweiserleichterungen
26, 300
137, 138
Bezahlbarer Krankenversicherungsschutz 172 Biosimilars
141, 142, 146, 284, 285, 314
Bipolarität 219, 237
Appellentscheidung 275 Arzneimittelrabattgesetzes
247, 248, 258, 262, 264, 267, 273, 275, 276, 279, 281, 282, 283, 289, 292, 294, 307, 312
31, 33
Beitragssatzsicherungsgesetz 85, 89, 107, 135, 144, 149, 154, 296, 299, 314 Beitragssicherungsgesetz 17, 86, 88, 89, 97, 108, 115, 138, 189, 210, 212, 278, 294, 309, 316 Belastungskumulation 17, 160, 189, 194, 196, 197, 198, 201, 202, 203, 205, 206, 215, 217, 218, 224, 230, 235, 236, 239,
Demografischer Ausgabeneffekt
28
Demografischer Finanzierungseffekt
28
Drei-Stufen-Lehre 127, 130 Dreiteiliges Schutzkonzept
244
echte Belastungskumulationen
202
Effizienzgrenzennutzkonzeptes
79
Effizienzreserven
47, 52, 54, 60, 71, 296
Einheit der öffentlichen Hand 240, 268, 292 Einrichtungsgarantien
218, 236,
117, 119, 120
Einschüchterungseffekten
203
Sachwortregister
320
erhöhter Herstellerabschlag 249, 284 Erstattungsbetrag 144, 167, 314 Existenzgefährdung
140, 143,
Grundrechtsidentität 224, 233, 234, 242, 259, 290
73, 76, 77, 83, 143,
Grundrechtskonkurrenz
144, 146, 147
Halbteilungsgrundsatz 253
197, 304 208, 243, 249,
Festbetrag 74, 79, 80, 81, 140, 159
Haushaltskonsolidierung
Festbeträge
horizontale Belastungskumulation
73, 74, 97, 159, 280, 311
47 203
finanzielle Stabilität der gesetzlichen Krankenversicherung 17, 19, 73, 113, 116, 117, 119, 121, 122, 123, 124, 125, 126, 128, 129, 130, 132, 133, 138, 143, 157, 159, 171, 180, 181, 186, 216, 232, 234, 281, 290, 312
institutionelle Garantie
Finanzverfassungsrechtliches Überbelastungsverbot 222
international reference pricing 97 IQWiG
föderative Belastungskumulationen 214, 268
Kohlepfennig 86
Folgerichtigkeitsgebot 139
Kompensation 18, 85, 87, 89, 139, 142, 158, 250, 251, 253, 255, 278, 288, 294, 303
geltungserhaltende Reduktion 270 Generika 72, 81, 140, 141, 142, 146, 156, 158, 253, 314 Generikaabschlag
79, 81, 140, 190
Gerontokratie 36 Gesamteingriff
21, 232
Gesamtverhältnismäßigkeitsprüfung 191, 243, 244, 258 Gestaltungsspielraum 17, 25, 46, 95, 105, 117, 125, 129, 130, 131, 138, 148, 149, 151, 153, 156, 189, 265, 273, 278, 281, 285, 289, 294, 304 gewaltenübergreifende Belastungskumulation 205 Gewinnerzielungsfreiheit
103
Gliptine 19, 163, 164, 302 GPS Entscheidung Grenznutzen
212, 214, 246
25, 55, 134
Grundrabatt 85, 102, 139, 142, 149, 152, 156, 158, 164, 192, 249, 285 Grundrechts(gesamt)eingriff 194
Impfstoffabschlag
79, 81, 82, 190
Individualität 43, 221, 228, 300 Inflationsausgleich 161, 163, 288
82, 109, 147, 148, 117
14, 77, 78
Kombinationsbetrachtung 261, 279
kompensatorische Einsparungen 137, 138
135,
Kompressionsthese 29, 30, 31, 301 Konstitutionalisierung der Rechtsordnung 264, 265, 292, 293 Kostenexplosion
37, 39, 49
kulminierender Grundrechtseingriff 196, 197, 201, 210, 211, 212, 213, 215, 221, 223, 225, 232, 234, 235, 236, 237, 242, 243, 246, 247, 254, 257, 258, 259, 261, 262, 264, 266, 267, 269, 272, 273, 276, 277, 278, 279, 286, 287, 292, 293, 294 Kumulation von Grundrechtseingriffen 194, 199, 254, 262, 293, 307 kumulativer Grundrechtseingriff 195 laesio enormis
17,
145, 148
Lehre von der Normwirklichkeit 229, 231, 234, 242, 261, 290, 291
Sachwortregister
321
Makroallokation 61
punktueller Eingriffsbegriff
Makroebene
QALYs 78
Maßregel
62
199
Maßregelvollzugszeiten
194, 199
Maximalprinzip 50, 51, 52, 53 Medikalisierungsthese 29, 30, 31 Mehrfachbelastungen 242, 248, 255, 281
17, 191, 196, 202,
Mehrpolige Verfassungsrechtsverhältnisse 237
Rationalisierung 50, 52, 53, 55, 56, 57, 61, 63, 64, 65, 71, 297, 301, 310, 316 Rationierung 22, 23, 25, 41, 50, 52, 53, 54, 55, 56, 57, 59, 60, 61, 62, 63, 64, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 297, 298, 300, 301, 303, 307, 308, 310, 311, 313, 315, 316, 317
Mengenrabatt 88, 116, 139, 186
Rechtsstaatsprinzip 270
Mesoebene 62, 65, 220
Ressourcenmangel
Mikroallokation
Rundumüberwachung
Mikroebene
62
63, 64
Minimalprinzip
152, 200, 205, 218, 22 206, 218
Sachlich undifferenzierte Abschlagspflicht 138
52
moral hazard 46, 174 Ne bis in idem
222
Normative Anhaltspunkte
221
Normwirklichkeit 230, 231, 242, 262, 263, 281, 282, 283, 284, 285, 290 Nutzenbewertung 18, 19, 73, 76, 77, 78, 84, 167, 168, 216, 281, 283, 311, 314, 315 Nutzenbewertungsverfahren 162, 164, 166, 169
76, 77, 84,
Preisfreiheit 98, 99, 102, 103 Preismoratorium 19, 73, 79, 82, 85, 105, 106, 109, 144, 146, 147, 156, 158, 159, 160, 161, 162, 163, 283, 287, 315
Saldierung 191, 241, 249, 250, 251, 252, 254, 255, 256, 257, 262, 264, 282, 284, 303 Schranke-Schranke 260, 294 Schranken-Schranke 259, 260 Schrittinnovationen
35
Schutzpflichtverletzung 122 Selbstverwaltungsgarantie Sisyphus-Syndrom
36, 317
Sozialkassensubventionierung 47 Sozialstaatsprinzip 120, 133, 173, 180 Spielhallen 195, 212 Sportwettenentscheidung
Priorisierung 22, 26, 50, 52, 53, 56, 57, 58, 59, 61, 69, 70, 296, 298, 305, 307, 308, 311, 313, 315, 317
Sprunginnovationen 34
Priorisierungskriterien
Teilhaberecht
70, 71
213, 271
Produktinnovationen 34, 36 Prognosen
32, 125, 127, 129, 132, 212
Prozessinnovationen Punktualität
219
34
224
Sonderabgabe 80, 86, 87, 89, 175, 308, 313, 316
principal agent problem 42
Prioritätsprinzip
200, 210
175
Steuerfreies Familienexistenzminimum 209 102, 149, 150
Therapiefreiheit 41, 49 Trennung der Versorgungssektoren 49
47,
Trennung von Schutz- und Lebensbereich 226, 229
322
Sachwortregister
unechte Belastungskumulationen
202
Unvereinbarkeitstenorierung Vermögenssteuerbeschluss
272 208, 253
Vertragsfreiheit 98, 103, 309 Wehrdisziplin
198, 199, 205, 243
weiter Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers 125 Wesen der Grundrechte
225, 270
Wesensgehaltsgarantie 145, 218, 223, 245, 260, 312
Wettbewerbsfreiheit 99, 100, 101, 102, 103, 146 Wirtschaftlichkeitsprüfungen 136, 168
65, 66,
Zurechenbarkeit 239, 261, 266, 278 Zusatznutzen 19, 25, 35, 75, 76, 77, 78, 144, 163, 168, 169, 302 Zwangsrabatte 79, 86, 87, 88, 89, 107, 111, 135, 144, 149, 154, 176, 177, 187, 210, 296, 299, 309, 316 Zweckidentität
202, 216, 244